Verfassung als öffentlicher Prozeß: Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft [3 ed.] 9783428484911, 9783428084913

Bereits nach einem Jahr war die zweite, erweiterte Auflage der »Verfassung als öffentlicher Prozeß« von 1996 vergriffen.

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Verfassung als öffentlicher Prozeß: Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft [3 ed.]
 9783428484911, 9783428084913

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PETER HÄBERLE

Verfassung als öffentlicher Prozeß

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 353

Verfassung als öffentlicher Prozeß Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft

Dritte Auflage

Von Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Häberle

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Häberle, Peter: Verfassung als öffentlicher Prozeß : Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft / von Peter Häberle. - 3. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1998 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 353) ISBN 3-428-08491-8

1. Auflage 1978 2., erweiterte Auflage 1996 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1998 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08491-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Vorwort zur dritten Auflage Bereits nach einem Jahr war die zweite erweiterte Auflage der „Verfassung als öffentlicher Prozeß" von 1996 vergriffen. Damit wurde eine dritte (unveränderte) Auflage möglich und erforderlich. Der Verfasser ist den Lesern, dem Verlag und nicht zuletzt den Rezensenten für die freundliche Aufnahme des Werkes von 1996 dankbar (vgl. ζ. B. Hans Peter Ipsen, in: DÖV 1997, S. 260 f.; D. Thürer, „Verfassungslehre i n offenem Denkstil", in: N Z Z vom 12. November 1997, S. 37; R. Walkenhaus, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 9 [1997], S. 131). Auch die ausländischen Wissenschaftlergemeinschaften, namentlich i n Griechenland, Italien und Spanien, haben sich des Buches sogleich i n weiterführenden Würdigungen bzw. Kritiken angenommen. Nicht wenige der älteren und neueren Abhandlungen aus dem Sammelband von 1978 bzw. 1996 wurden bzw. werden i n fremde Sprachen übersetzt (etwa ins Japanische, Koreanische, Spanische, Portugiesische, Italienische, Polnische und Ukrainische), erscheinen teilweise sogar als eigene Bücher (ζ. B. „Hermenêutica Constitucional", Porto Alegre, Brasilien, 1997, oder „Retos actuales del Estado Constitucional", Bilbao 1996). Darüber ist der Verfasser besonders glücklich. Er hat seit 15 Jahren systematisch und Stück für Stück an einer „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft" gearbeitet, die i m Frühjahr 1997 abgeschlossen wurde und das Programm der gleichnamigen Schrift von 1982 als „zweite Auflage" einzulösen sucht. Sie erscheint i n wenigen Monaten i m gleichen Berliner Verlag, dessen Inhaber, Herrn Prof. Ν. Simon, der Verfasser erneut dankt. Das Projekt einer „europäischen Verfassungslehre" w i r d i m Kontext der „Europäischen Rechtskultur" (1994, bzw. Suhrkamp-Taschenbuch, 1997) greifbar (s. auch den Band „Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1996). Die Idee der „Verfassung als öffentlicher Prozeß" und die damit verbundene pluralistische Verfassungstheorie können i m größeren Rahmen einer „europäischen Öffentlichkeit" ihren spezifischen Beitrag dazu leisten. Bayreuth/St. Gallen, i m Februar 1998

Peter Häberle

Vorwort zur 2. erweiterten Auflage

Die Ende 1978 erschienene erste Auflage dieses Bandes hat i m Inland und zunehmend auch i m Ausland - eine freundliche Aufnahme erfahren und mehrfach zu größeren Besprechungsaufsätzen, teils kritischer, teils zustimmender A r t geführt (vgl. zuletzt etwa auch J. Habermas, Faktizität und Geltung, 3. Aufl. 1993, S. 340). E i n Teil der Beiträge wurde mittlerweile i n mehrere ausländische Sprachen übersetzt, ζ. B. ins Polnische, Italienische und Spanische. Auch dies darf ermutigen, auf Anregung des Verlages Duncker & Humblot, dessen heutigem Leiter Herrn Prof. Dr. iur. h.c. N. Simon dafür gedankt sei, eine zweite Auflage zu wagen, nachdem die erste seit 1994 vergriffen ist. Für die umsichtige technische Betreuung des Bandes sei Frau Heike Frank i m Hause Duncker & Humblot (Berlin) gedankt. A n dem 1978 gewählten, auf eine Arbeit aus dem Jahre 1969 zurückgehenden Gesamttitel „Verfassung als öffentlicher Prozeß" w i r d festgehalten (vgl. auch das Korrelat i n Gestalt des Bandes: „Die Verfassung des Pluralismus", 1980). Denn er entspricht auch heute noch einer Dimension des Verfassungsverständnisses des Unterzeichneten und er bleibt für manche Autoren nach wie vor eine kleine Provokation. Indes wurde dieser Ansatz i n späteren Arbeiten des Verfassers um die kulturwissenschaftliche Dimension ( „ K u l t u r p o l i t i k i n der Stadt", 1979; „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft", 1982 - eine italienische Übersetzung ist i n Vorbereitung) und zuletzt um die rechtsvergleichende („Hechtsvergleichung i m Kraftfeld des Verfassungsstaates", 1992) ergänzt, vielleicht vertieft. Insoweit sind die späteren Arbeiten „mitzulesen". Während der Band „Kommentierte Verfassungsrechtsprechung" von 1979 sich bewußt an der Praxis bzw. an ihrer Kommentierung versucht hat, etwa an Grundfragen der „Gemeinwohl]udikatur" des BVerfG, des „Rechts aus Rezensionen" sowie der „Verfassungsgerichtsbarkeit als politischer Kraft", greifen spätere Monographien stärker i n theoretische Horizonte aus: „Klassikertexte i m Verfassungsleben", 1981, „Erziehungsziele und Orientierungswerte i m Verfassungsstaat", 1981, „Verfassungsschutz der Familie", 1984, „Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates",

Vorwort zur 2. erweiterten Auflage

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1987, „Der Sonntag als Verfassungsprinzip", 1988, „Das Menschenbild i m Verfassungsstaat", 1988, sowie zuletzt „Wahrheitsprobleme i m Verfassungsstaat", 1995. Besondere Impulse seiner wissenschaftlichen Bemühungen verdankt der Verfasser zwei Ereignissen bzw. Vorgängen: der deutschen Wiedervereinigung einerseits (dazu die fünfteilige „Serie" der Dokumentation und Kommentierung der Verfassunggebung i n den fünf neuen Bundesländern i n dem vom Verf. seit 1983 herausgegebenen JöR, beginnend mit „ Der Entwurf der Arbeitsgruppe ,Neue Verfassung der DDR' des Runden Tisches (1990)", JöR 39 (1990), S. 319 bis 493, endend mit „ Die Schlußphase der Verfassungsbewegung i n den neuen Bundesländern (1992 / 1993)", JöR 43 (1995), S. 355 bis 474) und dem europäischen Einigungsprozeß andererseits (vgl. „Europäische Rechtskultur", 1994). Gewiß, auch in der 1. Auflage von „Verfassung als öffentlicher Prozeß" wurden neue erst später entfaltete - Begriffe wie „Grundrechtskultur" (S. 587 f.), „gemeinrechtliche Grundrechts-Rechte" (S. 588) gewagt, wurde die KontextThese angedeutet (S. 133, 614) und dank der Verbundenheit mit der Schweiz erste rechtsvergleichende Gehversuche unternommen (vgl. den Berner Vortrag von 1977 „Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung": S. 182 ff.). Doch hat sich der kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Impuls wohl erst dank dieser beiden erwähnten Ereignisse „verdichten" lassen. Da die späteren Arbeiten leicht zugänglich sind, mag es sich rechtfertigen, die 2. Auflage nur zu erweitern. Dies geschah zum einen i n manchen Supplementen zu der ersten Version von 1978 bzw. ihren Nachträgen, sie mußten aus drucktechnischen bzw. ökonomischen Gründen auf das Notwendigste beschränkt bleiben. U n d es geschah zum anderen in Gestalt von „Ergänzungen 1995", die einige neue Arbeiten dokumentieren: Der Verf. durfte bei Verfassungsberatungen i n Estland und Polen (1991 bzw. 1994) mitwirken, und er konnte fünfmal an verschiedenen Universitäten bzw. wissenschaftlichen Einrichtungen i n Rom als Gastprofessor lehren und lernen (1991 - 1995). Die Einladungen nach Turin, Perugia und Mailand (1992 / 93) sowie die Gastprofessur i n Granada (1995) seien ebenfalls dankbar erwähnt. Der Verfasser dankt für die insgesamt positive Aufnahme der Erstauflage. Er hofft auf ein konstruktives Echo in Rezensionen, um die er sich seinerseits im Horizont von fast hundert Jahren „Rezensierter Verfassungsrechtswissenschaft" i n Deutschland - 1982 ebenfalls im Verlag

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Vorwort zur 2. erweiterten Auflage

Duncker & Humblot erschienen - bemüht hat. Er dankt nicht zuletzt seinen Mitarbeitern i n Bayreuth, Frau Assessorin D. Steuer-Flieser und Herrn Assessor A. C. Kulow für große Hilfe beim Lesen der Korrekturen. Vielleicht vermittelt auch dieser Band dem Leser einen wissenschaftlichen „Mehrwert": vielleicht ist er mehr als die Summe seiner Einzelbeiträge, gerade dies kann einen Sammelband i n 2. Auflage rechtfertigen. Bayreuth/St. Gallen, i m Herbst 1995

Peter Häberle

Einleitung zur 1. Auflage Die Zusammenstellung der hier ausgewählten, teils wiederabgedruckten, teils erstmals publizierten Beiträge aus über einem Jahrzehnt (1965 1978) erfolgt unter dem i n dem Aufsatz „Öffentlichkeit und Verfassung" (1969)1 erstmals formulierten Stichwort „Verfassung als öffentlicher Prozeß". Es umreißt ein Programm, dessen einzelne Teile i n den folgenden Jahren konkretisiert worden sind. Gleichwohl sind die Beiträge nicht durchweg chronologisch, sondern systematisch geordnet. Der Wiederabdruck älterer (an anderen Stellen zum Teil bereits erneut abgedruckter) Beiträge mag sich daraus rechtfertigen, daß sie weit verstreut i n den verschiedensten Zeitschriften erschienen sind, manches Echo ausgelöst haben und jetzt gesammelt deutlicher eine vorläufige Systematik erkennen lassen. Die „vor die Klammer" gezogene methodische Grundlegung (I: „Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation") versucht der Aufsatz „Demokratische Verfassungstheorie i m Lichte des Möglichkeitsdenkens" (1977)2. Er geht auf langjährige Vorarbeiten, auch am Material „großer Entscheidungen" des BVerfG zurück; erste Hinweise des Verfassers finden sich bereits früher 3 . „Zeit und Verfassung" (1974)4 sowie „Verfassungstheorie ohne Naturrecht" (1974)5 stellen rückblickend „Zwischenstationen" und Konkretisierungen dieses Versuchs einer Grundlegung durch das Möglichkeitsdenken dar. Der Freiburger Gastvortrag „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß — ein Pluralismus-Konzept" (1978) — er w i r d hier erstmals veröffentlicht — sucht das Möglichkeitsdenken m i t dem Denken aus Erfahrung zu verknüpfen und die Elemente einer Verfassungslehre des Pluralismus sichtbar zu machen. „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" (1975)6 möchte i n einer zweiten Gruppe (II: „offener Staat und verfaßte Gesellschaft") 1

ZfP 1969, S. 273 ff. AöR 102 (1977), S. 27 ff. 3 ζ. B. in AöR 100 (1975), S. 333 (335 f.). 4 ZfP 21 (1974), S. 111 ff., wiederabgedruckt in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 ff. 5 AöR 99 (1974), S. 437 ff., wiederabgedruckt in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, Darmstadt 1978, S. 418 - 454. « JZ 1975, S. 297 ff. 3

Einleitung

6

den Grundansatz einer pluralistischen und prozessualen Theorie der Verfassungsinterpretation verdeutlichen; „parallel" dazu ist der Berner Gastvortrag „Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung" (1977/ 78) einzuordnen. Beides ist ohne die Arbeiten zur „Gemeinwohl]udikatur des BVerfG" (1970)7 nicht zu denken und konnte als Theorie nur auf dem Hintergrund dieses (und des i n der Freiburger Habilitationsschrift „ ö f fentliches Interesse als juristisches Problem", 1970, entfalteten) „Materials" gewagt werden. U m das Thema „offener Staat und verfaßte Gesellschaft" kreisen auch die Rezensionsabhandlungen „Öffentlichkeit und Verfassung" (1969, zu Habermas 8 ), „Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische Gesellschaftslehre'?" (1972, zu Forsthoff 0 ), „Allgemeine Staatslehre, demokratische Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre?" (1972, zu Herzog 10 ), Effizienz und Verfassung (1973, zu Leisner 11 ) sowie „Verfassungstheorie zwischen Dialektik und kritischem Rationalismus" (1976, zu Suhr 1 2 ) und „»Staatskirchenrecht* als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft" (1976, zu Mikat 1 3 ). Einen gewissen Abschluß bildet der Besprechungsaufsatz „Staatslehre als Verfassungsgeschichte" (1977, zu Kriele 1 4 ). Die meisten der rezensierten Werke markieren je für sich und i m Zusammenhang bedeutsame Etappen auf dem Weg der bundesdeutschen Staats- und Verfassungslehre von der „allgemeinen Staatslehre" zur konkreten Verfassungstypik einer freiheitlichen Republik. Diesen Etappen verdankt der Verfasser viel, sie dienten zugleich der Selbstvergewisserung und den eigenen Bemühungen. Der Aufsatz „Der kooperative Verfassungsstaat" 15 sucht die konkrete Verfassungstypik dieser Republik vom internationalen Feld her aufzuarbeiten, sozusagen „von außen" her das „Innere" des Verfassungsstaates neu zu durchdenken. Rund 10 Jahre zuvor war der Besprechungsaufsatz „ Z u r gegenwärtigen Diskussion u m das Problem der Souveränität" vorausgegangen (1967, zu v. Simson 16 ). 7

AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff. Bemerkungen zur 3. Auflage von Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 1968, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 9 Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, ZHR 136 (1972), S. 425 ff. 10 Roman Herzog: Allgemeine Staatslehre, 1971, AöR 98 (1973), S. 119 ff. 11 Walter Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, 1971, AöR 98 (1973), S. 625 ff. 12 Dieter Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, 1975, Zeitschrift für Rechtstheorie 7 (1976), S. 77 ff 18 Zu Paul Mikat, Religionsrechtliche Schriften, Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, 1974, D Ö V 1976, S. 73 ff. 14 Zu Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, AöR 102 (1977), S. 284 ff. 15 FS Schelsky, 1978, i. E. 8

Einleitung

Eine dritte Reihe von kleineren Arbeiten (III: „Ausgewählte Einzelfragen, spezielle Rechtsbereiche") faßt Detailprobleme zusammen: Der Aufsatz „Leistungsrecht i m sozialen Rechtsstaat" (1972)17, das auf der Freiburger Tagung für Rechtsphilosophie 1970 gehaltene Referat „Formen und Grenzen normierender K r a f t der Öffentlichkeit i n gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis" 1 8 , m i t der Fortführung i n der Besprechung von Stolleis (1976)19, die Rezensionsabhandlungen „Positivismus als Historismus?" (1977, zu Ridder 2 0 ) und „Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" (1977, zu Scheuner 21 ) sowie — als Fortführung der i n der Regensburger Staatsrechtslehrertagung 1971 gipfelnden Grundrechtskontroverse 22 — der Besprechungsaufsatz „Grundrechte i m demokratischen Staat" (1974, zu Hans H. Klein 2 8 ) und die Rezension von Schiaichs „Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip" (1973)24, schließlich „Die Koalitionsvereinbarungen" (1965, zu Schüles 25 gleichnamiger Schrift von 1964). Die Besprechung des Buches von Schelsky (Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, 1973 [1975]) einerseits, von Hartwich (Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, 1970 [1975]) andererseits verdeutlicht, welches breite Spektrum sich heute i m Bereich des öffentlichen Rechts dem Rezensenten bietet, der sein Handwerk i n pluralistische Verantwortung gestellt sieht. Gleiches gilt i m Blick auf die kritische Würdigung des Werkes von Ernst Forsthoff i n der A b handlung „ Z u m Staatsdenken Ernst Forsthoff s" (1976)20. A l l e verfassung^theoretischen Arbeiten sind ohne ständige Kontrolle an der und Anregung durch die Wirklichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zu denken: „Die kommentierte Verfassungsrechtsprechung" ist Teil einer Praxis der Theorie bzw. einer 18

In: AöR 92 (1967), S. 259 ff. In: Festschrift für G. Küchenhoff, 1972, S. 453 ff. 18 In: Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 ff. 19 Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, in: AöR 101 (1976), S. 292 ff. 20 Helmut Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975, in: D Ö V 1977, S. 90 ff. 21 Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie (1973), in: JZ 1977, S. 241 ff. 22 Dazu Ipsen, AöR 97 (1972), S. 375 (400 f.) ; Scheuner, W D S t R L 31 (1973), S. 7 (10). 28 DÖV 1974, S. 343 ff. 24 In: ZevKR 18 (1973), S. 420 ff. 25 Die Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts. Zum gleichnamigen Buch von A. Schüle, ZfP 12 (1965), S. 293 ff. 26 ZSR 95 (1976), S. 477 ff. 17

Einleitung

8

Theorie der Praxis des Verfassungsstaates. I n diesem Rahmen sind die Rechtsprechungsrezensionen „Verfassungsrechtlicher Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung i n der egalitären Demokratie" (1978) sowie „Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie" (197 7) 27 ebenso zu sehen wie der Freiburger Probevortrag: „Exzessive Glaubenswerbung i n Sonderstatusverhältnissen" (1969)2S. Daraus sind auch die Bemühungen um eine Theorie des Verfassungsprozeßrechts und der Verfassungsgerichtsbarkeit erwachsen (vgl. vom Verfasser: Vorwort und Originalbeitrag „Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit" 29 ). Sie finden ihre Ergänzung i n Arbeiten, in denen das Verwaltungsverfahrensrecht (Verfassungsprinzipien „ i m " Verwaltungsverfahrensgesetz 30 ) und das materielle Verwaltungsrecht (in dem Aufsatz „ A u f dem Weg zum allgemeinen Verwaltungsrecht" [1977]31) auf ihre Relevanz für die Verfassung untersucht werden. Die eigene Aktualität des Rechts der öffentlichen Verwaltung zeigt sich nicht zuletzt i n der besonderen Publizität, die die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit jüngst gewonnen hat. Dogmatisch ist sie noch lange nicht eingeholt. Der Anhang (IV) „ Z u m Tode von Rudolf Smend"' 02 und „Der Jurist und Politiker Adolf Arndt" zz ist zugleich ein Hommage an schöpferische Persönlichkeiten von juristischem und literarisch-künstlerischem Rang, denen der Verfasser wie so viele andere in Deutschland Entscheidendes verdankt. I n einzelnen Nachträgen zu den abgedruckten Aufsätzen geht es um Aktualisierung. Sie gilt weniger der Person des Verfassers als der Sache, die ihn beschäftigt hat und die weiter aktuell bleibt. Nicht zu Unrecht gibt es den Merkspruch: „Wer sich zu viel selbst kommentiert, geht unter sein Niveau." Daher hat der Verfasser davon abgesehen, erschöpfende Belege für die an die Aufsätze anknüpfenden Kontroversen zusammenzusuchen. Dies hätte sowohl bei der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" als auch bei „Verfassungstheorie ohne Naturrecht" oder beim „Leistungsrecht i m sozialen Rechtsstaat" ergiebig sein können. Es hätte 27

JZ 1977, S. 361 ff. JuS 1969, S. 265 ff. 29 In: P. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. X I ff. und S. 1 - 45, sowie in JZ 1976, S. 377 ff.; 1973, S. 451 ff. 30 In: Schmitt Glaeser (Hrsg.), FS Boorberg Verlag, 1977, S. 47 -93, hier nicht abgedruckt. 31 BayVBl. 1977, S. 745 ff. 32 NJW 1975, S. 1874 f. 33 F A Z vom 24. 5. 1977. S. 27. 28

Einleitung

aber der Offenheit der weiteren Diskussion Abbruch getan und die (wenn auch berufsbedingt) ohnedies nicht geringe Egozentrik des wissenschaftlichen Arbeitens erhöht. So müssen die Aufsätze auch weiterhin für sich selbst sprechen. Immerhin stehen sie i n sich und untereinander i n einer gewissen Kontinuität; auch werden die älteren Aufsätze zum Teil in Fußnotenbelegen „fortgeschrieben", so etwa die mittlerweile sich einbürgernden Begriffe „Leistungsrecht" 34 und „Grundrechtspolitik" oder „status activus processualis" 35 . Vor allem aber kommt es auf die Sache an: Wenn Forschungsergebnisse mittel- und langfristig anonym werden, wenn der Wissenschaftler i m Laufe der Zeit nicht mehr als solcher zitiert wird, sondern sich „seine" Sache zur allgemeinen Erkenntnis verallgemeinert, so ist dies Anerkennung genug. Der Forscher, jedenfalls der Rechtswissenschaftler, sollte persönliche „Urheberansprüche" gerne hinter dem Fortgang wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse zurückstellen. Der Verfasser dankt dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Prof. Dr. Johannes Broermann, Berlin, für viel Verständnis und Entgegenkommen, Großzügigkeit und Hilfe beim Zustandekommen dieses Sammelwerkes. Für Unterstützung bei der Redaktion dieses Bandes danke ich Herrn Wiss. Ass. Richard Ρ faff, Augsburg. Gewidmet ist dieser Band Konrad Hesse zum 29. 1. 1979, den Freunden aus der Freiburger, Tübinger und Marburger Vergangenheit sowie aus der Augsburger Gegenwart. Augsburg, Ostern 1978 Peter Häberle

34 Vgl. AöR 102 (1977), S. 27 (57, Anm. 113). — Zunächst war nämlich der umgekehrte Sprachgebrauch üblich (nicht Leistungen für Freiheit und Eigentum, sondern gegen bzw. auf Kosten von Freiheit und Eigentum): vgl. B L G i. d. F. v. 27. September 1971 und seine Vorläufer. 35 Zur Kontroverse s. zuletzt den Beitrag „Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht", BayVBl. 1977, S. 745 ff. (S. 748, Fußnote 4G), jetzt in diesem Band (Nr. 31).

Inhalt Einleitung

5

I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation 1. Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens (1977) mit Nachtrag (1978)

17

2. Zeit und Verfassung (1974) mit Nachtrag (1978)

59

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht (1974) mit Nachtrag (1978)

93

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß — ein Pluralismuskonzept (Freiburger Vortrag 1978), Originalbeitrag 121

II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft 5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (1975) mit Nachtrag (1978) .155 6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Berner Gastvortrag 1977), Originalbeitrag 182 7. Öffentlichkeit und Verfassung (1969) mit Nachtrag (1978)

225

8. Retrospektive Staatsrechtslehre oder lehre"? (1972) mit Nachtrag (1978)

246

realistische

„Gesellschafts-

9. Allgemeine Staatslehre, demokratische Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre? (1973) 271 10. Effizienz und Verfassung (1973) mit Nachtrag (1978)

290

11. Verfassungstheorie zwischen Dialektik und Kritischem Rationalismus (1976) mit Nachtrag (1978) 303 12. Positivismus als Historismus? (1977) mit Nachtrag (1978) 13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten (1976) mit Nachtrag (1978) . 14. Staatslehre als Verfassungsgeschichte (1977)

322 Gesellschaft 329 348

12

Inhalt

15. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität (1967) mit Nachtrag (1978) 364 16. Zum Staatsdenken von Ernst Forsthoff (1976)

396

17. Der kooperative Verfassungsstaat (1978)

407

III. Ausgewählte Einzelfragen, spezielle Rechtsbereiche 18. „Leistungsrecht" im sozialen Rechtsstaat (1972) mit Nachtrag (1978) 445 19. Besprechung von Hartwich: Sozialstaatspostulat licher status quo (1975)

und gesellschaft467

20. Besprechung von Schelsky: Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung (1975) 473 21. Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis (1971) mit Nachtrag (1978) .. 480 22. Verfassungsrechtlicher Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung in der egalitären Demokratie (Originalbeitrag) mit Nachtrag (1978), zugl. zum AbgG v. 1977 503 23. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie (1977) 526 24. Besprechung von Stolleis: Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht (1976) 557 25. Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (1977) mit Nachtrag (1978) 565 26. Die Grundrechte im demokratischen Staat (1974) mit Nachtrag (1978) 579 27. Exzessive Glaubenswerbung burger Probevortrag, 1969)

in

Sonderstatusverhältnissen

(Frei589

28. Besprechung von Schiaich, Klaus: Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip (1973) 608 29. Die Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts (1965) mit Nachtrag (1978) 620 30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht im Spiegel der Judikatur des BVerfG (1976) mit Nachtrag (1978) 631 31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht (1977) mit Nach677 trag: Die Aktualität des status activus processualis (1978)

Inhalt

13

IV. Anhang 32. Zum Tode von Rudolf Smend (1975) mit Nachtrag (1978)

685

33. Das schöpferische Nein als Ja zur Zukunft, Der Jurist und Politiker Adolf Arndt (1977) mit Nachtrag (1978)

688

V. Ergänzungen 1995 34. Vorläufige und punktuelle Stellungnahme zum Verfassungsentwurf Estland (Verfassunggebende Versammlung, Entwurf vom 13. Dezember 1991) (1995)

693

35. Die „soziale Marktwirtschaft" als dritter Weg - Konsequenzen für die heutige Verfassunggebung, ζ. B. in Polen (1995)

710

36. Verfassungspolitische Maximen für die Ausgestaltung der „Europafähigkeit" Polens. Eine Denkschrift zur aktuellen Verfassunggebung in Polen (1995)

738

37. Das Grundgesetz und die Herausforderungen der Zukunft. Wer gestaltet unsere Verfassungsordnung? (1990)

746

38. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes: Das Beispiel Deutschland 1989/90/91 (1991)

774

39. Die Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern und ihre Bedeutung für den deutschen Föderalismus und die GG-Reform - eine Zwischenbilanz (1994)

783

40. Ein Zwischenruf zur föderalen Neugliederungsdiskussion in Deutschland - Gegen die Entleerung von Art. 29 Abs. 1 GG (1995)

792

41. Bundesverfassungsrichter-Kandidaten auf dem Prüfstand? Ein Ja zum Erfordernis „öffentlicher Anhörung" (1994)

814

42. Probleme der Verfassungsreform in Italien - Außenansichten eines „teilnehmenden Beobachters" (1995)

817

Sachverzeichnis

855

I . Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

1. Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens* I. Einleitung, Problem, Ausgangsthese — I I . Möglichkeitsdenken (Pluralistisches Alternativendenken); a) Erläuterungen des Begriffs; b) Bestandsaufnahme; c) Verfassungstheoretische Anforderungen an das Möglichkeitsdenken — Grenzen des Möglichkeitsdenkens — I I I . Möglichkeitsdenken im Rahmen der Wirklichkeit und der Notwendigkeiten der Verfassung; 1. Wirklichkeitsdenken; a) Erläuterung des Begriffs; b) Bestandsaufnahme; 2. Notwendigkeitsdenken; a) Erläuterung des Begriffs; b) Bestandsaufnahme; 3. Die Integration der Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Vorgang (des Denkens und Handelns) der öffentlichen Verfassungsinterpretation und -politik; a) Das Verhältnis der drei Denkrichtungen untereinander; b) Die Bewertung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen im Horizont des Normativen; c) Das Beispiel des Verfassungsauftrags — IV. Das moderne offene „Entwicklungsrecht" am Beispiel eines neuen Gesetzestypus: Das steuernde „Entwicklungsgesetz"; 1. Bestandsaufnahme; 2. Verallgemeinernde Auswertung — V. Ausblick: Demokratische Verfassungsrechtswissenschaft und ihr Zusammenhang mit den Wissenschaften vom Menschen.

I. Einleitung, Problem, Ausgangsthese Verfassungsrechtliches Denken und Handeln muß sich immer wieder selbst analysieren, u m seine Möglichkeiten und Grenzen, u m Chancen und Gefahren für seine „Sache", die für alle menschenwürdige freiheitlich-demokratische Grundordnung, zu erkunden. Dem dienen die folgenden Überlegungen. Das Möglichkeitsdenken soll — in den Rahmen von Wirklichkeit und Notwendigkeiten gestellt — für die Verfassungstheorie und -praxis zentraler als bisher untersucht werden, und zwar auf der Folie von Beispielen aus Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung und Politik sowie m i t Belegen aus der Dogmatik und Publizistik, also an Beispielen aus der Öffentlichkeit und Wirklichkeit einer lebenden Verfassung. Das Möglichkeitsdenken dürfte als Problem der Verfassungstheorie relativ unbekannt sein. Demgegenüber ist das Wirklichkeitsdenken fast populär. Eine mittlere Position nimmt das Notwendigkeitsdenken ein. Das Denken konkreter Menschen und ihrer Gruppen, die Verfassungstheorie von bestimmten sozialen Zusammenhängen, Verfahren und Funktionen aus reflektieren und praktizieren, orientiert sich an Möglichkeiten, Notwendigkeiten und an der Wirklichkeit, wenn auch in unterschiedlicher Weise und m i t unterschiedlichen Ergebnissen. Es geht dabei * AöR 102 (1977), S. 27 - 68 mit Nachtrag (1978). Verfassung

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nicht u m beliebige Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Wirklichkeit, sondern u m solche besonderer A r t : u m solche i m Kraftfeld der Verfassung, von ihr aus bewertete („verfassungstheoretischer Input"). Freiheitliche Verfassungen sind Bezugsrahmen und Material zugleich, Herausforderung und Legitimierung. Freiheitliche Verfassungen sind nicht nur ein „Angebot" für den Bürger i m geläufigen Sinne, sie sind auch A n gebot für das Denken („sein Denken"), so sehr sie dessen Teilergebnisse sind und es zugleich mitkonstituieren. Diese Selbstvergewisserung über das juristischem Denken und Handeln vorausliegende Denken ist ein Beitrag zur vielberufenen „Rationalisierung" juristischer Entscheidungen und zur Öffentlichkeit der (Verfassungsrechts-)Wissenschaft. Offenlegung w i r d um so wichtiger, je „dirigierender" Verfassung 1 i m pluralistischen Gemeinwesen ist. I n ihrem Dienst stehen die hier skizzierten Denkwege: Möglichkeiten und Grenzen der normativen K r a f t der Verfassung 2 sollen m i t Hilfe des Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenkens erschlossen werden. Möglichkeitsdenken w i r d von der Verfassung aus „normativiert", so sehr es diese i. S. Poppers Philosophie des offenen Geistes offen hält. Zusammen m i t Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken vermittelt es — wie die Nachweise aus der Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungswirklichkeit ergeben — auf spezifische Weise zwischen Theorie und — oft zunächst diffus erscheinender — Praxis. Dabei w i l l die Erörterung, der drei Denkwege keineswegs erschöpfend sein: es kann noch andere Denkwege geben, die i n den Dienst der Verfassung zu stellen sind. Die „Trias" der hier untersuchten Denkphasen ist offen. Gleichwohl deutet vieles darauf hin, daß „gute" Verfassungsauslegung und -entwicklung (in den Formen des sog. Verfassungswandels und der Verfassungsänderung, also auch der Verfassungspolitik) eine A r t Resultante des Gegen- und Miteinander von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens sind, ohne daß es freilich irgendeine Automatik gibt. Die „produktive K r a f t " dieser Denkweisen ist groß angesichts des fragmentarischen Charakters der Texte freiheitlicher Verfassungen. Sie ist beengt angesichts der allgemeinen, ζ. T. globalen ökonomischen Zwänge und Nöte; sie hat aber auch besondere Chancen, da das Denken über Verfassung sich jetzt den Anschluß vermittelt sieht an das allgemeine Denken der Zeit, insbesondere i m Bereich der Wissenschaftstheorien. Der kritische Rationalismus, der durch seine Verfahren von conjectures and refutations, trial and error usw. vor allem dem Möglichkeits-, aber auch dem Wirklichkeitsdenken nahe steht, ist an erster Stelle zu nennen. Die kritische Theorie kann differenziert 1 2

Dazu Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 61 ff. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959.

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zu sichtende Beiträge leisten. So wie Wissenschaftstheorie für die Verfassungstheorie aus ganz unterschiedlichen Richtungen und Positionen ertragreich sein kann 3 , werden Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenken aus dem pluralistischen Gegen- und Miteinander zu verschiedenen Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien Einsichten gewinnen können. I I . Möglichkeitsdenken (Pluralistisches Alternativendenken) a) Erläuterung des Begriffs Möglichkeitsdenken ist das Denken der und i n Alternativen. „ A l t e r nativendenken" soll es aber deshalb nicht genannt werden, weil m i t diesem Begriff häufig die Denkform des „Entweder-Oder" assoziiert w i r d 4 , die auf sich ausschließenden Gegensätzlichkeiten beruht 5 . Möglichkeitsdenken dagegen soll ebenso offen für dritte und vierte Möglichkeiten wie für Kompromisse sein. Es darf rhetorisch auf ein „Entweder-Oder" zugespitzt sein, dieses aber nicht dadurch verabsolutieren, daß es sonst keine Alternativen zuläßt. Denn: Möglichkeitsdenken ist fragendes Denken. Es ist die Suche nach dem auch Möglichen, die Frage: „Was könnte an Stelle dessen sein, das ist 8 ?" I n der res publica gibt es ein spezifisch juristisches Ethos des Denkens i n Alternativen, des Fragens nach Möglichkeiten, das den Blick für die Wirklichkeit und Notwendigkeiten einschließt, ohne sich von ihnen suggerieren zu lassen. Möglichkeits- bzw. pluralistisches Alternativendenken öffnet den Blick für „neue" Wirklichkeit, die die heutige Wirklichkeit, das Gestrige korrigieren kann, insbesondere die Notwendigkeiten der Zeit vom Normativen her anpassen kann, ohne daß das Neue per se für das Bessere gehalten werden darf. Möglichkeitsdenken kann eminent produktive K r a f t entfalten. Es ist trotz zahlreicher Belege aus dem geltenden Recht wohl am wenigsten bewußt, so oft es mehr oder weniger versteckt praktiziert wird. Je politischer, offener 7 und pluralistischer sich eine Verfassungsordnung und ihre Dogmatik verstehen, desto relevanter w i r d Möglichkeitsdenken. Möglichkeitsdenken drängt sich u m so mehr auf, als die Verfassungsrechtswissenschaft Grundbegriffe wie Öffentlichkeit, Toleranz, Pluralismus, 3

Dazu P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 94 (1974), S. 437 (447 ff.). 4 Zu verschiedenen Bedeutungen des Begriffs Alternative vgl. Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969, S. 9 ff. 5 Auf diese Gefahr weist Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 182, hin. β Rödig, a.a.O., S. 26. 7 z.B.: Hart, Der Begriff des Rechts, 1973, S. 173ff.: Offene Struktur des Rechts. Ebd. S. 26: „Der Richter muß verschiedene alternative Bedeutungen . . . " ; s. auch S. 230.

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M i n d e r h e i t e n r e c h t e , R e p r ä s e n t a t i o n n i c h t o r g a n i s i e r t e r Interessen, soziale G r u n d r e c h t e a u f a r b e i t e t . V o m kritischen Rationalismus h e r l i e g t M ö g l i c h k e i t s d e n k e n als A l t e r n a t i v d e n k e n besonders n a h e 8 . E l e m e n t e klassischen n e u e r e n M ö g l i c h k e i t s d e n k e n s finden sich f e r n e r b e i R. Musil 9 u n d E. Bloch. Das zeigt n i c h t n u r Blochs f r ü h e s sog. „ f a b e l n d e s D e n k e n " (1930), s o n d e r n v o r a l l e m auch sein „ P r i n z i p H o f f n u n g " u n t e r d e m A b s c h n i t t „ M ö g l i c h k e i t v e r w i r k l i c h e n " 1 0 . H i e r finden sich Z i t a t e w i e „ N u r dieses i s t P r a x i s nach M a ß g a b e des j e w e i l s M ö g l i c h e n i m F e l d e des insgesamt M ö g l i c h k e i t Seins d e r unabgeschlossenen Geschichte u n d W e l t . N u r solche P r a x i s k a n n die i m Geschichtsprozeß a n h ä n g i g e Sache: die N a t u r a l i s i e r u n g des Menschen, die H u m a n i s i e r u n g der N a t u r aus d e r r e a l e n M ö g l i c h k e i t z u r W i r k l i c h k e i t ü b e r f ü h r e n . . . W i e die Z e i t , nach M a r x , d e r R a u m d e r G e schichte ist, so ist der Zukunftsmodus d e r Z e i t der R a u m der realen Möglichkeiten der Geschichte,.. . " n . I n d e r Systemtheorie w i r d i. S. der m o d a l 8 Er betont, daß es sich stets lohnt, „nach Alternativen zu suchen, nach anderen Theorien, die möglicherweise besser sind . . ( H e r v o r h e b u n g e n im Original): Albert, Traktat über kritische Vernunft, 1968, S. 49. „Dogmatisierung" entlarvt ihre „Abschirmungsfunktion" durch die „Diffamierung von Alternativen", ebd., S. 97. Ausdrückliche Bezugnahme auf das Alternativendenken des kritischen Rationalismus finden sich bei Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus, Rechtstheorie, Bd. 2 (1971), S. 67 ff. und 224 (225) und Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 125 ff.; jetzt Hans F. Zacher, VSSR 4 (1976), S. 7 (23). 9 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1970/72, S. 16: „ . . . W e n n es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen k a n n . . . So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist." Zum Möglichkeitsdenken des „Konjunktivliebhabers" Musil, A. Schöne, in: Schillemeit (Hrsg.), Deutsche Romane von Grimmelshausen bis Musil, 1975, S. 290 ff. sowie H. Mayer, Der Repräsentant und der Märtyrer, Konstellationen der Literatur, 1971, S. 121 (139 ff.). — Zur Geschichte des Möglichkeitsbegriffs: N. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 1. Aufl. 1937, 2. Aufl. 1949. 10 Das Prinzip Hoffnung, 1. Band, Suhrkamp Taschenbuch, 1974, S. 284 ff. — Zur Kategorie des „Noch Nicht" bei Bloch: A. Schmidt, Materialismus und Eschatologie, F A Z v. 5. 7. 1975. 11 a.a.O. S. 285. Vgl. weiter: „Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischen Weltvorgang ein Entscheidendes geworden; . . . mit dem Ding für uns, der Welt als vermittelter Heimat, wozu die Natur in kaum erst betretener, gar aufgesprengter Möglichkeit ist. Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz die Dinge zu wenden, der objektive Faktor ist die unabgeschlossene Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze, ihrer unter neuen Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden Gesetze. Beide Faktoren sind miteinander stets verflochten, in dialektischer Wechselwirkung, und nur die isolierende Überbetonung des einen (wodurch das Subjekt zum letzten Fetisch wird) oder des anderen (wodurch das Objekt, in scheinbarem Selbstlauf, zum letzten Fatum wird) reißen Subjekt und Objekt entzwei." Weitere Hinweise auf Möglichkeitsdenken: a.a.O., S. 286 f.: „Diese zentrale Potenz steht derart wachsend in der Möglichkeit, das

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theoretischen T r a d i t i o n K o n t i n g e n z als „ n i c h t n o t w e n d i g e M ö g l i c h k e i t " 1 2 definiert. Luhmanns B e g r i f f d e r K o n t i n g e n z i s t eine k l a r e B e z u g n a h m e a u f M ö g l i c h k e i t s d e n k e n 1 3 . D i e R e l e v a n z v o n M ö g l i c h k e i t s d e n k e n h a t Bismarck i n s e i n e m W o r t v o n d e r P o l i t i k als „ K u n s t des M ö g l i c h e n " z u r Sprache gebracht; aus ganz a n d e r e n Bereichen m a g eine Passage aus d e r v i e l b e a c h t e t e n Rede v o n Walter Jens z u m J u b i l ä u m des Deutschen F u ß b a l l b u n d e s z i t i e r t w e r d e n , i n d e r es u. a. h e i ß t : „ F u ß b a l l : W i r k l i c h e i t s v e r d o p p e l u n g u n d zugleich E n t w u r f v o n M ö g l i c h k e i t ? W i d e r s c h e i n u n d Vorausschau i n eins — w i e d i e K u n s t 1 4 ? " Das i n verfassungstheoretischer H i n s i c h t bestehende Forschungsdefiz i t i s t u m so e r s t a u n l i c h e r , als d i e f o l g e n d e n Belege aus d e r R e c h t s w i r k l i c h k e i t eine d e u t l i c h e Sprache reden. W e g e n dieser K l u f t zwischen t h e o retischer E r k e n n t n i s u n d p r a k t i s c h e r N a c h w e i s b a r k e i t s o l l das M ö g l i c h k e i t s d e n k e n i n d e n M i t t e l p u n k t gestellt w e r d e n . b) B e s t a n d s a u f n a h m e I n e i n e r offenen, p l u r a l i s t i s c h e n R e c h t s o r d n u n g d e r F r e i h e i t i s t e i n b r e i t e s S p e k t r u m v o n verschiedenen F o r m e n z u A l t e r n a t i v e n r e c h t l i c h i n s t i t u t i o n a l i s i e r t . Sie geben R a u m f ü r Entscheidungen, R a u m f ü r i n d i v i d u e l l e F r e i h e i t u n d a l l g e m e i n e V e r n u n f t . Sie setzen m ö g l i c h s t gew a l t f r e i e K o m m u n i k a t i o n i. S. v o n Habermas voraus. aa) Möglichkeitsdenken w i r d nicht von außen oder oben an die Verfassung herangetragen. Scheuners Verständnis der Verfassung als „ E n t w u r f " 1 5 deutet auf Möglichkeitsdenken hin. D i e V i e l f a l t der verschiedetreibende Kern-Interesse alles Geschehens, diesen Ursprung und Inhalt der letzten realen Möglichkeit, selber wachsend zu treffen", usw. — S. 288: „Freies Volk auf freiem Grund, so total gefaßt, das ist das Endsymbol der Realisierung des Realisierenden, also des radikalsten Grenzinhalts im objektiv-real Mög12 lichen überhaupt". S. 258 ff.:/ Luhmann, „Die Schichten der Kategorie Möglichkeit" usw. Luhmann, in: — Habermas Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 1971, S. 310. Kontingenz wird definiert als eine „heuristische, strategische, vergleichende Kategorie", die den Zugang zu anderen Möglichkeiten offen hält, vgl. Luhmann, Soziologie als Theorie sozialer Systeme, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 19 (1967), S. 615 (637). s. auch ders. in: Dahm / LuhmannI Stoodt, Religion — System und Sozialisation, 1972, S. 15 (19): „Damit läßt sich der Gesellschaftsbegriff präzisieren. Gesellschaft ist dasjenige soziale System, das seine eigene Selektivität begründet, indem es Sinn konstituiert und damit die Generalisierung von Möglichkeiten auf das Selektionspotential der jeweiligen sozialen Strukturen und Prozesse abstimmt." 13 s. auch Luhmann, in: Loccumer-Protokolle 8/1974, Kirche als Körperschaft des öff. Rechts?, S. 53 (54) : Es handelt sich bei Organisation immer darum, daß zwei verschiedene Verhaltensbestimmungen kontingent gesetzt werden, d. h. als auch anders möglich, als variabel, als änderbar begriffen werden und dann miteinander verknüpft werden. 14 F A Z v. 20. 5. 1975, S. 19. 13 Scheuner, in: Staatslexikon, Bd. 8 (1963), Sp. 117 (118). s. auch Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 24.

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nen möglichen Verfassungen ist es, die Disziplinen wie Verfassungsvergleichung1® und Verfassungsgeschichte für die Verfassungstheorie bedeutsam macht. Daran zeigt sich: Das hier geforderte Alternativendenken ist keineswegs nur zukunftsorientiert. Das wäre eine Verengung der Blickrichtung, welche die Möglichkeiten und Erfahrungen der Verfassungsgeschichte außer acht ließe. Gerade i m „Schatzhaus der Geschichte" liegt Problemlösungsmaterial, oft vergessen, von der Wirklichkeit gewordenen Möglichkeit verdrängt. Es gibt auch Renaissance und Regeneration von Verfassungsrechtssätzen. Ein Beispiel sind die sozialen Grundrechte i n den Länderverfassungen nach 194517 sowie die Grundpflichten. Die Idee der Ermöglichung von Alternativen steht vor allem auch hinter dem Verfahren der Verfassungsänderung: A r t . 79 Abs. 1 und 2 GG ist die kühnste Institutionalisierung von Alternativen i m politischen Gemeinwesen! bb) Das Offenhalten von Möglichkeiten innerhalb der geltenden Verfassungsordnung ist zentraler Inhalt wichtiger verfassungsrechtlicher Prinzipien. Demokratie, die sich nicht auf der Vorstellung eines einheitlichen, „richtigen" Volks willens i. S. Rousseaus gründet, soll der Minderheit, der Alternative zur Mehrheit, die Chance eröffnen, selbst zur Mehrheit zu werden. Nach Hesse geht es der Demokratie u m pluralistische Initiativen und Alternativen 18. I n amerikanischen Theorien w i r d Demokritie fast ganz m i t Pluralismus und Konkurrenz gleichgesetzt 19 . Stammer definiert Demokratie i n Anlehnung an Schumpeters Konkurrenztheorie 2 0 als „Herrschaftsausübung durch eine zu alternativer Führung und Regierung tendierende Kombination konkurrierender Gruppen ( . . . i m Auftrage und unter Kontrolle des Volkes)" 2 1 . Wahlen als spezifisch demokratische Handlungsform setzen das Vorhandensein von A l 18 Zur Funktion der Rechtsvergleichung als einer Art gedanklichem Experiment mit Alternativen vgl. Hopt, JZ 1972, S. 65 (69 f.). Zur Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung Mössner, AöR 99 (1974), S. 193 ff. 17 Dazu Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973 und meine Bespr. in: AöR 100 (1975), S. 520 f. — Gerade hier leistet Wirklichkeitsdenken i. V. mit dem Möglichkeitsdenken viel. Es kann ermitteln, warum, auf Grund welcher sozialer Bedingungen die Wirklichkeit von gestern zu einer solchen geworden ist und wie Korrekturen der Wirklichkeit von heute möglich und notwendig sind. So kann eine Möglichkeit von vorgestern über die Konzeption der Möglichkeit von morgen zur Wirklichkeit werden — weil sie als Alternative „vorgestellt" wurde. — Weiterführend M. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, 1974. 18 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 9. Aufl. 1976, S. 56. 19 Dazu Narr / Naschold, Theorie der Demokratie, 1971, S. 137 ff., 205 ff. und Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S. 29 ff. 20 Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 3. Aufl. 1972, S. 428 ff. 21 Stammer, Politische Soziologie, in: Gehlen / Schelsky, Soziologie, 3. Aufl. 1955, S. 277 (282).

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ternativen — und darum die Opposition, Minderheitsrechte — voraus. Wichtig sind hier die Chancengleichheit der politischen Parteien 22 , die Parteigründungsfreiheit (Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG) und die innerparteiliche Demokratie (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG) 2 3 sowie Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordneten. Luhmann versteht Demokratie als „Erhaltung von Komplexität trotz laufender Entscheidungsarbeit" 24 , ihre Rationalität und ihre Menschlichkeit liegen i n der „Vorläufigkeit" der Negationen. Wieder zeigt sich, daß Möglichkeitsdenken nicht lediglich zukunftsorientiert zu sein braucht: I n der Demokratie sollen auch Möglichkeiten, die i n der Vergangenheit abgelehnt wurden, möglich bleiben (Gedanke der Reversibilität, Alternativen i m Rahmen der Verfassung). Die Offenheit für Alternativen muß wirklich bestehen: i n diesem Punkt haben demokratische Ordnungen sich immer wieder der K r i t i k zu stellen. Alternativenoffenheit kann gefährdet sein durch 5 °/o-Klauseln 25 oder einen bestimmten Modus der Parteifinanzierung 26 , durch die „Technostruktur" (Duverger) 27 , durch ökonomische Chancenungleichheit und Verfestigung von Elitenpositionen; es muß sogar gefragt werden, ob nicht durch ein experimentelles Demokratieverständnis, das die Revidierbarkeit kleiner Schritte zum Prinzip erhebt, grundsätzlichere Alternativen ausgeschlossen werden. Vehikel und Reservoir für Alternativen und Innovationen sind auch die Grundrechte, vor allem dort, wo sie pluralistische Demokratie ermöglichen: A r t . 4, A r t . 5 Abs. 1 und 3, Art. 7 Abs. 4, A r t . 9 Abs. 1 und 3 GG. Typische Grundrechte „auf" Alternativen sind solche, die eine Wahlmöglichkeit garantieren: die Freiheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG), die Freiheit der Wahl des Berufs, des Arbeitsplatzes, der Ausbildungsstätte (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG); ebenso könnte man auch A r t . 11 Abs. 1 GG als Grundrecht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts bezeichnen. Freiheit ist nur ein anderes Wort für Alternativen: wo immer sie verfassungsrechtlich vorkommt; i n der grundrechtlichen Freiheit, der Gestaltungsfreiheit von Gesetzgebung und Verwaltung, aber auch des Rich22

Dazu jetzt Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975; s. auch ders., Die kontingentierte Debatte, 1976. 23 Zur Verfassungstheorie der praktischen Alternativen mein Beitrag in: AöR 99 (1974), S. 437 (485 ff.); s. auch die Diskussionsbemerkung in: V V D S t R L 33 (1975), S. 135 f. 24 Luhmann, PVS 10 (1969), S. 314 (319 f.). 25 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 87, dazu auch P. Häberle, ZHR 136 (1972), S. 425 (431 f.); E.-H. Ritter, JZ 1975, S. 22 (23). 26 Vgl. Hesse, V V D S t R L 17 (1959), S. 11 (37 Fn. 69): „Prämie auf den Besitz der politischen Macht"; s. jetzt BVerfGE 41, 399 (411 ff.) (Daniels-Entsch.). 27 M. Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter, 1973, S. 149 ff.

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ters, i n der Parteigründungsfreiheit. Freiheit bedeutet wesentlich Möglichkeiten. Man denke an die Diskussion um Chancengleichheit. Die Grundrechtsdiskussion sucht etwa durch den Ausbau der leistungsstaatlichen Seite der Grundrechte 28 Alternativenwahl real zu machen. Die wachsende Normierung sog. sozialer Grundrechte 29 ist der Versuch, A l ternativenwahl und -konkretisierung von ökonomischen Zwängen zu befreien, wobei der „Leistungsstaat" freilich nur Grundreditsmöglichiceiten, nicht schon unmittelbare Grundrechtswirklichkeit schaffen kann und darf und auch dies nur begrenzt tun kann. Für die Freiheitlichkeit der res publica entscheidend ist, daß die Freiheit zu Alternativen auch von denen anerkannt wird, die für jeweils bestimmte Alternativen eintreten. Es gibt nicht nur Alternativen zur W i r k lichkeit, es gibt auch Alternativen zu diesen Alternativen. Insofern könnte eine Verfassungstheorie der Alternativen zu einer Verfassungstheorie der Toleranz werden. cc) Zunächst banal erscheint die Feststellung, daß auf der Ebene der Gesetzgebung die Möglichkeit zu verschiedenen Alternativen besteht. Die „richtigen" Gesetze lassen sich nur zum Teil aus der Verfassung und aus der „Wirklichkeit" deduzieren, sie sind auch nicht immer Ausdruck von „Notwendigkeiten": Der Gesetzgeber hat Gestaltungsfreiheit. A l t e r nativen sind aber nicht schon per se vorhanden; Gesetzgebung ist nicht nur ein A k t der Auswahl. Vielmehr müssen Verfahren organisiert werden, die der Aufstellung von Alternativen dienen, die den Spielraum an Möglichkeiten vergrößern. Die parlamentarische Beratung von Gesetzen muß diese Funktion haben; wichtig sind hier die Öffentlichkeitsgarantien 3 0 . „Methoden der Invention", die die „Gewinnung von Einfällen für neuartige Problemlösungen" ermöglichen 31 , müssen für das Gesetzge-

28 Dazu mein Mitbericht: V V D S t R L 30 (1972), S. 43ff.; BVerfGE 35, 79 (115f.); 33, 303 (330 ff.). 29 Art. 40 Abs. 3 S. 2 Verf.Rhld.-Pf. : „Die Teilnahme an den Kulturgütern des Lebens ist dem gesamten Volk zu ermöglichen." Ähnlich Art. 34 Abs. 2 S. 2 Verf. Saarland, s. auch die Formulierung „Gelegenheit" zur Anstaltsseelsorge: Art. 48 Abs. 1 Verf. Rhld.-Pf., 42 Verf. Saarland. § 75 Abs. 1 Verf. Dänemark: Zwecks Förderung des Gemeinwohls ist anzustreben, daß jeder arbeitsfähige Bürger die Möglichkeit hat, unter Bedingungen zu arbeiten, die sein Dasein sichern. Zu Art. 3 Abs. 3 als „Gebot für Alternativen": Maunz / Diirig / Herzog, RdNr. 111 zu Art. 3 Abs. 3 GG. — s. auch § 1 SportförderungsG Rhld.-Pf. v. 9. Dez. 1974, GVB1. S. 597: Zweck des Gesetzes ist es, allen Einwohnern eine ihren Interessen und Fähigkeiten angemessene sportliche Betätigung zu ermöglichen, . . . verbesserte Möglichkeiten für das freie Spiel zu schaffen . . . 30 Zu ihnen P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 103 f. u. ö. 31 Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 113. Vgl. auch den Hinweis auf S. 114: Leibniz' „ars combinatoria" als „ars inveniendi".

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b u n g s v e r f a h r e n noch w e i t e r e n t w i c k e l t w e r d e n 3 2 » 3 3 . D e r Gesetzgeber s o l l t e m i t A l t e r n a t i v e n gleichsam e x p e r i m e n t i e r e n k ö n n e n . S o w e i t er n i c h t das Gesetz selbst als E x p e r i m e n t a n l e g t 3 4 oder E x p e r i m e n t i e r k l a u seln e i n b a u t , k a n n e r d i e R e c h t s v e r g l e i c h u n g als E r p r o b u n g verschieden e r M ö g l i c h k e i t e n b e t r a c h t e n . Das gesetzgeberische „ H e a r i n g " , eine F o r m d e r Pluralisierung des Rechts 3 5 , b e z w e c k t n i c h t n u r d i e G e w i n n u n g v o n T a t s a c h e n m a t e r i a l , es i s t auch e i n „ T e s t " d e r R e a k t i o n e n b e t r o f f e n e r K r e i s e a u f verschiedene R e g e l u n g s a l t e r n a t i v e n 3 6 ' 3 7 . dd) A l t e r n a t i v e n als D e n k m ö g l i c h k e i t e n i m j u r i s t i s c h e n Prozeß w e r d e n v o r a l l e m i m Interpretationsvorgang relevant: bei der Methodenw a h l . Dies w u r d e i m S t r e i t u m das topische D e n k e n als „ p r o d u k t i v e K r a f t d e r I n t e r p r e t a t i o n " v i e l f ä l t i g e r p r o b t . T o p i k sucht nach m ö g l i c h e n I n t e r p r e t a t i o n s g e s i c h t s p u n k t e n . Das verfassungsrichterliche S o n d e r v o t u m i s t e i n prozessual i n s t i t u t i o n a l i s i e r t e r A u s d r u c k d e r E r k e n n t n i s , daß R e c h t s n o r m e n verschiedene I n t e r p r e t a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n u n d - a l t e r n a t i v e n offenlassen 3 8 u n d daß die A l t e r n a t i v e , f ü r die m a n sich h e u t e e n t scheidet, andere A l t e r n a t i v e n f ü r die Z u k u n f t n i c h t ausschließen d a r f 3 9 .

32 Noll, a.a.O., S. 113 f., verweist auf das „Brainstorming" aus der Disziplin des Operations Research. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, 1972, S. 143 weist darauf hin, daß das Gewicht sich von der Entscheidungslogik auf die Erfindungslogik verschiebt. 33 Einschlägig ist hier der Vorschlag eines „Gesetzespostulationsrechts" für Interessierte, Beteiligte und Gruppen bei Brohm, FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (72 ff.), das weit über das bloße Petitionsrecht hinausgeht; zu diesem jetzt Art. 45 c GG. 34 Hier kommt es auf die Tragbarkeit sozialer Folgekosten mißglückter Experimente an, vgl. Hopt, JZ 1972, S. 65 (70 f.). — Zur Zeit wird die Frage aktuell, wie viele Menschenleben der „Versuch", die Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen durch eine Richtgeschwindigkeit zu ersetzen, gekostet hat. 35 Zu Pluralismusgesetzen mein Beitrag in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 (465, 472 f.). Es gibt keine vorgegebene Einheit der Rechtsordnung, schon historisch nicht, weil die „Rechtsmassen" aus verschiedenen Epochen, von verschiedenen Gesetzgebern usw. stammen; das ist ein weiteres Argument für die These von der pluralistischen Struktur der Rechtsordnung. Wenn es einen „Weltgeist zu Pferde" gibt, dann gibt es 1 000 Pferde, die in oft sehr verschiedene Richtungen galoppieren oder traben. 36

Hopt, JZ 1972, 65 (69).

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Zum Prognosespielraum des Gesetzgebers: BVerfGE 30, 250 (263 ff.); 37, 104 (118); 38, 61 (88); 39, 210 (226). 38 Diese Überlegungen dürften nicht nur für die Verfassungsgerichtsbarkeit gelten. Sie kann aufgrund der Besonderheiten der Entscheidungssituation „nur einen Ausschnitt aus dem Bereich möglicher Alternativen bei der Rechtskonkretisierung wahrnehmen", H off mann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (344). 39 Zur Vorwirkung von Gesetzen mein Beitrag in ZfP 21 (1974), S. 111 (130 ff.); jetzt in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (318 f.).

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

I m Beschluß vom 10. Juni 197540 formuliert das BVerfG i m Rahmen des Problems der verfassungskonformen Auslegung, daß dann, wenn es i m Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung einer Norm des einfachen Rechts ausspricht, daß gewisse an sich mögliche Interpretationen dieser Norm m i t dem Grundgesetz nicht vereinbar sind, kein anderes Gericht diese Interpretationsmöglichkeiten für verfassungsgemäß halten könne. I n den Gründen w i r d anschaulich von „Normenvariante" gesprochen, von „sonst vertretbaren und möglichen Interpretationen des einfachen Rechts". I m Investitionshilfeurteil von 1954 hat das BVerfG (E 4, 7 [18]) festgestellt: „Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche." Schon hier w i r d deutlich, daß es um eine Normativierung des Möglidikeitsdenkens geht, daß entscheidend die Eingrenzung auf bestimmte, verfassungsrechtliche, „gute" Möglichkeiten wird. Das BVerfG hat Anschluß an die moderne Rechtstheorie gefunden, die, nach Arthur Kaufmann 41, kaum mehr bezweifelt, daß das Gesetz nichts Fertiges ist, sondern als Möglichkeit, nicht aber Wirklichkeit vom Recht, der Auslegung dahin bedarf, ob ein bestimmter zur Beurteilung anstehender Lebenssachverhalt dem vom Gesetzgeber Gemeinten entspricht 42 . Dabei ist zu bedenken, daß die Möglichkeiten, die i n der Rechtsnorm „liegen", oft erst durch die Konfrontation m i t der Wirklichkeit erschlossen werden können. „Offene Verfassungsinterpretation" jedenfalls geht von dieser Einsicht aus, mehr oder weniger bewußt auch die Doktrin zum Verfassungsgewohnheitsrecht und -wandel. Die Auslegung hat diese A l ternativenmöglichkeiten zu erschließen und sie i m Blick auf andere Topoi, Güter zur „praktischen Konkordanz" zu bringen 4 3 . 40 E 40, 88 (94). — s. aber H.-P. Schneider, dem der „mögliche Wortsinn" zu unbestimmt ist (DÖV 1975, S. 443 [450]). Beisp. für Möglichkeitsdenken in der Verfassungsinterpretation: BVerfGE 21, 52 (54); 29, 179 (182: Abwägung der möglichen Folgen); E 24, 300 (LS 1 b). Bemerkenswert auch die Kritik der Richter Seuffert, Rupp, Hirsch in E 35, 255 (257): „außerhalb der Möglichkeiten vertretbarer Rechtsprechung". E 40, 196 (223): Prüfung der von den Beschwerdeführern und sonst in Fachkreisen (!) diskutierten Alternativen . . . s. auch Zippelius, NJW 1975, S. 914: „Regelmäßig läßt der Auslegungsspielraum einer Verfassungsbestimmung eine Mehrzahl vertretbarer Auslegungs- und Konkretisierungsalternativen zu." — BVerfGE 1, 13 (50): „im Rahmen des im Bundesstaat Möglichen". E 16, 130 (140): „im Rahmen des technisch Möglichen". E 39, 210 (226): Beurteilung, die dem Gesetzgeber möglich war. 41 Die „Ipsa Res Iusta", in FS für Larenz, 1973, S. 27 (37). 42 Dazu auch H. Otto, Dogmatik als Aufgabe der Rechtswissenschaft, in: Internationales Jahrbuch für interdisziplinäre Forschung, Bd. I I Teil 2, 1975, S. 116 (120). 43 Zur aus Art. 5 Abs. 3 GG entwickelten Pflicht des Gesetzgebers, alle Vorkehrungen zu treffen, „um die Gefahr solcher fehlsamer Entscheidungen im Rahmen des Möglichen . . . auszuschließen": BVerfGE 35, 79 (124).

1. Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens

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Die interpretationstheoretische Erkenntnis der Möglichkeiten von A l ternativen w i r k t sich praktisch aus i m funktionell-rechtlichen Denken: Dieses muß gewährleisten, daß keine Funktion so dominiert, daß das Innovationspotential anderer Funktionen brach liegen bleibt 4 4 . ee) Neuerdings beginnt der Gesetzgeber, die „untergesetzlichen" Möglichkeiten zu Alternativen zu institutionalisieren. M i t der Figur des „Ermessens" ist das zwar schon immer geschehen (vgl. die Begriffe Handlungsermessen, Auswahlermessen, aber auch unbestimmte Gesetzesbegriffe) 4 5 ; überall dort, wo davon die Hede ist, daß eine Maßnahme ergriffen werden „kann", zeigt sich Möglichkeitsdenken. Neuartig ist aber der Einbau von Reform- bzw. Experimentierklauseln 4 6 i n Gesetze, die damit gewissermaßen Alternativen zu sich selbst einrichten. I n zahlreichen Gesetzen finden sich vielfältige Bezugnahmen auf Möglichkeitsdenken, die hier kaum i m einzelnen systematisiert werden können 4 7 . ff) Die beschriebenen Probleme stellen sich für die Verwaltung auch i m sog. „gesetzesfreien" Raum. Hier muß sogar i n besonderem Maße theoretisch und praktisch m i t verschiedenen Möglichkeiten und Alternativen experimentiert werden: i n Gestalt „freier" (Gemeinwohl)Verwaltungspraxis 4 8 . Erinnert sei an das „Aufgabenerfindungsrecht" der Gemeinden 49 . 44

Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (344). s. noch BVerwG JZ 1972, S. 206: „Bandbreite von Entscheidungsmöglichkeiten." — Ferner BVerfGE 36, 264 (271): „Vernachlässigung anderer Auslegungsmöglichkeiten." 46 Nachweise in meinem Beitrag in: ZfP 21 (1974), S. 111 (132 ff.), s. auch den Bericht in F A Z vom 20. 12. 1975, S. 4 über die Durchführung von Planspielen seitens des Bundesbauministeriums bei der Novelle zum BBauG. s. in Soziale Sicherheit 1975, S. 173 ff.: Sachverständigenkommission diskutiert Alternativen in der Kommunalversicherungs-Finanzierung. § 11 Abs. 4 GesamthochschulentwicklungsG Nordrh.-Westf. v. 30. Mai 1972 (GVB1. S. 134, ber. S. 179): Zur Erprobung neuer Studiengänge kann der Kultusminister . . . Ausnahmen von Abs. 3, im Falle von Hochschulversuchen auch Ausnahmen von Absatz 2 zulassen. § 28: Für die Erprobung neuer Studiengänge im Gesamthochschulbereich gilt § 11 Abs. 4 entsprechend. 47 § 3 Abs. 2 des Außenwirtschaftsgesetzes lautet: Erteilung von Genehmigung in der Weise, „daß die gegebenen Möglichkeiten volkswirtschaftlich zweckmäßig ausgenutzt werden können". Zu Plänen mit Handlungsalternativen: Hufen, Gleichheitssatz und Bildungsplanung, 1975, S. 67, 69,186. 48 Zur „Bedeutung von Modelleinrichtungen für die örtliche Sozialpolitik" s. den gleichnamigen Beitrag von F.-X. Kaufmann und S. Schneider, in: Der Städtetag 1975, S. 353 ff. Zum saarländischen Modellversuch für außergerichtliche kostenlose Rechtsberatung für Minderbemittelte: FR vom 19. 8.1975, S. 16 und F A Z v. 18. 11. 1975, S. 4. Für einen durch eine befristete Sondergenehmigung ermöglichten „Ladenschlußmodellversuch" sprach sich der Düsseldorfer Regierungspräsident A. Rhode aus (FAZ vom 1. 10. 1975, S. 11). s. auch die Modellversuche zur privatrechtlichen Umstellung des Busverkehrs von Bahn und Post: FR vom 31. 8.1976, S. 5. 49 Die nachweisbare Institutionalisierung des Möglichkeitsdenkens in der geltenden Rechtsordnung zwingt zu verfassungstheoretischen Folgerungen so 45

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation c) Verfassungstheoretische A n f o r d e r u n g e n a n das M ö g l i c h k e i t s d e n k e n — G r e n z e n des M ö g l i c h k e i t s d e n k e n s

Das j u r i s t i s c h e M ö g l i c h k e i t s - u n d (pluralistische) A l t e r n a t i v e n d e n k e n ist k e i n Selbstzweck. Es i s t e i n M i t t e l z u r B e w ä h r u n g u n d i m m e r n e u e n S c h a f f u n g v o n F r e i h e i t l i c h k e i t des Gemeinwesens, f ü r gerechten, v e r n ü n f t i g e n Interessenausgleich, B e w ä h r u n g d e r V e r f a s s u n g i n d e r Z e i t , E n t w i c k l u n g d e r res p u b l i c a des Menschen u n d f ü r d e n Menschen. W i r k l i c h k e i t s - u n d N o t w e n d i g k e i t s d e n k e n b e w a h r e n das M ö g l i c h k e i t s d e n k e n v o r U t o p i e n , d i e das H e i l i n d e r Z u k u n f t suchen u n d die G e g e n w a r t v e r nachlässigen. M ö g l i c h k e i t s d e n k e n i s t e i n M i t t e l , das I n n o v a t i o n s p o t e n t i a l v o n R e c h t s n o r m e n zu erschließen. D i e R e c h t s n o r m e n setzen d e m M ö g l i c h k e i t s d e n k e n f r e i l i c h auch Grenzen, die später zu e r ö r t e r n sind. G e rade i n d e r d e m o k r a t i s c h e n res p u b l i c a w i r d A l t e r n a t i v e n d e n k e n realistisch b l e i b e n u n d w e g e n des M i n d e r h e i t e n s c h u t z e s zu Kompromissen b e r e i t sein. M ö g l i c h k e i t s d e n k e n k a n n durchaus i m E r g e b n i s w i e d e r zu e i n e r B e s t ä t i g u n g des Bewährten f ü h r e n , e t w a u m die U n h a l t b a r k e i t , die zu hohen Kostenfolgen einer abweichenden Auslegung zu begründen. Es i s t i m h i e r v e r s t a n d e n e n S i n n e n i c h t r e v o l u t i o n ä r , s o n d e r n e v o l u t i o n ä r 5 0 . D i e d e m o k r a t i s c h e T u g e n d des S o w o h l - a l s - A u c h , A u s d r u c k der T o l e r a n z 5 1 u n d des P l u r a l i s m u s h a t D i r e k t i v e f ü r A l t e r n a t i v e n d e n k e n wie umgekehrt an die Auslegung des geltenden Rechts und seine Änderung oder Neusetzung verfassungstheoretische Anforderungen zu stellen sind: Die Bestandsaufnahme läßt erkennen, wie sehr das Möglichkeitsdenken integrierender Bestandteil im Recht freiheitlicher Verfassungen schon ist, ja daß seine Verfahren, Organe und Instrumente geradezu ein Wesensmerkmal für die Freiheitlichkeit dieser Ordnungen sind. — Weitere Beispiele: Nordrh.-WestfG über kommunale Gemeinschaftsarbeit v. 26. April 1961 (GVB1. S. 190), § 1 Abs. 3: Die Befugnis, zur gemeinsamen Wahrnehmung von Aufgaben die Gestaltungsmöglichkeiten des Privatrechts zu benutzen, bleibt unberührt. — Nordrh.-Westf. EigenbetriebsVO v. 22. Dez. 1953, § 21 Abs. 2: I m Lagebericht ist über die Gesamtverhältnisse, die Marktstellung und die Entwicklungsmöglichkeiten des Betriebs am Schluß des Wirtschaftsjahres zu berichten. — LandesplanungsG Nordrh.-Westf. i. d. F. der Bekanntm. vom 3. Juni 1975 (GVB1. S. 450, ber. S. 492), § 1 Abs. 2: Die Landesplanung soll die Landesentwicklung in der Weise beeinflussen, daß unerwünschte Entwicklungen verhindert und erwünschte Entwicklungen ermöglicht und gefördert werden. — § 2 Abs. 4 Nordrh.-Westf. SchulOG v. 8. Apr. 1952 (GVB1. S. 430): Das Schulwesen ist in organische Einheit und Wechselwirkung so zu gliedern, daß die verschiedenen Begabungsrichtungen die Möglichkeiten ihrer Entfaltung erhalten und die Mannigfaltigkeit der Lebens- und Berufsaufgaben Berücksichtigung finden. 50 Vgl. auch H. Schmidts, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, 1975, S. IX., Ablehnung der Freund-Feind Kategorisierung, der ein „totales Alternativdenken" zu Grunde liegt im Gegensatz zum „piece meal social engineering", dem Gedanken schrittweiser Reformen, die sich am jeweils Möglichen orientieren, s. auch meinen Beitrag in AöR 98 (1973), S. 119 (130 ff.). Ein Plädoyer für schrittweise Reformen in BVerfGE 40, 121 (140). 51 Zu ihr als Verfassungsprinzip: Hollerbach, JZ 1974, S. 578 (580); Scheuner, HdbStKR I (1974), S. 54 ff., 64 f.; Listi, ebd., S. 375 ff.; jetzt BVerfGE 41, 29 (49 f.), 65 (78, 83, 108).

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zu bleiben. Entweder-Oder-Denken kann eine Form intellektueller I n toleranz sein. Es droht den Weg zum Ausgleich des „Sowohl-als-Auch" und damit zum demokratischen Kompromiß zu versperren, dessen Vorstufe es sein sollte. Insofern ist das Möglichkeits- und Alternativendenken spezifische Ausprägung des kritischen Rationalismus mit seinem Postulat der Falsifizierbarkeit, der „conjectures and refutations". Möglichkeitsdenken setzt Offenheit der Verfassung 52 , des Staates, der Gesellschaft, des Denkens voraus und es schafft zugleich solche Offenheit. Der kritische Rationalismus, das i h m verpflichtete (transformierte) liberale Denken i n Alternativen steht hier Pate 5 3 . „Heilige Allianzen" des Bestehenden und über das Bestehende sind i n Frage zu stellen. Eine Verfassungstheorie der „offenen Gesellschaft" lebt von solchem — realistischem — Möglichkeitsdenken. Ζ. B. sind durch Grundrechtsgarantien, insbesondere i m Wirtschafts- und Kunstbereich, viele Möglichkeiten institutionalisiert (auch Utopien!). So kann von einer die Rechtsnormen „aufschließenden K r a f t " des Möglichkeits- (Wirklichkeits- und Notwendigkeits-)Denkens gesprochen werden. Juristisches Möglichkeitsdenken ist Ausdruck und Folge, Voraussetzung und Grenze für offene Verfassungsinterpretation 54 . Auch die geltende Rechtsnorm ist immer am Möglichkeitsdenken zu testen, sie kann auf diese Weise sogar neue Legitimation gewinnen. W i r d sie ungefragt und d. h. ohne „erwogene" Alternativen hingenommen, so wäre sie weniger lebendiger Besitz — ständig spannende K r a f t (Haenel 55 ) — als toter Buchstabe, „befolgte", aber nicht eigentlich konsentierte Norm. Die Grenzen des Alternativendenkens sind m i t der Toleranzgrenze freiheitlicher Verfassungen praktisch identisch, freilich: Gedanken sind frei. Aber juristisches, d. h. eminent praxisrelevantes Denken w i r d aus einer zunächst bloß „theoretischen" Möglichkeit allzu schnell zu einer i n der Wirklichkeit schon — „vor-wirkenden" — Möglichkeit und dann zu einer Gefährdung des Normativen, so legitim umgrenzte, beherrschte Vorwirkungen i m Recht sind 5 0 . Die potentielle Vorwirkung von juristisch 52 Vgl. dazu den Versuch einer Unterscheidung von „struktureller", „funktioneller" und „materieller" Offenheit der Verfassung bei H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1974, S. 27. 53 s. auch meine Hinweise in: AöR 99 (1974), S. 437 (448 ff.). 54 Dazu meine Beiträge in ZfP 21 (1974), S. 111 ff.; JZ 1975, S. 297 ff. 53 Das Gesetz im formellen und im materiellen Sinne, 1888, S. 119.. 56 Dazu P. Häberle, öff. Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 396 Anm. 148, S. 486 ff.; dersZfP 21 (1974), S. 111 (130 ff.); Kloepfer, Die Vorwirkung von Gesetzen, 1974. Zum Vorverfahren der Verfassungsänderung meine Hinweise in AöR 99 (1974), S. 437 (463 Anm. 110).

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

konzipierten Möglichkeiten auf die jetzige Wirklichkeit zwingt zu großer Behutsamkeit, rationaler Folgenorientierung und Kosten-Abwägung. Das juristische Vor-denken kann allzu leicht eine unkontrollierbare, insbesondere politische Eigendynamik entfalten, die nicht mehr das vernünftigerweise auch Mögliche in der Norm sucht, sondern die Rechtsnorm dolo malo mißachtet. Insbesondere darf nicht u m einer „besten" Möglichkeit von morgen w i l l e n die (nur) bessere Wirklichkeit von heute aufgegeben werden. Hier gilt Pascals Einsicht: „qui veut faire l'ange, fait la bête". Als Konsequenz ergibt sich, daß Alternativendenken systemimmanent bleiben muß. „System" meint: Konstitutionsbedingungen für Offenheit, für wissenschaftlichen (theoretischen) und gesellschaftlichen (praktisch-politischen) Pluralismus. Nur zu leicht könnte sich unter dem Deckmantel der großen oder der kleinen Alternativen das System i m ganzen so wandeln, daß es substantiell bedroht ist. Der Streit um das Abhör-Urteil des BVerfG (E 30,1 [25]) ist ein Beispiel 57 . Die Substanz der „freiheitlichen Verfassung" selbst ist wie das Grundgesetz ein Angebot (Adolf Arndt), kein Experiment! Ihre Anforderungen bezeichnen die Grenzen für Möglichkeitsdenken als juristische Kategorie. I I I . Möglichkeitsdenken im Rahmen der Wirklichkeit und der Notwendigkeiten der Verfassung 1. Wirklichkeitsdenken a) Erläuterung des Begriffs Wirklichkeitsdenken ist dem (Verfassungs-)Juristen so geläufig, daß es hier nicht mehr ausführlich behandelt werden soll. N u r einige Aspekte, vor allem solche, die den thematischen Zusammenhang m i t dem Möglichkeitsdenken herstellen, seien herausgehoben. Möglichkeitsdenken hat nämlich einen doppelten Bezug zur Wirklichkeit. Einer ist negativer A r t : Möglichkeitsdenken fragt nach dem auch Möglichen, nach Alternativen zur Wirklichkeit, nach dem, was jetzt nicht wirklich ist. Möglichkeitsdenken ist aber auf der anderen Seite auch auf die Wirklichkeit angewiesen 58 : Möglich ist nur das, was i n der Z u 57 Verfassungswidrige „Rechtswirklichkeit" ist eine Unrechts-Wirklichkeit: Verfassung wirkt hier als Grenze der Wirklichkeit. Die Qualität der „guten" Verfassung hat sich gegen Quantitäten der Wirklichkeit zu behaupten. 58 Möglichkeitsdenken verlangt Wirklichkeitsdenken z. B. bei der realistischen „Grundrechtspolitik" (dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S.43 [103 ff.]) Andererseits bedarf zukunftsorientiertes Verfassungsverständnis des gedanklichen „Vor-gehens" im besonderen Maße. (Der neue Gesetzestypus des entwicklungssteuernden Gesetzes ist ein Versuch dazu.) Nicht selten ist einem veränderten Wirklichkeitsdenken erst durch „kühnes" Möglichkeitsdenken der Weg gebahnt worden! Die Möglichkeiten zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie der Wirklichkeit voraus sind, gleiches gilt von der Notwendigkeit.

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kunft wirklich sein kann. Es ist der Blick auf die (zukünftige) Wirklichkeit, m i t dem das Unmögliche vom Möglichen getrennt wird. Nach BVerfGE 15, 288 (295) soll eine Berücksichtigung des A r t . 5 GG wegen dessen „großer Bedeutung" „ i m Rahmen des Möglichen" erfolgen. I n der Numerus-clausus-Entscheidung (BVerfGE 33, 303 [333]) 59 , stellt das BVerfG das Teilhaberecht unter den Vorbehalt des Möglichen 60 i. S. dessen, „was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann". Auch hier dient der Blick auf die Wirklichkeit der Bestimmung des Möglichen. b) Bestandsaufnahme aa) Wirklichkeitsdenken i n Staats- und Verfassungsbegriffen Die „Entdeckung der Wirklichkeit" (Wieacker) ist ein allgemeiner Vorgang der Entwicklung der Rechtswissenschaft, zu dem etwa die neuere Diskussion um die „Natur der Sache" gehört. Speziell für die Staatsund Verfassungstheorie seien stichwortartig i n Erinnerung gerufen: Lassalles These, die wirkliche Verfassung eines Landes seien die i n dem Land bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse 61 , Smends 62 Blick auf den Staat als Teil der „geistigen Wirklichkeit" i n den — integrierenden — Lebensäußerungen, C. Schmitts „Drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens" (1934) und D. Schindlers „Verfassungsrecht und soziale Struktur" (1931). Kelsens juristische Ignorierung der (Verfassungs-)Wirklichkeit ist ebenso bekannt wie der bis heute anhaltende Streit u m das Verhältnis von Verfassungsrecht/Verfassungswirklichkeit m i t einer ganzen Bandbreite von Auffassungen: duale Entgegensetzung oder „korrelative Zuordnungen"· 3 , Angleichungen oder Spannungsverhältnisse 64 . Literatur ist hier Legion. Erwähnt sei Hesses Appell an den Willen der Beteiligten, die Inhalte der Verfassung zu realisieren 65 , und seine Thematik: „Die 59 s. auch BVerfGE 33, 303 (329): Abwehrcharakter als „wesentlicher Teilaspekt des Grundrechtssòhutzes, der . . . soweit wie möglich zu berücksichtigen ist"... 00 Die „Möglichkeit" bzw. Unmöglichkeit wurde als juristische Kategorie in der Dogmatik der leistungsstaatlichen Seite der Grundrechte herausgearbeitet: VVDStRL 30 (1972), S. 43 (107 f.). 61 Dazu Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 3 ff. 62 Verfassung und Verfassungsrecht, jetzt in: Staatsr. Abh., 1955, S. 136. 63 Heller, Staatslehre, 1934, S. 250 ff.; Hesse, a.a.O., S. 16. ® 4 Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, bes. S. 277 ff. Zur Diskussion auch Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968; Grimmer, Die Rechtsfiguren einer „Normativität des Faktischen", 1971. 63 Normative Kraft. a.a.O., S. 12, 16 f., 24.

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Verwirklichung der Verfassung" 66 , die anhaltende Theorie/Praxisdiskussion, F. Müllers Dogmatik zu „Normprogramm und Normbereich" 6 7 und Af. Heckeis Formel von der „normativen Relevanz der Wirklichkeit" 6 8 , R. Schmidts? 9 Zuspitzung, „nicht die Wirklichkeit soll Verfassung, sondern die Verfassung soll Wirklichkeit werden", sowie die normierende Kraft der Wirklichkeit über die Öffentlichkeit der öffentlichen I n teressen 70, endlich Scheuners Untersuchung der „Bezugnahme auf Fakten im Verfassungstext" 71 ; einschlägig ist auch die Diskussion u m „Effizienz und Verfassung" 72 » 73 . Elemente des Spannungsfelds zwischen Wirklichkeits-, Möglichkeitsund Notwendigkeitsdenken hat H. Heller 7 4 angesprochen. Er macht der Staatslehre zur Aufgabe, nicht ein Sein dem Sollen gegenüber zu stellen, sondern „ i m Sein das zukunftsgestaltende Wollen zu erkennen". Die Staatstheorie frage danach, welcher Willensgehalt der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit als gültige Entwicklungstendenz, als „wahre Wirklichkeit" zu setzen sei. Heller eliminiert das Subjektive keineswegs. Das ergibt sich aus seiner These, beantwortet werden könne die Frage nach der wahren Wirklichkeit nur durch Angabe der Ziele, die das als wahr angenommene Wollen sich setzt. M. a. W.: „Wahre Wirklichkeit" w i r d nicht von sog. Notwendigkeiten der Wirklichkeit her diktiert, von objektiven Bedingungen, sondern von vornherein vom Gesollten, Normierten, von Subjekten abhängigen Möglichkeiten bestimmt. Vom k r i t i schen Rationalismus wäre hier weitere K r i t i k zu leisten. bb) Wirklichkeitsdenken i n der Rechtspraxis Eine nach verschiedenen Ebenen und Funktionen systematisierte Bestandsaufnahme kann hier nicht durchgeführt werden. Beim — dem Juristen schon vertrauten — Wirklichkeitsdenken müssen einige Andeutungen genügen. ββ

Grundzüge, 9. Aufl. 1976, S. 17 ff. «7 F. Müller, Juristische Methodik, 1971, 2. Aufl. 1976. 68 In: HdbStKiR I (1974), S. 444 (501). 69 Unser aller Grundgesetz?, 1971, S. 13. 70 Dazu P. Häberle, öffentliches Interesse, S. 558 ff. u. ö.; s. auch ders., AöR 95 (1970), S. 86, 260 (287 ff.). 71 In: FS für Scupin, 1973, S. 323 ff. — s. noch Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 152 f., 157 ff. 72 Dazu Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, 1971; P. Häberle, Effizienz und Verfassung, AöR 98 (1973), S. 625 ff. 73 In diesem Überblick wäre auch eine Theorie der Entstehung dieser Theorien zu leisten: denn sie resultieren auch, wenn auch nicht allein, aus der Wirklichkeit. 74 Staatslehre, 1934, S. 105 f.

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Verfassungsprinzipien, die sich als Ausdruck des Möglichkeitsdenkens erwiesen haben, geraten auch bei einer Untersuchung des Wirklichkeitsdenkens ins Blickfeld; sie verdanken ihre Konstitutionalisierung häufig offenen Normativierungstendenzen, die aus der Wirklichkeit, die sie oft schwer genug „einholen", ihre wesentlichen Impulse haben, und sie sind Katalysator für weitere Verarbeitung der Wirklichkeit. Hierher gehört der „Parteienstaat" des GG, das Prinzip Öffentlichkeit 7 5 , die rechtliche Stellung der parlamentarischen Opposition 76 , die Entwicklung vom liberalen zum sozialen Hechtsstaat und i n diesem Zusammenhang die Entfaltung eines leistungsstaatlichen Grundrechtsverständnisses, sozialer Grundrechte, d. h. die Blickerweiterung auf die tatsächlichen Grundrechtsvoraussetzungen . Gesetzgebung ist — wie jede Staatsfunktion — einerseits beeinflußt von der Wirklichkeit, andererseits sucht sie diese (dank der Dimensionen des Möglichen und Notwendigen) zu steuern. I m Gesetzgebungsverfahren kommt die oft diffuse, widerspruchsvolle Wirklichkeit bis zur Verabschiedung eines konkreten Gesetzes (§ 73 a GeschOBT oder ggf. § 74 a GeschOBT — Enquete-Kommission —) i n spezifischer Weise „zu W o r t " : i n Hearings zum Zustandekommen von Gesetzen, über Beiräte 7 7 , über Einflußnahme von Pressure Groups usw. (GeschOBT-Anlage 1 a und § 10 GeschO BReg). Nach der Verabschiedung des Gesetzes, i m Verlauf seiner „Entwicklung", kommt es zur „Auseinandersetzung" m i t der Wirklichkeit i n verschiedenen Formen. Die Gesetze selbst fordern m i t vielfältigen M i t t e l n zu Wirklichkeitsdenken auf, richten Institutionen ein (Beiräte, Kommissionen, Hearings), die der Einbeziehung der Wirklichkeit i m Prozeß der Anwendung des Gesetzes dienen 78 . Die „laufende" Verarbeitung der Wirklichkeit durch ein geltendes Gesetz ist ein höchst normaler Vorgang, weil es Gesetzen immer um A k t i o n 75

Dazu P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. Zur Diskussion um Verfassung und Verfassungswirklichkeit anhand dieses Problems vgl. H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1974, S. 13 ff. 77 z. B. : das Gutachten des Wiss. Beirats beim B M der Finanzen zur „Lage und Entwicklung der Staatsfinanzen" in der BRD: Bulletin Nr. 103, S. 1001 v. 16. 8. 1975, etwa mit dem Abschnitt I I : Mögliche Maßnahmen zur Verringerung des staatlichen strukturellen Defizits, wobei „absichtsvoll" angesichts der „erwähnten anderen Möglichkeiten" steuerliche Maßnahmen an „letzter Stelle" erörtert werden, da sie dem Beirat gegenwärtig nicht als „unausweichlich" erscheinen (S. 1013). — Jüngst das Gutachten desselben Beirats „zur Aussagefähigkeit staatswirtschaftlicher Quoten": Bulletin Nr. 90, S. 849 v. 30.7. 1976. 78 Zu den bei der Exekutive angesiedelten sachverständigen Beratungsgremien vgl. Brohm, FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (48 ff.). 76

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

o d e r R e a k t i o n a u f v o r h a n d e n e oder z u k ü n f t i g e W i r k l i c h k e i t geht. Dieser n o r m a l e V o r g a n g u n t e r s c h e i d e t sich v o n d e m h i e r i n t e r e s s i e r e n d e n d a d u r c h , daß n e u e r e Gesetze ganz besondere T e c h n i k e n d e r E i n b e z i e h u n g der W i r k l i c h k e i t , der wirklichkeitswissenschaftlichen Bestandsaufnahme in sich e i n b a u e n , als A u f f o r d e r u n g z u m W i r k l i c h k e i t s d e n k e n d u r c h k o m p e t e n t e P e r s o n e n u n d G r e m i e n . D e r neue Gesetzestypus e n t w i c k e l t Techn i k e n , welche d i e V e r a r b e i t u n g d e r W i r c h k l i c h k e i t m i t M ö g l i c h k e i t s - u n d Notwendigkeitsdenken kombinieren; er soll u n t e r I V vorgestellt w e r den79. D i e Interpretationstheorien

t h e m a t i s i e r e n i n besonderer Weise die

W i r k l i c h k e i t , aber auch d i e G r e n z e n dieses W i r k e n s d e r W i r k l i c h k e i t a u f d i e A u s l e g u n g d e r Rechtsnormen. S t i c h w o r t e müssen genügen: E r 79 Zu unterscheiden sind: Beiräte, die im Gesetz selbst institutionalisiert und mit Kompetenzen ausgestattet sind (ζ. B. Gesetz zum Schutz deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung: §§ 2 Abs. 2, 5 Abs. 2, 11 Abs. 2, § 5 Hess. DenkmalschutzG v. 23. Sept. 1974 [GVB1 I S. 450], Art. 14 Bay. DenkmalschutzG v. 25. Juni 1973 [„Denkmalschutzrat"], § 17 Rhld.-pfälz. SportförderungsG v. 9. Dez. 1974 [„Landessportkonferenz"]); Hearings über die Anwendung des Gesetzes selbst und im Gesetz verankert mit Berichtspflichten (ζ. B. Datenschutzbeauftragte, Hess. DatenschutzG v. 7. 10. 1970, GVB1 I S. 625: § 10); Einschaltung (unabhängiger!) anderer Institutionen (Betriebsbeauftragte nach dem BImSchG, §§ 53 ff.), die Verbesserungsvorschläge usw. zu machen, Entwicklungen zu beobachten haben (§ 3 B W G a. F., s. auch Änd.G. v. 24. Juni 1975): Wahlkreiskommission und Wahlkreiseinteilung: Danach hat die Wahlkreiskommission die Aufgabe, über die Bevölkerungszahlen zu berichten und Änderungsvorschläge zu machen (mit Berichtspflicht an den Bundesminister des Inneren und den Bundestag); ferner Kommissionen, die in den Entscheidungsprozeß selbst einbezogen sind: so im neuen Gesetzestypus (dazu unten IV), pluralistische Beiräte, die in die Beratung vor Erlaß von Rechtsverordnungen aufgrund des Gesetzes durch die Exekutive eingeschaltet sind, ζ. B. FuttermittelG vom 2. 7. 1975 (BGBl I Nr. 76 v. 5. 7. 1975, S. 1745), § 13: Vor Erlaß von Rechtsverordnungen nach § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 4, § 6 Abs. 1 oder § 9 soll ein jeweils auszuwählender Kreis von Vertretern der Wissenschaft, der Fütterungsberatung, der Futtermitteluntersuchung, der Futtermittelüberwachung, der Landwirtschaft und der sonst beteiligten Wirtschaft angehört werden; s. auch § 51 BImSchG; s. auch das vom Bundesverkehrsministerium durchgeführte Hearing, in dem Vertreter von 13 Verbänden dem Verordnungsentwurf des Ministeriums für „Tempo 100" zugestimmt haben (FAZ v. 26. 9. 1975, S. 1); Schließlich — pluralistische — Organe, die selbst entscheiden, d. h. das Gesetz anwenden (so § 8 f. GjS, nicht aber im Gesetz zum Schutz deutschen Kulturguts). Nach einem bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion geplanten Gesetz zum Jugendmedienschutz soll die Bundesprüfstelle auch Fernsehen, Rundfunk und Spiefilme prüfen (FR v. 16. 8. 1975, S. 1). Eine Sonderstellung nimmt die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission ein (§ 34 LMBG). — § 70 LandesforstG Nordrh.-Westf. v. 29. Juli 1969 (GVB1. S. 588); Vorbereitung der RechtsVO nach § 56, Abs. 1 : Zur Vorbereitung der erstmaligen Errichtung der Forstamtbezirke durch die RechtsVO nach § 56 werden von Sachverständigenkommissionen, . . . Vorschläge ausgearbeitet. — § 14 DatenverarbeitungsG Nordrh.-Westf. v. 12. Febr. 1974 (GVB1. S. 68): Soweit es für den Aufbau des Landesinformationssystems, zur Sicherstellung der Zusammenarbeit oder einheitlichen Erledigung automatisierbarer Verwaltungsaufgaben erforderlich ist, kann die Landesregierung nach Anhörung des Beirats (§ 12) durch RechtsVO bestimmen ...

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innert sei an die wirklichkeitsbezogene Verfassungsauslegung m i t dem Ziel der Hereinnahme der Wirklichkeit i n Norminhalt und -grenze 80 , an den abgestuft freien Einsatz des öffentlichen Interesses i n der Gemeinwohlrechtsprechung 81 , an alle Formen folgen- bzw. gemeinwohlorientierter Auslegung. Die Lehren zum Verfassungswandel und seinen Grenzen 82 sowie zum Verfassungsgewohnheitsrecht (Smend und H. Huber) 83 konnten nur aus dem Kontakt m i t der Wirklichkeit entstehen. Dabei werden i n verschiedenen Richtungen Bezüge zum Möglichkeitsund Notwendigkeitsdenken sichtbar. Oft ist es gerade der Blick auf die Wirklichkeit, der die Möglichkeiten, die „ i n " der Norm liegen, erschließt, und die Notwendigkeiten, die der Norm vorausliegen oder sich aus i h r ergeben, aufzeigt. So ist eine am Sozialstaatsprinzip orientierte „wirklichkeitsbezogene" Grundrechtsauslegung 84 eine besondere Form des Möglichkeitsdenkens i n der Interpretationslehre. Beim „Verfassungswandel" und beim Verfassungsgewohnheitsrecht bildet Wirklichkeitsdenken das Einfallstor für (historische) Notwendigkeiten. Die interpretationstheoretische Verarbeitung der Wirklichkeit muß sich jetzt aber entscheidend erweitern: i m Blick auf die sich aus neuen Gesetzen ergebenden neuen Formen der Einbeziehung der Wirklichkeit einerseits und u m die bewußtere verfassungstheoretisch abgesicherte Aktivierung des Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenkens m i t dem Wirklichkeitsdenken andererseits 85 . 80 Dazu P. Häberle, D Ö V 1966, S. 660 ff. und die Kritik von H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, 1968, sowie meine Replik, D Ö V 1969, S. 150 f. 81 Nachweise in meinem öff. Interesse, bes. S. 274 ff., 344 ff., 546 ff. 82 Dazu Hesse, in FS für Scheuner, 1973, S. 123; Lerche, in Festgabe für Maunz, 1971, S. 285 ff.; s. auch Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972. 83 Smend, in: Staatsrechtl. Abh., 1. Aufl. 1955, S. 39 ff.; H. Huber, jetzt in: Ausgewählte Aufsätze 1950 - 1970,1971, S. 329 ff. 84 Als Beispiel für die Unverzichtbarkeit „guten" Wirklichkeitsdenkens im Verfassungsrecht diene der Streit um das Sozialstaatsprinzip. Hier wird die Kritik an Thesen von Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, 1970, relevant. Von einer einseitigen entstehungsgeschichtlichen Auslegung her schiebt H. die Entwicklung des Sozialstaatsprinzips in der Geschichte der BR Deutschland zur Seite. Dazu im Blick auf Möglichkeitsdenken meine Bespr. in AöR 100 (1975), S. 333 (335 ff.). — Bemerkenswert Art. 4 Abs. 2 Verf. Italien: Jeder Staatsbürger ist verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten nach eigener Wahl eine Tätigkeit oder Funktion auszuüben, die zum materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft beiträgt. 85 Zur Bedeutung von Folgenprognosen bei der Rechtsanwendung und zu ihren organisatorischen und prozessualen Problemen vgl. Hopt, JZ 1975, 341 (346 ff.). — s. auch die Verwendung spezifisch mit „sich entwickelnder W i r k lichkeit" angereicherter Prognosebegriffe (z. B. im Straf recht, Raumordnungsrecht). Zur verfassungsmäßigen Prognosesicherheit: BVerwGE 45, 51 (62). — s. jetzt die „Anpassungsverordnung" der BReg.: § 1612 a BGB (BGBl. I 1976, S. 2029).

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Es begegnen zahlreiche verschiedene Institute und Verfahren, die i m Verwaltungsbereich „Wirklichkeit" verarbeiten. Schon i n den Umschreibungen der Verwaltungsfunktion kommt dies zum Ausdruck. Doch geht es hier nicht u m diesen allgemeinen typischen Wirklichkeitsbezug des Verwaltenden. Ähnlich wie bei der Gesetzgebung sind die Formen zu suchen, die die Wirklichkeit besonders auffällig, intensiv verarbeiten wollen. Für die gesetzesgebundene Verwaltung soll hier vorläufig auf den neuen Gesetzestypus verwiesen werden sowie auf die Interpretationslehren, welche die Interpretation durch die Verwaltung noch stärker einzubeziehen hätten. „Freie" Verwaltungspraxis dagegen ist ein Beispiel dafür, daß die Wirklichkeit als solche handlungsanleitend sein kann, daß Möglichkeiten und Notwendigkeiten nicht immer erst über gesetzliche Normen vermittelt werden müssen, sondern i n „freier" Praxis unter Umständen flexibler realisiert werden können. 2. Notwendigkeitsdenken a) Erläuterung des Begriffs Die zentrale „neue" juristische Kategorie des Möglichkeitsdenkens steht i n vielfältigen Beziehungen zu bekannten juristischen Denkformen. Die Wirklichkeit als eine „Flanke" des Möglichkeitsdenkens ist untersucht worden. Der Bezug von Wirklichkeit und Möglichkeiten zu Notwendigkeiten w i r d i m folgenden behandelt. Notwendigkeitsdenken meint Denken (und Handeln), das i n dem j u ristischen Problem-,,Entdeckungs"-, Formulierungs-, Abwägungs- und Entscheidungsvorgang den Begriff „Notwendigkeit" einführt, i h n i m Verlauf dieses Prozesses „normativiert", nachdem es i h n m i t dem W i r k lichen und den Möglichkeiten konfrontiert und integriert hat. I n der juristischen Dogmatik bezeichnet Notwendigkeit eine „Mittel/Zweckrelation". „Notwendig" ist ein Mittel dann, wenn es kein geringeres M i t t e l zur Erreichung eines bestimmten Zwecks gibt. Beispiele sind: die Notwehr als die „Verteidigung, die erforderlich ist, einen rechtswidrigen gegenwärtigen Angriff abzuwehren", i m Polizeirecht „die zur Abwehr einer Gefahr erforderliche Maßnahme", die Gesetzesvorbehalte i n Grundrechten (Einschränkung der Freizügigkeit, soweit „zur Abwehr einer drohenden Gefahr" erforderlich, A r t . 11 Abs. 2 GG), schließlich der Staatsnotstand (z. B. A r t . 48 WRV m i t den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit und Ordnung). Es gibt demnach keine Notwendigkeiten „an sich", sondern nur jeweils i m Hinblick auf schon festgelegte, bestimmte Ziele. Wie konkret diese Ziele festgelegt sind, wie stark sie normativ

1. Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens

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„verdichtet" sind bzw. sein müssen, läßt sich nicht abstrakt sagen. Das hängt ganz von dem Zusammenhang ab, i n dem der Begriff „Notwendigkeit" verwendet wird, und davon, wer ihn interpretiert: der Politiker, der Gesetzgeber, der Verwaltungsbeamte, Richter oder Datenschutzbeauftragte. M. a. W. : Die Unterscheidungskriterien für das, was notwendig ist, müssen jeweils ermittelt werden, die Ziele müssen konzipiert sein; die Rechtsordnung stellt eine Stufenordnung der Wertigkeit dieser Ziele auf (und sie sagt, wer sie „kompetent" zu verwirklichen hat 8 6 ): von hohen Verfassungszielen (etwa i m Notstand) oder dem Ziel „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" oder bekannten Verfassungsaufträgen wie i n A r t . 6 Abs. 5 GG über gesetzlich fixierte Ziele (etwa nach dem BBauG oder RaumOG) bis zu „bloßen" Verwaltungszielen auf untergesetzlicher Ebene. D. h. das Notwendigkeitsdenken ist auf einen — unterschiedlich dichten — „normativen Input" angewiesen — so wie es auch der Denkschritte der Befundnahme der Wirklichkeit, des Suchens nach Möglichkeiten und ihrer Bewertung bedarf. Begrifflich muß auf klare Abgrenzung zum Möglichkeitsdenken geachtet werden. Nicht jede Möglichkeit, für die man sich entscheidet, weil man sie für „gut" oder wünschenswert hält, ist notwendig! Andererseits ist Notwendigkeitsdenken nicht absolut zu setzen, sondern an ein — wiederum wirklichkeitsorientiertes — Möglichkeitsdenken rückzukoppeln: I m juristischen Sinne notwendig kann nur das sein, was auch möglich ist — klassisch ist der zivilrechtliche Satz „impossibilium nulla est obligatio". Allerdings darf m i t dem Hinweis auf bestimmte Unmöglichkeiten auch nicht die gegenwärtige Wirklichkeit eingefroren werden. Die Grenzen des Möglichen können hinausgeschoben werden, wenn ganz besondere Notwendigkeiten drängen, das zeigt sich oft an Forschungsprojekten, die mit außergewöhnlicher Intensität vorangetrieben werden 8 7 . Dabei kommt ein Notwendigkeitsbegriff ins Spiel, der über die Dimension des Technisch-Effizienten (Notwendigkeiten zur Erreichung gegebener Ziele) hinauszugehen und seinen normativen Wert i n sich selbst zu tragen scheint. Aber auch dort, wo „große" Notwendigkeiten gemeint sind, etwa wenn E. Eppler von der „Machbarkeit des Notwendigen"

86 Zu diesem Kompetenzverständnis P. Häberle, S. 396 ff., 468 ff.

öffentliches

Interesse,

87 I m Bereich der Gesetzgebung besteht allerdings die Gefahr, daß bei scheinbar besonders dringlichen Notwendigkeiten überhastete — und daher nicht zeitgerechte — Reformwerke verabschiedet werden, vgl. Kloepfer, Der Staat 13 (1974), S. 457 (462 ff.). Vgl. auch die Stichworte „Instrumentalisierung der Zeitnot" und den Gedanken einer „notwendigen Vorbereitungsfrist", ebd. S. 462.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

spricht 88 , von der Notwendigkeit bestimmter Reformen 80 oder die Notwendigkeiten städtebaulicher Sanierung nach dem Städtebauförderungsgesetz, die Notwendigkeit einer Notstandsverfassung oder noch mehr: die Notwendigkeit einer Partial- oder Totalrevision der Verfassung, liegt der gekennzeichnete gleiche Notwendigkeitsbegriff zugrunde: auch hier sind bestimmte, jetzt besonders hohe Ziele schon i m Blickhorizont, etwa die Aufrechterhaltung bzw. Weiterentwicklung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. M. a. W.: „Große" und „kleine" Notwendigkeiten unterscheiden sich strukturell nicht voneinander. Beide richten sich auf bestimmte Ziele. Diese Ziele liegen freilich teilweise i n der Rechtsordnung und ihrem Rechtsgüter-,,System", sie sind also normativiert, teilweise liegen sie der Rechtsordnung voraus. Thematisiert sind sie als „Notwendigkeiten" des Geschichtsverlaufs i m Rahmen bestimmter Geschichtsphilosophien (etwa des Marxismus), als ökonomische Sachzwänge und Trends oder bloß als überstaatliche Bedingtheiten des modernen Staates 90 . Solche „extrakonstitutionellen" Notwendigkeiten können als Problem hier nur vermerkt werden 9 1 . Die „großen" Notwendigkeiten stehen hier nicht i m Zentrum der Betrachtung. Sie dienen nur dazu, den Begriff der Notwendigkeit von verschiedenen Seiten aufzuhellen, sind aber kein Beispiel für Notwendigkeits„denfcen". Geschichtliche Notwendigkeiten bestehen nicht deshalb, weil sie für notwendig gehalten werden, sondern verwirklichen sich häufig gerade dann, wenn sie von den handelnden Subjekten nicht erkannt werden. Als Gegenposition sei auf die Uberzeugung des kritischen Rationalismus von der Offenheit der Geschichte, der Möglichkeit der Sinngebung durch den Menschen 92 verwiesen. Als Voraussetzungen, „notwendige" Bedingungen sind die erwähnten Notwendigkeiten gewiß für Verfassungstheorie und Verfassungspolitik höchst relevant, aber sie werden nicht zu ihrem Fatum als objektive Gegebenheiten, die das Subjektive auslöschen 98 . 88

Eppler, Ende oder Wende, Von der Machbarkeit des Notwendigen, 1975. Vgl. BVerfGE 31, 275 (285). Typisch auch die bekannte, auf viele Gebiete gemünzte Formel: so viel Freiheit (ζ. B. Wettbewerb) wie möglich, so viel Zwang wie nötig. 00 Dazu v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965, S. 186 ff. und mein Beitrag in AöR 92 (1967), S. 259 (285 ff.). 01 Sie klingen bei Grimm, AöR 97 (1972), S. 489 (507) an, der Verfassungsänderungen für angebracht hält, wenn „sich die Verfassung mit Zwangsläufigkeiten in Widerspruch befindet". 92 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I I , 3. Aufl. 1973, S. 320 ff., 344. 95 Siehe E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1. Bd., 1974, Suhrkamp, S. 286: „Der subjektive Faktor ist hierbei die unabgeschlossene Potenz, die Dinge zu wenden, der objektive Faktor ist die unabgeschlossene Potentialität der Wendbarkeit, Veränderbarkeit der Welt im Rahmen ihrer Gesetze, ihrer unter neuen 89

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b) Bestandsaufnahme Schon i m tagtäglichen Sprachgebrauch w i r d gerne m i t bestimmten verfassungsrechtlichen Notwendigkeiten argumentiert; Reformpolitik stützt sich betont auf „Aufträge" und „Erfordernisse" der Verfassung. Und damit liegt es auch nahe, i n den unterschiedlichen Staats- und Verfassungsverständnissen selbst unterschiedliche Auffassungen vom Stellenwert des Notwendigkeitsdenkens zu suchen. Zwar ist bisher, soweit ersichtlich, Notwendigkeitsdenken nicht zentral und offen als Problem der Verfassungstheorie behandelt worden — Hinweise finden sich indes i n den Staatszwecklehren. Doch liegt den verschiedenen Staats- und Verfassungstheorien mehr oder weniger unausgesprochen das Problem des verschieden gewichteten Notwendigen zugrunde 9 4 . Eine Verfassungstheorie, die den Sozialstaat stärker ausbauen w i l l , ζ. B. über leistungsstaatliche und -rechtliche Grundrechtspolitik, t u t dies auch aus der Einsicht i n die Notwendigkeit solcher Vorhaben. Entsprechendes gilt für Äußerungen, die Verfassungsaufträge ernster nehmen oder aber aus Gründen des Freiraums für den politischen Prozeß oder aufgrund eines stärker liberal-technischen Verständnisses der Verfassung hier zurückhaltender sind 9 5 . Die inneren Verbindungen zum Wirklichkeitsdenken („optimale Verwirklichung der Verfassung", der Grundrechte als sozialer Grundrechte) liegen auf der Hand. Bestimmte Verfassungsänderungen als „verfassungspolitisch notwendig" zu erklären 9 6 , nachdem die Möglichkeiten auf der Basis des Wirklichen erkundet worden sind, setzt Notwendigkeitsdenken naturgemäß voraus 97 , wogegen ein Verfasungsrechtsdenken, welches das (Verfassungs-)Politische ausklammert, hier von Kompetenzüberschreitung spricht und das Notwendige erst dann zur Kenntnis nimmt, wenn es verfassungstextlich Gestalt angenommen hat. Diese verfassungstextliche Normativierung von Notwendigkeiten dürfte i n neuerer Zeit eher zu- als abnehmen: erinnert sei an A r t . 109 Bedingungen sich aber auch gesetzmäßig variierenden Gesetze. Beide Faktoren sind miteinander stets verflochten, in dialektischer Wechselwirkung, und nur isolierende Überbetonung des einen (wodurch das Subjekt zum letzten Fetisch wird) oder des anderen (wodurch das Objekt in scheinbarem Selbstlauf zum letzten Fatum wird) reißen Objekt und Subjekt entzwei." 94 Entsprechendes gilt für „realistische" und „offene" Verfassungstheorie, dazu mein Beitrag in: Rechtstheorie 7 (1976), S. 77 (83 ff.). 95 Dazu etwa die Kontroverse auf der Regensburger Staatsrechtslehrertagung mit den Diskussionsbeiträgen von Kriele, Böckenförde, Herzog u. a. : VVDStRL 30 (1972), S. 160 ff., 162 ff. 98 Zum Problem mein Beitrag in: ZfP 21 (1974), S. 111 (134 ff.). 97 Grimm, AöR 97 (1972), S. 489 (505) sieht es als Aufgabe der Wissenschaft, „gebotene" Verfassungsänderungsprojekte von „überflüssigen" zu scheiden.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

A b s . 2 G G (Erfordernisse des g e s a m t w i r t s c h a f t l i c h e n

Gleichgewichts),

aber auch a n d e t a i l l i e r t e A u f f ä c h e r u n g e n d e r N o t s t a n d s b e s t i m m u n g e n , an Bedürfnisklauseln 98, an Wirtschaftsartikel 99. N i m m t m a n die D o g m a t i k zur A k t i v i e r u n g von Verfassungsaufträgen s o w i e z u r „ G r u n d r e c h t s p o l i t i k " h i n z u (leistungsstaatlicher A u s b a u der G r u n d r e c h t e 1 0 0 ) — B e i s p i e l i s t die N u m e r u s - c l a u s u s - u n d HochschulE n t s c h e i d u n g des B V e r f G (E 33, [333 ff.] b z w . 35, 79 [114 ff., 120 ff.]) — , so zeigt sich, daß d i e E n t w i c k l u n g des l i b e r a l e n E i n g r i f f s s t a a t e s z u m soz i a l e n L e i s t u n g s s t a a t e i n G r u n d f ü r die vermehrte B e z u g n a h m e a u f das N o t w e n d i g e b z w . die N o t w e n d i g k e i t e n i m Verfassungsrecht ist. Ü b e r dies i s t auch d e r E i n g r i f f s s t a a t d i f f e r e n z i e r t e r g e w o r d e n : abgestufte Vorbehalte f ü r unterschiedlich notwendige Eingriffe („erforderlich", „besonders d r i n g l i c h " usw.) w e r d e n aus rechtsstaatlichen G r ü n d e n gef o r d e r t . D i e G e l t u n g des Grundsatzes d e r V e r h ä l t n i s m ä ß i g k e i t h a t n a t u r g e m ä ß d e m N o t w e n d i g k e i t s d e n k e n i m Verfassungsrecht neue B e r e i che erschlossen 1 0 1 . I n m e h r e r e n T e x t e n f r e i h e i t l i c h e r V e r f a s s u n g e n k o m m t das N o t w e n d i g k e i t s d e n k e n sehr g r u n d s ä t z l i c h z u m A u s d r u c k 1 0 2 , so e t w a i n d e r V e r 08 s. die Bezugnahme auf ein „öffentliches Bedürfnis": z.B. für die Privatschulen (Art. 14 Abs. 2 Satz 2 Verf. Bad.-Württ.) ; Art. 8 Abs. 2 Verf. Nordrh.Westf. spricht für das Schulwesen von „kulturellen und sozialen Bedürfnissen des Landes". Solche Bedürfnisklauseln finden sich besonders im Finanzverfassungsrecht: „unvorhergesehene und unabweisbare Bedürfnisse" bei über- und außerplanmäßigen Ausgaben: Art. 81 Bad.-Württ., 45 Abs. 2 Verf. SchleswigHolstein, 132 Satz 3 Verf. Bremen -(„wirtschaftliche und sparsame Verwaltung"). Von „notwendiger Einheitlichkeit der Verwaltung" spricht Art. 77 Abs. 2 Verf. Bayern. Notwendigkeitsdenken steckt auch hinter der Normierung öffentlicher Grundpflichten (Art. 20 Verf. Rhld.-Pfalz). — Hinter Verfassungsgeboten, ζ. B. Mußvorschriften, steht Notwendigkeitsdenken. 09 Die Dt. Landesverfassungen haben oft vergessene Bedarfsdeckungsaufgaben der Wirtschaft normiert (Beispiele: Art. 38 Abs. 1 Verf. Hessen, 51 Abs. 1 Rhld.-Pfalz; von „volkswirtschaftlichen Aufgaben" spricht Art. 65 Verf. Rhld.der Schweizerischen BunPfalz). Ungemein ergiebig sind die Wirtschaftsartikel desverfassung. Sie sind schon sprachlich Ausdruck von Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenken: Art. 22 Abs. 2 quater: Der Bund berücksichtigt . . . die Erfordernisse der Land-, Regional- und Ortsplanung. — Art. 24 Abs. 2 bis: zur Wahrung der öffentlichen Interessen, Berücksichtigung der Binnenschif fahrt nach Möglichkeit. Art. 27 Abs. 1 ter: „allgemeine kultur- oder staatspolitische Interessen", 31 Abs. 2: Wahrung der allgemeinen Interessen, Abs. 5: der Bund gewährleistet die Entwicklung usw.; § 34 Abs. 1 quinquies: Bedürfnisse der Familie; § 42 bis Satz 2: Dabei ist auf die Lage der Wirtschaft Rücksicht zu nehmen. 100 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (103 ff.); D Ö V 1972, S. 729 ff. 101 Tatbestandsmerkmale wir „erforderlich", „notwendig" in den meisten Gesetzesvorbehalten sind ein Indiz dafür (vgl. Art. 11 Abs. 2 GG, 18 Abs. 3, 98 S. 1 Verf. Bayern; 3 Abs. 2 Bremen; weitere Beispiele: 29 Abs. 4 S. 1, 35 Abs. 3 S. 1, 87 a Abs. 4 S. 1, 91, 91 a, 104 a, Abs. 4 S. 1, 111 Abs. 2, 115 a, Abs. 2, 115 c Abs. 2, 115 g S. 2 GG; s. auch Art. 2 Abs. 2 M R K , Art. 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 Abs. 2,11 Abs. 2 S. 1 MRK). 102 Texte nach Mayer-Tasch, Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975.

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fassung Finnlands (Präambel 103 ). Aufschlußreich ist A r t . 50 Verf. Italien, wonach alle Bürger Petitionen an die Kammern richten können, „ u m gesetzliche Maßnahmen zu beantragen oder um auf allgemeine Notwendigkeiten hinzuweisen". Hier w i r d ein Grundrecht i n den Dienst der Artikulierung von Notwendigkeiten gestellt. A m bedeutsamsten ist wohl § 112 Abs. 1 Verf. Norwegen. Denn er belegt, wie sehr Verfassungsänderungen von Notwendigkeitsdenken getragen sind: „Zeigt die Erfahrung, daß irgendein Teil der Verfassung des Königreiches Norwegen geändert werden muß, so w i r d der Vorschlag darüber . . . " Der Begriff des Notwendigen als Bezeichnung für eine Zweck-MittelRelation ist der juristischen Dogmatik seit langem so geläufig, daß eine Analyse der Gesetzestexte eine Fülle von Material zutage fördern w ü r de 1 0 4 . Die besondere Weise, i n der ein neuer Gesetzestypus die Erkenntnis von Notwendigkeiten m i t Möglichkeits- und Wirklichkeitsdenken für die Verwaltungspraxis kombiniert, soll erst später i m Zusammenhang untersucht werden. Die Überlegungen zum „öffentlichen Interesse" haben die prätorische Virulenz des Topos auf allen Ebenen der Interpretation nachzuweisen versucht 105 , insbesondere als „Gemeinwohljudikatur", und damit Notwendigkeitsdenken sichtbar gemacht. Jetzt ist darzutun, wie wer bei der Auslegung das Notwendige ermittelt (ζ. B. über „Gemeinwohlanalogien" 1 0 6 der Richter) und wie dabei Wirklichkeits- und Möglichkeitsdenken „mitspielen". Z u klären wäre besonders, welche interpretatorischen Konsequenzen aus den neuen Verfahren der Ermittlung des Notwendigen zu ziehen sind (Relevanz von Gutachten des SVR für den Richter bei der Überprüfung wirtschaftlicher Maßnahmen des Gesetzgebers und ähnliches, von Vorschlägen der Monopolkommission nach § 24 b 103 „Da es sich, nachdem Finnland ein unabhängiger, souveräner Staat geworden ist, als notwendig erwiesen hat, seine Verfassung durch neue grundsätzliche Bestimmungen zu entwickeln und zu festigen" . . . s. auch § 6 Abs. 2 Satz 2: Die Staatsgewalt muß bei Bedarf dafür Sorge tragen, daß für alle finnischen Staatsbürger die Möglichkeit besteht, einer Arbeit nachzugehen . . . — Präambel der Verf. Frankreich von 1946: „Es (das französische Volk) verkündet als für unsere Zeit besonders notwendig die nachstehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Grundsätze." — s. auch Art. 41 Abs. 1 Satz 2 Verf. Irland: Der Staat garantiert . . . den Schutz der Familie als notwendige Grundlage der sozialen Ordnung und als unentbehrlich für das Wohl von Volk und Staat. — Verfassungsgeschichtlich war wichtig der Durchbruch in Art. 6 Menschenrechtserklärung 1789: Das Gesetz soll nur solche Strafen festsetzen, die unbedingt und offenbar notwendig sind . . . s. auch Art. 9 und 14. 104 Oft steht die Rechtsnorm, mitunter noch erkennbar, erst am Ende einer lang umkämpften Entwicklung. Beispiel ist § 1 S. 1 PartG, wonach Parteien „verfassungsrechtlich notwendige Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung" sind. 105 Belege in meinem öff. Interesse, passim, bes. S. 240 ff. 106 Dazu meine Nachweise ebd., S. 316 ff., 359 ff.

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GWB bei der Fortbildung des Hechts, von Äußerungen spezialgesetzlich institutionalisierter pluralistischer Beiräte bei der richterlichen Rechtsanwendung?). Der Interpret muß sich überlegen, wie er die Norm nicht nur wirklichkeits- und möglichkeitsorientiert auslegt 107 , sondern auch welche funktionell-rechtlichen Notwendigkeiten gerade er als solche berücksichtigen kann und darf. 3. Die Integration der Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten im Vorgang (des Denkens und Handelns) der öffentlichen Verfassungsinterpretation und -politik a) Das Verhältnis der drei Denkrichtungen untereinander (Konkurrenz und Kooperation, Konfrontation und Integration) Die These ist: Inhalt, Geltungskraft und Wandel von Rechtsnormen, aber auch ihre Grenzen lassen sich erst über die offene Trias des Möglichkeits», Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens voll erschließen. Und auch bei der Normsetzung wirken diese drei Denkrichtungen zusammen. Es bestehen Verhältnisse der Konkurrenz, aber auch und vor allem der Kooperation. Die „richtige" Dosierung der Denkstile w i r d zu dem Problem juristischen Denkens. Für eine analytische Vorgehensweise müßte die Kooperation von Möglichkeits·, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken ein „Nacheinander" sein. Zunächst muß die Wirklichkeit erforscht werden, dann muß nach alternativen Möglichkeiten gefragt werden; diese müssen bewertet werden, damit dann Notwendigkeiten festgestellt werden können. Bei dieser Betrachtungsweise handelt es sich nicht u m Denkstile, sondern u m Denkschritte, die aufeinander folgen. Sie setzt eine scharfe Trennung der auf den einzelnen Stufen zu leistenden Denkweise voraus, die in der Praxis kaum durchgehalten werden kann. Wählt man dagegen einen Ansatz, der auf den neueren Überlegungen zur Topik aufbaut, dann sieht man keine lineare Abfolge von Schritten mehr, sondern ein vieldimensionales und höchst kompliziertes In-, M i t - und Gegeneinander. Das „Mischungsverhältnis" der Denkstile w i r d unterschiedlich sein, je nachdem welche Funktion i n Frage steht: „Politik", Rechtsetzung, Rechtsprechung, Ver107 Ein Beispiel aus der Interpretationspraxis des BVerfG: E 31, 275 (285): „Die Eigentumsgarantie und das konkrete Eigentum sollen keine unüberwindliche Schranke für die gesetzgebende Gewalt bilden, wenn Reformen sich als notwendig erweisen. Der Gesetzgeber ist bei einem Reformwerk nicht vor die Alternative gestellt, die nach dem bisherigen Recht begründeten subjektiven Rechte entweder zu belassen oder unter den Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 3 GG zu enteignen; er kann individuelle Rechtspositionen umgestalten, ohne damit gegen die Eigentumsgarantie zu verstoßen." — Ferner: E 39, 1 (51: Prüfung, ob der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten das Erforderliche getan hat).

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waltung, und die unterschiedliche Akzentuierung ist ein Merkmal für die Unterscheidung (nicht Trennung!) der einzelnen Staatsfunktionen. Für eine Verfassungstheorie der Praxis w i r d das funktionell-rechtliche Zusammenspiel verschiedener Denkweisen und seine Organisation 1 0 8 zum zentralen Problem. Die drei Denkrichtungen begrenzen sich gegenseitig, ζ. B. bewahrt das Wirklichkeitsdenken die juristische Dogmatik vor einer Vorherrschaft desStatus-quo-Denkens, aber auch vor dessen gegenteiligem Extrem: den Veränderungsideologien 109 . Das Verfassungsverständnis, etwa eine betont praxisbezogene Verfassungstheorie und Leitidee von „guter", insbesondere kompromißbereiter Verfassungsinterpretation und -politik, entfaltet steuernde K r a f t i n bezug auf den Vorgang der Konfrontation und Integration der Ergebnisse, besser: der vorläufigen Ergebnisse der drei Denkschritte. Sie leisten Selektion durch Zielprojektion, „sammeln" das Material der drei Denkschritte, nehmen Akzentuierungen zwischen ihnen vor — das können sie, weil die Trias offengehalten ist, „locker" gefügt bleibt und das „Kräfteparallelogramm" aus — schon oft i n sich antagonistischen — Möglichkeiten und Notwendigkeiten unter der Einwirkung normativer Ziele flexibel ist. Aus dem „Ensemble von Möglichkeiten" sind solche auszuwählen, die die „vorhandene" Wirklichkeit zu einer besseren fortentwickeln und Gefahren des Umschlagens i n eine schlechtere Wirklichkeit abwenden. Das Zusammenwirken der drei Denkschritte setzt also normative „Ein- und Vorgaben" (den „normativen Input") voraus 1 1 0 . 108 Auch bei der Organisation muß nach neuen Möglichkeiten gesucht werden. Vgl. Brohm in FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (75): „Die Möglichkeit nicht offiziell bestellter Experten, mit ihren Vorstellungen direkt zum Parlament zu gelangen, böte eher die Chance, dieses mit echten Alternativen vertraut zu machen, auf die Notwendigkeit neuer Zielbestimmungen hinzuweisen und frühzeitig zur Korrektur von Fehlabläufen zu veranlassen." 109 Dazu kritisch Lerche, in F G für Maunz, 1971, S. 285 (289 ff.). 110 Das EWG Vertragsrecht (1957) erweist sich als enges „Geflecht" rechtlich institutionalisierten Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens. Beispiele für Möglichkeitsdenken: sog. Entwicklungsartikel (gem. Art. 2 E W G V die Förderung einer „harmonischen Entwicklung des Wirtschaftslebens" als Aufgabe der Gemeinschaft; s. auch Art. 3 Ziff. k). Ferner Art. 110 Abs. 1; 90 Abs. 2 S. 2; 93 Abs. 1 S. 2. Art. 117 Abs. 2 bringt eine Kombination von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken. — Symptomatisch ist Art. 122 (Jahresbericht über die Entwicklung der sozialen Lage) und Art. 128 (Grundsätze für die Berufsausbildung als Beitrag zu einer harmonischen Entwicklung sowohl der einzelnen Volkswirtschaften als auch des Gemeinsamen Marktes, s. auch Art. 130, Aufgabe der Europäischen Investitionsbank: zu einer ausgewogenen und reibungslosen Entwicklung des Gemeinsamen Marktes beizutragen). Art. 155 überträgt der Kommission bestimmte Aufgaben, „um das ordnungsmäßige Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten". — Möglichkeitsdenken, kombiniert mit dem Optimierungsproblem, findet sich in der Formulierung des Art. 68 Abs. 1 „so großzügig wie möglich zu verfahren", in Art. 70 Abs. 1 S. 3 („ein

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b) Die Bewertung des Wirklichen, Möglichen und Notwendigen i m Horizont des Normativen Hier stellt sich die Gretchenfrage: Wo bleibt angesichts des — juristischen — Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenkens das sog. eigentliche Normative? Löst es sich auf oder ist es nicht vielmehr bislang dadurch verkürzt und verarmt geblieben, daß es nicht konsequent und grundsätzlich ab initio i n die Horizonte des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellt wurde? Die A n t w o r t lautet: Das Normative, das Gesollte w i r d nicht etwa i n der Trias der Möglichkeiten, Notwendigkeiten und Wirklichkeit „verloren". Von vornherein dürfen Möglichkeits·, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken nicht „unabhängig" von der Rechtsnorm praktiziert werden. Es geht um die „Bewertung" des Wirklichen, der Möglichkeiten und die Einbeziehung des Notwendigen, es geht u m die Eingrenzungsaufgabe vom Normativen her. Nicht als ob es unbewertete, voraussetzungslose Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten gäbe! Es wäre eine Illusion, anzunehmen, „gute" Verfassungspolitik könnte eine Resultante von Faktoren sein, die nicht schon den — das „gute" Ergebnis determinierenden — normativen „ i n p u t " enthielten. Wertungen sind je immer schon i m Spiel, selbst bei der noch so empirischen Befundnahme von der Wirklichkeit, bei den noch so sehr von allen Normen freigesetzten („entfesselten") Möglichkeiten — und der möglichst weitgehende Verzicht auf vorschnelle normative Einbindungen der Möglichkeiten bis h i n zum „Abwegigen" soll die produktive, innovatorische K r a f t des Möglichkeitsdenkens freisetzen. Schließlich liegen dem „realistisch" konzipierten Notwendigkeitsdenken normative Zielsetzungen, „Vorgaben" immer zugrunde; nur müssen sie tunlichst offengelegt werden. c) Das Beispiel des Verfassungsauftrags Ein Beispiel für das — normativ gesteuerte — Zusammenwirken verschiedener Denkstile ist der Verfassungsauftrag 111 des A r t . 6 Abs. 5 GG. Höchstmaß an Liberalisierung zu erreichen"). Belege für Notwendigkeitsdenken: Art. 75 Abs. 3: „die Notwendigkeit einer Anpassung an die sich aus der Errichtung des Gemeinsamen Marktes ergebende wirtschaftliche Entwicklung". s. auch Art. 70 Abs. 2, 77, 117 Abs. 1. — Beispiel für Wirklichkeitsdenken ist Art. 8 Abs. 1 („schrittweises" Vorgehen); Bezugnahmen auf den tatsächlichen Zustand finden sich in Art. 48 Abs. 3 , 81 Abs. 1, 54 Abs. 2, 62; Art. 235 koppelt Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken. 111 Siehe aber Art. 29 a. F. GG, wo praktisch „nichts mehr geht". Daraus kann die Konsequenz gezogen werden, Art. 29 GG angesichts einer entgegenstehenden, durchaus nicht schlechten Wirklichkeit aus der Verfassung zu streichen, s. B M Maihofer, in: Bulletin v. 5. 9. 1975, Nr. 109 S. 1079: „Es besteht Grund zu der Erwartung, daß sich schon in aller Kürze abzeichnet, ob eine gemeinsame Grundlage zunächst für eine Grundgesetzänderung gefunden werden kann, die den politischen Gegebenheiten besser entspricht als die gegenwärtige Fassung des Art. 29 GG, indem sie moderne Ziele aufgestellt und eher realisier-

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Er wollte eine defiziente öffentliche Wirklichkeit korrigieren: die der Benachteiligung des unehelichen Kindes. Leitbild ist die normgestaltete Wirklichkeit des „ehelichen Kindes". Wirklichkeitsdenken ist hier i n voller Breite notwendig, auch und gerade dort, wo sich wie bei A r t . 6 Abs. 5 GG eine Norm gegen eine bestimmte vorgefundene Wirklichkeit richten soll. Notwendigkeitsdenken war eine Ursache für die Normierung des A r t . 6 Abs. 5 GG, so wie es überhaupt wesentlich hinter Verfassungsaufträgen steht. Die überkommene Diskriminierung hatte Nachteile für das Ganze; das demokratische Gemeinwesen war unglaubwürdig angesichts der sozialen Unterprivilegierung unehelicher Kinder. Das Möglichkeitsdenken w i r k t e seinerseits motivierend, aber auch begrenzend für A r t . 6 Abs. 5 GG: motivierend insofern der Verfassunggeber überzeugt war, daß eine weitgehende Gleichstellung möglich sein würde, begrenzend insofern realistisch zu bedenken war, daß eine totale Gleichstellung nicht erreichbar ist, und wegen des Schutzes von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1,2) als solche auch nicht erreichbar sein kann und sein soll. I m Zusammenhang m i t dem Problem der Normativierung sind auch die Grenzen zu sehen, die den drei Denkstilen von der Rechtsnorm gesetzt werden: Die Selektionsleistung der Rechtsnorm liegt darin, daß sie bestimmte — „schlechte" — Möglichkeiten gerade ausschließen w i l l , daß sie sich auch gegen angeblich noch so dringende „Notwendigkeiten des Gemeinwohls", die „Staatsräson" und ähnliches zu behaupten weiß, daß sie einer bestimmten „schlechten" — öffentlichen — Wirklichkeit trotzt. So sehr also die erwähnte Trias die Rechtsnormen „aufschließt", so sehr sind die Grenzen des Vorgangs ins Auge zu fassen. Rechtsnormen haben sich auch gegen bestimmte Wirklichkeit, Möglichkeiten und Notwendigkeiten zu stellen und zu behaupten. Das Verhältnis ist ambivalent, aber es ist fruchtbar. Ohne Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenken, ohne ihre Konfrontation und Integration gibt es keine sachgerechte Auslegung und Fortentwicklung von freiheitlichen Rechtsnormen, aber auch keine Setzung von Rechtsnormen i n freiheitlichen Verfahren 1 1 2 . Ohne Rechtsnormen gibt es aber auch kein juristisches Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken! Sie sind Vehikel dieses dreidimensionalen Denkens, und als solche unentbehrlich. bare Verfahren für eine Neugliederung des Bundesgebietes anbietet." — Anderes gilt für Art. 15 GG, wo das Normative selbst offen bleibt, also keineswegs außer Kraft tritt, keine desuetudo vorliegt, auch die Möglichkeit durchaus bleibt, nur eben die politischen Zielsetzungen und Antriebskräfte, sie in die Wirklichkeit umzusetzen, fehlen. Freilich ist Art. 15 GG kein Verfassungsauftrag, sondern eine bloße Kompetenznorm. 112 Jüngst B M Maihofers Vorschlag im Bundeskabinett, den im GG enthaltenen Zwang zur Neugliederung des Bundesgebietes in eine Ermächtigung umzuwandeln, nachdem er in Gesprächen mit den politischen Parteien den Eindruck gewonnen habe, daß eine baldige GG-Änderung in diesem Sinne möglich sei: F A Z v. 4. 9. 1975, S. 2. s. jetzt: Art. 29 n. F. GG.

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Die Entwicklung der Verfassung, ihre Bewährung i n der Zeit, Freiheit und Verantwortung i m politischen Gemeinwesen können sich nur i n der Ausgewogenheit des Verhältnisses dieser drei Denkweisen halten. Die Interpretation der einzelnen Verfassungsprinzipien muß sich ständig neu „zwischen" diesen Denkstufen bewegen und ihre bisherigen Ergebnisse überprüfen. Die juristische Ethik der Verfassungsinterpreten, aber auch des Verfassungspolitikers entfaltet sich i n und durch Möglichkeits-, Notwendigkeits- und Wirklichkeitsdenken i n diesem Sinne. Kompromiß, Interessenausgleich, Pluralität, Öffentlichkeit, Toleranz, Mehrheitsprinzip bei Minderheitenschutz, Repräsentation nicht organisierter Interessen, grundrechtliche Freiheit, Gemeinwohlgerechtigkeit — all das sind spezielle Ausprägungen der hier untersuchten Denkstile. I V . Das moderne offene Entwicklungsrecht am Beispiel eines neuen Gesetzestypus: Das steuernde Entwicklungsgesetz 1. Bestandsaufnahme Die Untersuchung moderner Gesetze fördert einen Typus zutage, der Elemente des Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenkens i n besonderer, spannungsreicher Weise zu integrieren versucht: den Typ des Entwicklungs- oder Förderungs- bzw. Plangesetzes als Ausprägung moderner Leistungsgesetze 118 . Beispiele sind das RaumordnungsG des Bundes (1965), das StädtebauförderungsG (1971 114 ), das zweite WohnungsbauG (Fassung von 1965), das WasserhaushaltsG von 1964 (hier besonders § 36 — wasserwirtschaftliche Rahmenpläne — 1 1 5 ), das StabilitätsG (1967) und das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (1963), schließlich das AußenwirtschaftsG (§§ 3 Abs. 1 S. 2, 6, 6 a, 8, 10 Abs. 3 1 1 β ), § 24 b I GWB sowie die Novelle zur Handwerksordnung aus dem Jahre 1969. 113 Zu den Leistungsgesetzen mein Beitrag, in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 (455 ff.). Der Begriff „Leistungsrecht" bürgert sich zunehmend ein, vgl. ζ. B. F A Z v. 23. 8. 1975, S. 1 im Blick auf das Gesetz zur Verbesserung der Haushaltsstruktur, F A Z v. 30. 8.1975, S. 2: „Weitere Eingriffe in das Leistungsrecht vorprogrammiert". 114 Dazu BVerfGE 39, 96 ff. 115 § 36 Abs. 1 S. 1: U m die für die Entwicklung des Lebens und der Wirtschaftsverhältnisse notwendigen wasserwirtschaftlichen Voraussetzungen zu sichern . . . § 36 Abs. 2 geht es um die Erfordernisse des Hochwasserschutzes und der Raumordnung. 116 s. auch schon das EnergiewirtschaftsG vom 13. 12. 1935 (RGBl. I S. 1451; BGBl. I I I 752-1), Vorspruch: „Um die Energiewirtschaft als wichtige Grundlage des wirtschaftlichen und sozialen Lebens im Zusammenwirken aller beteiligten Kräfte der Wirtschaft usw. einheitlich zu fördern, im Interesse des Gemeinwohls die Energiearten wirtschaftlich einzusetzen, den notwendigen öffentlichen Einfluß in allen Angelegenheiten der Energieversorgung zu si-

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I n diesen Gesetzen sucht der Gesetzgeber Entwicklungen i n der W i r k lichkeit durch eine Fülle von verschiedenen Instrumenten zunächst zu erkennen bzw. durch andere erkennen zu lassen — erste Stufe —, u m sie dann auf bestimmte (Verfassungs-)Gemeinwohlziele hinsteuern zu können (letzte Stufe). Er verlangt Bestandsaufnahmen der Wirklichkeit (Berichte, ζ. B. Jahreswirtschaftsbericht gem. § 2 StabG, Übersicht über Finanzhilfen, § 12 Abs. 4 StabG, „Orientierungsdaten" u. ä.), die zugleich i n die Zukunft weisen, und u m seinerseits Möglichkeiten (zum Handeln) ins Auge fassen zu können. Notwendigkeitsdenken kommt i n (Verfassungs-)Zielen des Gesetzes zum Ausdruck, etwa i n § 1 StabG: „Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" 117 oder i n § 4 StBFG 1 1 8 . Möglichkeitsdenken ist i n § 9 StabG und i n dem dort vorgesehenen 5jährigen Finanzplan verlangt: Wechselwirkungen zwischen den voraussichtlichen Ausgaben und den Deckungsmöglichkeiten einerseits und der „mutmaßlichen Entwicklung des gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögens", ggf. durch Alternativrechnungen andererseits 119 . Prognosen bzw. Erwartungen finden sich i n § 27 a Abs. 2 HandwO, eine Experimentierklausel („Entwicklung und Erprobung neuer Ausbildungsformen") i n §27 Abs. 2 ebenda 120 . Ergiebig ist das StBFG, so i n § 4 Abs. 2, 3 Satz 2, wonach die Gemeinde, sobald dies nach dem Stand der Vorbereitungen und der Sanierung möglich ist, Vorstellungen entwickeln und m i t den Betroffenen erörtern soll 1 2 1 . ehern, volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs zu verhindern, einen zweckmäßigen Ausgleich durch Verbundwirtschaft zu fördern und durch all dies die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten, hat die Reichsregierung das folgende Gesetz beschlossen..." 117 s. auch § 5 Abs. 1, 6 Abs. 2 S. 2: „erforderlich". 118 Vorbereitende Untersuchungen „über die Notwendigkeit der Sanierung, die sozialen, strukturellen und städtebaulichen Verhältnisse sowie die Möglichkeit der Planung und Durchführung der Sanierung". § 60 StBFG: „Erfordernisse der Entwicklungsmaßnahmen", § 62: „Anpassung an die vorgesehene Entwicklung". 119 s. auch die Bezugnahme auf Entwicklungen, ζ. B. in § 12 Abs. 2 Ziff. 3 StabG und dessen § 18 Abs. 2 Ziff. 1: Konjunkturrat zur Beratung der „Möglichkeiten der Deckung des Kreditbedarfs der öffentlichen Haushalte" ; dies ist zugleich ein Stück normierten Notwendigkeitsdenkens! 120 s. auch § 26 Abs. 2 HandwO: „Möglichst großer Bereich von Tätigkeiten", ähnlich Abs. 3. s. auch § 11 StabG: „Beschleunigung der Investitionsvorhaben" (hier geht es offenbar um eine Steuerung der Entwicklung). — Entwicklungscharakter im Spannungsfeld des Notwendigen und Möglichen hat § 25 Abs. 1 HandwO : Erlaß von Ausbildungsordnungen u. a. zur „Anpassung an die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernisse und deren Entwicklung". s. auch § 42 Abs. 2 HandwO : Anpassung an Erfordernisse. 121 § 4 Abs. 1 S. 1 spricht von Möglichkeiten der Planung und Durchführung der Sanierung.

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Wirklichkeitsdenken kommt zum Ausdruck i n mit bestimmten Personen besetzten Organen, Gremien und Verfahren zur Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, zur Beobachtung der weiteren Entwicklung, die oft ausdrücklich als „mutmaßliche" gekennzeichnet wird, und ggf. zu ihrer Steuerung. Beispielhaft sind: § 2 Abs. 1 Ziff. 2 StabG m i t seiner „Jahresprojektion" der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, „ggf. m i t Alternativrechnungen", dies ist zugleich ein Anwendungsfall des Möglichkeitsdenkens als Denken von Alternativen. § 3 StabG spricht von den Orientierungsdaten: Darstellung der gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge i m Blick auf die gegebene Situation 1 2 2 . Verbindungen von Wirklichkeits- und Möglichkeitsdenken finden sich i n § 4 StabG, wonach bei außenwirtschaftlichen Störungen die Bundesregierung alle Möglichkeiten der internationalen Koordination zu nutzen hat. Wenn § 10 Abs. 2 StabG Investitionsprogramme „nach Dringlichkeit" nennt, so kommt darin Notwendigkeitsdenken angesichts einer — defizienten — Wirklichkeit zum Ausdruck 1 2 3 . Ein ganzes „Bündel" von Wirklichkeits-, Notwendigkeits- und Möglichkeitsdenken findet sich i m Katalog des § 2 RaumOG 1 2 4 , insbesondere m i t Bezugnahme auf gute Verhältnisse, bestimmte Entwicklungen und Verbesserung der Lebensbedingungen 125 . I m Kraftfeld des Wirklichkeits-, aber auch des Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenkens steht das StBFG 126 m i t dem charakteristischen Begriff der „Entwicklungsmaßnahmen" (§§ 1 Abs. 3, Abs. 4, 53 ff.) und dem der „städtebaulichen Mißstände" (§ 3). Er besteht i n einer defizienten Wirklichkeit, besonders i m Blick auf Grundrechte, so wenn von „gesunden Wohn- und Arbeitsverhältnissen" die Rede ist. Der Bezug zu Menschenwürde, Gesundheit und Arbeitskraft liegt auf der Hand. Angesprochen sind auch kulturelle Aufgaben (§ 3 Abs. 3 Ziff. 2 c). § 8 Abs. 2 Satz 3 normiert eine Pflicht zur laufenden Ergänzung des Sozialplans. Der Sozialplan enthält seinerseits Elemente der drei Denkschritte. Bemerkens122 s. auch § 11 RaumOG: Untersuchung der „räumlichen Entwicklung des Bundesgebietes (Bestandsaufnahme, Entwicklungstendenzen)". 123 s. auch die Nutzen/Kostenuntersuchung nach § 6 Abs. 2 H G r G (ebenso § 7 Abs. 2 BHO). 124 s. auch § 1 Abs. 1 S. 2 RaumOG: „Natürliche Gegebenheiten sowie wirtschaftliche, soziale und kulturelle Erfordernisse", Abs. 4: „Gegebenheiten und Erfordernisse." 125 s. auch die typische Pflicht zur Unterrichtung des Dt. Bundestags in § 11 RaumOG. — Entsprechendes gilt für die HandwO : I m Rahmen der beruflichen Fortbildung zielt § 42 Abs. 2 HandwO auf eine Anpassung an technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Erfordernisse ab. §§ 42 Abs. 1, 42 a Abs. 2 und 3 sprechen von „besonderen Erfordernissen beruflicher Erwachsenenbildung". Hier ist das grundrechtseffektivierende Ziel erkennbar. 126 s. § 1 Abs. 1 S. 1: städtebauliche Sanierungs- und Entwicklungsmaßnahmen in Stadt und Land werden . . . „vorbereitet, gefördert, durchgeführt".

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wert ist die Bezugnahme auf die Arbeits- und Berufsförderung nach dem A F G von 1969 (§ 8 Abs. 2 S. 4). § 89 StBFG institutionalisiert auch typusgerecht den Deutschen Hat für Stadtentwicklung m i t einschlägigen A u f gaben (Abs. 2) und normiert Kompetenzen für Orientierungsdaten, Stellungnahmen, wissenschaftliche Erkenntnisse. Ein frühes prägnantes Beispiel für den Typus des steuernden Entwicklungsgesetzes ist das Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vom 14. August 1963 (BGBl. I S. 685). Seine Aufschlüsselung unter den hier relevanten Gesichtspunkten ergibt folgendes: Gemäß § 1 Abs. 1 w i r d „zur periodischen Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung i n der BRD und (!) zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie i n der Öffentlichkeit ein Rat von unabhängigen Sachverständigen gebildet". Es geht also um eine wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Sie ist die zentrale Aufgabe des neuen Gremiums 1 2 7 . Das Gesetz macht sich damit selbst zu einem schon „klassischen" Beispiel des neuen Typus; auch die übrigen Elemente, insbesondere das Möglichkeitsdenken, die Zielprojektion, das funktionell-rechtlich differenzierte Zusammenspiel m i t anderen Instanzen sind nachweisbar. Der Denkschritt: „Betrachtung der Wirklichkeit", „Wirklichkeitserforschung" ist thematisiert i n § 2, zugleich m i t dem Möglichkeitsdenken und der Aufgabe der Bewertung der einen Wirklichkeit der Gegenwart und vieler Möglichkeiten der Zukunft: Der SVR soll i n seinem Gutachten die „jeweilige gesamtwirtschaftliche Lage und deren absehbare Entwicklung darstellen". Diese Befundnahme ist Vorarbeit für andere I n stanzen, die dann bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen haben. Dazu ist aber der SVR als wissenschaftliches Grem i u m gerade nicht berufen. § 2 Abs. 5 bestimmt aus guten funktionellrechtlichen Gründen: Der SVR soll Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Beseitigung aufzeigen, jedoch keine Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen aussprechen. Zwar liegt i n jeder Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, zumal ihrer aktuellen und „absehbaren" (möglichen) Entwicklung notwendig auch eine Prognose. Aber das Handeln ist dem parlamentarischen System entsprechend Sache der Exekutive und Legislative bzw. der Wirtschaft, aber nicht einer wissenschaftlichen Kommission 1 2 8 . 127 Zur verfassungsrechtlichen Stellung und zur praktischen Arbeit des SVR vgl. Brohm, FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (65 ff.). Zur Unabhängigkeit des SVR: BVerfGE 40,11 (40). 128 Große Publizität hat der jüngste Bericht des Sachverständigenrats erfahren, dazu F A Z vom 20. 8. 1975 und 21. 8. 1975.

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Möglichkeitsdenken w i r d i n einer Vielzahl von Sätzen gefordert, i m Untersuchungsziel: „wie i m Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung" (!) gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können (§ 2 S. 2), bei der Feststellung der „Ursachen von aktuellen und möglichen Spannungen zwischen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und dem gesamtwirtschaftlichen Angebot, welche die i m Satz 2 genannten Ziele gefährden" — hier zeigt sich Notwendigkeitsdenken! Und i n Satz 3, wonach bei der Untersuchung „jeweils verschiedene Annahmen zugrunde gelegt und deren unterschiedliche Wirkungen dargestellt und (!) beurteilt werden" sollen, ist das Alternativendenken denkbar prägnant normativiert! Gleiches gilt für den Auftrag, „Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung aufzuzeigen". Der Bewertungsauftrag, der normative Input ist auch klar umrissen, insofern die Ziele, das „magische Viereck", auch i m Blick auf den Endkompromiß (vgl. A r t . 109 Abs. 2 GG, § 1 StabG) „ i m Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung" ausdrücklich i n bezug genommen sind 1 2 9 . Die einzelnen Denkschritte i m Verfahren der Bestandsaufnahme der Wirklichkeit, d. h. der aktuellen Wirklichkeit, der möglichen von morgen, bei den Bewertungen der Wirklichkeit und Möglichkeiten 1 3 0 sucht das Gesetz durch spezielle Instrumente und Verfahren zu organisieren: Erwähnenswert sind die Unabhängigkeitsgarantie des § 3 Abs. 1, die Institutionalisierung des Minderheitsvotums auch hier (§ 3 Abs. 2), Ausdruck des Bestrebens nach umfassender Offenlegung 1 3 1 — damit gibt das Gesetz selbst die Problematik auch „bloßer" Bestandsaufnahme (wenn man w i l l : Beweisnahme) ehrlicherweise zu erkennen 1 3 2 . Das Verfahren ist weiter differenziert durch die Pflicht des SVR, die Gutachten der Bundesregierung zuzuleiten und sie acht Wochen danach zu veröffentlichen (Abs. 3): Exekutive und Öffentlichkeit als Adressat! Funktionell-rechtlich aufschlußreich ist § 6 Abs. 4, wonach die Bundesregierung „gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Stellung" nimmt, wobei „insbesondere die wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen, welche die Bundesregierung 129

Ebenso im Begriff „Fehlentwicklungen", s. auch § 6 Abs. 1 S. 2 a.E.: Zusatzgutachten nach Ermessen bei Gefährdung dieser Ziele. 130 Möglichkeiten sind im Plural, die Wirklichkeit stets nur im Singular zu sehen. 131

Vgl. auch § 30 Abs. 2 BVerfGG. s. das Informationsinstrument des § 4: eine Art Hearing für Vertreter von Organisationen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, sowie gem. § 5 Abs. 1 für fachlich zuständige Bundesminister und den Präsidenten der Bundesbank; sie haben nach Abs. 2 sogar ein Recht auf Anhörung. 132

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aus dem Gutachten zieht, darzulegen" sind. „Wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen": das meint Bewertung i m Blick auf bestimmtes politisches Handeln, meint Regierungsfunktionen, meint handlungsorientiertes Bewerten schon sehr konkreter, „bestimmter" A r t . Das ist funktionellrechtlich Sache der Regierung, die jetzt auch i m Sinne des Notwendigkeitsdenkens agieren bzw. reagieren muß, nachdem genügend Vorverfahren durchgeführt sind. Dieses Stück Gewaltenteilung zwischen Wissenschaft, Parlament und Regierung bzw. umgekehrt findet sich mehr oder weniger deutlich auch i n anderen steuernden Entwicklungsgesetzen. Die Einrichtung der Monopolkommission in § 24 b GWB verbindet alle Momente des entwicklungssteuernden Gesetzes nach dem Vorbild des StabG und des SVRG: der Auftrag zur „regelmäßigen Begutachtung der Entwicklung der Unternehmenskonzentration" (Abs. 1 S. 1), zur Beurteilung des „jeweiligen Standes der Unternehmenskonzentration sowie deren absehbare Entwicklung unter wirtschafts-, insbesondere wettbewerbspolitischen Gesichtspunkten" (Abs. 3 S. 1), die Absicherung des Status der Unabhängigkeit der Mitglieder durch die Inkompatibilitätsklausel (Abs. 2), die Qualifikationsvoraussetzungen „besondere volkswirtschaftliche, betriebswirtschaftliche, sozialpolitische, technologische oder wirtschaftsrechtliche (!) Kenntnisse und Erfahrungen" (Abs. 1 S. 2), Minderheitsvotum (Abs. 4 S. 2), Stellungnahme der Bundesregierung zu den — veröffentlichten — Gutachten „gegenüber den gesetzgebenden Körperschaften" (Abs. 5 S. 5). Das novellierte GWB verfügt jedoch über zwei weitreichende Besonderheiten: Die Monopolkommission soll „die Anwendung der §§ 22 - 24 a würdigen" (Abs. 3 Satz 2, s. auch Abs. 1 Satz 1) und sie „soll auch nach ihrer A u f f assung notwendige Änderungen der einschlägigen Bestimmungen dieses Gesetzes aufzeigen". Damit ist die — unabhängige — Monopolkommission i n den Interpretations- und Entscheidungsprozeß einerseits 133 , i n den (Vor-)Prozeß der Gesetzesänderung andererseits unmittelbar eingeschaltet. Beides hängt miteinander zusammen: Die „Anwendung der §§ 22 bis 24" kann „notwendige Änderungen" der einschlägigen Bestimmungen erforderlich machen, denen eben nicht durch Änderung der Interpretation Rechnung getragen werden kann. Hier werden die Mitglieder der Monopolkommission zur Rechtspolitik ermächtigt, der Gesetzgeber verläßt sich nicht mehr auf sich selbst; es handelt sich u m ein Vorverfahren zur Gesetzesänderung — i n manchem vergleichbar m i t einem „Vorver18S

s. auch Abs. 5 S. 6: gutachtliche Stellungnahme in Einzelfällen, die dem Bundesminister für Wirtschaft nach § 24 Abs. 3 zur Entscheidung vorliegen und die dieser einholen kann. 4*

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

fahren" zur Verfassungsänderung 134 . Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenken sind gleichermaßen gefordert. Das Gesetz hat zu sich selbst eine A r t Enquete-Kommission auf Dauer eingerichtet! Und es steuert die Prozesse seiner Interpretation und Änderung 1 3 5 m i t Hilfe der Kommission, die i m Verhältnis zur Exekutive (und Rechtsprechung) „vorinterpretiert" (§ 24 b Abs. 5 S. 6) 1 3 e und nachinterpretiert (Abs. 3 S. 1). Daß das Gesetz sich selbst, seine eigene Anwendung durch eine Kommission beobachten läßt, ist eine Besonderheit, die gar nicht stark genug herausgestellt werden k a n n 1 3 7 · 1 3 8 . 134

Vgl. meinen Beitrag in: AöR 99 (1974), S. 437 (463 Anm. 110). Daß sich insofern ein neuer Gesetzestyp entwickelt, ist schon von Lerche, in Festgabe für Maunz, 1971, S. 285 (299) beschrieben worden: „Ist es doch gerade der Zeitfaktor, der in einem Teil der Gesetzgebung eine veränderte Rolle zu spielen beginnt... schält sich seit einiger Zeit ein weiterer Typus der Gesetzgebung heraus: Die Staatsleitung entwickelt einen für einen größeren Zeitabschnitt gedachten Plan, ein Programm, das sich nur in verschiedenen gesetzgeberischen Stufen bewältigen läßt. Die einzelnen Stufen selbst, also die jeweiligen Einzelgesetze (mit beschränkter Materie und spezifischem Stellenwert im Gesamtplan), setzen dann regelmäßigerweise zugleich Daten und Fakten für die zukünftigen gesetzgeberischen Schritte, für deren Intensität und Beschleunigung. Sie beeinflussen je nach den mit ihnen gemachten Erfahrungen und den u.U. jetzt erst voll sichtbaren praktischen Weiterungen die Art der Fortführung des Gesamtplanes. Diese komplexe Erscheinung bildet sich auf verschiedenen Lebensgebieten; sie ist nicht nur im Bereiche der Wirtschaftsgesetzgebung beheimatet. Der einzelne gesetzgeberische A k t innerhalb des Gesamtplanes ist zu sehen in seiner Konnexität mit den vorausgegangenen oder gleichzeitigen Einzelgesetzen; er bestimmt zugleich die künftige Gesetzgebung innerhalb des jeweiligen Gesamtvorhabens mehr oder minder mit. I n einem breiteren Zeitrahmen vermag er (der einzelne gesetzgeberische Schritt) auf diese Weise auch die ursprüngliche Substanz des Gesamtplanes zu ergreifen und zu verändern." Das Wesentliche sieht Lerche darin, daß nun nicht mehr der Plan der stabilen Norm des Gesetzes gegenübergestellt wird, sondern daß sich Gesamtpläne gerade auch gesetzgeberischer Instrumente bedienen können, wodurch ein neuer Gesetzestyp entsteht, ebd., S. 299, Fußnote 28. 135

138 Zur Vorinterpretation vgl. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. 137 Erwägen läßt sich, ob nicht aus der ausdrücklichen Institutionalisierung von Organen in einem Gesetz, die Änderungen zu diesem Gesetz vorschlagen sollen, funktionell-rechtliche Konsequenzen zu ziehen sind: die mit der „Anwendung" des Gesetzes betrauten normalen Staatsorgane haben sich bei deren Fortbildung stärker zurückzuhalten: denn der Gesetzgeber gibt durch die Auferlegung von Berichtspflichten ihm gegenüber zu erkennen, daß er sich selbst ggf. in die Modifizierung bzw. Fortentwicklung einschalten will. 138 Sie ermöglicht laufende subtile Korrekturen und Änderungen. Die Schäden von Experimenten, die im ganzen mißglückt sind (ihretwegen lehnt Hopt, JZ 1972, 65 (70) „Gesetzgebung auf Zeit als Experiment" ab), brauchen daher nicht auf zutreten, s. jetzt das Sondergutachten der Monopolkommission (1975) über Anwendung und Möglichkeiten der Mißbrauchsaufsicht, dazu Gotthold, in: Wettbewerb in Recht und Praxis, 1975, S. 499 ff. sowie das erste 2-JahresGutachten unter dem Motto : „Mehr Wettbewerb ist möglich" (Die Welt v. 23. 7. 1976) und der Forderung nach einer Verschärfung des GWB für Banken und die Energiewirtschaft.

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2. Verallgemeinernde

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Auswertung

Eine wirklichkeitswissenschaftliche Lehre von der Gesetzgebung sowie zu ihrer funktionell-rechtlichen Zusammenarbeit m i t der staatlichen Verwaltung und Regierung sowie nichtstaatlichen, pluralistischen und wissenschaftlichen Kreisen muß solche für den sozialen Leistungsstaat t y p i sche Formen des Gesetzes i m einzelnen aufarbeiten. Als Typus verbinden die hier genannten Gesetze die drei Denkstile. Der Gesetzgeber hofft, angesichts einer bestimmten — i n Entwicklung begriffenen — Wirklichkeit und ihrer mutmaßlichen, für die Zukunft zu steuernden Entwicklung i m Blick auf bestimmte Notwendigkeiten, sachliche Gegebenheiten und verfassungsrechtliche Ziele, ζ. B. Berufs- und Familienverhältnisse für den Sozialplan (§ 8 Abs. 2 Satz 2 StBFG i m Blick auf A r t . 6, 12 GG, also Grundrechtsziele) zu steuern. I n der Bejahung von Steuerungsmöglichkeiten liegt ein Bekenntnis zu Möglichkeitsdenken überhaupt. A u f der ersten Stufe nachweisbar sind bestimmte Instrumente zur Bestandsaufnahme: Berichte, Orientierungsdaten (§ 2 Abs. 1 Ziff. 2 StabG, Jahresprojektion), Stellungnahmen (z.B. § 89 Abs. 2 StBFG); Zielprojektionen, Prognosen, Alternativrechnungen verweisen schon auf die weitere Stufe des Möglichkeitsdenkens. Der Einsatz des Gesetzes geht dabei zu Recht von der Vorstellung aus, daß die Wirklichkeit für die Zukunft Möglichkeiten verschiedener A r t i n sich birgt. Viele mögliche Entwicklungsvarianten sind ins Auge zu fassen. Die vorausgesetzte Dynamik der Lebensverhältnisse, Zukunftsorientiertheit und Offenheit des sozialen Ganzen sind ein Charakteristikum des neuen Gesetzestypus, der auf Veränderungen reagiert und Veränderungswünsche formuliert. Hier besteht eine Nähe zu den klassischen Gemeinwohländerungstatbeständen 1 3 9 . Typisch für das Entwicklungsgesetz ist: Es sucht ständig Kontakt zur Wirklichkeit und ihrem Wandel zu halten ;angesichts des fortwährenden Wandels ist eine Bestandsaufnahme erforderlich, deren teils durch staatliche oder (auch) nichtstaatliche Instanzen ermittelte Ergebnisse staatlichen kompetenten Stellen durch Informationspflichten vermittelt werden. So pflegt der Gesetzgeber Informationspflichten insbesondere der Regierung gegenüber den Parlamenten ( § 1 1 RaumOG, § 2 StabG usw.), aber auch Beiräte zur Information der Ministerien zu schaffen (z. B. § 18 StabG, Konjunkturrat). Angesichts einer für verbesserungswürdig gehaltenen Wirklichkeit — oft ist ausdrücklich von „Verbesserung" die Rede 1 4 0 i m Hinblick auf Ver139 Dazu m. N. mein öffentliches Interesse, S. 162 ff., 389 u. a. — Die vielzitierte „Beständigkeit" des wirtschaftlichen Wandels, in dem wirtschaftliche Daten zu Variablen geworden sind, hat oft mehrere mögliche Entwicklungsvarianten zur Folge. U m so schwieriger wird es, die Möglichkeiten und Grenzen der Zukunft zu erschließen und Fehlprognosen zu vermeiden. 140 s. auch § 10 Hess. DatenschutzG.

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I Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

fassungsziele wie Wohnbedürfnisse, gutes Wohnen (§§ 1 2. WoBauG, StBFG), hoher Beschäftigungsstand usw. — werden auf einer weiteren Stufe eine Fülle von Maßnahmen vom Gesetzgeber ergriffen und zur Disposition gestellt, u m Möglichkeiten auszuschöpfen, für notwendig Gehaltenes zu erreichen. Dabei kommt es naturgemäß zu Zielkonflikten. Dieser „Verbund" der i n juristische Formen gegossenen drei Denkphasen m i t entsprechenden Handlungsanweisungen ist i n den erwähnten modernen Gesetzen besonders greifbar. Der Zusammenhang m i t der leistungsstaatlichen Entwicklung liegt auf der Hand. Die Rechtsgebiete sind nicht zufällig: Baurecht i m weiteren Sinne, nämlich das RaumOG, das StBFG (Anfänge finden sich schon i m BBauG) und das Recht der W i r t schaft, d. h. das SVRG, das StabG, aber auch das StBFG. Insgesamt handelt es sich um Rechtsgebiete („Wirtschaft", „Soziales"), i n denen „Zwänge" und Knappheit herrschen, die Planungen erfordern, i n denen das Mögliche i m Interesse des für notwendig Gehaltenen getan werden muß: letztlich u m Ziele der Verfassung willen. Symptomatisch an dem neuen Gesetzestypus ist, daß und wie er „Wissenschaft" i n die Prozesse der Bestandsaufnahme des Wirklichen, der Möglichkeiten i n der Zukunft und ihre Bewertung sachlich und personell einbezieht und organisiert: zur Vorbereitung politischer Entscheidungsprozesse. Wie schon bisher i n zahlreichen Zusammenhängen informell wissenschaftliche Beiräte der Exekutive 1 4 1 und auch der Legislative zugeordnet worden sind 1 4 2 , wie durch viele ältere Gesetze solche Beiräte ausdrücklich organisiert wurden, so hat jetzt das „steuernde Entwicklungsgesetz" die Wissenschaft auf besondere Weise i n seinen „Dienst" gestellt (unter Sicherung ihres Unabhängigkeitsstatus). Z u klären ist, wie und auf welchen Ebenen das personell und funktionell-rechtlich geschieht, d. h. i m Zusammenhang m i t welchen anderen — staatlichen, gesellschaftlichen (öffentlichen) — Instanzen und in welchen Verfahren der Gesetzgeber Wirklichkeitserforschung, -bewertung und-Steuerung (durch andere) organisiert und wie er sowie i n bezug auf wen er die Elemente des Wirklichkeits-, Möglichkeits- und Notwendigkeitsdenkens „verteilt"; 141 Kritisch ist auch zu untersuchen, ob Beiräte nicht nur zu dem Zweck errichtet werden, „das Prestige des Ministers wie auch der Ratsmitglieder zu heben, unpopuläre Entscheidungen gründlich vorzubereiten und damit ad calendas graecas zu vertagen oder dem Politiker in einer wissenschaftsgläubigen Welt den Schild des Sachverstandes zu leihen", Brohm, FS für Forsthoff, 1972, S. 37 (41). 142 Vgl. etwa auch die Projektgruppe „Tempo 100", die von der BASt im Auftrag des B M für Verkehr gebildet wurde und in ihrem Schlußbericht „Empfehlungen" gibt, Bulletin Nr. 104, S. 1021 vom 22. Aug. 1975. — Ferner die Bund/Länder-Arbeitsgruppe „Transplantation", der Vertreter des Bundestages, der Justiz- und Gesundheitsministerien von Bund und Ländern, der Medizin und Rechtswissenschaft sowie der Bundesärztekammer und der Deutschen Krankenhausgesellschaft angehören (FR vom 21. 8.1975, S. 18).

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aktuell w i r d dies ζ. B. bei der Ermächtigung wissenschaftlicher Gremien zu Reformvorschlägen. Auch müßten Kriterien dafür entwickelt werden, daß der Gesetzgeber i n den steuernden Entwicklungsgesetzen funktionellrechtlich „richtig" organisiert (ζ. B. die Wissenschaften nicht überfordert), schon dem juristischen Interpreten Wirklichkeitserforschung und mehrere Interpretationsmöglichkeiten aufträgt, und den — soziales Handeln vorbereitenden — Denkprozeß m i t seinen Denkschritten zwischen staatlichen, wissenschaftlichen oder öffentlichen Instanzen (ζ. B. pluralistischen Gremien) richtig aufteilt 1 4 3 : nämlich zwischen Betrachtung der Wirklichkeit, Suche nach (anderen) Möglichkeiten (des Handelns), Suche nach dem (auch) Möglichen, Bewertung der Wirklichkeit und Möglichkeit i m Blick auf bestimmte „gute" Ziele (der Verfassung, einzelner oder aufeinander abzustimmender Gesetze) — also der sog. „normative Input" — und i n diesem Rahmen Bestimmung des Notwendigen, d. h. der notwendigen M i t t e l zur Verfolgung des gewählten Zieles (Effizienz- und Optimierungs-Problematik); all dies unter jeweils richtiger Einschaltung unabhängiger wissenschaftlicher und (oder) Repräsentanten pluralistischer Gruppen. Auch hier gibt es i m vielgliedrigen Denkprozeß i m Horizont der einen, wenn auch oft widersprüchlichen Wirklichkeit, der vielen Möglichkeiten und Notwendigkeiten und ihrer Bewertung Momente der Gewaltenverteilung und Organisation des durchaus personalisiert zu sehenden Zusammenwirkens m i t Gefahren für die Balance der Gewalten, der z. B. der Datenschutzbeauftragte entgegenwirken soll 1 4 4 . Zugleich offenbart sich Wissenschaft als die vielzitierte „Produktivkraft", die nicht nur dem Erkennen dient, sondern auch Handeln vorbereitet i. S. des Möglichen und Notwendigen 1 4 6 . 143 Zu ihnen die Bestandsaufnahme in meinem öff. Interesse, S. 48 ff., 60, 88 ff., 305 f. 144 § 10 Abs. 2 Hess. DatenschutzG. s. jetzt den Streit um den direkten Zugang der Fraktionen (bzw. Opposition) im Hess. Landtag zu den Daten: F A Z v. 31.12. 1976, S. 3. 145 Die Frage nach den Hintergründen für das Auftreten des „entwicklungssteuernden Gesetzes" ist schwierig. Sie führt in das Problemfeld des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und seines Wandels. Zum Steuerungsgesetz mein Mitbericht V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (51) sowie „Leistungsrecht" im sozialen Rechtsstaat, in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 (462 ff.); zu „Staat und Gesellschaft" zuletzt Hesse, D Ö V 1975, S. 437 ff.; W. Schmidt, AöR 101 (1976), S. 24 ff. Die Verflechtungen von Staat und Gesellschaft in dem und durch das neue Gesetz sind greifbar: die Einbeziehung der Wissenschaft und der pluralistischen Öffentlichkeit bei der Feststellung und Beurteilung eines Sektors der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit und ihrer aktuellen und „absehbaren" Entwicklungen, Reaktion und Aktion des Staates, sprich: der Exekutive (bes. Regierung) und Legislative auf solche Entwicklungen, der Dauercharakter dieser Aufgabe für den Staat „gegenüber" der Gesellschaft, deren Potenz (Wissenschaft als „Produktivkraft" und soziale, besonders wirtschaftliche Gruppen) er jedoch gerade arbeitsteilig einbezieht, Institutionali-

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

V. Ausblick Demokratische Verfassungsrechtswissenschaft und ihr Zusammenhang mit den Wissenschaften vom Menschen Die offene Trias von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken vermittelt der Verfassungsstheorie und der Rechtswissenschaft insgesamt direkten Anschluß an das „allgemeine" Denken überhaupt, so unterschiedlich es i n die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen aufgefächert ist. Handle es sich um (Geschichts-)Philosophie, um Wissenschafts- und handlungsorientierende Gesellschaftstheorien — durchweg muß i n diesen drei Denkschritten „gearbeitet" werden. Daher besteht jetzt die Möglichkeit, die Rechtswissenschaft dank der Verfassungstheorie über diesen „Anschluß" wieder stärker in die allgemeine Diskussion der Geistes- und Sozialwissenschaften bzw. ihrer Nachfolgedisziplinen einzubinden 14 6 . Letztlich hätte dies über eine Wissenschaft vom Menschen zu geschehen, denn die drei Denkphasen sind Denkphasen des Menschen, nicht nur speziell des Juristen. Das Denken und Sein des Menschen entfaltet sich über die Einsicht i n die und Gestaltung der Möglichkeiten, des Wirklichen und der „Notwendigkeiten". Das ist seine Freiheit. Sie ist durch freiheitliche Verfassungen verfaßt. Der immer wieder drohende Rückfall des Menschen in die „selbstverschuldete Unmündigkeit" i. S. Kants ist durch das Möglichkeitsdenken, durch das „fabelnde Denken" (Bloch) abzuwenden. Abstrakte Utopien sind durch Wirklichkeitsdenken zu kritisieren, Notwendigkeiten sind zu rationalisieren. Notwendigkeitsdenken ist dabei keine Auslieferung an „Zwänge", ζ. B. der Technik oder des Geschichtsverlaufs m i t seinen wirklichen oder vermeintlichen „großen Notwendigkeiten" — es ist ja von vornherein durch die Freiheit des Menschen und die Offenheit seines Geistes und seines Gemeinwesens und damit seiner revidierbaren Wertsetzungen m i t bedingt. Insofern ist Grundlage der hier vertretenen Sicht die Überzeugung von der offenen Gesellschaft des kritischen Rationalismus i. S. Poppers 147 . sierung einer Bandbreite von Möglichkeiten, wobei sich das Moment der Dezision bei der Regierung konzentriert, die Notwendigkeit der Anpassung unterhalb der parlamentarischen Ebene, die Quantität der Regelungen im Sozialstaat, die der Gesetzgeber nicht mehr überschauen kann, deren Fortentwicklung er delegieren muß, mindestens ihre Vorbereitung (§ 24b GWB: Monopol-Kommission). 148 Die Ergiebigkeit von Musil, E. Bloch, Popper, Luhmann ist ein Indiz dafür, s. oben Anm. 8 ff. H. Mayer (oben Anm. 9) kennzeichnet Musils „Möglichkeitsmenschen" u. a. durch Sätze wie: „Jede Wirklichkeit transformiert sich in eine unbewältigte Fülle neuer Möglichkeiten" (S. 142), „in jedem Sein zugleich eine Fülle der — divergierenden — Möglichkeiten erblickt" (S. 143). 147 Dazu m. N. meine Beiträge in: V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (72 f., 102); AöR 98 (1973), S. 625 (629 ff.); JZ 1975, S. 297 ff.

1. Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens

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Der anthropozentrische Ansatz 1 4 8 einer demokratischen Verfassungslehre, die sich als Verfassungsanthropologie zu konstituieren hätte, vermittelt dieser die erwähnte Trias: es geht um Denkmöglichkeiten des und für den Menschen. Auch das Notwendige und Wirkliche ist eine Möglichkeit (gewesen). Auch „Geschichte" war einmal eine Alternative: Geschichte als Verständnis des Wirklichen i m nachhinein durch das Mögliche, als Vorgeschichte der offen gewesenen (und durch den Pluralismus offen bleibenden) Zukunft; auch das — für „gut" bewertete — Notwendige ist ein Stück „wirkliche Freiheit". Die Verfassungs- bzw. Rechtsgeschichte zeigt Wirklichkeit als neue Möglichkeit, zeigt wie sie — wieder — aktuell werden konnte (ζ. B. bei der „Regeneration" von Verfassungstexten) 1 4 9 . Ein frappantes Beispiel ist die erneute Inkraftsetzung der (durch den Putsch von 1967 beseitigten) griechischen Verfassung durch die Regierung Karamanlis i m Sommer 197 4 1 5 0 . Der Mensch ist nicht ständig „neuen" Theorien der Gesellschaft anzupassen, vielmehr ist das verfaßte politische Gemeinwesen am Menschen zu orientieren. Seine Möglichkeiten, seine sich wandelnde W i r k lichkeit und seine Notwendigkeiten haben dem politischen Gemeinwesen menschenwürdige Gestalt zu geben. Die drei hier skizzierten Denkstile bahnen alte (bewährte) und neue Wege zu dieser Aufgabe der Verfassungslehre. Nachtrag zu „Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens" (Nr. 1). Dieser Aufsatz hat eine gewisse Parallele gefunden i n U. Hommes 9 am 21. M a i 1977, in: „Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zum Parlament Β 20/77, S. 3 ff., veröffentlichtem Beitrag „Brauchen w i r eine Utopie?" I n der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG hat sich neues Belegmaterial für Möglichkeitsdenken angesammelt (vgl. ζ. Β. E 42, 133 [139]; 43, 242 [314, 316, 321]; 44, 290 [295 f.]; 45, 187 [261]; 46, 299 [3131). Bemerkenswert Roy Jenkins ' Rede vom 27. Okt. 1977 in Florenz, Bull. EG 10/1977, S. 6 ff. (16): „Politik ist nicht nur die Kunst des Möglichen, sondern, wie Jean Monnet sagte, auch die Kunst, morgen das möglich zu machen, was heute vielleicht unmöglich erscheint." s. aber auch Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Reclam Ausgabe 1977, 12. Kap. (S. 99): „Der Schluß vom Wirklichen auf das Mögliche erscheint m i r gut." — I n der zeitgenössischen Literatur interessierte sich Guido Morselli, ein italienischer Schriftsteller (gest. 1973) betont für das Mögliche, ob er nun 148 die Staatslehre: Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 141 f., 363; dazu meine Bespr. in: AöR 98 (1973), S. 119 (123 f.). ,49 Dazu oben bei und in Anm. 17. 150 Vgl. „Die Zeit" vom 9. 8. 1974.

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die Zukunft erfindet oder die Vergangenheit neu beschreibt: Er schreibt von „Alternativwirklichkeit" und „ A l ternati νVergangenheit" (vgl. F A Z vom 25. 3.1978/Nr. 59, Lit.beilage). I m übrigen sucht der Freiburger Gastvortrag (Nr. 4) die Balance zu halten zwischen dem retrospektiv orientierten erfahrungswissenschaftlichen Ansatz und dem zukunftsorientierten Möglichkeitsdenken. Der spezifische Auftrag der Wissenschaft zeigte sich jüngst i m Umweltgutachten 1978 des Sachverständigenrats für Umweltfragen. Die Sachverständigen verweisen auf ihren Auftrag, „die jeweilige Situation der Umwelt und deren Entwicklungstendenzen darzulegen sowie Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung aufzuzeigen" (vgl. F A Z vom 11. 3.1978, S. 12). Ein bemerkenswertes Beispiel für steuerndes Entwicklungsrecht liefert das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz vom 15. August 1974 (BGBl. I I I , S. 2125), § 37 Abs. 2 Ziff. 1: Zulassung von Ausnahmen, „sofern Ergebnisse zu erwarten sind, die für eine Änderung oder Ergänzung der Vorschriften des Lebensmittelrechts von Bedeutung sein können . . . " ; Ziff. 2: „erforderliche Versuche" 1 . Z u Alternativ-Begründungen i n der Rechtsprechung jetzt: BVerfGE 47, 146 (164 ff.). Ein Beispiel für Möglichkeitsdenken i n der Theologie: W. Kasper, Die Verheißung der Z u k u n f t . . . , i n FAZ v. 23. 8. 1978, S. 6: „Die Theologie muß aber von den Denkmöglichkeiten einer Zeit einen kritischen und schöpferischen Gebrauch machen..." Das „Möglichkeitsdenken" — i n Gestalt des vom Verf. i n VVDStRL 30 (1992) S. 43 (107 f.) vorgeschlagenen, vom BVerfG E 33, 303 (333 f.), s. auch E 82, 60 (82 f.) übernommenen „MöglichkeitsVorbehalts" präsent — bleibt m. E. auch für ein kulturwissenschaftliches Verfassungsverständnis relevant. Der hier (S. 57) skizzierte „anthropozentrische" Ansatz erfährt eine inhaltliche Vertiefung durch den /cîzZiîzranthropologischen, ζ. Β. bei der Ausdeutung der Menschenwürde (dazu vom Verf.: Das Menschenb i l d im Verfassungsstaat, 1988), und er unterliegt einer neuen Herausforderung durch die Ökologieprobleme. Möglichkeiten erwachsen aus dem Kontext der Kultur, sie werden zunehmend begrenzt durch ökologische „Notwendigkeiten". 1 s. ferner Berufsbüdungsgesetz v. 14. August 1969 (BGBl. I, S. 1112), § 25 Abs. 1: Erlaß von Ausbildungsordnungen durch Rechtsverordnung zur „Anpassung (sc.: der Berufsausbildung) an die technischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernisse und deren Entwicklung . . § 21: Anhörung des Bundesausschusses für Berufsbildung vor Erlaß von Rechtsverordnungen zur erweiterten Eignung, s. auch § 33 HeimarbeitsänderungsG vom 29.10.1974, BGBl. I, S. 2879 (Anhörung der Gewerkschaften und Arbeitgeber).

2. Zeit und Verfassung* Prolegomena zu .einem „zeit-gerechten" Verfassungsverständnis I. Bestandsaufnahme; 1. Allgemein; 2. I m Verfassungsrecht; 3. Konkreter Problemkatalog — I I . Verfassungstheoretischer und -praktischer Ansatz: „zeit-gerechte" Interpretation im Horizont von „Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung"; 1. Die Zeit im VerfassungsVerständnis; 2. Verfassungsrechtliche Sachaussagen und zeitgebundene und -bindende Interpretationsmethoden — ihr Wechselverhältnis; 3. Die einzelnen Interpretationsmethoden als unterschiedlich wirkende Vehikel des Zeitfaktors im — republikanischen — Auslegungs Vorgang; 4. Das Nachverständnis als Vor Verständnis der Zukunft; 5. Verabschiedung des selbständigen Begriffs „Verfassungswandel"; 6. Die Vorwirkung von Gesetzen; 7. Erfahrungs-, Experimentier-, Reformklauseln als institutionalisierte Formen; 8. Verfassungsänderungen als verfassungspolitisches Gebot I . Z u r Bestandsaufnahme in Rechtswissenschaft, Verfassungstheorie und Rechtspraxis 1. D i e R o l l e des Z e i t f a k t o r s i n d e n Rechtswissenschaften 1 w u r d e bisl a n g n u r u n s y s t e m a t i s c h o d e r u n t e r A u s s p a r u n g d e r Sozialwissenschaft e n t h e m a t i s i e r t : ζ. B . als „ s o z i a l e r W a n d e l d u r c h R i c h t e r s p r u c h " , „ l a w i n c h a n g i n g s o c i e t y " , als überzeitliches N a t u r r e c h t u n d geschichtlich w a n delbares p o s i t i v e s Recht oder u n t e r d e r Devise „ V e r f a s s u n g s r e c h t v e r geht, V e r w a l t u n g s r e c h t b e s t e h t " (O. Mayer) sowie i m „Verfassungsw a n d e l " . G e w i ß , Z e i t f r a g e n s i n d sehr a l l g e m e i n assoziiert, ζ. B . i m „ D u a l i s m u s " v o n Recht u n d P o l i t i k 2 , v o n Verfassungsrecht u n d V e r f a s s u n g s w i r k l i c h k e i t 3 oder i n G. Husserls a n f e c h t b a r e m Schema: Gesetzgeb e r = Z u k u n f t s m e n s c h , V e r w a l t u n g s m a n n = Gegenwartsmensch, R i c h * ZfP 21 (1974), S. 111 - 137 mit Nachtrag (1978). Leisner, „Antigeschichtlichkeit des öffentlichen Rechts?" in: Der Staat 7 (1968), S. 137 ff. bleibt zu abstrakt; er unterscheidet sich grundlegend von dem hier gewählten Ansatz, z.B. S. 138: Das öffentliche Recht ist, es wird nicht. Sein Kern, das Staatsrecht, ist der Prototyp einer geschichtlosen, ja entwicklungsfeindlichen, weil im Grunde auch wirklichkeitsfremden Ordnung. S. 140 : Die Verfassung bietet also versteinerte Politik. S. 144: Achronismus des Verfassungsrechts. S. 152: Die Verfassung ist ihrem Wesen nach unveränderlich. 2 Dagegen meine Besprechung von Haller, „Supreme Court und Politik in den USA", 1972, in: DVB1. 1973, S. 388 f.; s. auch AöR 98 (1973), S. 119 (127 ff.). 3 Zum Diskussionsstand vor allem: Hennis , Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968; dazu die Rezensionen von Böckenförde in: Der Staat 9 (1971), S. 533 ff., und Hesse in: AöR 96 (1971), S. 137 ff. 1

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

ter = Vergangenheitsmensch 4 . Oft w i r d auf die sich beschleunigenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse hingewiesen, ohne daß das Problem der Zeit juristisch verarbeitet wird. — Die magere Bestandsaufnahme überrascht: Denn der „Zeitgeist" scheint dem Zeitfaktor besonders günstig zu sein. Fortschritt, „Reform" und „Bewegung" haben gegenüber der Bewahrung einen ungewöhnlichen sozialethischen und politischen Vorsprung. „Reform" scheint heute auch i m Recht ein Wert an sich zu sein. Bewahrung per se ein Unwert; jeder status quo w i r d verdächtigt. A l l e zeitgenössischen Urteile oder Vorurteile sprechen gegen Alter, Geschichte und Tradition. Worte wie „Rechtswissenschaft als Zukunftswissenschaft" (Maihof er) 5 oder die „kritische Funktion" des Juristen sind ein Appell, die Veränderbarkeit und damit Zeitabhängigkeit des Rechts zu berücksichtigen 6 . Gleiches gilt für die Forderung nach Praxisbezogenheit der Wissenschaft. Der Zeitfaktor ist wirksam i n der Herausstellung des Prozeßhaften, z. B. bei der Rechtsfindung i. S. der „ l a w i n action" (Esser) oder bei politischen Planungsprozessen. Demokratie ist besonders zeitoffen als eine „evolutionäre Methode politischer Sozialgestaltung, die auf soziale Gerechtigkeit und gesellschaftliche und politische Emanzipation gerichtet ist" 7 . Selbst das Naturrecht w i r d zeitlich verstanden: augenfällig i n Fechners „Naturrecht m i t werdendem Inhalt" (1954), i n den Worten vom „Naturrecht m i t wechselndem Inhalt", geschichtlichem Naturrecht u. ä. A. Kaufmann 8 spricht vom Recht als etwas, „was man immerzu machen, gestalten, realisieren, erneuern muß" 9 . 2. Zum Thema „Zeit und Verfassung" gibt es mittelbare Aussagen: Das A t t r i b u t „Wandel" w i r d nahezu allen verfassungsrechtlichen Be4 Recht und Zeit, 1955, S. 52 ff. — Auch der Hoch- oder Geringschätzung von Begriffen wie „Rechtssicherheit", „Rechtsfrieden" liegt ein bestimmtes Zeit/ Recht-Verständnis zugrunde, 5 „Realistische Jurisprudenz" in: Jahr / Maihof er, Rechtstheorie, 1971, S. 427 ff. (430 ff.), s. auch das 9. Cappenberger Gespräch über „zukunftsorientierte Politik", Bericht in: D Ö V 1973, S. 46 f. Demgegenüber die Diskussion über den Konservativismus in Europa, Kaltenbrunner (Hrsg.), 1972. 8 s. auch Zippelius, Einführung in die juristische Methodenlehre, 1971, S. 29: Wenn aber die Legitimationsgrundlage des fortgeltenden Rechts in der Gegenwart liegt, dann ist es auch richtig, die Gesetze ex nunc zu interpretieren. 7 Badura in: D Ö V 1970, S. 18 (22). — Wie sehr der Zeit-Geist auf die wissenschaftliche Aufbereitung des Zeitfaktors drängt, illustriert die Tatsache, daß die Bundesregierung am 9. Febr. 1971 eine Kommission berufen hat, die ein umfassendes Gutachten über die mit dem „technischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel zusammenhängenden Probleme" erarbeiten soll. 8 A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 81 (93 f.). 9 s. aber G. Husserl (zit. nach Kaufmann, a.a.O., S. 99), für den das Gesetz „keine Zukunft hat, in die es sich entwickelnd hineinlebt". Es ist eine „fertige Welt entindividualisierter Handlungen, die in den Rechtsnormen zur starren Fixierung gelangt ist". Anders und richtig: ders., Recht und Zeit, S. 22 ff.

2. Zeit und Verfassung

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griffen hinzugefügt: Funktions- bzw. Bedeutungswandel des Gesetzes, der Grundrechte, der Souveränität. Erinnert sei an Habermas 1 „ S t r u k turwandel der Öffentlichkeit". Die Verfassungstheorien unterscheiden sich wesentlich dadurch, daß sie der Zeit, das heißt der Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, einen unterschiedlichen Stellenwert einräumen. Man denke an die Integrationstheorie Smends einerseits, an Forsthoff s „Erinnerung an den Staat" andererseits 10 . Der Offenheit der Verfassung 11 , ihrem „öffentlichen" Verständnis 12 , der „grundrechtssichernden Geltungs/ortbildung" 1 3 , den Prozessen der Verwirklichung der Verfassung sowie der Betonung ihres Aufgabencharakters 14 stehen weniger dynamische Verfassungskonzeptionen gegenüber. Sie äußern sich i n der Zementierung von „klassischen" Auslegungsmethoden, von Besitzständen sowie i n der Übernahme von Verfalltheorien. „Bewährung" der Verfassung w i r d primär i n ihrer „Bewahrung" gesehen, der Entwicklungsgedanke w i r d minimalisiert. Z u erinnern ist an den Streit um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, um Sozialstaatsprinzip 15 und Grundrechtsverständnis, die Verfassungsgerichtsbarkeit, d. h. insbesondere an die Positionen von Forsthoff. Durchweg w i r d die „Zukunft" — und sie hat i n der Gegenwart immer schon begonnen — als „Eindringling" und skeptisch nicht als zur „Sache Verfassung und Verfassungsrecht" selbst gehörig betrachtet 16 . „25 Jahre Grundgesetz" 17 lassen verfassungstheoretische Überlegungen zur „Zeit" dringlich erscheinen. Das Verfassungsrecht lebt schon prima facie i n einer spezifischen Zeitproblematik. Einerseits verleiht i h m die erschwerte Abänderbarkeit Dauer und Kontinuität, Verläßlichkeit und Sicherheit 1 8 ; andererseits dringt die Zeit eben deshalb spezifisch i n das Verfassungsrecht ein, ja sie muß es tun: i n Ge10 Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 11 ff., dazu meine Kritik in: ZHR 136 (1972), S. 425 ff. 11 Grundlegend Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 1973, bes. S. 12 ff. 12 Dazu (und zu Habermas): P. Häberle, „Öffentlichkeit und Verfassung" in: ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 13 Dazu P. Häberle, „Grundrechte im Leistungsstaat" in: V V D S t R L 30 (1972), 43 (69 ff.). 14 Scheuner, Art. Verfassung in: Staatslexikon, Bd. V I I I (1963), Sp. 117 ff. (118): „Verfassung als Norm und Aufgabe". 15 Dazu Forsthoff (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, 1968; Suhr in: Der Staat 9 (1970), S. 67 ff. 10 „Klassik" gibt es aber nicht nur in der Vergangenheit. Wie zeitbedingt Verfassungsverständnisse sind, zeigt sich an der heute stark betonten Zukunftsorientierung einerseits, an Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945 andererseits. 17 Würdigungen des GG bei Scheuner in: AöR 95 (1970), S. 353 ff.; Schick in: AöR 94 (1969), S. 353 ff. 18 Dazu Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959.

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I

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

stalt flexibler, offener Verfassungsinterpretation, i m Verfahren der Verfassungsänderung oder i n der Forderung nach Total- oder Partialrevision 19 . Kontinuität der Verfassung ist nur möglich, wenn Vergangenheit und Zukunft i n ihr verbunden werden. Die Verfassungsdogmat i k hat auch Figuren geschaffen, die der Zeit trotzen sollen: i n Gestalt der Lehre von Instituts- und institutionellen sowie status-quo-Garantien 2 0 (s. auch A r t . 19 Abs. 2, 79 Abs. 3 GG). Der Methodenstreit i m Verfassungsrecht 21 ist nicht zuletzt ein Streit um die Rolle, die der Zeit zukommen soll. Wichtig ist Lerches 22 K r i t i k an Veränderungsideologien, die durch K r i t i k an status-quo-Ideologien zu ergänzen wäre. 3. Ein konkreter Problemkatalog zeigt, wie unterschiedlich die Bereiche sind, die — unter dem Aspekt der Zeit — zusammengehören 23 . Die Zeitdimension spielt eine Rolle i m Entstehen von sog. (Verfassungs-) Gewohnheitsrecht 24 , i m Schutz oder Bruch von „wohlerworbenen Rechten", beim Vertrauensschutz 25 , der Verwirkung und Verjährung, bei Rechtskraftproblemen, der „sachlichen Diskontinuität" 2 6 , bei den lexposterior- bzw. prior-tempore-Sätzen, der clausula rebus sie stantibus? 7 , bei den Grenzen der Rückwirkung und der Beobachtung einer „ V o r w i r kung" von Gesetzen (vor allem über die Konkretisierung von Gemeinwohlaspekten, aber auch i m Strafrecht 28 ) sowie bei der Prognosetätig19 Aus der Lit.: Saladin, „Die Kunst der Verfassungserneuerung" in: Gedenkschrift für Imboden, 1972, S. 269 ff.; K. Stern, „Totalrevision des Grundgesetzes?" in: Festgabe für Maunz, 1971, S. 391 ff.; Fromme in: ZfP 17 (1970), S. 87 ff.; H. Huber in: FS für Scheuner, 1973, S. 183 ff. 20 Ein extremes Beispiel ist die sog. Versteinerungstheorie des österreichischen Verfassungsgerichtshofes; dazu m. Ν . H. Hub er in: Gedenkschrift für Imboden, 1972, S. 191 Anm. 1. 21 Dazu bes. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 1964; H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, einerseits, Hollerbach in: AöR 85 (1960), S. 241 ff.; Ehmke in: V V D S t R L 20 (1963), S. 53 ff., 64; Hesse, Grundzüge, S. 20 ff.; P. Häberle in: Z H R 136 (1972), S. 425 ff. andererseits. Zuletzt: I. Richter, Bildungsverfassungsrecht, 1973, S. 19 ff. 22 In: Festgabe für Maunz, 1971, S. 285 (289). 23 Problemhinweise bei Kloepfer, Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, 1970, S. 26 ff., und in meinem Beitrag in: AöR 98 (1973), S. 625 (635 Anm. 33), ZevKR 18 (1973), S. 420 Anm. 1. 24 Grundlegend: H. Hub er in: Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, S. 329 ff. 25 Dazu die Referate von Kisker und Püttner i n : W D S t R L 32 (1974). 2e Dazu Hömig / Stoltenberg in: DÖV 1973, S. 689 ff., m. N.; bes. Scheuner in: DÖV 1965, S. 510 ff. 27 Zuletzt BVerfGE 34, 216 (230 ff.). 28 Strafrechtsreformen kommen meist erst in Gang, wenn sich die öffentlichen Moralvorstellungen bereits gewandelt haben. Die Reform des Gesetzgebers bestätigt hier das, was die Wirklichkeit bereits akzeptiert hat. Die Vorwirkung von Gesetzen ist besonders stark. Jüngstes Beispiel ist das 4. Strafrechtsänderungsgesetz (Sexualstrafrecht), s. noch die Diskussion zum „Rückwirkungsverbot bei einer Änderung der Rechtsprechung im Strafrecht", dazu Schreiber in: JZ 1973, S. 713 ff. — Art. 80 Abs. 1 GG rechtfertigt sich u. a. aus der größeren Zeit- und Sachnähe der Exekutive bei der Rechtsetzung.

2. Zeit und Verfassung

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keit von Gesetzgeber und BVerfG 2 9 , dem Problem der obiter dicta 3 0 , der ständigen und Grundsatz-Rechtsprechung, der Publizität von Sondervoten, der Betonung der Verfahrensabhängigkeit juristischer Akte und schließlich bei der Qualifizierung der „Erfahrung als Rechtsquelle" 31 . Erinnert sei an die unterschiedliche Zukunftsorientiertheit von Rechtspraxen, an Arbeits- und Völkerrecht als „werdendes Recht" (D. Schindler). I I . Verfassungstheoretischer und -praktischer Ansatz: „zeit-gerechte" Interpretation im Horizont von „Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung" 1. Die Zeit im Verfassungsverständnis I m Verfassungsstaat des GG müssen die konkreten Zeit-Fragen von vornherein i n den Gesamtrahmen der Verfassung gestellt werden. Denn alles Recht ist verfassungsimmanent: Es wächst unter dem Dach oder auf dem Grund der Verfassung der res publica. A m Verfassungsverständnis, nicht an jenseits oder „über" der Verfassung stehenden Staats- oder Gesellschaftstheorien hat die Diskussion anzusetzen. Das heißt allerdings nicht, die bzw. alle Probleme seien durch die Verfassung vorgegeben. Für demokratische Verfassungslehre i n einer „offenen Gesellschaft" bleibt die Aufgabe, hinter die Verfassung zurück, insbesondere nach Erfahrungen, und über sie hinaus nach praktischen Alternativen zu fragen 32 . Das Verfassungsverständnis steht nicht i m luftleeren, zeitlosen Raum; es ist seinerseits das Ergebnis von geschichtlichen Erfahrungen und vermittelt solche auch wiederum 3 3 : ein Stück „geronnener Zeit", ζ. B. die anthropologisch begründete Idee der Verhinderung von Machtmißbrauch. Insofern gewinnt die historische Auslegungsmethode 29

1971. 80

Dazu Philippi,

Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts,

Schlüter, Das Obiter Dictum, 1973. So der Titel des Buches von Lüderssen, 1972. 32 Dazu in Auseinandersetzung mit Herzog: P. Häberle in: AöR 98 (1973), S. 119 (129 ff.). Hier haben Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien ihren Platz. 33 Sowie von „vorweggenommenen Utopien". — Ungemein ergiebig an Stichworten für die Zeitproblematik jetzt: Dürig in: Maunz / Dürig / Herzog, K., Rdnr. 194 ff. zu Art. 3 Abs. 1 GG: „Die Zeit als offene Flanke der Gleichheit", die „Zeit, innerhalb deren sich ein Mensch, eine Gruppe, eine Gesellschaft frei entfalten können, ein Agens, das im Prinzip egalitätsfeindlich ist", Zeit als „Topos des rechten Maßes" zwischen Trägheit und ziellosem Treiben, auch „Reformen der Reformen müssen möglich bleiben". — s. zuletzt die „Verfassungsdebatte" des Dt. Bundestages vom 14./15. Febr. 1974: GG kein „statisches Korsett", Verfassung als „dynamischer Prozeß" (Hirsch), G G als „Verfassung der offenen Wege" (Genscher), GG „nichts Abgeschlossenes, sondern der Weiterentwicklung ebenso fähig wie bedürftig" (H. Maier). 31

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

eine neue — begrenzte — Legitimation als entwicklungsgeschichtliche, „transformierende" Interpretation. Das Verfassungsverständnis findet seinen Ausdruck i n der Akzentuierung von Verfassungsprinzipien wie Öffentlichkeit und Offenheit, Demokratie, Pluralismus, Freiheit, Rechtsschutz, aber auch i n bestimmten verfassungsrechtlichen Verfahren (etwa des Parlamentsrechts). Es ist Ausdruck bestimmter Interpretationsmethoden, sosehr es umgekehrt diese mitbestimmt. Das jeweilige Verfassungsverständnis (das auch ein Verständnis vom „Verfassungsrecht" ist), die einzelnen Sachgehalte und Verfahrenspostulate der Verfassung sowie die Interpretationsmethoden (samt Vor- und Nachverständnis) beeinflussen sich also wechselseitig. Dieses Verfassungsverständnis, das die Zeit bewußter einbinden w i l l bzw. sich „an und i n die Zeit" bindet, kann nur schlagwortartig charakterisiert werden: Verfassung als law i n public action, als öffentlicher Prozeß (normativ-prozedurales Verfassungsverständnis), als Rahmenordnung 3 4 (Wegweiserfunktion). Wichtig werden Offenheit der Verfassung, die Prozesse ihrer Verwirklichung („Legitimation derVerfahren"!). Verfahren sind es, die die Verfassung auf den Weg bringen, besonders die Verfassungsgerichtsbarkeit; sie bewirken, daß die Verfassungsinterpretation einen sonst nicht erreichten Stellenwert bei der Fortbildung der Verfassung erlangt. Das öffentliche Verständnis der Verfassung ist ein sich i n der Zeit bewährendes Verständnis. Hans Huber 35 hat i n bezug auf das Recht von einem i h m eigentümlichen „Spiel und Gleichgewicht von Wandel und Beharrung" gesprochen, von Konkretisierung als „Verfassungsentfaltung, Ausschöpfung und Anreicherung, Rechtsfortbildung ganzer Normprogramme i m Laufe der Zeit und i m Wandel der Gesellschaft". Verfassungen müssen sich bewähren, sie haben nicht bloß zu bewahren! 3 6 M i t Recht w i r d die US-Verfassung so gerühmt: Sie hat sich als genügend flexibel erwiesen 37 . I h r hohes A l t e r ist Beweis für ihre „ewige Jugend", es ist Beweis ihrer Erneuerungsfähigkeit. Lebende Verfassung, Wachstumsprozesse, grundrechtssichernde Geltungsfortbildung, „NachVerständnis", Verfassungsänderungen als verfassungspolitisches Gebot: all das sind Vokabeln, die auf die Zeit deuten. Erinnert sei an Hellers B i l d 3 8 von der Staatsverfassung als „ge34

166). 35

Dazu P. Häberle, ZfP 16 (1969), S. 273 ff.; V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (56,

H. Huber in: Gedenkschrift für Max Imboden, 1972, S. 191 (206 bzw. 192). Dazu für das Grundrechtsverständnis: mein Mitbericht, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (73). 37 Vgl. Fraenkel, Das Amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 21: „Sie (sc. die US-Verfassung) befindet sich vielmehr seit ihrem Inkrafttreten in einem kontinuierlichen Umwandlungsprozeß." 38 Staatslehre, 1934, S. 258 bzw. S. 47. 36

2. Zeit und Verfassung

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prägter Form", die lebend sich entwickelt, sowie von Sozialgebilden, i n denen die Zeit nicht „entmächtigt", sondern nur „gestaut" sei. „Fortbildung" der Verfassung w i r d so gesehen zum Beweis ihrer normierenden Kraft! Verfassung ist rechtliche Grundordnung eines freiheitlichen öffentlichen Prozesses — law i n public action —, und sie w i r d als demokratische Verfassung selbst zum Prozeß. Als solcher weist sie i n die Zukunft. Demokratisches Verfassungsrecht ist Recht der Öffentlichkeit par excellence. Öffentlichkeit ist das Gesetz, unter dem Verfassung angetreten ist und unter dem sie sich weiterzuentwickeln hat. I n der Öffentlichkeit und ihren Korrelatbegriffen liegen Voraussetzungen und Bahnen der Fortentwicklung der Verfassung. Die Wirklichkeit der Verfassung 39 ist die Wirklichkeit ihres so verstandenen — öffentlichen — Rechts 40 . Die Vitalität einer Verfassung, d. h. ihre Kunst, Kontinuität zu schaffen, hängt u. a. davon ab, ob sie so organisiert wird, daß die Verlebendigungsprozesse zwischen den Teilen, etwa den einzelnen Staatsfunktionen, i n Balance bleiben. Das Geben und Nehmen zwischen den Gemeinwohlfunktionen auf allen Stufen der Rechtsordnung 41 ist ein solcher Prozeß. Es kommt zu Spiralen, die i m Verfassungsgeschehen die Verfassung insgesamt weiterführen. Verfassungsgeschehen ist Zeitgeschehen. Es gilt, eine Grob- und Feineinstellung der Rechtsordnung gegenüber den „Zeitläuften" zu finden. Wenn „Dauer" einer Verfassung ein Kompliment für sie ist, so deshalb, weil sie sich i n der Zeit „halten" kann, indem sie m i t ihr geht 42 . Die Erkenntnis des Zeitfaktors setzt den Juristen i n den Stand, durch seine M i t t e l die Zeit reflektiert und differenziert in den einzelnen Rechts39

Zur ihr grundlegend: Hesse, a.a.O., S. 17 ff. Zum ganzen P. Häberle in: ZfP 16 (1969), S. 273 ff.; ders., „Struktur und Funktion der Öffentlichkeit im demokratischen Staat" in: Politische Bildung, H. 3 (1970), S. 3 ff. — Die normierende Kraft der Öffentlichkeit ist eine in der parlamentarischen Demokratie legitime Bereicherung und Begrenzung der richterlichen Interpretation. 41 Dazu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, bes. S. 204 ff. 42 Ein ähnliches Bild bei G. Husserl, a.a.O., S. 26, für die Rechtsnorm. Die Veränderbarkeit der Verfassung und damit die Zeit, den Entwicklungscharakter so zu betonen, hat freilich einen Preis: Er besteht im Eingeständnis der großen Unbestimmtheit der Verfassungssätze, in der geringeren Rechtssicherheit und Verläßlichkeit des Verfassungsrechts. Gewiß muß die unverzichtbare Entlastung s funktion der Rechtsprechung im politischen Gesamtsystem bedacht werden. Gleichwohl wird an der Tendenz festgehalten : vieles erscheint sonst als Selbstbetrug. Die stärkere Verunsicherung und Belastung, die die Einsicht in die Rolle des Zeitfaktors mit sich bringt, ist aufzufangen durch überprüfbare Maßstäbe und Instrumente, rationale Verfahren usw. „Rechtsgespräch" ist noch keine „Auflösung" des Rechts. 40

r> Verfassung

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Problemen und Staatsfunktionen zu verarbeiten. Dies ist um so wichtiger, als Verfügung über die Zeit eine eminente politische Macht bedeutet. Das zeigt sich historisch i n dem Satz „lex posterior derogat legi priori" als Ausdruck der neuen Souveränität 43 . Der Kampf um das „gute alte Recht" war ein Kampf gegen die Zeit und um die Zeit. Die Durchsetzung einer „ V o r w i r k u n g " von Gesetzen bedeutet Machtzuwachs. Machtgewinn präsentiert sich als Zeitgewinn bzw. umgekehrt. Man denke an die Nichtigerklärung verfassungswidriger Gesetze durch das BVerfG 4 4 , an ihre verschiedenen zeitlich gestaffelten Formen und an den Funktionswandel eines Verfassungsauftrags wie des A r t . 6 Abs. 5 GG 4 5 . Was ist nach alledem Zeit? Sachlich ist Zeit die Möglichkeit, sich verändern zu können, zu einer wirklichen Veränderung braucht es jedoch nicht zu kommen (Veränderung ist also nicht per se ein Positivbegriff). Z u untersuchen sind die Bedingungen der Möglichkeiten zu Ä n derungen. Was sich verändern kann, aber nicht verändert, muß sich ja bewähren. — Die starke Betonung des Zeitfaktors darf nicht zu dem Mißverständnis führen, daß die Zeit zum „movens", zum bewegenden „Subjekt" der Geschichte zu stilisieren sei, daß sie ea ipsa etwas bewirke. Geschichte (eines Gemeinwesens) hat viele Subjekte; die Zeit ist i m Grunde nicht mehr als die Dimension, i n der Veränderungen möglich und notwendig sind — bewirkt von realen, angebbaren (ζ. B. ökonomischen) Faktoren und Kräften, etwa Interessengruppen, aber auch von „subjektiven" Erfahrungen i n und m i t einer bestimmten Verfassung sowie von Umwelterwartungen und Ideen. Die Zeit indiziert ein „Ensemble" bewegender sozialer Kräfte und Ideen, die sie strukturieren. Trotzdem kann man von „der Zeit" sprechen, u m die Kategorie der Veränderung auf allgemeiner Ebene verfassungstheoretisch i n den Griff zu bekommen. Der Begriff der Zeit ist eine Chiffre, die für das steht, was „ i n der Zeit" passiert. Das Gemeinwesen, seine Möglichkeiten und Notwendigkeiten, aber auch Interessengegensätze und -interdependenzen bringen das qualitative Moment in die Formalkategorie der Zeit. Bei allem „zeitlichen" Verständnis von Verfassung und „verfassungsimmanenten" Verständnis von Zeit gilt: „Erfahrung" muß von vornherein sachlich und methodisch mitverarbeitet werden: teils über den Begriff des „Nachverständnisses", teils über „Verfassungsänderungen". Verfassungen sind wesentlich aus der Erfahrung entstanden, die Macht werde zum Nachteil der Bürger mißbraucht. Die Formen des Machtmiß43 Vgl. Ipsen, Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1965, S. 1 ff. (25 f.). 44 Dazu zuletzt Pestalozza in: AöR 96 (1971), S. 27 ff. 45 BVerfGE 25, 167 ff.; dazu Simitis in: JZ 1969, S. 277 ff.

2. Zeit und Verfassung

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brauchs ändern sich; entsprechend neu muß die Verfassung reagieren und „steuern", ζ. B. i n Gestalt der „ D r i t t w i r k u n g " von Grundrechten, über die Durchsetzung „sozialer Grundrechte", über Partizipationsformen 4 6 . I n den Verfassungsinstitutionen westlicher Demokratien haben sich „Erfahrungswerte" als Erkenntnisse und Interessenwerte angesammelt, die man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte, so wandlungsfähig, d. h. interpretationsoffen sie sind und sein müssen, sosehr auch sie dem Prozeß von „ t r i a l and error" ausgesetzt sind. Man denke an die Gewaltenteilung und ihre neuen nichtstaatlichen Erscheinungsformen als „publizistische Gewaltenteilung" (zwischen den Massenmedien); auch der Methodenkanon ist, so offen er gehalten werden muß, ein solcher nicht unpolitischer Erfahrungsschatz. Die Verfassung entfaltet sich „ z w i schen" Anpassung und Widerstand 4 7 . 2. Verfassungsrechtliche Sachaussagen und zeitgebundene bzw. -bindende Interpretationsmethoden — ihr Wechselverhältnis Die Auslegungsmethoden bestimmen nicht nur die Sachgehalte der Verfassung, sie sind i n Qualität, Hang und ihrem Verhältnis untereinander ihrerseits vön diesen Verfassungsprinzipien abhängig. Ζ. B. besteht ein intensiver Zusammenhang zwischen „pluralistischer Demokratie", „sozialem Rechtsstaat" und „Freiheit" m i t der bzw. m i t den zu wählenden Methoden: Die entstehungsgeschichtliche Auslegungsmethode, eher der konstitutionellen Monarchie zugeordnet, t r i t t heute i n den Hintergrund, hat aber als entwicklungsgeschichtliche eine legitime Funktion. I m Gewicht, das das BVerfG und ein Teil der Literatur der objektiven gegenüber der subjektiven Auslegungsmethode einräumen 48 , liegt ein Zugeständnis an die Zeit. Gleiches gilt für die spezifisch verfassungsrechtliche folgenorientierte Auslegung 49 . Alles hängt freilich von der Interessenehrlichkeit der Interpretation ab. Sie ist Konsequenz der Interessengebundenheit juristischer Argumentation. Die Relevanz des Zeitfaktors für Verfassungsauslegung muß bewußter als bisher von den „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen" 46

Dazu Schmitt Glaeser in: V V D S t R L 31 (1973), S. 175 ff. s. auch Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 39: „Für die gesunde Verfassung einer Sozietät ist es wichtig, daß Beharrungs- und Wandlungstendenz des Rechts in einem angemessenen Kräfte- und Wirkungsverhältnis zueinander stehen." 48 Dazu (kritisch) etwa Ehmke in: V V D S t R L 20 (1963), S. 53 (57 ff.); Hesse, Grundzüge, S. 22 f. 49 Zippelius, a.a.O., S. 65, will auch die „Konsequenzen" einer Entscheidung überdacht wissen, s. bes. Bachof in: Summum ius summa iniuria, 1963, S. 41 ff. (45 f., 47 f.), w. N. in Anm. 91. 47

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

aus bestimmt werden. Verfassungsprinzipien (wie Sozialstaat, pluralistische Demokratie, Öffentlichkeit), Verfassungsdirektiven bzw. Staatszielbestimmungen 50 und die Entwicklung der Staatsaufgaben 51 wirken auf die Interpretationsmethoden und ihr Verhältnis zueinander ein, zumal i m Kraftfeld der normierenden Bedeutung der Öffentlichkeit, besonders der öffentlichen Meinung 5 2 (Präjudizierung von Methodenwahl und Methodenverhältnis durch die Sachgehalte der Verfassung 53 ). I m GG sind zu nennen: die „Republik" als Bezugnahme auf — offen zu sehende — res und salus publica, Grundrechte, die ebenso wie das Prinzip Öffentlichkeit und der Wissenschaftsbegriff eine „offene" Interpretation favorisieren, die Entfaltungsfreiheit, der soziale Rechtsstaat, die (repräsentative) Demokratie 5 4 , der Pluralismus, ζ. B. als „gesellschaftliche Repräsentanz" 55 . Das — demokratische — Mehrheitsprinzip taucht ebenfalls i n der Interpretationsdiskussion auf, verdeckt i n der Forderung nach einem Rückgriff auf Gerechtigkeitsvorstellungen möglichst vieler oder i n „Durchschnittsbegriffen" 58 . Das Reichsgericht greift auf ein Surrogat der Allgemeinheit i n der Formel vom „Anstandsgefühl aller (!) b i l l i g und gerecht Denkenden" zurück 57 , das Ehmke ins Verfassungsrecht transformiert hat: als „Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden" 5 8 . Wenn die Auslegung auf die Einheit der Verfassung verweist 5 9 , so kann sie damit auch auf die Zeit verweisen, sofern das Verfassungsverständnis entsprechend offen ausfällt 6 0 . 60

Zu ihnen: Scheuner in: Festschrift für Forsthoff, 1972, S. 325 ff.

51

Zu ihnen jetzt: Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973. Bestimmte Staatsaufgaben müssen von GG wegen innerhalb einer bestimmten Frist erfüllt werden (s. die E. des BVerfG zur Fortdauer der Untersuchungshaft. in: NJW 1974, S. 307 ff.). 52 Dazu mein Beitrag in: Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 ff. (39 ff.); AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.); Öff. Interesse, S. 417 ff. 53 Angedeutet bei Zippelius, a.a.O., S. 28: Welche Auslegung einer wählt, hängt davon ab, was für eine Staatsphilosophie er hat. S. 26: Subjektive Auslegung in Diktaturen, anders als in der repräsentativen Demokratie, s. auch A. Kaufmann, a.a.O., S. 97 f., im Anschluß an Engisch. — I m „evolutionären" Sozialstaatsprinzip liegt eine Ambivalenz im Verhältnis zur Zeit: Einerseits bewahrt es „soziale Errungenschaften", andererseits enthält es ein forderndes Moment in die Zukunft. 54

Vgl. Zippelius, a.a.O., S. 26 f.

55

I. S. von BVerwG JZ 1972, S. 206. s. auch P. Häberle, S. 501 ff. 56

Nachweise bei P. Häberle, öff. Interesse, S. 425 ff.

57

Sie können auch eine bloße Minderheit sein !

58

VVDStRL 20 (1963), S. 53 (71, 131).

59

Hesse, Grundzüge, S. 28, 12.

60

Freilich ist jede „Einheitsideologie" zu hinterfragen.

öff. Interesse,

2. Zeit und Verfassung

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Die Demokratie ist ein Zukunftsoffenheit spezifisch legitimierendes Verfassungsprinzip. Als Prinzip der Evolution verstanden erhofft sie vom öffentlichen Wechselspiel zwischen (veränderbarer) Mehrheit und Minderheit(en) eine anderen Staatsformen nicht bekannte Gestaltung der Zukunft durch Alternativen: über Öffentlichkeitsgarantien und ein ausdifferenziertes Verfahrenssystem. Regelmäßige Neuwahlen 6 2 , begrenzte Macht, d. h. begrenztes Vertrauen auf Zeit usw., sind der Versuch, der Zeit „gerecht" zu werden. Keine andere Staatsform strukturiert sich selbst so sehr auf die Zeit hin und i n der Zeit wie die parlamentarische Demokratie. U m sich lebensfähig zu halten, muß sie heute neue Formen optimaler Zeitkongruenz erfinden: von öffentlichen Hearings bis zu neuen Formen der Parlamentsauflösung 63 . Politische Ämter (man denke an den Begriff der Wahl- und Amtsperiode) sind grundsätzlich zeitlich begrenzte Ämter, weil dadurch die Macht kontrollierbar w i r d und sich nicht i n Personen verfestigt. Macht und Kompetenz „auf Zeit" sind ein Strukturelement der freiheitlichen Demokratie, weil Verfügung über Zeit notwendig ist, Macht bedeutet und begrenzt werden muß 6 4 . Machtkontrolle geschieht also auf dem Weg über die Zeit! Wie eng Verfassungsprinzipien, Verfahren und Methoden zusammengehören, zeigt folgendes Beispiel: Der Verfahrenscharakter der Auslegung ist angesprochen i m Wort „Auslegungsprozedur" und offenkun61

Zum demokratischen Prinzip im GG: von Simson / Kriele in: V V D S t R L 29 (1971), S. 4 ff. bzw. 46 ff.; Badura, ebd. S. 96: Demokratie als ein „Prinzip der Kritik und ein Prinzip des Weiterdrängens". 62 Zu „Wahlsystem und Verfassungsordnung" jetzt das gleichnamige Buch von H. Meyer, 1973. 63 Dazu die Diskussion im Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, 1973, S. 141 ff. 64 s. auch Leisner in: Der Staat 7 (1968), S. 137 (160), in bezug auf das System der Amtszeiten: „Zeit wird hier zur dogmatischen Kategorie der Machtbegrenzung." s. aber auch Luhmann in: Der Staat 12 (1973), S. 1 ff. (12 f.): Der zeitl. festgelegte Wahlrhythmus verhindert, daß langfristig Aufgaben angepackt werden, weil sich die Politiker um die Wiederwahl bemühen müssen.— Institute wie das Notstandsrecht verdanken spezifischen Zeitproblemen ihre Existenz. Schnelligkeit und Effizienz staatlichen Handelns (s. meinen Beitrag: Effizienz und Verfassung, AöR 98 [1973], S. 625 ff.) wird hier Gebot. I m GG wird die Macht auf Zeit entsprechend differenziert verteilt. Rechtzeitigkeit wird heute oft zur Voraussetzung von Richtigkeit (J. H. Kaiser in: NJW 1971, S. 585 [588]). Die Begrenzung der Amtszeit der Bundesverfassungsrichter (§ 4 BVerfGG) ist eine angesichts der Eigenheiten öff. Verfassungsinterpretation im Parteienstaat konsequente Einbindung des Zeitfaktors, der hier Verfassungsrichtermacht begrenzt, indem er sie erneut an den demokratischen Prozeß (Richterwahl!) rückkoppelt. Soweit dieser heute durch die die repräsentative Demokratie ergänzende Partizipation gekennzeichnet ist, wird Macht zeitlich variabel auf neue Weise beschränkt, aber auch legitimiert. — Die hohe Relevanz des Zeitfaktors heute ist durch die (post-)industrielle Entwicklung der Gesellschaft bedingt.

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

dig i n der Tatsache, daß erst i m Verfahren die für die „Entfaltung" der Rechtsnorm relevanten tatsächlichen Umstände (Sachverhalte) beigebracht werden; er zeigt sich bei Esser, insofern er für soziale Richtigkeit den Konsens als einzig verifizierbares Indiz ansieht. Dieser setze als Prämisse die Gesprächsfähigkeit voraus 65 . Auch Hesses66 „praktische Konkordanz" ist ein Verfahren. Konkret: A r t . 103 Abs. 1 GG ist m i t A. Arndt zu interpretieren: als richterliche Pflicht zum — offenen — „Rechtsgespräch" 67 . Weil Rechtsfragen als Interpretationsfragen, das heißt zugleich als Sachverhalts(-aufbereitungs-)fragen 68 , offen sind, weil Methodenwahl und Vor- bzw. Nachverständnis rationalisiert und strukturiert werden müssen, muß das Rechtsgespräch (vermittelt insbesondere durch Anwälte) institutionalisiert werden. Das Rechtsgespräch w i r d zum Zeitgespräch! Ohne diesen umfassend verstandenen A r t . 103 Abs. 1 GG gibt es keine konsenstaugliche, methodisch „geklärte" Auslegung. A r t . 103 Abs. 1 GG ist insofern eine (Ab-)Sicherung rationaler Auslegung. Die Verfassungsinterpretation 69 ist auf die differenzierten Ausformungen des A r t . 103 Abs. 1 GG i m Verfassungsprozeßrecht angewiesen 70 . A r t . 103 Abs. 1 GG bzw. seine Auslegung und das Methodenverständnis bestimmen sich wechselseitig. Dieses methodenbedingte Verständnis von A r t . 103 Abs. 1 GG ist letztlich aus der umfassenden Rechtsschutzgarantie des A r t . 19 Abs. 4 G G 7 1 zu begründen. A r t . 103 Abs. 1 GG erscheint als Grundrecht der (Rechts-)Information und Kommunikation, so wie Verfahrensrecht überhaupt als Kommunikationsrecht zu deuten ist. Er ermöglicht „sinnvolle" Methodenwahl. Er ist ein Beispiel für die Methodenrelevanz eines Grundrechts. Auch i n anderen prozessualen Grundrechtsschutzgarantien stecken entsprechende Kommunikationsaufforderungen bzw. -chancen, die für die Methoden wähl des Interpreten relevant werden. A r t . 104 GG ist hier an erster Stelle zu nennen. Solche spezifisch verfahrensbezogenen „methodenpluralistischen" Grundrechte halten das Rechtsfindungsverfahren 63 Vorverständnis und Methodenwahl, 2. Aufl. 1972, S. 28. Grundzüge, S. 27 ff. : „Das Verfahren konkretisierender Interpretation". 67 NJW 1967, S. 1585 (1586). 68 Das Recht entwickelt sich ja „am" Sachverhalt. 69 Die Publizität des Sondervotums (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) gibt den Weg frei für ein in die Unendlichkeit verlängertes Gespräch in, durch und über die Öffentlichkeit der Verfassung. Sie ist die verfassungsprozessuale Form einer Reform- bzw. Experimentierklausel. Sie bietet den Ansatz für geänderte Verfassungsinterpretation (über neue Öffentlichkeitskristallisationen). Die Institutionalisierung des Sondervotums ist eine positivrechtliche Anerkennung der „offenen" Verfassungsinterpretation. Sie impliziert, daß das BVerfG an seine eigene Rechtsprechung nicht gebunden ist (dazu: BVerfGE 4, 31 [38]). 70 Vgl. ζ. B. §§ 77, 94 BVerfGG. 71 Zu ihm jetzt: Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973. ββ

2. Zeit und Verfassung

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und damit auch die Verfassung offen: Sie verhindern die antizipierende Festlegung auf eine bestimmte Methode und Entscheidung 72 . Diese Überlegungen müssen Konsequenzen haben i n der — ständig zu verbessernden — Ausgestaltung des Prozeßrechts. Es ist nicht nur formalisierte Randbedingung der Auslegung, es präjudiziert die Methodenfragen sachlich entscheidend m i t 7 3 . Das Prozeßrecht ist so zu gestalten, daß die vielberufenen Verhältnisse „verzerrter Kommunikation" (Habermas) abgebaut werden. Es ist kein Zufall, daß der klassische Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat, die Verfassungsbeschwerde, nicht dem Anwaltszwang unterliegt. Öffentlichkeit der Verfassung w i r k t sich hier unmittelbar aus. Die Publizität der Verfassungssprache muß so gestaltet sein, daß der Bürger seine Rechte kennt und daß er sie selbst vor dem Verfassungsgericht geltend machen kann. Hier sind sprachphilosophische Überlegungen i n verfassungstheoretische 74 einzubringen. I m Bereich des Verfassungsrechts muß die juristische Fachsprache so allgemeinverständlich sein, daß sie dem Bürger etwas sagt. Die Verfassung muß sich der Alltagssprache öffnen. Die Sprache der Verfassung muß zur Sprache aller Bürger werden. Idealiter fällt die Verfassungssprache m i t der Alltagssprache zusammen und schafft Publizität und Transparenz: Verfassungsrecht, insbesondere Grundrechte, gehen jeden an. 3. Die einzelnen Interpretationsmethoden als unterschiedlich wirkende Vehikel des Zeitfaktors im — republikanischen — Auslegungsvorgang These: Alle Interpretationsmethoden haben denselben sachlichen Bezugspunkt: die — i n der Zeit wirkende — Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung: „republikanische Auslegung". Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung lassen sich nur durch offene Auslegung einfangen! Die verschiedenen Methoden halten verschiedenes „Material" bereit: die historische ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit des Zeitpunkts der Normsetzung, die objektive die Öffentlichkeit und Wirklichkeit hic 72 Dieses „prozessuale" Verständnis von Methodenproblematik und Verfassungsprinzipien ist Ausdruck ihres zeit-gerechten Verständnisses. Denn ZeitProbleme lassen sich vor allem durch Verfahren verarbeiten, die freilich ihrerseits in sachlichen Zusammenhängen stehen. Das GG ist insgesamt auf in diesem Sinn methoden- bzw. verfahrensrelevante Aussagen abzusuchen. 73 R Häberle in: JZ 1973, S. 451 (452 f.). 74 Auch die Verfassungstheorie muß sich der Kritik der Sprachtheorie stellen. Ihre wachsenden Differenzierungen könnten auf Kosten der Publizität der Verfassung gehen. Die Forderung nach immer neuer „Rückkehr" zum Urtext dient der Befreiung von dogmatischen Verkrustungen, ohne daß ein solcher Rückgriff jedoch zum Selbstbetrug werden darf.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

et nunc, öffentlichkeits-, gemeinwohl- und folgenorientierte Auslegung suchen ihre Inhalte i m Blick auf die antizipierte Zukunft. So gesehen haben alle Auslegungsmethoden Bezug zur Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung, sie unterscheiden sich nur durch unterschiedliche Zeitperspektiven. Diese Sicht ist kein Plädoyer für die Einebnung der Auslegungsmethoden als wichtiger Mittel richterlicher Selbstdisziplinierung 7 5 , i m Gegenteil: Die sich wandelnde Öffentlichkeit und W i r k lichkeit muß — zeitlich — differenziert erschlossen werden 7 6 ; die „Organisation" der Auslegungsmethoden geschieht unter diesem einheitlichen sachlichen Bezugspunkt 77 . Ziel aller Auslegung ist ein (zukunfts-)offenes Verfassungsverständnis und in ihm ein gerechter, „vernünftiger" Interessenausgleich. Es findet i n der entsprechend „offenen" Auslegung verfassungsrechtlicher Prinzipien seinen Ausdruck. Aufgabe ist es, die juristische und die sozialwissenschaftliche Methodenkontroverse am Gegenstand „Verfassung" zusammenführen, der als Verfassung der Freiheit die Zukunft offenhält, das Mögliche und Notwendige (im Normativen) zur Wirklichkeit werden läßt. Verfassung als Gesamtrahmen der res publica w i r d Plattform für die Zukunftsorientiertheit aller Wissenschaften und ihrer Innovationspotentiale. Angesichts der Zukunftsorientierung dürfen freilich die Erfahrungswerte der Vergangenheit sowie die Gegenwart und das, was i n ihr „machbar" ist, nicht aus den Augen verloren werden. Indes: Das „Denkbare" darf nicht auf das „Machbare" reduziert werden, andernfalls wäre noch weniger machbar und damit auch denkbar. Das Machbare ist nicht das Maß aller Dinge! Ähnliche Relationen bestehen zwischen dem Notwendigen und Möglichen, dem Normativen und Wirklichen. Die einzelnen Auslegungsmethoden leisten je nach der A r t , wie sie „organisiert" werden, unterschiedliche Beiträge zur Verarbeitung der Zeit 7 8 , ζ. B. als Beschleunigung oder Verzögerung durch wechselndes 75 „Bindung an das Gesetz" läßt sich nur durchhalten dank der über zeit„gerechte" Interpretation vermittelten Freiheit gegenüber dem Gesetz. (Es sind ja Menschen, die interpretieren.) Diese lebt von der Möglichkeit und Durch setzbarkeit von Alternativen gegenüber bisherigen Auslegungsergebnissen. 76 Beispiele in meiner Studie öff. Interesse, S. 285 ff., 417 ff., 558 ff., 571 ff. 77 Zur „Architektur" dieser öffentlichen Wirklichkeit, zu dem sie der Auslegung vermittelnden vielseitigen Einsatz des „öff. Interesses" meine gleichnamige Studie. Dazu jetzt eingehend Stolleis in: VerwArch 65 (1974), S. 1 ff. 78 Sei es, daß das Recht entwickelt, sei es, daß es bewahrt wird. Recht muß sich ja öffentlich behaupten. Zu den verfassungsrechtlichen „Wachstumsprozessen" kommt es durch Interpretation, aber auch durch (formelle) Verfassungsänderung; diese steht keineswegs jenseits von Interpretation; ob sie erforderlich ist, ergibt sich aus Interpretation. Wenn H. Huber in der Gedenkschrift für Imboden, 1972, S. 191 (206), formuliert, die Konkretisierung von

2. Zeit und Verfassung

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Zusammenspiel. Es geht darum, „Erfahrung" methodisch (und damit auch sachlich) zu tradieren, die Gegenwart richtig einzuschätzen und die Interpretation offenzuhalten. Darin liegt ein sich je nach Zeit verschieden stellendes Problem. Der öffentliche „Wachstumsprozeß" der Verfassung ist von einem Verfeinerungsprozeß der Auslegungsregeln begleitet, ja durch ihn bedingt. Klassische Auslegungsregeln werden nicht „abgestoßen", sie gleichen eher „Ringen" i m Stamm der lebenden Verfassung! Offene Interpretation ist je nach dem Interpretations gegenständ abgestuft zu sehen. Die inhaltliche Determinierung der verschiedenen verfassungsrechtlichen Begriffe ist unterschiedlich. Das gilt vor allem für die Einzelfreiheiten. Die Freiheit von Wissenschaft und Kunst ist offener 79 als die von A r t . 6 Abs. 1 GG. I m Vordergrund der Einbindung des Verfassungsrechts i n die Zeit stehen die öffentlichkeits-, wirklichkeits-, gemeinwohl- und folgenorientierte Auslegung — als verschiedene Annäherungsweisen an das Zeitmoment: „Zeitwege". „Öffentlichkeit", „Wirklichkeit" und „Gemeinwohl" zumal lenken den Blick auf den Gesamtrahmen der Verfassung der res publica 8 0 , auf ihre Normativität und Normalität. Offene Auslegung integriert die bisherigen Auslegungsmethoden. Sie erzwingt eine Öffnung des Methodenkanons. Die geschichtliche Kontinuität der Verfassung ist bedingt durch ihre offene Interpretation. Z u r Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung müssen die Interpretationsmethoden immer neue Brücken schlagen. Es kommt zu „Interpretationsentwicklungen". Auslegung ist immer Auslegung i n der Zeit 8 1 . Das i n A r t . 79 Abs. 1 Satz 1 GG begründete Prinzip der formellen Verfassung und ihrer Publizität läßt sich nur durchhalten über offene Verfassungsinterpretation. Die hier weit verstandene „Verfassung" muß sich durch Auslegung „ändern" können 8 2 , i n stärkerem Maße als Gesetze, die sich „einfach" ändern lassen. Freilich läßt die funktionell-rechtliche Problematik dem Gesetzgeber mehr Freiheit als dem Richter. Grundrechten mache Änderungen des Grundrechtsteils der Verfassung für große Zeitabschnitte „überflüssig", so zeigt sich, wie sehr die „Verfassungsänderung" ex post gesehen relativiert wird, ja ersetzbar ist. Verfassungsänderung und „Verfassungswandel" unterscheiden sich mehr ex ante als ex post und mehr in der formalen Struktur als im praktischen Ergebnis ! 79 Normen sind nicht beliebig offen, sie schließen per se auch bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten gerade aus (Selektionsleistung). 80 Dazu m. N. mein öffentliches Interesse, 1970. — (Verfassungs-)Interpretation wird unterschiedlich praktiziert, je nachdem, wie das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorverstanden, ob und wie das Recht in der Entwicklung gesehen wird, als law in public action. 81 Interpretation ist auch ein Stück öffentlicher Kritik. 82 Diese Änderungsoffenheit der Verfassung ist Konsequenz des hier zugrunde gelegten umfassenden Verfassungsverständnisses. Es kommt auch in der Anerkennung von sog. „Verfassungsgewohnheitsrecht" zum Ausdruck, das freilich meist ein Interpretationsproblem in bezug auf geschriebenes Hecht ist.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Die Rückkoppelung der Interpretation an den demokratischen Prozeß geschieht i n allen Formen normierender Kraft der Öffentlichkeit; erinnert sei an den Satz „The Supreme Court follows the elections" 83 . Das relativiert den Primat der (Verfassungs-)Interpretation und vermittelt demokratische Legitimation, die nicht auf dem Umweg über Interpretation i n Frage gestellt werden darf. Gerade der demokratische Gesetzgeber ist ein wesentliches Stück Öffentlichkeit. Offene Interpretation der Verfassung und des für sie konstituierenden Freiheits- und Wissenschaftsbegriffs ist Konsequenz des Pluralismus i m allgemeinen und der Wissenschaftsbegriffe i m besonderen. Das Verständnis von „Auslegung" hat an die wissenschaftstheoretische Diskussion anzuknüpfen. Die geistesgeschichtliche Auslegung erweist sich als notwendiges Durchgangsstadium zur „offenen" Auslegung. Diese geschieht nicht i m luftleeren und zeitlosen Raum, sie bedarf der geistes-, problem- und sozialgeschichtlichen Elemente, der Techniken vielfältiger Interpretationshilfen. Offene Auslegung hat Inhalte und Grenzen, „Materialien"; zu ihnen gehören Aspekte der überkommenen Auslegungsmethoden, ebenso sozialwissenschaftliche Perspektiven. I n der A r t und Weise, wie sie untereinander gewichtet werden, liegt eine wesentliche Bewährungsprobe für Verfassungsinterpretation 84 . A u f das Wechselverhältnis zwischen den Sachgehalten der Verfassung und ihren Interpretationsmethoden wurde schon hingewiesen. Die „Auslegung der Auslegungsmethoden" ist durch die materiellen und formellen Verfassungsprinzipien präjudiziert. Bindet die Interpretationslehre sich i n die Zeit sehr viel stärker ein, so erscheint Wandel nicht als primär „von außen" kommender Vorgang, sondern als Konsequenz der „Norm i n der Zeit": als „Interpretation". Einen Rechtssatz „auslegen" bedeutet, i h n i n die Zeit 8 5 , d. h. i n die öf83

Dazu Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, 1972, S. 111 f., 74 f. 84 Was die Zeit in das Normverständnis „einbringt", wird zum Gegenstand der Methoden selbst, „reflektiert" sich in der Methodenwahl. — Das Plädoyer für offene Auslegung ist kein Votum für eine „unbegrenzte Auslegung", die Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 2. Aufl. 1973, beschrieben hat. Unbegrenzte Auslegung verbietet sich angesichts des hier entworfenen Verfassungsverständnisses. Verhindert wird sie durch die gegenseitige Kontrolle der Methoden sowie durch die Sachgehalte der Verfassung, aber auch durch die der Dogmatik abverlangte „Entlastungsfunktion", schließlich durch die Funktionsteilung zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Öffentlichkeit ist sachlich begründet, sie schafft Kommunikation und setzt Kommunikationschancen voraus. Schaffung von Konsens ist mit eine Aufgabe der Auslegung. — Hesses (Festschrift für Scheuner, 1973, S'. 123 ff. bes. 134) „Grenzen der Verfassungswandlung" sind, so gesehen, Grenzen der Verfassungsinterpretation. 85 Vgl. Gadamer , Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. 310: Er (sc. der Ausleger) hat sich vielmehr den eingetretenen Wandel der Verhältnisse einzugestehen und hat daher die normative Funktion des Gesetzes neu (!) zu bestimmen; S. 311: Er sucht dem „Rechtsgedanken" des Gesetzes zu entsprechen, indem er es mit der Gegenwart vermittelt. G. Husserl, a.a.O., S. 26, spricht vom

2. Zeit und Verfassung

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fentliche Wirklichkeit stellen — um seiner Wirksamkeit willen. Die Unbestimmtheit von Verfassungssätzen öffnet sie der Zeit und ihrer Öffentlichkeit. Der Auslegungsvorgang ist nur i n der Zeit möglich und sinnvoll. Es gibt keine „zeitlose" Auslegung! Erst über die Auslegungsmethoden kommen die Rechtsnormen zu ihrer öffentlichen Wirklichkeit, sie sind deren Transmissionsriemen 86 . Man sollte daher von „Wirklichkeit der Rechtsnorm" sprechen. Damit zeichnet sich ein veränderter Normativitätsbegriff ab. Er ist von vornherein auf die offene Zukunft, ihre Möglichkeiten bezogen. Methodenfragen geht es darum, Zeit und Verfassung (und damit Recht) aufeinander abzustimmen. Methoden sind Instrumente i m und zum zeitgebundenen Interessenausgleich. Auslegen heißt, dem Verfassungsrecht eine Verwirklichungsebene i n der Zeit verschaffen, Konfliktsituationen bewältigen und Konsens begründen 87 . Im einzelnen ergibt sich für den Stellenwert der Auslegungsmethoden: a) Die wirklichkeitsorientierte Verfassungsinterpretation 88 ist, i n der Zeitproblematik gedeutet, ein Versuch, der gegenwärtigen Wirklichkeit „gerecht" zu werden. Es geht freilich nicht u m die der Norm äußerlich hinzugedachte Wirklichkeit, nicht um „entzeitete" Norm und zeitabhängige Wirklichkeit, sondern um die „Norm in der Zeit" selbst bzw. die „Wirklichkeit der Norm". b) Die öffentlichkeitsorientierte Verfassungsauslegung hat einen entsprechenden zeitlichen Aspekt. Abgesichert ist sie durch Aktivierung der formal und material verstandenen Öffentlichkeitsprinzipien der Verfasgedanklichen Weiterführen des Gesetzes, von der Herstellung einer lebendigen Beziehung zum „heute" ; s. auch S. 60. 88 Entsprechend wichtig werden die Verfahren der Aufbereitung der W i r k lichkeit, wird insbesondere das Verfassungsprozeßrecht. Der große Anspruch an Verfassungsinterpretation kann überhaupt nur durch einen entsprechend weiten, differenzierten Ausbau des Verfassungsprozeßrechts eingelöst werden. 87 Der kritische Rationalismus schärft das Bewußtsein für die ständige Aufgabe, die Möglichkeit zu Alternativen zu institutionalisieren, indem er die Ergebnisse der Revidierbarkeit durch andere, bessere offenhält. Das geschieht auch durch flexible Methodenwahl. — Der Interpret muß auf die Zeit und ihre gewandelten Bedingungen, Wertungen, Interessen, Informationen und Erkenntnisse antworten, und dies in der Gestalt tun, auf die sich die vorangehende Periode in Form der Rechtsnorm „geeinigt" hat. Sie hat eine Art Katalysatorfunktion, ferner Reibungsgewinne und -Verluste. Auslegung ist — in der Zeitdimension gedacht — weniger Auslegung von etwas Vorgegebenem als selbst ein Geben! Der Normtext erscheint „im Zuge der Zeit" oft mehr als „Anlaß", als Aufhänger von und für Auslegung. Das dem Begriff „Rechtsquellenlehre" zugrunde liegende Bild „Quelle" ist daher problematisch. 88 Zur Heranziehung der Verhältnisse der „Wirklichkeit" : Hesse, Grundzüge, S. 19, mit einem Hinweis auf den daraus resultierenden „ständigen, mehr oder minder erheblichen Verfassungswandel", s. auch meine Besprechung in DÖV 1966, S. 660 ff.

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

sung, insbesondere des Rechtsstaats-, Demokratie- und Sozialstaatsprinzips 89 . Die sachlich verstandene Öffentlichkeit ist auch mitbestimmend für das Verhältnis der Methoden untereinander. Dieses Verhältnis ist seinerseits zeitgebunden und nicht ein für allemal so oder anders zu bestimmen 9 0 . Die gemeinwohlbezogene Auslegung verbindet Elemente der wirklichkeits-, öffentlichkeits- und folgenorientierten 91 Interpretation 9 2 : insbesondere dann, wenn man die „verallgemeinerungsfähigen und »bedürftigen" Interessen stärker i n den Auslegungsvorgang hereinholt. c) Der historischen Auslegungsmethode vermittelt das „republikanische" Verfassungsverständnis eine neue, begrenzte Legitimation. Bei aller Zukunftsorientiertheit der Verfassung und ihrer Dogmatik sollte nicht übersehen werden, daß i n der Vermittlung von Erfahrungen eine wesentliche Kulturleistung der Verfassungsinstitutionen liegt 9 3 . Verfassungslehre ist insofern ein Stück anthropologischer Erfahrungswissenschaft. Damit gewinnt der Begriff der „Transformation" seine Schlüsselstellung. Er w i r d heute viel gebraucht: i n bezug auf liberales Denken, Demokratie, Öffentlichkeit, Grundrechte. Die „Übersetzung" von Verfassungsideen i n die Zukunft ist häufiger als ihre Verabschiedung. Man denke an die Fortentwicklung des bürgerlichen zum sozialen Rechtsstaat, der Grundrechte zu „sozialen Grundrechten", des Gesetzesbegriffs, der Gewaltenteilung i m engeren zu der i m weiteren (nichtstaatlichen) Sinne, des Prinzips Öffentlichkeit. Eine konkrete Verfassung wie das GG hat „ihre" Verfassungsgeschichte 94 (ζ. B. durch gewandelte Verfassungsinterpretation und -ände89 Dazu P. Häberle in: ZfP 16 (19G9), S. 273 ff., ders., öffentliches Interesse, bes. S. 708 ff. 90 Dazu A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, S. 81 (97 f.). 91 Dazu P. Häberle in: AöR 95 (1970), S. 85 ff., 260 ff. und öffentliches I n teresse, passim; H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, 1968 (dazu meine Besprechung in: D Ö V 1969, S. 150f.; Knöpfle in: DVB1. 1969, S. 442 ff.); Wittig in: Der Staat 8 (1969), S. 137 ff. (148). 92 Die „schöpferische Aufgabe" des Interpreten ist eine Umschreibung seiner Aufgabe, die Zeit zu verarbeiten, auch politische Entscheidungen zu treffen. Besonders die folgenorientierte Auslegung arbeitet im Blick auf die Zeit: Sie ist vielfältig mit den anderen Auslegungsmethoden verknüpft, ζ. B. mit der öffentlichkeitsorientierten (zu ihren Grenzen: mein Beitrag in Würtenberger, a.a.O., S. 59 ff.). Gedacht wird an die möglichen Reaktionen der und in der Öffentlichkeit auf eine bestimmte Auslegung. Folgenorientiert ist insbesondere zukunftsorientiert. 93 Insofern liegt die Zukunft des Verfassungsstaates zum Teil in seiner Vergangenheit. 94 Auf dem Weg über Verfassungsinstitutionen kommt es zu einem intersubjektiven Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen. — Verfassung(ssätze) insofern „provisorisch" zu halten, ist Not und Tugend einer am „kritischen Rationalismus" sich erprobenden Verfassungstheorie.

2. Zeit und Verfassung

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rangen). Die heutige Auslegung der Verfassung kann daher unversehens zu einer geschichtlichen Auslegung werden. Die verfassungstheoretische Aufarbeitung eines Problems (im Rahmen einer bestimmten Verfassung) kann nie „endgültig" sein: Die Praxis der Verfassung als „ l a w i n (public) action" 9 5 schließt dies aus. Die Verfassung bzw. die sie „tragende" Dogmengeschichte ist nie „ n u r " Geschichte: Die Verfassung steht viel zu sehr i m Kontinuum ihrer und der allgemeinen Entwicklung, der Prozesse von trial and error. Die — wenn man w i l l — Dialekt i k zwischen gelebter, heutiger Verfassimg und „überholter" Verfassung, zwischen Gegenwart und Vergangenheit muß die Verfassungsdogmatik i n die A r t und Weise der Problembehandlung einbeziehen. Das bedeutet die Legitimierung einer „radikal" verstandenen historischen Auslegungsmethode. M i t dieser Maßgabe kann „Geschichte" zur Gegenwart werden! Die entstehungsgeschichtliche Auslegung muß zur entwicklungsgeschichtlichen transformiert werden: Aus einem Zeitpunkt w i r d ein Zeitvorgang. Dies auch deshalb, weil der (Verfassungs-)Gesetzgeber unter einem Informationsdefizit leidet. A u f neue Entwicklungen ist er oft nicht eingestellt. Bei diesem Verständnis der „subjektiven" Auslegung rückt diese der sog. objektiven sehr viel näher, als vielfach angenommen w i r d 9 6 . A u f die Zeitachse projiziert wird die entstehungsgeschichtliche zur entwicklungsgeschichtlichen Auslegung und damit schrittweise objektiviert. Denn auch die sog. objektive Auslegung bedarf der Rückkoppelung. Ex post betrachtet w i r k t die objektive Auslegung i n einem bestimmten Zeitpunkt insofern subjektiv, als die Interpreten „ihre" zeitgeschichtlichen Vorstellungen i n die Auslegung m i t eingebracht haben. Folgende Generationen bemühen sich erneut u m Objektivierung, die später wiederum als subjektiv erscheint usw.; m. α. W.: der Dualismus subjektiv e/objektive Auslegung ist nur begrenzt aussagefähig. Er relativiert sich i n derZeit 9 7 . 95

(291).

Dazu im Anschluß an Esser mein Beitrag in: AöR 95 (1970), S. 86, 260 ff.

96 Kritisch gegen ein Entweder-Oder der subjektiven und objektiven Auslegung: A. Kaufmann, a.a.O., S. 98 f. — Wichtig schon Génys libre recherche scientifique; dazu Rasenack: Gesetz und Verordnung in Frankreich seit 1789, 1967, S. 56 f. 97 Das gilt schon in der Gegenwart. „Objektive" Auslegungen einzelner Interpreten werden sogar schon von zeitgenössischen konkurrierenden Interpreten als „subjektiv" zurückgewiesen. — Wichtig wird die Frage, wie „Auslegung" die Tradition verarbeitet, vor allem im Zusammenhang mit der „Vernunft". Soweit das Vorverständnis und in ihm die Tradition die Auslegung steuert, ist die Tradition an der Vernunft, nicht die Vernunft an der Tradition zu messen. Gewiß lebt die Vernunft nicht jenseits oder diesseits von Traditionen, aber sie lebt sicher nicht einfach von der Tradition. Es kann in einer bestimmten Zeit gerade Aufgabe des Richters sein, Konsens gegen Tradition zu schaffen. Ein Negativbeispiel für eine rein historische, zum verfassungs-

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Gewiß ist die „Rekonstruktion" des Normbildungsprozesses eine wichtige Aufgabe beim zukünftigen Auslegungsvorgang 98 , dieser geht darin aber nicht auf. Die historische Auslegung gewinnt eine neue Perspektive, indem eine gedankliche „Transformation" der entstehungsgeschichtlichen Bedingungen i n die Gegenwart und Zukunft erfolgt. So kann etwa die Veränderung oder das Entfallen entstehungsgeschichtlicher Verhältnisse ein Argument für eine gegenüber der Entstehungszeit der Norm veränderte Auslegung hic et nunc sein. Geschichte vermittelt hier Veränderbarkeit. Auslegung „aus der Geschichte" w i r d zum Vehikel, zur Konsequenz, nicht, wie meist angenommen, zum Hindernis für ein gewandeltes Auslegen aus der Gegenwart i n die Zukunft. Die scheinbare Relativierung des geschichtlichen Auslegungsergebnisses w i r d zu einer Verstärkung der geschichtlichen Faktoren i n Gegenwart und Zukunft — mag das jetzige Auslegungsergebnis auch gewandelt sein: Insofern muß historische Auslegung transformieren, „übersetzen", nicht tradier en 9 9 ! Damit w i r d der Horizont der Zukunft sichtbar bzw. die Kategorie des „NachVerständnisses" 100 .

4. Das Nachverständnis als Vorverständnis

der Zukunft

Ein Versuch, die Zeit i m Interpretationsvorgang „festzumachen", w i r d m i t dem Begriff des „NachVerständnisses" unternommen: Es ist das Vorverständnis der Zukunft, m. a. W. der Inbegriff aller zeitlich bedingten Faktoren, auf Grund derer eine Norm „nachträglich" verstanden wird. Was Zeit und Entwicklung, insbesondere die Erfahrung, der Wandel des Selbstverständnisses, die Sozialisationsprozesse und die normierende K r a f t der Öffentlichkeit dem Interpreten der Norm „nachliefern", geunmittelbaren „Selbstwert" stilisierte Auslegung bringt der Beschluß des BVerfG vom 23. 10. 1973 (NJW 1974, S. 311), in dem die in § 12 Abs. 1 Nr. 2 B W G erfolgte Begrenzung der „Allgemeinheit" der Wahl (Seßhaftigkeit im Wahlgebiet) allein als „traditionelle Begrenzung" verstanden und „demgemäß" für verfassungsmäßig erklärt wird. „Seit je her"-Argumentationen sind aber sachlich jeweils neu an der öff. Verfassung zu überprüfen. 98 Auch in der Demokratie, weil bestimmte Interessenabwägungen vom Parlament so und nicht anders getroffen worden sind. 99 Wenn Esser in: Festschrift für F. von Hippel, 1967, S. 95 ff. (117), von „Auffrischungsarbeit" am Gesetz spricht, so ist auch das noch allzusehr vom zunächst Vorhandenen aus gedacht. Es geht weniger um „Auffrischung" als um „Weitermalung". (s. jetzt Essers berechtigte Vorbehalte gegen den Begriff der „Konkretisierung", Vorverständnis und Methodenwahl, S. 75 f.). 100 Zur Zukunftsorientiertheit der Dogmatik P. Häberle in: V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (69 ff.); Brohm, ebenda, S. 245 (251). Vgl. auch Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 2, 1972, S. 343: „Was in der Zukunft deschehen wird, wird zur zentralen Sorge des Rechts." S. 347: „Sie (sc. die Gegenwart) muß Normen tragen, die undeterminiert bleiben oder, wenn bestimmt, als künftig umdeutbar begriffen werden."

2. Zeit und Verfassung

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hört zum Nachverständnis 101 . Nachverständnis ist für die — interpretierte — Norm nicht minder konstituierend als das Vorverständnis. Uber das Nachverständnis w i r k t die Rechtsnorm als „werdendes Recht". Dieses Nachverständnis muß i m öffentlichen Interpretationsvorgang rational ausgewiesen werden. Die „neue" Methodenwahl ist m i t bedingt durch das Nach Verständnis. Das „alte" Vorverständnis ist ein Element bei der Bildung des „neuen" Vorverständnisses, aber nicht mehr! Das Vorverständnis hat sich entwickelt; es entwickelt sich weiter in die Zukunft hinein zum NachVerständnis 102, nicht zuletzt dank jetzt erkannter Folgen! Schärfer als bisher sind die Prozesse der Entwicklung, der Ubergänge, aber auch der Brüche zwischen Vor- und Nachverständnis zu untersuchen. „VorVerständnis und Methodenwahl" ergeben den jeweiligen Inhalt der Norm heute, i m weiteren Zeitablauf wandeln sie sich, genauer: sie führen zum Nach Verständnis ; es w i r d seinerseits als historisch bedingt ausgewiesen; es entwickelt sich ja — beeinflußt durch die Interpretationsmethoden, die nicht einfach i n einem Vorfeld liegenbleiben 1 0 3 . Dieser Prozeß geht zum Teil durch die Interpretationsmethoden, Sozialisationsprozesse und ihre Ergebnisse hindurch und führt so zum Nachverständnis, d. h. dem Verständnis der Norm i n ihrem weiteren Entwicklungsgang. Denn: Es gibt keine Rechtsnormen, es gibt nur interpretierte Rechtsnormen! Und: Ob sich eine Interpretation i n der Zeit gleich bleibt bzw. bleiben soll, ist das Problem und Ergebnis von Interpretation 1 0 4 ! Durch die Einbeziehung des Nach Verständnisses w i r d der Interpretationsvorgang bewußt m i t den bereits gemachten Erfahrungen rückgekoppelt, die Lernprozesse werden sichtbar. Die erwähnte Formel beinhaltet zugleich eine Verstärkung und Relativierung des Vorverständnisses. Dieses ist stärker von den gewählten Methoden her zu sehen, gerade i m geschichtlichen Prozeß. Das „Nachverständnis" soll die einseitige Fixierung der interpretierten Norm auf das, was zeitlich und sachlich vor ihr liegt, das Vorverständnis, korrigie101 Belege aus der Rechtsprechung zum „öffentlichen Interesse" bei P. Häberle, öffentliches Interesse, S. 286, 313 ff., 418 f., 571 f., ζ. T. unter dem Stichwort „normierende Kraft der Öffentlichkeit". 102 Vgl. dazu aus der Sicht einer Entscheidungssoziologie: Lautmann in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Bd. I, 1970, S. 381 ff., der von einer „Phase der Nachgefühle" und einem „post-decision-Prozeß" spricht (S. 413). 103 Das Vorverständnis ist keineswegs einseitig Determinationsfaktor für die Methoden wähl. Die Methoden wirken zurück auf das Vorverständnis: Sie schulen, bilden es im Laufe der Zeit sowohl durch die Ergebnisse, die sie einzeln bewirken, als auch durch ihr Zusammenspiel. Das Gesetz „wird" nicht nur in der Auslegung (Ecker in: JZ 1969, S. 477 ff.), es ist insofern auch schon immer geworden. 104 Es gibt keine Auslegung, die „an sich" richtig oder falsch ist, es gibt nur eine im jeweiligen Zeitpunkt vertretbare Auslegung.

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ren. Dieses findet i m N a c h v e r s t ä n d n i s seine d i a l e k t i s c h e E n t s p r e c h u n g . D a m i t ist die m i n d e s t e n s scheinbare V o r h e r r s c h a f t des V o r v e r s t ä n d n i s ses „ a u f g e h o b e n " . Es w i r d d i e zeitliche D i m e n s i o n s t ä r k e r i m I n t e r p r e t a t i o n s p r o b l e m s i c h t b a r gemacht: Das N o r m Verständnis i s t n a c h b e i d e n S e i t e n (Enden) h i n o f f e n u n d z u g l e i c h „ d i r i g i e r t " 1 0 5 . Das V o r v e r s t ä n d n i s i s t d e r „ H e b e l " , a n d e m d i e Z e i t (ζ. B . Lernprozesse) i m S i n n e des N a c h verständnisses ansetzt. I n e i n e m w e i t e r e n S i n n e s i n d a l l e — i n t e r p r e t i e r t e n — Gesetze „ Z e i t g e s e t z e " 1 0 6 — n i c h t n u r die z e i t l i c h b e f r i s t e t e n . B i s l a n g f e h l t eine T h e o r i e d e r P r a x i s ü b e r das V o r Verständnis, die g e n ü g e n d prospektiv

ist, eine Z u k u n f t s o r i e n t i e r t h e i t , die sich a u f a l l e

sog. klassischen u n d die n e u z u e n t w i c k e l n d e n A u s l e g u n g s m e t h o d e n w i e die explizit öffentlichkeits- u n d folgenorientierte Auslegung auswirken m u ß . Das N a c h v e r s t ä n d n i s i s t d e r V e r s u c h solcher Z u k u n f t s o r i e n t i e r u n g . Es k a n n eine durchaus andere Q u a l i t ä t als das V o r v e r s t ä n d n i s h a b e n : I n d e r Zeitachse f r e i l i c h i s t es „ n u r " dessen F o r t s e t z u n g 1 0 7 .

Nachver-

s t ä n d n i s i s t das V o r v e r s t ä n d n i s i m Z e i t p u n k t d e r „ s p ä t e r e n " Entscheidung108. D i e v i e l f ä l t i g e n Prozesse d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n e n t f a l t e n sich „ z w i s c h e n " V o r - u n d N a c h v e r s t ä n d n i s . Sie s i n d F o r t b i l d u n g d e r V e r fassung; sie k ö n n e n d e r e n (nicht f o r m a l i s i e r t e ) Ä n d e r u n g sein, u m sie los j ) e r Begriff Vorverständnis ist von seiner richterorientierten Gebrauchsweise zu befreien: Auch Parlamentarier und Verwaltungsbeamte arbeiten mit Vorverständnissen. Die Frage ist, wie diese Vorverständnisse einander angenähert werden können, ohne daß die (ihrerseits vorverstandenen) Funktionen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung miteinander identifiziert werden. 108 Die Zeit, in Recht gefaßt, ist eine kaum zu überschätzende steuernde Macht. Das Recht ist, in der Entfaltung normierender Kraft, eine ungeheure Macht durch die Zeit, eine Macht über die Zukunft. Schon bloße „Zeitgesetze" zeigen dies, erst recht die Gesetze, die sich nicht von vornherein begrenzte Geltung beilegen. Wer Recht setzt und interpretiert, verfügt über die Zeit und damit über die, die an das Recht gebunden sind. M i t Hilfe des Rechts wird aber auch ein Stück Zeit(-Geist) tradiert und transformiert. 107 Die „Zeitachse" ist von eminent sachlicher Relevanz. Denn die Zeit, d. h. die Faktoren, die (nur) in ihr wirken können, schafft die Probleme herbei, die der Interpret in der ihm jeweils eigenen Funktion, ζ. B. als Richter, aber auch als Gesetzgeber (im Verhältnis zur Verfassung) zu meistern hat. 108 Die Vitalität einer Verfassung bewährt sich in der „stillen", aber tragenden Verarbeitung der Zeit. Verlebendigungsprozesse der Verfassung erfolgen auch „von unten her", etwa dann, wenn der Gesetzgeber normierender Schrittmacher von sog. Verfassungswandlungen ist. Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl. 1972, S. 213 ff. Diese Verlebendigungen können nur auf längere Zeit effektiv werden. Punktuell begriffen und zugelassen wären sie (unzulässige) Verfassungsänderungen durch Gesetz, im Zeithorizont gesehen bewirken sie Wandel: ein Beweis für die in der ZeitDimension erfolgende Relativierung des Unterschiedes von Verfassungsänderung und „Verfassungswandel" bzw. -interpretation.

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zu bewahren 1 0 9 . Die Prozesse der Interpretation erweisen sich als Lebensgesetz demokratischer Verfassungen; ihre Inhalte, Faktoren, Funktionen und Grenzen zu erforschen w i r d zu der Aufgabe einer „zeitgemäßen" Verfassungslehre 110 . Interdisziplinär arbeitende Verfassungsrechtswissenschaft hat das Vor- (und Nach-)Verständnis stärker zu rationalisieren und zu strukturieren i m Blick auf die Elemente i n ihm, die zeit-offen bzw. -anfällig sind, auch das Vorverständnis, das zeitlich und sachlich weit „relativer" verstanden werden muß als in der Hermeneutik-Diskussion. Dieses Vorverständnis ist keineswegs statisch, auch i n i h m spielen sich steuernde Vorgänge und Entwicklungsprozesse ab. Wichtige Elemente dieses Vorverständnisses sind: sog. Rechtswahrheiten 1 1 1 , Bezugnahmen auf die Vernunft, andere topoi, die Gerechtigkeitsfrage, Verfassungsprinzipien, konsenstaugliche Begriffe. Der sozialwissenschaftliche Beitrag hätte sich auf die Sozialisationsprozesse des Richters 112 zu stützen (seine „Klassenlage"). Die Juristenausbildung gehört ebenso hierher wie das Selbstverständnis des Richters, die A r t , wie er über Rechtsprechungsaufgaben denkt, unter welchen Zeitzwang zur Entscheidung er sich begibt, wie ernst er den Begründungszwang nimmt, wen er sich als Konsenspartner vorstellt. Auch der von i h m vorausgesetzte und zugleich mitbeeinflußte Konsenshorizont wandelt sich i m Zeithorizont. Relevant w i r d die A r t , wie der Richter Konsens i n einem pluralistischen Gemeinwesen für möglich hält. Der Begriff Vorverständnis reicht freilich nicht aus, denn viele Vorbedingungen juristischer Interpretation lassen sich von vornherein nicht dem Begriff „Verständnis" zuordnen. Sie bestimmen die Auslegung der Norm m i t — ζ. B. als Prozeßrecht —, ohne daß sie eine Frage des (subjektiven) Verständnisses sind. Das „Umfeld", aus dem heraus die Norm interpretiert wird, verändert sich seinerseits i m Laufe der Zeit „objekt i v " . Insgesamt ist das Vorverständnis ebenso wie das Nachverständnis integrierender Bestandteil der — öffentlichen — Wirklichkeit der N o r m 1 1 3 : Was bestimmt letztlich das Verhältnis von Vor- und Nachver109 „Soziale Grundrechte" sind ebenso Ergebnis neuer Interpretationsverfahren und -aufgaben wie „Leistungsgesetze" (dazu mein Beitrag in: Festschrift für G. Küchenhoff, 1972, S. 453 ff.), Partizipation und sozialstaatliche Forderungen. 110 s. das — realisierte — Programm von K. Hesse, Grundzüge, Vorwort, S. V I I : „Zeitgemäßes Verständnis des Ganzen der Verfassung". 111 Dazu bes. F. von Hippel, Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1964. 112 Hinweise bei Esser, Vorverständnis, S. 141. — Von der Juristenausbildung, letztlich von den Klassenzimmern, hängt es ab, welche Verfassungstheorie wir uns leisten können. 113 Es hat eine Entlastungsfunktion, die die tägliche Entscheidungsarbeit erleichtert, und ist insofern unverzichtbar.

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ständnis 1 1 4 , das variable Verhältnis der Interpretationsmethoden untereinander, was läßt neue hervortreten? Es ist die „Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung der res publica". Die Interpretation muß vor allem m i t i h r zu Recht kommen. Die öffentliche Wirklichkeit „bringt" die Probleme, aus i h r kommen Impulse. Öffentlichkeit und Wirklichkeit der verfaßten res publica rücken zum Teil in die Leerstellen ein, die durch Begriffe wie „Konsens aller vernünftig und gerecht Denkenden", ethische Rechtsgrundsätze, Verfassungsprinzipien usw. bezeichnet werden (müssen), ohne sie freilich je ganz „auffüllen" zu können und zu sollen! 5. Die Verabschiedung des selbständigen Begriffs „Verfassungswandel" Es läge nahe, i m „Verfassungswandel" den zentralen Begriff für ein zeit- und zukunftsgerechtes Verfassungsverständnis zu sehen· Schließlich hat ihn Smend der statisch-positivistischen Betrachtung m i t großem Erfolg entgegengestellt 115 . Der Begriff Verfassungswandel verdeckt heute indes ein sach- und damit auch zeitgerechtes Interpretationsverständnis. Denn einmal suggeriert er die Möglichkeit, man könne dem Zeitproblem i m Verfassungsrecht m i t einem einheitlichen Institut gerecht werden — in Wirklichkeit hängt alles von den Differenzierungen ab 1 1 6 —, zum anderen verstellt „Verfassungswandel" den Zugang zu der Einsicht, daß die Interpretationsmethoden selbst und d. h. die Rechtsnorm den Zeitfaktor i n sich tragen. Zeit- bzw. zukunftsorientierte Auslegungen bedürfen nicht nur nicht des Umwegs über „Verfassungswandel", sie verbieten ihn sogar. Verfassungsinterpretation oder Verfassungsänderung bzw. Verfassungsbruch — tertium non datur! Verfassungswandel war dogmengeschichtlich ein notwendiges Durchgangsstadium zur Bewältigung des Zeitfaktors i m Verfassungsrecht auf dem Wege vom Positivismus zum offenen Verfassungsverständnis, nicht mehr und nicht weniger. Heute verschleiert Verfassungswandel die Freiheit des Interpreten. Es geht nicht um äußere Anpassung „des" Norminhalts an gewandel114

Meta juristische Vorentscheidungen, für die es „Einfallstore" wie „gute Sitten", „objektiver Geist", „Rechtsmoral", „Gemeinwohl" gibt, werden oft als solche gekennzeichnet. Es ist aber sehr die Frage, ob wirklich von „Meta-", „Vor-" usw. gesprochen werden darf. Denn dadurch entsteht der Eindruck, das, was vor dem Recht liege, gehöre ihm eigentlich nicht zu. I n Wirklichkeit ist das Recht auf solche „Meta" hin angelegt. Es kommt ohne sie nicht aus. Sie sind auch nicht un- oder vorjuristisch, jedenfalls nicht von einer den Positivismus hinter sich lassenden juristischen Denkweise aus. Das heißt: Das „Vorverständnis" ist der Norm weit mehr immanent, als der Begriff vermuten läßt. 115 Jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 119 (241 f.). 116 s. auch Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972, S. 106.

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te gesellschaftliche Verhältnisse, sondern um innere Ausrichtung Norm/ res publica über Interpretation. M. a. W.: Das Problem des Verfassungswandels entpuppt sich ausschließlich als ein Interpretationsproblem! Es gibt keinen Verfassungswandel — oder anders gesagt: Verfassungswandel geht i n der „republikanischen" Methodenlehre und ihrem sachlichen Gegenstand, der konstitutionellen Wirklichkeit und ö f f entlichkeit, auf 1 1 7 . (Offene) Verfassungsinterpretation kennt entsprechend ihrer Eigenart kein besonderes Institut „Verfassungswandel". Es gibt für sie keine Vorgegebenheiten außer dem Verfassungstext Da dieser meist unbestimmt ist und von der Interpretation lebt, kann er sich auch nicht eigentlich „wandeln". Verfassungswandel hat also gar nicht den bestimmten, fixierten Gegenstand, den er begrifflich voraussetzen würde. Auch Radbruchs Wort von der Interpretation als „Zu-Ende-Denken der Norm" ist fragwürdig. I m Bereich der Verfassungsinterpretation gibt es keinen Fixpunkt, dem gegenüber i n diesem Sinn von „Anfang" oder „Ende" gesprochen werden könnte. Die Faktoren des Wandels und der Bewährung müssen i n wirklichkeitswissenschaftlichem Ansatz erschlossen werden. Erinnert sei an das vielzitierte Wort: „Wer bewahren will, muß verändern 1 1 8 ." Hier ist an die Bemerkungen zur „Transformation" der historischen Auslegungsmethode anzuknüpfen 1 1 9 . 6. Insbesondere: die Vorwirkung

von Gesetzen

Das Problem der Vorwirkung von Gesetzen ist vor allem ein solches des Verhältnisses von Legalität und Legitimität. Das Legalitätsprinzip 117 Diese Verabschiedung des „Verfassungswandels" ist Konsequenz eines zukunftsgerechten Verfassungs- und Interpretationsverständnisses. Wer von „Zukunft des Verfassungsstaates" spricht, muß als Vorfrage klären, daß in Gestalt der Interpretation die Zukunft immer schon begonnen hat. — Hesse in : Festschrift für Scheuner, 1973, S. 123 ff., behält zwar das Institut Verfassungswandel bei, er spricht jedoch von der Aufgabe, die Veränderung des Norminhalts „innerhalb" der Verfassungsnorm selbst zu begreifen (S. 137). 118 Dazu die Diskussion des Bergedorfer Gesprächskreises, Die „neue Mitte" : Schlagwort oder Strukturwandel?, 1973, Protokoll Nr. 44, S. 16 (Nr. 11 ff.). ne j r r i g w ä r e die Annahme, Einbindung des Zeitfaktors und Wandel wären identisch. Denn die Zeit kann durchaus im Sinne einer Bewahrung wirken. Bewahrung verfassungsstaatlicher Errungenschaften, auch gegen die Zeit, kann eine gewaltige, heute ebenfalls notwendige Aufgabe sein. Die Balance zwischen dieser Bewahrung oder Veränderung zu halten, ist die Aufgabe — Parallelen zum politischen Liberalismus liegen auf der Hand! Verfassung der res publica einerseits, Gesellschaft, soziale Bedürfnisse, „Politik" usw. andererseits dürfen nicht in unterschiedlichen Zeitkategorien oder Geschichtlichkeit einander gegenübergestellt werden. Denn die gesellschaftliche Wirklichkeit ist von vornherein verfassungsgeprägt, die Verfassung der res publica strukturiert auch die sog. Gesellschaft. Das Verfassungsrecht wirkt von vornherein steuernd, so sehr es Teil der Wirklichkeit ist, deren Resumé oder auch deren Produkt. Die verfaßte res publica verbietet solche Konfrontationen.

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verbietet es, ein — neues — Gesetz vor seiner förmlichen Inkraftsetzung anzuwenden bzw. das entgegenstehende alte Gesetz außer Anwendung zu lassen. Vorwirkungen gibt es aber angesichts gesetzgeberischer Entwicklungen und Planungen i n der Öffentlichkeit. Die Legitimität des geltenden Gesetzes w i r d geringer — man denke an § 218 StGB —, das neue „kommende" Gesetz w i r k t sich schon jetzt normierend i n der Öffentlichkeit aus — solche Vorwirkungen lassen sich besonders i n bezug auf Planungen beobachten 120 . Angesichts „schwebender" Gesetze und ähnlicher Vorhaben bisherige Normen nicht mehr anzuwenden oder anders auszulegen, bedeutet praktisch, die Zukunft des späteren Gesetzes vorwegzunehmen, i h m normierende K r a f t schon jetzt zuzubilligen, Ausdruck einer spezifischen Offenheit des Rechtssystems, seiner Einheit, der normierenden K r a f t der Wirklichkeit und Öffentlichkeit. Vom überkommenen Normativitätsbegriff aus w i r d man einwenden, die Strenge des geltenden Rechts werde „aufgelöst". Ist das neue Gesetz einmal i n K r a f t gesetzt, dann sieht derselbe Vorgang ex post aus als realisierte Möglichkeit, als „vorweggenommene Rückwirkung" von Gesetzen. Hier liegt die sachliche Verklammerung der Vor- und Rückwirkung. — Die V o r w i r kung speziell von Gesetzen erklärt sich vor allem aus dem Erfordernis des Richters, bei offenen Auslegungsfragen nach Konkretisierungsmaterial Ausschau zu halten. Das Kommende ist ihm hierbei hilfreich, zumal es dem heutigen Zeitgefühl entsprechend eine besondere Legitimität besitzt. Niemand läßt sich gern „überholen": der Richter ungern vom Gesetzgeber, freilich muß er seine funktionell-rechtlichen Grenzen wahren 1 2 1 . Die Anerkennung einer nach Sachgebieten zu differenzierenden Vorw i r k u n g ist Ausdruck einer flexibleren Interpretation; sie bewirkt die durch eine „neue" öffentliche Wirklichkeit bedingte Relativierung des formellen Publizitätsaktes der Verkündung des Gesetzes und zum Teil auch von bestimmten Abschnitten des parlamentarischen Verfahrens 122 . 120 Dazu Häberle, öff. Interesse, S. 396 Anm. 148; S. 486 ff. s. auch mein Schlußwort in: V V D S t R L 30 (1972), S. 187; Kloepfer in: D Ö V 1973, S. 657 ff. Vorwirkung wird besonders bei sog. unbestimmten Rechts- und Ermessensbegriffen bzw. ihren Kombinationen aktuell. I m Steuerrecht dürfte § 131 AO gegenüber legislativ angedeuteten Vorwirkungen sensibel sein. — Lt. dpa (vgl. Oberhess. Presse vom 12. 3. 1974) hat das B F i n M die Finanzämter angewiesen, beim Lohnsteuerjahresausgleich die neue Obergrenze so zu berechnen, „als sei das Gesetz schon in Kraft". Symptomatischerweise legt sich das Ende März 1974 verabschiedete Bundesgesetz selbst rückwirkende Kraft bei. Es sanktioniert insofern die Vorwirkung! — s. auch die derzeit praktizierte Vorwirkung von § 47 Entw. HRG. 121 Grenzen der Vorwirkung folgen aus der Rechtssicherheit. Es geht um eine rationale Organisation der Vorwirkungsformen und -stufen. Unter diesen Vorbehalten vermittelt die Vorwirkung der Rechtsprechung und Verwaltung einen „indirekten" Anschluß an den demokratischen Prozeß. 122 Problematisch ist die Vorwirkung (dann doch) gescheiterter Gesetzesvorhaben.

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Insgesamt123: Die differenzierende 124 Bejahung der V o r w i r k u n g v o n Gesetzen i s t K o n s e q u e n z des h i e r zu G r u n d e gelegten I n t e r p r e t a t i o n s verständnisses a u f d e m H i n t e r g r u n d d e r W i r k l i c h k e i t d e r Ö f f e n t l i c h k e i t d e r v e r f a ß t e n res p u b l i c a . D e r E i n b a u d e r V o r w i r k u n g i n die D e m o k r a t i e t h e o r i e steht noch aus. D i e d e m o k r a t i s c h e L e g i t i m a t i o n des Richters bezeichnet G r u n d u n d Grenze d e r d i f f e r e n z i e r t e n V o r w i r k u n g . 7. Erfahrungs-, Reformklauseln

Experimentier-

als institutionalisierte

und Formen

I n Gesetzen v e r a n k e r t e E r f a h r u n g s - u n d E x p e r i m e n t i e r - ( R e f o r m - ) K l a u s e l n 1 2 5 s o l l e n A b w e i c h u n g e n v o m j e t z i g e n Gesetzeszustand e r m ö g lichen, u m E r f a h r u n g e n zu s a m m e l n , die z u m G e g e n s t a n d n e u e r Gesetzgebung, n e u e r Ö f f e n t l i c h k e i t w e r d e n k ö n n t e n — i n s o f e r n bestehen ged a n k l i c h e V e r b i n d u n g s l i n i e n z u r V o r w i r k u n g v o n Gesetzen. A l s W e g b e r e i t e r v o n Reformgesetzgebung, z . B . i m A u s b i l d u n g s b e r e i c h 1 2 6 , erscheinen solche K l a u s e l n s i n n v o l l . I n d e m Maße, i n d e m P r o g n o s e i n s t r u m e n t e noch fehlen, b e d a r f es d e r E r f a h r u n g s - u n d E x p e r i 123 Der Vorwirkung von Gesetzen usw. ist ein verfassungstheoretischer Stellenwert einzuräumen. Sie kann indes nur einen begrenzten Bereich richterlicher Rechtsfortbildung erfassen. Differenziert ist zu untersuchen, welche Form die öffentliche Wirklichkeit „schon" angenommen haben muß, um „vorwirken" zu können: die einzelnen Phasen des parlamentarischen Gesetzgebungsprozesses von der Kabinettsvorlage etwa bis zur ersten bzw. dritten Lesung („phasendifferenzierte Vorwirkung"). Das Parlamentsrecht harrt auch hier der Einarbeitung in die Verfassungstheorie und der spezifisch verfassungsrechtlichen Interpretation, (ζ. B. ist § 74 a GeschOBT — Enquete-Kommission — materielles Verfassungsrecht.) Umgekehrt wirkt sich sein Zeitablauf unterschiedlich für die Verfassungsinterpretation aus. Auf keinen Fall darf über die Vorwirkung direkt oder indirekt „private Gewalt" legitimiert werden. 124 Differenzierend ζ. B. insofern, als es im Stra/recht keine Vorwirkung zum Nachteil des Bürgers geben kann (Arg. aus Art. 103 Abs. 2 GG); gleiches dürfte im Steuerrecht gelten. I n den USA gab es eine Vorwirkung des Verbots der Todesstrafe (ζ. T. keine Vollstreckung mehr bis zur Supreme-Court-Entscheidung). s. audi L G Hannover, das einen Antrag auf Einstellung eines Strafverfahrens (§218 StGB) ablehnt mit der Begründung, es sei noch nicht abzusehen, in welcher Form die entsprechenden Strafbestimmungen abgeändert würden, FR vom 12. 2. 1974, S. 16. 125 Vgl. meinen Hinweis in: D Ö V 1972, S. 729 (736 Anm. 60) mit Beisp. aus der Rspr. des BVerfG. 128 Beispiele: § 5 b DRiG i. d. F. vom 19. 4. 1972 (BGBl. I S. 714). Eine Sonderform findet sich in § 3 Abs. 2 BWahlG. Gleiches gilt für Art. 7 Abs. 4 GG, interpretiert i. S. der staatlichen Privatschulfinanzierungspfiicht (BVerwGE 27, 360 und P. Häberle in: V V D S t R L 30 [1972] S. 43 [77 ff.]), insofern damit Modelle erprobt u. Erfahrungen für den staatlichen Schulbereich gesammelt werden sollen. Dem „Kulturföderalismus" liegt ebenfalls der Experimentiergedanke zugrunde. Gleiches gilt dort, wo neben öff. Institutionen zur Erfüllung öff. Aufgaben Private zugelassen werden, s. auch die Experimente im Rahmen der ZPO (Stuttgarter Modell). I m Selbstverwaltungsbereich sind Felder für Experimente besonders aktuell (kommunale Wohnungsvermittlung, Kinos), s. noch Anm. 69.

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mentierklauseln. Freilich: Sie beinhalten eine partielle Einschränkung des Geltungsanspruchs des jetzt i n K r a f t befindlichen Gesetzes — ebenso wie bei der Vorwirkung von Gesetzen. Nur sind sie i m Unterschied zum materiell vorwirkenden Gesetz durch den „Formalakt" einer gesetzgeberischen Klausel abgedeckt. Bei der Beurteilung ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit stellen sich schwerwiegende Interpretationsprobleme; sie lassen sich nur auf dem Weg eines „zeitgerechten" offenen Interpretationsverständnisses und eines an den Möglichkeiten orientierten Normativitätsbegriffs lösen. Das Gesetz kann zwar partielle Bereiche schaffen, i n denen es einen Dispens von sich selbst normiert 1 2 7 . Wie soll es aber von Verfassungsprinzipien, etwa Grundrechten wie A r t . 5 Abs. 3 GG i m Hochschulbereich bei Mitbestimmungsfragen, dispensieren können 1 2 8 ? Die Frage ist, ob die Experimentier- und Erfahrungsklauseln auch von Verfassungssätzen dispensieren können — unter dem Gesichtspunkt, daß sie „Vorbereitungsgesetze" zu Verfassungsänderungen sind. Er erscheint durchaus sinnvoll, Verfassungsänderungen nicht „ins Blaue" durchzuführen, sondern sie zunächst i n einem begrenzten Bereich „experimentell" zu erproben. Solche „experimentellen Vorschaltgesetze" zu späteren Verfassungsänderungen sind auf dem Boden der hier vertretenen „erfahrungswissenschaftlichen" Sicht von Verfassungsproblemen und der These vom verfassungspolitischen Gebot zu Verfassungsänderungen zu beurteilen. Es würde sich u m eine A r t „Verfassungsdurchbrechung" handeln: A r t . 79 Abs. 2 GG würde vorwirken! Gegenargument gegen ihre Zulässigkeit wäre der Hinweis auf eine drohende „Auflösung" der Verfassung. Die Frage ist, ob etwa i m Grundrechtsbereich m i t dem Konsens der Beteiligten bzw. Betroffenen, etwa der Hochschullehrer, operiert werden kann. Dürfen, können sie zur Erprobung von Hochschulmodellen auf ihre Rechte aus A r t . 5 Abs. 3 GG verzichten 129 , zumal diese Rechte auch eine objektivrechtliche Seite haben? Eine freiheitliche Verfassungsordnung w i r d hier der Freiwilligkeit einen besonderen Stellenwert einräumen können, ja müssen. 127 Die Experimentierklausel muß sich vor Art. 3 GG rechtfertigen: zeitweilige Ungleichbehandlung aus Experimentiergründen als sachlicher Differenzierungsgrund. _ 128 Insbesondere nach dem Hochschulurteil des BVerfG, E 35, 79; dazu Oppermann in: JZ 1973, S. 433 ff.; Schlink in: DÖV 1973, S. 451 ff. — Solche Klauseln haben nur dann Sinn, wenn sich das BVerfG bei ihrer Uberprüfung des self-restraint befleißigt und den Experimentierprozeß — zeitlich begrenzt — „laufen" läßt. Der demokratische Gesetzgeber hat insofern funktionellrechtlich die „Vorhand". 120 Einschlägig ist hier der Schlußpassus des Minderheitsvotums des BVerfG, E 35, 148 (170). Wichtig BVerfGE 34, 165 (199) zu umstrittenen Schulreformen, die in einem freiheitlichen Staat unter „soweit wie möglich freiwilliger Beteiligung der Betroffenen vorangetrieben werden" sollen.

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Ein „offenes" Verfassungsverständnis, das schon i m unmittelbaren Interpretationsvorgang, nicht erst bei Verfassungsänderungen des A r t . 79 Abs. 2 GG, Auflockerungen schafft, w i r d bei der Entscheidung der aufgeworfenen Fragen großzügiger sein können — sofern nur differenziert gearbeitet wird. Freilich bleiben die identitätsbestimmenden Normen des A r t . 79 Abs. 3 GG; sie legen den Typus unseres Verfassungsstaates als rechtsstaatlicher und sozialer Demokratie fest. Von ihnen gibt es keinen interpretatorischen Dispens, so sehr Interpretation auf Dauer auch Auswirkungen auf den Kernbereich i. S. des A r t . 79 Abs. 3 GG haben mag. Genauso wie es über den Weg des A r t . 79 Abs. 2 GG nur zu „verfassungsimmanenten" Verfassungsänderungen kommen kann, d. h. zu solchen, die sich innerhalb des Verfassungstypus unseres GG halten 1 8 0 , genauso kann es nur verfassungsimmanente Reform- bzw. Erfahrungsund Experimentierklauseln geben. Verfassungsimmanente Reformen stehen aber m i t dem Wesen der Verfassung nicht i n Widerspruch, sie sind dessen Konsequenz, Ausdruck der Verfassung als lebendigem Gebilde, ermöglicht durch offenes Verfassungsverständnis! „Verfassungsimmanente Reformen" können den Weg der formalisierten Verfassungsänderung oder der einen sog. „Verfassungswandel" bewirkenden Verfassungsinterpretation nehmen. Was hic et nunc als nur i m Wege der formellen Verfassungsänderung möglich erscheint, ist auf lange Sicht schon oft durch Interpretation bewirkt worden 1 3 1 . Verfassungsänderung und „Verfassungswandel" erscheinen daher weniger als qualitativ voneinander unterschiedene und unterscheidbare Institute denn als i m Zeitablauf unterschiedlich. M. a. W.: Verfassungswandlungen bzw. -entwicklungen (durch Verfassungsinterpretation) bedürfen ex post gesehen wohl meist der Verfassungsänderung, aber nicht jede Verfassungsänderung ist durch gewandelte Interpretation möglich (wegen der Textgrenze 1 3 2 , die dingfest zu machen freilich schwierig ist). Es bleibt die Gretchenfrage, wann muß die Verfassung „geändert", wann kann sie (von wem?) durch Interpretation entwickelt werden? Auch der Normtext 1 3 3 steht i n der Öffentlichkeit. Was ihr konsensfähig erscheint, beeinflußt die insofern 130 Kritisch zur „systemimmanenten" Modifizierung auch elementarer Verfassungssätze i. S. von BVerfGE 30, 1 (LS. 5 und S. 24 f.) mein Beitrag in: JZ 1971, S. 145 (150). „Systemimmanente Modifizierungen" müssen sorgfältig daraufhin untersucht werden, ob sie nicht in Wahrheit Modifizierungen auf Kosten des Systems sind. 131 „Verfassungswandel" ist insofern eine nicht formalisierte Verfassungsänderung! s. auch Anm. 78. 132 Zu ihr Hesse, Grundzüge, S. 30; ders. in: Festschrift für Scheuner, 1973, S. 123 (139). 133 Die Relativität des Verfassungstextes ist angesprochen in dem aus Oxford berichteten Bonmot: „Wir haben keine geschriebene Verfassung, aber wir halten uns an sie."

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offene Grenze seiner Zweckprogramme. Sprachtheoretische Überlegungen bestätigen die normierende Kraft der Öffentlichkeit: die Grenze liegt dort, wo der öffentliche Sprachgebrauch sie zieht. 8. Verfassungsänderungen als zeitgerechte Konsequenz der Verfassung, als verfassungspolitisches Gebot Die verfassungstheoretische Verarbeitung des Zeitfaktors fordert einen spezifischen Ansatz zur Bestimmung der Funktion von Verfassungsänderungen. Bislang herrscht, aus historischen Gründen i n Deutschland verständlich, ein „Schranken-Denken" vor, d. h., es w i r d vor allem nach den Grenzen der Verfassungsänderung gefragt. Primär ist jedoch die Frage nach der Rechtfertigung von Verfassungsänderungen aus der „Sache und Funktion der Verfassung" selbst. Daraus ergeben sich dann audi die gebotenen Grenzen. Die übliche Klage über ein Übermaß an Verfassungsänderungen verfehlt die grundsätzliche Fragestellung. Dauer und Stabilität einer Verfassung werden noch nicht per se durch ein Minimum an Verfassungsänderungen gewährleistet. Es hängt ganz von den Umweltbedingungen und -Veränderungen, von der „ambiance" sowie von dem, was „Verfassungsinterpretation" bewirken kann, insgesamt von der Zeit ab, wie Verfassungsänderungen sachlich zu beurteilen sind. D. h., sie müssen positiv, innerlich gerechtfertigt, von der jeweiligen öffentlichen Wirklichkeit einer „konkreten" Verfassung aus beurteilt werden; sie können weithin deren Konsequenz als „gelebter und lebender" Verfassung, ihre Fortentwicklung sein, d. h. i m Dienste ihrer Bewährung stehen. Es geht um die Verwirklichung einer „guten" Verfassung. Diese verfassungstheoretische Vorfrage zu stellen ist notwendig und Konsequenz eines Verständnisses der Verfassung als öffentlichem Prozeß (law i n public action) 1 3 4 . Es bedarf interdisziplinärer Zusammenarbeit, um die Vorbedingungen für notwendige und mögliche Verfassungsänderungen „verfassungsimmanent" zu klären. Ein Teil „guter" Verfassungspolitik mündet ja in Verfassungsänderungen 135 ! I m besonderen ist zu untersuchen, was unter 134 I m Schrifttum ist Grimm in: AöR 97 (1972), S. 489 ff. auf dem Wege zu einem solchen Verständnis der Verfassungsänderung, z. B. S. 505 : „Nicht Verfassungsänderungen möglichst zu verhindern, sondern legitime Änderungsprojekte von illegitimen, gebotene von überflüssigen zu scheiden, ist die Aufgabe." Freilich steht auch bei ihm der Begrenzungsgesichtspunkt im Vordergrund. s. aber immerhin S. 504: „Richtpunkte für Verfassungsänderungen", sowie S. 507 f. Einseitig ist freilich Grimms Verfassungsbegriff (S. 506) : Verfassung beschreibt nicht Realität, sondern gibt einen Sollzustand an. — In Wirklichkeit tut sie doch beides ! 135 Beispiele für „gute" Verfassungsänderungen: die Einführung der Notstandsverfassung als solcher (unbeschadet einer Kritik an einzelnen Artikeln), Art. 93 Ziff. 4 a, Art. 45 b, 91 a, 104 a GG, für „schlechte", d. h. nicht aus dem materialen Ganzen der Verfassung erforderliche: Art. 20 Abs. 4 GG. — Ein

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welchen Voraussetzungen i m Wege der Verfassungsänderung, was im Wege bloßer (von ihr nur durch Interpretation abgrenzbarer 136 ) Verfassungsinterpretation zu leisten ist, was sachlich des Aktes der Verfassunggebung bedarf, die allerdings in Verfassungsinterpretation und -änderung weit lebendiger ist, als gemeinhin angenommen w i r d 1 3 7 . Freilich bleibt der organisationssoziologisch begründete funktionell-rechtliche Unterschied zwischen Verfassungsänderung und Verfassungsinterpretation. Wurde bislang vor allem geklärt, welche Grenzen der Verfassungsänderung sich aus dem materialen Ganzen der Verfassung ergeben 138 , so geht es angesichts der wachsenden Relevanz der Zeit jetzt darum, zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieses „materiale Ganze" der Verfassung Änderungen nicht nur zuläßt, sondern positiv -fordert. Verfassungsänderungen sind ein Versuch, die Verfassung auf der „Höhe der Zeit" zu halten. Sie sind nicht „an sich" schädlich oder nützlich; ob sie das jeweils sind, läßt sich nur i m Einzelfall sagen 139 . Das setzt wiederum voraus, daß die verfassungstheoretische Vorfrage gestellt und beantwortet w i r d : Verfassungsänderungen als Versuch, Zeit und Verfassung aufeinander abzustimmen („zeitgerechte Verfassungsänderung"). Verfassungsänderungen ergehen ja nach den von der Verfassung selbst vorgesehenen Verfahren. Ihre Durchführung ist also verfassungsimmanent! Die sie tragenden politischen Kräfte vermitteln dem Ganzen der Verfassung ein Stück neuer öffentlicher Legitimierung, wenn und insofern sie einen Teil der Verfassung in deren eigenen Verfahren fortbilden 1 4 0 . Beispiel für Verfassungspolitik, die die Bedingungen guter Verfassungsänderungen durch die Verfassungsrechtswissenschaft vorklären lassen muß, ist die Frage, wann es sinnvoll wäre, von der allgemeinen Wehrpflicht zum Berufsheer überzugehen. 138 Soweit ersichtlich, lassen es an dieser Vorfrage die meisten Äußerungen zur Partial- oder Totalrevision des GG fehlen. I n der Schweiz aber: Saladin in: Gedenkschrift für Imboden, 1972, S. 269 (S. 276): Heute muß daher die Verfassung geändert werden, wenn unser Staatswesen imstande sein soll, die (voraussichtliche) Wirklichkeit von morgen zu bewältigen. — Nur wird hier nicht genügend von der Verfassung selbst aus gedacht ! 137 Dazu P. Häberle in: AöR 94 (1969), S. 479 (483 ff.). 138 Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953. 139 £ ) e r n e u e Rechtszustand ist anders; ob er „besser" ist, ist eine zweite Frage. Eine Verfassungsnorm, die unter anderen, früheren Umständen ihre Aufgaben optimal erfüllt hat, darf nicht deshalb dem Verdikt unterliegen, sie sei schlechter, weil jetzt und für die Zukunft andere Normierungen notwendig sind (dies zu Grimm in: AöR 97 [1972], S. 499 [508]: „Verfassungsänderung ist also Verfassungsverbesserung")! Was heute gut ist, macht das Gestrige nicht schlechter. Das Urteil „gut" oder „schlecht" läßt sich nur für den jeweiligen Zeitabschnitt treffen. 140 Ebenso wie das Gesetzesrecht auf die Verfassung ausstrahlen kann (zu diesem differenziert zu sehenden Vorgang meine Wesensgehaltgarantie, 1. Aufl. 1962, S. 175 ff., 210 ff.; Lerche in: Festgabe für Maunz, 1971, S. 285

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Verfassungsänderungen haben nicht nur Anpassungscharakter 141 , sie haben auch Steuerungskraft. Teils passen sie sich i n der Tat einer „vorausgeeilten" Wirklichkeit an, die schon zu einem Stück Wirklichkeit der Verfassung geworden ist — so das Institut der Gemeinschaftsaufgaben i n A r t . 91 a GG i m Anschluß an das Troeger-Gutachten 142 —, teils suchen sie diese öffentliche Wirklichkeit selbst zu steuern. Oft wirken beide Aspekte zusammen. Verfassungsänderungen „vollziehen" oder sanktionieren nicht nur, was i n Wirklichkeit schon „gelaufen" ist. Sie haben auch eine die gesellschaftliche Entwicklung „überschießende", ihr vorausgehende, planende Seite, insbesondere legitimieren sie neue Entwicklungen. Sie sind nicht nur „Abbild", sondern auch Entwurf. Für einzelne Verfassungsänderungen gilt hier grundsätzlich nichts anderes als für die Verfassung insgesamt. Dieses positive Verständnis der Verfassungsänderung ist um so notwendiger, als sich heute der Verfassungsbegriff bzw. die Gegenstände, die die Verfassung regelt, ausgedehnt haben: Verfassung strukturiert nicht nur den Staat, sondern i n Teilaspekten auch die Gesellschaft, insgesamt die res publica. Diese Ausweitung w i r d nur zum Teil durch formelle Verfassungsänderungen bewirkt — etwa i n A r t . 109 Abs. 2 GG —, i n weiten Bereichen ist sie ein Werk der Interpretation. Erinnert sei an die Entfaltung der Grundrechte unter den Stichworten „ D r i t t w i r k u n g " , „soziale Grundrechte". Bei der Frage, ob die konkrete Verfassungsänderung eine „positive", die Verfassung auf dem Weg haltende, zeitgerechte Verfassungsänderung ist oder nicht, ist nach Sachgebieten zu differenzieren: I m Grundrechtsbereich, der am ehesten Bestandteil des allgemeinen Bürgerbewußtseins 1 4 3 ist und dessen Begriffe meist sehr offen gehalten sind, erscheint die Verfassungsinterpretation i m Zeichen „grundrechtssichernder Geltungsfortbildung" 1 4 4 ohne formelle Verfassungsänderung als adäquate Form zur Fortbildung und Bewährung der Verfassung. Dies um so mehr, als das BVerfG hier schärfer kontrolliert. Zugleich zeigt sich: [286 ff.]), kann sich die Verfassungsänderung auf das Gesamtbild der Verfassung auswirken bzw. vermag die Ersetzung einer Verfassungsnorm durch eine andere dem Gesamtbild mehr zu entsprechen. 141 Dies als Kritik an der Formulierung des Beschlusses des Deutschen Bundestages zum Auftrag der Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform, s. den Zwischenbericht von 1973, S. 14: „ . . . zu prüfen, ob und inwieweit es erforderlich ist, das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen — unter Wahrung seiner Grundprinzipien — anzupassen". 142 Zur Gemeinschaftsaufgabe: Frowein und von Münch in: V V D S t R L 31 (1973), S. 13 ff. bzw. 51 ff. 143 Freilich muß dem Bürger verständlich gemacht werden, daß Verfassungsänderungen um der Sache selbst willen nötig sein können. 144

Dazu P. Häberle in: V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (69).

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Je subtiler die Interpretationsmethoden sind, desto größer w i r d der Spielraum gegenüber (bzw. i n Konkurrenz mit) der Verfassungsänderung! Verfassungsinterpretation kann Verfassungsänderungen überflüssig machen. I m bundesstaatlichen Kompetenzbereich, überhaupt i m organisatorischen Teil, sind die Möglichkeiten der „offenen" Verfassungsinterpretation begrenzter. Hier bleibt mehr Raum für die formelle Verfassungsänderung bzw. besteht mehr Zwang zu einer solchen. Die Verfassungstheorie muß der praktischen Verfassungspolitik 145 Direktiven, Alternativen für Verfassungsänderungen an die Hand geben, sie muß das Feld des Möglichen und Notwendigen abstecken, muß zeigen, wo das zur Bewährung der Verfassung durch, d. h. m i t Hilfe der Verfassungsänderung wird, was einem statisch-starren VerfassungsVerständnis als „Abbau", „Substanzverlust", „Umbildung" erscheint. Z u diesem Zweck müssen die Grundfunktionen der Verfassungsidee aufgedeckt und ggf. fortentwickelt werden: Verhinderung von staatlichem und gesellschaftlichem Machtmißbrauch, Schaffung von Freiheit, Organisation des Gemeinwesens, Interessenausgleich usw. Verfassungsänderungen sind auf der Folie des hier entwickelten Verfassungsverständnisses durchaus „normal" wie Verfassungswandel durch Verfassungsinterpretation. Verfassungsänderungen sind grundsätzlich weder „zufällig" noch w i l l k ü r l i c h 1 4 6 . Sie sind der legitime Weg, die Kontinuität der Verfassung in der Zeit zu wahren. Solange sie sich i m Bereich der Identität der Verfassung halten, sind sie deren Konsequenz, deren Bestätigung i n der und durch die Zeit, nicht deren Infragestellung. Sie sollten darum offen dann als Form der Fortbildung gewählt werden, wenn eine Interpretation durch die Gerichte das Gesamtsystem überlasten würde. Das kann der notwendigen Übereinstimmung zwischen dem parlamentarischen-politischen Prozeß und der Verfassung sehr zugute kommen. Die Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung gehen viele Wege — einer von ihnen ist die Verfassungsänderung!

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Zu ihren Aufgaben: P. Häberle in: AöR 98 (1973), 119 (129 ff.). Zum großen Teil können sie in der Zeitachse, ex post gesehen, auch den Weg eines Verfassungswandels gehen, richtiger: sie sind durch Interpretation ersetzbar (Verfassungsinterpretation entpuppt sich insofern als „Schleichweg" zur Verfassungsänderung!). — Zur Verfassungstheorie „ohne Naturrecht" mein Beitrag in: AöR 99 (1974), 437 ff. 146

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Nachtrag zu „Zeit und Verfassung" (Nr. 2). Dieser i m Januar 1974 an der Freien Universität Berlin auf Einladung von Prof. Dr. R. Scholz gehaltene Gastvortrag ist wieder veröffentlicht i n der von Dreier / Schwegmann herausgegebenen Dokumentation „Probleme der Verfassungsinterpretation", 1976, S. 293 ff. Das dürfte Ausdruck der (erneut) beginnenden Diskussion um das Zeitproblem sein (erste Hinweise in AöR 98 [1973], S. 625 [635, Anm. 33]). Ende 1974 erschien i n „Der Staat", Bd. 13 (1974), S. 457 ff. Kloepfers Abhandlung „Verfassung und Zeit"; Kirchhofs „Verwalten und Zeit" (1975) folgte alsbald. Die letzte Thematisierung stammt von Dürig, „Zeit und Rechtsgleichheit", in: Tradition und Fortschritt i m Recht, Festschrift zum 500jährigen Bestehen der Tübinger Juristenfakultät 1977, S. 21 ff. So ausdrucksreich diese jüngste (Nach-)Geschichte des Zeitthemas in den 70er Jahren ist, so vielfältig ist die „Vorgeschichte" dieses „Dauer"Themas. Nachzutragen sind zu den i n Anm. 4 ff. angegebenen Arbeiten insbesondere noch Bäumlin, Staat, Recht, Geschichte, 1961 sowie Ever s, Über die Zeit als Schranke des Eigentums, Extrait des „Mélanges Marcel Bridel", o. O., o. J., S. 193 ff. — Auch i m kirchlichen Bereich dürfte es zu — begrenzten — Vorwirkungen kommen: Die langjährigen Bemühungen u m die Reform des Codex juris canonici aus dem „Geist" des Vaticanum I I lassen die Interpretation und Handhabung des (noch) geltenden katholischen Kirchenrechts von 1917 sicher nicht gänzlich unberührt. Das gilt selbst dann, wenn die Kodexreform zur „Reformruine" werden sollte. Ein Klassiker-Zitat für Experimentierklauseln findet sich bei Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, II. Buch, 2. Kap., am Ende (zit. nach der Reclam-Ausgabe 1976, S. 109): „Oft ist es sogar angebracht, ein Gesetz zu probieren, bevor man es endgültig in K r a f t setzt." Zur Erprobungsphase m i t Unterrichtsmodellen i m hessischen Schulunterricht: BVerfGE 45, 400 (416 f.). Zum Gedanken „Gott der Zeit" und „die Zeit ist Gott" (Gottfried Keller) jüngst Erik Wolf, Zeitkritik und Sozialdiagnose bei Charles Eliot Norton (1827 - 1908), in: FS für Thomas Würtenberger, 1977, S. 39 (63). Aus der Soziologie vgl. etwa Peter Waldmann, Zeit und Wandel als Grundbestandteile sozialer Systeme, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 23 (1971), S. 687 ff. — Für die Diskussion der Zeitproblematik i n der Soziologie mag als Ausgangspunkt dienen: Moore, Wilbert, E.: Man, Time and Society, Ν. Y. and London, 1963. Vgl. auch: „Zeit und Verfassungskultur" (1983), auch i n „Rechtsvergleichung i m Kraftfeld des Verfassungsstaates", 1992, S. 627 ff.

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht* I. Die Ausgangsthese — I I . Ihre Entfaltung im einzelnen — I I I . Zwei Vorbehalte gegenüber der „Verabschiedung" des Naturrechts — IV. Die Relevanz der Wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Kontroverse für demokratische Verfassungstheorie und -praxis; 1. Wie verarbeitet Verfassungstheorie die Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien?; 2. Praktische Verfassungstheorie als kritische Instanz; 3. Verfassung als Gegenstand der Wissenschaftsund Gesellschaftstheorien — V. Ansätze zu einer Verfassungstheorie der Verfahren und praktischen Alternativen

I. Die Ausgangsthese Die „Sache" und Funktion Verfassung der res publica sollte sich selbst so entwickeln, bewähren und tragen, daß es naturechtlicher „Rückgriffe" nicht bedarf. Die Alternative „Naturrecht oder positives Recht" 1 muß für die Verfassungstheorie gegenstandslos werden, d. h. einer Verfassungstheorie und -praxis des politischen Gemeinwesens sollte es gelingen, sei es oberhalb, sei es unterhalb des Naturrechts, auf jeden Fall aber unabhängig von ihm, selbsttragende „eigene" Fragestellungen, Argumente und Begründungszusammenhänge, Sach- und Verfahrensprinzipien, Verfassungsprinzipien zu entwickeln. Es geht um zeitgemäße demokratische Verfassungstheorie jenseits von Naturrecht! Es geht um eine Dogmatik, die auch die gleichbleibenden Verfassungstexte trägt und weiterträgt. II. Ihre Entfaltung im einzelnen Gewiß gibt es evidente „Einbruchstellen" des Naturrechts i m positiven Verfassungsrecht: etwa in A r t . 1 Abs. 1 Satz 1, A r t . 6 Abs, 1, 2, i n A r t . 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG (insbesondere auch i n den Länderverfassungen) 2 . I m Vorgang der Verfassunggebung 3 von 1949 war das Naturrecht eine * AöR 99 (1974), S. 437 - 463 mit Nachtrag (1978). 1 Aus der Lit.: Böckle, Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973; Maihof er (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962; Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972; A. Kaufmann, Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 1971, bes. S. 16 ff.; Coing , Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1969, S. 198 ff.; P. Schneider, in: FS für Gebh. Müller, 1970, S. 435 ff.; Kriele, JuS 1969, S. 149 ff.; Henkel, in: Ged.-Schr. f. Marcie, 1974, S. 63 (78). 2 Dazu Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973. 3 Vgl. zur „dirigierenden" Funktion des Naturrechts E. Zacher, Der Begriff der Natur und das Naturrecht, 1972, S. 141.

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unverzichtbare, geschichtsmächtige „normierende K r a f t " als Reaktion auf staatliche Willkürherrschaft der vorangegangenen Zeit. Inzwischen hat sich das Verfassungsrecht m i t naturrechtlichem Einschlag, haben sich insbesondere die Grundrechte gegenüber dem vom naturrechtlichen Denken gesteuerten Positivierungsvorgang dank dieses Vorgangs, dank des politischen Prozesses und der Verfassungsdogmatik so verselbständigt und i n das Ganze der Verfassung und ihre Öffentlichkeit integriert, daß es „sich selbst" trägt, d. h. der naturrechtlichen Legitimierung nicht mehr bedarf. Ein Beispiel liefert die Dogmatik zu A r t . 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG. A r t . 19 Abs. 2 GG hat deklaratorische Bedeutung, weil und insofern er aus den Grundrechten als Teil des Ganzen der Verfassung interpretiert wird 4 . Auch A r t . 79 Abs. 3 GG kann jetzt aus sachlichen und funktionellen Zusammenhängen der Verfassung begründet werden 5 . Dies liegt um so näher, als schon die Verfassungsdogmatik der Weimarer Zeit, nämlich C. Schmitt, unabhängig von naturrechtlichen Postulaten A r t . 79 Abs. 3 GG vorweggenommen hatte 6 . Das bedeutet konkret aber auch, daß A r t . 79 Abs. 3 GG 7 i n der Geschichte behutsam „fortgeschrieben" werden muß. Er ist der integrierende Bestandteil einer „offenen" Verfassung! I m übrigen lebt die neuere Grundrechtsdogmatik weniger von naturrechtlichen Impulsen als von „spezifisch verfassungsrechtlichen", „liberalen" und „sozialstaatlichen" oder systemtheoretischen Überlegungen 8 . Auch die grundsätzliche Kontroverse lebt nicht von der Auseinandersetzung m i t naturrechtlichen Positionen, sondern m i t der Dogmatik eines Forsthoff 9 oder der wertphilosophischen Betrachtung 10 . 4 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl., 1962, S. 234 ff. und 2. Aufl., 1972, Vorwort, S. V f. (im folgenden: Wesensgehaltgarantie) ; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl., 1974, S. 139 (im folgenden: Grundzüge). 5 Siehe den ihm von Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 90 ff., bes. S. 99 f., zum Teil beigelegten deklaratorischen Charakter. 8 Dazu H. Schneider, in: FS für C. Schmitt, 1959, S. 159 (170, Anm. 28). 7 Zu ihm zuletzt: Hesse, AöR 98 (1973), S. 1 ff. 8 Siehe etwa Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965; dazu Podlech, Der Staat 6 (1967), S. 341 ff. — Zum Stand der Grundrechtstheorie s. die Diskussion in: V V D S t R L 30 (1972), S. 142 ff. Eine Zwischenbilanz versuchte mein Beitrag in AöR 95 (1970), S. 617 ff. Neue Impulse werden von Dürigs Kommentierung des Art. 3 GG ausgehen (Maunz / Dürig / Herzog, GG, Erg.-Liefg., 1973). 9 Insbesondere in: VVDStRL 12 (1959), S. 1 ff.; Rechtsstaat im Wandel, 1964; Der Staat der Industriegesellschaft, 1971 (dazu meine Bespr. in ZHR 136 [1972], S. 425 ff.). 10 Das BVerfG ist gegenüber naturrechtlicher Argumentation ebenso zurückhaltend (vgl. BVerfGE 1, S. 14 [61]; 3, S. 225 [233 ff.]), wie es gegenüber dem „Wertsystem" aufgeschlossen ist (Nachw. jetzt bei Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973), dessen bloß verbale Bedeutung nicht selten offenkundig ist.

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I n Z u k u n f t w i r d es ζ. B. d a r u m gehen, d e n „ n a t u r r e c h t l i c h e n " G e h a l t grundrechtlicher Freiheit 11 für Gastarbeiter u n d ihre F a m i l i e n 1 2 m i t den I n s t r u m e n t a r i e n des sozialen Leistungsstaates zu a k t i v i e r e n , w o b e i die ü b e r k o m m e n e U n t e r s c h e i d u n g v o n Menschen- u n d B ü r g e r r e c h t e n 1 2 a b z w . die S t a a t s a n g e h ö r i g k e i t als I n s t i t u t z u r e l a t i v i e r e n ist. H i e r m ü ß t e n sich die menschenrechtlichen A s p e k t e i n der M R K u n d die n e u e n Menschenrechtspakte d e r U N O a u s w i r k e n . E i n neues S t ü c k der Sache N a t u r r e c h t k o m m t h i e r z u m Vorschein, i m G G schon angesprochen i n A r t . l A b s . 2 ( ! ) . D i e V e r f a s s u n g s t h e o r i e s o l l t e sich diesen E n t w i c k l u n g e n s t e l l e n u n d d e n i n n e r s t a a t l i c h e n G r u n d r e c h t e n die neue L e g i t i m i t ä t s k o m p o n e n t e a u f i h r e Weise v e r m i t t e l n , so daß auch h i e r das N a t u r r e c h t z u r ü c k t r e t e n k a n n . A u c h manche europäischen „ g e m e i n r e c h t l i c h e n G e m e i n s a m k e i t e n " 1 3 k ö n n e n a u f die D a u e r z u gemeineuropäischen P r i n z i p i e n e r s t a r ken14. I n d e n A r b e i t e n v o n Scheuner 15, Herbert K r ü g e r 1 6 , Hesse 17 sowie v o n Ehmke 18 u n d Badura 19 t r e t e n d i e U m r i s s e e i n e r V e r f a s s u n g s t h e o r i e z u t a ge, die d e r n a t u r r e c h t l i c h e n A b s i c h e r u n g w e d e r f ä h i g noch b e d ü r f t i g ist. A u c h verfassungstheoretische G e g e n p o s i t i o n e n w e r d e n n i c h t a u f d e r 11

Zur Grundrechtsdiskussion zuletzt: Hollerbach, Aspekte der Freiheitsproblematik im Recht, Philosophische Perspektiven 5 (1973), S. 29 ff.; J. P. Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung? Schweizerischer Juristenverein 107 (1973), S. 707 ff. 12 s. Doehring, Isensee, Die staatsrechtliche Stellung des Ausländers in der BRD, V V D S t R L 32 (1974). Dazu Pestalozza, AöR 99 (1974), S. 111 ff. — M. E. ist hier noch tiefer, nämlich beim gewandelten Staatsverständnis (Leistungsstaat!) anzusetzen. Überdies sind die Grundrechte für Ausländer in drei Bereiche zu differenzieren, in denen sie schrittweise erstarken, in den staatlichöffentlichen Bereich, den sozialen (Art. 9 Abs. 3 GG) und den privaten Bereich (z. B. Art. 6 GG) : I n diesem sind die Grundrechte voll verbürgt. 12 a Vgl. zu dieser Problematik Dolde, Die politischen Rechte der Ausländer in der Bundesrepublik, 1972, S. 45 ff. — Zu Art. 1 Abs. 2 GG: BVerfGE 35, S. 382 (407). J^Zu diesem Begriff mein Beitrag in AöR 92 (1967), S. 259 ff. (269, 271, 279 f.). 14 Zum Europarecht grundlegend Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972; ders., in: FS für Scheuner, 1973, S. 211 (216 ff.). 15 Insbesondere: V V D S t R L 25 (1965), S. I f f . ; Art. „Verfassung", Staatslexikon, 6. Aufl., 1963, Bd. V I I I , Sp. 217 ff.; Staatszielbestimmungen, in: FS für Forsthoff, 1972, S. 325 ff.; Normative Gewährleistungen und Bezugnahme auf Fakten im Verfassungstext, in: FS für Scupin, 1973, S. 323 ff. 16 Herbert Krüger, in: FS für Smend, 1962, S. 151 ff.; Der Verfassungsgrundsatz, in: FS für Forsthoff, 1972, S. 187 ff.; Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: FS für Scheuner, 1973, S. 285 ff. 17 Insbesondere: Grundzüge, a.a.O. (s. Anm. 4) (1. Aufl. 1967). Bei Hesse kommt der Begriff „Naturrecht" nicht vor (siehe aber den Hinweis auf die Menschen- und Bürgerrechte als „überpositive Rechtsgrundsätze", ebd., S. 119). 18 V V D S t R L 20 (1963), S. 53 ff.; Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 1 - 8 7 . 19 Art. „Verfassung", Evangelisches Staatslexikon, 1966, Sp. 2343 ff.; Verfassung und Verfassungsgesetz, in: FS für Scheuner, 1973, S. 19 ff.

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Ebene des N a t u r r e c h t s f o r m u l i e r t 2 0 . A n d e r e wesentliche

verfassungs-

theoretische B e i t r ä g e „ u n t e r " d e m G r u n d g e s e t z 2 1 e n t f a l t e n sich ebenfalls u n a b h ä n g i g v o m N a t u r r e c h t . Entsprechendes g i l t v o n d e r D i s k u s s i o n u m die G r u n d g e s e t z r e v i s i o n 2 2 . B r i s a n t e S t r e i t f r a g e n der G e g e n w e r t , e t w a das V e r h ä l t n i s S t a a t / G e sellschaft, Rechtsstaat u n d Sozialstaat, G e w a l t e n t e i l u n g , Ö f f e n t l i c h k e i t u n d ö f f e n t l i c h e Interessen ( G e m e i n w o h l ) u n d d e r G e s e t z e s b e g r i f f 2 3 sow i e Fragen der Verfassungsinterpretation werden w e i t h i n unbeeinflußt v o n n a t u r r e c h t l i c h e n Ü b e r l e g u n g e n e r ö r t e r t , u n d z w a r auch d o r t , w o sie das N a t u r r e c h t e i n m a l t h e m a t i s i e r t h a t t e , ζ. B. b e i m G e m e i n w o h l 2 4 u n d „ G e s e t z " . A u f f ä l l i g ist die U n e r g i e b i g k e i t d e r N a t u r r e c h t s t h e o r i e n f ü r a l l diese F r a g e n 2 5 . Das ü b e r r a s c h t u m so m e h r , als die v i e l b e r u f e n e k r i tische W i r k u n g des N a t u r r e c h t s „ v o r b e i " a m p o s i t i v e n Recht b z w . i h m „ v o r a u s " i n d e r V e r g a n g e n h e i t w i e d e r h o l t geschichtsmächtig w a r i . S. eines „ p r o s p e k t i v e n " , n i c h t bloß r e t r o s p e k t i v e n Naturechts. So w i c h t i g es ist, aus d e r P r o b l e m - , D o g m e n - u n d Sozialgeschichte des N a t u r r e c h t s 2 6 , i n s 20 Vgl. etwa W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl., 1970; E.-W. Böckenförde, in: FS für Hefermehl, 1972, S. 11 ff.; Quaritsch, Kirchen und Staat, Der Staat 1 (1962), S. 175 ff. 21 Insbesondere Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961; ders., in: Festgabe f. Maunz, 1971, S. 285 ff.; Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Ideologie und Recht, 1968, S. 37 ff.; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., 1967; Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 97 (1972), S. 489 ff. I n der Schweiz: H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961. 22 Dazu der Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, 1973; Stern, in: Festgabe f. Maunz, 1971, S. 391 ff. 23 Siehe den Diskussionsbeitrag von Hollerbach, V V D S t R L 24 (1966), S. 232 ff. zum verfassungstheoretischen, politischen Rang der Allgemeinheit des Gesetzes. — Aus der Lit.: Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970; Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, 1969 (dazu meine Besprechung, JZ 1970, S. 110 f.). 24 Dazu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; zuletzt Stolleis, Verwaltungsarchiv 65 (1974), S. 1 ff. — Zur Frage des Widerstandsrechts Isensee, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 105, der Art. 20 Abs. 4 GG für deklaratorisch hält und das Widerstandsrecht als überpositives Recht qualifiziert. 25 Zu Recht beobachtet E.-W. Böckenförde, a.a.O. (s. Anm. 1), S. 96 ff. (111) eine „Unterbilanz des kirchlichen Naturrechts an inhaltlich konkretisiertem politischen und sozialen Reformpotential"; ebenda, S. 116 ff., zur Unergiebigkeit der Naturrechtslehre für die Eigentums Ordnung. — Zum „Naturbegriff der alteuropäischen Tradition" und der von ihm dem Naturrecht vermittelten „Invarianz und Unverfügbarkeit": Luhmann, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 175 (180 f.); treffend dessen Definition (S. 181): „Naturrecht heißt . . . Leugnung der Eigenleistung des sozialen Systems der Gesellschaft bei der Konstitution von Recht." 28 Aber auch aus der geschichtlichen Erfahrung überhaupt (Verfassungstheorie als „Erfahrungswissenschaft"!). Mit Recht gelten für Hesse, Grundzüge, a.a.O. (s. Anm. 4), S. 10 als Kriterien der Richtigkeit „bewährte Tradition, aber auch deren Gegenteil . . . Rechtsgrundsätze, die sich in der Rechtserfahrung der Generationen gebildet haben".

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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besondere ihren Fehlern bzw. Vereinseitigungen zu lernen — aus einer Reihe von Gründen muß eine demokratische Verfassungstheorie und -praxis der res publica unabhängig von naturrechtlichen Aussagen 27 erarbeitet werden: 1. Der Begriff „Naturrecht" ist vorbelastet, zuletzt insbesondere durch einen einseitig individualistischen, „vorstaatlichen" und „vorpolitischen", das demokratisch-politische Gemeinwesen ausgrenzenden bzw. auslassenden Ansatz und seinen bloßen Abwehrcharakter. Er ist aber auch ambivalent und mehrdeutig, durch eine unübersehbare Vielfalt von unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Vorstellungen geprägt 28 , er hat an Faszination eingebüßt und an Evidenz verloren. Solche stark belasteten und „schillernden" Begriffe, hinsichtlich derer ein das Gemeinwesen tragender Konsens kaum (mehr) herzustellen sein wird, sollten aufgegeben werden. „Verfassung", „Verfassungsprinzipien", „Verfassungstheorie" der res publica — das sind Begriffe, die weit weniger vorbelastet sind. Sie vermögen die „Sache" konsenstauglicher zu bezeichnen. 2. Eine Bewahrung oder „Kultivierung" naturrechtlicher Rudimente i m ganzen der heutigen Verfassung läßt diese i n zwei Verfassungen „zerfallen": i n naturrechtliche — „verfassungstranszendentale" — Teile oder (unwandelbare) Kerne und i n „historische" oder „positive" — verfassungsimmanente — Verfassungsnormen. Das könnte zu Akzentuierungen jener auf Kosten dieser, zur „Konstruktion" von Rangunterschieden führen 2 9 , die der einheitlichen Sache „Verfassung der res publica" und ihrer Wirklichkeit nicht gerecht würden. Eine solche Aufspaltung i n „zwei Verfassungen" droht Wertungen i n die Verfassung zu tragen, die deren eigene — öffentliche — immanente, nicht transzendente Entwicklung gefährden könnten. Innere Zusammenhänge zwischen Naturrecht, etwa A r t . 1 GG, und der politischen Organisation der Demokratie blieben verdeckt 30 . Auch deshalb sollte einer „Abnabelung" von natur27 Zurückhaltend H. F. Zacher, Freiheitliche Demokratie, 1969, S. 56: Das Naturrecht könne zur Verwirklichung des demokratischen Rechtsstaates nur wenig beitragen. — Nach Habermas, Theorie und Praxis, 4. Aufl., 1971, S. 89 (118) entbehrt heute das Naturrecht jeder verbindlichen philosophischen Rechtfertigung, sind die „angezogenen Systeme" nicht etwa nur kontrovers, sondern bleiben „im allgemeinen selbst unter dem Niveau der zeitgenössischen Philosophie". s. noch Anm. 105. 28 Siehe den Uberblick bei E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl., 1964. — Kritik schon in meiner Wesensgehaltgarantie, a.a.O. (s. Anm. 4), S. 44, 89 f., 145 ff., 159, 217. 29 So bei Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, 1959, S. 159 ff., bes. S. 164. Zu Langner die Besprechung von Hollerbach, Phil. Jahrbuch 69 (1961/62), S. 192 ff. 30 Zur „emanzipatorischen Kraft" der Menschenwürdebestimmung mein Beitrag, JZ 1971, S. 145 (151). — s. noch P. Schneider, V V D S t R L 20 (1963), S. 1 (35 f.) : „Diese Diskussion (sc. über eine Theorie der Verfassungsinterpretation)

7 Verfassung

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

rechtlichen „Quellen" das Wort geredet werden. Abgesehen davon muß deutlich werden, daß zeitgerechte Antworten auf heutige (Verfassungs-) Fragen so wichtig sind wie Antworten auf sog. „ewige", oft nur retrospektive Fragen. Die (Alltags-)Probleme, die sich einer konkreten Verfassung hic et nunc stellen, sind so wichtig wie die „ewigen" Probleme. Für ein betont politisches, „offenes" Verfassungsverständnis liegt dies besonders nahe. Das Naturrecht hat aber nicht selten angesichts der Ewigkeit das Heute vergessen. 3. „Verfassung der res publica" — das impliziert einen Öffentlichkeitsbezug, den „das" Naturrecht nicht thematisieren kann. Das Verfassungsrecht existiert nicht i n einer „idealen" Welt und Transzendenz, sondern i n Gegenwart und Zukunft, es muß — öffentlich — von Menschen verantwortet, gestaltet und fortentwickelt werden 3 1 . Es muß sich i n vielfältigen öffentlichen Prozessen hic et nunc bewähren, es organisiert selbst öffentliche Prozesse und ist ein öffentlicher Prozeß 32 , Es muß konkret gelten, konkret verantwortet und gelebt werden, von Personen und Gruppen, i m Zeichen öffentlicher Gerechtigkeit, und braucht, ja darf nicht erst von den „Sternen" i n die Wirklichkeit 3 3 heruntergeholt werden. Verfassungssätze als „ l a w i n public action" zu begreifen, ist dem überkommenen Naturrecht verschlossen. Diese Perspektiven kann nur eine „republikanische Verfassungstheorie" eröffnen. Der Hinweis auf den Prozeßcharakter des Verfassungsrechts ermöglicht es auch, das „Prinzip Hoffnung" i n die Verfassungstheorie einzubauen 34 ; es muß i n die Verfassungstheorie transformiert werden, ζ. T. über ein „offenes" Interpretationsverständnis, über Fragestellungen der Verfassungspolitik (Entwicklung von Alternativen „auf Vorrat", revidierbare Problemlösungen). Ein entwicklungsgeschichtliches Verständnis der Verfassung kann diese über Begriffe wie „Nachverständnis" (als „Vorverständnis der Zuk u n f t " ) 3 5 der Zukunft öffnen und das Problem der Zeit thematisieren, ist allerdings gefährdet, wenn man versucht, über Art. 1 Abs. 1 eine inhaltlich bestimmte naturrechtliche Konzeption in das GG einzubringen und dieses naturrechtliche System als Grundlage der Verfassungsinterpretation zu aktualisieren." — Nach Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, Hechtstheorie 2 (1973), S. 37 (53) gibt es zwar „kein ewig gültiges Naturrecht und keine der Kritik entzogene Theorie der guten Gesellschaft", doch bedürfen das bestehende Hecht und die bestehende Gesellschaft der „steten Uberprüfung an dem Maß Emanzipation und sozialer Gerechtigkeit, welche historisch . . . objektiv möglich sind" (unter Hinweis auf Habermas). 31 Verfassungstheorie muß stärker als bisher anthropologisch arbeiten. Uber Rechtsanthropologie: Th. Würtenberger f in: FS für E. Wolf, 1972, S. I f f . — Zur Verfassungstheorie als „kritischer Integrationswissenschaft" unten I V 2. 32 Dazu mein Beitrag Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 33 Vgl. das Bild bei J. H. Kaiser, Art. „Staatslehre", Staatslexikon, 6. Aufl., 1962, Bd. V I I , Sp. 589 (602). 34 Dazu Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (110 ff. u. LS 40) und DÖV 1972, S. 729 (732). 35 Dazu mein Beitrag Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (126 ff.).

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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ζ. B . ü b e r eine innere E i n b e z i e h u n g m ö g l i c h e r u n d n o t w e n d i g e r V e r fassungsänderungen, ü b e r die V e r a b s c h i e d u n g des s e l b s t ä n d i g e n B e g r i f f s „ V e r f a s s u n g s w a n d e l " 3 6 , ü b e r verfassungstheoretisch l e g i t i m i e r t e u n d begrenzte V o r w i r k u n g v o n Gesetzen s o w i e ü b e r R e f o r m - b z w . E x p e r i m e n t i e r k l a u s e l n . Dieser w e i t e , ö f f e n t l i c h e B e z u g s r a h m e n d e r V e r fassung d e r res p u b l i c a e r l a u b t es auch, d i e neuere wissenschafts- u n d gesellschaftstheoretische D i s k u s s i o n e i n z u b r i n g e n : V e r f a s s u n g s t h e o r i e als wissenschaftstheoretisch ausgewiesene Gesellschaftstheorie! V e r f a s s u n g s t r u k t u r i e r t n i c h t n u r d e n Staat, s o n d e r n auch die Gesellschaft; sie hat einen Wirklichkeitsbezug, den naturrechtliche Lehren oft vermissen lassen; gleiches g i l t v o m V e r f a h r e n s g e d a n k e n . Das V e r f a s s u n g s g e w o h n h e i t s r e c h t , i n s o f e r n eine höchst „ n o r m a l e " E r s c h e i n u n g s f o r m des V e r f a s sungsrechts, als es m e i s t e i n I n t e r p r e t a t i o n s p r o b l e m i n b e z u g a u f geschriebenes Recht i s t 3 7 , k a n n v o m N a t u r r e c h t aus e b e n f a l l s n i c h t ge36 Z u seiner Problematik zuletzt Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung in: FS für Scheuner, 1973, S. 123 ff.; Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972. — Es gibt nicht nur Vor-, sondern auch „Nachwirkung" von (formell außer kraft getretenen) Gesetzen. 37 Von einem „offenen" Interpretationsverständnis her ist das (Verfassungs-) „Gewohnheitsrecht" als selbständiges Institut in Frage zu stellen. Auf längere Sicht betrachtet ist es Ergebnis von Interpretation geschriebenen Rechts hic et nunc, zunächst diente es als Begründungsersatz. I m weiteren, d. h. zeitlich gestreckten Interpretationsvorgang läßt sich das Gewohnheitsrecht meist einem geschriebenen (Verfassungs-)Rechtssatz bzw. seinem „Nachverständnis" zuordnen. Man denke an den „ungeschriebenen Grundsatz" der Bundestreue. Er ist heute Ausdruck eines bestimmten Bundesstaats Verständnisses (dazu Hesse, Grundzüge, a.a.O. [s. Anm. 4], S. 107 ff.; BVerfGE 34, S. 9 [20]). Die „Aufopferung" und der enteignungsgleiche Eingriff (dazu Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 439 ff.) lassen sich heute Art. 14 und 20 Abs. 1 GG (bzw. Art. 3, so Dürig für die Aufopferung, in: Maunz / Dürig / Herzog, GG, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 58) zuschreiben. Die Hilfsbrücke und Krücke einer gewohnheitsrechtlichen Konstruktion kann entfallen. Das vermeintliche Gewohnheitsrecht ist eine Form der „law in public action". Von einem positivistischen Denken aus bedurfte es der Technik „Gewohnheitsrecht". Was aus dem geschriebenen Recht nicht als „ableitbar" erscheint, bedurfte dieser Brücke. Bei einem weiteren Verständnis dessen, was Interpretation leisten kann und leisten muß, kann Gewohnheitsrecht meist einer — interpretierten — geschriebenen Rechtsnorm zugeordnet werden (dies gegen BVerfGE 28, S. 220 [224]). Nur darf Interpretation nicht einseitig auf die (Verfassungs-) Rechtsprechung fixiert sein, Gesetzgebung und Verwaltung „interpretieren" nicht minder. Auch hier zeigt sich, wie die Zeit „arbeitet". Ex post erweist sich als (gewandelte) Interpretation, was sich ex ante bzw. ex nunc als Schaffung neuen Rechts darstellt. Eine problemgeschichtliche Untersuchung hätte nachzuweisen, daß (Verfassungs-)Gewohnheitsrecht dort bejaht wurde, wo der Positivismus „Interpretation" zu eng verstand. (Kritisch gegenüber dem Verfassungsgewohnheitsrecht, freilich von anderen Denkvoraussetzungen aus: Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, bes. S. 143 ff.) Speziell im Organisationsrecht wirken faktische Übung und die so entstandene und stabilisierte Verhaltenserwartung von Staatsorganen besonders stark als „Material" im Interpretationsvorgang. Die Theorie der Verfassungsinterpretation sollte stärker als bisher die Relevanz faktischer Übung u. ä. für die Interpretation des „geschriebenen" Rechts thematisieren, d. h. vieles, was bisher als „typisch gewohnheitsrechtlich" angesehen wurde, dem normalen Interpretationsvorgang zuordnen.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

bührend thematisiert werden. Demokratische Verfassungstheorie trägt sich unter anderem dadurch selbst, daß sie den Zeitfaktor bewußt einbindet, ζ. B. durch ein Interpretationsverständnis, das sich jenseits der Frage „Bestand oder Wandel" entwickelt und das nach den Bedingungen für die Stimulierung von „Wandel" fragt. Nach alledem vermag demokratische Verfàssungstheorie heute mehr zu leisten als das Konglomerat verschiedener Naturrechtsvorstellungen. Das BVerfG 3 8 hat diese angesprochen i n seiner oft zitierten Formulierung von der „Vielfalt der Naturrechtslehren", die zutage trete, sobald der Bereich fundamentaler Rechtsgrundsätze verlassen werde. 4. Zeitgerechte Verfassungstheorie hat immer neu die funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsorgane untereinander zu bestimmen 3 9 . Uber sie sagt das Naturrecht nichts aus. So sind die Grenzen differenzierter funktionaler Kooperation etwa zwischen demokratischem Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht — über das Verfassungstheorie vielfältig praktisch w i r d — flexibel 4 0 , variabel und offen. I n einer lebenden Verfassung verschieben sie sich. Das ist zugleich Ausdruck und Folge des — dem Naturrecht fremden — „Wachstumsprozesses" der Verfassung, i n dem Texte auch „regenerieren" können. Der funktionell-rechtliche Ansatz muß aufbauen auf einem organisationssoziologischen. Die Organisation des BVerfG (der Status seiner Richter, sein Verfahren) ist von dessen Funktionen abhängig, umgekehrt bestimmen diese seine Organisation mit. System theoretisch gedacht: Die Umwelt-Beziehungen des Systems haben Auswirkungen auf die Organisation des Systems. Die Sozialwissenschaften 41 sind bei der Ermitt38

BVerfGE 10, S. 59 (81). — Das BVerfG kann jetzt, nach der „Normalisierung" spezifisch konstitutioneller (bes. grundrechtlicher) Prinzipien durch fortschreitende Rationalisierung der Interpretationsmethoden, nach der Schaffung ausgefeilter Gemein wohl judikatur — Nachw. in AöR 95 (1970), S. 86 ff., 206 ff.; zuletzt: BVerfGE 33, S. 1 (10 f.), 23 (29 f.), 52 (66 ff.), 125 (158 ff.), 171 (186 ff.), 232 (234 f.), 303 (338 ff.), 367 (377); 34, S. 71 (78), 204 (209 f.), 238 (245 f., 248 f.), 269 (283), 384 ff.; 35, S. 1 (9 f.), 35 (39 f.), 79 (122 ff.), 185 (190). 202 (220 ff.), 307 (309), 311 (321); 36, S. 47 (59), 212 (219, 223), 264 (269), 281 (293) — naturrechtliche Rudimente „abstoßen", so wie es das Wertsystemdenken fallen lassen kann und sollte (dazu Goerlich, a.a.O., [s. Anm. 10] und meine Bespr., JR 1974, 487 f. 39 Dazu Hesse, Grundzüge, a.a.O. (s. Anm. 4), S. 32 ff. 40 Dazu m. N. meine Besprechung von Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, in: DVB1. 1973, S. 388 f. Die amerikanische „preferred-freedoms-doctrine" (dazu Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 437 ff.) ist freilich angesichts heutiger, den politischen Prozeß stark präjudizierender wirtschaftlicher Faktoren zu modifizieren. — Aus der Lit. jetzt Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, 1973. 41 Sie hätten zu untersuchen, ob und ggf. aufgrund welcher Organisationsstrukturen das BVerfG sich in bestimmten Fragen mehr, in anderen (evtl. Grundrechte, insbes. Persönlichkeits- und demokratiebezogene) weniger zu-

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht l u n g d e r B e d i n g u n g e n f ü r das F u n k t i o n i e r e n d e r heranzuziehen.

101 Verfassungsorgane

I I I . Z w e i Vorbehalte gegenüber der „Verabschiedung" des Naturrechts Das Gesagte s t e h t u n t e r z w e i V o r b e h a l t e n . Z u m e i n e n : T e i l e „ u n b e z w e i f e l t e n " N a t u r r e c h t s , e t w a A s p e k t e d e r A r t . 19 A b s . 2 ( „ M e n s c h e n w ü r d e " ! ) u n d 79 A b s . 3 G G , s o l l t e n — t r o t z a l l e r Q u a l i f i z i e r u n g als n u r d e k l a r a t o r i s c h e N o r m e n — i n i h r e r F u n k t i o n als „ N o t b r e m s e " als auch n a t u r r e c h t l i c h b e g r ü n d b a r i m verfassungsdogmatischen B e w u ß t s e i n b l e i ben. V e r f a s s u n g s t h e o r i e d a r f i h r e M ö g l i c h k e i t e n n i c h t überschätzen, sie m u ß d i e G r e n z e n d e r L e i s t u n g s f ä h i g k e i t v o n V e r f a s s u n g e n realistisch einschätzen. Es k a n n ( G r e n z - ) S i t u a t i o n e n geben, i n d e n e n d e r R ü c k g r i f f a u f N a t u r r e c h t gegenüber d e r A r r o g a n z s t a a t l i c h e r u n d gesellschaftlicher M a c h t e f f e k t i v e r i s t als die s u b t i l e verfassungstheoretische B e g r ü n d u n g . V e r f a s s u n g s t h e o r i e m u ß sich i m politischen Prozeß u n d d a m i t auch i m K a m p f b e w ä h r e n 4 2 , sie m u ß a u f d i e p o l i t i s c h e n K r ä f t e u n d Interessen w i r k e n u n d t e n d e n z i e l l i m B ü r g e r b e w u ß t s e i n n a c h v o l l z i e h b a r sein. Ü b e r s p i t z t f o r m u l i e r t : I n d e n K l a s s e n z i m m e r n entscheidet sich, welche V e r fassungstheorie w i r uns l e i s t e n k ö n n e n ! V e r f a s s u n g s u n t e r r i c h t h a t h i e r rückzuhalten hat. Der organisationssoziologische und funktionell-rechtliche Ansatz zeigt, daß das Verfassungsprozeßrecht (ebenso wie das Parlamentsrecht) das „halbe Verfassungsrecht" ist: weil es die Auslegung der Verfassung materiell präjudiziert (dazu P. Häberle, JZ 1973, S. 451 [452 f.]; die Kritik von Ek. Schumann, JZ 1973, S. 484 [488 f.] übersieht die Grundsatzfrage). 42 Vor einer Überschätzung der Wirkung verfassungstheoretischer Filigranarbeit muß gewarnt werden. (Freilich darf die „Langzeitwirkung" solcher A r beit auch nicht unterschätzt werden — man denke an Grundsatzarbeiten der Weimarer Zeit!) Gerade heute ist ein großer Kampf um die Gewinnung bzw. „Erfüllung" der politischen und verfassungspolitischen Begriffe im Gange (suggestiv der Titel Kulis „Verfassung als Parteiprogramm", in: FS für Forsthoff, 1972, S. 213 ff.). Die Verfassungstheorie hat stärker als bisher die Machtfragen zu thematisieren, ohne sich durch die Macht bewußt oder unbewußt korrumpieren zu lassen. Sie muß Machtzentren wie Arbeitgeber und Gewerkschaften von allen wissenschaftlichen Seiten aus betrachten, einordnen und begrenzen und insbesondere bedenken, wie sie sich ihnen gegenüber Gehör verschaffen kann. Man denke an die Diskussion um „Mitbestimmung und Vermögensverteilung" (dazu Mestmäcker, F A Z v. 21. 7. 1973, S. 15; Scholz, Der Staat 13 [1974], S. 91 ff.). Die Kostenfrage, „Kosten" in sozialer, finanzieller und (verfassungs-)politischer, hier besonders grundrechtlicher, Hinsicht, muß i. S. des kritischen Rationalismus folgenorientiert behandelt werden (s. ζ. B. Albert, Plädoyer für kritischen Rationalismus, 1971, S. 71; Popper, Zur Theorie der Politik, Rechtstheorie 4 [1973], S. 88 f.). — Wie wichtig eine „allseitige" wissenschaftliche Behandlung ist, illustriert Biedenkopfs These „Entwertete Währung — entwertete Demokratie" (FAZ v. 26. 6. 1973, S. 20). Über sie kann nur i. S. des Textes (unten I V ) diskutiert werden. Hier ist die „Nationalökonomie" gefordert, über deren „Gegenstand und Methoden" der von Jochimsen und Knobel 1971 herausgegebene Band informiert. Wie relevant die Wirtschaftswissenschaften für Teilfragen der Verfassungstheorie sein können, zeigte die Diskussion um „WirtschaftsVerfassung", Stabilitätsgesetz und „Gemeinschaftsaufgaben".

102

I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

zu beginnen. Schon hier muß Toleranz praktiziert werden — jene Toleranz, die eine wesentliche Verfassungsaussage 43 ist. D. h. konkret: Die Verfassungstheorie muß sich der Kooperation der Erziehungswissenschaften versichern. Z u m zweiten ist zu bedenken: Gegen die hier angedeutete, nur i n Konturen sichtbare und gewiß (zu?) anspruchsvolle Verfassungstheorie könnte der Vorwurf erhoben werden, sie sei „Verfassungstheologie". Dem ist von Anfang an entgegenzuwirken. Verfassungstheorie darf nicht an Stelle des Naturrechts zu einem „neuen" Naturrecht hochstilisiert und „kanonisiert" werden. Das politische Kräftefeld, i n dem sie w i r k t , der Wirklichkeits- und Öffentlichkeitsbezug, i n dem sie steht, und die Wissenschaftskritik, der sie sich auszusetzen hat, müssen das verhindern. Die Tugend der Verfassungsvergleichung i m Bereich der westlichen demokratischen Verfassungsstaaten 44 und des „SystemVergleichs" m i t östlichen Staaten 45 w i r k t sich i n gleicher Richtung aus. Verfassungstheorie muß diskutierbar sein und bleiben — sie muß sich selbst thematisieren (können). Sie muß Wege zu Dissens und Konsens öffnen und offen halten. Aus der Naturrechtsgeschichte kann insofern gerade gelernt werden: ζ. B. von ihren Verabsolutierungen, der Notwendigkeit, (Natur-)Recht konkret „festzumachen" (Naturrecht als Erfahrungsmaterial), von den unterschiedlichen Funktionen des Natur rechts, die i m Blick auf etwaige Parallelen zur Funktion der Verfassungstheorie zu untersuchen wären. Demokratische Verfassungstheorie hat sich auch der Frage zu stellen, wer sie konkret i m politischen Prozeß durchsetzt und wie sie sich i m politischen Prozeß bewährt und fortentwickelt 4 6 . Anders als das Naturrecht 43 Dazu meine Besprechung von Listi , Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971, in: ZevKR 19 (1974), S. 206 (212 ff.); BVerfGE 33, S. 23 (32). 44 Zur Vergleichung im öffentlichen Recht: ZaöRV 24 (1964), S. 391 ff. mit den Beiträgen von J. H. Kaiser, Strebel, Bernhardt und Zemanek; jetzt Mössner, AöR 99 (1974), S. 193 ff. 43 z. B. die Materialien zur Lage der Nation 1972, BT-Drucks. VI/3080. 46 Die Verfassung ist nicht nur keine „politische Lebensversicherung" (Ehm ke), sie ist auch keine juristische Lebensversicherung, d. h. die Jurisprudenz kann allein gar nicht die Garantie dafür übernehmen, daß Verfassung „richtig" interpretiert und fortentwickelt („gelebt") wird. Der Streit um Art und Rang der Interpretationsmethoden wird sich nie „endgültig" beilegen lassen. Die Frage ist nur, wie der Methodenpluralismus jeweils offen „organisiert" werden kann. Auch das ihn bedingende soziale Ganze muß organisiert werden, d. h. pluralistische Öffentlichkeit muß organisiert werden — auf allen Bereichen und Ebenen, die unmittelbar oder mittelbar für Verfassungsinterpretation relevant werden (im Bereich juristischer Berufsausbildung pluralistische Vielfalt der wissenschaftlichen Richtungen), ebenso wie im Bereich von Rundfunk

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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kann sie der stetigen Gefahr der Dogmatisierung entgegenwirken. Freilich: Es ist dafür zu sorgen, daß naturrechtliche Gehalte nicht einfach gegen verfassungsrechtliche ausgetauscht werden: i m Sinne eines versteckten oder offenen Etikettenschwindels. Die sowohl kritische als auch stabilisierende (entlastende) Funktion von Verfassungstheorie muß bewußt bleiben. Ehrlicherweise sollte jedoch zugegeben werden, daß, wie jede Theorie, auch die wissenschaftliche Theorie über die „Sache Verfassung" nicht etwa die meisten oder gar alle Probleme lösen kann, sondern nicht selten die Probleme nur verschiebt. Hier werden Grenzen des wissenschaftlichen Erkenntnisvermögens sichtbar: Bestimmte Fragestellungen werden bewußt oder unbewußt ausgeblendet. Kann bzw. muß die praktische Verfassungstheorie i n dem umrissenen Sinne ohne Naturrecht arbeiten, so steht sie heute vor einer A u f gabe, die von ihr viel verlangt, der sie sich aber nicht zu entziehen vermag: Sie hat die gegenwärtige wissenschafts- und gesellschaftstheoretische Kontroverse zu verarbeiten.

IV. Die Relevanz der wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Kontroverse für demokratische Verfassungstheorie und -praxis Z u fragen ist i n dreifacher Zielrichtung: Wie verarbeitet Verfassungstheorie die heutigen Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien? Und umgekehrt: Was leistet Verfassungstheorie für diese? Schließlich: Inwieweit haben Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien die Verfassung zu thematisieren? Z u all dem können hier nur skizzenhafte Vorüberlegungen angestellt werden. Sie dienen nicht zuletzt der Legitimierung der demokratischen Verfassung als Verfassung der Freiheit überhaupt. Die Verfassungstheorie sollte die Faszination nutzen, die die Idee „Verfassung" i m öffentlichen Bewußtsein nach wie vor besitzt: nicht i. S. introvertierter wissenschaftlicher Hausmachtpolitik, sondern aus Gründen der Sache „res publica".

und Fernsehen als „Abendschule der Nation" (durch Pluralismus-Gesetze, zu ihnen mein Beitrag, in: FS für Küchenhof f, 1972, S. 452 [465]), schließlich bei der Zusammensetzung der Richter des BVerfG. Die pluralistische Offenheit erfordert eine optimale Bandbreite der in ihr zu Wort kommenden Interessen und Ideen. Die viel beschworene „richterliche Autonomie" ist mitten in dieser pluralistischen Öffentlichkeit zu sehen. Diese muß auf die Verfassungsauslegung „projiziert" werden.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation 1. Wie verarbeitet und

Verfassungstheorie

die

Wissenschafts-

Gesellschaftstheorien?

D e m o k r a t i s c h e V e r f a s s u n g s t h e o r i e m u ß wissenschaftstheoretisch „ a u f g e k l ä r t " sein, w e i l sie selbst Wissenschaftscharakter h a t u n d gesellschaftsrelevant w i r d 4 7 . H e u t i g e V e r f a s s u n g s t h e o r i e 4 8 sollte sich der wissenschafts- u n d gesellschaftstheoretischen D i s k u s s i o n o f f e n u n d i n v o l l e r B r e i t e u n d T i e f e stell e n 4 9 . Das geschieht b i s l a n g n u r i n A n s ä t z e n , p u n k t u e l l , e t w a i n d e r D e m o k r a t i e · 5 0 u n d P l a n u n g s d i s k u s s i o n 5 1 sowie i m B i l d u n g s b e r e i c h , u n d selt e n u n t e r K l ä r u n g d e r G r u n d s a t z f r a g e als V o r f r a g e . F r e i l i c h : V e r f a s sungstheorie d a r f sich n i c h t einfach a n d e n „ m o d i s c h e n W a g e n " einzeln e r Wissenschafts- u n d Gesellschaftstheorien „ a n h ä n g e n " 5 2 , so zeitbe47 Wissenschaftstheorie ist auch immer ein Stück Gesellschaftstheorie. U m gekehrt hat Gesellschaftstheorie wissenschaftstheoretische Implikationen. Für eine Wechselwirkung zwischen Wissenschaftstheorie und Sozialphilosophie allgemein und speziell bei Popper: Flohr, Rechtstheorie 3 (1972), S. 62 ff. (71), der mit Recht auf die Ergiebigkeit von Poppers Denken ζ. B. für eine Theorie der Demokratie hinweist (S. 65 ff.) und beklagt, daß Poppers kritischer Rationalismus bislang zu wenig an konkreten Fragen, etwa der ParlamentarismusDiskussion, geprüft werde (S. 73). s. die Replik Poppers, Rechtstheorie 4 (1973), S. 88 f., und seine durchgehaltene Auffassung, er kenne keine vernünftige Gesellschaft, wohl aber immer eine, „die vernünftiger ist als die bestehende und die wir deshalb anstreben sollen". 48 Sie hat direkt und nicht auf dem (Um-)Weg über „Allgemeine Staatslehre" (so zum Teil bei Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 15 ff.; dazu P. Häberle, AöR 98 [1973], S. 119 ff.), Verwaltungslehre (bei König, Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft, 1970), System- und Entscheidungstheorien (wichtig: W. Schmidt, AöR 96 [1971], S. 321 ff.; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31 [1973], S. 179 [193 ff.]) Anschluß zu suchen an die allgemeine wissenschaftstheoretische Diskussion. — I n der Methodendiskussion und Rechtstheorie ist der interdisziplinäre Gesprächsstand weiter und intensiver als in der Verfassungstheorie: vgl. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970; Dreier, in: FS für H. J. Wolff, 1973, S. 3 ff.; Α. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971; H . - R Schneider, in: FS für E. Wolf, 1972, S. 108 ff.; für die Dogmatik des Verwaltungsrechts Brohm, V V D S t R L 30 (1972), S. 245 ff.; verdienstvoll ist jetzt der von Grimm herausgegebene Band Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, 1973, Bd. 1. 49 Das mag auch manche Kontroverse um die klassischen Positionen von Smend, C. Schmitt, Kelsen und Heller weiterführen und ggf. relativieren. Erste Beispiele für die Verarbeitung wissenschaftstheoretischer Erkenntnisse in der Jurisprudenz: Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, 1972; Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973; Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen Gleichheitssatzes, 1971. 50 Dazu Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 55 ff., bes. 58 ff. — Treffend H. Maier, SZ v. 26./27. 5. 1973, S. 142: „Demokratie schwimmt nicht auf der Woge hochgestimmter Moralität, sie gleitet auf dem ö l humaner Verträglichkeit". 51 Dazu m. N. Kewenig, D Ö V 1973, S. 23 ff.; Jochimsen, Zur Philosophie staatlicher Planung, Bull. Nr. 133 v. 18. 10. 1973, S 1309; E.-W. Böckenförde, Der Staat 11 (1972), S. 429 ff. 52 Vor mancher bloß verbalen Rezeption im juristischen Schrifttum ist besonders die Systemtheorie nicht immer bewahrt geblieben, was auch an deren eigenem Expansionsanspruch liegt.

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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d i n g t sie auch ist. Sie m u ß d e r e n Ergebnisse v i e l m e h r i h r e m eigenen spezifischen Gegenstand u n d A u f t r a g gemäß d i f f e r e n z i e r t ( „ g e f i l t e r t " ) v e r a r b e i t e n 5 3 . Sie sollte jedoch die Chance w a h r n e h m e n , i h r e „ e i g e n e n " b i s h e r i g e n E r k e n n t n i s s e zusätzlich b e w u ß t u n d offen d u r c h die W i s s e n schafts- u n d Gesellschaftstheorien zu v e r u n s i c h e r n u n d abzusichern. K e i n „ r e l a t i v r i c h t i g e s " S e l b s t v e r s t ä n d n i s d e r V e r f a s s u n g s t h e o r i e ohne derartige kontrollierende „Fremdverständnisse" 54! E i n i g e Beispiele m ö g e n dies veranschaulichen: Das (auch) f u n k t i o n a l e G r u n d r e c h t s v e r s t ä n d n i s 5 5 i s t ζ. T . d u r c h Luhmanns A n s a t z 5 6 abzusichern, die O f f e n h e i t der V e r f a s s u n g (i. S. Hesses, Ehmkes) durch den k r i t i schen R a t i o n a l i s m u s 5 7 . L e t z t e r e r l i e f e r t insbesondere auch E i n s i c h t e n f ü r d i e F o r t e n t w i c k l u n g g e w a l t e n t e i l e n d e r M o m e n t e , ζ. B . i n d e n ö f f e n t l i c h e n Bereichen ( S t i c h w o r t p u b l i z i s t i s c h e G e w a l t e n t e i l u n g ) , f ü r die B e w a h r u n g d e r „ p r i v a t e n " Seite d e r G r u n d r e c h t e sowie f ü r die V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n u n d eine T h e o r i e d e r V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g ( u n d , , - w a n d l u n g " ) , die z u r B e w ä h r u n g d e r V e r f a s s u n g f ü h r t 5 8 . 53 Ein spezieller Versuch in dieser Richtung ist meine Behandlung der Problematik Effizienz und Verfassung, AöR 98 (1973), S. 625 ff.; s. früher meinen Beitrag, Öffentlichkeit und Verfassung, in bezug auf Habermas, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 54 Ergiebig ist von Hentigs Definition von „Politik" als „gemeinsame bewegliche (!) Regelung gemeinsamer Angelegenheiten", Die Wiederherstellung der Politik, 1973, passim, bes. S. 10, 58, 97, 119 f., 151. 55 Häberle, Wesensgehaltgarantie, a.a.O. (s. Anm. 4), passim, bes. S. 8 ff. Kritik bei H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, passim, bes. S. 60 ff. (Dazu meine Besprechung, D Ö V 1974, S. 343 ff.) Das heutige Grundrechtsverständnis bestimmt und verändert die Qualität des Staates selbst. 56 Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965. Dazu meine Kritik, JZ 1966, S. 454 f. 57 Eine gute Darstellung des kritischen Rationalismus bei Schwerdtner, Rechtstheorie 2 (1971), S. 67 ff., 224 ff., mit dem wichtigen Hinweis auf die „Relativität allen Verstehens" (S. 224), den theoretischen Pluralismus (S. 225) und das Denken in Alternativen (S. 243). Albert in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. von Topitsch, 1967, S. 181 (199): Der kritische Rationalismus „richtet sich auf die Durchleuchtung der gesellschaftlichen Zustände, der Herrschaftsbeziehungen und Machtverhältnisse, auf die Kritik ihrer ideologischen Maskerade und deren Konfrontierung mit unangenehmen Tatsachen", s. jüngst Popper, Rechtstheorie 4 (1973), S.88: „Ich bin Pluralist, d.h.ich glaube, daß ein ganzes Spektrum von verschiedenen Ansichten, auch methodischer und grundsätzlicher Natur, nebeneinander Platz haben und miteinander in intellektueller Konkurrenz stehen sollen." Ebd. S. 88 f. finden sich auch von Poppers Wissenschaftstheorie her konsequente Äußerungen zu (Reform-)Politik („Der Politiker soll..."). 58 Dazu mein Beitrag Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff. (129 f.). Der Vorwurf des „Eklektizismus" wird nicht ausbleiben. Die Offenheit der Verfassungstheorie bewährt sich jedoch gerade darin, daß sie Teile verschiedener wissenschafts- und gesellschaftstheoretischer Ansätze zu integrieren vermag: angesichts der „Sache" Verfassungsrecht der freiheitlichen res publica. Sie bilden gemeinsam das „Spektrum" der Verfassungstheorie. — Die „Sache Verfassungsrecht" reduziert die Beliebigkeit der Auswahl(-Kriterien),

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

P r a k t i s c h e Verfassungstheorie, die sich d e m k r i t i s c h e n R a t i o n a l i s m u s v e r p f l i c h t e t w e i ß 5 9 , h a t die A u f g a b e , A l t e r n a t i v e n „ a u f V o r r a t " zu e n t w i c k e l n . Sie k e n n t k e i n e a b s o l u t e n W a h r h e i t e n , sondern sucht r e l a t i v e W a h r h e i t e n (den Konsens) i n V e r f a h r e n , deren O r g a n i s a t i o n z u m e n t scheidenden P r o b l e m w i r d (Verfassungstheorie der Verfahren und Alternativen). Das k a n n sie d a n k des A r t . 5 A b s . 3 G G — Wissenschaftsfreih e i t . Sie w e i ß , daß auch i h r e E r k e n n t n i s s e n i c h t i n t e r e s s e n n e u t r a l sind. A r t . 5 A b s . 3 G G i s t d i e selbstkritische I n s t a n z d e r p r a k t i s c h e n V e r f a s sungstheorie. Diese i s t j e d e r Wissenschaftstheorie d a d u r c h v o r a u s 6 0 , daß sie sich b z w . das G e m e i n w e s e n ü b e r A r t . 5 A b s . 3 G G f ü r alle W i s s e n schaftstheorien o f f e n h ä l t . D a n k dieser O f f e n h e i t e n t w i c k e l t sie sich selbst f o r t , b l e i b t sie i n d e r Z e i t . D i e L e i s t u n g s f ä h i g k e i t speziell des k r i t i s c h e n R a t i o n a l i s m u s h a t i h r e Grenzen. W e n n es das H a u p t m e r k m a l d e r k r i t i s c h e n T h e o r i e ( u n d i h r e r N e u f a s s u n g d e r V e r m i t t l u n g v o n T h e o r i e u n d P r a x i s ) ist, daß sie e i n e r seits d e n K o n s t i t u t i o n s z u s a m m e n h a n g d e r P r o b l e m e u n d d e r Interessenlagen, d e n e n sie selbst a n g e h ö r t , r e f l e k t i e r t u n d andererseits d e n A k t i o n s z u s a m m e n h a n g , a u f d e n sie h a n d l u n g s o r i e n t i e r e n d e i n w i r k e n k a n n , u n t e r s u c h t 6 1 , d a n n m u ß V e r f a s s u n g s t h e o r i e i n s o f e r n auch „ k r i t i s c h e nach denen sich bemißt, ob z.B. Aussagen der kritischen Theorie oder der Hermeneutik fruchtbar gemacht werden können. Denn die Verfassung verlangt praktische Bewährung. Jede „Theorie" muß hier zeigen, ob und inwieweit sie zu einer Theorie der Praxis werden kann: durch Verfassungstheorie und -praxis „hindurch" (Kritik aus der Praxis). Das erfordert „Denkökonomie", d. h. der Abstraktionsgrad darf nicht zu sehr gesteigert werden. 59 Dazu meine „Anläufe", AöR 98 (1973), S. 119 (129 ff.); V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (72 f., 102); AöR 98 (1973), S. 625 (629 ff.), s. Dürigs (Maunz / Dürig / Herzog, GG, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 210) leidenschaftliches Plädoyer für „trial and error" als Methode der Rechtsfindung in freiheitlichen Verfassungen (Offenheit für „Reform der Reform"!), s. auch BVerfGE 34, S. 269 (287, 288 f.) zum Normwandel durch Interpretation. 60 Diesen Vorsprung hat die Verfassungstheorie allerdings nicht von vornherein, sondern sie muß ihn sich selbst erarbeiten. Jede Theorie könnte, wenn sie wollte, sich die Freiheit nehmen, sich selbst zu hinterfragen — die Verfassungstheorie ist dazu durch Art. 5 Abs. 3 GG aufgerufen. 61 Habermas, a.a.O. (s. Anm. 27), S. 10. Erklärte Auswirkungen von Habermas auf verfassungsrechtliche Untersuchungen ζ. B. bei M. Stock, Pädagogische Freiheit und politischer Auftrag der Schule, 1971, S. 291 ff.; Denninger, Das Hochschulrahmengesetz — Kernstück einer Bildungsreform?, 1972, S. 50 f., 71; Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, 1971, z. B. S. 217, 264 f.; Schuppert, a.a.O. (s. Anm. 40), S. 188 ff. — Ergiebig ist Habermas' Deutung der Grundrechte als „Prinzipien einer sozialstaatlichen Gesamtrechtsordnung", a.a.O., S. 118 f., die gerade aus einer Kritik der Naturrechtstraditionen (!) erwachsen ist. Generell wird man jedoch davon ausgehen müssen, daß infolge des hohen Abstraktionsgrades der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien deren Erkenntnisse in die konkrete juristische Argumentation nur langsam Eingang finden werden. Ihre Hauptbedeutung dürfte vorläufig noch darin liegen, daß in ihnen Hinweise enthalten sind, wo und wie die Probleme ζ. B. in der Demokratie versteckt sind. Die Beschäftigung mit Wissenschaftsund Gesellschaftstheorien wirkt sensibilisierend auf das Problembewußtsein und entfaltet so unterschwellig Wirkung auf das Verfassungsrecht.

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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T h e o r i e " sein. D i e Verfassungstheorie h a t sich selbst als h i n t e r f r a g b a r e Größe zu sehen — die K a t e g o r i e der „ e r k e n n t n i s l e i t e n d e n Interessen" i s t gerade h i e r e i n echter G e w i n n . D i e V o r b e d i n g u n g e n d e m o k r a t i s c h e r V e r fassungen müssen d i s k u t i e r t w e r d e n , ohne daß die j e w e i l s geltende V e r fassung archimedischer P u n k t sein k ö n n t e u n d d ü r f t e . Z u solchen V o r b e d i n g u n g e n gehören — w i e der historische M a t e r i a l i s m u s 6 2 i n f r e i l i c h zu einseitiger Weise gezeigt h a t — die ökonomischen G r u n d l a g e n , aber ζ. B. auch P r o b l e m e des Konsenses 6 3 . D a r ü b e r h i n a u s k a n n die Verfassungstheorie i n p r a k t i s c h e n F r a g e n w i e der D o g m a t i k sozialer G r u n d r e c h t e 6 4 , d e r Sozialstaatsdiskussion ü b e r h a u p t , aber auch ζ. B. b e i m P r o b l e m d e r i n n e r e n Pressefreiheit a n d e n B e i t r ä g e n der k r i t i s c h e n T h e o r i e selbst d a n n n i c h t v o r b e i g e h e n , w e n n sie d e r e n P r ä m i s s e n n i c h t m i t ü b e r n i m m t . U n d sie m u ß sich der Diskussion d o r t stellen, w o d i e k r i t i s c h e T h e o r i e „ G e w a l t s t r u k t u r e n " einer Gesellschaft u n d die h i n t e r j e d e m V e r f a s s u n g s i n s t i t u t stehenden Interessen „ a u f d e c k t " . Der Hinweis auf K o n f l i k t e u n d Interessen65 ist unverzichtbar, n u r d a r f Verfassungstheorie b e i i h m n i c h t stehenbleiben. Sie h a t auch zu zeigen, w o u n d w i e i n V e r f a s s u n g s i n s t i t u t i o n e n v e r n ü n f t i g e Interessen eingebaut s i n d 6 6 , welche d u r c h E r f a h r u n g g e w o n n e n e V e r n u n f t — „ V e r 62 Ein klassisches Beispiel dafür, wie der marxistische Ansatz einerseits verarbeitet und andererseits gleichwohl kritisiert werden kann, findet sich in Hellers Staatslehre, 1934, vgl. S. 112 f., 166 ff. bzw. 212 ff. 63 Konsens muß erzielt werden, obwohl die Rechtspraxis unter Entscheidungszwang steht und Konflikte lösen muß. Die Verfahren der Konsensbildung, die Konstitutionsbedingungen des Konsenses, z.B. die Mehrheit oder die „herrschende Meinung", „Konventionen" oder die „Vernunft", müssen untersucht werden. Hier bedarf die Verfassungstheorie der Hermeneutik. Gadamer , Wahrheit und Methode, 2. Aufl., 1965, S. 311, kennzeichnet die juristische Hermeneutik als exemplarisch; eine Parallele findet sich bei Popper, insofern er die Konstituierung der Basissätze mit dem Wahrspruch der Geschworenen im Schwurgerichtsverfahren vergleicht (Logik der Forschung, 4. Aufl., 1971, S. 74 f.). 64 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 ff. (bes. 69 ff., 90 ff.); J. R Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, Schweizerischer Juristenverein, 1973, S. 707 ff. — Ein auch sozialwissenschaftlich argumentierender Versuch für das „Recht auf Bildung" ist der Aufsatz von Heymann und Ek. Stein, AöR 97 (1972), S. 185 ff. — Einschlägig sind auch Fragen des Verbraucherschutzes. 65 Vgl. Badura, in: FS für Scheuner, 1973, S. 19 (20), der mit Recht von einer Belehrung der Staats- und Rechtslehre durch den „Materialismus der Politischen Ökonomie" spricht (in bezug auf die Gruppen- und Interessenabhängigkeit des politischen Prozesses), diese „Belehrung" aber zugleich begrenzt: „Die Menschen haben nicht nur Interessen, sondern auch Hoffnungen." 68 s. die Kritik von Willms, Kritik und Politik, 1973, S. 151 ff., 183 ff., an Habermas. — Die pragmatische, mosaikartige „Ansammlung" unterschiedlichster — sich verändernder — theoretischer Ansätze im Kraftfeld der Verfassungstheorie ist für diese notwendig, weil sie das Forum der res publica, d. h. der Menschen und Gruppen, ihr Denken und Handeln in einer bestimmten Epoche ist.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

fassungsvernunft" — wo institutionalisiert ist, wo die Möglichkeit eingebaut ist, Gegen Vernunft zu entwickeln: vor allem nämlich i m Verfahren! Insgesamt muß relativ pragmatisch vorgegangen 67 und gefragt werden, was die jeweilige Theorie für die jeweils verschiedenen Problembereiche der Verfassung hergibt. So können aus dem „Angebot" der verschiedenen Wissenschaftstheorien Einsichten für juristische Probleme gewonnen werden 6 8 . Zur wichtigsten Aufgabe der Verfassungstheorie w i r d es somit, alle materiellen und verfahrensmäßigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß ungehinderte Kommunikation und „öffentliches Räsonnement" i. S. Habermasaber auch i m Sinne Poppers und Alberts , möglich werden. Verfassungstheorié muß insofern i m Verhältnis zu Wissenschaftsund Gesellschaftstheorien selbst „Stückwerktechnik" i. S. Poppers leisten, und zwar auf all ihren Arbeitsfeldern: i m Geschäft der Interpretation ebenso wie bei Verfassungsänderungen. Sie 6 9 w i r d so zur Verfassungstheorie der Stückwerk-Reformen, m i t dem Ziel einer relativ besten zeitgerechten Verfassung der res publica: durch schrittweise Verbesserungen dank der Verfassungsgarantien, die den Theorien die Möglichkeit der Widerlegung geben 70 . Verfassungstheorie hat i m Lichte dieser Theorien ihre Probleme neubzw. gegebenenfalls umzuformulieren — i m stetigen Bewußtsein, daß sie wie jede Theorie ihre Schächen hat, die es zu erkennen und immer wieder zu korrigieren gilt. Verfassungstheorie kann und w i l l nicht beanspruchen, selbst irgend eine A r t von Wahrheitsgarantie zu sein. Sie muß aber sehen, wie sie sich bzw. die res publica für Innovationen offen hält, insbesondere indem sie Pluralität als „rechtspolitische A u f gabe" 7 1 begreift, und wie sie sensible Instrumentarien schafft für die Vermeidung ungewollter Reformfolgen.

67 Ggf. auch ohne Übernahme der theoretischen Prämissen, wenn die Probleme transmissibel formuliert sind. Die Lernbereitschaft der Verfassungstheorie kann gar nicht groß genug sein. 68 Anders die geistvolle Zuspitzung von W. Henke, Die Lehre vom Staat, Der Staat 12 (1973), S. 219 (224f.): „Dies Verfahren (sc. der Begriffs- und Theoriebildung) findet sich nicht bei Popper oder bei Opp, auch nicht bei Kant oder Hegel oder Habermas, sondern — bis auf bessere Zeiten — bei Sattelmacher." 69 Die Verfassungswissenschaft ist (politische) Handlungswissenschaft par excellence (Wieacker, JZ 1957, S. 701 [704, 706] qualifiziert die Jurisprudenz als Lehre von der Ethik des Handelns; s. auch ders., Hermeneutik und Dialektik 2 [1970], S. 311 ff., bes. S. 319 f.; Maihof er, in: Rechtstheorie [Hrsg. Jahr/ Maihof er], 1971, S. 427 [431 f.]: Rechtswissenschaft als Handlungs Wissenschaft). 70 Zuletzt Popper, Objektive Erkenntnis, Ein evolutionärer Entwurf, 1973: Laßt „Hypothesen anstelle von uns selbst sterben" (S. 271, 274, s. auch S. 140). 71 H. F. Zacher, Der Staat 9 (1970), S. 161 ff.

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

2. Praktische Verfassungstheorie

als kritische

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Instanz

Praktische Verfassungstheorie muß aber auch kritische Instanz gegenüber Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien sein: Da diese heute unversehens zu politischen Programmen (gemacht) werden können — sie unterliegen dabei einer „Gefährdungshaftung" — muß Verfassungstheorie möglichst früh jede neue Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, erst recht jede neue Ideologie, kritisieren und relativieren! Darin bewährt sie sich wissenschaftlich und politisch 72 . Absolutheitsansprüche einzelner Theorien müssen von vornherein auf dem Weg über A r t . 5 Abs. 3 GG, das Demokratiepostulat (Minderheitenschutz!), wegen der offenen Struktur von Verfassungssätzen und der menschlichen Subjektivität zurückgewiesen werden: nicht zuletzt m i t Hilfe von Teilaspekten anderer Theorien 73 . Dieser Auftrag der Verfassungstheorie kann gar nicht überschätzt werden: Denn Theorien werden wie kaum je zuvor heute auf ihre praktische Tauglichkeit h i n geprüft, d. h. politisch eingesetzt. Wo dies noch nicht geschieht, sollte die Verfassungstheorie schon jetzt bedenken, wohin bestimmte Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien praktisch-politisch führen könnten. Sie muß „antizipieren" ünd auf die Folgenverantwortung hinweisen 74 . Verfassungstheorie lebt vom M i t - und Gegeneinander, von Konsens und Dissens, von Konvergenz und Divergenz vieler Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien! Eben dadurch w i r d sie zeitgemäß. Ihre unabdingbare pluralistische Struktur 7 5 sorgt dafür, daß insgesamt genügend kritisches Potential gegenüber den einzelnen Theorien vorhanden bleibt 7 6 . 72 Wissenschaft und Politik sind ja keine „eigenen Bereiche", sondern nur verschiedene Aspekte menschlichen Handelns. Vgl. Popper (zit. nach Flohr, a.a.O. [s. Anm. 47], S. 65): Wissenschaftliche Objektivität ist „nicht das Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers, sondern das Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode". — Kritischen Pluralismus muß es in Wissenschaft und Politik geben, oder es gibt ihn überhaupt nicht! Wissenschafts- und Sozialtheorien müssen frei konkurrieren können. — Gegen eine „zu enge Anseilung" der Politikwissenschaft an die Verfassung: Bull, JZ 1974, S. 160 (164). 73 Poppers Umkehrung der Hegel „Vermehre Glückseligkeit" in die „Negativregel" „Vermindere Leiden" ist ergiebig für Grund und Grenze einer Verfassungstheorie des sozialen Rechtsstaates als Leistungsstaat. 74 Eine scheinbare Paradoxie besteht darin, daß eben die Verfassungstheorie kritische Instanz sein soll, die selbst der wissenschaftstheoretischen „Vorarbeit", der Innovation durch Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien bedarf und insofern „lernbereit" sein muß. Sie schreibt sich selbst ja gerade mit Hilfe der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien in Gegenwart und Zukunft fort. Das ist jedoch kein wirklicher Widerspruch. 75 Vgl. noch Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Hrsg. Adorno u. a., 1972, S. 103 (112 f.), sowie oben, Anm. 57 a. E., und jetzt Objektive Erkenntnis, 1973, S. 26 ff., 94 f., 139 f., 172 ff., 233, 292, 327 f. 76 Jede „Theorie der Rechtsgewinnung" (Kriele, 1967, kritisch zu dessen „vernunftrechtlichen Interessenberechnung": F. Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 83 ff.), Rechtsgewinnung im Wege der Interpretation oder der parla-

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Verfassungstheorie muß ja alle Menschen und Gruppen, alle Ideen und Interessen, Hoffnungen und Wünsche eines bestimmten Gemeinwesens i n einer bestimmten Zeitepoche umgreifen, und sei es als Rahmen für erkannten Dissens (Legitimierung der politischen Ordnung). I n dem Maße, wie viele unterschiedliche gesellschaftspolitische Vorstellungen i n einer konkreten Verfassung einen Kompromiß eingegangen sind, muß sie auch für alle tragbar und erträglich sein. Denn die Bürger müssen sich i n Freiheit m i t ihrer Verfassung identifizieren können. Das ist der soziale und anthropologische Ansatz. Dieser Kompromißcharakter der konkreten Verfassung setzt sich i n der Verfassungstheorie fort. Er ist nicht nur Not, sondern Tugend. Dieselbe Idee liegt dem alten Gedanken der „gemischten Verfassung" zugrunde. Die demokratische Verfassung m i t ihrem Mehrheits/Minderheitsmechanismus, ihren Grundrechts- und Verfahrensgarantien, ihrer Alternativenoffenheit, lebt davon, daß kein Gesellschaftsmodell als einzig richtiges, „absolutes" festgemacht w i r d 7 7 , daß es zu keinen Formen einer „Herrschaft der Gesellschaft" kommt. Darum muß Verfassungstheorie Totalitätsansprüche von Gesellschaftstheorien abwehren, so sehr sie ihrerseits gesellschaftspolitisch bedingt ist. Wo die „offene" Gesellschaft i n Frage gestellt wird, muß Verfassungstheorie Einhalt gebieten. Jede Theorie kann nur — revidierbare — Teile insichten vermitteln 7 8 — wenn man w i l l , ist dies ein „Basissatz" der hier ins Auge gefaßten Verfassungstheorie. Verfassungstheorie w i r d zum Forum für Konfrontation und Integration von Gesellschafts- und Wissenschaftstheorien angesichts praktischer Probleme 79 . Dieses Forum hat selbst keinen unveränderlichen Standard mentarischen Rechtsetzung, setzt Datengewinnung voraus und verlangt Prognoseinstrumente. Auch hierfür muß wissenschaftstheoretische Vorarbeit geleistet werden: insbesondere durch die Informationstheorie (Kritik bei Popper, Objektive Erkenntnis, S. 75 f., 369 ff., 377). Die Dringlichkeit liegt seit Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971, auf der Hand. 77 Die offene Verfassung selbst verbietet solche Totalitätsansprüche und Methodenmonopole: Sie ist die Verfassung praktizierter Toleranz. Einzelne Verfassungssätze sind zwar ein Stück „geronnene" Gesellschaftstheorie ihrer Entstehungszeit, aber sie fügen sich nicht zu einer einzigen, obersten Theorie zusammen. (Wichtig Adornos polemischer Satz: „Das Ganze ist das Falsche.") Überdies sind sie wandlungsfähig. Die Freiheitlichkeit von Verfassungen besteht eben darin, daß sie sich nicht auf ein bestimmtes Gesellschaftsmodell festlegen (können). Wo dies erfolgt, geschieht es nach bisheriger geschichtlicher Erfahrung auf Kosten der Freiheit. „Kritik" muß sich nicht ex definitione gegen das Bestehende richten, es kann dies auch gegen Künftiges schützen! s. noch bei Anm. 109. 78 Verfassungstheorie muß ein Definitionsmonopol einzelner Wissenschaften verhindern. — Zu Kennzeichen einer „offenen Gesellschaft" Popper, zuletzt in : Objektive Erkenntnis, S. 333 (demokratische Regierungsform, Vereinigungsfreiheit, Bildung freier Subsysteme, die alle verschiedene Meinungen haben). 70 Dabei sei zugegeben, daß eine solche — wahrlich nicht anspruchslose — Verfassungstheorie erst noch zu entwickeln ist. Doch sind Umrisse dank der oben (in und bei Anm. 15 - 21) zitierten Arbeiten erkennbar, s. die Forderung

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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— es i s t j a e i n S t ü c k Geschichte — es l e b t gerade v o n d e r d u r c h A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t d e n T h e o r i e n e r f ü l l t e n O f f e n h e i t , aber es i s t doch d i e — ö f f e n t l i c h e — B ü h n e ! A u c h s i n d K o n v e r g e n z e n a u f d e r F o l i e der V e r f a s s u n g s t h e o r i e deshalb besser sichtbar, w e i l h i e r ideologische V e r härtungen u n d Frontstellungen leichter relativiert w e r d e n können. I m ü b r i g e n erschließen sich a u f diese Weise F e l d e r f ü r „ d i f f e r e n z i e r t e " f u n k t i o n a l e K o o p e r a t i o n zwischen Hechts- u n d Sozialwissenschaften 8 0 . F r e i l i c h s i n d die Gesellschafts- u n d Wissenschaftstheorien zu einer „ k o n z e r t i e r t e n A k t i o n " ü b e r Verfassungsfragen erst noch zu z w i n g e n i. S. des hic Rhodos hic salta 81. Gesellschaftstheorien d ü r f e n die Verfassungst h e o r i e j e d o c h n i c h t ü b e r w u c h e r n 8 2 . V e r l i e r t diese i h r e steuernde K r a f t , ist es u m F r e i h e i t u n d O f f e n h e i t geschehen. Diese k r i t i s c h e u n d (an)leitende F u n k t i o n d e r p r a k t i s c h e n Verfassungst h e o r i e i s t h e u t e u m so w i c h t i g e r , als die ü b e r k o m m e n e n S t a a t s t h e o r i e n u n g l a u b w ü r d i g g e w o r d e n sind, sich d e n h e u t i g e n Wissenschafts- u n d G e sellschaftstheorien gegenüber n i c h t gewachsen zeigen, u n d als d e r S t a a t selbst n u r noch e i n T e ü a s p e k t der v o n d e r V e r f a s s u n g k o n s t i t u i e r t e n res publica ist. D e m p o l i t i s c h e n u n d wissenschaftlichen N i e d e r g a n g des Staatsbegriffs, g r e i f b a r e t w a i m N i e d e r g a n g d e r S t a a t s z w e c k l e h r e n 8 3 , von Bachof, VVDStRL 30 (1972), S. 193 (217), für Verwaltungsrecht und Jurisprudenz die Sozialwissenschaften wieder stärker zu berücksichtigen. Friauf, V V D S t R L 27 (1968), S. 111 empfiehlt, wieder stärker die Breite der alten Staatswissenschaft anzustreben, s. auch Ipsen, AöR 97 (1972), S. 375 (409): Die Staatsrechtslehre habe die Verantwortung, beizeiten den Verfassungsrahmen zu verdeutlichen (gegenüber den Wirtschaftswissenschaften); S. 376f.: Sicht des ganzen Staates in seiner Rechtsgestalt, seiner historischen Lage, seinen sozialwissenschaftlich begreifbaren Strukturen. — Oppermann, JZ 1967, S. 721 (725 ff.): „Staatswissenschaftliche Orientierung des öffentlichen Rechts". 80 Von „Vernetzungspunkten zwischen der Rechtswissenschaft und den Sozialwissenschaften" spricht Suhr, Rechtstheorie 3 (1972), S. 149 (160), der die von Popper konzipierte Hauptaufgabe der theoretischen Sozialwissenschaften („Feststellung unbeabsichtigter sozialer Rückwirkungen absichtsgeleiteter menschlicher Handlungen") auf die Verfassungstheorie hin formuliert: Verfassung und Verfassungspraxis dürfen nicht zu einer suicidal constitution führen, Verfassunggebung als der Versuch, die prozeßhafte politische und gesellschaftliche Situation eines Gemeinwesens in einer möglichst dauerhaften und sich selbst erfüllenden Weise zu definieren. Wenn Suhr trotz Popper sich zur Dialektik bekennt („Das gesellschaftliche Sein ist in sich widersprüchlich", S. 149), so ist dies ein Beleg für die Gleichzeitigkeit verschiedener wissenschafts- bzw. gesellschaftstheoretischer Konzeptionen. 81 Verfassungsrechtspraxis, der die Verfassungstheorie zuarbeiten muß, steht — im Gegensatz zu Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien — unter Entscheidungszwang, wie der Richter (dazu BVerfGE 34, S. 269 [291 f.]). 82 W. Henke, a.a.O. (s. Anm. 68), S. 219, beklagt, in einer Euphorie des Sozialen sei die Gesellschaft im Begriff, sich vom Staat zu befreien, indem sie ihn verleugnet. Gegen die Dominanz eines alles absorbierenden Gesellschaftsbegriffs: H. Maier, Bergedorfer Protokoll Nr. 41, 1972, S. 7. 83 Dazu Hespe, Zur Entwicklung der Staatszwecklehren in der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, 1964. — s. jetzt Saladin, der beispielhaft wirtschaftswissenschaftliche Probleme in die Verfassungstheorie inte-

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

entspricht ein übermächtiges Vordringen der Gesellschaftstheorien 84 ; i h m ist durch die Verfassungstheorie zu steuern, die den als Teil der res publica unverzichtbaren Staat konstituiert. Soweit ersichtlich haben die Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien den Rang der Verfassung bislang noch nicht so thematisiert, wie i h r das allgemein zukommt 8 5 . griert: Wachstumsbegrenzung als Staatsaufgabe, in: FS für Scheuner, 1973, S. 541 ff. Ein Überblick über „Fragestellungen und Methoden" im Blick auf Allg. Staatslehre bei Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 4. Aufl., 1974, S. 1 ff. — Mit Recht wendet sich H. Maier, SZ Nr. 121 v. 26./27. 3. 1973, gegen die Formel „je weniger Staat, desto mehr Demokratie" und erinnert an die Rechtsmacht des Staates als unentbehrlichen Bestandteil demokratischer Freiheit. 84 ζ. B. bei Luhmann, Politische Verfassungen im Kontext des Gesellschaftssystems, Der Staat 12 (1973), S. 1 (5): Rückkehr zu einer Theorie des umfassenden Gesellschaftssystems, das den Staat „nicht außer sich, sondern in sich hat". Problematisch ist auch seine Qualifizierung von Politik und Verwaltung als „eigengesetzliche (!) Großsysteme" (S. 10). Zu pauschal ebenda, S. 21: „Das Verfassungsrecht ist nach all dem kein Planungskonzept, es enthält . . . nicht den Entwurf einer guten Gesellschaft, einer Zukunft, die es zu wählen gälte." — Verfassung bietet jedoch auch planerische Aspekte, vgl. etwa Badura, a.a.O. (s. Anm. 65), S. 33. 85 Luhmann, a.a.O. (s. Anm. 84) : „Eine Verfassungstheorie, die dem Entwicklungsstande soziologischer und politischer Systemanalyse entspräche, ist ein noch unerfülltes Desiderat" (S. 2). „Der juristische Gehalt einer Verfassung liegt in dem, was sie auszuschließen (!) sucht" (S. 3) — die Abwehr von M i ß brauch ist aber nur ein Aspekt! Entgegen Luhmann sind die Verfassungsverständnisse von Smend, Heller, Schindler, Schmitt mehr als bloße „Formalbestimmungen" des Verfassungsrechts (S. 1). Da die Wirklichkeit der Verfassung bei dieser Sicht vor den Toren der Verfassung bleibt, läßt sich leicht von einer Art „Geltungsschwund" (S. 3) sprechen. Dessenungeachtet vermittelt Luhmann dann doch wichtige Fragestellungen, ζ. B. für die Eigentumsgarantie bzw. das Verhältnis von Politik und Wirtschaft (S. 14 ff., bes. 16 f.). Gegen seine Systemtheorie (Kritik bei Schwerdtner: Rechtstheorie 2 [1971], S. 66 ff. [73]; Bull, JZ 1974, S. 160 [163 f.]) ist dank „transformierter" liberaler Verfassungstradition (L., S. 4, kann die Sozialstaatsklausel nur als „unsystematisches Einschiebsel" ansehen!) und mit Hilfe von Einsichten des kritischen Rationalismus und der Hermeneutik vorzubringen: Sie ist nur verbal weltoffen. Der Preis für ihren Universalitätsanspruch liegt in ihrem technisch-formalen Charakter, der nicht den ggf. notwendigen Widerstand gegen Inhumanität leistet, die Inhalte von Verfahren etwa werden bei L. beliebig, es kommt zu einer „interessenblinden" Institutionsdarstellung (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 209). Bei L. hat die Folgenverantwortung und Zukunftsorientierung des Interpreten, die empirisch nachweisbar und theoretisch begründbar ist, keinen Platz (s. a.a.O., S. 20: „Der rechtliche Entscheidungsprozeß ist auf der Stufe der Normanwendung stehen geblieben. Er leistet keinen eigenständigen Beitrag zur Rechtspolitik"). L.s Systemtheorie droht unversehens zur Rechtfertigungsideologie zu werden. Die Rückkoppelung zu innovationsbewirkenden Instanzen und Figuren wie Öffentlichkeit, Pluralität, Konflikt fehlt. Nach L. dienen die Grundrechte der Aufrechterhaltung und Stabilisierung des gesellschaftlichen Differenzierungsgrades (Grundrechte als Institution, 1965, S. 22 ff.). Unerwähnt bleibt dabei, daß ohne Interpretation der „Wirklichkeit der Grundrechte" der bestehende soziale Differenzierungsgrad gar nicht definiert werden kann. Überdies ist der Differenzierungsgrad keine konstante, sondern eine offene Größe. Die Horizonte der Möglichkeiten künftiger Wirklichkeit bleiben in L.s im Ergebnis konservativer sozialtechnologischer Gesellschaftstheorie verdeckt, der status quo wird nicht durch greifbare Alternativen verunsichert. Der in seiner Informationsverarbeitungskapazität aus anthropo-

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3. Verfassung als Gegenstand der Wissenschaftsund Gesellschaftstheorien Angesichts des Niedergangs der Staatstheorie und des Aufstiegs vielfältiger Gesellschaftstheorien, die sich mancherlei Übergreifendes anmaßen und den Staat weginterpretieren, besonders unter dem Titel „Gesamtgesellschaft", ist es an der Zeit, die Verfassung i n den Mittelpunkt zu rücken. Sie ist die Ebene, auf der und über die verhandelt werden muß. Sie ist das Forum interdisziplinärer Zusammenarbeit 88 und offen für „Zubringerverkehr". Sie und nicht primär „der Staat" oder „die Gesellschaft" muß zum Rahmen, Gegenstand und Prüfstand insbesondere auch der Methodenkontroversen gewählt werden. Weder darf das, was „Verfassung" verfaßt, zu einem Subsystem der Gesellschaft neben vielen anderen degradiert, noch darf Verfassung überhaupt ignoriert werden. Wissenschaftstheorie muß „durch Verfassungstheorie hindurch" betrieben werden, um so mehr, als diese der Rahmen für die Konkurrenz von Ideen und Interessen ist, die Wissenschaftstheorie erst ermöglicht. Totalitäts- oder Vorherrschaftsansprüchen von Gesellschaftstheorien ist von der Verfassungstheorie aus a limine entgegenzutreten. Gewiß: Verfassung ist auch Ausdruck (Produkt) gesellschaftlicher Verhältnisse, aber sie ist es nicht nur: Sie steuert auch gesellschaftliche Entwicklungen 8 7 und bietet Schutz gegen gesellschaftliche Übermächtigkeit. Nur unter diesem Vorbehalt ist Verfassungstheorie auch Gesellschaftstheorie. Verfassungstheorie besitzt relative Autonomie gegenüber den Gesellschaftstheorien 88 . Insgesamt: So sehr also die Verfassungstheorie das Naturrecht entbehren kann, wie kaum je zuvor hat sie heute dank der wissenschafts- 88a logischen Gründen (zu) begrenzt eingeschätzte Bürger wird zu wenig gefordert, etwa i. S. des status activus processualis. 88 Ansätze bei W. Schmidt, Rechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft, in: Grimm (Hrsg.), a.a.O. (s. Anm. 48), S. 89 (96): „Verfassungstheorie ist verfassungsbezogene Gesellschaftstheorie". 87 Zu „einer gesellschaftsbezogenen und zukunftsweisenden Aufgabe" und Funktion der Verfassung jetzt Badura, a.a.O. (s. Anm. 65), S. 24. 88 Einseitig ist daher Willms y These (a.a.O. [s. Anm. 66], S. 161), politisch gesehen sei „Staat oder staatliche Funktion die gründende Voraussetzung und Garantie aller gesellschaftlichen Entfaltung" und d. h. auch gleichzeitig die „Voraussetzung allen subjektiven Selbstbewußtseins". Damit wird der Staat zu einem Subjekt über der Gesellschaft, einer Institution über den Menschen hinaufstilisiert. Indes: I n der Mitte müssen die Institutionen stehen, die sich der Mensch in Staat und Gesellschaft geschaffen hat: nämlich die Verfassungsinstitutionen. 88a Eine gute „Einführung in die Wissenschaftstheorie" geben die beiden gleichnamigen Bände von H. Seiffert, Bd. 1, 6. Aufl., 1973, Bd. 2, 4. Aufl., 1972, freilich ohne dem kritischen Rationalismus voll den angemessenen Stellenwert einzuräumen. — Ein Beispiel dafür, wie sich Einzelwissenschaften der heutigen Herausforderung stellen, ist der Aufsatz von W. J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft in der modernen Industriegesellschaft, V J H Z G 22 (1974), S. 1 ff. C Verfassung

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

und gesellschaftstheoretischen Herausforderung angesichts der interdisziplinären Kooperationsmöglichkeiten eine Chance. Sie sollte rasch genutzt werden, damit sie normierende K r a f t entfalten und zur „ W i r k l i c h keit der Verfassung" Entscheidendes beitragen kann. Demokratische Verfassungstheorie ist es, die den Verfassungsgedanken als solchen attrakt i v halten kann und muß. V. Ansätze zu einer Verfassungstheorie der Verfahren und praktischen Alternativen Die bisherigen Überlegungen machen Verfahren und Alternativen, Verfahren für Alternativen zum Hauptproblem der Zukunft des demokratischen Verfassungsstaates. Uber Alternativen vermag die Verfassungstheorie der Zeitproblematik gerecht zu werden 8 9 , i m Ergebnis müßte es zu Konvergenzen zwischen den verschiedenen Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien i m Rahmen der Verfassungstheorie kommen, weniger i n den theoretischen Ausgangspunkten als i n praktischen Handlungsanweisungen. 1. Das relative M i n i m u m an materialen Inhalten, das für eine offene Ordnung wie das freiheitliche Gemeinwesen des GG kennzeichnend ist, muß sein Gegenstück finden i n einer Vielzahl von — öffentlichen — Verfahren, ζ. B. i n parlamentarischen und Planungsverfahren, i n grundrechtsrelevanten Verfahren, Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sowie i n den existenziell gewordenen wissenschaftlichen Verfahren 9 0 . Verfahren sind Faktoren und Ergebnisse gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse, die auch Auseinandersetzung realer Interessen sind. Speziell die Funktion prozessualer Grundrechte muß i n diesem Rahmen bestimmt werden. 2. Die Verfassung ist daraufhin zu untersuchen, welche Anforderungen sie ihrer Offenheit wegen an Verfahren stellt und stellen muß. Verfahren eröffnen ja den Weg zu realen Alternativen und sie ermöglichen „zeitgerechte" Interpretationen und Revisionen. Diese Verfahren müssen ständig verbessert werden. Gute „Verfahrenspolitik" w i r d unverzichtbar (Verfassungspolitik als Verfahrenspolitik). 3. Zwischen den einzelnen Verfassungsaufgaben bzw. den Funktionen, die von spezifisch strukturierten Organen erfüllt werden müssen, und den einschlägigen Verfahren bestehen Entsprechungsverhältnisse: Rechtsprechungsaufgaben etwa können nur i n bestimmten Verfahren erfüllt werden, Enteignungsverfahren müssen gewissen prozessualen Mindest89

Dazu mein Beitrag Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff. s. Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), S. 73: „Die Lebensbedingungen der postindustriellen Gesellschaft sind auf die Wissenschaft gegründet". 90

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bedingungen genügen. Der „due process" enthält ein Stück „Verfassungsvernunft" 9 1 . „Gute" Verfahren halten die res publica offen für Innovationen. 4. Von den Verfahren gehen Lernprozesse für die unmittelbar und die vielen mittelbar Beteiligten aus. „Subsysteme" wie Parteien, Verbände usw. lernen dank der Öffentlichkeit aus Verfahren (lernmotivierende K r a f t der Verfahren): Diese stabilisieren nicht nur, sie „entwickeln" auch das politische Gemeinwesen und müssen es verunsichern können. Sie sind insofern ambivalent. Sie entlasten das „System", sie belasten es aber auch (status activus processualis 92 ). 5. Verfahrensrecht ist spezifisches Kommunikationsrecht Verfahren müssen ein Optimum an Kommunikationsmöglichkeiten schaffen, etwaige Verzerrungen i n der Kommunikation 9 3 abbauen, ζ. B. durch das Rechtsgespräch (A. Arndt) zwischen dem Richter und allen Beteiligten — auch dort, wo es „Herren des Verfahrens" gibt. Die Einführung einer Vielzahl von widerstreitenden Interessen und Offenlegung der Erkenntnisquellen muß verfahrenstechnisch gewährleistet sein. Die (Vor-)Verständnissituation unter den Beteiligten sollte i n ihren Implikationen berücksichtigt werden. Die Folgenverantwortung des Richters — greifbar i n der folgenorientierten Verfassungsinterpretation — und vom k r i t i schen Rationalismus als „Kostenfrage" allgemein thematisiert 9 4 — muß tragbar und erträglich gemacht werden. Verfahren besitzen finale Strukt u r 9 6 . Verfahren haben eine Bürger und Gruppen aktivierende K r a f t ; sie ist zu entwickeln durch Ausgestaltung des „status activus processualis". 91 „Vernünftigkeit" i. S. von Esser, a.a.O. (s. Anm. 85), S. 22 f., als Konsensfähigkeit. s. auch den Topos „vernünftige Funktion" in BVerfGE 34, S. 269 (288). 92 Dazu Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.). — Der Richter lernt das materielle Recht wesentlich erst im Verfahren kennen. Hier zeigt sich die Wechselwirkung zwischen materiellem und Verfahrensrecht. I m Verfahren entfaltet sich das Recht. Das Verfahren besitzt offenbar eine rechtsgestaltende Wirkung. Die Wirklichkeit wird wesentlich in Verfahren aufbereitet. Freilich kann diese Aufbereitung unabhängig von (Verfassungs-) Interpretation nicht gedacht werden. Verfahren sind das Ergebnis von Politik und sie geben den Rahmen für Politik. 03 Vgl. die (nur zum Teil berechtigte) Kritik von Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 146: Gerichtliche Kommunikation als „systematisch verzerrte Kommunikation". 94 Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), S. 71; Popper, Rechtstheorie 4 (1973), S. 88 unter b und c. — Zur „Folgenanalyse" Kriele, a.a.O. (s. Anm. 76), S. 167 ff., bes. 172 ff.; Adomeit, ZRP 1970, S. 176 ff. (179); Lautmann, Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, 1972, S. 20. — Zur folgenorientierten Interpretation meine Studie öff. Interesse, a.a.O. (s. Anm. 24), bes. S. 314 f., 454, 686, 711. 95 Diesen Aspekt vernachlässigt Luhmann, wenn er die Justiz als konditional programmiert beschreibt (dazu mit Kritik W. Schmidt, AöR 96 [1971], S. 321 [bes. S. 329 ff.]).

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

6. Die Anlage und jeweilige Ausgestaltung des Verfahrens determiniert und präjudiziert i n erheblicher Weise die Inhalte, die als Resultat hervorgebracht werden. 7. Innerhalb des Interpretations Vorgangs hat der kritische Rationalismus die Arbeit immer neuer „Entdogmatisierung" zu unterstützen. Er hat insofern von Zeit zu Zeit Reinigungsarbeit zu leisten, indem er Dogmen „aufbricht", Dogmen, die sich zu einem juristischen Text, unterhalb oder oft oberhalb dieses Textes ansiedeln, i h n oft genug verdecken und seine Verlebendigung i n neuen Zusammenhängen unmöglich machen. Dogmen tragen nicht nur Rechtssätze, sie begraben sie auch nicht selten! Offene Interpretation muß immer wieder gegen Dogmen geleistet werden. „Offene Interpretation" ist Interpretation, die nach möglichen und nötigen praktischen Alternativen fragt 9 6 . Gewiß bedarf es dogmatischer Strukturen, aber sie müssen auf ihre Haltbarkeit immer neu überprüft werden. Abgesehen davon darf die juristische Dogmatik nicht nur in der juristischen Dogmatik bleiben 9 7 . 8. Der kritische Rationalismus kann Wesentliches dazu beitragen, eine — „radikal-liberale" — Verfassungstheorie zu entwerfen. Sie w i r d eine Verfassungstheorie der und für Alternativen sein (müssen). Sie kann das sein, w e i l Informations- und Wissenschaftsfreiheit i n unserer offenen Verfassung i n einzigartiger Weise geschützt sind; sie bilden das Herzstück der Entwicklung verfassungstheoretischer Fragestellungen. Verfassungstheorie als Verfassungstheorie von Alternativen heißt: Verfassungstheorie hat Institute, Verfahren und Instrumente zu schaffen, aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln, die je nach Lebensbereich den Weg freigeben für praktikable Alternativen; der Weg zu möglichen und nötigen Alternativen 9 8 w i r d institutionalisiert. Als Beispiel 96 Smends vielzitierter Satz (jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 411), „wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, so ist es nicht dasselbe", befreit die Verfassungsinterpretation nicht nur von oft überschätzten sprachlichen Determinierungen, sondern auch von tradierten Dogmen. Zur „offenen Verfassungsinterpretation" mein Beitrag in ZfP 21 (1974), S. 111 ff. 07 Die „Revidierbarkeit" von dogmatisch gestützten Problemlösungen, die Erarbeitung von Alternativen gerade auch innerhalb eines „vorgegebenen" juristischen Textes — das ist eine Aufgabe, bei der der kritische Rationalismus Entscheidendes leisten kann. Vgl. Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), bes. S. 71; eine Entsprechung findet sich bei Lautmann, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 1 (1970), S. 381 (396 ff.): „Phase der Alternativensammlung". — Zur logischen Struktur der Alternative Rödig, Die Denkform der Alternative in der Jurisprudenz, 1969; dazu Schlink und Luhmann, Rechtstheorie 1 (1970), S. 213 ff. bzw. 219 ff. 98 Zum Stellenwert der Alternativen Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), bes. S. 16. — Möglichkeitsdenken ist im Verfassungsrecht ebenso wichtig wie Wirklichkeitsund Notwendigkeitsdenken.

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

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sei genannt: die Informationsfreiheit des A r t . 5 Abs. 1 GG. Sie verhindert Informationsmonopole, die ja unversehens zu Interpretationsmonopolen werden" können. Interpretation aber soll ein stufenweiser arbeitsteiliger Vorgang sein, wie i h n die Entscheidungstheorie nahelegt. Das Offenhalten für nicht etwa nur system konforme, sondern auch für system relevante Informationen 1 0 0 ist die Garantie für die Offenheit einer Verfassung und die sie kennzeichnende Möglichkeit, aus Theorie und Praxis Alternativen zu entwickeln. Sie ist die Garantie für ein Konkurrenzverhältnis von Ideen, Argumenten und Interessen. Das verfassungsrechtliche Prinzip „Öffentlichkeit" ist nicht minder konstitutiv z. B. für den Richter, bedeutet es doch Zwang zu Rationalität. Gleiches gilt für die Begründungspflicht. Die Publizität des verfassungsrichterlichen Minderheitsvotums ist der Versuch einer Institutionalisierung von Alternativen — sie ist eine Vorstufe des Zwangs zum „Rechtsgespräch". Die Demokratie lebt von Wahlen, diese ermöglichen Alternativen 1 0 1 . Die Minderheit kann zur Mehrheit werden; demokratische Opposition ist die Alternative! Entsprechendes gilt für die innerparteiliche Demokratie i. S. des A r t . 21 Abs. 1 Satz 3 GG, die das „Prinzip Alternative" i m Parteiwesen verfaßt. § 73 Abs. 3 GeschOBT — öffentliche Hearings — bringt Informationen und damit auch Interpretationen aus dem Bereich der „offenen Gesellschaft" i n den parlamentarischen, insbesondere den Gesetzgebungsprozeß ein. Auch sie sollen Alternativen ermöglichen, ebenso wie die Alternativplanungen 1 0 2 , die um so wichtiger werden, als die Planung sonst die Offenheit für Alternativen gefährden könnte. A r t . 79 Abs. 1 und 2 GG ist ein institutionalisiertes Verfahren zu Alternativen von Verfassungssätzen selbst 1 0 3 » 1 0 4 . Aufgabe 99

Gegen sie Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), S. 18. Dazu Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), S. 23. 101 Badura, Über Wahlen, AöR 97 (1972), S. 1 (2): „Aus dieser demokratischen Rechtsidee (sc. der sozialen Gerechtigkeit) leitet sich als rationaler Maßstab der Wahlen ab, daß sie eine Methode der Sozialreform sein sollen, der gewaltlosen Evolution des gesellschaftlichen Fortschritts." 102 Dazu: Fragen der Verfassungsreform, Zwischenbericht der EnqueteKommission des Dt. Bundestages, 1973, S. 81. — Es ist symptomatisch, daß das Schwergewicht des Zwischenberichts auf Planungs- und Verfahrensfragen liegt. — Beispielhaft für Entstehen und Erfolg praktischer Alternativen in der Rechtspolitik ist der Alternativ-Entwurf eines StGB, das Roellecke, in: Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 11 (26), mit Recht als „eine der bedeutendsten rechtsphilosophischen Leistungen der Nachkriegszeit" feiert. 103 Die Alternative wird so zum Nenner für die verschiedensten Institutionen und Verfahren bzw. Verfassungssätze: von Art. 5 Abs. 1 GG über Art. 79 Abs. 1 und 2 und 21 Abs. 1 Satz 3 GG zu § 73 GeschOBT. — Von einer „Verfassungstheorie der Alternativen" aus wäre es konsequent, den Begründungszwang für den parlamentarischen Gesetzgeber zu fordern, um dem Informationsbedürfnis der Interpreten entgegenzukommen; auch sollte die Opposition „konstitutionalisiert" werden. 104 „Offenheit der Verfassung" i. S. Hesses, die Pluralismusdiskussion, 100

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

d e r V e r f a s s u n g s d o g m a t i k i s t es, die V o r b e d i n g u n g e n f ü r z u e n t w e r f e n (Möglichkeitsdenken

Alternativen

i m Verfassungsrecht!).

L i b e r a l e Verfassungsidee u n d k r i t i s c h e r R a t i o n a l i s m u s begegnen sich h i e r 1 0 5 . L i b e r a l e s D e n k e n m u ß i n die p o s t i n d u s t r i e l l e Gesellschaft „ t r a n s formiert" werden. Verfassungsvernunft 106 hat i m m e r neu radikal-liber a l e F r a g e s t e l l u n g e n h e r a u s z u a r b e i t e n — ggf. gegen S t a a t u n d Gesellschaft. Diese V e r f a s s u n g s t h e o r i e d e r A l t e r n a t i v e n 1 0 7 ist die Verfassungstheor i e d e r R e f o r m u n d d a m i t auch d e r „ R e f o r m d e r R e f o r m e n "

(Dürig)

106

.

D i e F r e i h e i t des A n d e r s - D e n k e n d e n i. S. Rosa Luxemburgs i s t die F r e i h e i t z u r A l t e r n a t i v e . Sie i s t p r a k t i z i e r t e T o l e r a n z . F r e i l i c h : Z u r F r e i h e i t d e r u n d z u A l t e r n a t i v e n k a n n es k e i n e A l t e r n a t i v e n geben, a n d e r n f a l l s w ä r e d i e „geschlossene G e s e l l s c h a f t " 1 0 9 e t a b l i e r t ! H i e r i s t die T o l e r a n z g r e n z e e r r e i c h t — u n d d a m i t die Grenze, aus d e r e n O f f e n l e -

„transformiertes" liberales Denken haben viele der hier genannten Gesichtspunkte bereits erarbeitet. Aber das hindert nicht, sondern ermutigt eher, sie im Lichte des kritischen Rationalismus wissenschaftstheoretisch in die Verfassungstheorie einzubringen. Luhmann, Der Staat 12 (1973), S. 165 (173) spricht jetzt im Blick auf den Parlamentarismus, der durch Nachfolgebegriffe für die „unbegründbar" gewordene Kategorie der „Repräsentation" besser begründet werden müsse, von ihm als Institution des „Offenhaltens von Möglichkeiten". 105

s. die Hinweise von Albert, a.a.O. (s. Anm. 42), S. 70 ff. — I. S. eines „Pluralismus der Begründungsversuche" kann zudem auf Habermas, a.a.O. (s. Anm. 27), S. 123, „sozialstaatliche Transformation des liberalen Rechtsstaates", Bezug genommen werden, in der das „revolutionäre Moment der Positivierung von Naturrecht in einem langfristigen Prozeß der demokratischen Integration von Grundrechten aufgegangen ist". 106 Die Idee der Gewaltenteilung ζ. B. ist dieser „Verfassungsvernunft" zuzuordnen (Stichwort: Verhinderung von Machtmißbrauch staatlicher- und gesellschaftlicherseits). Die Verfassung institutionalisiert auch die Verfahren zur Konkretisierung von „Gegenvernunft", zur Korrektur tradierter Vernunft, ζ. B. in Art. 79 Abs. 2 GG; s. auch § 30 Abs. 2 BVerfGG. 107 Geklärt werden müssen die „Bedingungsfelder" für Alternativen, ζ. B. die Frage, inwieweit sprachliche Determinierungen der juristischen Kunstsprache vorliegen, die im übrigen nur der Öffentlichkeit wegen erträglich ist (Gemeinplatzproblem). Gemeinplätze sind der Versuch einer Annäherung von juristischer Kunst- und allgemeiner Gebrauchssprache. — Die Institutionalisierung von Verfahren für Alternativen ist zugleich der Versuch, Erfahrungseinengungen zu entgehen. 108 Maunz / Dürig / Herzog, GG, Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 199 (Erg.-Liefg. 1973). — Das Denken in Alternativen darf nicht auf das Entweder-Oder zugespitzt werden; es soll den Weg freigeben zur Tugend des Kompromisses zwischen den Alternativen. 109 s. zuletzt Poppers Kritik an der marxistischen Politik, die nur zur Diktatur einer neuen Klasse geführt habe, während die Fortschritte des Westens in Richtung auf eine klassenlose Gesellschaft und eine Gesellschaft, die freie K r i tik ermöglicht, jeden nicht-marxistischen Beobachter stark beeindrucken sollten (Rechtstheorie 4 [1973], S. 88 f.).

3. Verfassungstheorie ohne Naturrecht

119

gung und Durchsetzung die Verfassungstheorie politisches Ethos und K r a f t gewinnt 1 1 0 .

Nachtrag zu „Verfassungstheorie ohne Naturrecht" (Nr. 3), wiederabgedruckt in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, Darmstadt, 1978, S. 418 ff. Dieser bewußt programmatisch gehaltene Aufsatz verfolgt ein doppeltes Anliegen: Z u m einen sucht er sich von der herkömmlichen Naturrechtsdiskussion (zu ihr jetzt i m Überblick: Ellscheid, Das Naturrechtsproblem i n der neueren Rechtsphilosophie, in: A. Kaufmann / W. Hassemer (Hrsg.), Einführung i n die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 1977, S. 23 ff.) zu lösen, um die Verfassungsrechtswissenschaft den heutigen Wissenschafts-und Gesellschaftstheorien zu öffnen. Zum anderen setzt er sich für das „Alternativendenken" ein, das i n der Folgezeit zum „Möglichkeitsdenken" fortgeführt wurde. Die sich gegenwärtig global entfaltende Menschenrechtsdiskussion und Menschenrechtspolit i k (als „Grundrechtspolitik") steht der Befreiung von traditionellen Naturrechtsverständnissen nicht entgegen. Denn gerade sie muß sich den heutigen Wissenschafts- und Gesellschaftstheorien stellen, insbesondere auch dem Folgen-Problem. Das GG selbst hat i n A r t . 1 Abs. 2 (!) GG eine internationale, globale Dimension der Menschenrechte angelegt (vgl. i m ganzen die Basler Staatsrechtslehrertagung m i t den Referaten von Tomuschat und R. Schmidt, Der Verfassungsstaat i m Geflecht internationaler Beziehungen, V V D S t R L 36 [1978]). Sie ist ein Strukturprinzip, das den Verfassungsstaat zum „kooperativen Verfassungsstaat" werden läßt (dazu Nr. 17). 110 „Offene Verfassungsinterpretation" (P. Häberle, JZ 1971, S. 145), durch „offene Normen" nahegelegt (zu ihnen: Geitmann, Bundesverfassungsgericht und „offene" Normen, 1971; s. BVerfGE 13, S. 153 [161]; 35, S. 348 [358f.]; BVerwG JZ 1972, S. 204 [206: „Entscheidungsmöglichkeiten, die das Recht in gleicher Weise als vertretbar ansehen kann"]), ist gerade Verfassungsinterpretation im Blick auf mögliche und notwendige Alternativen. Beispiele für Denken in Alternativen: Goerlich, a.a.O. (s. Anm. 10), S. 53 f., 130, 170, 183 f.; Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, 1970, S. 353; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 182; W. Schmidt u. Krüsselberg, in: Grimm (Hrsg.), a.a.O. (s. Anm. 48), S1. 93 f. bzw. 177 f., 190. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S>. 148 spricht von „alternativenreichen Rechtfertigungen", die zu einem Normkonsens führen. — Freilich: Die Alternativen-Offenheit hat ihre normativitätsbedingten Grenzen; darum muß es Experimentier- bzw. Reformklauseln geben (dazu mein Beitrag, ZfP 21 [1974], S. 111 ff. [132 ff.]; Pirson, in: FS für Jahrreiß, 1974, S. 181 ff.), sie sind eine Form der Institutionalisierung des Denkens in Alternativen. Zu überlegen wäre auch, ob über Experimentierklauseln ein „Dispens" von Verfassungsnormen möglich sein soll („Vorverfahren" für Verfassungsänderungen!). Voraussetzung wäre eine Änderung des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG; dagegen muß am Erfordernis einer 2/3-Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG festgehalten werden. Dies zu BVerfGE 35, S. 148 (165, 170) — Minderheitsvotum.

120

I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Das Alternativendenken ist auch jüngst vielfältig nachweisbar, ζ. B. im Jahresgutachten 1977/78 des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das am 6. Dezember 1977 i m Bundestag veröffentlicht wurde (vgl. auch „Woche i m Bundestag", 7 / 22 / 7 7 - V 4 1 ) : I n seiner Prognose für 1978 setzt der Sachverständigenrat einer „status-quo"-Betrachtung zwei Alternativen gegenüber. Auch sonst ist i m politischen A l l t a g häufig von „Möglichkeitskatalogen" und „Dringlichkeitskatalogen" die Rede. (s. zuletzt den Modellversuch „Erziehungsgeld" i n Niedersachsen: FAZ vom 25. 3.1978.) Der Beitrag „Verfassungstheorie ohne Naturrecht" aus dem Jahre 1974 wäre wohl von Anfang an besser ausdrücklich mit einem Fragezeichen versehen worden! Denn trotz des „annus mirabilis" 1989 zeigt sich — auch und gerade in Europa, nämlich in Ex-Jugoslawien —, daß bestimmte — glückliche — (kulturelle) Bedingungen erfüllt sein müssen, um verfassungsstaatliche Verfassungen in ihren Prinzipien „selbsttragend" wirken zu lassen. Der verfassungsrechtliche Kulturzustand ist potentiell je immer gefährdet, und die Rückfälle in die Barbarei mitten i n Europa (Stichwort: „ethnische Säuberung") machen die „Reserveinstanz" des Naturrechts unverzichtbar, und sei es auch nur i n Gestalt von Fiktionen: der Naturzustand als „Probierstein der Vernunft" i. S. von I. Kant. Eine sich in die Verfassungslehre einordnende Rechtsphilosophie fragt heute i m übrigen ganz neu nach der „ N a t u r " : i n Form des Problems „Eigenrechte der Natur?" Der Glücksfall der deutschen Wiedervereinigung hat die klassische Frage „Wiederkehr des Naturrechts"? neu belebt (dazu H.-J. Faller, Wiederkehr des Naturrechts?, JöR 43 (1995), S. 1 ff.). Insbesondere die vom B G H zu entscheidenden „Mauerschützen"-Fälle stellen den Gerichten und der Staatsrechtslehre ganz unerwartet die Frage einer erneuten Anwendung der „Radbruch'sehen Formel" (dazu die Gießener Staatsrechtslehrertagung von 1991: „Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vorrechtsstaatlichen Vergangenheit" und zur Eröffnung der Aussprache eben diese Frage des Verfassers: VVDStRL 51 (1992), S. 117 (119 f.), vgl. auch die weitere Diskussion, z. B. R. Alexy, ebd., S. 133 f. Zuletzt H. Lecheler, Unrecht i n Gesetzesform? — Gedanken zur Radbruch'schen Formel, 1993 und F. Saliger f Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995).

4. Verfassungeinterpretation als öffentlicher Prozeß — ein Pluralismuekonzept* Erster Teil: Die verfassungsjuristische Ebene I. Fragestellung und Ausgangsthese Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß oder Verfassungsinterpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung — dieses Programm verknüpft Verfassung und Verfassungsinterpretation m i t „Öffentlichkeit" schon i m Ansatz 1 . These dieses ersten Teils ist: 1. Verfassungsinterpretation soll öffentlicher Prozeß sein. 2. Sie ist „unter" dem GG zum Teil schon öffentlicher Prozeß — so greifbar hier gewisse Defizite sind: als öffentlichkeits- und Pluralismusdefizite 2 . Eine derartige Sicht der Verfassungsinterpretation ist nicht Ergebnis theoretischer W i l l k ü r und persönlicher Beliebigkeit; sie ist vielmehr „angeregt" durch die bisherige Praxis der Verfassungsinterpretation zum Grundgesetz, insbesondere i n bezug auf erkennbar öffentlichkeitsund gemeinwohlbezogene Begriffe 3 , ζ. B. Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit von Bundesregierung (und Bundestag!) 4 , die neuere Diskussion u m Gesetzesbegriff und Gesetzesvorbehalt (Publizität) oder die (grund-) rechtspolitische Kontroverse u m ein neues Lärmschutzgesetz 5 i m Lichte von Grundrechten „als" öffentliche Interessen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) 6 . Verfassungsinterpretation bedarf theoretisch der Erweiterung und Vertiefung u m die Dimension des öffentlichen, weil ihr Gegenstand die * Originalbeitrag. * Gastvortrag, gehalten im Freiburger Hesse-Seminar am 12. 1. 1978. 1 Dazu mein Beitrag: Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. („Verfassung als öffentlicher Prozeß"). 2 Zur neueren Pluralismuskritik: v. Arnim, Gemeinwohl und Grupperiinteressen, 1977, S. 148 ff. (151 ff. m. w. N.). 3 Nachw. in: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim, bes. S. 274 ff., 349 ff., 708 ff. 4 — gerade auch in bezug auf die Öffentlichkeitsarbeit „für" die Verfassung (BVerfGE 44, 125 [147]), s. meine Bespr. von Quaritsch, DVB1. 1978, S. 512 f. 5 s. FR v. 29. 12. 1977; F A Z v. 25. 2. 1978, S. 10; v. 19. 4. 1978, S. 2; zu dem von der BReg. dem BR zugeleiteten Entw. (BR-Drucks. 3/78) s. JZ 1978, S, 110*. 6 Zu diesem Ansatz mein Beitrag, AöR 95 (1970), S. 86 (112 ff.).

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Verfassung der res publica ist und weil die an ihren Vorgängen personal Beteiligten öffentliche Kräfte und „Faktoren" sind 7 . II. Die Durchführung im einzelnen Zwei Fragen bedürfen näherer Erörterung: der hier zugrundegelegte — Begriff von „Verfassung" und die Gestalt ihrer Interpreten (1) — sowie der Begriff von „Öffentlichkeit" (2). 1. „Verfassung"

und ihre Interpreten

a) Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, schließt also die — verfaßte — Gesellschaft ein 8 , — freilich nicht i m Sinne von Identitätsvorstellungen, d. h.: nicht nur der Staat ist verfaßt (Verfassung ist nicht nur ,,Staats-"Verfassung). Dieser weite Verfassungsbegriff umschließt die Grundstrukturen der — pluralen — Gesellschaft, etwa das Verhältnis von gesellschaftlichen Gruppen untereinander bzw. zum Bürger (Toleranz!). Gewiß sind hier über die „ D r i t t w i r k u n g " der Grundrechte, die Prinzipien der allgemeinen Hechtsordnung oder Institutionen zur Verhinderung von Machtmißbrauch (Wettbewerbs- und Kartellrecht!) 9 verfassende Strukturen erst i m Ansatz vorhanden — aber sie sind vorhanden. Das gewaltenteilende Verfassen 10 w i r d eine rechtspolitische Aufgabe. Keineswegs ist nur das „Normengerüst" gemeint. Einzubeziehen sind politische 7 P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.; ders., Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis, in: Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Hechtspraxis, 1971, S. 36 ff. 8 Dazu mein Mitbericht V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (56 f.). Allgemein zu „Staat und Gesellschaft": Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, 1975, jetzt in: Staat und Gesellschaft, hrsg. v. E.-W. Böckenförde, 1976, S. 484 ff.; Ehmke, „Staat" und „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, 1962, jetzt ebd., S. 241 ff. — Zur älteren konstitutionellen Staatslehre: v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1952, jetzt: Suhrkamp 1974. 9 Auch durch die Einbeziehung von Verbänden mit bestimmten, satzungsmäßig festgelegten, „repräsentativen" Verbandsinteressen sowohl in den Verwaltungsvollzug wie ζ. T. auch in das Rechtsschutzsystem (Verbandsklage) rücken Staat und Gesellschaft näher zusammen: Das repräsentierte Allgemeininteresse wird subjektiv-rechtlich geltend gemacht (!), ein für individualistisch-positivistische Verständnisse unbegreifbarer Vorgang. Zur AGB-Verbandsklage: Schlosser / C Oester-W alt j en / Graba, AGBG, K., 1977, § 13 Rdnr. 8 ff. — Zur U WG-Verbandsklage: Β G H Z 41, 314 ff. (318: Materiellrechtlicher Unterlassungsanspruch aus eigenem Recht, nicht lediglich Prozeßführungsbefugnis). 10 s. zur „Entdogmatisierung" der Gewaltenteilungslehre: Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, 1961, jetzt in: Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, hrsg. v. Rausch, 1969, S. 286 ff., bes. S. 298 ff.; P. Häberle, Besprechung Schelsky, AöR 100 (1975), S. 645 (648 f.); VVDStRL 35 (1977), S. 121 f. (Diskussion).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

123

K u l t u r 1 1 und ambiance (D. Schindler), die nicht i m engeren Sinne j u ristischen Anschauungen und Praktiken i n der — konstitutionellen — „Gesellschaft": Man denke an gute oder schlechte Parlamentsbräuche, an Urteilsschelten von Politikern und Journalisten, an Selbstdisziplin der Medien (Fall Schleyer) 12 oder an die Richtlinien für multinationale Unternehmen von 197613. A l l dies strukturiert die offene Gesellschaft ebenso wie Klassikertexte (etwa Montesquieus), Lebensleistungen (etwa Heuss'), Präambeln von Verfassungen und ihre pädagogischen Inhalte. Der Philosophie des „offenen Geistes" gemäß (Popper) läßt die Verfassung Offenheit nach vorn, i n die Zukunft, sie institutionalisiert Erfahrungen (Offenheit nach zurück) und läßt Raum für Entwicklungen des menschlichen Geistes und seiner Geschichte 14 . U m der Würde der Person willen erzwingt sie ein Höchstmaß an Toleranz (— sie erlaubt die Fülle der Sinngebung —), freilich m i t bestimmten „Toleranzgrenzen", die u m so unverzichtbarer werden als sich die Toleranz zu dem Bestandteil des verfassungsrechtlichen Grundkonsensus entwickelt, der als solcher (verfassungs-)rechtlich schwer formalisierbar ist 1 5 . Verfassungsinterpretation ist ein öffentlicher Prozeß, d. h. sie ist ein offener Vorgang und soll ein solcher sein. Geht man von der Innovation und Wandel 1 6 bewußt einbeziehenden offenen Gesellschaft unseres freiheitlichen Gemeinwesens aus, so kommt man zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Sie finden sich, sie finden „zu sich" i n komplexen öffentlichen Prozessen, von denen die konkrete Verfassungsprozesse betreffenden Kontroversen der wissenschaftlichen (juristischen) Öffentlichkeit (und Gemeinschaft) nur einen Ausschnitt bilden. b) Der Begriff „Verfassungsinterpretation u w i r d weit verstanden. Er umschließt neben der üblichen i m engeren Sinne, der juristischen, ins11 Zu den „Natur- und Kulturbedingungen der staatlichen Einheit" s. H. Heller, Staatslehre, 4. Aufl. 1970, S. 139 ff.; zur „Werkgemeinschaft der Kultur" im Kontext sachlicher Integration: Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 45. 12 Vgl. die Dokumentation zu den Ereignissen und Entscheidungen im Zusammenhang mit der Entführung von Hanns Martin Schleyer und der Lufthansa-Maschine „Landshut", 2. Aufl. 1977, Materialien, Schreiben des Regierungssprechers an Chefredakteure mit der Bitte um zurückhaltende Berichterstattung (S. 7* und 40*}, Appell des Deutschen Presserates v. 8. 9.1977 (S. 8*). 13 Dazu: Hopt, Recht und Geschäftsmoral multinationaler Unternehmen, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, 1977, S. 279 ff. 14 Zum Anschluß demokratischer Verfassungsrechtswissenschaft an die „allgemeine" Wissenschaft vom Menschen: P. Häberle, AöR 102 (1977), S. 27 ff. (67 f.). 15 Vgl. dazu: Podlech f Wertentscheidungen und Konsens, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 9 ff. (25) und den Diskussionsbeitrag von Scheuner, ebd., S. 31. 18 Vgl. zuletzt Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1977.

1 2 4 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

besondere durch die Gerichte, die weitere, an der viele aktiv und passiv Betroffene, letztlich alle i m politischen Gemeinwesen beteiligt sind 1 7 . Sie alle verlebendigen das GG i. S. der constitutional law i n public action 18 . Dazu einige Verdeutlichungen: Bewußt w i r d auch die Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne als „Interpretation" bezeichnet. Schon terminologisch soll damit die Brücke geschlagen werden zwischen dem Bürger (als Interpreten) und dem juristischen Fachinterpreten, zwischen dem juristisch relevanten Verhalten (der gelebten Interpretation) des Bürgers und der „gekonnten" und „wissenden" (d. h. rational begründeten und konsenstauglichen) Interpretation des „Zünftigen" und „Berufenen". Das von ihnen gemeinsam erreichte Gesamtergebnis ist pluralistische Verfassungsinterpretation. Die innere Vermittlung zwischen beiden Interpretationsarten w i r d — i n großer sozialer Relevanz und pluralismusförderlich — hergestellt ζ. B. durch den Selbstverständnisbegriff : Die Presse (einschließlich Presserat!), der Künstler, der Wissenschaftler, die Tarifpartner, die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften liefern relevante „Selbstinterpretationen" i m Felde der A r t . 5 Abs. 1 und 2 bzw. 3 sowie A r t . 9 Abs. 3 und A r t . 4, 140 GG für die verfassungs juristische Interpretation dieser Bestimmungen 19 . Die Vielzahl (pluralistischer) Selbstverständnisse muß freilich i n das gemeinschaftliche Verständnis der ganzen res publica eingebunden sein. Dabei sind die Selbstverständnisse konstituierende Elemente. Das Verständnis, das die Bürger und Gruppen von ihrem Gemeinwesen haben, ist insofern die „wahre Verfassung des Landes". Dieses Verständnis ist nicht primär juristischer Natur — denn die Mehrzahl der Bürger sind Nicht-Juristen. Und eben daraus folgt die Relevanz der Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne, eben darum bedarf es des Muts zu einer Präambel wie i m Endgültigen Verfassungs17 P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. — Der Verfassungsinterpretation im weiteren Sinn entspricht die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (und umgekehrt). Zu fragen ist daher, ob nicht enge (vereinseitigende) Interpretationsvorstellungen von geschlossenen Gesellschaftsmodellen (-theorien) ausgehen (dies wäre ζ. B. bei einer anonymen, amtlich-verbindlichen Verfassungsund Gesetzeskommentierung der Fall). 18 Nun könnte man einwenden, daß weite Bereiche des Lebens „unter" der Verfassung aus dem Zusammenspiel zwischen Verfassungsinterpreten im engeren und weiteren Sinne deshalb herausfallen, weil zwischen dem bloß Verfassungs konformen, das vielgestaltig ist, und dem Verfassungs geforderten klar zu unterscheiden ist (P. Häberle, AöR 98 (1973), S. 119 (131 f.); 100 (1975), S. 333 (336). Indessen sind nähere oder fernere Verfassungsbezüge apch bei dem „bloß" Verfassungskonformen erkennbar. 19 Darum ist es auch konsequent, daß in den Achten Bitburger Gesprächen über „Kunst und Recht" neben den Staatsrechtlern Scheuner und Knies der Düsseldorfer Künstler Joseph Beuys referierte (FAZ vom 13. 1. 1978, S. 6).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

125

entwurf der Schweiz (1977). Aufklärerischer Optimismus und Symbolcharakter der Verfassung schließen sich nicht aus. Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne von der i m engeren (personal akzentuierten) Sinne zu unterscheiden, sie aber zugleich zusammenzuführen, bedeutet: Man macht m i t den Grundrechten aller und der pluralistischen Demokratie theoretisch wie praktisch ernst. Die Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne sind die grundrechtlich (grundrechtstheoretisch) und demokratisch (demokratietheoretisch) legitimierten Interpreten i n der Bürgerdemokratie. I m pluralistischen Gemeinwesen muß ihr Kreis theoretisch und praktisch i n den der juristischen Interpreten (im engeren Sinne) hinein offen sein 20 . Es wäre fragwürdig, die Gesellschaft der Verfassungsinterpreten i m engeren Sinne geschlossen 21 , den Kreis der Interpreten i m weiteren Sinne aber offen zu halten und beide von- und gegeneinander abzugrenzen. Schon die Person des ehrenamtlichen Richters (Handels- und Arbeitsrichters, Schöffen und Geschworenen), des ehrenamtlich i n der Verwaltung tätigen Bürgers (§§ 81 ff. VwVfG) 2 2 , der „sachverständig", aber nicht Jurist ist, führt beide A r ten von Interpreten zusammen bzw. dient der Öffnung der Gesellschaft der Verfassungsinterpreten i m engeren Sinne und der gemeinsamen Arbeit aller an der Verfassung. Die Urteilsformel „ I m Namen des Volkes" gewinnt dadurch einen tieferen Sinn. Tiefgründige Beispiele für die Verknüpfung beider Interpretationsarten und Interpreten liefern die Erfahrungen 23, die ein Volk i m Laufe seiner Geschichte m i t sich und seinen Institutionen macht und (selbstverständnishaft) der eigenen Rechtskultur vermittelt (Beispiel: die Ver20 s. auch die pluralistische Tendenz in neueren (Leistungs-)Gesetzen: § 29 BNatSchutzG (Mitwirkung von Verbänden bei Naturschutz und Landschaftspflege); §§ 11 a ff. AbfallbeseitigungsG (Betriebsbeauftragter für Abfall, der vom Betreiber der Anlage (!) zu bestellen ist, § 11 c); § 51 BImSchG: „Anhörung beteiligter Kreise" ; §§ 53 ff. BImSchG (Betriebsbeauftragter für den I m missionsschutz). 21 Zu Verengungen wegen des (neo-)marxistischen Ansatzes bei Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, 1970, meine Kritik: AöR 100 (1975), S. 333 (335 ff.). Vgl. noch Hartwichs Reformulierung in FS für G. von Eynern, 1977, S. 137 ff. 22 Zur Mitwirkung des Volkes an der Verwaltung durch Deputationen der Hamburger Fachbehörden s. den gleichnamigen Beitrag von Bull, in: FS für Ipsen, 1977, S. 299 ff. 23 Zur „Erfahrung als Rechtsquelle" s. das gleichnamige Werk von Lüderssen, 1972, bes. S. 68 ff.: zur empirischen Seite des allgemeinen Werturteils. — Erfahrungen werden nicht nur bei der Interpretation, sondern auch bei der Verfassungs- und Gesetzgebung relevant; s. ζ. B. die, auf historischen Erfahrungen beruhende, Voranstellung der Grundrechte (vor den organisatorischen Teil) im GG. s. auch die Feier des 25jährigen Bestehens der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus . . . , 1977: „Weimar als Erfahrung und Argument." — „Erfahrung" wird zur Kontextgröße. Zum „Kontext": BVerfGE 46, 43 (54 f.).

1 2 6 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

fassungstradition der USA). Die historische Dimension des Menschlichen 24 w i r d über Erfahrung eingebracht: über Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne. Z u denken ist ferner an die wandlungsfähigen Begriffe wie „öffentliche Sicherheit und Ordnung", die konsensfähig bleiben müssen 25 . Es wäre zu wenig, die viel zitierten „gesellschaftlichen und politischen Wandlungen" 2* dieser offenen Begriffe nur als solche zu sehen und zu bejahen. Die gesamtgesellschaftlichen Vorgänge, i n die das Recht als law i n action eingebettet ist, blieben sozusagen „vor" der juristischen Interpretation, i h r gegenüber äußerlich. Sachlich und funktionell, auch personell sind sie aber ein Teil von ihnen. Sie liegen nicht „vor den Toren der Jurisprudenz". Interpretationstheoretisch läßt sich eine Theorie des sozialen Wandels bzw. der Zeitfaktor nur über „Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne" dem Recht vermitteln. A u f diesem Weg können Erkenntniselemente der Rechtstatsachenforschung („Recht und Leben") oder sogenannte Normbereichsanalysen 27 bzw. die Wirklichkeit außerjuristischer Lebensprozesse innerlicher als bisher der juristischen Interpretationslehre zugeführt werden. Auch die Entwicklung „ungeschriebenen Verfassungsrechts" als gelebten, materiellen Verfassungsrechts wäre ohne die Verklammerung von Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinne nicht erklärbar. Für das GG ist „Parallelwertung i n der Laiensphäre" nicht unwesentlich 28 . 24 Zum menschenrechtlichen Gehalt der Grundrechte etwa beim Problem der Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen: BVerfGE 21, 362 (369 ff. bzw. S. 371): „Bezug zum Menschen". 25 Vgl. BVerfGE 34, 269 (288 f.) : „Die Norm steht ständig im Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt besonders, wenn sich zwischen Entstehung und Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen so tiefgreifend geändert haben wie in diesem Jahrhundert. Einem hiernach möglichen Konflikt der Norm mit den materiellen Gerechtigkeitsvorstellungen einer gewandelten Gesellschaft kann sich der Richter nicht mit dem Hinweis auf den unverändert gebliebenen Gesetzeswortlaut entziehen; er ist zu freierer Handhabung der Rechtsnormen gezwungen, wenn er nicht seine Aufgabe, „Recht" zu sprechen, verfehlen will. Zum anderen stoßen, wie die Erfahrung zeigt, gesetzgeberische Reformen gerade dann auf besondere Schwierigkeiten und Hemmnisse, wenn sie zu Änderungen eines der großen Gesetzgebungswerke führen sollen . . . " (Hervorhebung vom Verf. Ein Beisp. für Kontext-Argumentation). 26 Man denke an den Wandel vom Verbot der „Sünderin" (H. Knef) in den 50er Jahren bis zur Freigabe Pasolinis „120 Tage von Sodom" (1978). — Zu den „soziologischen und ideologischen Differenzen zwischen Recht und Gesellschaft" vgl. Wege, Positives Recht und sozialer Wandel im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1977, S. 70 ff. 27 F. Müller, Juristische Methodik, 2. Aufl., 1976, z. B. S. 117 ff., 120 f., 180 ff. — s. auch seine Unterscheidung zwischen den allgemeinen Vorverständnissen und den besonderen juristischen Vorverständnissen, S. 137, 279. 28 Vgl. Hans F. Zacher, Was können wir vom Sozialstaatsprinzip wissen?, in: FS für Ipsen, 1977, S. 207 (217 f.).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

127

Es gibt aber auch eine „Parallelwertung i n der Juristensphäre". Beides gehört i m Spektrum der Verfassungsinterpreten i m weiteren und engeren Sinn zusammen. I m Spannungsfeld beider „Parallelwertungen" entfaltet sich die Wirklichkeit der Verfassung. Der vielzitierte „Bürgersinn" gehört i n diesen Zusammenhang 28 *. Die Vermittlung zwischen Verfassungsinterpretation i m weiteren und engeren Sinne 2 9 erfolgt zum Teil über verschiedene Personen, zum Teil aber auch über die bzw. „ i n " denselben konkreten Personen. So sind etwa die Richter auch Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne: als Bürger. Darum w i r d ζ. B. die (Verfassungs-)Richterbiographie relevant. Verfassungsinterpreten i m engeren Sinne „als" Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne zu sehen — diese Thematik eröffnet ein neues Forschungsfeld. Das „Richterleben" ist eben auch ein „Bürgerleben", und das w i r k t sich auf die „kunstregelorientierte", juristische Interpretation aus (unbeschadet des Art. 92 GG). Die Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne, ζ. B. die des Verfassungsrichters (und dessen Erfahrung), prägt auch deren eigene Verfassungsinterpretation i m engeren Sinne mit. Die Vorverständnis-Diskussion der Hermeneutik hat auf ihre Weise daran erinnert. Die hier entwickelte Selbstverständniskonzeption als Vermittler zwischen den beiden Arten von Verfassungsinterpreten sucht diese Verknüpfung schon i m Ansatz: systematisch und konsequent. A l l dies w i l l freilich den Richter nicht verunsichern, es soll i h m vielmehr die Lebens- und Wirkzusammenhänge seines öffentlichen Amtes klarer machen. Von hier aus fällt Licht auf die tiefere Bedeutung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs 30. Er verknüpft die — „betroffenen" — Interpreten i m weiteren Sinne (d. h. Bürger und Gruppen) m i t denen i m engeren Sinne, selbst dann wenn man diesen Grundsatz noch nicht als „Rechtsgespräch" (A. Arndt) verstehen sollte. Das „Gespräch m i t dem Bürger", das die (pluralistische) Verwaltung zunehmend sucht und suchen muß, gehört i n diesen Zusammenhang. Der Bürger w i r d beteiligt i m Rechtsbildungsprozeß der offenen Gesellschaft der Verwaltungsrechtsausleger 31 . — I m ganzen: Verfassungsinterpretation i m weiteren Sinne ist

28a

Vgl. BVerfGE 40, 237 (251): „Einverstandensein des Bürgers mit dem Staat." 29 Die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne sind also mehr als bloße „Faktoren", sie sind nicht etwa nur terminologisch „Interpreten"! — s. noch das berufsrichterliche Element im BVerfG (§ 2 Abs. 3 BVerfGG). 30 Entsprechendes gilt für die Partizipationsproblematik, dazu Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31 (1973), S. 179 ff. 31 Dazu mein Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 (749 ff.).

1 2 8 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

kein Synonym für „ P o l i t i k " 3 2 , so sehr auch der Politiker interpretiert 3 3 . Die Verklammerung von Verfassungsinterpretation i m weiteren und i m engeren Sinne ist einerseits sachlich-funktional zu sehen bzw. zu leisten, andererseits personal. Ausdruck dieser Verknüpfung ist es, daß einzelne spezielle Freiheitsrechte strikt formal zu verstehen sind, weil sie nur so gelebt werden können bzw. w e i l die Selbstverständnis-Äußerungen der Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne auch juristisch wesentlich sind: Das gilt besonders für Meinungs- und Pressefreiheit als formal interpretierte Grundrechte 34 , für die Wissenschafts- und Kunstfreiheit 3 5 , aber auch für die Tarifautonomie des A r t . 9 Abs. 3 GG und für den formalen Parteibegriff des A r t . 21 GG sowie für den „Interpretationsprimat" der Eltern i m Blick auf A r t . 6 Abs. 2 GG 3 6 . Je relevanter das Selbstverständnis der Normadressaten wird, desto formaler ist die Garantie zu interpretieren 3 7 . Damit zeigt sich aber auch, daß hier nicht lediglich eine Methodologie der Verfassungsinterpretation entfaltet wird. Bestimmte Demokratie-, bestimmte Grundrechtsforderungen sind sachliche Grundlage für das Zusammenwirken von Verfassungsinterpretation i m weiteren und engeren Sinne 3 8 . Daß das GG die „beste Verfassung" ist, die es i n Deutschland je gab, w i r d zur ganzen Wahrheit erst dann, wenn diese Einsicht 32 Es gibt Bereiche, in denen die Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne die Ergebnisse der Verfassungsinterpreten im engeren Sinne „nicht annehmen": z.B. das „Unterlaufen" verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung durch den Bundesgesetzgeber: s. BVerfGE 39, 1 ff. (Abtreibungsurteil) und den neuen, weit gefaßten § 218 a StGB. Fraglich ist daher, ob der nach der verfassungsrichterlichen Entscheidung verbliebene Spielraum „soweit wie nur irgend möglich" ausgeschöpft (Lackner, StGB-K., 11. Aufl. 1977, Vorb. 1 zu den §§ 218 - 219 d) oder schon unmerklich überschritten wurde. Auch das Umgekehrte kommt vor: Die Verfassungsinterpreten im engeren Sinne nehmen die Ergebnisse derjenigen im weiteren Sinne nicht an: z.B. das (dauernde) Judizieren an einer „öffentlichen Meinung" vorbei, das zu Friktionen führen muß hinsichtlich des Gesamtkonsenses, an dem Verfassungsinterpreten im weiteren wie im engeren Sinne arbeiten, s. zuletzt das „Unterlaufen" des Diätenurteils (BVerfGE 40, 296 ff.) durch kumulierte Erhöhung von zu versteuernden Grunddiäten und steuerfreien Aufwands pauschalen. 33 Jüngstes Beispiel ist der Rücktritt von Verteidigungsminister G. Leber wegen Verletzung des Art. 13 GG durch den M A D : F A Z v. 4. 2.1978. 34 Vgl. BVerfGE 30, 336 (347); 33, 1 (14 f.); 34, 269 (283); 35, 202 (222 f.). 35 Vgl. BVerfGE 35, 78 (112 f.); 30, 173 (188 ff.). 36 Dazu Ossenbühl, D Ö V 1977, S. 801 (806). 37 Freilich gilt auch das Entsprechende: Aus den besagten Grundrechtsgarantien folgt zwingend die Kompetenz der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne zu „ihrer" Verfassungsinterpretation. 38 Es wäre reizvoll, die Wirkungen von Diskussionsbeiträgen auf Staatsrechtslehrertagungen in der deutschen Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft zu untersuchen. Herausragend ist Ipsens „Junctim-Klausel" des Art. 14

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

129

B e s t a n d t e i l des a l l g e m e i n e n B ü r g e r b e w u ß t s e i n s g e w o r d e n i s t u n d sich eine A r t „ V e r f a s s u n g s g l a u b e " ( w i e i n d e n U S A ) e n t w i c k e l t h a t .

2.

„Öffentlichkeit"

E i n W o r t zu S t r u k t u r u n d F u n k t i o n d e r Öffentlichkeit, die i n d i e Vorgänge u n d „Beteiligungen" der Verfassungsinterpretation einbezogen i s t u n d diese z u m ö f f e n t l i c h e n Prozeß macht. V e r w i e s e n sei auf die G r u n d s a t z a r b e i t e n v o n Rudolf Smend u n d Konrad Hesse™. D i e V e r fassung s t e h t schon d e m G G - T e x t nach i n v i e l f ä l t i g e n Ö f f e n t l i c h k e i t s bezügen: A r t . 42, 21 I 3 u n d 4, 79 I 1 G G . Z u e r w ä h n e n i s t die D e m o k r a t i e k o m p o n e n t e d e r G r u n d r e c h t e , insbesondere die ö f f e n t l i c h e Seite der Pressefreiheit 40 (aktuelles Beispiel: Pressesubventionierung 41). I d e a l i t e r g e h t es u m pluralistische Ö f f e n t l i c h k e i t , eine Ö f f e n t l i c h k e i t , die aus d e r V i e l f a l t v o n I d e e n u n d Interessen l e b t . Das S p e k t r u m r e i c h t v o n der Macht „organisierter Interessen" bis zur Ohnmacht nicht organ i s i e r t e r oder n i c h t o r g a n i s i e r b a r e r Interessen, e t w a gesellschaftlicher ( R a n d - ) G r u p p e n (Zeugen Jehovas, G a s t a r b e i t e r u n d B e h i n d e r t e oder V e r b r a u c h e r u n d Sparer), die u m so s t ä r k e r a u f B e r ü c k s i c h t i g u n g d u r c h d i e u n d „ i n " d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n angewiesen s i n d als sie M i n Abs. 3 S. 2 GG (VVDStRL 10 [1952], S. 93, 94), seine „Plangewährleistung" (VVDStRL 11 [1953], S. 129; dazu H. Krüger, ebd., S. 139; Abendroth, S. 141, Schüle, S. 144, Scheuner, S. 150; Oldiges, Grundlagen eines Plangewährleistungsrechts, 1970, S. 128 f.; Egerer, Der Plangewährleistungsanspruch, 1971, S. 45 f.) und seine „Wachstumsvorsorge" (24 [1966], S. 222, 27 [1969], S. 88) vgl. Herzog, Allg. Staatslehre, 1971, S. 117. Gleiches gilt für Forsthoffs frühe Thematisierung des Zeitfaktors (VVDStRL 18 [1964], S. 178, aufgegriffen von Blümel, Festgabe f. Forsthoff, 1967, S. 133 - 161; dazu P. Häberle, in: JZ 1975, S. 685 [687] ; aus der Diskussion zuletzt Dürig, in : „Tradition und Fortschritt im Recht", 1977, S. 21 ff., oder für den glücklichen Gedanken der „Klarstellungsfunktion" des Verwaltungsaktes (Vogel, V V D S t R L 28 [1970], S. 269, zust. Bachof, V V D S t R L 30 [1972], S. 194 [233]; Brohm, ebd., S. 286; Erichsen ! Martens, in: Erichsen / Martens, Allg. Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1977, S. 132 f.). Aufschlußreich ist die Frage, welche Themen wie lange „schlummerten", dann aber doch aufgegriffen wurden (ζ. B. Dürigs Hinweis auf das Problem „Sachverstand und Politik" (VVDStRL 24 [1966], S. 106), vgl. Brohm, in: Festgabe f. Forsthoff, 1972, S. 37 ff.). Die Ergiebigkeit der Diskussionen ist groß, ζ. B. was die „Eigenständigkeit der Verwaltung" angeht und zwar über viele Jahre hin (dazu Nachw. in meinem Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 (747 Anm. 29). Fruchtbar dürfte die Frage sein, inwieweit Gerichte auf Diskussionsbemerkungen eingegangen sind. 39 Smend, Zum Problem des öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Gedächtnisschrift für Jellinek, 1955, S. 11 ff.; Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (39 ff.). Daran anknüpfend mein Beitrag: Struktur und Funktion der Öffentlichkeit im demokratischen Staat, in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 3 ff. 40 Dazu Czajka, Pressefreiheit und „öffentliche" Aufgabe der Presse, 1968. 41 Dazu Krebs, Grundrechtlicher Gesetzgebungsvorbehalt und Pressesubventionierung, DVB1. 1977, S. 632 ff. £ Verfassung

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

derheiten, aber auch „allgemeine Interessen" ohne Macht darstellen: Hier liegt ein spezifisches Feld für die Verfassungsinterpretation des BVerfG, das sich dieser Aufgabe durchaus stellt 4 2 . Hier eröffnen sich Perspektiven für Verständnis und Praxis des Verfassungsprozeßrechts, das „feine" Instrumente für die Artikulierung und Formulierung solcher Minderheitsinteressen bereitzustellen und entsprechend zu „stimmen" hat, u m dann pluralistische Verfassungsinterpretation zu ermöglichen. (öffentlicher Prozeß durch Verfassungsinterpretation!) Öffentlichkeit ist vielfältig strukturiert und insbesondere den Steuerungsinhalten und -Vorgängen der Verfassung unterworfen. Sie ist intrakonstitutionell auch dort, wo sie normative K r a f t entfaltet Diese Öffentlichkeit ist — als vom Grundgesetz geprägte — komplex. Sie hat teils amorphe, grobe (gelegentlich „brutale") Züge (Massenaufmärsche bis an die Grenze der Gewaltanwendung), teils auch feine, gegliederte und feinste Ausdrucksformen: die Pressekonferenz eines Politikers, die Rede des Bundespräsidenten 48 , das politische Gedicht, der Chanson eines Liedermachers, der A u f t r i t t der Melina Mercouri oder ein F i l m (wie „Z"); sie sind ein Mosaik i m Ganzen der Kulturverfassung. Die Öffentlichkeitskristallisationen, d. h. Anhaltspunkte für Pluralismus· und „öffentlichkeitsbewußte" Verfassungsinterpretation sind komplex; sie können nicht abschließend systematisiert werden, auch nicht die Medien oder „Vermittler", d.h. Beteiligten an — öffentlicher — Verfassungsinterpretation 44 . Besonders seien genannt: Das Verständnis und Selbstverständnis (!) 45 gesellschaftlicher Gruppierungen wie politischer Parteien 46 , Gewerkschaften, Berufsverbände, 42 z. B. in den Zeugen Jehovas-Fällen : BVerfGE 23, 127 bzw. 191; dazu mein Diskussionsbeitrag in V V D S t R L 34 (1976), S. 110, sowie unten Anm. 78 - 81. 43 Herausragend ist die Ansprache des Bundespräsidenten Scheel zur 500Jahr-Feier der Universität Tübingen am 8. 10. 1977, Bulletin 1977, S. 897 ff.: „Kritische Sympathie des Bürgers mit dem demokratischen Staat." Sie ist beste Verfassungsinterpretation im weiteren Sinne. 44 Dazu und zum folgenden P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. 45 Dabei wird auch die Fremdeinschätzung des Selbstverständnisses (z. B. durch Rspr.) relevant, vgl. einerseits BVerwGE 39, 197 ff., für die Bundesprüfstelle nach dem GjS, andererseits BVerwGE 45, 309 ff. (323 f.): Die „im guten wie im schlechten Sinne parteiische Gemeinde". — Zum „ethischen Standard" des GG: BVerfGE 41, 29 (50). Dort auch eine Einschätzung der beiden christlichen Konfessionen (S. 62 ff.). Zum Problem s. auch Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 38 ff.; Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, bes. S. 233 ff., 244 ff. — Zur Relevanz des Selbstverständnisses pluralistischer Gruppen meine Bespr. von Gerhardt, Das Koalitionsgesetz, 1977, in: DVB1. 1978, S. 121 f. 48 Sie werden die verfassungsgestaltende Kraft in Europa als „werdende (bzw. Vor-)Verfassung", die ihre Identität zwischen Pluralität und Homogenität freilich noch zu suchen hat.

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

131

Presse und anderer Medien (vor Gericht, außergerichtlich usw.), sonstige „Objektivationen" der öffentlichen Meinung, ζ. B. Programme, etwa der politischen Parteien, oder das vom Bundestag artikulierte Selbstverständnis i n der sog. Verfassungsdebatte (1974)47. Sie gehören ebenso hierher wie Regierungserklärungen oder Festreden auf Verbandskongressen (etwa der Ärzte) 4 7 3 . Proteste (Bürgerinitiativen!) und Formen künstlerischen Ausdrucks sollten i n Umweltschutzfragen oder bei der Erfassung von Inhalt und Grenzen des A r t . 5 Abs. 3 GG 4 8 ebensowenig außer acht gelassen werden wie Äußerungen von wissenschaftlicher Seite. Sie bilden — i m juristischen Bereich — ohnehin eine „zweite" oder „dritte" Öffentlichkeit (Lehrmeinungen, Schulenkontroversen, Monographien). Auch diese macht sich — dank öffentlicher Freiheit — öffentlich geltend. Sie ist („vor-läufiges") „Material" für die spätere Verfassungsinterpretation aus der Pluralität der konstitutionellen Gesellschaft. Es gibt keine Verfassung ohne pluralistische Öffentlichkeitsinterpretationen und ihre Kontexte. Den theoretischen Hintergrund für Verfassungsinterpretation als pluralistisch-öffentlicher Prozeß bildet die gleichermaßen demokratische wie grundrechtliche Fundierung des freiheitlichen Gemeinwesens. Sie läßt sich als „Bürgerdemokratie" umschreiben und ist als solche eine Absage an „ volksdemokratische " Konzeptionen jeder A r t 4 0 . 47 P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (115 F N 33). — s. auch BVerfGE 7, 198 (230, 1. Absatz): Relevanz einer Bundestagsdebatte für die Verfassungsinterpretation. BVerfGE 42, 312 (331): Relevanz einer Regierungserklärung für das „Vorverständnis" des Art. 140 GG. 47a Vgl. DRiZ 1975, S. 88 (Aus der „Deutschen Zeitung" vom 13.12.1974): „In einer am Wochenende veröffentlichten Erklärung hat das Präsidium des Deutschen Ärztetages mitgeteilt, wo seiner Ansicht nach die Grenzen der ärztlichen Pflicht liegen, Leben mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten: ,wo ein eindeutiger, auf freier Willensbüdung beruhender Beschluß des einzelnen Menschen vorliegt, die ärztliche Behandlung abzulehnen und sich ihr sogar aktiv zu widersetzen/ Kein Arzt dürfe jenseits dieser Grenzen zur Zwangsernährung verpflichtet werden." 48 s. die Formulierung in BVerfGE 35, 79 ff. (113): Die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 GG erstreckte sich „auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist. Dies folge unmittelbar aus der prinzipiellen Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis". Diese „Definition" läßt unterschiedlichen Selbstverständnissen Raum. — Zur Repräsentationsfunktion von Wissenschaft s. auch v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 315 ff. 49 Dazu mein Aufsatz: Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien» und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff.; zuvor in V V D S t R L 33 (1975), S. 134 (136) (Diskussion). — Zur Relevanz bürgerdemokratischer Konzeptionen für ein vereintes Europa s. den Tindemans-Bericht v. 29. 12. 1975 über die Europäische Union, Bulletin EG Beil. 1/76, S. 29 ff.: „Das Europa der Bürger"; dazu: Grabitz, Die Grundrechte der Europäischen Union. Das Europa der Bürger?, in: Schneider / Wessels (Hrsg.), Auf dem Weg zur Europäischen Union?, 1977, S. 167 ff.

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

3. Beispiele Ausdruck und Folge des öffentlichen Prozeßcharakters der Verfassungsinterpetation lassen sich an Beispielen verdeutlichen: a) Verfahrensmäßig — an der Praxis zum BVerfGG, i n der das BVerfG pluralistisch eine A r t öffentlicher Hearings schon bisher bei mehr oder weniger „großen" Prozessen seinen Entscheidungen vorgeschaltet hat 5 0 . (Auch gewisse öffentlichkeitsde/izite seien nicht verschwiegen: das BVerfG macht vom Öffentlichkeitsprinzip seines Prozeßrechts nicht immer den optimalen Gebrauch 51 , und die Verfassungsrichter sollten vor ihrer Wahl öffentlich befragt werden wie — durch den Senat — i n den USA), — i n der Einrichtung von und Praxis zu Sondervoten i m BVerfG (hier vermag sich auf längere Sicht die normierende Kraft der Öffentlichkeit zu entfalten, indem sich die unterlegene Partei i m Sondervotum zunächst „aufgehoben" sieht und mittelfristig, wie Beispiele des US-Supreme Court belegen, einen Umschlag bewirken kann). b) Materiellrechtlich Materiellrechtlich illustrieren folgende Beispiele den Zusammenhang von Verfassungsinterpretation und öffentlichkeit(saktualisierung) : — Abwägungsvorgänge bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Grundrechte 52 , hinter denen heute nicht nur Individualinteressen, sondern auch Gruppenkonflikte stehen: Prozessual werden ζ. B. vor dem BVerfG viele Verfahren als „faktische Verbandsklagen" geführt (etwa i n der Mitbestimmungsfrage), — die Auslegung betont öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogener Begriffe wie „öffentliche Aufgabe" der Presse und Pressefreiheit 53 , — der Durch- bzw. Rückgriff auf öffentlich vorgebrachte Wertungen bestimmter Gruppen, Fachkreise usw. 5 4 , aber auch des Gesetzgebers, 50 Dazu mein Beitrag in JZ 1976, S. 377 (3821); zuletzt: BVerfGE 40, 296 (299 ff.); 42, 133 (136 f.); 43, 34 (40 f.), 79 (85 ff.), 213 (220 ff.). 51 Nachw. und Kritik bei P. Häberle, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 ff. (31 mit F N 120). 52 Zu Beispielen ders., AöR 95 (1970), S. 86 (96 ff., 112 ff.); ders., öffentliches Interesse, S. 351 ff. 53 Zu Beispielen s. ders., in: AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.). 54 Dazu und zu dessen Grenzen: BVerfGE 33, 125 ff. (Facharzt-Beschluß), bes. S. 156 f.: „Die Verleihung von Satzungsautonomie hat ihren guten Sinn

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

133

ζ. B . i n der G e m e i n w o h l j u d i k a t u r z u r e i n s t w e i l i g e n A n o r d n u n g (§ 32 BVerfGG) 55, zuletzt zur Wehrdienstnovelle5«, — die U m s c h r e i b u n g des Wandels verfassungsrechtlicher B e g r i f f e : S t i c h w o r t „gesellschaftliche A n s c h a u u n g e n " w i e b e i A r t . 14 G G 5 7 , das V e r ständnis der politischen Parteien 58, — der (zulässige) B l i c k a u f die Folgen e i n e r b e s t i m m t e n V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n 5 9 , — d i e F o l g e n - u n d P r o g n o s e n p r o b l e m a t i k s t e l l t sich besonders i n d e r M i t b e s t i m m u n g s f r a g e . D i e r a t i o n a l e O f f e n l e g u n g d e r G e s i c h t s p u n k t e u n d des V o r v e r s t ä n d nisses d u r c h das B V e r f G h a t i h r e E n t s p r e c h u n g i n der O f f e n l e g u n g v o n Interessen u n d I d e e n i n d e n gesellschaftlichen K o n f l i k t e n 6 0 , d i e v e r f a s sungsrechtlich g e f o r d e r t ist. Dies g i l t auch f ü r die K o n t e x t e .

darin, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern. Zugleich wird der Gesetzgeber davon entlastet, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar sind und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte". Zu der E. auch P. Häberle, DVB1. 1972, S. 729 ff.; allgemein ders., JZ 1975, S. 297 ff. 55 s. meine Belege in AöR 95 (1970), S. 86 (90 ff.); s. in diesem Zusammenhang auch die E. zur Zulässigkeit einer vorzeitigen Vorlage gem. Art. 100 GG, „wenn die Vorlagefrage von allgemeiner und grundsätzlicher Bedeutung für das Gemeinwohl und deshalb ihre Entscheidung dringlich ist" (BVerfG JZ 1978, S. 269 ff., zu OVG Münster, KKW-Kalkar). 58

BVerfG NJW 1978, S. 1245 ff. Dazu: BVerfGE 1, 264 (278); 2, 380 (402); 11, 64 (70); 28, 119 (142); s. auch BVerfGE 14, 263 (278) und E 19, 268 (270). I n diesem Zusammenhang dürfte aber immer bedenklicher werden, noch länger an dem „Dogma" der „eigenen Leistung" (BVerfGE 14, 288 [294], 18, 392 [397]; 45, 142 [170]) bei öffentlichrechtlichen Rechtspositionen i. S. d. Art. 14 Abs. 1 GG festzuhalten, s. auch Maunz, in: Maunz / Dürig / Herzog J Scholz, GG, Art. 14 Rdnr. 37. Inhalt und Grenzen des Eigentums lassen sich letztlich nur vom aktualisierten öffentlichen Konsens her bestimmen — das sollte der Wandel des Eigentums in den letzten Jahrzehnten deutlich genug sagen! Und das bestätigt den Ansatz „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß". 58 s. die Entwicklung von BVerfGE 20, 56 ff., 24, 300 ff. (Parteifinanzierungsurteile) zu BVerfGE 41, 399 (Wahlkampfkostenerstattung für unabhängige Bewerber) und BVerfGE 44, 125 ff. (Wahlwerbung der Bundesregierung): von der Leibholzschen Parteienstaatslehre zur mehr bürgerdemokratischen Konzeption des Parteienstaates, dazu mein Beitrag, JZ 1977, S. 361 ff. 59 Dabei geht es um folgenorientierte Interpretation wie auch, bei komplexen, d. h. besonders bei leistungsstaatlichen Erscheinungen, um dogmatikgesteuerte, funktions- und kompetenzgerechte Beschränkung der Folgenberücksichtigung. — Vgl. allgemein mein öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, z. B. S. 711. 60 Allgemein steht die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" der diskursiven Begründbarkeit von Wahrheit (Habermas) näher als dem Lüh57

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

4. Gefahren und Grenzen Ein Verständnis der Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß hat Grenzen und birgt Gefahren. Sie liegen in der denkbaren zu starken Dynamisierung des sogenannten „geschriebenen "Verfassungsrechts 61 — das freilich weit mehr ungeschrieben ist als gemeinhin gesehen wird, insofern Verfassungsauslegung prinzipiell i m Spannungsfeld von (verfassungsrechtlichem) Grundsatz und („unterverfassungsrechtlicher") Norm geschieht. Gewiß ist die Verfassung nicht nur Prozeß, sie hat wesentliche Momente der Konstanz als „Rahmenordnung", ist vor allem — funktionell-rechtliche — Grundordnung 6 2 und „konstituiert". Sie zieht auch Grenzen, aber vor allem regt sie (Prozesse) an (Smend). Ein Blick i n die fast 200jährige Geschichte der US-Verfassung sollte uns über das Wechselspiel von Dauer und Wandel bzw. von der Rolle der Öffentlichkeit belehren — gerade unter dem Gesichtspunkt des Einflusses der öffentlichen Meinung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit („The Supreme Court follows the elections") 83 . Bei der Verfassungsinterpretation geht es freilich nicht nur um das (verfaßt) öffentliche. Das Private ist auch als solches vielfältig geschützt, nicht nur durch Grundrechte; es ist Korrelatbegriff, Bedingung für I n novation des öffentlichen. Folglich muß Verfassungsinterpretation das eigenständig (konstitutionell) geschützte Private i m Auge behalten (Verfassungsinterpretation als Privat [rechts] schütz). Erinnert sei an Probleme mannschen Konzept der Legitimation durch Verfahren i. S. der faktischen Abnahme von Entscheidungen: Idealiter müssen sich Legitimation durch Verfahren und Legitimation durch Begründung (so der Titel von Eckhold-Schmidt, 1974) decken. Dies ist nur möglich durch die genannte Offenlegung von Interessen und Ideen wie durch die Bestimmung realer Paritäten in der pluralistischen Gesellschaft. 61 Zu dessen stabilisierender und rationalisierender Funktion: Hesse, Grundzüge . . . , 10. Aufl. 1977, S. 14 ff. — Nach Fr. Müller (Einige Leitsätze zur Juristischen Methodik, 1974/76, jetzt in: Dreier ! Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 248 ff. [250]) ist die Wortlautinterpretation nur „in den seltenen Fällen echter Subsumtion . . . allein tragfähig". Hier entfalte sie in positiver Richtung nur Indiz-, in negativer Grenzwirkung. — Zur (begrenzten) Nützlichkeit semantischer Analysen allgemein: Koch, in: ders. (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht. Über Grenzen von Verfassungs- und Gesetzesbindung, 1977, S. 15 ff., 29 ff., 56 ff. 62 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945; dazu F. Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, 1968, S. 488 ff. 63 s. dazu Hopt, Die dritte Gewalt als politischer Faktor, 1969, S. 63 ff., 175 ff., 202 ff. (205 f.: breiter Konsensus als Bedingung für die Macht des Supreme Court); Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 12 ff. (s. das Wort von Woodrow Wilson, ebd., S. 13, der Supreme Court sei eine Art „constitutional Convention in continuous session"), S. 320 ff.; Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 15 f., 418 ff.

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

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der Vorschulerziehung, des Sexualkundeunterrichts 63a , des Datenschutzes oder der Abtreibung 6 4 . Zu diesem Privatrechtsschutz gehört auch der Gedanke, i n Ruhe oder „allein gelassen zu werden" 6 5 , sich durchaus i m Sinne des Ohne-mich-Standpunktes zurückzuziehen. Insofern ist Ruhe „Bürger-Recht" (nicht aber erste Bürgerpflicht!). Verfassungsinterpretation darf nicht i n den Sog von tagespolitischen Augenblickstimmungen, Pressionen einer „formierten", „verordneten" (statt pluralistischen!) Öffentlichkeit, sie darf nicht unter die „Herrschaft der Verbände" (Eschenburg) geraten. I h r Zurechnungspunkt ist die Bürgerdemokratie aller 66. Zur Abwendung der Gefahren bedarf es einerseits der „feinen" Instrumente rationaler und pluralistischer Verfassungsinterpretation und ihrer herkömmlichen Methoden, andererseits der pluralistischen Strukturierung und Organisation der Öffentlichkeit (z.B. durch Pluralismusgesetze i n Rundfunk und Fernsehen 67 , i m Hochschulbereich, i m Pressewesen [Anti-Fusionsgesetze]), i m Verfassungsprozeßrecht, i m Verwaltungsverfahrens- und -prozeßrecht usw. („status activus processualis"); Pluralismus- bzw. Öffentlichkeitsdefizite können sich hier besonders nachteilig auswirken. Es gibt einerseits Formen und I n halte des Drucks der Öffentlichkeit, denen die Verfassungsinterpretation standzuhalten h a t 6 8 ; es gibt andererseits innovatorische Öffentlichkeitsimpulse, die sie aufzunehmen und zu verarbeiten bzw. „umzusetzen" hat. Hier den richtigen Weg zu finden, ist zugegebenermaßen schwierig und verlangt Sensorium und Takt, aber auch Standhaftigkeit. Die Mitbestimmungsfrage könnte ein Testfall werden für Verfassungsinterpretation als pluralistisch öffentlicher Prozeß — wobei man sich durch das amtswidrige Verhalten von Minister Ehrenberg ebensowenig irritieren lassen darf 6 9 , wie von der Überreaktion der Gewerkschaften auf die Form (Zeitpunkt!) der Verfassungsbeschwerde von Arbeitgeberseite 70 ! e3a s. jetzt die E. des BVerfG, NJW 1978, S. 807 ff. und EGMRj NJW 1977, S. 487 ff. (für Dänemark). — Hintergrund des Streits um Sexualkundeunterricht sind letztlich Fragen des Art. 4 GG, vor allem das Toleranzprinzip. Die Schule sollte in einem tieferen und weit über den religiösen Sinn hinaus als „Gemeinschaftsschule" verstanden werden, so wie die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten nicht ohne den Kontext von Gemeinschaft(en) hält. 64 Dazu die interdisziplinäre Arbeit Rüpkes, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976 (mit informations- und kommunikationstheoretischem Ansatz) und meine Kritik in: FS Boorberg Verlag, 1977 (Hrsg.: W. Schmitt Glaeser), S. 47 (76 F N 125). 85 BVerfGE 35, 202 (233); vgl. auch E 44, 197 (203). 88 Zu diesem Konzept: P. Häberle, JZ 1977, S. 361 ff. 87 Vgl. meinen Beitrag in FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 (465, 472). 68 Dem Richter kann letztlich niemand die Entscheidung abnehmen. 69 Zu seinem protestartigen Fernbleiben von der „konzertierten Aktion" im Juli 1977, vgl. z. B. F A Z v. 6. 7.1977; SZ v. 5. 7.1977. 70 Zum Stand der inhaltlichen Diskussion s. z. B. Badura ! Rittner ! Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und das GG, 1977; Papier, Z H R 142 (1978), S. 71 ff.

1 3 6 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Auch die „zweite Gewalt", die Verwaltung, erlangt pluralistische Züge. Als pluralistische (Gemeinwohl-)Verwaltung 7 1 bezieht sie zunehmend pluralistische Interessen i n ihre Programme ein. Gelegentlich w i r d der Zusammenhang m i t der pluralistischen Öffentlichkeit schon direkt greifbar 7 2 . Parallelstück zur Pluralismusgesetzgebung und -Verwaltung ist die Pluralismusrechtsprechung y insbesondere des BVerfG. Sie begegnet vielfältig: i n Gestalt der „Richtlinienpolitik" i m Fernsehurteil 73 — d a s auf lange Sicht zum Vorreiter einer Konzeption der Rundfunkfreiheit als „Gruppengrundrecht" zu werden scheint 74 — ebenso wie i n den späteren Verfeinerungen zu Art. 5 Abs. 1 und 2 GG, d. h.: keine Differenzierung zwischen wertvollen und nicht wertvollen Meinungen 75 , Gebot der weiten und „formalen" Auslegung der Pressefreiheit 76 . I m Felde der Pressefreiheit bedarf es um so mehr der „Pluralismuspolitik" durch die gesetzgeberischen Instanzen, als nach BVerfGE 41, 53 (62) die Presse selbst bei regionaler Monopolstellung den Abdruck von Anzeigen und Leserzuschriften verweigern darf 7 7 . Solche Pluralismuspolitik, eine Gestalt der Grundrechtspolitik, ist etwa durch Pressesubventionierung i n Angriff zu nehmen. Herausragendes, wenn auch weniger spektakuläres Beispiel solcher pluralistischen Verfassungsinterpretation durch das BVerfG ist der — oft über Art. 20 Abs. 1 und 3 GG — erreichte Schutz der Schwachen und H i l febedürftigen i m Sozialrecht 78 , i m Armenrecht 7 9 und i n bezug auf Ausländer 8 0 . Das Sozialstaatsprinzip verlangt „staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung i n ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind" — dazu gehören auch die „Gefangenen und Entlassenen" 81 . 71 Dazu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 95 f., 457, 475 ff., 501 ff. 72 Vgl. mein Beispiel, ebd., S. 501 ff. 73 BVerfGE 12, 205. 74 Dazu J. Lücke, Die Rundfunkfreiheit als Gruppengrundrecht, DVB1. 1977, S. 977 ff. 75 BVerfGE 30, 336 (347); 33,1 (14 f.); s. auch E 35, 202 (222 f.). 76 BVerfGE 34, 269 (293). 77 Z u „Öffnungsklauseln" bei Zeitungen zuletzt die gleichnamige Schrift von I. v. Münch, 1977. 78 BVerfGE 28, 324 (347 ff.); 29, 57 (65 ff.), 71 (78 ff.); 35, 283 (296); 37, 154 (165 ff.), 363 (400). 79 BVerfGE 35, 348 (355 f.). 80 BVerfGE 35, 382 (400 ff.); 38, 52 (57 ff.); 40, 95 (100); 42, 120 (123 ff.); 43, 212 f. — s. auch BVerfGE 42, 64 (77): Der Schutz des Eigentums muß sich in einem sozialen Rechtsstaat auch und gerade für den sozial Schwachen durchsetzen. Für das Nichtehelichenrecht : E 25, 167. 81 BVerfGE 35, 202 (236; vgl. auch BVerfGE 43, 1 (19).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

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I I I . Teil-Ergebnis Zusammenfassend: „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß" — das ist zum Teil Programm, zum Teil aber schon die heutige Wirklichkeit der Verfassungsinterpreten einer offenen Gesellschaft m i t oder ohne Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses normativ-prozedurale pluralistische Verständnis von Verfassungsinterpretation läßt den herkömmlichen Interpretationsmethoden i h r relatives Recht 82 , ergänzt aber ihr ohnehin reiches, ständig verfeinertes Spektrum und Instrumentarium u m die öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene pluralismusorientierte Auslegung. Sie fordert für die Zukunft einen weiteren Ausbau der Pluralismusgesetze, eine noch bewußtere Pluralismusrechtsprechung und eine bürgerdemokratische Aktivierung (ζ. B. i n Gestalt des status activus processualis i m Verhältnis Bürger/Öffentliche Verwaltung) 8 3 . Die Aktualisierung der Verfassung durch gelebte Freiheit ihrer Bürger und die normierende Kraft der Öffentlichkeit i m gekennzeichneten Sinn verlangt viel von uns. Der Jurist kann als Verfassungsinterpret (im engeren und weiteren Sinne) einiges dazu tun, um das Gemeinwesen verfaßt und dadurch den Bürger i n Freiheit zu halten. Letztlich aber muß sich der Bürger selbst engagieren, um (sich) verfaßte Freiheit i n Staat und Gesellschaft zu sichern. Das ist seine (unverzichtbare) Verfassungsinterpretation! Zweiter Teil: Der wissenschafts- und gesellschaftstheoretische Hintergrund: das Pluralismus-Konzept I m zweiten Teil geht es u m den wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Hintergrund des Konzepts „Verfassung" bzw. „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß". Prämisse ist das Pluralismusmodell, Pluralismus verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen i m politischen Gemeinwesen, von Ideen als Interessen bzw. umgekehrt 8 4 , — gesehen i m Hier und Heute. Diese Vielfalt lebt aus einer Fülle von unterschiedlich stark formalisierten Verfahren. I n ihnen begegnen sich 82

Dazu mein Beitrag in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (305 ff.). 83 Dazu P. Häberle, Verfassungsprinzipien „im" VerwaltungsVerfahrensgesetz, in: FS Boorberg Verlag, 1977, S. 47 (66 ff.) sowie in V V D S t R L 30 (1972), 43, S. 86 ff. und BayVBl. 1977, S. 745 (748). 84 Zur „freien Auseinandersetzung der Ideen und Interessen" . . . , „die für das Funktionieren dieser Staatsordnung lebensnotwendig ist": BVerfGE 12, 113 (125), vgl. auch E 5, 85 (204 f.); E 7, 198 (208). E 41, 65 (78): „Pluralität der Gesellschaft"; E 41, 29 (50), 88 (107): „pluralistische Gesellschaft"; E 33, 1 (15): „ . . . ist in einem pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge jede Meinung . . . schutzwürdig". — (Vor dem Forum des BVerfG „wanderte" das Pluralismusproblem zwischen Art. 5 GG und Art. 4 GG!)

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Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

die Interessen und Ideen der realen und idealen Welt i n Konflikt und Konsens (nämlich i m Minimal- bzw. Grundkonsens); sie ringen m i t - und gegeneinander und objektivieren sich zu Alternativen. Ein Basisbegriff für diesen Pluralismus ist Offenheit: ζ. B. der Verfassung, ihrer Theorien, ihrer Interpretation und Interpreten (etwa hinsichtlich der Grundrechte), ihrer Dogmatik sowie ihrer Fortentwicklung usw. I. Der erfahrungswissenschaftliche Ansatz Ein Wort zur „Offenheit": Sie besteht nicht nur „nach vorn", i n die Zukunft hinein, sondern auch „nach zurück", in die Vergangenheit. Klassikertexte sind Verfassungstexte i m weiteren Sinn! I m einzelnen: DieErfahrung, ein Maßstab i n den Verfahren von „ t r i a l and error", ist bislang verfassungstheoretisch noch nicht hinreichend thematisiert worden 8 5 . Pluralistische Verfassungstheorie und eine die Folgen „erwägende" Verfassungsinterpretation und -politik können aber auf sie nicht verzichten, zumal sie letztlich anthropologisch begründet ist. Mehr oder weniger bewußt bedienen sie sich ihrer auch sehr häufig. So beruht die „ewige" Berufung auf die „gemischte Verfassung" bzw. „die" Gewaltenteilung, etwa als Versuch, ihre neuen Anwendungsfelder ζ. B. i m gesellschaftlichen Bereich (wie bei den Medien) zu erschließen (Stichwort: „publizistische" oder pluralistische Gewaltenteilung), auf den guten freiheitssichernden Erfahrungen, die man m i t diesem vielgestaltigen Gedanken (ebenso wie m i t dem Pluralismus) immer wieder gemacht hat. Über den anthropologischen Ansatz erhält auch das Irrationale seinen begrenzten Platz. 85 Ansätze in meinem Beitrag „Zeit und Verfassung", ZfP 21 (1974), S. 111 (115, 117, 122) sowie in JZ 1975, S. 297 (298): Verfassungsrechtswissenschaft als „Erfahrungswissenschaft". Wichtig: Lüderssen, Erfahrung als Rechtsquelle, 1972, bes. S. 50 ff.; — s. auch das Habermas-Zitat, ebd., S. 66: „Die Paradigmen, die die theoretischen Ansätze tragen, stammen . . . aus den Primärerfahrungen des Alltags". Kritisch: Esser, Traditionale und postulati ve Elemente der Gerechtigkeitstheorie, in: Gernhuber (Hrsg.), Tradition und Fortschritt im Recht, 1977, S. 113 ff. (128: Erfahrung allein erbringe keine normativen Gesichtspunkte). — Vgl. noch das berühmte (freilich wohl eher aphoristische und daher nicht unproblematische) Wort des US-Richters O. W. Holmes (zit. nach Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, erg. Ausgabe 1972, S. 40 F N 19): „The life of the law has not been logic; it has been experience"; zum verfassungsrechtlichen Problemdenken, das durch einen „schubweisen Stoffwechsel zwischen den Neuerfahrungen der Fall-Praxis und den Formkräften der Schule" (Esser) bestimmt wird, s. Ehmke, V V D S t R L 20 (1963), 53 (99 f.). — Zur „Werterfahrung" Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977, S. 13 f., m. w. N., und dem Radbruch-Beispiel: Aufgabe der relativistisòhen Einstellung aufgrund der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Zur Hermeneutik als Erfahrung und grammatische Analyse zugleich s. Habermas, Erkenntnis und Interesse (1968), 1973, S. 204 ff. — s. auch BVerfGE 43, 291 (317): Abhängigkeit der Würdigung vom „Stand der jeweiligen Erfahrung".

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

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Die Erfahrung als kritischer Erkenntnismaßstab verweist auf die Verfassungsgeschichte als „Schatzhaus" einerseits, auf die Verfassungsvergleichung 86 andererseits. Jede Generation muß ihre Erfahrungen neu 8 7 , jedes Volk muß seine eigenen Erfahrungen machen, auch m i t „guten" Verfassungsinstitutionen, die sie bei sich oder anderen vorfinden. Diese fortzuentwickeln, zu erben und zu erwerben, um sie zu besitzen, ist eine Kunst. Zwar muß die „Offenheit nach vorn" ungeschmälert bleiben, dam i t die Freiheit eine Chance hat. Doch schließt dies den Rückgriff auf Erfahrungen nicht aus, so behutsam historische Analogien zu ziehen sind. Wissenschaftliche Erkenntnisse gründen sich nicht auf das Vergessen. I n Abwandlung des Schillerwortes heißt dies: Siehe vorwärts und zurück! Freilich: Verfassungen allein können den „Stabwechsel" zwischen den Generationen nicht garantieren — er geschieht ständig, jeden Tag, jede Stunde und sei es auch nur i n einer je einzelnen Person —, aber sie können ihn erleichtern: i m Rahmen der Gesamtkultur 8 8 . Diese „Hereinholung" der Erfahrung i n die pluralistische Verfassungstheorie ist das Ergänzungsstück zur vielberufenen A k t u a l i t ä t und Zukunftsorientiertheit der Verfassung, zum Möglichkeitsdenken nach vorn 8 9 . Sie ist kein Widerspruch zur geforderten „Bewährung" der Verfassung. Pluralistische Verfassungstheorie sucht sich „zwischen" Konservativismus und Reformismus ihren Weg 90 . Pluralistische Verfassungstheorie ist kein juristischer Ikarus 91. 86 Jüngstes Beispiel ist die Kritik (Filbingers) an den bundesstaatlichen „Gemeinschaftsaufgaben" (Art. 91 a und b GG), z. B. F A Z v. 9. 1. 1978, S. 8. 87 Zu Gerechtigkeitsurteilen als komparativen Urteilen Esser, in: Gernhub er (Hrsg.), a.a.O., S. 129. 88 s. auch die Überlegungen im Berner Gastvortrag, Verfassungsinterpretation und Verfassungsgebung, ZSR 1978, i. E. es Dazu mein Beitrag in AöR 102 (1977), S. 27 ff. „Erfahrung" taucht bei den Klassikern der Staatstheorie in langer Tradition an zentralen Argumentationsstellen auf: So etwa in Montesquieus „De l'ésprit des lois", X I . Buch, 4. Kap. (zit. nach der Reclam-Ausgabe 1976, S. 211: „Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen"), in Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (Reclam-Ausgabe 1967, unter X V , S. 189: „nach der Erfahrung aller Zeitalter"), in Rousseaus Gesellschaftsvertrag (4. Kap., Reclam-Ausgabe 1977, S. 121: „Jeden Tag lehrt uns die Erfahrung . . .") und in Mills „Über die Freiheit" (Reclam-Ausgabe 1974, 2. Kap., S. 30: „Er [sc. der Mensch] ist fähig, seine Mißgriffe durch Diskussion und Erfahrung richtigzustellen. Nicht durch Erfahrung allein: Diskussion tut not, um zu zeigen, wie die Erfahrung zu deuten ist." S. auch S. 59 ebd. sowie 3. Kap., S. 80: „gesicherte Ergebnisse menschlicher Erfahrung . . . Erfahrung auf die ihm gemäße Weise nutzte und auslegt"). 90 „Reformismus" meint den Willen zur Reform um ihrer selbst willen (sie zehrt sich letztlich selbst auf) bzw. um jeden Preis: Reformen bedürfen aber einer Einordnung in das Koordinatensystem bestimmter Ziele, was auch eine Bewertung der zu erwartenden „Kosten" im weitesten Sinn und der Folgen verlangt. Reformen als solche für gut zu halten, ist ebenso fragwürdig, wie das Bewahren als solches im Sinne des Konservativismus fragwürdig wäre. 91 Es bleibt die Frage, wie Erfahrung „transportiert", wer sie wie bewertet,

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation I I . Die Verfassung des Pluralismus — Der Pluralismus in der Verfassung

I m S p e k t r u m des P l u r a l i s m u s s i n d g r o b gesehen vier Bereiche z u u n terscheiden: 1. d e r i m w e i t e r e n S i n n e politische B e r e i c h des Ö f f e n t l i c h e n , 2. d e r k u l t u r e l l e , insbesondere wissenschaftliche 9 2 u n d k ü n s t l e r i s c h e B e reich, 3. der w i r t s c h a f t l i c h e 9 3 , 4. der i m engeren S i n n e staatliche Bereich. Diese v i e r u n t e r s c h i e d l i c h s t r u k t u r i e r t e n Bereiche, z u s a m m e n m i t d e m P r i v a t e n das politische G e m e i n w e s e n , s i n d v i e l f ä l t i g m i t e i n a n d e r v e r flochten. I h r g e m e i n s a m e r N e n n e r i s t d e r f r e i h e i t l i c h e P l u r a l i s m u s , die V e r f a s s u n g erscheint als das P l u r a l i s m u s - , , G e s e t z " ! Große G e f a h r e n zeigen sich a l l e r d i n g s i n d e n Zwischenzonen, etwa zwischen d e m s t a a t l i c h e n u n d d e m k ü n s t l e r i s c h e n Bereich; e i n B e i s p i e l b i l d e n die „ S t a a t s p r e i s e " . „ O f f i z i e l l e " K u n s t k a n n z u r t ö d l i c h e n G e f a h r f ü r die Freiheit der K u n s t u n d ihren Pluralismus werden. D a r u m müssen die Personen u n d Instanzen, die ü b e r „ S t a a t s p r e i s e " u n d ähnliches entscheiden, G e w ä h r f ü r P l u r a l i s m u s b i e t e n (ζ. B . ü b e r v e r f a h r e n s m ä ßige Regelungen, p l u r a l i s t i s c h e B e i r ä t e etc.), sollte ü b e r steuerliche A n reize das p r i v a t e u n d i n s o f e r n auch p l u r a l i s t i s c h e M ä z e n a t e n t u m gefördert werden. insbesondere kritisiert und wer sie — nach welchen Kriterien — vermittelt. Die „erfahrene, gewissenhafte Öffentlichkeit" wird hier relevant. — Dieser verfassungstheoretische Einbau der Erfahrung, „de lege lata" nachweisbar in Experiment- und Erfahrungsklauseln, die von der Gegenwart und Zukunft her arbeiten (dazu: P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 [1974], S. 111 [132 ff.]), w i l l freilich keinem „Denkmalschutz" das Wort reden! Erfahrungen können trügen, sie haben oft getrogen; sie sind kein deus ex machina, aber kritisch ausgelegt (vgl. Mill, Über die Freiheit, Reclam-Ausgabe 1974, 2. Kap., S. 30), können sie im politischen Gemeinwesen als Sache für den Menschen hilfreich sein. Erfahrung und Rationalität sind keine Gegensätze. — Zur neuen Diskussion über die Psychoanalyse als Erfahrungs Wissenschaft: N Z Z v. 7. 4. 1978, Fernausgabe Nr. 79, S. 37. Die Erfahrung spielt als Argument eine große Rolle im „Federalist" von Hamilton, Jay und Madison (Ausgabe Ermacora, 1958: z. B. S. 49, 55, 103, 106 f., 128, 154, 164, 190 f., 206. Vgl. bes. S. 55: „Laßt euch von der Erfahrung, der unfehlbaren Führerin in die Tiefen der menschlichen Natur, Antwort auf diese Fragen geben." — S. 128: „Die Erfahrung ist die unfehlbare Autorität für die Wahrheit einer Sache ; und wo sie unzweideutige Antworten gibt, sollten diese als endgültig und heilig hingenommen werden."). 92 Von „Wissenschaftspluralismus" spricht z. B. das Sondervotum Simon / Rupp-v. Brünneck, BVerfGE 35, 149 (157, 164). 03 Angesprochen ist die seit F. Böhm oft betonte Parallele zwischen wirtschaftlichem Wettbewerb und demokratischem Prozeß. Der wirtschaftliche Wettbewerb in der EG als „offener Prozeß" könnte Wegbereiter eines demokratischen Europas werden. — Dem Pluralismuspostulat widerspricht etwa des DBG-Vorsitzenden Vetter jüngste Kritik an der konzertierten Aktion: „Zu viel Stimmen im Konzert" (FAZ v. 12. 1. 1978, S. 9). Gerade die Anreicherung durch viele „repräsentative" Gruppen am „runden Tisch der kollektiven Vernunft" entspricht dem Pluralismuskonzept. Vgl. auch die neue „konzertierte Aktion in Weiß" im Gesundheitswesen.

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

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Heikle und differenziert zu beantwortende Pluralismusfragen i m staatlichen Bereich stellen die Schulen, Hochschulen, Berufsbeamtent u m und Bundeswehr 04 . Ein Beispiel an der Nahtstelle zwischen „staatlichem Bereich" und dem Bereich des öffentlichen i m weiteren Sinne bietet das Parlament selbst, insofern an seine Zusammensetzung Pluralismuspostulate gerichtet werden („pluralistische Repräsentation") 95 . Wie ist dieser Pluralismus i m einzelnen beschaffen, wo liegen seine „Garantien" (1)? Wo verlaufen seine Grenzen (2)? Ist er entwicklungsfähig und -bedürftig: theoretisch wie praktisch (3)? 1. Der verfaßte Pluralismus Gemeint ist der „verfaßte Pluralismus". Er findet Ausdruck i n einer pluralistischen Verfassungstheorie zum Grundgesetz, i n pluralistischer Verfassungsinterpretation des Grundgesetzes 96 und i n pluralistischer VerfassungspolitiJc für das Grundgesetz als Typus einer freiheitlichen Verfassung. a) Das GG ist die vielzitierte „Rahmenordnung", ist verfaßter und (stets neu) zu verfassender Pluralismus. Allgemeiner ließe sich von „normativem Pluralismus" sprechen. Das Normative besteht darin, daß die Verfassung (und „unter" i h r 9 7 die allgemeine Rechtsordnung) ein M i n i m u m an Inhalten und ein Optimum an verfahrensmäßigen „Spielregeln" 9 8 , besser: Kommunikationsregeln, besonders i. S. des „due process" der US-Tradition, verbindlich vorschreibt. Dieser Verfassungsrahmen hält „das" Volk als pluralistische Größe zusammen und er setzt zugleich dessen vielfältige (auch widersprüchliche) Interessen und Ideen frei. Pluralismus besteht auf und lebt aus inhaltlich und verfahrensmäßig unverzichtbaren Konsensbedingungen, wie Menschenwürde, Informations·, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, Parteien- und Oppositionsfreiheit, Demokratie, Öffentlichkeit, Sozial- und Kulturstaat, Gewaltenteilung (im engeren und weiteren Sinne) und Unabhängigkeit der 94 Fragwürdig daher BVerfGE 44, 197 (201 ff.); zutreff. Kritik in der abw. Meinung Rottmann / Geiger, ebd., S. 205 ff. 95 ζ. B. über das Diätenurteil: BVerfGE 40, 292, dazu mein Beitrag in NJW 1976, S. 537 ff. 96 Interpretation ist ein pluralistischer Vorgang („Methoden- und Beteiligtenpluralismus"). Einzelheiten in meinem Beitrag JZ 1975, S. 297 ff. (Untertitel: „pluralistische und prozessuale Verfassungsinterpretation"). — Zum „dogmatisch scheinbar anstößigen Fall offener Meinungspluralität" als Normalfall für Rechtsbeurteilung wie Tatsachen Würdigung : Esser, a.a.O., S. 129. 97 Das Verfassungsrecht ist ζ. T. vom Verwaltungsrecht her neu zu durchdenken; s. meinen Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 ff. 98 Zu Bereichen, die „nicht dem freien Spiel" der gesellschaftlichen Kräfte allein überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind: BVerfGE 41, 29 (49). Vgl. auch BVerfGE 31, 314 (325).

1 4 2 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Rechtsprechung. Diese Rahmenbedingungen ermöglichen „autonome", gesellschaftliche und staatliche Integration und Repräsentation, aber auch Partizipation (Gruppen, Verbände, besonders Tarifvertragsparteien, Kirchen, aber auch die Gliederung i n Bund, Länder und Gemeinden sowie andere staatsorganisatorisch ausgegliederte [Selbstverwaltungs-]Körperschaften). Die Konsensbedingungen 99 ermöglichen zugleich Konkurrenz und Dissens. A r t . 5 GG ist i n all seinen Absätzen das Kernstück verf aßter Pluralität. Insofern ist „Verfassung der Freiheit" Verfassung des Pluralismus und umgekehrt. „Verfassung" ist sowohl „ p a k t i e r t " 1 0 0 als auch „gesetzt", so widersprüchlich das erscheinen mag. Das sich einbürgernde Wort vom „ Verfassungs Jconsens" dürfte dies andeuten. Der hier skizzierte Pluralismus ist nicht nur formaler Natur 1 0 1 . b) Der sozialwissenschaftlich nachweisbare Pluralismus organisierter, nicht organisierter sowie nicht organisierbarer Interessen korrelliert mit, ja er ist der „geisteswissenschaftlich" feststellbare Pluralismus von Religions· und Weltanschauungen 102 , politischen Ideen, wissenschaftlichen Lehrmeinungen und privaten Ansichten, Hoffnungen und Wünschen i m „Rahmen" des GG. Die ideenpluralistische — offene — Gesellschaft unserer Tage gehört zur interessengespaltenen (aber verfaßten) Gesellschaft als eine von zwei Seiten derselben res publica. Die pluralistische Verfassungs- und Wissenschaftstheorie verweist auf eine pluralistische Gesellschaftstheorie 103 . Ohne Pluralismus in den Wissenschaften keine pluralistische Demokratie. Dieser Pluralismus von Ideen und Interessen ist positiv zu beurteilen, vom GG w i r d er vielfältig positiv bewertet (und ζ. B. i n Gestalt der Bundesstaatlichkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit vorbildlich ausgebaut). Darin darf man sich durch die Pluralismuskritik von rechts und von links bestärkt fühlen 1 0 4 , da diese, insoweit gemeinsam, von nicht 99 Ohne Minimalkonsens zwischen Regierung(s-Parteien) und Oppositionsparteien) ist kein demokratischer Staat zu machen. 100 Neben der fast täglichen rentenpolitischen Bezugnahme auf den „Generationenvertrag" finden sich aktuelle Hinweise auf den Gesellschaftsvertrag ζ. B. bei Η . v. Heutig, Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977, S. 80. 101 Das zeigt auch seine Konfrontation mit dem sogenannten „sozialistischen Pluralismus"; dazu Kremendahl (FN 104), S. 410 ff. 102 Vgl. BVerfGE 41, 29 (50). 103 Verfassungstheorie und Gesellschaftstheorie bedingen sich wechselseitig insofern, als ζ. B. die Sachgehalte der Verfassung (bes. Art. 5 GG) die „Wahl" des gesellschaftstheoretischen Ansatzes steuern und andererseits Gesellschaftstheorie auf die offene Verfassungstheorie) Einfluß nimmt. 104 Eine Auseinandersetzung mit dieser Kritik jetzt bei Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, 1977, S. 94 ff., 105 ff., 261 ff., 302 ff., 382 ff., 406 ff. — Zum Problem „Souveränität und Pluralismus" mein Beitrag in AöR 92 (1967), S. 259 (283).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

143

verfassungsorientierten Identitätslehren (C. Schmitt einerseits, Agnoli andererseits) oder Elitetheorien (einerseits i n der Nachfolge Schumpeters, andererseits i n (neo)marxistischer Spielart) ausgeht. A l l e Interessen und Ideen — sie bilden die heutige „Allgemeinheit" — leben aus der pluralistischen Öffentlichkeit und ihren Prozessen, welche die Verfassung anregt und begrenzt, z. B. den wissenschaftlichen Verfahren, den diffusen Verfahren der Freiheit der Kunst, den grundsätzlich geregelten der Tarifautonomie. Die Homogenität des bzw. eines allgemeinen Willens i. S. Rousseaus ist angesichts der Heterogenität von Interessen und der Pluralität von Ideen eine Fiktion, wie der Absolutheitsanspruch einer Theorie, einer Meinung oder eines Interesses ein Fehler ist. Pluralität und Offenheit 1 0 6 des „Inputs" dieser öffentlichen Verfassungsprozesse sind die einzigen Garanten dauernder und temporärer Einheitsbildung i m freiheitlichen Gemeinwesen. Die Integrationsleistung der Verfassung (und der Verfassungsgerichtsbarkeit) darf freilich weder über- noch unterschätzt werden. Z. B. ist einerseits sehr die Frage, ob es sich das BVerfG „leisten" könnte, unter Berufung auf das GG sogar die nicht voll paritätische Mitbestimmung scheitern zu lassen: gegen die — verfaßte — Macht der sich sonst immer wieder i n freiheitlicher Integrationsleistung bewährenden Gewerkschaften: zumal der i m Mitbestimmungsgesetz (1976) erfolgte Versuch einer Lösung der Spannungen zwischen „Kapital und Arbeit" i n Gestalt eines fast einstimmigen Bundestagsbeschlusses ergangen ist (das kann m. E. vom BVerfG berücksichtigt werden). Andererseits dürfte es viel eher möglich sein, i m anhängigen Streit um die Wehrpflichtnovelle gegen einzelne (wenn auch Tausende) Wehrdienstverweigerer zu entscheiden, zumal das deutsche „Modell" schon bisher i n der westlichen Welt an L i beralität kaum übertroffen wird. A n den Minderheitenschutz ist freilich auch hier immer wieder zu erinnern. Letztlich kann eine freiheitliche Verfassung nicht mehr leisten als ihre Bürger und Gruppen für sie und in ihr leisten wollen. Beste, erste und letzte Garantie für äußeren gesellschaftlichen Pluralismus ist die innere Toleranz der Menschen und Bürger i m Verhältnis zueinander. I m ganzen: Realistische Demokratie- und Gesellschaftstheorie wie realistische Grundrechts- und Wissenschaftstheorie begegnen sich „ i m " Pluralismus. c) Diese pluralistische Verfassungstheorie kann an Vorarbeiten anknüpfen: an die politikwissenschaftlichen und verfassungstheoretischen 105 Zur „Offenheit" der Ordnung des Grundgesetzes allgemein Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 10. Aufl., 1977, S. 12 ff., 16 f., 66, 133, 180, 282.

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I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

B e m ü h u n g e n Ernst

Fraenkels,

Ulrich

Scheuners,

K . Loewensteins,

Hans

F. Zachers u. α. u m eine p l u r a l i s t i s c h e Staats- u n d G e s e l l s c h a f t s t h e o r i e 1 0 6 , a n die p l u r a l i s t i s c h e G e m e i n w o h l k o n z e p t i o n 1 0 7 , a n das L e i t b i l d verfaßten (konstitutionellen)

einer

G e s e l l s c h a f t 1 0 8 , an die Ü b e r l e g u n g e n

e i n e r p l u r a l i s t i s c h e n u n d prozessualen V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n

zu

und

d i e entsprechende Sicht des V e r f a s s u n g s p r o z e ß r e c h t s 1 0 9 sowie a n E r ö r t e rungen z u m Pluralismus i m ökonomischen System u n d zum Wissens c h a f t s p l u r a l i s m u s 1 1 0 als T e i l d e r K u l t u r v e r f a s s u n g . D e n p h i l o s o p h i s c h e n R a h m e n f ü r dieses S p e k t r u m l i e f e r t

Poppers

„Offene Gesellschaft" 111. D e r kritische Rationalismus ist die überzeugendste Wissenschaftstheorie des P l u r a l i s m u s , w e i l die Sachgehalte des G G (dessen p l u r a l i s t i s c h e S t r u k t u r e l e m e n t e ) u n d die T h e o r i e e l e m e n t e des k r i t i s c h e n R a t i o n a l i s m u s k o n g r u e n t sind.

106 Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie, Verh. des 45. Dt. Juristentages, Bd. 2 B, 1965; s. auch ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl. 1973, S. 197 ff.; Scheuner, Politische Repräsentation und Interessenvertretung, D Ö V 1965, S. 577 ff. ; ders., Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, in: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 (43 ff., 51: „Das entscheidende Moment der pluralen Struktur der politischen Gemeinschaft ist demnach nicht in der Erwartung einer ausgleichenden Wirkung der Offenheit gegenüber verschiedenen Strömungen zu suchen, sondern in der Verhinderung von solchen Herrschaftsmomenten, die in der Festlegung auf bestimmte Anschauungen und politische Richtungen unter Ausschluß der Entfaltung anderer Kräfte bestehen. Der Pluralismus zeigt sich vor allem auch in der Sphäre der Öffentlichkeit, deren Kritik in der Gegenwart die wichtigste Gegenwirkung gegen die herrschende politische Richtung darstellt."); Herzog, Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1848 ff.; K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 367 ff.; Hans F. Zacher, Pluralität der Gesellschaft als rechtspolitische Aufgabe, in: Der Staat 9 (1970), S. 161 ff.; Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 181, 186 f., 233 ff., 244 ff.; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem GG, 2. Aufl. 1977, S. 83 ff., 447 — s. noch bei Anm. 132. 107 Dazu P. Häberle, AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff. —unter Hinweis auf Fraenkel (ebd., S. 261, 279); ders., öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, bes. S. 54 ff., 68 f., 560 f., 706, 708 ff. 108 Mein Beitrag: Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 ff. 109 Dazu mein Beitrag, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.; s. auch Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Staat, 1977, S. 77 ff.; dazu meine Bespr. in D Ö V 1978, S. 257 f. — Zum Verfassungsprozeßrecht mein Beitrag in JZ 1976, S. 537 ff. Bei seiner Anwendung (ζ. B. bei Partizipationsinstrumenten) kommt es zu pluralistischer Verfassungsinterpretation. 110 Dazu statt vieler Kremendahl, a.a.O., S. 362 ff. und 391 ff. 111 Einzelheiten in meinem Beitrag JZ 1975, S. 297 (302 Anm. 68). — Der Versuch des Aus- und Aufbaus der „leistungsstaatlichen Seite" der Grundrechte wäre ohne den (herkömmliche Dogmen aufbrechenden) kritischen Rationalismus schwer denkbar (dazu mein Mitbericht V V D S t R L 30 [1972], S. 43 [69 ff., 72 f.]).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

145

Die angedeutete pluralistische Verfassungstheorie fordert die Verknüpfung von Wissenschafts- bzw. Erkenntnistheorie des kritischen Rationalismus und der Bemühungen um pluralistische Gesellschaftstheorie. Während die pluralistische Verfassungstheorie Fraenkels wesentlich auf dem Boden der USA gewachsen ist (Fraenkel war aus dem NaziDeutschland emigriert), ist die Wissenschaftstheorie Poppers auf dem Boden der englischen Verfassungspraxis m i t ihren vielfältigen Pluralismusgarantien (Meinungs-, Pressefreiheit, Schutz der Opposition usw.) fortgeführt worden zur Gesellschaftstheorie. Dies legt den Gedanken nahe, die Gesellschafts- bzw. die Wissenschaftstheorien seien letztlich mehr oder weniger direkt aus freiheitlich pluralistischen Verfassungspraxen entstanden, geschriebene bzw. umgeschriebene Verfassung hätten das Denken über Gesellschaft und Wissenschaft beeinflußt 1 1 2 . So betrachtet wären Fraenkels und Poppers Gesellschafts- bzw. Wissenschaftstheorie i n nuce eigentlich („verborgene") Verfassungstheorien! M i t der Folge, daß die pluralistische Verfassungstheorie praktisch (nur) wieder zu sich selbst zurückkehrt: von den angloamerikanischen Verfassungsinstitutionen über Fraenkel und Popper jetzt zum Typus des — interpretierten — Grundgesetzes. Genau gesehen zeigt sich eine Wechselwirkung: Pluralismustheorien erwachsen aus mehr oder weniger schon pluralistisch verfaßten Gemeinwesen, umgekehrt regen diese Pluralismustheorien die reformpluralistische Fortentwicklung solcher Verfassungen an. Zwar ist „ i n " den Normen und Instituten, Verfahren und Grundrechten des GG allenthalben, d. h. i m ganzen und einzelnen pluralistisches Denken am Werk gewesen — das GG ist insofern normative Gestalt gewordener Pluralismus 1 1 3 —; die weitere Entfaltung des GG, sei sie („bloß") interpretatorischer 114 oder verfassungspolitischer A r t , kann auf Pluralismustheorien (und ihre Weiterentwicklung) aber gleichwohl nicht verzichten — insofern sind der hier vorgetragene erste Teil und der zweite eng miteinander verknüpft. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten meint die plurale Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, Öffentlichkeit meint 112 Zum Denken „aus" Verfassungen mein Beitrag AöR 102 (1977), S. 27 (28 f., 38 ff.). 113 Zu einzelnen Pluralismusgehalten im GG vgl. unten Anm. 117, 120. 114 wegen des hohen Stellenwerts der Verfassungsinterpretation wird das Stichwort von der „Verfassung als öffentlichem Prozeß" (1969) fortentwickelt zum Titel dieses Vortrags: „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß". Vgl. auch die bewußte Zuspitzung in meinem Beitrag „Zeit und Verfassung", ZfP 21 (1974), S. 111 (127): „Es gibt keine Rechtsnormen, es gibt nur interpretierte Rechtsnormen". Entsprechend vertieft und verbreitert sich die Rolle der Interpretation „vor" dem Erlaß von Verfassungen : in den Verfahren der Verfassunggebung (dazu mein Berner Gastvortrag „Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung", ZSR 1978, i. E.) und der Verfassungsänderung.

10 V e r f a s s u n g

1 4 6 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

Pluralität, und Pluralismustheorien wirken als „erkenntnisleitende Interessen" bei der vielfältigen Fortbildung der Verfassung. Pluralismustheorie w i r d zum großen Nenner, auf dem der westliche freiheitliche Verfassungsstaat seine Identität als Typus findet: Demokratische Verfassungslehre ist an und für sich pluralistisch i n einem doppelten Sinne: ihre Verfassungstheorie ist vereint m i t der Wissenschaftsund Gesellschaftstheorie des Pluralismus und steht als solche gegen A n tipluralismus jeder A r t . Als Theorie eines Verfassungstypus läßt sie Raum für viele Spielarten unterschiedlicher Verfassungen 115 . So mag es zu einem von der Verfassungsvergleichung erfaßten und angeregten Wettbewerb unter den Mitgliedern der „Familie" der Verfassungen des Pluralismus kommen. I h r demokratie-immanentes, i h r grundrechtsimmanentes Prinzip heißt Pluralismus 1 1 6 . Positiv-rechtliche Festlegungen des Pluralismus sind die Grundgesetzinhalte, die das BVerfG zur „freiheitlich-demokratischen Grundordnung" rechnet 1 1 7 : neben der Gewaltenteilung insbesondere die verfahrensmäßige Seite der Grundrechte i. S. des status activus processualis. Der Minimal- bzw. Grundkonsens bezieht sich auf die Inhalte des A r t . 79 Abs. 3 GG, wobei das Bundesstaatsprinzip als Kulturföderalismusgarantie, aktuell als Gegengewicht gegen parteipolitischen Monismus „von Bonn her", gerade i m Deutschland von heute als „absolut" unverzichtbar erscheint 118 . 115 Die Sachgehalte pluralistischer Verfassungen wie des GG sind also Teilelemente eines wissenschafts- und gesellschaftstheoretischen Pluralismuskonzepts, sie bilden dessen beste „Beweisstücke", machen es aber nicht etwa überflüssig. Anleitend ist Theorie auch für den, der glaubt, „nur" von der „positiven" Verfassung ausgehen zu können. Denn was positive Verfassung ist bzw. hergibt, erschließt sich erst „aus" ihrem Verständnis im Lichte bestimmter Theorien. 116 Es bleibt die Frage, ob und wie pluralistische Verfassungstheorie das vielzitierte „dialektische Gesetz des Pendels" verarbeiten kann, wonach alles auch sein Gegenteil hervorbringt: dem Zuviel an Öffentlichkeit und Staat folgt gerne und bald ein Zuwenig (privates „Ohne-Mich"), einem Zuviel an Rechten und Ansprüchen (im Leistungsstaat) ein Zuviel an Pflichten, einem Übermaß an Kritik des Hergebrachten ein Ubermaß an blindem Vertrauen, der Akzentuierung des Harmoniemodells die des Konfliktsmodells usw. 117 E 2, 1 (12 f.). — Zur „freien Bildung der öffentlichen Meinung, die sich im freiheitlich demokratischen Staat notwendig pluralistisch' im Widerstreit verschiedener . . . in Freiheit vorgetragener Auffassungen . . . vollzieht": BVerfGE 12, 113 (125). 118 Anders, d. h. eher für eine Unterbewertung des Bundesstaatsprinzips im Rahmen des Art. 79 Abs. 3 GG aber Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 318 F N 30. — Die formellen Bund-Länder/Streitigkeiten, aber auch die materiellen (im Gewand von abstrakten Normenkontrollen, Organstreitigkeiten usw.), von oppositionellen Ländern wie Hessen der 50er und frühen 60er Jahre unter Zinn eingeleitet, sind ebenso fruchtbar wie die der sogenannten B-Länder (d. h. nicht sozialliberal regierten Länder) der 70er Jahre. Diese Sicht des Föderalismus wirkt sich zugunsten der Verfassungsgerichtsbarkeit als korrelativer Institution des Pluralismus aus.

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

147

H e r z s t ü c k v o n a l l e m ist das V e r f a s s u n g s p r i n z i p d e r — a k t i v e n — Toleranz und

und „endet"

Gewaltlosigkeit. im

Sie

beginnt

Wissenschaftspluralismus

in

den

der

Klassenzimmern

Universitäten,

v o n da w i e d e r i n d i e K l a s s e n z i m m e r ( u n d d i e Gesellschaft)

um

zurückzu-

f ü h r e n . Sie sollte auch d e m P o l i t i k e r n i c h t f r e m d b l e i b e n . I n s o f e r n ist P l u r a l i s m u s e i n „ L e r n - u n d E r z i e h u n g s z i e l " , w i r d die p l u r a l i s t i s c h e V e r fassung z u m Lehrgegenstand:

f ü r Schüler u n d L e h r e r , E l t e r n u n d K i n -

der, Professoren u n d S t u d e n t e n , V e r b a n d s v e r t r e t e r u n d J o u r n a l i s t e n . Das G G ist die „ R a h m e n r i c h t l i n i e " f ü r E r z i e h u n g u n d politische B i l d u n g als A u s d r u c k d e r K u l t u r v e r f a s s u n g . I m ganzen w ä r e eine s o r g f ä l t i g e B e s t a n d s a u f n a h m e d e r e i n z e l n e n P l u r a l i s m u s - „ f r e u n d l i c h e n " 1 1 9 , - „ n e u t r a l e n " oder g a r „ p l u r a l i s m u s g e f ä h r d e n d e n " u n d - „ g e f ä h r d e t e n " B e s t i m m u n g e n des G G e r f o r d e r l i c h , aber auch a l l e r p l u r a l i s m u s g e f ä h r d e n d e n tatsächlichen u n d rechtlichen Entwicklungen i n unserer R e p u b l i k 1 2 0 . Verfassungsrechtlich u n d - p o l i t i s c h schon j e t z t g r e i f b a r e m e n t e e i n e r Verfassungslehre

des Pluralismus

Einzelele-

sind:

— das M ö g l i c h k e i t s d e n k e n des p l u r a l i s t i s c h e n A l t e r n a t i v e n d e n k e n s 1 2 1 , — d i e p l u r a l e S t r u k t u r d e r Verfassunggebung Bereich,

122

,

auch i m

kulturellen

119 Das optimale bundesstaatliche Pluralismusmodell steht noch aus. Entscheidend ist der grundsätzliche Zusammenhang von Bundesstaats„form" und Pluralismus. Er wird bestätigt durch die jüngsten Entwicklungen in Spanien (Katalonien, Baskenland) und England (Schottland). Ihre Regionalisierungstendenzen zielen auf Bundesstaatlichkeit, sind Reaktion auf die vom Absolutismus erzwungenen Einheitsstaaten, so daß man in einer zukünftigen bundesstaatlichen europäischen Union i. S. des Tindemans-Berichts (1975) sowohl in mehreren Mitgliedstaaten als auch auf europäischer Ebene eine Bundesstaatlichkeit hätte, im ganzen also eine Art „doppelte Bundesstaatlichkeit" (in einzelnen Mitgliedstaaten und in der Europäischen Union). Das würde die Attraktivität des Bundesstaats als gewaltenteilendes pluralistisches Modell erhöhen und weitere Regionalisierungs- (und Föderalisierungs-)tendenzen nahelegen. — Nach einer Allensbach-Umfrage ist der Föderalismus in der BR Deutschland populär geworden (FAZ v. 22. 2. 1978, S. 5). 120 Zu einzelnen Pluralismusgehalten im GG vgl. ζ. B. die „PluralismusArtikel" (im engeren und weiteren Sinn): 3 Abs. 3; 4 Abs. 1 und 2; 5 Abs. 1 und 3; 7 Abs. 2, 4 und 5; 8 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 3; 20 Abs. 1/21 Abs. 1; 28 Abs. 1 und 2; 29 Abs. 1; 33 Abs. 1 - 3; 74 Ziff. 3; 75 Ziff. 1 a, 2; 140 i. V. m. Art. 136, 137, 141 WRV. — Pluralismusgefährdend könnte sich Art. 72 Abs. 2 Ziff. 3 auswirken. — Zu den Pluralismus gefährdeten Erscheinungen (Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung, Lobbyismus, „pressure groups", Beraterverträge) s. etwa Art. 74 Ziff. 16 GG; Ani. 1 zur GO BT (Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages) und Ani. 1 a zur GO BT (Registrierung von Verbänden und deren Vertreter). 121 Dazu mein Aufsatz „Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens", AöR 102 (1977), S. 27 ff. 122 Dazu der Berner Gastvortrag: „Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung", ZSR 1978, i. E. Gleiches gilt für die (interpretierte) Verfassungsänderung.

10*

148

I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

— die souveränitätsbegfründende Seite des Pluralismus 1 2 3 und der Freiheit, — die pluralistische Komponente der Gewissensfreiheit 124, das pluralistische Verständnis der Rundfunk- und Fernsehfreiheit 125, — der Gedanke der pluralistischen Gewaltenteilung, welche Gleichheit und Freiheit der pluralistischen Kräfte und Selbstbeschränkung fordert. I m Namen des Pluralismus als Strukturprinzip der verfaßten Gesellschaft 126 müssen Pluralismusdefizite i n dieser Gesellschaft aufgedeckt und möglichst beseitigt werden. Die gewaltenteilende Funktion des Pluralismus hat freiheitssichernde Wirkung 1 2 7 , — die „neue soziale Frage" (Biedenkopf): an ihr zeigt sich, daß die Gesellschaft nicht (mehr) einfach Bereich des sogenannten „freien Spiels der Kräfte" ist 1 2 8 , — das Gegeneinander und Zusammenwirken von Gruppen als Wechselspiel'im pluralistischen Gemeinwesen, das schwierige Probleme der Kooperation und Koordination aufwirft und darum nicht gruppenegoistisch mißverstanden werden darf, — die Aufdeckung und Behebung von Partizipationsdefiziten, nicht auf Kosten, sondern i m Interesse einer auch repräsentativen Demokratie, — eine pluralistische Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Verfahren 1 2 9 , zum Teil auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verbandsklage!), — die Forderung an das BVerfG, sich der Festlegung auf einen theoretischen Gesamtentwurf zu verfassungsrechtlichen Fragen zu enthalten 1 3 0 , u m den pluralistischen Integrationsprozeß des Gemeinwesens nicht zu gefährden, 123 Dazu mein Beitrag in AöR 92 (1967), S. 259 (280, 283); vgl. auch Schiaich, a.a.O., S. 256; Bull, Die Staatsaufgaben nach dem GG, 2. Aufl. 1977, S. 94; Ossenbühl, V V D S t R L 29 (1971), S. 137 (154 f.). 124 Vgl. meinen Diskussionsbeitrag: V V D S t R L 28 (1970), S. 110, l l l f . , 117; zustimmend ζ. B. Obermayer, Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung, 1971, Art. 140 GG Rdnr. 60. 125 Seit BVerfGE 12, 205. 128 Zur verfaßten Gesellschaft s. meinen Versuch, DÖV 1976, S. 73 ff. 127 Dazu Schelsky, Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, 1973, und meine Bespr. in AöR 100 (1975), S. 645 ff. — Verteilungsprobleme gibt es nicht nur in bezug auf Besitzstände, Zukunftserwartungen usw., sondern auch in bezug auf die Freiheit selbst. 128 Dazu mein Beitrag in AöR 98 (1973), S. 119 (125 ff.). 129 Dazu P. Häberle, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 ff. (bes. S. 26 ff., 34 ff.). 130 Vgl. meinen Beitrag in JZ 1977, S. 361 (370 f.).

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

149

— Möglichkeiten und Grenzen pluralistischer (Betriebs-, Verbands-, Berufs·, Kirchen-)Gerichtsbarkeit i m Gegensatz zur „staatlichen" Gerichtsbarkeit 1 3 1 , — die Ablehnung von C. Schmitts Freund/Feind-Ideologie als Theorie des Politischen 1 3 2 — und die Pluralisierung des Rechts 133 . 2. (Toleranz-)Grenzen Pluralismus setzt freilich (Toleranz-)Grenzen: Sie werden aktuell bei der — differenzierten — Abwehr von auf antipluralistische Theorien zurückgehenden Praktiken sowie von entsprechenden ökonomischen Modellen und antipluralistischen wissenschaftlichen Strategien. Poppers „Paradox der Freiheit" ist auch das Paradox des Pluralismus 1 3 4 . Wo antipluralistische Theorien und Strategien die den Pluralismus konstituierenden Momente praktisch i n Frage stellen, muß sich die pluralistische Verfassung inhaltlich und i n geregelten Verfahren zur Wehr setzen (können). Darum ist ein gestuftes Abwehrsystem aufzubauen: der M a r x ismus-Leninismus ζ. B. fällt als politisch-aggressiv eingesetzte Doktrin unter das Verdikt des A r t . 21 Abs. 2 und 18 GG, nicht aber als „reine Lehre" 1 3 5 . Entsprechendes gilt für die Kunst, die gerade wegen ihrer wechselnden Affinität zum Politischen i n offenen Gesellschaften das Signum der Freiheit i m Gemeinwesen ist. 3. Die Entwicklungsfähigkeit und -bedürftigkeit der pluralistischen Verfassung und ihrer Theorien Warum dieses Gewicht auf Pluralismus i m allgemeinen, pluralistischen Verfahren i m besonderen? Weil sie schöpferische Kräfte der Menschen i n Wissenschaft und Kunst, Wirtschaft und Politik freisetzen, weil sie vorhandene Spannungen offenlegen, versachlichen und ausgleichen 131 BVerfGE 18, 241 (253 ff.); 26, 186 (194 ff.); 22, 42 (47 ff.); dazu meine Bespr. in DÖV 1965, S. 369 ff.; Menger, JuS 1966, S. 66 ff. und mein Beitrag AöR 92 (1967), S. 258 (283). 132 I m Sinne eines pluralistischen Politikbegriffs z. B. Fraenkel; dazu Kremendahl, a.a.O., S. 205 f. — Kritik am Freund/Feind-Denken, gerade in jüngster Zeit, ζ. B. bei Η . ν . Hentig, in: Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977, S. 75; Walter Jens, ebd., S. 89. — Vgl. bereits die Kritik ff. Hellers, Staatslehre, 4. Aufl. 1970, S. 9 (am Freund/Feind-Denken), S. 206 f. (im Zusammenhang mit dem Begriff des Politischen), S. 253, 264 f. (Kritik am Dezisionismus), S. 274, 276 f. (am Verfassungsbegriff). 133 P. Häberle, AöR 102 (1977), S. 27 (35). 134 Dazu Kremendahl, a.a.O., S, 413. s. auch meine Bespr. in F A Z v. 7. 7.1978. 135 I m Sinne von BVerfGE 5, 85 (LS 7 und 145 f.).

1 5 0 I .

Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

und damit den Bürgerkrieg und Klassenkampf vermeiden (können) 1 3 6 ; vor allem: weil sie Ausdruck der pluralistisch verfaßten Freiheit des Bürgers sind. Pluralismus bedeutet ein Höchstmaß an öffentlicher und privater Freiheit (Freiheit durch Pluralismus). Er ist ein Maß des Menschen, d. h. anthropologisch begründet! Damit w i r d weder einem Harmoniemodell gehuldigt, noch der Konflikt zum „Vater" und Maß aller Dinge stilisiert. Der Konflikt und Dissens ist ein Ausdruck der res publica. Die Verfassung hat die inhaltlichen und verfahrensmäßigen Grundsätze der Konfliktaustragung (i. S. Dahrendorf s) 137 , ζ. B. Bereiche und Grenzen des Mehrheitsprinzips 1 3 8 zu umschreiben und das „Gewalt- und Rechtsprechungsmonopol" des Staates glaubhaft und möglich zu machen. Eben dadurch schafft sie aber auch Konvergenz und Konsens, an denen vielfältig zu arbeiten ist. Beispiele sind die Kompromißbereitschaft der P o l i t i k e r 1 3 8 3 und die Fähigkeit aller Bürger zur Toleranz. Ohne diese Tugend der Bürger läßt sich eine freiheitliche Verfassung nicht halten und „kein Staat machen". Zu schützen und ständig zu verfeinern sind die Bedingungen dafür, daß die Verfassung i m öffentlichen Prozeß Rahmen für viele divergierende und konvergierende öffentliche (und private) Prozesse sein kann 1 3 9 . Diese Bedingungen sind m i t den Bedingungen des — freiheitlichen — Pluralismus (im Gegensatz zum „sozialistischen Pluralismus") identisch. Die Prozesse verlaufen nicht willkürlich i n bezug auf beliebige Inhalte, Bereiche und Menschen bzw. Gruppen. Bestimmte Prozesse sind nur für bestimmte inhaltlich begrenzte Aufgaben und Beteiligte und unter bestimmten Maximen eingerichtet. D . h . z.B.: Die Verfahren richterlicher Erkenntnisbildung und Entscheidungsfindung dürfen nicht zugunsten anderer Verfahren beschnitten werden (keine Ausnahmen von A r t 19 Abs. 4 und Art. 92 GG!). Darum bleiben die Zweifel am Abhörurteil des BVerfG 1 4 0 . Oder: es gibt — wechselnde — Grenzen der Verfassungsge136 Zur Legitimation der Verfahren: mein Beitrag, JZ 1975, S. 297 (300 Anm. 46). 137 Dazu Kremendahl, a.a.O., S. 39. 138 Dazu im Blick auf Scheuner mein Beitrag in JZ 1977, S. 241 ff. 138a BVerfGE 37, 401 (408), Abw. Mg.: Legiferieren als politischer Prozeß bei Meinungsverschiedenheiten in der Demokratie ein Kompromiß. 139 poppers „öffentlicher Charakter der wissenschaftlichen Methode" (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, 3. Aufl. 1973, S. 267 ff.) führt notwendig zur Qualifizierung der Verfassung als öffentlicher Prozeß. „Wissenschaftliche Objektivität" ist nicht ein Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers, sondern ein Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode (Popper, ebd., S. 270). Es zeigt sich, wie unverzichtbar die Öffentlichkeit der Prozesse der Auslegung und Fortbildung der Verfassung und ihr zugehöriger Wissenschaften ist. 140 E 30, 1 ff. Dazu meine Kritik in JZ 1971, S. 145 ff. und H. H. Rupp, NJW 1971, S. 275 ff.

4. Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß

151

richtsbarkeit!, und: Kommunale Selbstverwaltung, die sich wirklich bürgerdemokratisch und grundrechtlich begründet, muß Raum lassen für Selbstverständnisse. M. a. W.: Der — variable — funktionellrechtliche Gesichtspunkt 141 gibt dem Wort vom Prozeßcharakter der Verfassung Strukturen. Gefordert ist, jeweils herauszufinden, für welche Aufgaben welche A r t e n von Verfahren heute Optimales bewirken können. Hier ein Beispiel: Die gesetzgeberischen oder Verwaltungsverfahren sind stärker i n den gesellschaftlichen Bereich hinein zu erweitern (i. S. vermehrter gestufter Partizipation). Oder: Die Bürgerinitiativen sind verfassungsrechtlich einzubinden. Konsens und Dissens lassen sich gegenständlich und verfahrensmäßig nicht bereichsartig ein für allemal voneinander abscheiden und festschreiben. So können Konflikte i n bezug auf bisher allgemein konsentierte „gesicherte" Inhalte aufbrechen: man denke an die seit einigen Jahren umstrittenen Lerninhalte i n Schulen. Auch für solche Wandlungen sollte die Verfassung des Pluralismus gewappnet sein, konkret durch den demokratischen, öffentlichkeitsorientierten Gesetzesbegriff 142 und die Ausrichtung am Erziehungsziel der Toleranz 1 4 3 . Umgekehrt können bislang umstrittene Bereiche Gegenstand eines Konsenses werden 1 4 4 : etwa auf dem Weg der Verfassungsänderung und des sogenannten „Verfassungswandels". I m — variablen — Wechselspiel von Dissens und Konsens entsteht die — offene — Einheit der res publica, erwächst die produktive K r a f t des Pluralismus. Diese Konzeption setzt die ständige Weiterentwicklung des Pluralismus als Verfassungstheorie und Verfassungspraxis voraus. Sie hat sich selbst dem Postulat des kritischen Rationalismus nach fortwährender Kontrolle und K r i t i k gerade i m Sinne des Möglichkeitsdenkens zu stellen. Auch der „konstitutionelle Pluralismus" muß sich selbstkritisch (etwa m i t Hilfe fremder Theorieelemente) gegen die Verführung der oft bequemen immunisierenden Dogmatisierung wehren. Z u fragen ist, wie die immer wieder drohende harmonistische Gruppengleichgewichtsideologie zu korrigieren ist, wie gesellschaftliche Gruppen „relevant" wer141

I m Sinne von Ehmke, V V D S t R L 20 (1963), S. 53 (73 f.) und Hesse, a.a.O., S. 29, 32 f. 142 Dazu zuletzt Kisker, NJW 1977, S. 1313 ff.; BVerfGE 45, 400 (417 f.). 143 Sie rückt in der Rechtsprechung des BVerfG immer stärker in den Vordergrund, vgl. z.B. E 41, 29 (51 f.), 65 (78, 83), 88 (108); s. auch E 33, 23 (32), E 12, 205 (263); E 31, 314 (326 f.).: „gegenseitige Achtung". — s. auch Art. 131 I I , 159 I I Verf. Bayern. — Schulische Erziehungsziele tragen die Verfassung von unten. 144 z. B. die — wissenschaftlich vorbereitete — Verabschiedung des „besonderen Gewaltverhältnisses" durch BVerfGE 33, 1 ff.

152

I. Gegenstand und Methoden der Verfassungsinterpretation

den (können), wie an die Stelle eines quantitativen Sozialstaatsdenkens, auch i m Blick auf den Kulturstaat, ein qualitatives t r i t t : nicht i n noch größerer Ausweitung staatlicher Leistungen, sondern durch Intensivierung ihrer Effizienz und schrittweise Neuverteilung der Lasten bei etwaigen Nullwachstum. Nur diese Lockerung der Fixiertheit auf die Wirtschaft, nur diese Aktualisierung des Kulturstaats ermöglicht Identifizierung des Bürgers mit seinem Gemeinwesen. Diese Sicht schafft die Ebene, von der aus K r i t i k am „real existierenden Pluralismus" vom normativen Pluralismuskonzept der freiheitlichen Verfassung her jederzeit möglich w i r d und notwendig ist 1 4 5 . Ich erinnere an Reformanliegen wie Fusionskontrolle, Verbesserungen des Minderheitenschutzes, Sozialpflichtigkeit der Verbände, negativ an die etablierte 5 € /o-Klausel i m Parteienrecht. Verfassung und Verfassungstheorie des Pluralismus sind die Verfassung und Theorie schrittweiser Reformen i. S. von Poppers Stückwerk-Technik 1 4 6 . Insofern geht es um „Pluralismus-Politik" als eine Dimension i m Rahmen der noch ausstehenden ganzen Verfassungslehre des Pluralismus (ebenso um die A k tualisierung des Kontextbegriffes 147 ). Der Verfassungsstaat ist nicht schon deshalb an sein Ende gekommen, weil die klassischen Theorien i n vielem nicht mehr ausreichen. A l l e i n die „rechtsstaatliche Verfassung" i m Zentrum der Verfassung, alles andere außerhalb, unter oder gar gegen sie sich abspielen zu lassen, spricht nicht gegen die Verfassungsidee, sondern gegen die Phantasie ihrer heutigen Interpreten, Theoretiker und Politiker. Ein reformpluralistischer Ansatz könnte hier weiterhelfen. Ich komme zum Schluß: Pluralismus ist ein Stück „Idealität", ist nie voll erreichte Wirklichkeit, aber auch Chance und darum ständige Aufgabe, wie die Verfassung selbst Norm und Aufgabe ist (Scheuner) 1* 9. Diese Einsicht sollte zu unserem Grundlagenkonsens gehören. A n i h m müssen w i r alle tagtäglich arbeiten, nicht zuletzt i m Ringen um wissenschaftlichen Pluralismus — wie er i n diesem Freiburger Seminar seit 1956 praktiziert wird.

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Vgl. meinen Diskussionsbeitrag in VVDStRL 29 (1971), S. 125 (126). Dazu meine Hinweise in AöR 94 (1974), S. 437 (452 f., 462 ff.); 98 (1973), S. 119 (130). — Das Bekenntnis zu wissenschaftlichem Optimismus (gegen den wissenschaftlichen Pessimismus Schelskys s. meine Besprechung in AöR 100 [1975], S. 645 [650]) kann (nur) der kritische Rationalismus einbauen. 147 Die Trias von Kontextbegriff, erfahrungswissenschaftlichem Ansatz und kulturverfassungsrechtlichen Gehalten grundiert die Offenheit der Verfassung. 148 Jüngstes Beispiel für Aufgabendenken : BVerfGE 45, 297 (331); 46, 268 (297); 47, 46 (80). 146

I I . Ofiener Staat und verfaßte Gesellschaft

5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten' Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen" Verfassungsinterpretation I. Grundthese, Problemstand 1. Die bisherige Fragestellung der Theorie der Verfassungsinterpretation Die Theorie der Verfassungsinterpretation stellt sich bisher im wesentlichen zwei Fragen: — die Frage nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation 1 — die Frage nach den Methoden (Verfahren) der Verfassungsinterpretation (Auslegungsregeln) 2 . Vernachlässigt ist das Problem, i n welchem systematischen Zusammenhang dazu die (neue) dritte Frage nach den Beteiligten der Verfass sungsinterpretation steht, eine Frage, zu der die Praxis provoziert: Eine Bestandsaufnahme ergibt nämlich einen sehr weiten, pluralistischen, oft diffusen Beteiligungskreis; dies ist Grund genug für die Theorie, die Beteiligtenfrage explizit und zentral zu thematisieren, insbesondere i n wissenschafts- und demokratietheoretischer Hinsicht. Die Theorie der Verfassungsinterpretation war zu sehr auf die „geschlossene Gesellschaft" juristischer Verfassungsinterpreten fixiert 3, und sie verengte * JZ 1975, S. 297 - 305 mit Nachtrag (1978). A n Aufgaben werden genannt: Gerechtigkeit, Billigkeit, Interessenausgleich, befriedendes und befriedigendes Ergebnis, Vernünftigkeit (vgl. etwa BVerfGE 34, 269 [287 ff.] [ = JZ 1973, 662, 665 m. Anm. Kübler]), Praktikabilität, Sachgerechtheit, Rechtssicherheit, Berechenbarkeit, Transparenz, Konsensfähigkeit, Methodenklarheit, Offenheit, Einheitsbildung, „Harmonisierung" (Scheuner, V V D S t R L 20 [1963], S. 125), normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtliche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gerechte („gute") öffentliche Ordnung. 2 Dazu grundsätzlich Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 7. Aufl. 1974, S. 20 ff. 3 s. aber Ehmkes (VVDStRL 20 [1963], S. 53 [71 f., 133]) auf das „ganze Gemeinwesen" zielende Figur „aller Vernünftig- und Gerecht-Denkenden". Zu ergänzen wäre: „und -Handelnden". 1

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

ihren Blickwinkel noch dadurch, daß sie primär auf die verfassungsrichterliche Interpretation und das formalisierte Verfahren schaute. Wenn eine Theorie der Verfassungsinterpetation das Thema „Verfassung und Verfassungswirklichkeit" ernst nehmen w i l l — man denke hier an die Forderung nach Einbeziehung der Sozialwissenschaften 4 , an die schon bekannten funktionell-rechtlichen Theorien 5 sowie an die neueren Methoden der öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogenen Auslegung 6 — dann muß entschiedener als bisher gefragt werden, wer „Verfassungswirklichkeit" gestaltet. 2. Neue Fragestellung und These I n diesem Sinne stellt sich jetzt die Beteiligtenîrage, d. h. die Frage nach den an der Verfassungsinterpretation Beteiligten unter dem Stichwort: von der geschlossenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zur Verfassungsinterpretation durch und für die offene Gesellschaft! These ist: I n die Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet. Es gibt keinen numerus clausus der Verfassungsinterpreten! Verfassungsinterpretation ist bewußtseinsmäßig, weniger realiter, bislang viel zu sehr Sache einer „geschlossenen Gesellschaft": der „zunftmäßigen" juristischen Verfassungsinterpreten und der am Verfassungsprozeß formell Beteiligten. Sie ist i n Wirklichkeit weit mehr Sache einer offenen Gesellschaft, d. h. aller — insoweit materiell beteiligten — öffentlichen Potenzen, weil Verfassungsinterpretation diese offene Gesellschaft immer von neuem mitkonstituiert und von ihr konstituiert wird. Ihre Kriterien sind so offen, wie die Gesellschaft pluralistisch ist. 3. Erläuterung

der These, Interpretationsbegriff

Einer Erläuterung bedarf der hier zugrundegelegte Interpretationsbegriff, der sich auf die Formel bringen läßt: Wer die Norm „lebt", interpretiert sie auch (mit). Jede Aktualisierung der Verfassung (durch jeden) ist mindestens ein Stück antizipierter Verfassungsinterpretation. Herkömmlicherweise w i r d m i t „Interpretation" nur eine Tätigkeit be4 Dazu der Sammelband Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften (Hrsg. Grimm), Bd. 1, 1973. s. aber auch Schelsky, JZ 1974, 410 ff.. 5 Dazu Ehmke, V V D S t R L 20 (1963), S. 53 (73 f.) ; Hesse, a.a.O., S. 29, 32 f. Zu verfahrensmäßigen („procedere") und materiellrechtlichen Auswirkungen der funktionellen Arbeitsteilung zwischen BVerfG und „anderen Verfassungsorganen": BVerfGE 36, 1 (14 f.); 35, 257 (261 f.); 4, 157 (168 f. [ = JZ 1955, 417, 418]); 36, 342 (356 f.). 6 Dazu m . N . Ρ. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.).

5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

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zeichnet, die bewußt und intentional auf das Verstehen und Auslegen einer Norm (eines Textes) gerichtet ist 7 . Die Verwendung eines so umgrenzten Interpretationsbegriffs ist auch sinnvoll: Die Frage nach der Methode zum Beispiel läßt sich nur dort stellen, wo bewußt interpretiert wird. Für eine realistische Untersuchung des Zustandekommens von Verfassungsinterpretation kann aber ein weiterer Begriff von Interpretation erforderlich sein: Bürger und Gruppen, Staatsorgane und Öffentlichkeit sind „interpretatorische Produktivkräfte": Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne. Zumindest als „Vorinterpreten" sind sie tätig; die Verantwortung verbleibt bei der „letztlich" interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit (vorbehaltlich der normierenden K r a f t von M i n derheitsvoten). Wenn man w i l l , handelt es sich um eine Demokratisierung der Verfassungsinterpretation 8 , wie überhaupt die Interpretationstheorie demokratietheoretisch abgesichert werden muß und umgekehrt. Es gibt keine Interpretation der Verfassung ohne die erwähnten A k t i v bürger und öffentlichen Potenzen. Jeder, der i n und m i t dem von der Norm geregelten Sachverhalt lebt, ist indirekt und ggf. auch direkt Norminterpret. Der Adressat der Normen ist am Interpretationsvorgang stärker beteiligt als gemeinhin angenommen wird 9 . Da nicht nur die juristischen Verfassungsinterpreten die Normen leben, sind sie auch nicht die alleinigen, ja nicht einmal die Primärinterpreten. Dabei geht es nicht nur um die „Staatspraxis" 1 0 (etwa um die Interpretation der A r t . 54 ff. GG durch den Bundespräsidenten oder des A r t . 65 GG durch den Bundeskanzler). Bei manchen Grundrechten richtet sich die Interpretation (schon bewußt?) danach, wie die „Normadressaten" selbst den grundrechtlich geschützten Lebensbereich ausfüllen. So bestimmt das BVerfG den Schutzbereich des A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG m i t Hilfe des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschau7 Diesen engeren Interpretationsbegriff legt Hesse, Grundzüge, S. 21, zugrunde. Er bezeichnet das, was hier mit Interpretation im weiteren Sinne gemeint ist, als „Verwirklichung" (Aktualisierung) der Verfassung; ähnlich Hans Huber, der von „Konkretisierung anstelle von Interpretation" spricht, GS für Imboden, 1972, S. 191 (195). Zu einem weiteren Interpretationsbegriff vgl. auch Ehmke, V V D S t R L 20 (1963), S. 53 (68 f.); Scheuner, ebd., S. 125. 8 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff.). 9 Winter und Schumann, Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 3, 1972, S. 529, fordern für den Bereich des Strafrechts die intensive Beteiligung derjenigen, denen ein Norm verstoß vorgeworfen wird, an der kritischen Überprüfung und Fortentwicklung des Rechts durch die Justiz. 10 Wie diese die Interpretation beeinflußt, hat G. Jellinek schon mit der normativen Kraft des Faktischen gezeigt, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960, S. 18 f., 332 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

u n g s g e m e i n s c h a f t e n 1 1 . Ä h n l i c h e B e d e u t u n g k ö n n t e das S e l b s t v e r s t ä n d n i s des K ü n s t l e r s b e i d e r A u s l e g u n g d e r „ o f f e n e n " K u n s t f r e i h e i t s g a r a n t i e ( A r t . 5 A b s . 3 G G ) e r l a n g e n 1 2 ; auch b e i d e r p l u r a l i s t i s c h u n d v e r f a h r e n s o r i e n t i e r t z u sehenden Wissenschaftsfreiheit m i t i h r e m „ o f f e n e n " W i s senschaftsbegriff 1 3 s t e l l t sich die Frage, i n w i e w e i t sie v o n d e n einzeln e n Wissenschaften ( u n d i h r e n M e t a t h e o r i e n ) selbst n o t w e n d i g e r w e i s e m i t i n t e r p r e t i e r t w e r d e n m u ß — w i e ü b e r h a u p t die G r u n d r e c h t e i n e i n e m spezifischen S i n n e o f f e n auszulegen sind. I n e i n e m w e i t e r e n S i n n e ließen sich h i e r auch d i e a n d e r R e a l i t ä t d e r m o d e r n e n P a r t e i e n d e m o k r a t i e o r i e n t i e r t e A u s l e g u n g der A r t . 2 1 1 4 u n d 38 G G , d i e L e h r e v o n d e n B e r u f s b i l d e r n 1 5 , d i e D u r c h s e t z u n g eines w e i t e n B e g r i f f s d e r P r e s s e f r e i h e i t ) b z w . i h r e r „ ö f f e n t l i c h e n A u f g a b e " 1 6 oder die I n t e r p r e t a t i o n der K o a l i t i o n s f r e i h e i t ( A r t . 9 A b s . 3 G G ) a n f ü h r e n 1 7 , s o w e i t sie das S e l b s t v e r s t ä n d n i s d e r K o a l i t i o n e n b e r ü c k s i c h t i g e n soll. 11 BVerfGE 24, 236 ff. (247 f.), mit dem bezeichnenden Hinweis auf die „pluralistische Gesellschaft"; dazu meine Anm. in DÖV 1969, S. 385 (388); Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 202 ff. und meine Bespr. in ZevKR 18 (1973), S. 420 ff. — Zur Negierung des Selbstverständnisses der Religionsgemeinschaften nach Beginn des Kirchenkampfes in der Rspr. des R F H Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 290 f. 12 Zum verfassungsrechtlichen Kunstbegriff: Knies, Schranken der Kunstfreiheit als verfassungsrechtliches Problem, 1967, bes. S. 128 ff., 164 f., 172 f., 217 ff.; M. Hechel, Staat, Kirche, Kunst, 1968, S. 97: Offenheit des Kunstbegriffs der Verfassung 13 Zur Freiheit der Forschung jetzt Schmitt Glaeser, WissR 7 (1974), S. 107 ff., 177 ff.; BVerfGE 35, 79 (113): Kein Schutz einer bestimmten Auffassung von Wissenschaft oder einer bestimmten Wissenschaftstheorie durch Art. 5 Abs. 3 ; prinzipielle Unabgeschlossenheit jeglicher wissenschaftlicher Erkenntnis; vgl. auch das Minderheitsvotum und dessen Hinweis auf den „freiheitlichen Wissenschaftspluralismus", auf Wissenschaft als „prinzipiell unabgeschlossenen, dialogischen Prozeß der Suche nach Erkenntnis" (S. 157) sowie auf die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zur „Reform der Reformen" (S. 165). Für einen „offenen" Wissenschafts- und Freiheitsbegriff: Solte, Theologie an der Universität, 1971, S. 30, 33 ff., dessen Begriff einer „neutralen" Interpretation der Grundrechte freilich fragwürdig ist. 14 Dazu Hesse, a.a.O., S. 69 ff.; P. Häberle, JuS 1967, 64 ff. — ζ. B. wird jetzt ein verfassungsrechtlicher Schutz der Fraktionen aus der Regelung des Bundestages (BVerfGE 20, 56 [104] [ = JZ 1966, 517, 518] und (!) aus Art. 21 GG gefolgert; ihre „Konstitutionalisierung" in Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG (s. schon: BVerfGE 27, 44 [51 f.] [ = JZ 1969, 631, 632], dazu mein Aufsatz JZ 1969, 613 f. mit Note 10) folgte der GeschO-BT erst nach. 15 Ihr kommt allerdings nur eine begrenzte Bedeutung zu: BVerfGE 7, 377 (397); 21, 173 (180); 34, 252 (256); Maunz J Dürig / Herzog, GG, Art. 12, RN. 24 ff. 16 Dazu BVerfGE 34, 269 (283); 12, 113 (125 f. [ = JZ 1961, 535, 536 m. Anm. Ridder]) und mein öff. Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 582 ff. 17 Ansätze in BVerfGE 4, 96 (108); 18, 18 (32 f.) [ = JZ 1965, 103, 106, dazu Herschel, S. 81]; 34, 307 (316 f.) sowie bei Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfrechts, 1968, S. 53; Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 43 ff., 93. — s. auch das Argument vom Fehlen der „billigenden Aufnahme" durch beteiligte Kreise in BVerfGE 34, 293 (304 f. [ = JZ 1973, 311, 313 m. Anm. Schumann]) sowie der „allgemeinen Uberzeugung

5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

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Diese Relevanz des Selbstverständnisses und des entsprechenden W i r kens von Einzelnen und Gruppen, aber auch von Staatsorganen ist eine herausragende und fruchtbare Form der Verbindung von Verfassungsinterpretation i m weiteren und engeren Sinne. Das Selbstverständnis w i r d zu einem „grundrechtlichen Sachelement" 18 . Auch die realiter m i t interpretierende Rolle der Sachverständigen i n Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren gehört hierher. Dieses Zusammenspiel von Interpreten i m weiteren und engeren Sinne findet nicht nur dort statt, wo es schon institutionalisiert ist wie bei den Arbeitsrichtern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite i n den staatlichen Arbeitsgerichten 19 . „Sachkundige" und „Interessenten" aus der pluralistischen Gesellschaft werden zu Interpreten staatlichen Rechts. Dieses erweist sich nicht nur i m Entstehungsvorgang, sodern auch i n der weiteren Entwicklung als pluralistisch: Wissenschafts-, Demokratie- 2 0 und (Verfassungs-)Interpretationstheorie führen hier zu einer spezifischen Vermittlung von Staat und Gesellschaft! II. Die an Verfassungsinterpretation Beteiligten 2. Methodische Vorbemerkung Die Untersuchung, wer i n diesem Sinne realiter an Verfassungsauslegung beteiligt ist, ist (verfassungs-)soziologischer Ausdruck und Konsequenz des Begriffs „republikanische", offene Auslegung, die als Ziel aller Verfassungsinterpretation anzusehen ist. Wenn man davon spricht, daß „die Zeit", „die pluralistische Öffentlichkeit", „die Wirklichkeit" Verfassungsprobleme stellen und Material für Verfassungsauslegung, ihre Notwendigkeiten und Möglichkeiten entfalten 2 1 , dann können diese Begriffe nur als vorläufig abstrahierende Chiffren verstanden werden. Eine Verfassungstheorie, die sich (auch) als Erfahrungswissenschaft versteht, muß bereit und prinzipiell i m Stande sein, anzugeben, aus welchen konkreten Personen (Gruppen) und Faktoren die Öffentlichkeit besteht, was für eine Wirklichkeit es ist, die in der Zeit auf welche Weise w i r k t , welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten es gibt. Die Frage nach den der Rechtsanwaltschaft": E 36, 212 (221). Umfassende Rechtsprechungsanalysen hätten nachzuweisen, wo die (Rechts-)Ansichten beteiligter Kreise von den Gerichten mitverwertet werden (vgl. auch § 346 HGB!). Speziell die Gewohnheitsrechtsbildung dürfte sich als „Fundgrube" erweisen. — Allgemein stellt sich die Frage, wann welche praktizierten Selbstverständnisse pluralistischer (Rand-) Gruppen in die Verfassungsinterpretation eingebracht werden dürfen, ja müssen; das ist auch ein Problem des Gleichheitssatzes. 18 Ausdruck bei F. Müller, Juristische Methodik, 1971, S. 30 ff., 37 f. 19 Dazu Schiaich, a.a.O, S. 66 ff. 20 Zu Poppers Wissenschaftstheorie als „Philosophie der Demokratie" unten Anm. 68. 21 Dazu mein Beitrag in ZfP 21 (1974), S. 111 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

an Verfassungsinterpretation Beteiligten ist zunächst i n einem rein soziologischen, erfahrungswissenschaftlichen Sinne zu stellen 22 . D. h. man fragt realistisch danach, welche vorfindbare Auslegung auf welche Weise zustande gekommen ist, durch welche Elemente der öffentlichen Meinung, durch welche Beiträge der Wissenschaft die Verfassungsrichter (oder die sonst verbindlich entscheidenden Instanzen) i n ihrer Auslegung tatsächlich beeinflußt worden sind 2 3 . Schon diese Frage ist eine Bereicherung und Ergänzung für eine Verfassungstheorie, die nach Zielen und Methoden (und damit nach der „guten" Interpretation) fragt; sie hat eine Hilfs-, Informationsfunktion, eine A r t „Zubringeraufgabe". Später werden die Fragen nach Zielen und Methoden sowie nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation i n einen systematischen Zusammenhang zu bringen sein, aus dem sich Konsequenzen und neue Fragestellungen für die „juristische" Verfassungsauslegung wie für die Verfassungstheorie ergeben. 2. Systematisches Tableau Der Versuch einer systematisierenden Zusammenstellung der an Verfassungsinterpretation Beteiligten ergibt das folgende, vorläufige Tableau: (1) Die staatlichen Funktionen: a) i n letztverbindlicher Entscheidung: das Bundesverfassungsgericht (freilich durch das eigene Minderheitsvotum „relativiert" und eben dadurch „offen") b) vom GG zu verbindlicher, aber überprüfbarer Entscheidung aufgerufen: die Rechtsprechung, die Legislative, (je nach Sachbereich i n unterschiedlichem Maße:) die Exekutive, besonders bei der (Vor-)Formulierung öffentlicher Interessen 24 . 22 Gerade unter dem Aspekt der hier gestellten Beteiligtenfrage scheint der entscheidungssoziologische Ansatz von Lautmann interessant, der die auf den Richter zielenden Verhaltenserwartungen der Verfahrensbeteiligten und der weiteren Umwelt untersucht (Jahrbuch f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. I, 1970, S. 383 ff.), s. aber auch die Kritik von Schelsky t JZ 1974, 410 (412) an der „rechtstheoretischen Vorherrschaft der »Entscheidungstheorie' des Richters" mit einem Hinweis auf das „realdialektisch gegliederte Rationalisierungsverfahren" des prozessualen Zusammenwirkens von Ankläger, Verteidiger und Richtern. 23 Dazu mit einigem Material mein öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, insbesondere zur normierenden Kraft der Staatspraxis, der Öffentlichkeit und öffentlicher Interessen, S. 475 ff., 678 ff. bzw. 418 f., 558 ff., 572, 584 f., 589 ff. bzw. 215 ff., 260 ff. 24 Dazu m. N. aus der Rechtsprechungswirklichkeit der Verwaltungsgerichte: mein öff. Interesse, S. 475 ff., 678 ff.

5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

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(2) Die — nicht notwendigerweise staatlichen — Verfahrensbeteiligten an den Entscheidungen zu 1 a) und b) ? d. h.: a) Antragsteller und Antragsgegner, Beschwerdeführer (z.B. Verfassungsbeschwerde), Kläger und Beklagter, die i h r Vorbringen begründen und das Gericht zur Stellungnahme (zum „Rechtsgespräch") zwingen b) sonstige Verfahrensbeteiligte, Äußerungs- und Beitrittsberechtigte nach dem BVerfGG (z. B. §§ 77, 85 Abs. 2 2 5 , 94 Abs. 1 bis 4 bzw. 65, 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 88, 94 Abs. 5), vom BVerfG „zugezogene" (z. B. § 82 Abs. 4 BVerfGG) c) Gutachter (ζ. B. i n Enquete-Kommissionen, § 73 a GeschOBT) d) Sachverständige und Interessenvertreter i n hearings (§ 73 Abs. 3 GeschOBT, § 40 Abs. 3 GeschOBR), Sachverständige i m Gericht 2 «, Verbände (Anlage l a GeschOBT: Registrierung von Verbänden und deren Vertretern), politische Parteien (Fraktionen — sie w i r ken speziell auch über den „langen A r m " der Richterwahl ein 2 7 e) Lobbyisten, „Deputationen" (§ 10 GeschOBReg.) f) Beteiligte i n partizipatorisch ausgestalteten Verwaltungsverfahren 2 8 . (3) Die demokratische — pluralistische — Öffentlichkeit, der politische Prozeß als „großer Anreger": Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) — die nicht i m engeren Sinne verfahrensbeteiligt sind, professioneller Journalismus einerseits, Lesererwartungen, Leserbriefe andererseits, Bürgerinitiativen, Verbände, politische Parteien außerhalb ihrer organisatorischen Beteiligung (vgl. 2 d), Kirchen, Theater, Verlage, Volkshochschulen, Pädagogen, Elternvereine 2 8 a . (4) (in noch zu klärender Weise zwischen 1., 2., 3. einzuordnen) die Verfassungsrechtslehre; sie hat eine Sonderstellung, weil sie die Beteiligung der anderen Kräfte thematisiert, selbst aber auch auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist. 25

Aus der Praxis des BVerfG: E 36, 342 (353 f., 354 f.). Aufschlußreich ist der vom BVerfG in E 35, 202 (219) eingebaute „Sachverständigenvorbehalt". 27 Und zwar durchaus konsequenterweise, dazu meine Anm. in JZ 1973, 451 (453). — I. S. einer (partei-)politischen Anbindung schon Drath V V D S t R L 9 (1952), S. 17 (102,106 Anm. 25). 28 Zum Problem: Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 179 ff. s. auch die Typologie in meinem öff. Interesse, S. 88 ff. 28 a Aufschlußreich ist die jetzt von Eltern vereinen geforderte Einräumung eines „Klagerechts", FR vom 18. 3.1975, S. 4. 26

11 Verfassung

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

3. Erläuterung

des systematischen Tableaus

Aus dieser Ubersicht w i r d deutlich: Verfassungsinterpretation ist weder theoretisch noch praktisch ein „exklusiver" staatlicher Vorgang. Zugang zu i h m haben potentiell alle Kräfte des politischen Gemeinwesens 29 . Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt 3 0 » 3 1 , ist ebenso Verfassungsinterpret wie die politische Partei, die Organklage einreicht 3 2 oder gegen die ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wird. Bislang herrscht eine zu starke Verengung des Prozesses der Verfassungsinterpretation auf die Staatsorgane oder unmittelbar Verfahrensbeteiligten vor, eine Fixierung auf das „ A m t " der Verfassungsinterpretation, auf das funktionell-rechtliche Zusammenspiel der staatlichen Funktionen, so wichtig dieses ist. Verfassungsinterpretation ist aber ein „Geschäft", das potentiell jeden und alle angeht. Die genannten Gruppen, Einzelnen usw. können als „mittelbare" oder langfristig wirkende Verfassungsinterpreten bezeichnet werden. Gestaltung der Wirklichkeit der Verfassung w i r d auch zu einem Stück Interpretation der „zugehörigen" Verfassungsnormen. Auch i n und hinter den Staatsfunktionen (Gesetzgebung, Regierung sowie Verwaltung und Rechtsprechung) sind die konkreten Personen, die Abgeordneten, Verwaltungsbeamten, Richter zu sehen 3 2 a („Personalisierung" der Verfassungsinterpretation). Die sogenannte Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages i m Februar 197433 ist eine vorgezogene Verfassungsinterpretation. Abgeordnete werden hier zu Interpreten der Verfassung. Ihre Äußerungen können sich — auch ohne 29 s. aber Forsthoff s Zurückweisung einer „Demokratisierung" der Verfassungsinterpretation ζ. B. in bezug auf Politikwissenschaftler, in: Der Staat der Industriegesellschaft, 1971, S. 69; dazu meine Kritik in: Z H R 136 (1972), S. 425 (443). 30 Nimmt man A. Arndts Forderung nach dem Rechtsgespräch ernst, dann müssen die „vernünftig und gerecht Denkenden" i. S. Ehmkes zunächst einmal die Verfahrensbeteiligten sein, vgl. Roellecke, FS für Gebh. Müller, 1970, S. 323 (328 f.). 31 Lautmann, Justiz — Die stille Gewalt, 1972, S. 118, bezeichnet die Parteien des Prozesses als „Lieferanten für Alternativen". 32 I m Sinne von BVerfGE 4, 27 (30); 20, 56 (113 f.), ständige Rechtsprechung. 32a Vgl. dazu den Versuch von Kommers, The Federal Constitutional Court in the West German Political System, in: Frontiers of judicial research (Hrsg. Grossman und Tannenhaus), 1969, S. 73 ff., mit dem behavoristischen Ansatz der amerikanischen Richtersoziologie die Einstellungen der Bundesverfassungsrichter zu untersuchen. Kritisch dazu Wittig, Politische Rücksichten in der Rechtsprechung des BVerfG?, Der Staat 8 (1969), S. 137 (156 f.). Zu den verschiedenen verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen und ihrer Kritik vgl. auch Rottleuthner, Richterliches Handeln, 1973, S. 61 ff. 33 79. Sitzung des 7. BT v. 14. 2. 1974, Sten. Ber. S. 5002 (Β), mit dem allseits als herausragend empfundenen Beitrag des bayr. Kultusministers H. Maier, S. 5089 (C), s. auch Ehmke, 80. Sitzung des 7. BT v. 15. 2. 1974, Sten. Ber. S. 5139 (C) ff., 5140 (C).

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formelle rechtliche Bedeutung zu haben — ζ. B. bei der umstrittenen Frage der Einstellung von Verfassungsfeinden i m öffentlichen Dienst auf die Verwaltungspraxis, auf die Interpretation durch Staatsorgane auswirken. Der vielberufene „politische Prozeß", der meist sub specie Freiheit für ihn gegenüber der Verfassungsinterpretation zitiert w i r d 3 4 , ist de constitutione lata und de facto viel stärker ein Stück Verfassungsinterpretation als gemeinhin angenommen w i r d („Politik als Verfassungsinterpretation") 3 5 . Er ist von der Verfassung nicht ausgegrenzt, sondern einer ihrer wesentlichsten Lebens- und Funktionsbereiche, ein Herzstück i m wahren Sinne des Wortes: einer Pumpe vergleichbar. Hier kommt es zu Bewegungen, zu Innovationen, zu Änderungen, aber auch zu „Bekräftigungen", die mehr als nur „objektives Material" für (spätere) Verfassungsinterpretation bilden; sie sind ein Stück Interpretation der Verfassung, weil i n ihrem Rahmen öffentliche Wirklichkeit geschaffen und oft unmerklich verändert wird. Die Gestaltungsfreiheit, die der Gesetzgeber „als" Verfassungsinterpret hat, unterscheidet sich zwar qualitativ von dem Spielraum, den der Verfassungsrichter bei der Interpretation hat, weil der Spielraum jeweils auf technisch ganz verschiedene Weise begrenzt w i r d 3 6 . Das bedeutet aber nicht, daß auch quantitativ ein erheblicher Unterschied bestehen muß. Der politische Prozeß ist kein verfassungsfreier Raum; er formuliert Gesichtspunkte vor, er setzt Entwicklungen i n Gang, die auch dort verfassungsrelevant sind, wo der verfassungsrichterliche Interpret später sagt, es sei Sache des Gesetzgebers, i m Rahmen der verfassungskonformen Alternativen so oder anders zu entscheiden 37 . Der Gesetzgeber schafft ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung, er setzt 34 Auch Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, untersucht in erster Linie den Einfluß, der vom BVerfG in Richtung auf den politischen Prozeß ausgeht. 35 Es gibt nicht nur Politik durch Verfassungsinterpretation, es gibt auch Verfa,ssungsinterpretation durch Politik! 36 Für den Gesetzgeber „technisch" durch die Kontrolle des BVerfG, „untechnisch" durch Wahlen, Tragfähigkeit von Koalitionen, (inner)parteiliche Willensbildung; für den Verfassungsrichter gibt es keine „technische" Kontrolle. Freilich wird er durch „die öffentlichkeit" normiert, diese strukturiert sich aber für ihn aufgrund seiner Berufsauffassung, seiner Sozialisation in die Verfassungsrechtswissenschaft, den professionellen und kollegialen Verhaltenserwartungen, denen er ausgesetzt ist (dazu in anderem Zusammenhang F. Kübler, Kommunikation und Verantwortung, 1973), anders. 37 Zur Argumentationsfigur der „Alternative" im Interpretationsvorgang: Esser, Vorverständnis, S. 65 f., 132, 151 (unter Hinweis auf Popper); allgemeiner BVerfGE 24, 300 (348 [ = JZ 1969, 557, 561, dazu Randelzhof er, S. 533]): Zur Funktion der politischen Parteien gehört, daß sie „politische Alternativen für alle einer staatlichen Gestaltung zugänglichen Lebensbereiche anbieten", s. auch den Sonderfall zur „Alternative": richterliche Interpretation/Gesetzesentwurf (Pflicht zum Abwarten?), BVerfGE 34, 269 (291 f.).

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Akzente für die spätere Entwicklung der Verfassungsprinzipien 88 . Er w i r k t als Schrittmacher von Verfassungsinterpretation und „Verfas^sungswandel" 39 . Er interpretiert die Verfassung — revisibel —, etwa bei der Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums. Seine bloß verîassungskonformen Entscheidungen sind durchaus verfassungsrelevant und stecken weitere Entwicklungen der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung mittel- oder auch langfristig ab. Gelegentlich werden sie zum Verfassungsinhalt. Wesentlicher Faktor und Aktivbeteiligter ist die Verfassungsrechtswissenschaft selbst. Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein wesentlicher, wenn auch nicht der alleinige Katalysator der Verfassungsrechtswissenschaft als Verfassungsinterpretation 40 . I h r tatsächlicher (verfassungsinterpretierender) Einfluß w i r f t die Frage nach ihrer Legitimation dazu auf — eine Frage, die freilich auch für alle anderen an Verfassungsinterpretation beteiligten Kräfte gestellt werden muß und allgemein zur Frage der Bewertung der vorgenommenen Bestandsaufnahme führt. I I I . Bewertung der Bestandsaufnahme 2. Mögliche Einwände, Kritik Ein Einwand könnte lauten: Verfassungsinterpretation w i r d i n eine Vielzahl von verschiedenen Interpretationen und Interpreten „aufgelöst", je nachdem, welche Funktion agiert. Gerade eine Verfassungstheorie, die die Herstellung politischer Einheit als Aufgabe sieht und den Grundsatz der Einheit der Verfassung betont, muß sich dieser K r i t i k stellen, allerdings nicht dort, wo sie „ n u r " eine realistische Bestandsaufnahme versucht. A u f die Einwände ist i m Rahmen einer differenzierten Bewertung einzugehen, die zunächst nach der Legitimation der verschiedenen Verfassungsinterpreten zu fragen hat. Die Legitimationsfrage stellt sich für alle nicht „formell", „offiziell", „kompetenzmäßig" zu Verfassungsinterpreten „bestellten" Kräfte. Formelle Kompetenz durch die Verfassung haben ja nur die Organe (Ämter), 38

Zu ihnen P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 ff. Dazu meine Dissertation, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962, 2. erg. Aufl. 1972, S. 178, 213 ff. 40 Berühmte Beispiele: Die Rezeption des Grundrechtsverständnisses von Dürig (Maunz ! Dürig I Herzog, Art. 1, R N 5 ff.) durch das BVerfG (E 7, 198 [204 ff.], 21, 362 [371 f.] [ = JZ 1967, 599, 601]), des „Prinzips der Einheit der Verfassung" (E 36, 342 [362]; 19, 206 [220]; 1, 14 [32 f.]), des Parteienstaatsverständnisses von Leibholz (BVerfGE 1, 208 [223 ff.]; 2,1 [11, 73 f.]; 11, 266 [273]; 20, 56 [100]; 32, 157 [164], mit einem Hinweis auf K.-U. v. Hassel, dessen Äußerung als Verfassungsinterpretation i. w. S. wirkt), des „bundesfreundlichen Verhaltens" i. S. Smends (BVerfGE 12, 205 [254]). 39

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die an die Verfassung „gebunden" sind und die i n einem vorgeschriebenen Verfahren „vollziehen" sollen — Legitimation durch (Verfassungs-) Verfahren 4 1 — d. h. die Staatsorgane (Art. 20 Abs. 2, 3 GG — Bindung an verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Hecht). Aber auch die Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG) sind an die Verfassung gebunden, soweit sie nicht Verfassungsänderungen anstreben. Gebunden an die Verfassung sind auch politische Parteien, Gruppen, Bürger, wenn auch i n unterschiedlichem Maße und unterschiedlich „direkt", meist nur auf dem Umweg über die — sanktionierende — Staatsgewalt. Hier scheint einem geringeren Maß an Bindung zunächst auch ein geringeres Maß an Legitimation zu entsprechen. 2. Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Norm- und Interpretationstheorie Das Korrespondenzverhältnis von Bindung (an die Verfassung) und Legitimation (zur Verfassungsinterpretation) verliert aber an Aussagekraft, je mehr man neuere Erkenntnisse der Interpretationstheorie berücksichtigt: Interpretation ist ein offener Prozeß, keine passive Unterwerfung, kein Befehlsempfang 42 . Sie kennt alternative Möglichkeiten. Bindung w i r d zur Freiheit i n dem Maße, wie das neuere Interpretationsverständnis die Subsumtionsideologie widerlegt hat. Die hier vorgenommene Erweiterung des Kreises der Interpreten ist nur die Konsequenz der allseits befürworteten Einbeziehung der W i r k lichkeit in den Interpretationsvorgang 43 . Denn die Interpreten im weiteren Sinne konstituieren ein Stück dieser pluralistischen Wirklichkeit. Sobald man erkennt, daß die Norm nicht das simpel, fertig Vorgegebene ist, stellt sich die Frage nach den an ihrer „Entwicklung" funktional und personal Beteiligten, den Aktivkräften der „ l a w i n public action" (Personalisierung und Pluralisierung der Verfassungsinterpretation!). Jeder Interpret w i r d ja von der Theorie und der Praxis angeleitet. Diese Praxis aber w i r d wesentlich gerade nicht nur von den offiziellen, „amtsmäßigen" Verfassungsinterpreten gestaltet. 41 Sowohl der Legitimations- als auch der Verfahrensbegriff müssen in einem materialeren Sinne als bei Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, verstanden werden, dazu noch unten bei und in Anm. 46. 42 Dazu vor allem die von Esser angeführte Interpretationsdiskussion, Vorverständnis und Methoden wähl, 1970, zuvor schon Grundsatz und Norm, 1956; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung 1967; F. Müller, Juristische Methodik, 1971; Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974. 43 Dazu Hesse, in FS für Scheuner, 1973, S. 123 (137 f.); s. auch H. H. Klein, BVerfG und Staatsraison, 1968, S. 15, 16 ff., 29 (auch im Blick auf meine Bespr. DÖV 1966, S. 660 ff.), dazu meine Bespr. DÖV 1969, S. 150 f.

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D i e richterliche B i n d u n g n u r a n das Gesetz u n d die persönliche u n d sachliche U n a b h ä n g i g k e i t d e r R i c h t e r k ö n n e n n i c h t d a r ü b e r h i n w e g täuschen, daß d e r R i c h t e r in der Ö f f e n t l i c h k e i t u n d W i r k l i c h k e i t der V e r fassung i n t e r p r e t i e r t 4 4 . Es w ä r e falsch, die Beeinflussungen, E r w a r t u n gen, sozialen „ Z w ä n g e " , d e n e n R i c h t e r ausgesetzt sind, n u r u n t e r d e m A s p e k t d e r G e f ä h r d u n g i h r e r U n a b h ä n g i g k e i t z u sehen 4 5 . Diese B e e i n flussungen e n t h a l t e n auch e i n S t ü c k L e g i t i m a t i o n 4 6 u n d v e r h i n d e r n eine Beliebigkeit47 richterlicher Auslegung48. Die Garantie der richterlichen U n a b h ä n g i g k e i t i s t n u r e r t r ä g l i c h , w e i l andere S t a a t s f u n k t i o n e n u n d die p l u r a l i s t i s c h e Ö f f e n t l i c h k e i t M a t e r i a l „ z u m " Gesetz l i e f e r n . Das ist d i e gedankliche H e r l e i t u n g d e r These, alle seien i n d e n Prozeß d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n eingeschaltet. Sogar die n i c h t selbst u n m i t t e l b a r v o n e i n e r I n t e r p r e t a t i o n B e t r o f f e n e n ! So o f f e n Verfassungsi n t e r p r e t a t i o n sachlich u n d m e t h o d i s c h ist, so o f f e n i s t auch d e r K r e i s 44 Das übersieht die Analyse von Massing, Recht als Korrelat der Macht? In: Der CDU-Staat, Hrsg. Schäfer / Nedelmann, 1967, S. 123, die in der „Interpretationsautonomie" des BVerfG „die wahre Macht des ,heimlichen Souveräns' " sieht (S. 129). Die Behauptung, die Souveränität habe sich vom Volk auf andere Instanzen, „in erster Linie auf die Verfassungsgerichtsbarkeit" hin verschoben (S. 142), geht von einem fragwürdigen Volkssouveränitätsbegriff aus (dazu später), der die Wirkungsweise des demokratischen Prozesses in der pluralistischen Öffentlichkeit nicht erfassen kann. 45 Vgl. Bachof, FS für Hans Huber, 1961, S. 26 (43): Der Richter darf sich zwar in einem konkreten Fall nicht durch die öffentliche Meinung beeinflussen lassen, „aber er steht, wie mit den Prozeßparteien, wie mit den Kollegen im eigenen Gericht, wie mit der Vielzahl aller ihm neben-, über- oder nachgeordneten Gerichte, wie mit der juristischen Fachwelt und mit der Wissenschaft, so auch mit dem Volk, mit der öffentlichen Meinung, in einer ständigen Kommunikation, gewissermaßen in einem dauernden ,Gespräch' ". Bachof sieht sogar die Chance, im Gericht zu mehr echter Kommunikation zu kommen als im Parlament. 4e Auch die „Legitimation durch Verfahren" im Sinne Luhmanns ist Legitimation durch Beteiligung am Verfahren. Dennoch geht es hier um etwas grundlegend anderes: Beteiligung am Verfahren soll nicht die Bereitschaft zur Abnahme von Entscheidungen und zur Verarbeitung von Enttäuschungen erhöhen (so Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 27 ff., 107 ff.). Legitimation, die nicht nur formal verstanden wird, ergibt sich aus der Mitwirkung, d. h. der qualitativ-inhaltlichen Einflußnahme der Beteiligten auf die Entscheidung. Nicht um das „Lernen" der Beteiligten, sondern um das Lernen des Gerichts von den Beteiligten geht es. (Zur Kritik an Luhmann in dieser Hinsicht Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 202 ff. und Rottleuthner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft, 1973, S. 141 ff.). 47 Eine Rechtstheorie, die sich auf Normlogik beschränkt, kommt in Gefahr, die soziale Eingebundenheit der Rechtsprechung zu übersehen. Aus der Widerlegung der Subsumtionsideologie folgt nicht, daß „rechtsanwendende Organe als Zufallsgeneratoren fungieren" (Podlech, AöR 95 [1970], S. 185 [190 f.]). Vgl. dazu auch Schef old, JuS 1972, S. 1 (6). 48 Das bedeutet gleichzeitig, daß die kritische Suche nach einseitigen und illegitimen Beeinflussungen richterlicher Entscheidungsbildung (aus der neueren Richtersoziologie Kaupen / Rasehorn, Die Justiz zwischen Obrigkeitsstaat und Demokratie, 1971) berechtigt und notwendig ist.

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der an ihr Beteiligten. Denn es geht um die Verfassung als öffentlichen Prozeß 40 . Gegenüber dem Einwand, die Einheit der Verfassung gehe verloren, müßte auf den — weiterhin wirkenden — allgemeinen Bestand an Interpretationsregeln verwiesen werden, auf das „Konzert", das durch das Zusammenspiel vieler Verfassungsinterpreten aus ihrer jeweiligen eigenen Funktion heraus zustande kommt, vor allem auf die Offenheit der Verfassung, an deren „Gewand" viele „sticken", nicht nur der Verfassungsjurist! Die „Einheit der Verfassung" 50 entsteht, wenn überhaupt, so erst aus der „Bündelung" der Verfahren und Funktionen vieler Verfassungsinterpreten; hier müssen verfassungstheoretische, insbesondere demokratietheoretische Überlegungen eingebracht werden. 3. Legitimation

aus verfassungstheoretischen

Überlegungen

Die grundsätzliche verfassungstheoretische Legitimation der mehr oder weniger starken Beteiligung aller pluralistischen Kräfte am „Geschäft" der Verfassungsinterpretation liegt i n der Tatsache, daß diese Kräfte ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung selbst sind — nicht als „hingenommene Tatsache", als factum brutum, sondern i m Rahmen der Verfassung: Die mindestens mittelbare Einbeziehung der res publica i n die Verfassungsinterpretation insgesamt ist Ausdruck und Konsequenz des hier vertretenen weiten, offenen, i n das Spannungsfeld des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellten Verfassungsverständnisses 51 . Eine Verfassung, die nicht nur den Staat i m engeren Sinne, sondern auch die Öffentlichkeit strukturiert und die Gesellschaft verfaßt, die die Bereiche des Privaten unmittelbar einbezieht, kann dies nicht nur passiv tun, die gesellschaftlichen und privaten Kräfte als Objekte behandeln. Sie muß diese auch aktiv einbeziehen: als Subjekte. Von der verfaßten Wirklichkeit und Öffentlichkeit aus gedacht, i n der „ V o l k " vielfältig, i m Ausgangspunkt diffus, i m Endpunkt aber „konzertiert" w i r k t , haben alle tatsächlich relevanten Kräfte theoretische Relevanz für Verfassungsinterpretation. Praxis w i r d hier zur Legitimierung der Theorie, nicht nur umgekehrt. Da diese Kräfte ein Stück konstitutioneller Wirklichkeit und Öffentlichkeit begründen, haben sie auch teil an der Interpretation der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung! Selbst dann, wenn sie ausgeschlossen werden: wie die vom BVerfG zu verbietenden und dann etwa verbotenen politischen Parteien. 49

Dazu mein Beitrag Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. Dazu Hesse, Grundzüge, S. 5 ff., 28. 51 Dazu Ρ. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 f.); ders., Bespr. von Hartwich, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo, 1970, in: AöR 100 (1975), S. 333 ff. 50

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Gerade diese zwingen zur Reflexion über den Verfassungsinhalt und beeinflussen durch ihre Existenz die Entwicklung des Selbstverständnisses des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens 52 . Verfassungsinterpretation auf die „zunftmäßigen", funktioneilrechtlich ausgewiesenen staatlichen Interpreten zu beschränken, hieße Verarmung oder Selbsttäuschung. Zumal ein stärker experimentelles Verständnis 53 der Verfassungsrechtswissenschaft als Norm- und Wirklichkeitswissenschaft kann auf die Phantasie und Schöpferkraft der „nicht-zünftigen" Interpreten i m Prozeß der Verfassungsinterpretation nicht verzichten. Verfassung ist i n diesem Sinne Spiegel der Öffentlichkeit und W i r k lichkeit. Sie ist aber nicht nur Spiegel, sie ist auch Lichtquelle, wenn dieser etwas bildhafte Vergleich erlaubt ist. Sie hat Steuerungsfunktion 5 4 . Eine spezielle Frage betrifft die Legitimation der Verfassungsrechtswissenschaft. Sie hat eine Katalysatorfunktion und w i r k t , weil sie — öffentlich — Verfassungsinterpretation methodisch reflektiert und zugleich die Ausbildung der „amtsmäßigen" Interpreten gestaltet, i n alle Bereiche der Interpretation i n besonderem Maße hinein. Wie läßt sich eine etwaige besondere Legitimation begründen? A u f dem Weg über A r t . 5 Abs. 3 GG selbst. Verfassung als Gegenstand ist (auch) Sache der Wissenschaft. Der Bereich Wissenschaft muß über A r t . 5 Abs. 3 GG als eigenständiger, integrierender Bestandteil des politischen Gemeinwesens angesehen werden. Dabei ist die — relative — Autonomie dieser „Sache" vom Grundgesetz von vörnherein mitgedacht; legitimiert w i r d sie weniger „von außen" als durch wissenschaftsinterne und -spezifische Verfahren und Kontrollmechanismen 55 . Es muß aber auch Aufgabe der 52 Auch hier ist die Verfassungsdebatte des Dt. Bundestages vom 14./15. Febr. 1974 ein Beispiel. Sie ist nur ein Teil einer Verfassungsdiskussion, die auf allen Ebenen und in allen Bereichen des politischen Gemeinwesens angesichts der Konfrontation mit radikalen Alternativen eingesetzt hat. 53 Zu diesem Versuch, die Forderungen des kritischen Rationalismus nach einer „offenen Gesellschaft" verfassungstheoretisch aufzunehmen, mein Beitrag in ZfP 21 (1974), S. 111 (132 f.). 54 Zu diesem Verfassungsbegriff Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959; P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (56 f.). 55 Dazu F. Kubier, Kommunikation und Verantwortung, 1973, S. 38 ff.; vgl. auch Luhmann, Selbststeuerung der Wissenschaft, in: Soziologische Aufklärung, 1970, S. 232 ff. — Zur Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer als möglichem „institutionellen Ansatzpunkt für das verfassungstheoretische Wissen und Gewissen unseres demokratischen Gemeinwesens": Ehmke, a.a.O., S. 133. — Für Popper ist „ wissenschaftliche O b j e k t i v i t ä t 4 . . . nicht ein Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers . . . , sondern ein Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode; und die Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers ist, soweit sie existiert, nicht die Quelle, sondern vielmehr das Ergebnis dieser sozial oder institutionell organisierten Objektivität der Wissenschaft" (Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I I , Falsche Propheten, 1958, S. 270).

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Wissenschaft sein, ihre Beiträge so zu formulieren und zugänglich zu machen, daß sie für die Öffentlichkeit kritisierbar werden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt der Begriff der Lehre i n A r t . 5 Abs. 3 GG: er enthält einen Ausbildungsauftrag an die Verfassungswissenschaft, der durch die Treueklausel eigens hervorgehoben w i r d 5 6 . 4. Insbesondere: Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation I m demokratischen Verfassungsstaat ist die Legitimationsfrage noch einmal speziell unter demokratischen (demokratietheoretischen) Gesichtspunkten zu stellen. Eine i m herkömmlichen Sinne verstandene demokratische Legitimation zu Verfassungsinterpretation hat die Verfassungsrechtswissenschaft, haben die ihr „zuliefernden" sog. Wirklichkeitswissenschaften, haben Bürger und Gruppen nicht. Aber Demokratie entfaltet sich eben nicht nur über den formalisierten, kanalisierten, i m engeren Sinne verfaßten Delegations- und Verantwortungszusammenhang vom Volk zu den Staatsorganen h i n (Legitimation durch Wahlen) 5 7 bis zum letztlich „kompetenten" Verfassungsinterpreten, dem BVerfG 5 8 . Sie entfaltet sich i n einem offenen Gemeinwesen auch i n den „feineren" mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses täglicher Politik und Praxis, insbesondere i n der Grundrechtsverwirklichung, oft angesprochen i n der „demokratischen Seite" der Grundrechte 59 : durch die Kontroversen über die Alternativen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Wirklichkeit und auch das wissenschaftliche „Konzert" über Verfassungsfragen, i n dem es kaum „Pausen" und „Fermaten" und keine Dirigenten gibt und geben darf 6 0 . 58 Jedoch ist eine entsprechende Vorbildung der Bundesverfassungsrichter keine Qualifikationsvoraussetzung, s. aber das Erfordernis „besondere Kenntnisse im öffentlichen Recht" und bezugsreich „im öffentlichen Leben erfahrene Personen" in einigen Verfassungsgerichtshofgesetzen der Länder (z. B. § 3 Abs. 1 Satz 1 Hambg. VerfGG) und in § 3 Abs. 2 a. F. BVerfGG. — s. noch Anm 87 a. E. 57 s. jetzt zur Problematik das Urteil des Bremer Staatsgerichtshofs zur Juristenausbildung, NJW 1974, 2223 (2228 ff.); vgl. auch BVerfGE 33, 125 (158) (Facharztentscheidung, dazu meine Anm. DVB1.1972, S. 909 [911]). 58 Die Untersuchung von Billing , Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, 1969, geht zu sehr von dieser Vorstellung aus, S. 93 ff. (aber differenzierend S. 116). 59 Zur Kontroverse s. Hesse, Grundzüge, S. 122 f.; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, S. 17 ff., einerseits; H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1971, andererseits (dazu meine Bespr. DÖV 1974, S. 343 ff.), zuletzt E.-W. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff. 60 Daß Verfassungsinterpretation, so wie sie hier verstanden wird, zum „bellum omnium contra omnes der wissenschaftlichen und politischen Meinungen" (dazu Schef old, JuS 1972, 1 [8]) wird, muß (und kann nur) die jetzt vielberufene „Solidarität der Demokraten" verhindern.

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„ V o l k " ist eben nicht nur einheitliche, (nur) am Wahltag „emanierende" Größe, die als solche demokratische Legitimation vermittelt 6 1 . Volk ist als pluralistische Größe für die Interpretationen i m Verfassungsprozeß nicht minder präsent und legitimierend: „als" politische Partei 6 2 , als wissenschaftliche Meinung, als Interessengruppe, als Bürger; dessen sachliche Kompetenz zu Verfassungsinterpretation ist ein staatsbürgerliches Recht i. S. des Art. 33 Abs. 1 GG! So gesehen sind die Grundrechte ein Stück demokratischer Legitimationsbasis für die nicht nur in ihren Ergebnissen, sondern auch in ihrem Beteiligtenkreis offene Verfassungsinterpretation 6 3 . I n der freiheitlichen Demokratie ist der Bürger Verfassungsinterpret! U m so wichtiger werden die Vorkehrungen zur Garantie realer Freiheit: leistungsstaatliche Grundrechtspolitik 6 4 , Freiheit der Meinungsbildung, Konstitutionalisierung der Gesellschaft z. B. durch gewaltenteilende Strukturierung des öffentlichen, insbesondere w i r t schaftlichen Bereichs 65 . Das ist keine „Entthronung" des Volkes — es ist dies allenfalls von einem Rousseauschen Volkssouveränitätsverständnis aus, i n dem das Volk absolut und gottgleich gesetzt wird. Volk als verfaßte Größe w i r k t „allseitig", universal, auf vielen Ebenen, aus vielen Anlässen und i n vielen Formen, nicht zuletzt über tägliche Grundrechtsverwirklichung. Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluß von Bürgern. Demokratie ist „Herrschaft der Bürger", nicht des Volkes i m Rousseauschen Sinne. Es gibt kein Zurück zu Rousseau. Die Bürgerdemokratie ist realistischer als die Volks-Demokratie. Bürgerdemokratie liegt nahe von einem Denken, das die Demokratie von den Grundrechten her sieht, nicht von Vorstellungen, i n denen das Volk als Souverän eigentlich nur den Platz des Monarchen eingenom61 Deshalb ist die Frage der demokratischen Legitimation der Rspr. nicht durch Ausweitung der Richterwahl (dazu F.-J. Säcker, ZRP 1971, S. 145 ff.) abschließend beantwortbar. — Zum Zusammenhang zwischen Demokratie und richterlicher Unabhängigkeit vgl. auch Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 103 ff. 62 Insofern besteht eine Ubereinstimmung mit Leibholz' Parteienstaatslehre (Strukturprobleme der modernen Demokratie. 3. Aufl. 1967, bes. S. 78 ff.): Das Volk wird nur in bestimmten Organisationsformen artikulations- und handlungsfähig. Das berechtigt aber nicht zur Identifikation von Volk und (Volks-)Parteien; das pluralistische Gemeinwesen ist viel stärker ausdifferenziert. fi3 Zur offenen Verfassungsinterpretation: P. Häberle, JZ 1971, S. 145 ff.; ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.); vgl. auch Schiaich, a.a.O., S. 120. 04 Dazu mein Koreferat V V D S t R L 30 (1972), S. 43 ff. (69 ff.). 65 Pluralismus muß organisiert und verfaßt werden. Daher muß die Konfrontation zwischen „Demokratisierungsstrategien", die die Gefahr totalitärer Politisierung aller Bereiche in sich tragen, und restriktiven Auffassungen, die Demokratie auf einen der Gesellschaft gegenübergestellten Staat begrenzen wollen (Hennis , Die mißverstandene Demokratie, 1973), überwunden werden.

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m e n h a t . Diese Sicht i s t eine K o n s e q u e n z d e r R e l a t i v i e r u n g des — a l l z u leicht m i ß v e r s t a n d e n e n — V o l k s b e g r i f f s 6 6 vom Bürger

her! Grundrecht-

liche F r e i h e i t ( P l u r a l i s m u s ) 6 7 , n i c h t „ d a s V o l k " w i r d z u m B e z u g s p u n k t f ü r d e m o k r a t i s c h e Verfassung. Diese capitis d i m i n u t i o des k r y p t o m o narchischen V o l k s b e g r i f f s d e n k e n s steht i m Zeichen d e r B ü r g e r f r e i h e i t u n d des P l u r a l i s m u s . Es g i b t v i e l e F o r m e n v o n i n diesem S i n n e w e i t v e r s t a n d e n e r d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m a t i o n , m a c h t m a n sich n u r v o n d e m l i n e a r e n u n d „ e r u p t i v e n " D e n k s t i l t r a d i t i o n e l l e r D e m o k r a t i e Vorstellungen f r e i . Es k o m m t zu e i n e m S t ü c k B ü r g e r d e m o k r a t i e d u r c h die i n t e r p r e t a t o r i s c h e E n t w i c k l u n g der Verfassungsnorm hindurch 68. M ö g l i c h k e i t u n d W i r k lichkeit freier Diskussion v o n einzelnen u n d Gruppen „ ü b e r " u n d „ u n t e r " den Verfassungsrechtsnormen u n d i h r pluralistisches W i r k e n „ i n " i h n e n v e r m i t t e l t sich d e m I n t e r p r e t a t i o n s v o r g a n g v i e l f ä l t i g . (Daß d i e ser f r e i e Prozeß r e a l i t e r auch v o n i n n e n h e r i m m e r w i e d e r b e d r o h t ist u n d daß selbst unsere f r e i h e i t l i c h - d e m o k r a t i s c h e G r u n d o r d n u n g i n W i r k l i c h k e i t gegenüber d e m I d e a l t y p u s D e f i z i t e a u f w e i s t , sei a u s d r ü c k l i c h vermerkt.) Demokratietheorie u n d Interpretationstheorie 69 werden zur K o n s e q u e n z v o n Wissenschaftstheorie. D i e Gesellschaft i s t i n d e m M a ß e f r e i u n d offen, w i e sich d e r K r e i s d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t e n i m w e i t e r e n S i n n e öffnet. ββ Zu stark am herkömmlichen Volksbegriff orientiert ist auch der Versuch, demokratische Legitimation der Rechtsprechung durch Rückgriffe des Richters auf demoskopisch zu ermittelnde „Durchschnittswertungen" zu verstärken, vgl. W. Birke, Richterliche Rechtsanwendung und gesellschaftliche Auffassungen, 1968, S. 45 ff. Gegen eine Orientierung am „Mehrheitswillen des Volkes" aus demokratietheoretischen Überlegungen auch F.-J. Säcker, ZRP 1971, S. 145 (149 f.). Kritisch gegenüber der „Durchschnittswertung" auch Hans F. Zacher, Vierteljahresschrift f. Sozialrecht, Bd. I I (1974), S. 15 (48 f., F N 95). Zum „Durchschnittsbürger" u. ä. als normativierter, demokratietheoretisch zu sehender, richterlicher Figur, mein öff. Interesse, S. 328, 347 f., 425 ff., 573, 725. 67 Diese Sicht gilt auch für alle Formen kommunaler, sozialer usw. Selbstverwaltung. 88 Poppers Demokratiekonzeption und ihr sie rechtfertigender Zusammenhang(!) mit seiner Wissenschafts- und Erkenntnistheorie kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden (Belegstellen zur Demokratie in: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I (1957), bes. S. 25, 156 ff., 170 ff.; Bd. I I (1958), S. 157, 159 ff., 186 f., 197 ff., 293 f.). Genügen muß der Hinweis, daß Poppers Wissenschaftskonzept demokratietheoretisch ergiebig ist. das im Text vertretene pluralistische und gewaltenteilige, konstitutionelle, bürgerfreiheitliche Demokratiekonzept sich auf Popper auch insofern berufen kann, als er seine Demokratietheorie ohne, ja gegen „klassische" Volkssouveränitätsdogmen entfaltet. — Rezeptionen und Adaptionen Poppers in der Demokratiediskussion unter dem GG haben mehr oder weniger ausdrücklich und mittelbar schon stattgefunden: besonders im KPD-Urteil des BVerfG, E 5, 85: „process of trial and error (I. B. Talmon)" (S. 135), „ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik als beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie" (S. 135), Verhältnisse und Denkweisen sind „verbesserungsfähig und -bedürftig", „nie endende Aufgabe" (S. 197), Ablehnung der Auffassung, daß die geschichtliche Entwicklung durch ein „wissenschaftlich erkanntes Endziel determiniert" sei

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

IV. Konsequenzen für die „juristische" Verfassungsinterpretation 1. Relativierung der juristischen Interpretation neues Verständnis ihrer Aufgaben



Die Überlegungen führen zu einer Relativierung der juristischen Verfassungsinterpretation. Sie ist aus folgenden Gründen geboten: 1. Der Verfassungsrichter interpretiert schon i m Verfassungsprozeß nicht „allein": mehrere sind am Verfahren beteiligt, die Verfahrensbeteiligungsformen dehnen sich aus. 2. I m „Vorfeld" juristischer Verfassungsinterpretation der Richter interpretieren viele, d. h. potentiell alle öffentlichen pluralistischen Kräfte. Insofern relativiert sich der Begriff „am Verfassungsprozeß Beteiligte" i n dem Maße, wie sich die Kreise der an der Verfassungsinterpretation Beteiligten erweitern. Die pluralistische Öffentlichkeit entfaltet normierende Kraft. Das Verfassungsgericht hat später entsprechend öffentlichkeitsaktualisierend zu interpretieren. 3. Viele Problemkreise und Bereiche der materiellen Verfassung kommen mangels richterlicher Zuständigkeit und mangels Anrufung des Verfassungsgerichts gar nicht zum Verfassungsrichter. Gleichwohl „lebt" hier materielle Verfassung: ohne Verfassungsinterpretation durch den Richter. (Man denke an Grundsätze der parlamentarischen Geschäftsordnungen!) Die i m weiteren Sinne Beteiligten und Interpretierenden (S. 197), „sozialer Kompromiß" (S. 198), „Offenheit" dieser Ordnung (S. 200), „relativer Vernunftgehalt aller politischen Meinungen" (S. 206); s. auch E 12, 113 (125): pluralistische öffentliche Meinungsbildung; E 20, 56 (97): freier und offener Prozeß der Meinungs- und Willensbildung. — Aus der Lit. : von Simson V V D S t R L 29 (1971), S. 3 (9 f.); Dürig, ebd., S. 127: „immanente Spielregeln der Korrigierbarkeit und Revozierbarkeit" ; ders., in Maunz J Dürig J Herzog, GG, zu Art. 3 Abs. 1, Rdnr. 210 (für die Rechtsfindung). — Unschwer wiederzuerken^ nen sind hier: Poppers Falsifikationsprinzip („trial and error"), seine These von der Indirektheit und vom Vermutungscharakter der Erkenntnis (conjectures and refutations), deren ständigen Bewährung, die sich selbst bescheidende, korrigierbare „piece-meal social engineering" mit ihrer Ablehnung der Technik von Ganzheitsplanung, sein relativer Glaube an die Vernunft, sein experimentelles Verständnis von Politik, sein Plädoyer für schrittweise, folgenorientierte Reformen, seine Mahnung zu Geduld und Toleranz und sein Einsatz für die offene Gesellschaft als „rational und kritisch", für ihren pluralistischen Wettbewerb unterschiedlicher Ideen und Interessen dank der Freiheit der Kritik, des Denkens und damit des Menschen und dessen persönlichen Verantwortlichkeiten und Entscheidungen, aber auch sein Kampf gegen den Allwissenheits- und Allmachtanspruch „geschlossener" Gesellschaften. — Insgesamt bleibt die grundsätzliche Aufgabe, Poppers Wissenschaftstheorie verfassungstheoretisch und -praktisch in die Demokratietheorie und zugleich in die Norm- und Interpretationstheorie im einzelnen „hineinzuentwickeln" (Ansätze in meinem Beitrag AöR 99 (1974), S. 434 [448 ff.]). 69 s. Essers Bezugnahme auf Poppers trial-and-error-Methode, Vorverständnis, S. 151, jetzt die abw. Meinung der Richter Rupp-v. Brünneck und Dr. Simon zum Abtreibungsurteil des BVerfG vom 25. 2. 1975 (JZ 1975, 205 [215] = NJW 1975, 582 [583]).

5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

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entfalten eigenständig materielles Verfassungsrecht. Das Verfassungsprozeßrecht ist nicht der einzige Zugang zu den Verfahren der Verfassungsinterpretation. I n die Zeit gestellt, geht der Instanzenzug der Verfassungsinterpretation ins Unendliche: Der Verfassungsjurist ist nur ein Zwischenträger 7 0 . Sein Auslegungsergebnis steht unter dem Vorbehalt der Bewährung, die sich i m Einzelfall zur Bewahrung, zur „alternativenreichen Rechtfertigung" 7 1 oder zur Änderung durch vernünftige Alternativen konkretisieren kann. Das Verfahren der Verfassungsinterpretation muß weit nach vorn und weit über den konkreten Verfassungsprozeß selbst hinaus ausgedehnt werden 7 2 ; der Interpretationsradius der Norm erweitert sich: dank aller „Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft". Sie sind i n den Verfahren von „ t r i a l and error" i m Rechtsfindungsprozeß 73 wesentliche Beteiligte. Gesellschaft w i r d eben dadurch offen und frei, daß alle potentiell und aktuell zur Verfassungsinterpretation Beiträge leisten (können). Juristische Verfassungsinterpretation vermittelt (nur) die pluralistische Öffentlichkeit und Wirklichkeit, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gemeinwesens, die vor, i n und hinter den Verfassungstexten stehen. Interpretationslehren überschätzen immer wieder die Bedeutung des Textes 74 . So diszipliniert und disziplinierend die Verfahren der Verfassungsinterpretation auf dem Weg über „juristische" Methoden sind — so vielfältig, ja diffus sind die diesem Prozeß „vor"-gelagerten Vorgänge: relativ rational scheinen noch die Prozesse der Gesetzgebung, soweit sie Verfassungsinterpretation sind, und das ist häufig der Fall; auch die Verwaltung als „interpretierende" (Gemeinwohl-)Verwaltung 7 5 w i r k t 70 Die Verfassungsrechtsprechung unternimmt z.B. mit obiter dicta den Versuch, über die punktuelle Entscheidung hinaus künftige Verfassungsauslegung vorzubereiten — und somit schon vorher kritisierbar zu machen. K r i tisch dazu von einem anderen Verfassungsbegriff aus Kuli, FS für Forsthoff, 1972, S. 213, F N 2. 71 Ausdruck bei Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 148. 72 Dem soll mit den Begriffen „Vorverständnis" und „Nachverständnis" Rechnung getragen werden, P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (126 ff.). — (Verfassungs-) Gesetze haben nicht nur Vor-, sondern auch Nachgeschichte. 73 Dazu Esser, Vorverständnis, S. 23,151 f. 74 Vgl. auch zur Problematik des Textes als „Grenze der Verfassungswandlung" Hesse, FS für Scheuner, S. 123 (139 f.). Zur geringen Ergiebigkeit des Wortlautes bei der Konkretisierung von Grundrechten Hans Hub er, GS für Imboden, S. 191 ff. 75 Dazu m. N. mein öff. Interesse, S. 475 ff., 678 ff.; Ossenbühl, AöR 92 (1967), S. 1 ff. s. auch die sich an den B. des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes (JZ 1972, 655 ff.) sowie das U. des BVerwG (JZ 1972, 204 ff.) anschließende Diskussion (Bachof, JZ 1972, 641 ff. und 208 ff.; Ossenbühl, DÖV 1972, 401 ff.; Erichsen, VerwArch 1972, 337 ff.; Bullinger, NJW 1974, 769 ff.).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

i n recht rationaler Weise, andere Formen der Staatspraxis sind i m Auge zu behalten; die Partizipationsvorgänge der pluralistischen Öffentlichkeit sind aber alles andere als diszipliniert, darin liegt ein Stück Gewähr ihrer Offenheit und Spontaneität. Trotzdem behalten die Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation ihre Bedeutung, allerdings i n einer neu verstandenen Funktion: Sie sind die „Filter", über die erst die normierende Kraft der Öffentlichkeit 7 6 w i r k t und Gestalt gewinnt. Sie disziplinieren und kanalisieren die vielfältigen Formen der Einwirkung verschiedener Beteiligter. 2. Insbesondere: Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle Differenzierung im Hinblick auf das Maß an Beteiligung



Eine Theorie der Verfassungsinterpretation, die die Frage nach den Zielen und Methoden und die Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation i n einen systematischen Zusammenhang bringt, muß daraus konkrete Folgerungen für die Methode der Verfassungsauslegung ziehen. Mögliche Konsequenzen sollen hier thesenartig angedeutet werden. Ein Gericht wie das BVerfG, das die Verfassungsinterpretation einer anderen Stelle überprüft, soll verschiedene Methoden anwenden, je nachdem, wer bei der ersten (zu überprüfenden) Interpretation beteiligt war 7 7 . Dies ist andeutungsweise vom funktionellrechtlichen Denken schon gesehen worden: Bei der Uberprüfung von Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers sollen sich die Gerichte besonders zurückhalten 7 8 ; entsprechendes gilt für die Uberprüfung von Landesrecht durch das BVerfG 7 9 . I n Weiterführung dieses Ansatzes wäre zu erwägen: Es gibt Gesetze (Hochschulgesetze, Reformen des StGB wie § 218, 7β Typisierende Nachweise aus der Rspr. des BVerfG in AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.); zuletzt etwa E 34, 269 (283); 35, 202 (222 f., 230 ff.); 32, 111 (124 ff.); 31, 229 (242 ff.); 30, 173 (191); allgemeiner in meinem öff. Interesse, S. 304 f., 419 Anm. 31, 558 ff., 572 f., 583 f., 594, sowie in Th. Würtenberger (Anm. 93), S. 36 (39 ff.). 77 Ein ähnlicher Zusammenhang wird bei Geitmann, Bundesverfassungsgericht und „offene Normen", 1971, aufgezeigt: Die Bestimmtheitsanforderungen, die das BVerfG an „offene" Normen stellt, sind unterschiedlich, je nachdem, wer die Norm setzt (dazu nur kurz S. 22 ff.) und wer sie auszufüllen hat (S. 149 ff.). 78 Vorkonstitutionelle Gesetze können nicht wie nachkonstitutionelle als Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber angesehen werden. Sie sind daher nicht nur verfahrensmäßig anders (vgl. Art. 100 GG), sondern auch inhaltlich schärfer zu überprüfen. 79 Dazu Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff. (75); Klumpp, Landesrecht vor Bundesgerichten im Bundesstaat des GG, 1969, S. 179 ff. — Für das Verhältnis des BVerfG zur zivilrechtlichen Dogmatik (Wissenschaft) bzw. zum BGH: BVerfGE 34, 269 (281 f.).

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Ladenschlußgesetze), denen die Öffentlichkeit enormes Interesse entgegenbringt, die ständig i n der Diskussion stehen, die unter weitgehender Beteiligung und unter der wachen Kontrolle der pluralistischen Öffentlichkeit zustande gekommen sind. Das BVerfG sollte, wenn es ein solches Gesetz überprüft, berücksichtigen, daß dieses Gesetz besonders legitimiert ist, weil besonders viele am demokratischen Prozeß der Verfassungsauslegung beteiligt waren. Bei nicht grundsätzlich umstrittenen Gesetzen würde das bedeuten, daß diese nicht so streng zu überprüfen wären wie solche Gesetze, die weniger i n der öffentlichen Diskussion stehen, weil sie scheinbar uninteressant (ζ. B. technische Zweckmäßigkeitsregelungen) oder schon vergessen sind. Besonderes hat aber für diejenigen Gesetze zu gelten, hinsichtlich derer i n der Öffentlichkeit großer Dissens herrscht. Man denke an den den „Verfassungskonsens" berührenden § 218 StGB, an manche Regelungen der Hochschulgesetze, an die paritätische Mitbestimmung. Hier hat das BVerfG streng zu kontrollieren — und von der Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) großzügigen Gebrauch 80 zu machen (s. noch unter 3.). Denn bei einer tiefen Spaltung innerhalb der öffentlichen Meinung kommt dem BVerfG die Aufgabe zu, darüber zu wachen, daß das unverzichtbare M i n i m u m an integrativer Funktion der Verfassung nicht verspielt wird. Ferner: Das BVerfG sollte die faire Beteiligung verschiedener Gruppen bei den Verfassungsinterpretationen auch insofern überwachen, daß es bei seiner Entscheidung die Nichtbeteiligten (die nicht repräsentierten und nicht repräsentierbaren Interessen) interpretatorisch besonders berücksichtigt 81 . Man denke an den Verbraucherschutz, an Umweltschutzprobleme. Hier offenbaren die „öffentlichen Interessen", nach der Terminologie von Habermas 82 die „verallgemeinerungsfähigen Interessen", ihren Stellenwert. Ein Minus an faktischer Partizipation führt zu einem Plus an verfassungsrichterlicher Kontrolle. Die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist variabel, je nachdem welche Partizipationsformen möglich sind oder waren. 80 Tiefe Dissense bzw. Gefahren für den „Verfassungskonsens" sind der Gemeinwohlgrund i. S. von § 32 Abs. 1 BVerfGG! 81 Hier deutet sich eine Veränderung der Funktion des gerichtlichen Rechtsschutzes überhaupt an. Angesichts der zunehmenden Bedeutung planender und gestaltender Staatstätigkeit ist Rechtsschutz weniger durch ex-post-Kontrolle der Gerichte als durch partizipatorische Vorverfahren zu realisieren (P. Häberle, VVDStRL 30 [1972], S.43 [86 ff., 125 ff.] ; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31 [1973], S. 179 [204 ff.]). Die Einhaltung des „richtigen" Verfahrens muß aber durch die Gerichte überprüft werden können. 82 Habermas, a.a.O., bes. S. 153 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft 3. Konsequenzen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozeßrechts

F ü r d i e A u s g e s t a l t u n g u n d H a n d h a b u n g des Verfassungsprozeßrechts ergeben sich K o n s e q u e n z e n : D i e I n f o r m a t i o n s i n s t r u m e n t e des V e r f a s s u n g s r i c h t e r s 8 3 s i n d — n i c h t t r o t z , s o n d e r n w e g e n (!) d e r B i n d u n g a n das Gesetz — z u e r w e i t e r n u n d z u v e r f e i n e r n , insbesondere d i e a b z u s t u f e n d e n P a r t i z i p a t i o n s f o r m e n u n d - m ö g l i c h k e i t e n 8 4 a m Verfassungsprozeß s e l b s t 8 5 ( v o r a l l e m „ A n h ö r u n g " u n d „ B e t e i l i g u n g " ) ; neue F o r m e n d e r P a r t i z i p a t i o n p l u r a l i s t i s c h e r ö f f e n t l i c h e r P o t e n z e n als V e r f a s s u n g s i n t e r preten i m weiteren Sinne müssen entwickelt werden. Verfassungsprozeßrecht w i r d e i n S t ü c k d e m o k r a t i s c h e n P a r t i z i p a t i o n s r e c h t s . E n t s p r e chend elastischer u n d e x p a n d i e r e n d e r k a n n V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n d e r V e r f a s s u n g s r i c h t e r w e r d e n 8 6 — o h n e daß es j e z u e i n e r I d e n t i t ä t m i t 83 Vorbildlich ist das Informationsinstrument des § 82 Abs. 4 BVerfGG sowie die vom BVerfG berührten „Stellen und Organisationen" gegebene Gelegenheit zu Äußerungen, meist in „großen" Prozessen: E 35, 202 (213 f.); 35, 78 (100 ff.); 33, 265 (322 f.); 31, 306 (307 unter Ziffer 4); 30, 227 (238 f.). Sie vermitteln ein Stück pluralistischer „gesellschaftlicher Repräsentanz" in das Verfassungsprozeßrecht. — Symptomatisch ist die vom BVerfG (II. Senat) an Bundestag, Landtage u. Parteien gerichtete Fragebogenaktion zum Thema Parlamentarierdiäten, FR vom 10. 3. 1975, S. 1. — s. noch die vorbildliche Regelung in § 48 Hess. StGHG und § 42 Bad.-Württ. StGHG. 84 Dazu P. Häberle, AöR 98 (1973), 119 (128 Anm. 43). Brisant ist die Streitfrage um die Beteiligung des Bundestages (bzw. seiner Mehrheit) an dem von der Oppositionsminderheit geführten Verfassungsstreit zu § 218 StGB (dazu Woche im Bundestag vom 18. 9. 1974, Ausg. 15, S. 3). Die Entwicklung des Parlaments zum Gegenüber von Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit spricht dafür, diese Rollenverteilung auch im Verfassungsprozeßrecht fortzusetzen: das wäre ein Argument für eine Beteiligung des Bundestages durch Verfahrensbeitritt (s. auch § 77 BVerfGG, der dem Bundestag eine Äußerungskompetenz auch gerade dann gibt, wenn im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle ein Drittel der Mitglieder des Bundestages einen Antrag gestellt hat, s. noch §§ 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 94 BVerfGG). Parlamentsund Verfassungsprozeßrecht greifen hier ineinander (ein weiteres Beisp. dafür: BVerfGE 27, 44 [51 f.]). Es wäre konsequent, die Opposition als solche im Verfassungsprozeßrecht zu „konstitutionalisieren" und ihr vor dem BVerfG Partizipationsrechte einzuräumen, da sie mit dem klagebefugten Drittel der M i t glieder des Bundestages nicht identisch zu sein braucht. De lege lata sollte der Bundestag bei Stellungnahmen das oppositionelle Minderheitsvotum aufnehmen. 85 Bei Winter und Schumann, Sozialisation und Legitimierung des Rechts im Strafverfahren, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 3, 1972, S. 529 f., werden die Mündlichkeit und Unmittelbarkeit der Interaktion in der Gerichtsverhandlung als „beinahe anachronistisch anmutende Inseln kommunikativen Handelns in einer bürokratisch-zweckrationalen Gesellschaftsverfassung" bezeichnet. Vielleicht bietet sich im Verfassungsprozeß die Chance, zu einem höheren Maß an unverzerrter Kommunikation im Sinne Habermas' zu kommen als in anderen Bereichen, vgl. auch Bachof, a.a.O. (oben Anm. 45). 86 Es besteht ein Zusammenhang zwischen den Ermittlungs- und Prognoseinstrumentarien, die dem BVerfG zur Verfügung stehen, und der Schärfe der von ihm angelegten materiell-rechtlichen Maßstäbe: Während bei neueren

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der durch den Gesetzgeber kommen könnte und dürfte. Flexibel muß auch die konkrete Handhabung des Verfassungsprozeßrechts durch das BVerfG je nach den anstehenden materiellrechtlichen Fragen und den sachlich Beteiligten (Betroffenen) sein. Der intensive Zusammenhang von materieller Verfassung und Verfassungsprozeßrecht zeigt sich auch hier 8 7 . Freilich bedeutet eine Expansion verfassungsrichterlicher Tätigkeit eine Restriktion des Interpretationsspielraums des Gesetzgebers 88 . Insgesamt ist die optimale gesetzgeberische Ausgestaltung und die interpretatorische Verfeinerung des Verfassungsprozeßrechts notwendige Bedingung, ohne die die hier versuchte demokratietheoretische Legitimationtion der Verfassungsrechtsprechung i n der Realität nicht genügend abgesichert ist. V. Neue Fragestellungen für die Verfassungstheorie 1. Unterschiedliche Ziele und Methoden der Auslegung bei verschiedenen Beteiligten? Nicht nur für die Verfassungsrechtsprechung und ihre Methoden, sondern auch für eine Verfassungstheorie, die sich m i t diesen beschäftigt, ergeben sich aus der Verknüpfung der Fragen nach Zielen, Methoden und Beteiligten der Verfassungsinterpretation neue Fragestellungen. Es wurde schon auf den möglichen Einwand hingewiesen, daß sich die „Auflösung" der Verfassungsinterpretation nicht spannungslos i n eine Verfassungstheorie einbauen lasse, die die Herstellung von Konsens, von politischer Einheit als Ziel verfassungsrechtlicher Verfahren und als Ziel des politischen Prozesses überhaupt ansieht 89 . Eine solche Verfassungstheorie darf jedoch nicht zu vereinfacht als harmonisierend mißverstanden werden. Konsens resultiert auch aus Konflikt und KomproWirtschafts- (insbesondere Konjunktur-)Gesetzen das Erfordernis der Geeignetheit recht großzügig gehandhabt wird (BVerfGE 29, 402 [410 f.] ; 36, 66 [71 f.]), hat das BVerfG ζ. B. im Apothekenurteil (E 7, 377 ff. [ = JZ 1958, 472 ff.]) seine Untersuchungen und Prognosen empirisch sehr gründlich fundiert (vgl. Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971, S. 57 ff.) und konnte dann auch materiellrechtlich strenge Maßstäbe anlegen. 87 Dazu mein Beitrag in JZ 1973, 451 ff.; ebenso Zuck, JZ 1974, 361 (364). — Wichtig war die Beibehaltung der Hochschullehrerklausel des § 3 Abs. 4 BVerfGG. 88 Die Frage differenzierter Begründungs- und Materialbeschaffungspflichten des Gesetzgebers müßte überdacht werden. Auch hier zeigt sich ein noch nicht voll ausgeloteter Zusammenhang zwischen Parlaments- und Verfassungsprozeßrecht. 89 Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 5 ff., 28. 12 Verfassung

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

miß zwischen Beteiligten, die divergierende Meinungen und Interessen eigennützig vertreten. Verfassungsrecht ist nun einmal Konflikt- und Kompromißrecht. Evident ist, daß Antragsteller und Antragsgegner i m Verfassungsprozeß verschiedene Ziele verfolgen und deshalb auch verschiedene Interpretationsmethoden wählen und ihre Inhalte i n solche verschiedene Methoden kleiden werden; entsprechendes gilt für die Vertreter verschiedener Interessen i m Hearing vor Bundestagsausschüssen, für Mehrheitsparteien und Opposition i m parlamentarischen Prozeß 90 . Insofern zeigen sich Parallelen zwischen Verfassungsprozeßrecht und Parlamentsrecht. Hier ergeben sich Rückwirkungen funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien auf die materielle Verfassungsinterpretation 91 . Sie müssen stärker als bisher thematisiert werden, entsprechend den Rückwirkungen von Verfahrensgrundsätzen auf die materielle Verfassungsinterpretation 9 2 . Das materielle — gelebte — Verfassungsrecht entsteht aus einer Vielzahl „richtig" wahrgenommener Funktionen: denen des Gesetzgebers, Verfassungsrichters, der öffentlichen Meinung, des Bürgers, aber auch der Regierung und der Opposition. Dieses Uberdenken der Verfassungsinterpetation von der funktionellen, verfahrensmäßigen Seite her bedeutet: funktionelle Richtigkeit der Verfassungsinterpretation führt zu praktischer Verschiedenheit der Verfassungsinterpretation. Es hängt ja jeweils vom Organ, seinem Verfahren, seiner Funktion, seinen Qualifikationen ab, wie — richtig — interpretiert wird. 2. Aufgaben der Verfassungstheorie Ein anderes Problem ist, ob i n diesem Zusammenhang überhaupt von einer — wenn auch relativierten — Richtigkeit der Auslegung gesprochen werden kann. Für die Verfassungstheorie stellt sich jetzt die Grundfrage, ob es ihre Aufgabe sein kann, die unterschiedlichen politischen Kräfte und d. h. Beteiligten i m weitesten Sinne normativ einzubinden, ihnen die „guten" Interpretationsmethoden vorzuschlagen. Wie weit soll die Verfassungslehre, die nach ihrem Selbstverständnis bislang K r i t i k e r und Berater, Diskussions- und Konsenspartner der Verfassungsgerichte war, den Kreis ihrer Gesprächspartner ausdehnen? Das 90 Zur parlamentarischen Demokratie als „Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozeß der Gesetzgebung": Kriele, V V D S t R L 29 (1971), S. 46 (50). 91 M i t Recht spricht Ehmke, V V D S t R L 20 (1963), S. 53 (73) vom „unlösbaren Zusammenhang" materiell- und funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien; s. auch S. 76: „Doppelseitigkeit". 92 Dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff.); ders., JZ 1973, 451 (452 f.); DVB1. 1973, 388 f.

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könnte dann auch Konsequenzen für die Ausgestaltung des Verfassungssungsprozeßrechts haben. Ohne Zweifel muß die Fixierung auf die Rechtsprechung überwunden werden. Es scheint sich die Meinung Bahn zu brechen, daß Verfassungslehre zumindest ebenso auch Gesetzgebungslehre sein muß, d. h. Gesprächspartner des Gesetzgebers®3. Die Relevanz der Frage nach verschiedenen Zielen und Methoden verschiedener Beteiligter zeigt sich hier an Beispielen: die preferred-freedoms-doctrine 94 und der Grundsatz des self restraint gelten nur für die Rechtsprechung, gerade nicht für die Gesetzgebung. Insoweit ist das Problem bei Hesse und Ehmke schon angesprochen: wenn Verfassungsauslegung unter dem Gebot „funktioneller Richtigkeit" steht, dann muß das auslegende Organ aufgrund seiner spezifischen Kompetenzen anders auslegen als ein anderes Organ m i t anderen Kompetenzen. Verfassungstheorie als Gesetzgebungslehre sollte die — bislang vernachlässigten — eigenen Besonderheiten der Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber (und damit auch die hohe Relevanz des Parlamentsrechts) untersuchen. Diese wurde bisher eher „spiegelbildlich" beobachtet: von der Verfassungsgerichtsbarkeit her, d. h. ihren funktionellrechtlichen Grenzen, ζ. B. m i t Hilfe der preferred-freedoms-doctrine, der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Handelns 95 , der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers i n den Grenzen des „Wertsystems" der Verfassung 96 oder i n der Negativformel: kein w i l l kürliches Handeln 9 7 . Jetzt geht es darum, Verfassungsinterpretation „durch" den Gesetzgeber aus sich heraus, positiv zu umschreiben: aus seinen Verfahren (insbesondere des Parlamentsrechts), seinen Funktionen 9 8 usw., nicht nur negativ auf dem Umweg über die Frage, bis zu 93 Zur Frage der Gesetzgebungslehre: P. Häberle, in: Th. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 (38f.); H.-P. Schneider, ebd. S. 76 tt;Noll, Gesetzgebungslehre, 1973. 94 Dazu H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, S. 437 ff.; Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 40 f., 164 f. 95 Hesse, Grundzüge, S. 33. 96 BVerfGE 11, 50 (56); 13, 97 (107); 14, 288 (301). Zur Kritik: Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973; dazu meine Bespr. JR 1974, 487 f. 97 BVerfGE 1, 14 (52), st. Rspr., vgl. BVerfGE 18, 38 (46). Dazu meine Nachw. AöR 95 (1970), S. 86 (104 f., 118 ff.), 260 (281 ff.) und für das Verhältnis Rechtsprechung und Verwaltung im Ermessens„bereich": öff. Interesse, S. 647 ff. 98 Wichtig ist der Versuch von Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, eine „Methode der Gesetzgebung" zu entwickeln, die nicht nur „Machttechnologie" ist, sondern die „Wertfrage" stellt (S. 63) und Verfahrensweisen vorschlägt, die am Denken des kritischen Rationalismus orientiert sind (vgl. insbesondere die Abschnitte über den Entwurf von Alternativen und die Verfahren ihrer Kritik, S. 107 ff., 120 ff.). Noll sieht aber Gesetzgebung nicht so sehr unter dem Aspekt der Verfassungsinterpretation (vgl. nur S. 103 f.).

12*

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

welchen funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpret (-richter) kontrollieren kann. Es geht um ein positives Kompetenzverständnis für den Gesetzgeber als Verfassungsinterpreten: sei es, daß er i m politischen Prozeß ständig „vor"formuliert, sei es, daß er auf formalisierte Weise an den Verfassungsgerichtsverfahren selbst teilnimmt (vgl. §§ 77, 82 I I " , 83 II, 88, 94IV, V BVerfGG). Die Frage, ob und inwieweit andere Beteiligte, einzelne und Gruppen, von der Verfassungstheorie „konstitutionalisiert", normativ eingebunden werden sollen, ist schwieriger und muß differenziert beantwortet werden. Formen und Verfahren der Beteiligung zu konstitutionalisieren, ist spezifische Aufgabe einer (prozessualen) Verfassungstheorie. Für die Inhalte und Methoden kann das nur begrenzt gelten. Grundsätzlich soll der politische Prozeß so offen wie möglich sein (bleiben), auch die „abwegige" Verfassungsinterpretation soll die Chance haben, i r gendwann von irgendwem vertreten zu werden. Zwar ist der politische Prozeß ein Prozeß der Kommunikation aller m i t allen, i n der gerade auch die Verfassungstheorie versuchen soll, sich Gehör zu schaffen, ihren eigenen Standort zu finden und ihre Funktion als kritische I n stanz wahrzunehmen 1 0 0 . Aber ein Z u wenig an „academical self restraint" kann auch zu einem Autoritätsverlust führen. Die hier angedeutete demokratische Verfassungstheorie hat gleichwohl eine besondere Verantwortung für die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Nachtrag (Nr. 5)

zu „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten"

Dieser Beitrag, konkreter Ausdruck des Verständnisses der „Verfassung als öffentlicher Prozeß", ist seit seinem Erscheinen kontrovers diskutiert worden: vgl. zuerst Yersin, J A 1975 ÖR, S. 129 ff. (453 ff.); einerseits E.-W. Böckenförde, NJW 1976, S. 2089 (2093 ff.); Ossenbühl, in: BVerfGFestgabe I (1976), S. 458 (510); s. aber auch ders., i n DÖV 1977, S. 801 (809 Note 47); andererseits Kirchhof, in: BVerfG-Festgabe I (1976), S. 50 (101, 106); ders., Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch?, Ged.-Schrift für F. K l e i n (Hrsg. Dieter Wilke und Harald Weber), 1977, S. 227 (239); Schuppert, Bürgerinitiativen . . . , AöR 102 (1977), S. 369 (396); 99

Für eine Ausdehnung des § 82 Abs. 2 BVerfGG auf das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (durch Gesetzesänderung): Friesenhahn, JZ 1966, S. 705 (709). Zur großzügigen Fortentwicklung des § 77 BVerfGG durch das BVerfG: Lechner, BVerfGG, 3. Aufl. 1973, Erl. 2 zu § 77. 100 P. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 (453 ff.).

5. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

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Sailer, ZRP 1977, S. 303 (S. 309 m i t F N 74); Haverkate, Gewißheitsverluste i m juristischen Denken, 1977, S. 173 Anm. 61. S. auch Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I 1977, S. 114 f.; Göldner, Integration und Pluralismus i m demokratischen Rechtsstaat, 1977, z. B. S. 43 sowie Hans F. Zacher, in: VVDStRL 34 (1976), S. 284 (Diskussion). Zustimmend und kritisch i n einem ist ζ. B. Isensee, NJW 1977, S. 545 (550 f.) bei der Grundwertediskussion. Beifall und K r i t i k scheinen sich die Waage zu halten (s. zuletzt Lerche, in: FS für Ipsen, 1977, S. 437 [437 Note 1] für verfassungsprozessuale Fragen). Der Beitrag versteht sich selbst als eine Stimme i n der konzertierten Aktion der — pluralistischen — Verfassungsrechtswissenschaft. Der Blick auf die personal Beteiligten an den Verfahren, Inhalten und Ergebnissen der Verfassungsinterpretation erscheint nach wie vor als notwendig. Das Denken i. S. von Poppers „offener Gesellschaft" grundiert den Hintergrund. Dieser Beitrag ist mittlerweile i n viele Sprachen übersetzt worden: ζ. B. ins Polnische und Koreanische, ins Italienische und Spanische. Weitere Übersetzungen werden von Vertretern anderer nationaler Wissenschaftlergemeinschaften vorbereitet. I n Deutschland gibt es bis heute viele zustimmende oder kritische Bezugnahmen, über die Wissenschaft hinaus sogar i n Tageszeitungen, z. B. FAZ vom 2. März 1985, S. 6 sowie N Z Z vom 11. Sept. 1984, S. 33. (Differenziert: ζ. Β. E. Riedel, Methoden der Verfassungsinterpretation i m Wandel, FSP. Schneider, 1990, S. 382 (397); P. Kirchhof, Rechtsänderung durch geplanten Sprachgebrauch? (1977), jetzt in: ders., Stetige Verfassimg und politische Erneuerung, 1995, S. 42 (57). Zuletzt: R. Zuck, in: NJW 1996, S. 362). I m sich einigenden Europa von heute darf der Ansatz von 1975 wohl i n die europäische Dimension erweitert werden: I n dem Maße, wie sich Europa Stück für Stück teil-verfaßt, entsteht i n eben diesem Europa eine „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". H. Schulze-Fielitz hat dies jüngst aus seiner Sicht für einen personellen Teilbereich beschrieben („Auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft europäischer Staatsrechtslehrer", DVB1.1994, S. 991 ff.). Der Verfasser rang i n seinem „Generalbericht" zu dem Teilthema „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht" i n Lausanne i m A p r i l 1995 um eine „Fortschreibung" des Konzepts von 1975 (vgl. den Tagungsband, hrsg. von R. Bieber / P. Widmer . . ., 1995, i. E.). Eine eingehende Darstellung und K r i t i k bei R. Schlothauer, Zur Krise der Verf assungsgerichtsbarkeit, Neuere Ansätze zur Methodik der Verfassungsinterpretation — Untersucht am Beispiel Horst Ehmke, Peter Häberle, Konrad Hesse, M a r t i n Kriele und Friedrich Müller, 1979, bes. S. 150 ff., 193 f.

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung* I. Einleitung, Problem, drei Ausgangsthesen, Inkurs: Das Beispiel der Schweiz — I I . Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß; 1. Fragestellung und Ausgangsthese; 2. „Verfassung" und „Öffentlichkeit"; 3. Teilergebnis — I I I . Verfassunggebung in offenen Gesellschaften: ihre Pluralisierung und Verallgemeinerung; 1. Verfassungstheoretische Neubestimmung: Vielfalt und Allgemeinheit der Verfassunggeber; a) Begriff der — republikanischen — Verfassunggebung im engeren und weiteren Sinne — Beispiele; b) Der demokratietheoretische Aspekt: Funktionellrechtlicher Pluralismus vieler als Verfassunggeber; c) Kritik am herkömmlichen Verständnis der Verfassunggebung und verfassungstheoretische Konsequenzen; aa) Der Abschied von der Ideologie der Einseitigkeit; bb) Der Abschied vom Dogma der Punktualität; 2. Durchführung im einzelnen; a) Die materiellrechtliche Seite; b) die Verfahrens- und Beteiligtenseite: Abgrenzung und Zusammenwirken spezieller Teil verfahren, insbesondere der Verfassungsinterpretation; c) Das aktuelle Beispiel: Die (Schweizer) Verfassungsrechtswissenschaft als Verfassunggeber im weiteren Sinne; 3. Theoretischer und praktischer Gewinn der Neubestimmung von Verfassunggebung und Verfassunggebern — Rückbindung formeller Teilverfahren an die Verfassunggebung; 4. Gefahren — IV. Ausblick (Schluß) I . Einleitung, Problem, drei Ausgangsthesen Verfassungsinterpretation u n d Verfassunggebung — der T i t e l enth ä l t eine These, v i e l l e i c h t eine leise P r o v o k a t i o n . Geistesgeschichtlich, p o l i t i s c h u n d d o g m a t i s c h l i e g t n ä m l i c h die u m g e k e h r t e R e i h e n f o l g e näher. M a n d e n k t zunächst a n die V e r f a s s u n g g e b u n g . E r s t wenn eine V e r f a s s u n g „ g e g e b e n " w o r d e n ist, e n t s t e h t das P r o b l e m i h r e r I n t e r p r e t a t i o n : das (angeblich) V o r h a n d e n e w i r d i n t e r p r e t i e r t . I n diesem V o r t r a g s t e h t d i e V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n als A u f g a b e u n d V o r g a n g b e w u ß t a m A n f a n g . Z u m einen, w e i l v o n d e r Ebene u n d d e m H i n t e r g r u n d f r e i h e i t l i c h e r Verfassungsstaaten aus a r g u m e n t i e r t w i r d : sie h a b e n schon Verfassungen, die zunächst e i n m a l zu i n t e r p r e t i e r e n sind, ggf. aber auch — m e h r oder w e n i g e r „ n e u " — „ g e g e b e n " , d. h. ganz oder t e i l w e i s e r e v i d i e r t w e r d e n sollen. Z u m a n deren, w e i l m . E. V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n heute i n den V o r d e r g r u n d * Originalbeitrag, gleichzeitiger Abdruck in: ZSR97 (1978), H. 1. * Gastvortrag, gehalten auf Einladung der Juristischen Fakultät der Universität Bern, am 1. 12. 1977 in Bern. 1 Verfassung „in der Zeit" läßt durch (offene) Interpretation das Mögliche und Notwendige (im Normativen) zur Wirklichkeit werden: P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (118 ff., 121 ff.) und ders., Demokratische

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

183

r ü c k t 1 , V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n u n d V e r f a s s u n g g e b u n g sich w e i t n ä h e r stehen als ü b l i c h e r w e i s e a n g e n o m m e n w i r d u n d auch die A b g r e n z u n g der Verfassunggebung v o n der Verfassungsinterpretation ein P r o b l e m d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n u n d des Verfassungsverständnisses i s t 2 . D i e v o r die K l a m m e r v o n „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n s u n g g e b u n g " gezogenen d r e i Thesen l a u t e n : 1. V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n

u n d Verfas-

u n d V e r f a s s u n g g e b u n g geschehen i n o f -

fenen Gesellschaften p l u r a l i s t i s c h 3 : d u r c h eine V i e l z a h l

konkreter

Menschen u n d G r u p p e n . 2. R e p u b l i k a n i s c h e V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n s i n d sich i n (der) W i r k l i c h k e i t weit näher m a t i k seit Sieyes

und

Verfassunggebung

als dies I d e o l o g i e u n d D o g -

zugeben m ö g e n u n d k ö n n e n : D e r verfassungge-

bende „ U r - A k t " i s t j e d e n f a l l s i n t e n d e n z i e l l „ o f f e n e n Gesellschaften" auch i n d e n n o r m a l e n — p l u r a l i s t i s c h e n — V e r f a h r e n d e r V e r f a s Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 (54 ff.). 2 Hinzuweisen ist auf das dem wechselbezüglichen Verhältnis von Verfassunginterpretation und Verfassunggebung zugrundeliegende Verfassungsverständnis (s. dazu Arbeitsgruppe für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, Schlußbericht, Bern VI/1973, S. 25 ff.: „Typisierte Verfassungsverständnisse" und S. 27 f. : „Unverlierbare Elemente des Verfassungsverständnisses", S. 28ff.: „Wirklichkeitsnahe Verfassung". — s. auch P. Häberle, AöR 94 (1969), S. 479 (484f.): Verfassung wird hier im weiteren Sinne verstanden als „in guter Verfassung sein", als Zustand und Aufgabe, Produkt und Produzent guter Ordnung. Dies als Überwindung des Denkens in soziologischen versus juristisch-normativen Verfassungsbegriffen (anders: Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Neudr. d. 2. Aufl.. 1962). Vgl. die Kritik H. Hellers an C. Schmitt einerseits, Kelsen andererseits (Staatslehre, 4. Aufl. 1970, S. 259 ff.). Die geschriebene Verfassung, das durch Verfassunggebung im engeren Sinn zustandegekommene „Verfassungsgesetz", ist Input einer immer schon vorhandenen Verfaßbarkeit, sie ist aber zugleich Output für die Gesamtverfassung, der sie Direktiven, Richtlinien und Rahmen, auch für die Verfassungsinterpretation, liefert. Dieses Verständnis überwindet auch den nur vermeintlichen „circulus vitiosus", dem der Verfassunggeber unterliegt: Er kann (und darf) sich in einer offenen Gesellschaft nur in Anknüpfung an bereits verfaßte Verhältnisse konstituieren : Personale Identität gewährleistet sachliche Kontinuität. 3 Ein pluralistischer Ansatz für Verfassung gebung findet sich auch bei von Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968, passim, ζ. B. S. 9: „In keinem Fall hat 'sich in verfassunggebenden Versammlungen der verfassunggebende Wille des Volkes einheitlich manifestiert"; S. 14: „Der verfassunggebende Wille des Volkes erweist sich . . . meistens als Wille einer konstituierenden Gruppe"; S. 57: Skepsis gegen die voluntaristische Auffassung des pouvoir constituant; S. 63: Die Fiktion vom verfassunggebenden Willen des Volkes muß zugunsten eines pluralistischen Konstituierungsverfahrens aufgegeben werden. — Ähnlich P. Häberle, AöR 94 (1969), S. 479 (483 ff.). — An der Vorbereitung einer Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung beteiligt waren Kantone, Parteien, Hochschulen, Kirchen, Organisationen und einzelne Bürger. Die Stellungnahmen umfassen vier Bände von insgesamt 2 200 Seiten, s. Schlußbericht, a.a.O., S. 11. — Zur Kritik unten bei und in Anm. 153 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

sungsinterpretation fortgesetzt virulent und präsent: gemeint ist die — republikanische — Verfassunggebung i m weiteren Sinne, i m Unterschied zur herkömmlichen Verfassunggebung i m engeren Sinne eines speziellen Verfahrens. 3. Verfassunggebung und Verfassungsinterpretation, zeitlich, sachlich und personell einander näher gerückt, stehen i n Wechselwirkung, sogar i n Teilidentität, zueinander: Momente konstituierender Verfassunggebung i m weiteren Sinn finden sich auch i n der tagtäglichen Verfassungsinterpretation, und: Vorgänge und Verfahren der Verfassungsinterpretation finden sich auch i n der Verfassunggebung, sie ereignet sich i n offenen Gesellschaften nicht gleich einem „ U r Knall", beginnt nicht auf einer „tabula rasa" i n der Stunde Null 4 , sondern sie interpretiert auch: etwa i n der Weise, daß die neue Verfassunggebung Interpretationsergebnisse, Vorverständnisse und Nachverständnisse 5 der und zur alten Verfassung ganz oder z.T. „fest- oder fortschreibt". Der Übergang von der alten zur neuen Verfassung ist i n offenen Gesellschaften in komplizierten Wechselwirkungsvorgängen zu sehen, die neue Verfassung erhält Anregungen aus der Interpretation der alten, die alte w i r k t i n neuer Gestalt fort, sie w i r d sogar eine A r t „Geburtshelfer" der neuen Verfassung 6 . Hier finden sich Momente des Dialogs, aber auch des Konflikts, der Kontinuität und der Diskontinuität, der These und Antithese. Was „Interpretation" kaum oder nicht mehr leisten kann, soll i n Form der Verfassunggebung bewirkt werden 7 . Andererseits darf Verfas4

Gegen ein Verständnis der Verfassunggebung als voluntaristischer U r Akt: P. Häberle, AöR 94 (1969), S. 479 (485); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 1977, S. 17, jeweils m. w. N. — s. auch Schlußbericht, a.a.O., S. 22: „Weil die total revidierte Verfassung nicht bei einem Nullpunkt beginnt und keinen buchstäblichen Anfang der Staatsordnung setzt, muß sie Bedacht nehmen auf den bestehenden Rechtszustand. Sie kann nicht wie im freien Raum operieren, sondern muß — bei aller grundsätzlichen Freiheit der Rechtsgestaltung — sich auch einfügen und anpassen. Eine Verfassungsrevision soll aufbauen, leiten, verbessern, nicht zertrümmern und keinesfalls verschlechtern. Sie wird etwa in Fragen der Stellung des Menschen in der Gesellschaft und zum Staat durch das vorhandene Zivilrecht, das Strafrecht, das Steuerrecht, das Sozialversicherungsrecht mitbestimmt, auch wenn sie rechtslogisch natürlich die Möglichkeit hätte, anzuordnen, daß alle diese Regelungsgebiete neu zu ordnen wären; praktisch und politisch könnte diese Möglichkeit nur begrenzt verwirklicht werden." 5 Dazu mein Beitrag „Zeit und Verfassung", ZfP 21 (1974), S. 111 ff. (126 ff.: „Das Nachverständnis als Vorverständnis der Zukunft"). — Beispiele unten Anm. 9 ff. β Dafür liefert der Schlußbericht (a.a.O.) vielfältiges und anschauliches „Material", s. etwa S. 45 ff.: „Konstanten der Eidgenossenschaft angesichts einer Totalrevision der Bundesverfassung". 7 Die Grenzen der Verfassungsinterpretation werden hermeneutisch-verfassungstheoretisch (vgl. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, 1963, Wiederabdr. in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 164 ff. oder sprachanalytisch-semantisch (vgl. H.-J.

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sunggebung der Verfassungsinterpretation aber auch nicht den Weg verbauen wollen. Hier zeigen sich komplexe gegenseitige Bedingungen und Begrenzungen. Was für in einer revolutionären Situation geschmiedete Begrifflichkeiten und Zuspitzungen — beim Ubergang vom ancien régime zur Gesellschaft der Menschenrechte 1789 — richtig gewesen sein mag: die Konfrontation von Verfassunggebung und Verfassungsänderung bzw. -interpretation, w i r d i n einer konstituierten offenen Gesellschaft fragwürdig: „äußerste" Verfassungsinterpretation erweist sich als „Vorhut" von Verfahren und Inhalten der Verfassunggebung, Verfassunggebung i n Teilen als Interpretation von schon mehr oder weniger verfaßt Vorhandenem. Die theoretischen Überlegungen lassen sich an drei Beispielen verdeutlichen: an der aktuellen Diskussion i n der Schweiz, an der — wohl einzigartigen — Entwicklung i n Spanien bzw. Portugal (einzigartig, weil sich hier „geschlossene Gesellschaften" aus sich heraus in offene zu verwandeln beginnen) und am Werden der Europäischen Verfassung 8. Inkurs: Das Beispiel der Schweiz Aussagekräftig sind die vielgestaltigen Beiträge, die derzeit i n der Schweiz von vielen „pluralistisch" für die geplante Totalrevision als Verfassunggebung i m engeren Sinne (mehr oder weniger unbewußt auch für die i m weiteren Sinne) geleistet werden. Sie legen eine Neubestimmung der Verfassunggebung nahe. Beispiele sind: 1. die Relevanz der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, etwa zur Pflicht der Behörden und Bürger, „sich nach Treu und Glauben zu verhalten" 9 ; Koch [Hrsg.], Die juristische Methode im Staatsrecht, 1977, S. 29 ff.) thematisiert. „Starrheit und Beweglichkeit" von Verfassungen (dazu: Hesse, Grundzüge . . . , S. 16 f.) sind auch durch Vor-Gegebenheiten des Normtextes (dessen unterschiedliche Dichtegrade) mitbedingt. So-findet ζ. B. Verfassungsinterpretation dort ihre Grenze, wo die geschriebene Verfassung ein Verbot der Todesstrafe festlegt (zur Diskussion in der Schweiz: Schlußbericht, a.a.O., S. 168 f.). Semantische Analysen sind aber nur Teilaspekt funktionaler Analysen, die über die jeweils geltenden Verfassungen hinaus normativ nach Instituten, Prozeduren und Inhalten einer „allgemeinen" demokratischen Verfassungslehre zu fragen haben (s. P. Häberle, AöR 94 [1969], S. 479 [484]). R Dazu unten bei Anm. 79 ff. 9 1.1.4 des sog. „Arbeitspapiers 1" in: Arbeitspapiere I 1974, S. 8 mit dem Vermerk, dies entspreche der bundesgerichtlichen Praxis. (Vgl. auch Saladin, Das Verfassungsprinzip der Fairneß, in : Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, 1975, S. 41 ff., 56 ff.) Art. 5 Abs. 3 des „Endgültigen Entwurfs der Expertenkommission spricht übereinstimmend von „Treu und Glauben", die sich staatliche Organe einander schulden"), s. auch die Anknüpfung an die Rechtsprechung zum Armenrecht: Schlußbericht, S. 172. Schlußbericht, S. 411: Vom B G entwickelte Individualrechte.

I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

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2. abgeschlossene oder g e p l a n t e A k t i v i t ä t e n des einfachen verfassungsändernden 3. völkerrechtliche

10

o d e r des

n

Gesetzgebers ;

Vertragswerke:

So w i r k t die M R K v o r , e t w a bezüg-

l i c h des Rechts a u f L e b e n , F r e i h e i t u n d S i c h e r h e i t 1 2 ; ebenso v o n d e r M R K ( A r t . 5) „ i n s p i r i e r t " i s t das Recht a u f Ehe u n d F a m i l i e n g r ü n d u n g ( A r t . 8 u n d 12 M R K ) 1 3 . 4. A l s „ ( V o r - ) V e r f a s s u n g g e b e r " i m w e i t e r e n S i n n e i s t die Wissenschaft a k t i v . D a v o n zeugt die A r b e i t d e r E x p e r t e n k o m m i s s i o n , auch d e r E n d g ü l t i g e V e r f a s s u n g s e n t w u r f , z . B . i n A r t . 24: „Verwirklichung der Grundrechte" u. D e r verfassungsvergleichende B l i c k ü b e r die Schweizer G r e n z e 1 5 h a t sich k o n k r e t a u s g e w i r k t , v g l . e t w a A r t . 43 des E n d g ü l t i g e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f e s d e r E x p e r t e n k o m m i s s i o n m i t seiner N o r m i e r u n g d e r „Bundestreue" 1 ®. A u s l ä n d i s c h e V o r b i l d e r w e r d e n auch i m V o r s c h l a g e i n e r W e s e n s g e h a l t g a r a n t i e s i c h b a r 1 7 ( v g l . auch A r t . 23 A b s . 1 S. 2 des E n d g ü l t i g e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f s : U n a n t a s t b a r k e i t des „ K e r n s " ) 1 8 . Z u m A n s p r u c h a u f G l e i c h b e h a n d l u n g findet sich e i n V e r w e i s a u f den c i v i l r i g h t s act d e r U S A v o n 1964 ( A r b e i t s p a p i e r e I , 1.2.1, B e m e r k u n g e n b [S. 9]). D e r Menschenwürde10 Vgl. die Anknüpfung an unterverfassungsrechtliche Gesetzgebung in: Schlußbericht, S. 22, 44; Übernahme eines geplanten Gesetzes (in bezug auf die Leitungsfunktion der Regierung): Schlußbericht, S. 513 f. Niederschlag etwa bezüglich der Kosten der beruflichen Ausbildung: 1.6.1.3, Arbeitspapier I, a.a.O., S. 27. 11 s. die Anknüpfung an den revidierten Eigentumsartikel (der Partialrevision 1969): Schlußbericht, S. 162; Bekämpfung ungerechtfertigter Grundstücksgewinne: Arbeitspapiere I, 1.7.2.1, Bemerkungen c (S. 40). Zur Anknüpfung einer Totalrevision an sonst laufende Reformvorhaben die Nachweise bei R. E. Germann, Politische Innovation und Verfassungsreform, 1975, S. 97 ff. — Zu „FernWirkungen von Partialrevisionen im Vorfeld der Totalrevision": Eichenberger, ZSR 96 (1977), S. 209 (213 f.). 12 1.3.1 Arbeitspapiere I, a.a.O., S. 11. 13 1.3.2, a.a.O., S. 11. Auf weitere Beispiele, etwa den Schutz des Privatlebens und der Geheimsphäre (1.3.*) sei verwiesen. 14 Auch steckt in dem Wort „sinngemäß" von Art. 25 Abs. 1 Endg. Verfassungsentw. („Die Gesetzgebung und Rechtsprechung sorgen dafür, daß die Grundrechte sinngemäß auch unter Privaten gelten"), die ganze Dogmatik zur differenzierten („mittelbaren") Drittwirkung. Vorbildlich ist Art. 24 Endg. Verfassungsentwurf, insofern er die Grundrechte auch in gesetzlichen Organisations - und Verfahrensvorschriften verwirklicht sehen will. 15 s. die allenthalben verfassungsvergleichende Arbeit: Schlußbericht, z.B. S. 453 ff., 462 ff., 587 f., 673. 16 Vgl. auch den deutschen Art. 28 Abs. 2 GG als Vorbild: Gemeindeautonomie (Schlußbericht, S. 262); zu ihr: Th. Fleiner, V V D S t R L 36 (1978), S. 338 ff. 17 1.1.3 Arbeitspapiere I, 1974, S. 7; Schlußbericht, S. 70f. 18 — der nur „absolut" i. S. der absoluten Wesensgehaltstheorie verstanden werden kann; Ausdruck der „relativen" Wesensgehaltstheorie ist das „öffentliche Interesse" in Art. 23 Abs. 1 S. 1. Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl. 1972, S. 1 f., 39 ff.

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

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Satz — prima causa des Gemeinwesens — steht in A r t . 9 des Endgültigen Verfassungsentwurfs 19 . Das Aufgabendenken ist i m Endgültigen Verfassungsentwurf besonders prägnant: vgl. A r t . 2 zu den Staats-Zielen, Art. 3 zur Teilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen und Art. 97 zu den „Regierungsaufgaben" 20 . Ein entsprechendes Tableau könnte für die sog. „Kurz-Verfassung" (Wildhaber) (Arbeitspapiere I, 1974, S. 111 ff.) nachgezeichnet werden, wobei die Variante zur Erhaltung des Kurzcharakters der Alternativverfassung (4.3.2 Absatz 3 [a. a. O., S. 139: die Teilrevision „muß sich nach Ausführlichkeit und Regelungsdichte i m Rahmen dieser Verfassung halten"]) hohen Originalitätsgrad besitzt. A m Arbeitspapier 3, dem Entwurf Aubert (a. a. O., S. 140 ff.), fällt die Orientierung an deutschen Vorbildern auf: ζ. B. in A r t . 1 Nr. 6 (die „Voraussetzungen für ein harmonisches wirtschaftliches Wachstum zu schaffen" als Staatsauf gäbe : man erinnert sich an Ipsens Verfassungsauftrag zur staatlichen Wachstums Vorsorge) 21, oder die weitgehende Konstitutionalisierung der politischen Parteien i n A r t . 41 (Abs. 1: sie „tragen zur Willensbildung des Volkes bei", vgl. auch Absatz 3 zur Finanzierung der politischen Parteien). Hier bzw. bei Art. 68 des Endgültigen Verfassungsentwurfs stand Art. 21 Abs. 1 GG Pate 22 . Ein Wort zur sog. „KernVerfassung", dem Entwurf der Professoren Eichenberger und Saladin (Arbeitspapiere II, 1975): Hier finden sich treffende Formulierungen, die von der neuesten Dogmatik geprägt sind, etwa i n Art. 3 Abs. 3 („Die Ausübung der Grundrechte w i r d vom Staat gefördert. Das Maß der Förderung bestimmt sich nach den finanziellen Möglichkeiten des Staates"). Sie knüpfen an die das 1. NumerusClausus-Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts vorbereitende Dogmatik an 2 3 . Art. 3 Abs. 1 orientiert sich an der Menschenwürde-Be19

Vgl. auch Schlußbericht, S. 72. Groß ist der Innovationswert des 2. Teils (Art. 48 bis 53) des Endgültigen Verfassungsentwurfes. Er ist praktisch über das Thema „Verantwortung" Scholz / komponiert (zu ihr speziell für „Verwaltungsverantwortung": Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), S. 145 ff. bzw. S. 221 ff.). Das vom staatsrechtlichen Positivismus formalisierte Kompetenzdenken wird hier korrigiert: Zuständigkeit als Verantwortung und Pflicht, Aufgabendenken als inhaltliche Anreicherung der Zuständigkeitsverteilung im Bundesstaat usw. s. noch Anm. 24. 21 Zu den Grenzen Saladin, in: FS für Scheuner, 1973, S. 541 ff. 22 Vgl. Schlußbericht, S. 217. 23 Dazu mein Mitbericht: Grundrechte im Leistungsstaat, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 ff., zur staatlichen Grundrechtsförderung S. 90 ff., zu den (finanziellen) Grenzen des Möglichen, ebd., S. 107, 113 f.; s. BVerfGE 33, 303 (333 ff.). Zum Ganzen J. P. Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, Referate und Mitteilungen des Schweiz. Juristenvereins 107 (1973), S. 708 ff. Zuletzt BVerfGE 43, 291 (313 ff.). 20

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Stimmung des A r t . 1 A b s . 1 G G . E i n b a h n b r e c h e n d e r G e d a n k e i s t die „ Z w e i t e i l u n g " i n eigentliche V e r f a s s u n g s n o r m e n u n d i n „ G r u n d l a g e n gesetze" (a. a. O., S. 3 f.). Sie e r w e i s t sich als g e g l ü c k t e r Versuch, e i n e n M i t t e l w e g zwischen „ B e s t ä n d i g k e i t d e r V e r f a s s u n g " u n d i h r e n u n v e r m e i d b a r e n W a n d l u n g e n i n e i n e r offenen Gesellschaft zu f i n d e n 2 4 . Das „ G r u n d s ä t z l i c h e z w e i t e r S t u f e " , das sog. Grundlagengesetz, e r m ö g l i c h t F o r t b i l d u n g d e r Verfassung, ohne i h r e P u b l i z i t ä t u n d v i e l z i t i e r t e „ I n t e g r a t i v k r a f t " z u gefährden. D i e E i n z i e h u n g e i n e r solchen Zwischenschicht zwischen V e r f a s s u n g s n o r m u n d einfacher Gesetzesnorm erscheint als d e r V e r s u c h e i n e r „ V e r f a s s u n g g e b u n g " i m w e i t e r e n Sinne, ζ. T . auch als e x p e r i m e n t i e r e n d e V o r b e r e i t u n g e i n e r solchen i m e n g e r e n Sinne. D i e „ e i g e n t l i c h e " V e r f a s s u n g s n o r m b l e i b t , aber sie w i r d „ g r u n d s ä t z l i c h " k o n k r e t i s i e r t . D i e A r c h i t e k t u r des ganzen V e r f a s s u n g s w e r k e s w i r d so elastischer, d i f f e r e n z i e r t e r ; das V e r f a h r e n d e r V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g „ u n t e r h a l b d e r V e r f a s s u n g " w i r d aufgelockert, i n s o f e r n das bloße G r u n d l a g e n g e s e t z geringere M e h r h e i t e n e r f o r d e r t 2 5 . Wie sehr „einfädle" Gesetzgebung und Wissenschaft Wegbereiter von „neu gegebenen" Verfassungen sind, zeigte jüngst die Verfassung der Republik und des Kantons Jura (1977)2«. Ihre soziale Komponente ist ohne die Vorarbeit der Diskussion um „soziale Grundrechte" in der Schweiz und in Deutschland nicht denkbar 27 · 28. 24 Problematisch ist die weitgehende Selbstinterpretation des Verfassunggebers bezüglich des Begriffs „Verantwortung" (vgl. Art. 48 Endg. Verfassungsentwurf). Ein Übermaß an Selbstinterpretation könnte Wege in die Zukunft verbauen. „Der" Verfassunggeber des Jahres 1977/78 darf nicht nur an sich selbst, er sollte auch an die Verfassunggeber der späteren Jahre denken! Interpretation der Verfassung durch die Verfassung soll damit nicht gänzlich ausgeschlossen werden, sie sollte aber — um der Vevîassungsentwicklung willen — nicht zu selbstbewußt und nicht zu weitgehend in Anspruch genommen werden. Illusionen könnten hier zu hohe Preise fordern! Der aktuelle Verfassunggeber wird hier von der Zukunft her begrenzt: von den künftigen Verfassunggebern. I m ganzen besteht die Kunst in einer ausbalancierten Verwendung von offenen Verfassungsnormen einerseits, regelungsdichteren andererseits. — Kritisch zu Tendenzen der Verfassungen zur „Selbstperpetuierung" jetzt Göldner, Integration und Pluralismus im demokratischen Staat, 1977, S. 26 ff. (zu ihm meine Bespr. D Ö V 1978, S. 257 f.). 25 Zu „Vorverfahren" der Verfassungsänderung vgl. P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 (463 Anm. 110). 26 Art. 13: Die Grundrechte können nur durch Gesetz eingeschränkt werden und nur so weit, als ein überwiegendes öffentliches Interesse es erfordert. — Art. 56 Abs. 2 (Alles staatliche Handeln) muß verhältnismäßig sein. — Diese Sätze sind zum GG und zur Schweizer Bundesverfassung entwickelt worden, ohne daß deren Texte entsprechende Aussagen enthielten. — Vgl. auch Art. 9 Abs. 4 ebd.: Mittellose Parteien haben Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand nach den Vorschriften des Gesetzes. — Zum Problem: Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle — Ein Grundproblem des Rechtsschutzes, 1976; Rehbinder, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. I V (1976), S. 395 ff. 27 Vgl. J. P. Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, Referate und Mitteilungen des Schweizerischen Juristenvereins 107 (1973), S. 708 ff.; Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Aufl., 1975, S. 459 ff.; P. Häberle, V V D S t R L 30

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

189 29

Das Aufgabendenken — in der Verfassungstheorie recht einflußreich — hat sich textlich ebenfalls niedergeschlagen 80. Vor allem aber läßt Art. 4 stufenartig Strukturen des kooperativen Verfassungsstaateserkennen: enge Zusammenarbeit mit den anderen Kantonen (Abs. 1), mit den Nachbarn (Abs. 2), Weltoffenheit, Zusammenarbeit mit den um Solidarität bemühten Völkern (Abs. 3)32. W a s f o l g t aus diesem Tableau? E i n e E r m u t i g u n g f ü r die W i s s e n schaft, i n k o n z e r t i e r t e n A k t i o n e n m i t Verfassungsrechtsprechung, G e setzgebung u n d V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g d i e p l u r a l i s t i s c h e n Prozesse d e r V e r f a s s u n g g e b u n g v o r - u n d nachzubereiten, zugleich die N o t w e n d i g k e i t , die t r a l a t i z i s c h e L e h r e v o n „ d e m " p o u v o i r c o n s t i t u a n t i n Z w e i f e l z u ziehen. I I . Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß* 1. Fragestellung

und

Ausgangsthese

V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n als ö f f e n t l i c h e r Prozeß oder Verfassungsi n t e r p r e t a t i o n als Ö f f e n t l i c h k e i t s a k t u a l i s i e r u n g — dieses P r o g r a m m v e r k n ü p f t Verfassung u n d Verfassungsinterpretation m i t „Öffentlichkeit" schon i m A n s a t z 3 3 . These i s t : 1. V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n soll ö f f e n t l i c h e r Prozeß sein. 2. Sie i s t „ u n t e r " d e m G G z u m T e i l schon ö f f e n t l i c h e r Prozeß — so g r e i f b a r h i e r gewisse D e f i z i t e s i n d : als ö f f e n t l i c h k e i t s - u n d P l u r a lismusdefizite 34. (1972), S. 43 ff.; ders., DÖV 1972, S. 729 ff.; Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 14 (1975), S. 17 ff. 28 Art. 19: Recht auf Arbeit; Art. 22: Recht auf Wohnung, — symptomatischerweise nicht mehr primär oder gar ausschließlich als Abwehrrecht formuliert; Art. 45: Umweltschutz; Art. 10: Recht auf Ausbildung. 29 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 1977, S. 5 ff., 84 ff., 122 ff.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation (1963), jetzt in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 164 ff. 30 Vgl. I I I „Die Aufgaben des Staates" (in diesem Rahmen sind soziale Grundrechte normiert!), Art. 35: „Aufgabenverteilung". — Art. 68 ist Ausdruck der neueren Schweizer und Bundesdeutschen Diskussion: Information der Öffentlichkeit. (1) Die Kantons- und die Gemeindebehörden informieren die Bevölkerung über ihre Tätigkeit. (2) Sie veröffentlichen die wichtigen Vorhaben in der Weise, daß eine öffentliche Diskussion möglich ist. 31 Dazu mein gleichnamiger Beitrag in der FS für Schelsky, 1978, i. E. 32 Auch sonst erscheint die Verfassung Jura in manchem als ein „Wurf". Vgl. etwa die bemerkenswerte Anerkennung der Demonstrationsfreiheit (Art. 8 g), anders noch das BG im sog. Moutier-Fall (dazu N Z Z vom 1. 12. 1977, S. 35). * Ausführlicher zum Folg. (S. 189 bis 195): oben S. 121 bis 137. 33 Dazu mein Beitrag „öffentlichkeit und Verfassung", ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 34 Zur neueren Pluralismuskritik: v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 148 ff. (151 ff. m. w. N.).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Eine derartige Sicht der Verfassungsinterpretation ist „angeregt" durch die bisherige Praxis der Verfassungsinterpretation zum Grundgesetz, insbesondere i n bezug auf erkennbar öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene Begriffe 3 5 . Verfassungsinterpretation bedarf theoretisch der Erweiterung und Vertiefung um die Dimension des öffentlichen, weil i h r Gegenstand die Verfassung der res publica ist und weil die an ihren Vorgängen personal Beteiligten öffentliche Kräfte und „Faktoren" sind 3 6 . 2. „Verfassung"

und „Öffentlichkeit"

Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft, sie bezieht also die — verfaßte — Gesellschaft ein. Dieser weite Verfassungsbegriff umschließt die Grundstrukturen der — pluralen — Gesellschaft. Verfassungsinterpretation ist ein öffentlicher Prozeß, d. h. sie ist ein offener Vorgang und soll ein solcher sein. Geht man von der Innovation und Wandel bewußt einbeziehenden offenen Gesellschaft unseres freiheitlichen Gemeinwesens aus, so kommt man zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Sie finden sich, sie finden „zu sich" i n komplexen öffentlichen Prozessen, von denen die konkrete Verfassungsprozesse betreffenden Kontroversen der wissenschaftlichen (juristischen) Öffentlichkeit nur einen Ausschnitt bilden. Der Begriff „Verfassungsinterpretation" w i r d weit verstanden. Er umschließt neben der üblichen i m engeren Sinne, der juristischen, insbesondere durch die Gerichte, die weitere, an der viele aktiv und passiv Betroffene, letztlich alle i m politischen Gemeinwesen beteiligt sind 3 7 . Ein Wort zu Struktur und Funktion der Öffentlichkeit, die i n die Vorgänge und „Beteiligungen" der Verfassungsinterpretation einbezogen ist und diese zum öffentlichen Prozeß macht. Verwiesen sei auf die Grundsatzarbeiten von Rudolf Smend und Konrad Hesse 38 . Die Verfassung steht schon dem GG-Text nach i n vielfältigen öffentlichkeits35 Nachweise in: P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim, bes. S. 274 ff., 349 ff., 708 ff. 36 P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.; ders., Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit in gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis, in: Th. Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 ff. 37 Vgl. meinen Beitrag, JZ 1975, S. 297 ff. 38 Smend, Zum Problem des öffentlichen und der Öffentlichkeit, in: Gedächtnisschrift für W. Jellinek, 1955, S. 11 ff.; Hesse, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, V V D S t R L 17 (1959), S. 11 (39 ff.). Daran anknüpfend mein Beitrag: Struktur und Funktion der Öffentlichkeit im demokratischen Staat, in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 3 ff.

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

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bezügen: A r t . 42, 21 I 3 und 4, 79 I 1 GG. Z u erwähnen ist die Demokratiekomponente der Grundrechte, insbesondere die öffentliche Seite der Pressefreiheit 39 . Idealiter geht es um pluralistische Öffentlichkeit, eine Öffentlichkeit, die aus der Vielfalt von Ideen und Interessen lebt. Das Spektrum reicht von der Macht „organisierter Interessen" bis zur Ohnmacht nicht organisierter oder nicht organisierbarer Interessen, etwa gesellschaftlicher (Rand-)Gruppen (Zeugen Jehovas oder Verbraucher und Sparer), die u m so stärker auf Berücksichtigung durch die und „ i n " der Verfassungsinterpretation angewiesen sind, als sie Minderheiten, aber auch „allgemeine Interessen" ohne Macht darstellen: Hier liegt ein spezifisches Feld für die Verfassungsinterpretation des BVerfG, das sich dieser Aufgabe schon durchaus gestellt hat 4 0 . Die Öffentlichkeitskristallisationen, d. h. Anhaltspunkte für Pluralismus· und „öff entlichkeitsbewußte" Verfassungsinterpretation sind komplex; sie können nicht abschließend systematisiert werden, auch nicht die Medien oder „Vermittler", d. h. Beteiligten an — öffentlicher — Verfassungsinterpretation 41 . Den theoretischen Hintergrund für Verfassungsinterpretation als pluralistisch-öffentlicher Prozeß bildet die gleichermaßen demokratische wie grundrechtliche Fundierung des freiheitlichen Gemeinwesens. Sie läßt sich als „Bürgerdemokratie" umschreiben und ist als solche eine A b sage an „volksdemokratische" Konzeptionen jeder A r t 4 2 . Ausdruck und Folge des öffentlichen Prozeßcharakters der Verfassungsinterpretation lassen sich an Beispielen verdeutlichen : — Verfahrensmäßig — an der Praxis zum BVerfGG, in der das BVerfG pluralistisch eine Art öffentlicher hearings schon bisher bei mehr oder weniger „großen" Prozessen seinen Entscheidungen vorgeschaltet hat 4 3 , — in der Einrichtung von und Praxis zu Sondervoten im BVerfG. 39

Dazu Czajka, Pressefreiheit und „öffentliche" Aufgabe der Presse, 1968. z.B. in den Zeugen Jehovas-Fällen; dazu mein Diskussionsbeitrag in VVDStRL 34 (1976), S. 110. s. noch unten Anm. 57 ff. — Gelegentlich können freilich auch die Ohnmächtigen (Gruppen) Schaden stiften, nicht nur die Mächtigen. 41 Dazu und zum folgenden: P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. 42 Dazu mein Aufsatz: Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien und Bürgerdemokratie, JZ 1977, S. 361 ff.; zuvor in V V D S t R L 33 (1975), S. 134 (136, Diskussion). — Zur Relevanz bürgerdemokratischer Konzeptionen für ein vereintes Europa s. den Tindemans-Bericht v. 29. 12. 1975 über die Europäische Union, Bulletin EG Beil. 1/76, S. 29 ff.: „Das Europa der Bürger"; dazu: Grabitz, Die Grundrechte der Europäischen Union. Das Europa der Bürger?, in: Schneider I Wessels (Hrsg.), Auf dem Weg zur Europäischen Union?, 1977, S. 167 ff. 48 Dazu mein Beitrag in JZ 1976, S. 377 (382 ff.); zuletzt: BVerfGE 40, 296 (299 ff.); 42, 133 (136 f.); 43, 34 (40 f.), 79 (85 ff.), 213 (220 ff.). 40

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Materiellrechtlich illustrieren folgende Beispiele den Zusammenhang von Verfassungsinterpretation und öffentlichkeit(saktualisierung) : — Abwägungsvorgänge bei der Bestimmung von Inhalt und Grenzen der Grundrechte 44 , hinter denen heute nicht nur Individualinteressen sondern auch Gruppenkonflikte stehen 45 , — die Auslegung betont öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogener Begriffe wie „Öffentliche Aufgabe" der Presse und Pressefreiheit 46 , — der Durch- bzw. Rückgriff auf öffentlich vorgebrachte Wertungen bestimmter Gruppen, Fachkreise usw. 47 , — die Umschreibung des Wandels verfassungsrechtlicher Begriffe: Stichwort „gesellschaftliche Anschauungen" wie bei Art. 14 GG, das Verständnis der politischen Parteien, — der (zulässige) Blick auf die Folgen einer bestimmten Verfassungsinterpretation 4 «. D i e r a t i o n a l e O f f e n l e g u n g der Gesichtspunkte u n d des V o r v e r s t ä n d n i s ses d u r c h das B V e r f G h a t i h r e E n t s p r e c h u n g i n d e r O f f e n l e g u n g v o n I n teressen u n d I d e e n i n d e n gesellschaftlichen K o n f l i k t e n 4 9 , die v e r f a s sungsrechtlich g e f o r d e r t ist. E i n V e r s t ä n d n i s d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n als ö f f e n t l i c h e r P r o zeß h a t Grenzen und birgt Gefahren. Sie l i e g e n i n d e r d e n k b a r e n z u s t a r k e n Dynamisierung des sogenannten „geschriebenen" Verfassungsrechts — das f r e i l i c h w e i t m e h r ungeschrieben i s t als g e m e i n h i n gesehen w i r d , i n s o f e r n V e r f a s s u n g s a u s l e g u n g p r i n z i p i e l l i m S p a n n u n g s f e l d v o n (verfassungsrechtlichem) G r u n d s a t z u n d ( „ u n t e r v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e r " ) N o r m geschieht. G e w i ß i s t die V e r f a s s u n g n i c h t n u r P r o zeß, sie h a t wesentliche M o m e n t e d e r K o n s t a n z als „ R a h m e n o r d n u n g " , 44

s. die Belege: AöR 95 (1970), S. 86 (96 ff,, 112 ff.); mein „öffentliches Interesse" (Anm. 35), S. 351 ff. 45 Insofern erscheint manche Verfassungsbeschwerde faktisch als Gruppenbeschwerde, wie auch im Verwaltungsrecht neben den rechtlichen faktische Verbandsklagen sichtbar werden. 48 Beispiele in: AöR 95 (1970), S. 260 (287 ff.). 47 Dazu und zu dessen Grenzen: BVerfGE 33, 125 ff. (Facharzt-Beschluß). 48 Dabei geht es um folgenorientierte Interpretation wie auch, bei komplexen, d. h. besonders bei leistungsstaatlichen Erscheinungen, um dogmatikgesteuerte, funktions- und kompetenzgerechte Beschränkung der Folgenberücksichtigung. — Vgl. allgemein mein öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, z. B. S. 711. 49 Allgemein steht die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" der diskursiven Begründbarkeit von Wahrheit (Habermas) näher als dem Lühmannschen Konzept der Legitimation durch Verfahren i. S. der faktischen Abnahme von Entscheidungen : Idealiter müssen sich Legitimation durch Verfahren und Legitimation durch Begründung (so der Titel von Eckhold-Schmidt, 1974) decken. Dies ist nur möglich durch die genannte Offenlegung von Interessen und Ideen wie durch die Bestimmung realer Paritäten in der pluralistischen Gesellschaft.

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

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ist vor allem — funktionellrechtliche — Grundordnung 5 0 und „konstituiert". Sie zieht auch Grenzen, aber vor allem regt sie (Prozesse) an (Smend). Ein Blick i n die fast 200jährige Geschichte der US-Verfassung sollte uns über das Wechselspiel von Dauer und Wandel bzw. von der Rolle der Öffentlichkeit belehren — gerade unter dem Gesichtspunkt des Einflusses der öffentlichen Meinung auf die Verfassungsgerichtsbarkeit („The Supreme Court follows the elections") 51 . Der Verfassungsinterpretation geht es freilich nicht nur um das (verfaßt) öffentliche. Das Private ist auch als solches vielfältig geschützt, nicht nur durch Grundrechte; es ist Korrelatbegriff, Bedingung für I n novation des öffentlichen. Folglich muß Verfassungsinterpretation das eigenständig (konstitutionell) geschützte Private i m Auge behalten (Verfassungsinterpretation als Privat[rechts]schutz). Erinnert sei an Probleme der Vorschulerziehung, des Sexualkundeunterrichts, des Datenschutzes oder der Abtreibung 5 2 . Z u diesem Privatrechtsschutz gehört auch der Gedanke, i n Ruhe oder „allein gelassen zu werden" 5 3 , sich durchaus i m Sinne des Ohne-mich-Standpunktes zurückzuziehen. Insofern ist Ruhe „Bürger-Recht" (nicht aber erste Bürgerpflicht!). Verfassungsinterpretation darf nicht i n den Sog von tagespolitischen Augenblicksstimmungen, Pressionen einer „formierten", „verordneten" (statt pluralistischen!) Öffentlichkeit, sie darf nicht unter die „Herrschaft der Verbände" (Eschenburg) geraten. I h r Zurechnungspunkt ist die Bürgerdemokratie aller 54. Zur Abwendung der Gefahren bedarf es einerseits der „feinen" Instrumente rationaler und pluralistischer Verfassungsinterpretation und ihrer herkömmlichen Methoden, andererseits der pluralistischen Strukturierung und Organisation der öffentlichkeit (z. B. durch Pluralismusgesetze i n Rundfunk und Fernsehen 55 , i m Hochschulbereich, 50 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945; dazu F. Renner, Der Verfassungsbegriff im staatsrechtlichen Denken der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert, 1968, S. 488 ff. 51 s. dazu Hopt, Die dritte Gewalt als politischer Faktor, 1969, S. 63 ff., 175 ff., 202 ff. (205 f.: breiter Konsensus als Bedingung für die Macht des Supreme Court); Haller, Supreme Court und Politik in den USA, 1972, S. 12 ff. (s. das Wort von Woodrow Wilson, ebd., S. 13, der Supreme Court sei eine Art „constitutional Convention in continuous session"), S. 320 ff.; Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 15 f., 418 ff. 52 Dazu die interdisziplinäre Arbeit Rüpkes, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976 (mit informations- und kommunikationstheoretischem Ansatz) und meine Kritik in: FS Boorberg Verlag, 1977 (Hrsg.: W. Schmitt Glaeser), S. 47 (76 F N 125). 53 BVerfGE 35, 202 (233). 54 Zu diesem Konzept: P. Häberle, JZ 1977, S. 361 ff. 55 Vgl. meinen Beitrag in FS für G. Küchenhoff, 1972, S. 453 (465, 472).

l'j Verfassung

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

i m Pressewesen, [Anti-Fusionsgesetze]), i m Verfassungsprozeßrecht, i m Verwaltungsverfahrens- und -prozeßrecht usw. („status activus processualis"); Pluralismus- bzw. Öffentlichkeitsdefizite können sich hier besonders nachteilig auswirken. Es gibt einerseits Formen und Inhalte des Drucks der Öffentlichkeit, denen die Verfassungsinterpretation standzuhalten hat 5 6 ; es gibt andererseits innovatorische Öffentlichkeitsimpulse, die sie aufzunehmen und zu verarbeiten bzw. „umzusetzen" hat. Hier den richtigen Weg zu finden, ist zugegebenermaßen schwierig und verlangt Sensorium und Takt, aber auch Standhaftigkeit. Herausragendes Beispiel pluralistischer Verfassungsinterpretation durch das BVerfG ist der — oft über Art. 20 Abs. 1 und A r t . 3 GG erreichte — Schutz der Schwachen und Hilfebedürftigen i m Sozialrecht 57 , i m A r menrecht 58 und i n bezug auf Ausländer 5 9 . Das Sozialstaatsprinzip verlangt auch „staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die auf Grund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftliche Benachteiligung i n ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind" — dazu gehören auch die „Gefangenen und Entlassenen" 60 . 3. Teil-Ergebnis Zusammenfassend: „Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß" — das ist zum Teil Programm, zum Teil aber schon die heutige Wirklichkeit der Verfassungsinterpreten einer offenen Gesellschaft m i t oder ohne Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses normativ-prozedurale pluralistische Verständnis von Verfassungsinterpretation läßt den herkömmlichen Interpretationsmethoden ihr relatives Recht 61 , ergänzt aber i h r ohnehin reiches, ständig verfeinertes Spektrum und Instrumentar i u m um die öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogene pluralismusorientierte Auslegung. Sie fordert für die Zukunft einen weiteren Ausbau der Pluralismusgesetze, eine noch bewußtere Pluralismusrechtsprechung und eine bürgerdemokratische Aktivierung (ζ. B. i n Gestalt des status activus processualis i m Verhältnis Bürger/Öffentliche Verwal58

Dem Richter kann letztlich niemand die Entscheidung abnehmen. BVerfGE 28, 324 (347 ff.); 29, 57 (65 ff.), 71 (78 ff.); 35, 283 (296); 37, 154 (165 ff.), 363 (400). 58 BVerfGE 35, 348 (355 f.). 59 BVerfGE 35, 382 (400 ff.); 38, 52 (57 ff.); 40, 95 (100); 42, 120 (123 ff.); 43, 212 f. — s. auch BVerfGE 42, 64 (77): Der Schutz des Eigentums muß sich in einem sozialen Rechtsstaat auch und gerade für den sozial Schwachen durchsetzen. 80 BVerfGE 35, 202 (236). Vgl. auch BVerfGE 43, 1 (19). 61 Dazu mein Beitrag in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (305 ff.). 57

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tung 6 2 ). Die Aktualisierung der Verfassung durch gelebte Freiheit ihrer Bürger und die normierende Kraft der Öffentlichkeit i m gekennzeichneten Sinn verlangt viel von uns. Der Jurist kann als Verfassungsinterpret (im engeren und weiteren Sinne) einiges dazu tun, um das Gemeinwesen verfaßt und dadurch den Bürger i n Freiheit zu halten. Letztlich aber muß sich der Bürger selbst engagieren, u m (sich) verfaßte Freiheit in Staat und Gesellschaft zu sichern. Das ist seine (unverzichtbare) Verfassungsinterpretation. I I I . Verfassunggebung in offenen Gesellschaften: ihre Pluralisierung und Verallgemeinerung 1. Verfassungstheoretische Neubestimmung: Vielfaltund Allgemeinheit der Verfassunggeber a) Begriff der — republikanischen — Verfassunggebung i m engeren und weiteren Sinne — Beispiele Verfassunggebung i m engeren Sinne ist i n freiheitlichen republikanischen Gesellschaften das i n speziellen Verfahren geregelte, zeitlich begrenzt ablaufende demokratische Verfahren, hinsichtlich dessen M i n desterfordernisse sich i m demokratischen Verfassungsstaat bestimmte Vorstellungen (ζ. T. m i t Alternativen, etwa: Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung m i t oder ohne späteres Plebiszit) herausgebildet haben 63 . Die Verfassunggebung i m weiteren Sinne greift zeitlich, räumlich, sachlich und in der personalen Beteiligtenfrage weit darüber hinaus: sie ist pluralistisch, vielseitig, ständig („Pluralisierung" der Verfassunggebung). Die Verfassunggebung i m engeren Sinne ist zeitlich und prozessual definiert, die Verfassunggebung i m weiteren Sinn ist dies nicht: sie dauert in offenen Gesellschaften „ewig", „unendlich", genauer: sie bricht erst m i t dem Tod der Verfassung einer offenen Gesellschaft als „responsible society" ab. Verfassunggebung (im weiteren Sinne) ist ein das Ganze einer Verfassung, ihren Grundkonsens berührender, nicht auf ein bestimmtes Verfahren und bestimmte Beteiligte beschränkter Vorgang: I m „Grundlagenvertrag" (1972) ist das ganze GG, sind alle politisch relevanten Kräfte, sind alle deutschen Bürger (aktiv und passiv) beteiligt. Für die deutsche „Verfassungsdebatte" vom Februar 1974 gilt entsprechendes, 82 Dazu P. Häberle, Verfassungsprinzipien „im" Verwaltungsverfahrensgesetz, in: FS Boorberg Verlag, 1977, S. 47 (66 ff.) sowie in V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (86 ff.) und BayVBl. 1977, S. 745 (748). 63 Vgl. von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 32 ff.

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auch wenn sie der Form nach nur als eine „rhetorische" Auseinandersetzung von Bundestagsabgeordneten und Bundesratsmitgliedern (ζ. B. des Bayerischen Kultusministers H. Maier) 64 erschien. Und der Streit um die Notstandsgesetzgebung w a r materiell ein Vorgang von Verfassunggebung par excellence (in der Form der Verfassungsänderung). Die hier vorgeschlagene Verallgemeinerung der Verfassunggebung, wenn man w i l l ihre „Banalisierung", „Veralltäglichung", ihre „Normalisierung" (und Pluralisierung) n i m m t i h r nichts von ihrer Bedeutsamkeit. I m Gegenteil: Verfassunggebung w i r d als ein — evolutionärer — Vorgang von hohem Rang qualifiziert, die Verantwortlichen bzw. Beteiligten werden sich ihrer tagtäglichen Aufgabe erst jetzt voll bewußt, und die Anstrengung, die jedem funktionellrechtlich von seinem Platz aus obliegt, w i r d noch greifbarer, seine Verantwortung wächst 05 . Die Verfassunggebung i m weiteren Sinne macht das spezielle Verfahren der Verfassunggebung i m engeren Sinne nicht überflüssig. Doch geht sie i h r heute einerseits voraus, andererseits folgt sie i h r nach. Die Formalisierung i n Gestalt einer sog. Totalrevision kann Vorteile haben, ζ. B. für die demokratische Bewußtseinsbildung — oder i m Blick auf die sprachliche Redaktion eines Verfassungstextes® 6, aber diese „Totalrevision" vermag Verfassunggebung i m weiteren Sinne nicht zu ersetzen (darum sind die Vor- und Nachteile einer sog. Totalrevision als Verfassunggebung i m engeren Sinne sehr sorgfältig abzuwägen). Einen Sonderfall bildet die vom GG (Art. 146) i n Aussicht genommene Verfassunggebung des gesamtdeutschen Volkes. Denn sie bezieht sich zugleich auf eine wesentliche Veränderung der territorialen Basis des deutschen Volkes und seiner Republik. Hier bedürfte es einer Verfassunggebung i m engeren Sinne, besonders aber auch nachfolgender Verfassunggebung i m weiteren Sinne. Diese Verfassunggebung ist eine A r t „Wiederholung" der (etwa) speziell „erlassenen" Verfassung. Sie läßt sich nicht „abschließen". Jede noch so „ursprünglich" „gegebene" Verfassung bzw. spezielle Verfassunggebung ist nur „vorläufiger" Natur: sie bedarf der ständigen „wieder-holenden" — allgemeinen — Verfassunggebung, der inneren und äußeren Erneuerung, der Bekräftigung und Bewährung i n der Zeit. Verfassunggebung i m weiteren Sinne meint Vorgänge und Verfahren, die sich (bewußt oder unbewußt) auf den wesentlichen Inhalt, auf das Grundlegende, „Wichtige", die republikanische Identität eines plura84 Vgl. 79. Sitzung des 7. BT vom 14. 2. 1974, Sten. Ber. S. 5002 (Β) bzw. 5089 (C). 65 Zur aktualisierenden Verfassungsinterpretation vgl. oben bei Anm. 33 ff. 66 Dazu unten bei Anm. 164.

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listisch v e r f a ß t e n V o l k e s beziehen, i n d e m sie sie b e k r ä f t i g e n oder f o r t e n t w i c k e l n . Sie h a t d i e V e r f a s s u n g i m w e i t e n „ m a t e r i e l l e n " S i n n z u m G e g e n s t a n d 6 7 . Das k a n n i m G e w a n d d e r V e r f a s s u n g g e b u n g i m engeren S i n n e geschehen, i n V o r g ä n g e n d e r V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g oder d e r „ e i n fachen" V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n , i n P a r l a m e n t s d e b a t t e n oder außenp o l i t i s c h e n V e r t r ä g e n . O f t wird

V e r f a s s u n g g e b u n g erst i m Z u s a m m e n -

w i r k e n v i e l e r K r ä f t e u n d V e r f a h r e n zu e i n e r solchen gesteigert, i h r e L a t e n z u n d i h r P o t e n t i a l w e r d e n z u r A k t u a l i t ä t . Gerade die P l u r a l i t ä t der u n d i n d e r k o n s t i t u t i o n e l l e n D e m o k r a t i e , das W i r k e n

vieler

K r ä f t e als B e t e i l i g t e s t e i g e r t e i n e n I n h a l t b z w . e i n V e r f a h r e n z u r V e r fassunggebung i m w e i t e r e n Sinne. Ein Beispiel für diese Konzeption der materiellen — dauernden — von vielen Beteiligten „allseitig" bewirkten republikanischen Verfassunggebung im weiteren Sinne ist die „Geltung" des GG. Bekanntlich wurde an seinem Erlaß „die" verfassunggebende Gewalt des Deutschen Volkes nicht aktiv: Das GG war zunächst, d.h. 1949, allein das Werk des Parlamentarischen Rates. Die herrschende Meinung rechnet es dann aber doch demokratisch dem deutschen Volk zu, und zwar vor allem über die späteren Wahlen zum Bundestag, die mit hoher Wahlbeteiligung erfolgt waren 6 *. Diese ideelle (auch außenpolitisch mitbedingte) Zurechnung geschieht zu Recht, sie ist realistisch: Das G G als „law in public action" ist das Werk vieler, die arbeitsteilig und im Zusammenwirken nach ihrer je eigenen Funktion über die Zeit hin materiell pluralistische Verfassunggebung geleistet haben und leisten. Die Wahlen zum Deutschen Bundestag — wie übrigens auch zu den Ländern als Gliedstaaten des Bundes bzw. den Länderparlamenten — sind ein Stück materieller „nachgeholter" Verfassunggebung; gleiches gilt für das Handeln der konstituierten Staatsorgane (Bundestag, Bundesregierung oder BVerfG). Sie haben gemeinsam das GG „ins Werk gesetzt", seine Geltungsgrundlagen vertieft, ausdifferenziert, seine Inhalte präzisiert und auch gewandelt. Ein Wort zu Frankreich: Es bestätigt, daß sich Verfassunggebung weit über das im engeren Sinne Juristische hinaus auf große Traditionen beziehen kann. Ζ. B. wirkte die 1789-Erklärung über alle einzelnen Verfassungen (und Verfassungsbrüche) hinweg. Wenn heute der Conseil Constitutionnel die Grundrechte (u. a. via Präambel)« 9 aktiviert, so ist dies prätorische materielle Verfassunggebung. Aus der „bloß politischen" Grundrechtsgeltung wird eine solche auch gegenüber dem Gesetzgeber. Der Einigungsprozeß Europas, d. h. die Gemeinschaft der Neun, könnte als weiteres Beispiel für Verfassunggebung im weiteren Sinn dienen, dies mit der 87 Zur Entsprechung zwischen Verfassunggebung i. w. S. und dem materiellen (der Verfassung zuwachsenden) Verfassungsrecht unten bei Anm. 173 ff. 88 Dazu: Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 61, 172. Kritisch zu dieser Konstruktion: Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 315. Zur „bloß föderalistischen Legitimierung des GG" von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 46 f., 52. — Zum Ganzen s. noch Anm. 95. 89 Dazu Ress, Der Conseil Constitutionnel und der Schutz der Grundfreiheiten in Frankreich, JöR n. F. 23 (1974), S. 121 ff. (s. auch S. 149 ff.). Wegweisend war die Entscheidung des C. C. vom 16. 7. 1971 zur Vereinigungsfreiheit (Journal Officiel 1971, p. 7114).

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Besonderheit, daß es sich um eine erst werdende Verfassung handelt. Sowohl die Verfahrens- und Beteiligtenseite, als auch die materiellrechtliche ließe sich hier illustrieren 70 .

b) Der demokratietheoretische Aspekt: Funktionellrechtlicher Pluralismus vieler als Verfassunggeber Der weitere — republikanische — Begriff der Verfassunggebung macht m i t der pluralistischen Demokratie ernst. „ V o l k " ist ein pluralistische Größe 71 und als solche anthropologisch begründet. Die Vielfalt seiner Interessen und Ideen, seine Bewegungen und Wandlungen, seine Objektivationen und Subjektivismen, seine Wirklichkeit und seine Möglichkeiten lassen sich nicht auf ein Moment, auf ein Verfahren, auf einen sog. „Träger" oder auf einen „Zeitpunkt" festlegen. Das Volk der Republik läßt sich nicht i n den „Wartestand" versetzen oder beurlauben, nicht von seiner — lebenden und wachsenden — Verfassung ablösen oder „abziehen". „Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken" — so Georg Büchner in Dantons Tod (1. A k t , 1. Szene). Die Doktrin in der Nachfolge von Sieyes macht aber gerade diesen (revolutionären) „Schnitt" und diese Abstraktion 7 2 . Sie reißt Volk und Staat, Volk und Verfassung auseinander. Die i n der Schweiz und i n der BR Deutschland existierende „konstitutionelle Demokratie" zwingt zu einer anderen Sicht: Verfassunggebung w i r d demokratisch bzw. demokratietheoretisch i n den Präsens umgedacht: als Vorgang der Republik gesehen 73 .

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s. unten bei Anm. 79 ff. Dazu Hesse, Grundzüge . . . , 10. Aufl. 1977, S. 7 f., 55 f.; P. Häberle, VVDStRL 33 (1975), S. 135, 136; JZ 1977, S. 361 ff. — Zur heutigen pluralistischen Gesellschaft: Schlußbericht, S. 55 f. — Zur pluralistischen amerikanischen Demokratiekonzeption R. A. Dahls: Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland, 1977, S. 225 f. 72 Kritisch zur „demokratischen Variante des Antipluralismus" von C. Schmidt: von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 65. 73 Vor allem müssen Verfassungen allseits rezipiert werden, um auf Dauer zu gelten. Die Vorgänge und Wege dieser Rezeption sind vielschichtig, auch das Verhalten der Bürger—nicht nur der juristischen Professionellen — gehört hierher, etwa wenn sie Verfassungsbeschwerden (oder Popularklagen) erheben oder nicht erheben (dazu P. Häberle, JZ 1975, S. 297 [299]). Besser spräche man vom Akzeptieren einer Verfassung durch die vielen: als Hinweis auf das aktive Moment der „Annahme" der Verfassung durch Interpretation im engeren und weiteren Sinne. Die bürgerdemokratische Seite des Vorgangs der Verfassungsinterpretation sollte auch nicht unter Berufung auf eine Art aristokratische Juristen- bzw. Richter-Interpretation weggenommen werden. 71

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Der Pluralismus i m Konstituierungsprozeß ist auch die beste Garantie gegen den Mißbrauch und für die Einhaltung von Grenzen der Verfassunggebung 74 . Zwischen Verfassunggebung (im weiteren Sinne) und Verfassungsinterpretation besteht somit Teilidentität Verfassunggebung hört nicht auf m i t der Inkraftsetzung einer konkreten Verfassung, sie ist ein dauernder, oft unmerklicher, und ein unverzichtbarer Prozeß; dies i n dem Maße, wie (pluralistische) Verfassungsinterpretation ein schöpferischer Prozeß ist 7 5 . Insofern läßt sich von Verfassungsinterpretation „als" Verfassunggebung sprechen. „ V o l k " ist nicht nur eine pluralistische Größe, es ist auch verfaßte Größe. Als ideeller und realer Zurechnungspunkt der republikanischen Verfassunggebung ist es i n offenen Gesellschaften je immer schon verfaßt. Das Volk als Verfassunggeber i m engeren und weiteren Sinne entscheidet bzw. w i r k t nicht ungebunden 76 . Auch das Volk als Verfassunggeber einer „Totalrevision" ist pluralistisch verfaßte Größe; vielleicht nicht i n gleich intensiver, umfassender Weise wie das Volk einer langjährigen (trotz 1866?) „gleichförmigen" Verfassungstradition wie wohl i n den USA: Brüche und Sprünge, Antagonismen und Turbulenzen werden nicht fehlen. Aber sie nehmen dem Volk noch nicht das Verfaßtsein und das sich ständig neue Verfassen i m gekennzeichneten Sinn. „Verfassung" reicht weit über die Verfassungsurkunde, über das i m engeren Sinne Juristische hinaus. Es umschließt Traditionen, Erinnerungen, Erfahrungen m i t der Geschichte, Objektivationen des (mehr oder weniger gebrochenen) Selbstverständnisses wie i n Deutschland, Zukunftshoffnungen (Gesamtdeutschland, Europa), kulturelle Strömungen 74 Vgl. von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 65 ff. — Zu geschichtlichen Einbindungen „des" Verfassunggebers: P. Häberle, AöR 92 (1967), S. 259 (278). — Zur Frage „Schranken der Verfassungsrevision" jetzt die Diskussion im Schlußbericht, S. 666 ff. — Die Grenzen der Verfassungsinterpretation sind jedenfalls für den nicht identisch mit den Grenzen der Verfassunggebung, der den Text als Grenze der Verfassungsinterpretation ansieht. Oft werden Wortlautgrenzen aber auch nur vorgeschoben, da sie die beste Stütze für eine bestimmte Auslegung herzugeben scheinen. So wäre zu fragen, ob der Wortlaut des Art. 4 Schweiz. BV wirklich eine auf interpretatorischem Wege durchgesetzte Gleichberechtigung von Mann und Frau verboten hätte. 75 Dazu Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 697 ff.; H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation (1963), Wiederabdr. in: Dreier / Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpret.ation, 1976, S. 164 ff.: Notwendigkeit kontinuierlicher Rechtsfortbildung; K. Hesse, Grundzüge . . . , a.a.O., S. 25; P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (114 ff.). 76 Gegen die Vorstellung vom nicht normierten vor- oder überkonstitutionellen pouvoir constituant: Schef old, in: Totalrevision der Bundesverfassung — Ja oder Nein?, ZSR (Sonderheft) 87, I (1968), S. 191 (198, 200). s. auch BVerfGE 3, 225 (232). s. noch oben Anm. 74.

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u n d B i n d u n g e n . Das Recht als T e i l der G e s a m t k u l t u r i s t z w a r herausragender, aber n i c h t a l l e i n i g e r B e s t a n d t e i l dieser Verfassung. D a m i t werden traditionelle Vorstellungen v c n Verfassunggebung für offene Gesellschaften i n F r a g e gestellt, sachlich v o r a l l e m die E i n s e i t i g k e i t 7 7 u n d zeitlich die P u n k t u a l i t ä t . (Quasi-)Kontraktuelle,

repräsenta-

tive u n d pluralistische M o m e n t e rücken i n den V o r d e r g r u n d ; der (Verfassungs-)Konsens i s t n i e „sicherer B e s i t z " , a u f d e m u n d i n d e m sich „ a u s r u h e n " ließe oder a u f d e n m a n einfach „ b a u e n " k ö n n t e , er m u ß e r arbeitet werden 78. D e r funktionellrechtliche Pluralismus v i e l e r als V e r f a s s u n g g e b e r w i r d auch i m Europa d e r N e u n schon g r e i f b a r . B e t e i l i g t a m A u f b a u u n d A u s b a u der E G als ( V o r - u n d T e i l - ) V e r f a s s u n g s i n d g e w i ß die M i t g l i e d s t a a t e n sowie — m i t gleichem G e w i c h t — die sich bereits nach gesamteuropäischen F r a k t i o n e n f o r m i e r e n d e n (nationalen) p o l i t i s c h e n P a r t e i e n , die G e w e r k s c h a f t e n u n d die i h r e I d e n t i t ä t suchende europäische ö f f e n t l i che M e i n u n g . D i e O r g a n e d e r E G l e i s t e n V e r f a s s u n g g e b u n g i m w e i t e r e n S i n n e i n d e m Maße, w i e sie d e n E i n i g u n g s p r o z e ß v o r a n t r e i b e n . H i e r h e r gehören d i e G r u n d r e c h t s e r k l ä r u n g d e r N e u n 7 9 u n d die g e p l a n t e D i r e k t w a h l des Europäischen P a r l a m e n t s , n i c h t z u l e t z t die „ I n t e g r a t i o n b y j u r i s p r u d e n c e " des E u G H . G r u n d s a t z e n t s c h e i d u n g e n w i e e t w a die 77 Vgl. Herb. Krüger, Allgemeine Statslehre, 2. Aufl. 1966, S. 702: Kontinuierlicher Prozeß; Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 81 f.: Einbeziehung von „normativen Rückwirkungen" einer Verfassung auf die Grundüberzeugungen des Volkes: von Wedel, Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung, 1976, S. 26 ff., 33 ff. (Berücksichtigung der Ausgangslage, Erneuerung der schon vorhandenen Verfaßtheit, Bedürfnis für Innovation): s. auch Herb. Krügers Begriff der „Verfassungswilligkeit", in: ders., Staat, Wirtschaft, Völkergemeinschaft, 1970, S. 160 ff. (169). — Die frühe Rspr. des BVerfG mußte noch, im zeitbedingten „Nachverständnis" der Unrechtsherrschaft, naturrechtlich argumentieren: E 1, 14 (LS 21a) und LS 27). 78 Der (hessische) Streit um die „Rahmenrichtlinien" in so zentralen Schulfächern wie Deutsch, Geschichte und Gemeinschaftskunde reicht insofern in die „Tiefendimension" von Verfassunggebung (in der gerade hier derzeit in Deutschland kein Konsens besteht): nicht nur weil der Weg des förmlichen Gesetzes beschritten werden muß (freilich schafft hier auch die mehrheitliche Gesetzgebung noch keinen Konsens), sondern weil materiell Kernstücke der Verfassung (Erziehung zur Toleranz, Anerkennung pluralistischer Erziehungsziele) in Frage stehen. Hier werden materielle Verfassungsinhalte aktualisiert, und zwar in dem Bereich, der das spätere Leben der Verfassung wesentlich vorausbestimmt: im pädagogischen Feld der heranwachsenden Staatsbürger. Letztlich entscheidet sich in den Klassenzimmern, welche Verfassungstheorie sich das Gemeinwesen künftig politisch leisten kann. So gesehen ist der Streit um die „Rahmenrichtlinien" sogar ein Streit um materielles Verfassungsrecht, dies sogar in besonderer Intensität: die Erziehung in den Schulen von heute beeinflußt das materielle Verfassungsrecht von morgen! 79

Abi. C 103 v. 27. 4. 1977, S. 1; abgedr. in: EuGRZ 1977, S. 157, mit Anm. Hilf, EuGRZ 1977, S. 158 ff.

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Urteile Costa/ Enel oder Stauder 80 sind materielle „Verfassunggebung", obwohl sie nur auf einem Vertragswerk beruhen. Durch die Orientierung an mitgliedstaatlichen (Grundrechts-)Rechtsbeständen sowie an internationalen Verträgen wie der M R K — die auch von der Schweiz unterzeichnet wurde — werden die nationalen Verfassungen zu Bausteinen i n der Architektur der europäischen Verfassung 81 . Vieles deutet darauf hin, daß der etwa eines Tages entworfene detaillierte europäische Grundrechtskatalog nichts anderes als eine Ausformung oder z. T. Neuformulierung der werdenden bzw. schon gewordenen prätorischen „Grundrechte des EuGH" wäre. Jedenfalls ist die Wirklichkeit der europäischen Verfassung schon in einer Weise präformiert, daß der formelle Akt einer „eigentlichen" Verfassunggebung in Europa in mancherlei Hinsicht nur zum formellen Ausdruck brächte, was in der Wirklichkeit schon (vor-)verfaßt angelegt und vor allem durch den EuGH so geworden und vorangetrieben worden ist. Diese Vorgänge sind alles andere als „einseitig": I n komplexen konzertierten Aktionen, auch mit quasikontraktuellen Momenten („verfassungsvertraglich") geschieht im Europa der Neun schon jetzt Verfassunggebung. Diese Vorgänge sind nicht „punktuell", sie brauchen Zeit und verlaufen in der Zeitachse. Ein Wort zur materiellrechtlichen Seite. Die Inhalte der pluralistischen Verfassunggebung im werdenden Europa sind als Einigungswerk vieler das Werk dieser vielen. Auch die nationalen Gerichte der Einzelstaaten sind beteiligt, etwa wenn sie Grundsatzfragen zur Vorabentscheidung stellen (Art. 177 E W G V ) 8 2 , die dann als solche entschieden werden. „Kooperative Grundrechtsverwirklichung der Einzelstaaten untereinander und im Verhältnis zu den Gemeinschaftsorganen gehört ebenso hierher wie Rechtsvereinheitlichung im Grundsätzlichen (Art. 100 EWGV). M. a. W.: I n Europa „macht" die offene Gesellschaft der Interpreten, aller Interpreten, die Verfassung dieses Europas. I n der EG geschieht, meist in Gestalt der bloßen Interpretation, ein Stück Verfassunggebung — denn formelle Akte der Verfassunggebung sind ja bislang — wenn überhaupt — nur in der Setzung des primären Gemeinschaftsrechts geschehen. Das „Umschlagen" (oder die Steigerung) der offenen Gesell80 Urt. v. 15. 7. 1964, Rs. 6/64 (Costa ! Enei), Slg. 1964, 1251 (Vorrang des Gemeinschaftsrechts); Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69 0Stauder), Slg. 1969, 419 (425); Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 (1135) sowie Urt. v. 14. 5. 1974, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491 (507 f.) zum Grundrechtsschutz; Urt. v. 5. 2. 1963, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1962, 3 (27) bis zum Urt. v. 8. 4. 1976, Rs. 43/75 (Defrenne), Slg. 1976, 455 (472 ff.) zur unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts. 81 Vgl. etwa den Passus im Urteil „Nold", a.a.O., S. 507 (Rn. 13): „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, daß die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und daß er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat . . . Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind." 82 Dazu mein Beitrag in BayVBl. 1977, S. 745 (751); Lecourt, L'Europe des Juges, 1976, S. 272 spricht dabei von einem „Système souple de coopération judiciaire". 83 Dazu mein Beitrag in FS für Schelsky, 1978, i. E.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

schaft der materiellen (Verfassungs-)Interpreten zur offenen europäischen Gesellschaft der Verfassunggeber könnte nicht offenkundiger sein! Verfassunggebung ist im integrierten Europa mehr Vorgang als Zustand. Zugespitzt formuliert: die Verfassung Europas wird interpretiert, bevor sie „gegeben" ist. Allein eine solche „Aufschlüsselung" des „Werkes" der Europäischen Einigung mit Hilfe der (neuen) Kategorien der Verfassunggebung im weiteren Sinn dürfte im Gegensatz zur klassischen Lehre die Vorgänge angemessen auf den Begriff bringen. c) K r i t i k a m h e r k ö m m l i c h e n V e r s t ä n d n i s der V e r f a s s u n g g e b u n g u n d verfassungstheoretische K o n s e q u e n z e n aa) D e r A b s c h i e d v o n d e r Ideologie der „ E i n s e i t i g k e i t " E i n s e i t i g k e i t i s t i m Gefolge v o n 1789 das M e r k m a l v o n V e r f a s s u n g gebung, s i e h t m a n v o n d e n V e r t r a g s t h e o r i e n , die i m Zeichen d e r „ Z w e i s e i t i g k e i t " stehen, u n d v o m R e p r ä s e n t a t i o n s g e d a n k e n e i n m a l a b 8 4 . N e u ere S t e l l u n g n a h m e n h a b e n erste K o r r e k t u r a r b e i t geleistet. Sie i s t k o n sequent zu E n d e z u d e n k e n . D i e E i n s e i t i g k e i t (oder „ E i n z i g a r t i g k e i t " ) d e r V e r f a s s u n g g e b u n g i s t a l l e i n h i s t o r i s c h zu e r k l ä r e n . R e v o l u t i o n ä r e V e r f a s s u n g g e b u n g , e t w a 1789, u n d o k t r o y i e r t e V e r f a s s u n g , , g e b u n g " l e g e n die V o r s t e l l u n g eines e i n s e i t i g e n e x p l o s i o n s a r t i g e n U r - A k t s nahe, ich erinnere an B i l d e r w i e „ E m a n a t i o n " usw.85. Verfassunggebung i m R a h m e n e i n e r offenen Gesellschaft geschieht als ö f f e n t l i c h e r P r o z e ß 8 6 m i t v i e l e n B e t e i l i g t e n u n d i n v i e l e n (pluralistischen) V e r f a h r e n — sie i s t i n s o f e r n r e p u b l i k a n i s c h . Auszeichnendes M e r k m a l i s t i h r e Allseitigkeit N i c h t d i e einseitige S e t z u n g oder „ G a b e " , d e r E r l a ß „ v o n o b e n " (Monarch!) oder „ u n t e n " ( V o l k ! ) i s t t y p i s c h 8 7 , s o n d e r n das a l l s e i t i g e R i n g e n zwischen großen G r u p p e n , M i n d e r h e i t e n u n d e i n z e l n e n P e r s ö n l i c h k e i t e n 8 8 ! Das A u s h a n d e l n , q u a s i k o n t r a k t u e l l e M o m e n t e , d e r K o m p r o 84

Dazu Badura, Evang. Staatslexikon, 2. Aufl., 1975, Sp. 2708 (2713 ff.): Herb. Krüger, a.a.O. (Anm. 75), S. 702 F N 134 (gegen Maunz) spricht von der Selbstentpflichtung des Volkes, wolle man es als Verfassunggeber als das „formlos formende" und „an keine bestimmten Modalitäten gebundene" bezeichnen. 85 Dazu schon meine Kritik in AöR 94 (1969), S. 479 (483 ff.). 88 Dazu: Ρ. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 87 Die Frage bleibt, wie sich die so zum potentiellen Verfassunggeber „erhöhten" Bürger stärker aktivieren lassen als bisher. Hier ist zwischen kurzfristigen Möglichkeiten (Popularklage, Verbandsklage usw.) und langfristigen zu unterscheiden. Zu diesen gehört die Erziehung in der Schule, die Vermittlung von Menschenwürde und Toleranz etc. 88 Das demokratisch (demokratietheoretisch) und grundrechtlich (grundrechtstheoretisch) bzw. pluralistisch gefaßte Konzept von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und -geber im engeren und weiteren Sinne liegt auf und in der Linie eines quasivertraglichen Verfassungsverständndsses. „Beiträge sollten von allen Bürgern und Gruppen, verfaßten Staatsorganen und gesellschaftlichen „Faktoren" dadurch erwartet werden können, daß die Öffentlichkeit möglichst pluralistisch strukturiert wird. I n der Verfassungsinterpretation und -gebung liegt ein Stück ständigen „Sich-Vertragens".

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miß — dies sind Merkmale pluralistischer Verfassunggebung in offenen Gesellschaften. Heute findet sich diese Allseitigkeit selbst beim evolutionären Übergang von einer geschlossenen Gesellschaft zu einer offenen: Ich denke an das Beispiel Spanien (1976 ff.) und Portugal. Und sie findet sich erst recht bei der Verfassunggebung in (schon) „offenen" Gesellschaften (wie der Schweiz). Beteiligt sind viele, idealtypisch sollten alle beteiligt sein, entsprechend der Konzeption einer offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten 8 9 . bb) Der Abschied vom Dogma der Punktualität Vorherrschend ist die Meinung, Verfassunggebung sei m i t dem A b schluß des förmlichen Verfahrens der Inkraftsetzung bzw. Teil- oder Totalrevision einer Verfassung beendet 90 . Sie sei einmaliger, punktueller A k t , sei zeitlich begrenzt. Dies bedarf der Korrektur. Verfassunggebung mag einen zeitlichen Anfang haben — greifbar besonders 1789 — aber sie hat, einmal in Gang gekommen, kein Ende. Sie ist ein dauernder, evolutionärer Vorgang, kein einmaliger A k t 9 1 . Dazu ein Beispiel: Das gegenwärtige, gelegentlich dramatische und tragische Ringen um den Grundkonsens des deutschen Grundgesetzes ist ein Beleg für den Prozeßcharakter der Verfassunggebung. Den Grundkonsens zu erhalten, bleibt eine stetige Anstrengung aller am Verfassungsleben Beteilig89 Die in der Schweiz erfolgte Publizierung einer Art „Vulgata", einer allgemeinverständlichen Kommentierung des Endgültigen Verfassungsentwurfs, ist daher konsequent, ja notwendig. 90 Aus der Lit. ζ. B. G. und E. Kiichenhoff, Allgemeine Staatslehre, 7. Aufl. 1971, S. 149, 154, 160; Maunz, Deutsches Staatsrecht, 21. Aufl. 1977, S. 39 ff. (Entgegensetzung von „Verfassungsschöpfung und Verfassungsauslegung"), s. auch S. 41 : Die pouvoirs constitués als Erzeugnisse der Verfassungsschöpfung können den pouvoir constituant als den irdischen Ausgangspunkt aller staatlichen Gewalten nicht beeinträchtigen oder einschränken". Punktuell auch die Sicht Krieles (Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 226): „Die Volkssouveränität tritt nur am Anfang oder am Ende des Verfassungsstaates auf, bei seiner Konstituierung und bei seiner Abschaffung" (dazu meine Kritik, AöR 102 [1977], S. 284 [296]), Vgl. auch Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 312 ff.; W.Henke, Die verfassunggebende Gewalt des Deutschen Volkes, 1957. — Jetzt wieder die Bekräftigung von Sieyes' Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués bei Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I, 1977, S. 118 ff. — Phänomen und Problem der Verfassunggebung sind oft Vereinseitigungen ausgesetzt, die historisch in der spezifisch französischen Problematik der Volkssouveränität oder in der deutschen Problematik der Staatssouveränität ihren Ursprung haben. — Zur souveränitätsbegründenden Bedeutung von Freiheit des und im Pluralismus: P. Häberle, AöR 92 (1967), S. 259 ff. (275 ff., 281 ff.). 91

Zu Suhrs Begriff der Verfassunggebung als wahr-Sagung (Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, 1975, S. 274 ff.) s. meinen Beitrag, in: Zeitschrift für Rechtstheorie 7 (1976), S. 77 (85 ff.).

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ten 9 2 . A m Grundkonsens arbeitet gerade auch das Bundesverfassungsgericht 93 . Gewiß, dieses Ringen u m den Grundkonsens ist nicht immer spektakulär, es geschieht oft lautlos und still, in der Banalität des Alltags; doch gelegentlich, wie heute in der Auseinandersetzung m i t dem und um den Terrorismus, w i r d es dramatisch öffentlich, allgemein bewußt und i n beträchtlichen Erschütterungen greifbar. Erkennbar w i r d diese allseitige creatio continua freilich nur für den, der die Verfassung nicht nur i m formalen Verfassungstext sieht, sondern i m ensemble von weit darüber hinaus, „darunter" und „darüber" verlaufenden bzw. hier angesiedelten gesamtgesellschaftlichen Vorgängen, Strukturen, Inhalten und Beteiligten. 2. Durchführung

im einzelnen

a) Die materiellrechtliche Seite Bekanntlich gibt es weit über die sog. „positive", formelle Verfassung hinaus materielles Verfassungsrecht 94. Es ist nicht Ergebnis der herkömmlich verstandenen Verfassunggebung als Ur-„Quelle" der Verfassungsurkunde 95 , sondern dieser i m Laufe der Zeit, meist i n konzertierten Aktionen vieler „Verfassungsfaktoren" (wie Gesetzgebung, öffentliche Meinung, Rechtsprechung, Wissenschaft und Verwaltung 9 6 ) zugewachsen. Die Existenz materiellen Verfassungsrechts „neben" der Verfassungsurkunde ist die schlüssigste Widerlegung der Lehre von der Verfassunggebung als einmaligem U r - A k t . Es belegt das Zusammenwirken verfassungsgestaltender Kräfte im öffentlichen „Wachstumsprozeß" der 92 Zur Grundkonsensproblematik: Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 ff.; Isensee, N J W 1977, S. 545 ff.; P. Häberle, JZ 1977, S. 241 ff. (im Kontext des Mehrheitsprinzips); Stern, a.a.O. (Anm. 90), S. 72 f.; zu den „Gemeinwohlgrundwerten" s. auch von Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 22 ff. 93 Die „Arbeit" am Grundkonsens ist aber nicht nur Sache des BVerfG. Vor allem ist sie Sache aller: Der verfassungsrechtliche Grundkonsens ist kein „Geschenk". So wie die Verfassung keine „Gabe" ist, ist dies auch der sie tragende Grundkonsens nicht. 94 Zuletzt etwa Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I, 1977, S. 54 f. 95 Selbst das GG ist historisch nicht als „Ur-Akt" entstanden, so sehr es auch als „Anti-Verfassung" zum Unrechtsstaat konzipiert war. Jene Sicht tut sich zum einen schwer, die Legitimität des G G — infolge Fehlens eine Konstituante — im Nachhinein (punktuell!) festzumachen (Bundestagswahl vom 14. 8. 1949, kritisch: Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 315 f.), und kann zum anderen die Rezeption Weimarer Tradition (etwa Art. 33 Abs. 5, Art. 140 GG) und deren Fortschreibung theoretisch nur unzureichend erfassen. 96 Zu ihrer Relevanz für die Verfassung mein Beitrag in: BayVBl. 1977, S. 745 (746 f.).

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Verfassung. Vor allem zeigt es, daß und wie die verschiedenen speziellen Verfahren, etwa die Entstehung von Verfassungsgewohnheitsrecht, einfachem Gesetzesrecht oder die richterliche Verfassungsinterpretation, zusammenwirkend materielles Verfassungsrecht „werden" lassen. Dieses Zusammenwirken, das über die Grenzen spezieller Verfassungsverfahren hinausgreift, kann und muß auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden: auf die Verfassunggebung i m weiteren Sinn. Beispiele sind die Qualifizierung der Grundprinzipien des Verfassungsprozeßrechts (Pluralismus, Minderheitenschutz, Gewaltenteilung, Öffentlichkeit) und des Verwaltungs(verfahrens)rechts als materielles Verfassungsrecht 07 , die Anerkennimg von Verfassungsgewohnheitsrecht 08 und vor allem die Werke der Rechtsprechung, vornehmlich die des BVerfG, ζ. B. zur verfassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien und Abgeordneten, zur Regierungspropaganda 09 , zur Konstitutionalisierung von Opposition 1 0 0 und Fraktion (jetzt A r t . 53 a I 2 GG) 1 0 1 , zur Parteifinanzierung 102 , zum Bund-Länder-Verhältnis (ζ. B. „Bundestreue"), zum Grundlagenvertrag 1 0 3 , zur Rückwirkungsproblematik, zum Gebot der (u. a. steuerrechtlichen) Systemgerechtigkeit, zum Sonderstatusverhältnis und Gesetzesvorbehalt, zum Staatskirchenrecht, Bildungs-, Wissenschafts-, und Familienrecht (Nichtehelichenrecht [E 25, 167 ff.]), zur Ehegattenbesteuerung (zum ehelichen Güterrecht: BVerfGE 3,225 ff.), zum numerus clausus m i t seiner Gefahr einer Belastung der späteren Generation 104 . A u f weitere Beispiele, etwa die BGH-Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht oder den Ausbau des Arbeitsschutzund Arbeitskampfrechts durch das B A G 1 0 5 , sei verwiesen. Diese wesentlichen Vorgänge, auch Kämpfe i m ständig neuen „SichVertragen" aller am Verfassungsleben des konkreten deutschen GG Beteiligten sind ein Stück Verfassunggebung — selbst dann, wenn sie i n der Form einer Verfassungsinterpretation erscheinen: ich erwähne die 97

Dazu P. Häberle, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (26 ff.) bzw. in BayVBl. 1977, S. 745 ff. 98 s. dazu kritisch Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, bes. S. 132 ff. — Bejahend für die Schweiz z. B. Saladin, Bemerkungen zu Struktur und Stil der Schweizerischen Bundesverfassung, in: Recueil de travaux suisses présentés aux I X e Congrès international de droit comparé, 1976, S. 219 (223 f.). 99 BVerfGE 44, 125 ff.; dazu meine Bespr.: JZ 1977, S. 361 ff. 100 Zur „Oppositionsrechtsprechung": H.-P. Schneider , Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der BR Deutschland, 1,1974, S. 225 ff. 101 Dazu Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 49 ff. 102 E 20, 56 ff. und E 24, 300 ff.; vgl. meine Rezension JuS 1967, S. 64 ff. 103 E 36, I f f . ; dazu Oppermann, JZ 1973, S. 594 ff.; Scheuner, DÖV 1973, S. 581 ff. 104 E 33, 303 ff.; dazu mein Beitrag in: DÖV 1972, S. 729 ff. sowie Kimminich, JZ 1972, S. 696 ff. 105 Dazu H. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 7 ff.

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Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages (1974)10* als Bekräftigung des GG (auch unter Bezugnahme auf Wissenschaftler, z. B. Hesse), die großen z. T. quasi-legislativen Urteile des deutschen Bundesverfassungsgerichts, einzelne Gesetze, die an die Grundlagen des Gemeinwesens und seines Selbstverständnisses rühren wie das Kontaktsperrengesetz (1977) 107 (ein Notstandsgesetz?), die Kentengesetzgebung (Generationenvertrag!) oder die Verfassungsänderungen der Notstandsgesetze von 1968 108 . I n all diesen Fällen war und ist das Ganze der Verfassung der res publica, das Selbstverständnis aller am Verfassungsleben Beteiligten und sind diese selbst so intensiv gefordert, daß ihre Kennzeichnung als Verfassungsrechtsprechung, parlamentarische Debatte bzw. „einfache" Gesetze oder Verfassungsänderung nur ein „äußerliches", vorläufiges Etikett und einseitiges B i l d darstellt. I n der Sache geht es um Vorgänge der Verfassunggebung, der sachlichen Erneuerung bzw. höchst „anstrengenden" Bekräftigung der „geltenden" Verfassung — auch wenn die Form eine andere, spezielle, ist. Hier ereignete sich Verfassunggebung i n processu publico, i n Gestalt spezieller Verfahren zwar, die aber über ihre eigenen Grenzen hinaus wirkten und „neues" Verfassungsrecht entstehen ließen. Dieses läßt sich vielleicht ideologisch, nicht aber realistisch der ursprünglichen Verfassunggebung zurechnen. Spätestens die Anerkennung von (späterem) materiellem Verfassungsrecht neben und nach der einmal „erlassenen" Verfassung hätte zu einer Revision der herkömmlichen Lehre führen müssen. Es öffnet den Blick für republikanische Verfassunggebung als permanenten (nicht speziell formalisierten) Prozeß, der z. B. m i t dem GG von 1949 genauso viel oder sowenig zu t u n hat wie das BGB von 1900 m i t dem von 1977 109 . Naheliegend sind die ungeschriebenen Freiheitsrechte i n der Schweiz 110 oder die sich jetzt abzeichnende Entfaltung des Toleranzprinzips durch das BVerfG (E 41, 29 [51 f.], 65 [78, 83]). 108 Zu ihrer Bedeutung P. Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (115 F N 33). 107 Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz v. 30. 9. 1977 (BGBl. I, 1977), in Kraft getreten am 2. 10. 1977. 108 Dazu kritisch: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 1977, S. 288 ff. (301 ff.). 109 Dazu, daß das BGB ein anderes geworden ist: Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 514 ff., freilich auf dem Hintergrund verschiedener neu erlassener Verfassungen: Weimar (1919), der Verfassungsbruch (1933 ff.), das GG von 1949. Dennoch kann der Vergleich gewagt werden. Nur muß klar bleiben, daß das GG seine Identität als offene Ordnung bei allem Wandel durch formalisierte Verfassungsänderung bzw. materielle Verfassungsinterpretation in den Jahren von 1949 bis heute nicht verloren hat. 110 Dazu H. Huber, Probleme des ungeschriebenen Verfassungsrechts, in: Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, S. 329 ff.; L. Wildhaber, JöR n. F. 26 (1977), S. 239 (248 f.).

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Auch der konkrete „neue" A k t einer Verfassunggebung einschließlich der „Totalrevision" steht i m Geflecht einer normativ angereicherten Wirklichkeit, so widersprüchlich, ja diffus diese sein mag: Bruchstücke der „alten" Verfassung, das Selbst Verständnis 111 der großen gesellschaftlichen Gruppen, etwa Parteiprogramme, auch Bürgerinitiativen 1 1 2 , Erfahrungen und Erinnerungen des Volkes oder herausragender Persönlichkeiten, Grundsatzentscheidungen der Gerichte, einfachgesetzliche Regelungen, die eine Konkretisierung der alten Verfassung waren, Lehrmeinungen, Expertenkommissionsentwürfe 113 usw.: all dies bildet ein ensemble normativer Strukturen, ein „Material", das die „neue" Entscheidung wenn nicht determiniert, so doch vorstrukturiert. M. a. W.: Die Wirklichkeit der „totalrevidierten" Verfassung ist tendenziell schon auf dem Weg zu dieser „neuen" Verfassung — d. h. diese zieht insofern nur nach — oder sie kann nicht zur neuen Verfassung werden. Der „Graben", der die neue von der alten Verfassung trennt, ist i n offenen Gesellschaften weit weniger tief und hat weit mehr Brücken (ζ. B. i n Gestalt der juristischen Dogmatik, wegweisender Entscheidungen der Verfassungsgerichte, Parteiprogramme) als der Name „Totalrevision" und die klassische Ideologie der Verfassunggebung glauben machen möchte. Die Wirklichkeit der offenen Gesellschaft legt angesichts ihrer evolutionären Prozesse nur diese Deutung nahe. Und Verfahren und Inhalte, Ziele und Ergebnisse der langjährigen Schweizer Diskussion bestätigen sie. b) Die Verfahrens- und Beteiligtenseite: Abgrenzung und Zusammenwirken spezieller Teil verfahren, insbesondere der Verfassungsinterpretation Die über- und umgreifende Sicht der Verfassunggebung i m weiteren Sinne erhöht die Verantwortung der speziell Beteiligten, sie gibt ihnen keinen Freibrief: So sehr die einzelnen Abschnitte und Verfahren als Teil der Verfassunggebung i. S. eines permanenten Prozesses gesehen werden sollten, auch die spezielle Verfassunggebung bzw. die i m engeren Sinne („formalisierte"), so sehr ist sachlich und prozessual, materiellund funktionellrechtlich ihnen gemäß zu verfahren. Dies bedeutet Bekräftigung der funktionellrechtlichen — disziplinierenden — Arbeitsteilung: Verfassungsinterpretation, „Verfassungswan111 Zur Selbstverständnisproblematik mein Beitrag JZ 1975, S. 297 (299 f.); s. auch den Freiburger Gastvortrag: Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß in diesem Band (Nr. 4). 112 Dazu jetzt Schuppert, Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatlichen Entscheidungen, AöR 102 (1977), S. 369 (bes. S. 383 ff.). 1,3 Zum Schweizer Beispiel unten bei Anm. 133 ff.

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d e l " 1 1 4 , V e r f a s s u n g s ä n d e r u n g 1 1 5 , Gesetzgebung u n d V e r f a s s u n g g e b u n g i m engeren S i n n t u n gemeinsam das W e r k d e r V e r f a s s u n g g e b u n g i m weiteren Sinn. A u c h d a r i n liegt ein Stück Pluralismus u n d Gewaltent e i l u n g . Es m ö g e n z e i t l i c h v a r i a b l e G r e n z v e r s c h i e b u n g e n d e n k b a r sein, aber g r u n d s ä t z l i c h k a n n das eine V e r f a h r e n n i c h t d u r c h das andere e r setzt w e r d e n . A u c h die V e r f a s s u n g g e b u n g (i. e. S.) i s t ( n u r ) als T e i l v e r f a h r e n z u b e greifen. I h r e V e r a b s o l u t i e r u n g i s t i n b e z u g a u f offene Gesellschaften f r a g w ü r d i g , j a gefährlich. W e d e r entscheidet sie „ n o r m a t i v aus d e m N i c h t s " , noch i s t sie ohne A n f a n g . A u c h d i e sog. t o t a l e V e r f a s s u n g s r e v i sion 11 ® ist w e i t w e n i g e r „ t o t a l " als sie e r s c h e i n t 1 1 7 : sie b a u t a u f d e r b i s h e r i g e n Verfassung, polemisch oder z u s t i m m e n d , auf, k n ü p f t a n sie auch d o r t an, w o sie T e i l e a b l e h n t , u n d v o r a l l e m : sie t u t i m ganzen e i n e r offenen Gesellschaft i h r W e r k — v o n d e r sie sich „ t o t a l " g a r n i c h t u n t e r s c h e i d e n k a n n , n i c h t unterscheiden d a r f u n d w i l l . A u c h h i e r w i r d d e u t l i c h : V e r f a s s u n g g r e i f t w e i t ü b e r das N o r m i e r t e hinaus, u m f a ß t „ambiancen", Konventionen, Regeln politischer E t h i k u n d Kultur 118, „ G r u n d w e r t e " u n d pluralistische Gruppeninteressen. V e r 114 Beispiele zu Verfassungswandel, der erst später in den Text der Verfassung aufgenommen wurde, bei von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 52. Zum „langsamen Verfassungswandel", der in Israel „durch die normale Knesseth nach Bedarf herbeigeführt wird": ders., a.a.O., S. 56 f. 115 Konsequent ist daher die Offenheit für Partialrevisionen auch nach einer Totalrevision: Schlußbericht, S. 38. 116 Schwierig ist die Abgrenzung der „Teilrevision" von der „Totalrevision", von der die Schweizer Entwürfe ausgehen: Endgültiger Verfassungsentwurf der Expertenkommission: Art. 113 f. bzw. Art. 115, Arbeitspapiere 1 (a.a.O.): 4.3.1 bis 4.3.3, Arbeitspapiere 2: 4.1 bis 4.3 sowie Art. 74 ff. Entwurf Aubert (a.a.O., S. 156 ff.). — Vom Fehlen eines allgemein akzeptierten materiellen Begriffs der Totalrevision spricht R. E. Germann, a.a.O., S. 34; s. auch S. 21. Ο. K. Kaufmann (zit. nach Germann, a.a.O., S. 112) möchte in bezug auf die „Wahlen-Kommission" statt von „Totalrevision" von „Generalrevision" sprechen. Wegweisend die „Revisionstypen" bei Eichenberger, Richtpunkte einer Verfassungsrevision, in: Totalrevision . . . (Anm. 76), S. 69 (73 ff.). Die Addition von bestimmten Teilrevisionen kann unversehens zur Totalrevision umschlagen — Art. 114 Endgültiger Verfassungsentwurf reicht als Eingrenzungsversuch schwerlich aus. Sicher wäre eine formale Betrachtung ungenügend (vgl. auch Schlußbericht, S. 677; Kägi, ZSR 75 (1956), 739 a [842 a]), zumal manipuliert werden könnte. Sie reicht um so weniger aus, als die überaus durchgebildeten Entwürfe in wesentlichen Teilen „das Ganze" berühren. Man denke an den Zusammenhang von klassischen Grundrechten mit Sozialrechten bzw. Staatsaufgabenkatalogen. Ein Teil kann das Ganze sein. 117

s. oben F N 4, 6 (Schlußbericht). Zu Begriff und Bedeutung der politischen Kultur in der amerikanischen Systemtheorie, bes. bei Almond und Verba (The Civic Culture, 1963), s. F. Hufen, Verfassungstheorie und Systemtheorie, AöR 100 (1975), S. 193 (204 f. m. w. N.); Görlitz, Politikwissenschaftliche Propädeutik, 1972, S. 206 ff. — s. auch meinen Diskussionsbeitrag in VVDStRL 33 (1976), S. 135 f. 118

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fassung h a t einen gesamtgesellschaftlichen R a h m e n u n d Bezug. I h r Gegenstand ist die G e s a m t g e s e l l s c h a f t 1 1 9 . D i e Abgrenzung der Verfassungsinterpretation von der Verfassungg e b u n g i. w . S. l ä ß t sich sachlich n u r schwer u n d v i e l l e i c h t n u r g r a d u e l l v o r n e h m e n . W o gerät V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n a n i h r e G r e n z e n 1 2 0 ? Lassen diese sich z e i t l i c h u n d sachlich n u r b e d i n g t ziehen, s i n d sie also variabel, u n d w e n n ja, v o n was hängt die Grenzziehung w i e ab121? I n w i e w e i t k a n n V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n als V e r f a s s u n g g e b u n g „ v o r b e r e i t e n " , d a r f sie b i s z u e i n e m gewissen G r a d d e r e n „ W e r k t u n " 1 2 2 ? S i n d beide V e r f a h r e n b z w . V o r g ä n g e b e d i n g t a u s w e c h s e l b a r 1 2 3 ? W i e lassen sich E l e m e n t e d e r V e r f a s s u n g g e b u n g „ i n " d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n aufdecken usw.? I s t es e m p f e h l e n s w e r t , „ g e w a g t e " , a b e r d a n n doch „ e r f o l g r e i c h e " Verfassungsinterpretationsergebnisse festzuschreib e n d u r c h verfassunggebende A k t e ?

119 Dazu P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (56 f.); Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, 1975, S. 310 ff. 120 Den Primat der Interpretation beeinflußt sowohl dessen, durch die Sachgehalte und Funktionsvorbehalte der Verfassung vielfach gefilterte und abgestufte Rückkoppelung an den demokratischen Prozeß, wie auch gegenseitige Methodenkontrolle und die Entlastungsfunktion der Dogmatik, vgl. P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (123). — Grundlegende, die Struktur des Gemeinwesens betreffende, in der Öffentlichkeit (auch in der richterlichen und wissenschaftlichen!) kontroverse Themen (z.B. Notstands Verfassung, „Gemeinschaftsaufgaben") kann Verfassungsinterpretation nur transparent machen, nicht aber selbst entscheiden. Dazu ist der demokratisch legitimierte Gesetzgeber berufen, der wiederum in unterschiedlichem Bezug, in abgestufter Nähe zur Verfassung steht (vgl. dazu P. Häberle, AöR 90 [1965], S. 117 ff.; Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, bes. S. 79 ff., s. meine Bespr., BayVBl. 1978, 63). 121 Verfassungsinterpretation sollte für das Phänomen und Problem des sozialen Wandels, dessen Bedingungen und Formen, die rascher oder langsamer, radikaler oder milder verlaufen können, ihren Methodenkanon öffnen, s. dazu Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972. Dabei ist zu vermuten, daß Konsens und Institutionalisierung als retardierendes und Konflikt als akzelerierendes Moment eine Rolle spielen (Dahrendorf, Sozialer Wandel, in: Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie 3, 1972, S. 754). Geplanter sozialer Wandel, auf den es Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung gleichermaßen ankommt, muß Konflikt-/Konsensstrategien in Gleichgewichts-, Balance- bzw. Gewaltenteilungstheorien integrieren. 122 Erinnert sei an die von Wissenschaft und Rechtsprechung entwickelte verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien, die Verabschiedung des „besonderen Gewaltverhältnisses" (vgl. BVerfGE 33, 1), die, wissenschaftlich und politisch vorbereitete, Neufassung des Art. 29 GG vom Jahre 1976 (BGBl. I, S. 2381). 123 Vgl. die geplante Verankerung des Öffentlichkeitsprinzips in der Schweiz, das schon „RechtsWirklichkeit" sei: Schlußbericht, S. 380, das Zusammenwirken von Bund und Kantonen als „ungeschriebenes Verfassungsrecht", das jetzt ausdrücklich zu regeln sei: Schlußbericht, S. 298.

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Verfassungsinterpretation hat die Aufgabe, die Verfassunggebung „ v o r - " und „nachzubereiten", sie „fortzuschreiben" 1 2 4 ! Nicht jede Verfassungsinterpretation i m weiteren und engeren Sinne ist schon aktuell „Verfassunggebung", wohl aber ist sie es „latent" und potentiell: Sie kann — oft rückblickend oder zusammen m i t anderen Vorgängen — zu einer solchen werden. Zum Beispiel: Einem Urteil des BVerfG wächst erst i m nachhinein die weichenstellende Bedeutung einer Grundsatzentscheidung zu 1 2 5 , etwa weil andere öffentliche Potenzen der Republik diese Entscheidung später so interpretieren (das Sondervotum i m BVerfG ist i n diese Prozesse einzubeziehen). Ich erinnere an den Parlamentsbrauch, an sog. „Konventionalregeln" 1 2 6 . Die oft diffus erscheinende Vielfalt der öffentlichen Prozesse i m Verfassungsleben potenzieren in Konkurrenz und Divergenz, i m Konflikt und Konsens einzelne Verfassungsinterpretationsvorgänge zu solchen der Verfassunggebung. Quantität kann i n Qualität umschlagen. Zwar verdient nicht jede parlamentarische Debatte, nicht jede Entscheidung des BVerfG, nicht jeder außenpolitische Vertrag das Prädikat „Verfassunggebung". Diese Vorgänge vermögen sich aber zusammen m i t anderen gleichzeitig oder später zu einer solchen zu steigern. Sie können es auch schon aktuell je für sich sein. Der „Grundlagenvertrag" zwischen der BR Deutschland und der DDR war inhaltlich und verfahrensmäßig von Anfang an ein Vorgang der Verfassunggebung. Er wurde es spätestens i n der „verfassungskonformen" Auslegung, die i h m das BVerfG (E 36, 1) gab. Die deutsche Bundestagsdebatte zum Terrorismus vom Oktober 1977 war — i m Verein m i t dem Konzentrat der (artikulierten) pluralistischen Öffentlichkeit des ganzen Volkes — angesichts der Selbstvergewisserung der eigenen Identität, der Berufung auf den „Konsens der Demokraten" und der Artikulierung des verfassungsethischen Selbstverständnisses ein Stück aktueller Verfassunggebung. Die Schleyer-Entscheidung des BVerfG 1 2 7 w i r k t als zusätzliches Moment i n diesem Sinne. Die Beispiele ließen sich vermehren, auch um die Beiträge der Wissenschaft zur Ver124 s. die geglückte „Nachbereitung" der Finanzreform 1969 durch das BVerfG, E 39, 96 ff., bes. S. 110: „Das Finanzreformgesetz hat diese unbefriedigende Entwicklung der Bezuschussung von Landesaufgaben durch den Bund, die einen immer größeren Umfang annahm, in Art. 91 a, 91 b und 104 a Abs. 4 GG verfassungsrechtlich institutionalisiert und verrechtlicht und damit in klare Bahnen gelenkt und in mehrfacher Hinsicht rechtlich begrenzt. Deshalb können aus der vorangegangenen Praxis keine Folgerungen für die Auslegung des Art. 104 a Abs. 4 GG gezogen werden." 125 Entsprechendes gilt für manche Grundsatzentscheidung des EuGH im Blick auf die werdende europäische Verfassung (Fall Stauder, Grundrechte als allgemeine Recht9grundsätze ; dazu Anm. 80). 126 Dazu Meyn, JZ 1977, S. 167 ff. 127 JZ 1977, S. 750 f.

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fassunggebung, etwa Smends „Bundestreue" (vgl. Art. 43 des Endgültigen Verfassungsentwurfes der Schweizer Expertenkommission) oder Dürigs „Wertsystemdenken" 1 2 8 . Die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" erweist sich insofern als offene Gesellschaft der Verfassunggeber und umgekehrt Das eine bedingt das andere. Es besteht Teilidentität zwischen den Verfassungsinterpreten und den Verfassunggebern i m weiteren Sinne 1 2 9 . Freilich sind immer wieder Defizite zu befürchten: Auch eine offen gewordene Gesellschaft der Verfassunggeber kann Gefahr laufen, wegen Pluralismus- bzw. Grundrechtsdefiziten an interpretatorischer bzw. verfassender Offenheit zu verlieren. Umgekehrt ist denkbar und ausnahmsweise real (Spanien!), daß sich eine „geschlossene" Gesellschaft evolutionär Stück für Stück öffnet: durch Vorgänge, die gewandelte Verfassungsinterpretation sind, durch punktuelle Verfassungsänderungen, durch freie Wahlen, liberale Politik, mehr Grundrechte. Die Veränderungen, die das Nach-Franco-Spanien bislang auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft gemeistert hat, dürften nur m i t den Kategorien der Verfassunggebung bzw. -interpretation i m weiteren Sinne erfaßbar 1 3 0 sein. Und zwar auch i m Blick auf die konkret Beteiligten: die zu einer konstitutionellen Kraft werdende Monarchie 131 , die an Stelle des Diktators getreten war, das i h r loyale Militär, die sich formierenden politischen Parteien, Gewerkschaften, einzelne Kirchenführer, aber auch Repräsentanten von Kunst und Wissenschaft — sogar soweit sie vom Ausland her wirken —, i m ganzen die Entstehung einer pluralistischen öffentlichen Meinung, die Spanien i n eine Verfassung bringt, die zum Teil selbst die Verfassung ist. Die inhaltliche Wiederanknüpfung an Verfassungstraditionen der Zeit vor Franco (ζ. Β. i n Katalonien) gehört m i t i n dieses B i l d 1 3 2 . 128 Dazu H. Willke, Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie, 1975, S. 24 ff., und meine Bespr. von Goerlich, JR 1974, S. 487 f. 129 s. das systematische Tableau in JZ 1975, S. 297 (299 f.), das im Grundsatz auch für die Verfassunggeber im weiteren Sinne gilt. 130 Dabei ist die Verfassunggebung im engeren Sinne ein Teilaspekt. 131 Für das 19. Jahrhundert konnte von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 50 ff. nachweisen, daß auch (ohne oder gegen die „liberalen Konstitutionen") oktroyierte Verfassungen den „Verfassungskonsens" retteten, soweit sich die Verfassung als entwicklungsfähig erwies. 132 s. jetzt die Diskussion um den spanischen Verfassungsentwurf: F A Z v. 25. 11. 1977 und den „historischen Pakt" vom Oktober 1977 (Der Spiegel vom 17. 10. 1977, S. 161). — A m Beispiel Portugals könnte Verfassunggebung im weiteren Sinn entsprechend illustriert werden. Nur standen hier am Anfang Staatsstreich und Revolution. Was sie an Brüchen und Sprüngen, an Gewalt Unfreiheit, an Pluralismusdefiziten und Verzerrungen hervorbrachten, mußte unter der Aera des Staatspräsidenten Eanes und des Ministerpräsidenten Soares Stück für Stück wieder im Sinne eines evolutionären „Verfassens" korrigiert werden. Die Verfahren und Inhalte wie freie Wahlen, Verfassung-

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c) Das aktuelle Beispiel: Die (Schweizer) Verfassungsrechtswissenschaft als Verfassunggeber i m weiteren Sinne Möglichkeiten und Grenzen, Methoden und Inhalte der („vierten Gewalt") Wissenschaft als Verfassunggeber i m weiteren Sinne seien eigens behandelt. Z u unterscheiden ist die personale und sachliche Beteiligung der Verfassungsrechtswissenschaft einerseits, die der übrigen Wissenschaften andererseits. Die Verfassungsrechtswissenschaft steht, nicht zuletzt aus „handwerklichen" Gründen, i m Mittelpunkt der Vorbereitung (und Nachbereitung!) der Verfassunggebung i m engeren Sinne; sie hat aber auch großen Anteil an der pluralistischen Verfassunggebung i m weiteren Sinne. Dabei ist sie durchaus personal zu sehen. Die heftigen Angriffe, deren sich die „Wahlen-Kommission" in methodischer Hinsicht, etwa i m Blick auf ihre Zusammensetzung und die Fragebögen ausgesetzt sieht, besonders von Seiten R. E. Germanns 133, sind weitgehend unberechtigt. Denn die anderen Disziplinen wie Politikwissenschaft oder Pädagogik — Verfassungen enthalten ja auch ausdrückliche Erziehungsziele 134 — und sonstigen Gesellschaftswissenschaften haben nur „Zubringerdienste" zu leisten 1 3 5 , so groß die wechselseitigen Informationsaufgaben und -probleme sind. M i t dieser Maßgabe ist interdisziplinäre Arbeit unentbehrlich 13 *. Das Möglichkeitsdenken als pluralistisches Alternativendenken 1 3 7 verlangt freilich, da und dort stärker als die „Wahlen-Kommission" (schon i n den Vorverfahren) nach Alternativen der „Revisionsziele" zu fragen 1 3 8 , und noch das eine oder andere „Tabuthema" zu verfolgen 1 3 9 . Die gebung im engeren Sinne, Bodenreform, Verwirklichung von Grundrechten, Pressefreiheit als Teilverfahren der Verfassunggebung im weiteren Sinne sind aber auch hier nachweisbar, ebenso wie die pluralistischen „Träger" der Verfassunggebung im weiteren Sinne: machtvolle pluralistische Gruppen wie Parteien, Militär, Gewerkschaften, Kirchen und einzelne führende Persönlichkeiten. 133 Politische Innovation und Verfassungsreform, 1975, bes. S. 77 ff., 85: „Unterrepräsentation der Linken, der Frauen und der Jungen", S. 109 ff.: „Reformritual". — s. auch ders. in österr. Z. f. Politikwissenschaft 6 (1977), S. 419 ff. — Allgemein zum „Zusammen- und Gegenspiel repräsentativer und plebiszitärer Komponenten im schweizerischen Regierungssystem": Eichenberger, ZParl 1977, S. 318 ff. 134 Vgl. etwa Art. 131 Verf. Bayern, Art. 12 Verf. Bad.-Württ., Art. 56 Hessen. 135 Dazu mein Beitrag: Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 ff., jetzt in: Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 418 ff. ΐ3β — u n ( j i n d e r f Wahlen-Kommission" stellenweise auch geleistet worden: Schlußbericht, z. B. S. 195, 497, 573. 137

Dazu mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 ff. 138 Vgl. die (freilich wiederum zu scharfe) Kritik von R. E. Germann, a.a.O., S. 29 ff., 137 ff. 139 Vgl. R. E. Germann, a.a.O., S. 42 f. — Verfassungsrechtswissenschaft ist „Wissenschaft", sie hat damit Teil am (Innovations-)Auftrag des Art. 5 Abs. 3

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

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freiheitliche Gesellschaft kann sich dies leisten. Eine Expertenkommission w i r d die K r a f t hierzu erst recht haben. So finden sich i n ihren Berichten und „Arbeitspapieren" mehrfach „Varianten" oder „Modelle" 1 4 0 . Wenn sie sich nicht zum „großen Sprung" entschloß, ζ. B. das Regierungssystem nicht i n Frage stellte 1 4 1 , so nicht deshalb, weil es ihr an Innovationsbereitschaft und -vermögen gefehlt hätte 1 4 2 , sondern weil sie Bewährtes beibehalten wollte und pragmatisch an die Folgen nicht-revolutionärer Verfassunggebung bzw. „Totalrevision" dachte. Diese Folgenberücksichtigung führt zur „Stückwerktechnik" Poppers 143. Auch aus verfassungsvergleichender Sicht 1 4 4 , besteht für die Verhältnisse der Schweiz kein Anlaß zu einem „großen Sprung". Verfassunggebung ist kein Ikarusflug. R. E. Germanns Arbeit krankt daran, daß er Innovation als solche für gut, den status quo als solchen für fragwürdig h ä l t 1 4 5 . Jene ist aber kein Wert an sich. Warum soll „innoviert" werden, wenn die Schweiz i n der glücklichen Lage ist, viel Bewährtes zu haben 1 4 6 ? Verfassunggebung i m engeren und weiteren Sinne kann sich sehr wohl darauf richten, Bewährtes, etwa i n besserer Form 1 4 7 , zu bekräftigen: als „Verfassungserneuerung". Die Schweizer Totalrevision sollte nur „regenerierender" Natur sein 1 4 8 . Die „geltende Bundesverfassung" konnte daher i m Prinzip als „Abgrenzungskriterium" dienen 1 4 9 . Dies darf nicht per se als „konservativ" oder „apolitisch" abgetan werden 1 5 0 . Sog. „Innovationsschwächen" 151 können Stärke des politischen

GG, der Wissenschaftsfreiheit, die als funktionelle Grundlage der offenen Gesellschaft auch den Verfassunggeber bindet, als Pluralismüsgarantie ihn aber zugleich freisetzt. 140 z.B. für die Verfassungsgerichtsbarkeit: Schlußbericht 1973, S. 421 ff., 424 ff.; für die Sozialrechte: S. 207 ff.; s. ferner: S. 521 ff., 550, 581 ff., 591 f., 597 f., 604 f., 675, 691 f. 141 Vgl. Schlußbericht, S. 497 f. 142 So aber der Vorwurf R. E. Germanns, a.a.O., S. 109 ff. Vgl. demgegenüber Schlußbericht, S. 500 ff. 143 Dazu P. Häberle, AöR 98 (1973), S. 119 (130 f.); kritisch R. E. Germann, a.a.O., S. 125 f., 132. 144 Zu Methodenfragen: Häfelin, Das soziologische Element in der rechtsvergleichenden Methode, insbesondere im vergleichenden Verfassungsrecht, in: Recueil de travaux suisses présentés au V i l l e Congrès international de droit comparé, 1970, S. 88 ff., z. B. für die bundesstaatliche Ordnung in der Schweiz, Deutschland etc. (S. 99 f.). 145 a.a.O., z. B. S. 113 ff, 121 ff., 231. 140 s. aber R. E. Germanns Kritik am „Bewährungsargument": S. 103. 147 Vgl. Schlußbericht, S. 694 f., 762 ff. 148 Vgl. Schlußbericht, S. 21, 40, 693. 149 Kritisch aber R. E. Germann, a.a.O., S. 34 f. 150 So aber R. E. Germann, a.a.O., S. 45,118. 151 R. E. Germann, a.a.O., S. 156 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Systems s e i n 1 5 2 . Manche A l t e r n a t i v e n h a t die

„Wahlen-Kommission"

w o h l d a r u m n i c h t v e r f o l g t , sie h ä t t e sie f r e i l i c h als M ö g l i c h k e i t noch s t ä r k e r offenlegen u n d e i n b a u e n k ö n n e n . Das Gesagte schließt Kritik an Einzelheiten der „Wahlen-Kommission" nicht aus, etwa im Blick auf die Unterrepräsentation von Frauen 1 5 3 , den Verbandseinfluß 154 , Rollenkumulation 155 , Verbesserung der Vorverfahren 1 5 6 oder das Fehlen einer Institutionalisierung der Opposition 157 . Aber es bedeutet, daß eine Grundsatzkritik im Sinne R. E. Germanns nicht gerechtfertigt ist — jedenfalls nicht vom Boden der hier vertretenen Konzeption von Verfassunggebung aus, die in einer offenen, als solche schon verfaßten Gesellschaft wie der Schweiz geschieht: sie ist „problemorientierte Verfassunggebung" 15 ^ D i e Verfassungstheorie h a t als Wissenschaft die k o n k u r r i e r e n d e n B e i t r ä g e d e r p l u r a l i s t i s c h e n Verfassunggeber i m w e i t e r e n S i n n e zu steuern, z u systematisieren, ggf. auch z u „ p r o v o z i e r e n " . A l l dies i s t m e h r als b l o ß formales O r d n e n . Sie h a t diese B e i t r ä g e v o r - u n d nachzubereiten. N e b e n dieser A u f g a b e d e r I n t e g r i e r u n g v i e l e r W i s s e n s c h a f t e n 1 5 9 u n d v i e l e r , j a a l l e r Verfassunggeber i m w e i t e r e n S i n n e h a t sie eine inhaltliche als „Wissenschaft d e r V e r f a s s u n g " , personal als e i n k o n k r e t e r V e r fassunggeber u n t e r v i e l e n anderen, ζ. B. als E x p e r t e n k o m m i s s i o n 1 6 0 . Diese A r b e i t s t e i l u n g , e t w a b e i d e r F o r m u l i e r u n g des V e r f a s s u n g s v e r ständnisses, v e r l a n g t Selbstbescheidimg: „ a c a d e m i c a l s e l f - r e s t r a i n t " der Verfassungsrechtswissenschaft w i r d z u r K u n s t . Das V e r f a s s u n g s v e r 152 R. E. Germann, a.aO., S 167, dürfte die Innovationskraft des Schweizerischen Bundesgerichts, ζ. B. im Felde der Grundrechte, deutlich unterschätzen. 153 Vgl. R. E. Germann, a.a.O., S. 85 ff. 154 Vgl. R. E. Germann, a.a.O., S. 70 ff. 155 R. E. Germann, a.a.O., S. 80 ff. 156 Symptomatischerweise haben sich „fast alle befragten Kreise" zum Vernehmlassungsverfahren geäußert: Schlußbericht, S. 609. Vorbildlich ist die Auswertung von Stellungnahmen z.B. der Kantone, Parteien, Universitäten im Schlußbericht, S. 163 f., 183 ff., 385, 423 f. 157 Allgemein dazu H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der BR Deutschland, I 1974; R. E. Germann, a.a.O., S. 42; K. Schumann, Das Regierungssystem der Schweiz, 1971, S. 165 ff. Der Schlußbericht berührt sie sehr punktuell, S. 226, 499 f. 158 Schlußbericht, S. 43. 159 Vgl. allgemein P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 (453 ff.); speziell für die Schweiz: Eichenberger, Richtpunkte, a.a.O. (Anm. 116), S. 69 (78), der von einer Aufgabe spricht, die weit über die Rechtswissenschaft hinausreiche, die „freilich im interdisziplinären Untersuchungsgang die Rolle des Vorangehenden auf sich nehmen" müsse. Kritische Akzente gegenüber der Verfassungsrechtswissenschaft bei R. E. Germann, passim, bes. S. 32, 45, 48, 80 ff. („Juristendominanz"); er fordert mehr interdisziplinäres Arbeiten, z.B. S. 141. 160 Zum Problem „verfassungstheoretischer Sachverstand und verfassunggebender Wille des Volkes" auch von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 23 ff.

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ständnis 1 6 1 w i r k t sich präjudizierend aus, ζ. B. bei der Regelungsdichte 1 6 2 , der Verwendung von Generalklauseln 163 , der redaktionellen A r beit, der „terminologischen Transparenz" und „systematischen Konsequenz" bei der Formulierung etwa der Grundrechte 164 , i m ganzen bei der Offenhaltung der Kompetenzen für künftige Verfassunggeber i m weiteren Sinne. Gleiches gilt für die nur scheinbar rechtstechnischen A r beiten wie die Ausgestaltung der Vorverfahren der Verfassunggebung oder -änderung bzw. der Effektivierung von „Partizipationschancen" aller Bürger und Gruppen i n diesen pluralistischen Vorverfahren und Hauptverfahren. I n der Schweiz war und ist man sich der erforderlichen „Maßarbeit" durchaus bewußt 1 6 5 . Genügend sensibel ist auch das Problembewußtsein für die Grenzen der Leistungsfähigkeit von Verfassungsrecht 166 . Verfassungstheorie ist demnach ein Stück Verfassungspolitik (Verfassungstheorie „als" Verfassungspolitik), besonders i n den von Experten gesteuerten „Vorverfahren" der „Totalrevision". Sie entfaltet gestaltende Kraft, so wie die „gegebene" Verfassung ihrerseits gestaltet und nicht nur „abbildet". M i t dieser Maßgabe kann umgekehrt die Verfassunggebung auch Verfassungstheorie betreiben bzw. voraussetzen, ohne daß sie freilich darin aufgeht: sie ist auch Macht- und einseitige, unrcflektierte Interessenpolitik. Zwar sagt Saladin 167, es könne nicht Aufgabe des Verfassunggebers sein, staatsrechtliche Theorie zu treiben. Es läßt sich aber nicht vermeiden, ist sogar richtig, daß Verfassunggebung zu Verfassungstheorie „gerinnt", daß sie von ihr vor- und nach161

Dazu Eichenberger, a.a.O. (Anm. 116), S. 80 ff.; Schlußbericht V I , S. 25 ff.; Häfelin, Verfassunggebung, in: Probleme der Rechtssetzung, Hundert Jahre Bundesverfassung 1874 - 1974, 1974, S. 75 (77 ff., 129); P. Häberle, AöR 94 (1969), S. 479 (484 f.). 182 Dazu G. Schmidt, Offenheit und Dichte in der Verfassunggebung, in: Eichenberger u. a. (Hrsg.), Grundfragen der Rechtssetzung (Social Strategies, Bd. 11), 1978, i. E.; Schlußbericht V I (1973), S. 272 f. für Kompetenznormen. 163 Ihren Sinn verkennt R. E. Germann, a.a.O., S. 22, 24, 26: „Leerformeln". 164 Vgl. Saladin, a.a.O. (Anm. 27), S. 161 (189). 165 Vgl. etwa Bäumlin, in: Totalrevision . . . , a.a.O. (Anm. 76), S. 7 (13): „Fragen der Verfassungsrevision sind als Fragen der praktischen politischen und juristischen Vernunft an die Hand zu nehmen"; s. auch S. 19, 21: Warnung vor einer „Flucht vor der Arbeit am staatsrechtlichen und staatspolitischen Detail". Eichenberger, ebd., S. 69 (71): „Behutsam und methodisch, geduldig und beharrlich arbeitende Wissenschaft, Hand in Hand mit einer aufnahmebereiten Praxis"; Schlußbericht V I , passim, z.B. S. 20ff., 23, 40 f., 44. — Zuletzt etwa Furgler, in: Gruner / J. P. Müller (Hrsg.), Erneuerung der schweizerischen Demokratie, 1977, S. 11 ff.; Furgler, Fleiner, G. Schmid u.a., in: Civitas Nr. 4 (Dezember), 1975, S. 203 f., 225 ff., 256 ff. 166 Dazu (nicht immer ausgewogen genug): R. E. Germann, a.a.O., S. 21, 106 ff., 183 ff. — Differenziert: Schlußbericht V I , S. 33, 252; Häfelin, a.a.O., passim, bes. S. 128 f. 167 In: Totalrevision . . . ?, a.a.O. (Anm. 26), S. 161 (187).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

bereitet w i r d oder daß sie — mehr noch — „Geburtshelfer" oder „Pate" von verfassungstheoretischen Entwürfen wird. Hinter Verfassungswerken stehen selten ausgereifte, ziselierte verfassungstheoretische Gesamtentwürfe 168 — das ist auch besser so: Verfassung ist kein akademisches Programm, sie ist Rahmenordnung für die Demokratiebürger —; hinter ihr bzw. vor ihr wirken eine Vielzahl von konkurrierenden (partei-)politischen Programmen und Interessen, verfassungstheoretischen Schulpositionen 1 6 8 a und (genialen) Einfällen einzelner Persönlichkeiten 189 . Montesquieu und Rousseau lieferten politische Theorien, die durch gewaltige politische Bewegungen und Energien — nicht ohne Irrtümer — i n die Tat umgesetzt wurden und die diese ihrerseits eingebunden haben. Verfassungstheorie braucht konkrete Verfassunggeber i m weiteren Sinne, die sie zu ihrer eigenen Sache machen und durchsetzen. Insofern darf eine wissenschaftliche Expertenkommission nicht überschätzt werden. Das Verhältnis von Verfassunggebung bzw. Verfassunggebern und Verfassungstheorie ist also höchst komplex. Es finden sich Kooperat i o n - , aber auch Konkurrenz- und Konfliktsverhältnisse. Verfassungstheorie kann Vehikel politischer Kräfte sein, sie kann diese steuern, aber auch von ihnen motiviert werden. Entscheidend ist nur, daß niemand, weder die Wissenschaftler noch eine Wissenschaft, weder die Verbände noch die Parteien Totalitäts- und Monopolansprüche stellen. Die Negierung des Pluralismus ist eine tödliche Gefahr für republikanische Verfassunggebung: i m engeren wie i m weiteren Sinne. I h r zu trotzen, hilft der kritische Rationalismus 1 7 0 als Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie des Pluralismus. Vertrauen auf (künftige) verfassungsrichterliche Rechtsprechung 171 ist gerechtfertigt, ebenso ist es legitim, den „Materialien" der Expertenkommission „normierende K r a f t " als Formulierungshilfe, aber auch inhaltlich zuzusprechen, selbst wenn es in der Schweiz zu keiner förmlichen „Totalrevision" kommen sollte. I n Zukunft können sich alle Ver168 Vgl. aber die Rolle von Kelsen (Österreich) und Nawiasky (Bayern), dazu von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 20 f., für die Verf. der dt. Länder: B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen, 1973. 168 a Sehr krit. zum VerfE.: M. Lendi, in: N Z Z v. 14. 4. 1978, Fernausgabe Nr. 85, S. 25. 109 Zum Einfluß „einzelner Männer": von Beyme, a.a.O., S. 8, 14 ff., 23 ff. 170 Dazu Ρ. Häberle, AöR 98 (1973), S. 119 (130 f.); 99 (1974), S. 437 (449 f.); JZ 1975, S. 297 ff. 171 ζ. B. bei der Konkretisierung der Schranken der Einzelgrundrechte: Schlußbericht, S. 709. — Zur Diskussion über die „Revision des deutschen Grundgesetzes" allgemein zuletzt Grimm, österreichische Zeitschrift f. Politikwissenschaft 6 (1977), S. 397 ff.; vgl. auch ders., AöR 97 (1972), S. 489 ff.

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fassunggeber i m weiteren Sinne hier Rat suchen: der Gesetzgeber ebenso wie die Gerichte, die Parteien wie die Verbände, die „Stände" als verfassungsändernder Gesetzgeber wie das Volk fakultativer oder obligatorischer Referenden und nicht zuletzt der einzelne Bürger. So gesehen bleiben Leistung und Wirkung der Schweizer Kommissionen und Arbeitsgruppen groß genug und i n ihr die der Verfassungsrechtswissenschaft 172 . Sie w i r d auch bei einer etwa scheiternden Verfassunggebung i m engeren Sinne zu einem Verfassunggeber i m weiteren Sinne! 3. Theoretischer und praktischer Gewinn der Neukonzeption von Verfassunggebung — Rückbindung formeller Teilverfahren an die Verfassunggebung Welches ist der theoretische und praktische Gewinn dieser Verallgemeinerung bzw. Ausdehnung der Verfassunggebung? Der theoretische Gewinn besteht darin, daß sie realistisch gesehen und aus den ideologischen Fesseln der Vergangenheit befreit bzw. so qualifiziert wird, wie sie auf dem Boden und i m Rahmen offener Gesellschaften wirklich geschieht. Verfassunggebung w i r d auf die Struktur dieser Gesellschaften ausgerichtet. Zugleich w i r d sie „vor die Klammer" gezogen: als Vorgang, der letztlich Teilverfahren wie die Verfassungsrechtsprechung, -änderung oder Parlamentsverfahren (ζ. B. Debatten) miteinander verbindet. Der praktische Gewinn liegt darin, daß die voneinander oft isoliert gedachten Institute wie Verfassungsänderung, -rechtsprechung usw. auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, i n dessen Rahmen sie Teilverfahren sind. Das erhöht praktisch die Verantwortung der an diesen Teilverfahren Partizipierenden 1 7 3 . 172 s. auch die informative Gesamtdarstellung der „Fortbildung des Schweizerischen Bundesstaatsrechts in den Jahren 1954- 1971" durch Häfelin, in: JöRNF 22 (1973), S. 1 ff. — Zur Staatslehre in der Schweiz: D. Schindler, JöRNF 25 (1976), S. 255 ff. 173 Darum ist auch das Modell der Kombination von repräsentativer und plebiszitärer Legitimität der Verfassung (dazu von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 38 ff.) weiter zu verfeinern: durch Verbreiterung und Öffnung der „Vorverfahren" (mit Alternativentscheiden), Mischung von Sachverstand (Wissenschaft) und Partei- bzw. Gruppeninteressen in den vorbereitenden Kommissionen (Heranziehung auch von Verfassungsorganen wie Regierungen, gutachtende Verfassungsgerichte, erste und zweite Kammer), Entscheidung wichtiger Vorfragen durch das Volk (dazu von Beyme, a.a.O., S. 40), Entscheidung der Konstituante (nach öff. Hearings), „abschließende" Entscheidung durch das Volk. — Zur Legitimität zuletzt H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977. Zum Verhältnis und zur Kombination von Repräsentation (bes. bei Scheuner) und Identität (bes. bei Leibholz): Manti , Repräsentation und Identität, 1975,S. 149ff. bzw. S. 243 ff. (dazu meine Bespr. in D Ö V 1978, S. 531 f.).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

N u r ü b e r V e r f a s s u n g g e b u n g als d a u e r n d e n Prozeß k a n n das V e r f a s sungsrecht i m materiellen,

w e i t über die U r k u n d e

hinausgreifenden

S i n n angemessen i n s Ganze d e r V e r f a s s u n g einbezogen u n d d o g m a t i s c h b e f r i e d i g e n d q u a l i f i z i e r t w e r d e n . Beispiele s i n d die w e i t e n Bereiche des A r b e i t s r e c h t s , dessen G r u n d l a g e n B V e r f G u n d B A G e n t w i c k e l t h a b e n 1 7 4 , n i c h t als „Nebengesetzgeber", sondern als T e i l e d e r V e r f a s s u n g g e b u n g . Nur

die D e u t u n g d e r Rechtsprechung u n d a n d e r e r B e t e i l i g t e r 1 7 5

als

S t ü c k V e r f a s s u n g g e b u n g i m w e i t e r e n S i n n e v e r m a g die z e i t l i c h f o r t schreitende E r w e i t e r u n g d e r V e r f a s s u n g i m m a t e r i e l l e n S i n n zu e r k l ä r e n (ggf. auch i h r e E i n s c h r ä n k u n g ) . W e r m a t e r i e l l e s Verfassungsrecht setzt, l e i s t e t b e w u ß t oder u n b e w u ß t e i n S t ü c k V e r f a s s u n g g e b u n g auch d a n n , w e n n e r es i n t e n t i o n a l g a r n i c h t t u n w i l l — gerade dies w i r d o f t d e r F a l l sein. D i e b i s h e r i g e D o g m a t i k m u ß zu seltsamen A b h i l f e n greifen, u m die E n t s t e h u n g v o n m a t e r i e l l e m Verfassungsrecht „ n a c h " E r l a ß d e r V e r f a s s u n g e r k l ä r e n zu k ö n n e n 1 7 6 . H ä t t e sie sich v o n d e m U r a k t - D e n k e n gelöst, w ä r e sie a u f V e r f a s s u n g g e b u n g als „ p e r m a n e n t e n Prozeß" g e s t o ß e n 1 7 7 . 174 Und die nunmehr, auch als „arbeitsrechtliche Grundrechte" (!) in einem Arbeitsgesetzbuch Eingang finden sollen: Schutz der Arbeitskraft, Gleichheit und Gleichbehandlung, Recht am Arbeitsplatz, Schutz der Persönlichkeit (Entwurf eines Arbeitsgesetzbuches — Allgemeines Arbeitsvertragsrecht — der Arbeitsgesetzbuchkommission vom September 1977, Art. 1 - 4). Gesetzgebungstheoretisch scheint die Tendenz dahinzugehen, Grundrechte bereichsspezifisch und einfachgesetzlich „abzusichern", mögen diese Bestrebungen auch mehr deklaratorisch-edukatorischer Natur sein: Kritisch zu den sozial-grundrechtlichen Verbürgungen im SGB Hans F. Zacher, SGB-Kommentar, 1977, Einführung, S. 8 ff. 175 Auch die Mitwirkung von (Enquete-)Kommissionen bei der Verfassunggebung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, nicht nur im Hinblick auf deren (diskussionsfähige und -bedürftige) Ergebnisse, sondern auch unter dem Aspekt der Schärfung des Problembewußtseins für bestimmte verfassungsrechtliche Fragestellungen, defizitäre Entwicklungen und Fortschreibungen der verfassungsrechtlichen „Soll-Werte", vgl. etwa die von der EnqueteKommission Verfassungsreform vorgeschlagenen neuen Art. 28 a und 104 b GG zur gemeinsamen Rahmenplanung und Investitionsfinanzierung (Schlußbericht, BT-Drucks. 7/5924 v. 9. 12. 1976, 'S. 150 ff.), welche die Finanzreform von 1969 fortschreiben. — s. auch die Ergebnisse der Kommission für ivirtschaftlichen und sozialen Wandel (Gutachten, 1977), ein (verfassungsrechtlich bisher wenig beachteter) Katalog von grundrechtlichen und sozialstaatlichen Aufgaben, defizitären Tendenzen und Abhilfevorschlägen (z. B. zur Raumordnungs-, Umwelt-, Verbraucher- und Bildungspolitik, S. 305 ff., 343 ff.. 403 ff., 479 ff.). Verfassungsrechtlich sind ζ. B. die Kommissionsvorschläge zu Bildung und Beschäftigung (s. das Wort von der „zentralen Lenkung von Kapital und Humankapital", S. 490; S. 506 ff.: Vorrang für die Finanzierung der beruflichen Bildung) im Kontext von Art. 3, 12, 20 GG und der Rspr., vornehmlich des BVerfG, zu untersuchen. 179 Meist wird auf der Ebene gewohnheitsrechtlicher Rechtfertigungsversuche argumentiert. Die Geltungsgrundlagen sind freilich umstritten und sehr „konstruiert" (dazu m. w. N.: Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, 1972, S. 81 ff.). Bereits das rechtstheoretische „Lücken-Denken" (s. dazu Canaris , Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1964) ist für die Rechtstheorie im all-

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Die Rückbindung an die Verfassunggebung relativiert nicht etwa diese Teilverfahren. Ein großer verfassungsstaatlicher Gewinn liegt darin, diese Teilverfahren ausdifferenziert, sie gegeneinander abgegrenzt zu haben. Ein rechtlich unbegrenztes, nicht profiliertes, nicht kanalisiertes „totales" Verfahren ständiger Verfassunggebung wäre eine Gefahr für die offene Gesellschaft und ihren Pluralismus! Verfassunggebung (und -interpretation) i m weiteren Sinne darf formalisierte Verfassunggebung (im engeren Sinne) dort nicht überspielen, wo ihr die normative Kraft der (geschriebenen) Verfassung Grenzen setzt 1 7 8 . Indessen erlaubt diese Rückbindung aber, die zeitliche und sachliche Variabilität dieser ausdifferenzierten Teilverfahren schärfer zu sehen. So finden sich — bedingte — Grenzverschiebungen zwischen Verfassungsinterpretation und Verfassungswandel 179 , zwischen verfassungsrichterlicher Kontrolle und Kontrolle durch die öffentliche Meinung, ζ. B. im Diäten-Fall 1 8 0 , zwischen Verfassungsänderung und „Verfassungswandel"; auch gibt es Überschneidungen zwischen Verfassungsrechtsprechung und Verfassunggebung (Beispiel: Grundlagenvertrag) 181 . Die Relativierung der Grenzen der einzelnen speziellen Institute und Verfahren muß behutsam erfolgen, aber sie kann erfolgen. gemeinen wie für das Verfassungsrecht im besonderen methodisch und theoretisch verfehlt (zur Kritik: Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972, S. 177 ff.; Tomuschat, a.a.O., S. 65 ff. m. w. N.). Zur richterlichen Rechtsfortbildung: BVerfGE 34, 269 (286 ff., Soraya-Beschluß). — Die Theorie des Verfassungsgewohnheitsrechts ist vorbelastet durch die verfehlte und im Grund antidemokratische Entgegensetzung von Verfassung und Verfassungsgesetz, pouvoir constituant und pouvoir constituté bei Carl Schmitt (Verfassungslehre, 1928, unveränd. Nachdr. 1965, S. 75 ff.). — Zur Kritik in diesem Zusammenhang: Tomuschat, a.a.O., S. 100 ff. 177 s. auch Herb. Krüger, Verfassungsauslegung aus dem Willen des Verfassunggebers, 1961, jetzt in: Dreier / Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 142 (145 ff.), der den „historischen" Verfassunggeber durch den „gegenwärtigen" Verfassunggeber ersetzt wissen will. 178 Beispiel: BVerfG, JZ 1977, S. 676 ff. m. Anm. Grimm, S. 682 ff. (Notbewilligungsrecht des BMF); BVerfG-Urteil zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung: E 44, 125 ff. 179 Dazu mein Beitrag „Zeit und Verfassung" (1974), jetzt in: Dreier I Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 ff. (bes. S. 316 f.) — sofern man Verfassungswandel als Institut beibehalten will. 180 BVerfGE 40, 296, dazu meine Bespr. NJW 1976, S. 537 (543). — Ein Verfassunggeber hat aber insofern größere „interpretatorische" Freiheit als er eher „von heute auf morgen" ein Problem lösen kann, zu dem das Verfassungsgericht erst in längeren Vor-Entscheiden, mehr tastend und vorsichtig durch den Aufbau von Präjudizienketten zu gelangen vermag (man denke an die Drittwirkung von Grundrechten: vgl. jetzt Art. 25 Abs. 1 Endg. Verfassungsentwurf einerseits, an das BG zur Demonstrationsfreiheit negativ im Fall Moutier bzw. Art. 8 g Verf. Jura positiv andererseits). 181 BVerfGE 36, I f f . , dazu: Scheuner, DÖV 1973, S. 581 ff. (zur Richtlinienpraxis und zur richterlichen Technik der Hervorhebung und Ausweitung der „tragenden Gründe": S. 582 f.).

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Zu sehr konkreten praktischen Folgerungen kommt es auch anderwärts. Sieht man die Momente der Verfassungebung in „großen" Prozessen vor dem BVerfG schärfer, so hat das Konsequenzen für das Verfassungsprozeßrecht, etwa bei der Frage, wer an ihnen — abgestuft — partizipiert 1 ^. Die Relevanz großer Parlamentsdebatten für das Selbstverständnis des Gemeinwesens kann dazu führen, „Konzentrate" der parlamentarischen Diskussion in spätere I n terpretationsprobleme kontrolliert einzuführen 1 ^. Kurz: Erkenntnisse, „Kristallisationen", Konsensmomente, die in speziellen Verfahren zur öffentlichen Sprache kommen, dürfen kontrolliert in den anderen Verfahren verwertet werden. So gesehen ist es konsequent, Momente gewandelten „neuen Verfassungsverständnisses" oder bloße Interpretationen in eine neue „revidierte" Verfassung (wie in der Schweiz) zu übernehmen. Insofern entwickelt sich Verfassunggebung aus Verfassungsinterpretation!

Diese wechselseitige Bereicherung spezieller Verfassungsverfahren auf dem Hintergrund ihrer Qualifizierung als Teil der ständigen „allseitigen" Verfassunggebung hat also große praktische Chancen; sie birgt freilich auch Gefahren, die bewußt bleiben sollten. Das spezielle Verfahren darf nicht „überschwemmt" werden! Es hat seinen guten Grund, daß die Verfassungsänderung grundsätzlich vom „Verfassungswandel" 184 abgegrenzt w i r d ; daß das formalisierte Verfahren der Verfassungsänderung nicht von jedem Verfassungswandel beiseite geschoben werden darf; daß an bestimmten Verfassungsgerichtsverfahren nur bestimmte Partizipationsinstrumente und Beteiligte zugelassen sind; daß die pluralistische Öffentlichkeit von Parlamentsdiskussionen nicht ungefiltert i n die Verfassungsinterpretation durch das BVerfG einströmt, sondern i n und durch die Methoden der Verfassungsinterpretation (auch durch behutsamen Einsatz von Folgeainalysen) diszipliniert w i r d 1 8 6 . Die Rückbindung spezieller Verfassungsverfahren i m weitesten Sinn — von der Verfassungsänderung über den Verfassungswandel, die „normale" Verfassungsinterpretation durch das BVerfG bis hin zur Parlamentsdebatte — bedeutet keinen Abschied von diesen Verfahren, sondern sie eröffnet den Blick für Gesamtzusammenhänge, Möglichkeiten und Grenzen (!) des Gebens und Nehmens zwischen diesen „Spezialverfahren", i m ganzen für eine vertiefte, wirklichkeitsnähere Sicht der Ver182

Dazu R Häberle, JZ 1976, S. 377 ff.; ders., in: P. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (34 ff.). 183 Vgl. BVerfGE 7, 198 (229 f.). 184 Zum Versuch seiner „Verabschiedung" aber mein Beitrag „Zeit und Verfassung", a.a.O. (Anm.179), S. 316 ff. 185 Die Intensität des Konsenses bzw. des Nichtumstrittenseins einer verfassungsrechtlichen Frage gibt dem BVerfG größere Freiheit in der Verfassungsinterpretation. Anders formuliert, die Freiheit der richterlichen Verfassungsinterpretation wird noch durch andere Gesichtspunkte mitbestimmt als die Textformulierung oder die funktionellrechtliche Seite: die Möglichkeiten und die Wirklichkeit eines Konsenses der pluralistisch verfaßten Gesellschaft.

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

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fassunggebung als „ewigen" Grundvorgang freiheitlicher Verfassungen. Sie w i r d von ihren revolutionären bzw. monarchischen geistes- und sozialgeschichtlichen Ursprüngen gelöst und i n die heutige pluralistische Wirklichkeit der offenen Gesellschaft „übersetzt", i n ihr Gesamtbild eingefügt, zu welchem sie ihrerseits Wesentliches beiträgt. Vor allem w i r d einsichtig, daß durch das Medium der einzelnen Verfahren hindurch letztlich alle an der Sache der Verfassung der res publica verantwortlich beteiligt sind — jeder auf seine Weise, in seinem Verfahren und gemeinsam m i t seinen unmittelbar Beteiligten: die Parlamentarier des Bundes und der Länder, die pluralistische Öffentlichkeit, die politischen Parteien, die an Verfassungsprozessen vor dem BVerfG konkret Beteiligten usw. Diese arbeitsteilige und quasi-kontraktuelle Verantwortung aller i n bezug auf die Verfassung 186 findet i n dem übergeordneten Grundvorgang der Beteiligung an der ständigen, allseitigen — republikanischen — Verfassunggebung i m weiteren Sinne ihren besten Ausdruck und gemeinsamen Nenner. Verfassungsänderung hier, die Parlamentsdebatte dort, Verfassungsinterpretation durch das BVerfG hier und Verfassungsänderung dort wurden bislang weitgehend voneinander isoliert gedacht. A u f der Folie einer verallgemeinert konzipierten ständig, virulenten Verfassunggebung sind sie sich jetzt entscheidend näher gekommen: Verfassunggebung (im weiteren Sinne) ist der übergreifende, nie abgeschlossene Vorgang. Diese Sicht schließt es nicht aus, spezielle Formen der Verfassunggebung anzuerkennen: die nach der Tradition des Verfassungsstaates i n bestimmten Verfahren (ζ. B. durch Plebiszit, verfassungsändernde, qualifizierte Mehrheiten usw.) 1 8 7 „abgegrenzt" ablaufenden Verfahren der Verfassunggebung i m engeren Sinne. Aber gerade die Fixierung auf sie 188 I n dem Maße wie Verfassung"gebung" fragwürdig wird, rückt das Vertragsmodell in den Vordergrund. Der Verfassungsinterpret wird sich immer überschritten auch fragen müssen, ob die Grenzen zur Verfassungsänderung sind. Aber auch das Umgekehrte ist denkbar: Die deutsche Enquete-Kommission Verfassungsreform sollte GG-Änderungen vorbereiten. Auf weite Strekken hat sie aber „nur" gutes Material für die Auslegung, nicht für die Änderung des GG erarbeitet (vgl. die Debatte im Dt. Bundestag vom 17. 2. 1978). 187 Badura, Evang. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 2708 ff. (2713, 2721) unterscheidet revolutionäre und nichtrevolutionäre Verfassungsneuschöpfung: Verfassunggebung und Verfassungsänderung (s. z. B. Art. 118 ff. der Schweizer Bundesverfassung für die Total- und Partialrevision). I n der Theorie der evolutionären Verfassunggebung der offenen Gesellschaft ist formelle Verfassungsänderung aber lediglich Teilverfahren permanent verfassender und verfaßter Legitimitäts- und Legalitätszusammenhänge. — s. auch von Beyme, a.a.O. (Anm. 3), S. 32 ff. — Zur Konkordanzdemokratie in der Schweiz vgl. Wildhaber, Vertrag und Gesetz — Konsensual- und Mehrheitsentscheid im Schweizerischen Staatsrecht, ZSR 94 (1975), S. 113 (133 ff.).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

hat bisher den Zugang zu den Horizonten der weit verstandenen Verfassunggebung versperrt und damit einen wesentlichen Lebensvorgang i m Werden, Wandel und Vergehen von Verfassungen übersehen. 4. Gefahren Die Verfassung,, gebenden" speziellen Teil verfahren sind freilich auch Gefahren ausgesetzt. Sie können ζ. B. Dissens verursachen oder verschärfen, wo der Grundkonsens berührt ist: So könnte eine konkrete BVerfG-Verfassungsinterpretation, etwa zu § 218 StGB 1 8 8 , als Dissensvertiefend statt Konsens-begründend kritisiert werden — weil gedachte oder wirkliche Plebiszite andere Ergebnisse hätten. Die Verfassunggebung i m engeren Sinn ist zwar nur ein Unterfall der allgemeinen Verfassunggebung, aber sie bleibt ein wichtiger „ U n terfall". Ihre „Entlastungsfunktion" kann sich zur alleinigen Kompetenz steigern: aktuell i n der Frage, ob nur das V o l k 1 8 9 , nicht der einfache oder verfassungsändernde Gesetzgeber (allein) entscheiden kann. Umgekehrt gibt es Bereiche und Funktionen der Verfassung, i n bezug auf die keine Verfassunggebung im engeren Sinn verändernd tätig werden dürfte und könnte: A r t . 79 Abs. 3 GG 1 9 0 . Die wechselseitige Bedingimg der speziellen Teilverfahren der Verfassunggebung bedeutet auch wechselseitige Begrenzung 191. Die so verstandene verallgemeinerte Verfassunggebung ist keine unangemessene „Dynamisierung" oder „Auflösung" der Verfassung 192 . Denn Verfassunggebung als dauernder Prozeß bezieht sich ja auf die (Identität der) pluralistische(n) Verfassung: sie kennt „Konstanten" und Varianten, sowohl Vorgänge der Bekräftigung, „Vertiefung" der Verfassung, als auch solche des Wandels. Sie ist Bewährung, sei es durch Bewahrung oder durch Veränderung, kurz: sie meint den „Wachstumsprozeß" einer geltenden Verfassung. Verfassungsinterpretation durch das BVerfG oder verfassungskonformes Handeln des Gesetzgebers als Teil der in Permanenz verstandenen Verfassunggebung gründet die Verfassung „tiefer", „verankert" sie fester. Eben 188 BVerfGE 39, 1 ff., kritisch: Kriele, JZ 1975, S. 222 ff. und Esser, JZ 1975, S. 555 ff. 189 s. aber den Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform (BT-Drucks. 7/5924 v. 9. 12. 1976, S. 10, 12 ff.>: Ablehnung von Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung über die in Art. 29 GG vorgesehenen Fälle hinaus. 190 Zur Diskussion in der Schweiz besonders Kägi, a.a.O. (Anm. 116). 19t Vgl. auch Art. 35 Abs. 2 Verfassung Kanton Glarus, der einen Volksentscheid ausschließt in Fragen, in denen ein Gerichtsentscheid vorliegt, und umgekehrt. — Zum internationalen Kontext der Schweiz als Verfassungsstaat: J. P. Müller, V V D S t R L 36 (1978), S. 111 ff. 192 s. dazu A. Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff., jetzt in: Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Versungsinterpretation, 1976, S. 80 ff.

6. Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung

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diese Prozesse sind unabdingbar, weil nur so die einmal „erlassene" Verfassung lebt und ihre Evolution, ihre Dauer im Wandel dogmatisch einwandfrei erklärt werden kann. Ich denke an das Beispiel der USA-Verfassung 103 .

Den herkömmlichen Verfahren, wie Verfassungsinterpretation durch das BVerfG, parlamentarischen Verhandlungen oder Verfassungsänderungen sowie der (ihr nahestehenden) Verfassunggebung i m engeren (formellen) Sinne, w i r d also nichts genommen! Sie erweisen sich als bestimmte unverzichtbare Formen, deren der Verfassungsstaat als rechtsstaatliche Demokratie bedarf. Hinter diesen speziellen Formen und Verfahren steht aber die Verfassunggebung i m weiteren Sinne als zeitlich ständiger, sachlich und personell allseitiger pluralistischer Vorgang. Er ist es, i n dem und durch den die „Verfassung des Pluralismus" lebt. IV. Schluß (Ausblick) Ein Blick über den Erdball belehrt, daß es Staaten — Nicht-Verfassungsstaaten — gibt, die Verfassunggebung als offenen pluralistischen allseitigen ständigen Prozeß nicht kennen. I n dieser Schwierigkeit stehen viele verfassungsstaatliche Errungenschaften 194 . Man denke an die Grundund Menschenrechte. I n manchen Entwicklungsländern erfolgt auch heute Verfassunggebung (noch) als revolutionärer Vorgang von unten oder oben (Staatsstreich!), etwa beim Übergang von begrenzt offenen zu geschlossenen Gesellschaften. Ein Beispiel ist der Putsch i n Griechenland von 1967. Gerade hier haben dann aber viele Vorverfahren der Verfassunggebung — ζ. B. die öffentliche Meinung, einzelne Gerichte und das Ausland! — die Öffnung wieder erzwungen bis hin zur Berufung der Regierung (Karamanlis), zur Abhaltung von Parlaments wählen und Wiederinkraftsetzung der alten Verfassung 195 . Die hier entworfene Theorie der Verfassunggebung — die evolutionäre — betrifft offene Gesellschaften, Verfahren und Akte der Verfassunggebung i n ihrer weiteren Entwicklung, auch die Öffnung ge193 s. die Präs ens formulierung der Präambel der USA-Verfassung: "We the People of the United States ... do ordain and establish this constitution . . Dazu E. S. Corwin (zit. nach Herb. Krüger, Verfassungsauslegung nach dem Willen des Verfassunggebers, 1961, jetzt in: Dreier / Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 142 (144 f.): "As a document the Constitution came from the generation of 1787; as a law it derives its force and effect from the present generation of American citizens, and hence should be interpreted in the light of the present conditions and with a view to meeting present problems . . . " — Zur verfassunggebenden Funktion des US-Supreme Court am Beispiel der reapportionment-Entscheidungen s. Hopt, Die dritte Gewalt als politischer Faktor, 1969, bes. S. 175 ff. 194 Allgemein dazu mein Beitrag: Der kooperative Verfassungsstaat, in: FS für Schelsky, 1978, i. E. 195 Dazu P. Häberle, AöR 102 (1977), S. 27 (68). — s. jetzt die Verf. vom 7-/11. Juni 1975.

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schlossener Gesellschaften, nicht aber die Schließung von offenen Gesellschaften (diese verdient nicht das hohe Prädikat „Verfassunggebung"). Sie hat als Strukturelement einer demokratischen Verfassungslehre eigenen Rang. I h r grundlegender Stellenwert — hier ganz wörtlich genommen — erlaubt keine Konzessionen an totalitäre Staaten; diese haben i m Sinne westlicher Verfassungsstaaten weder „Verfassungen", noch „geben" sie solche 196 . Die juristische (und politische) Integrierung des Begriffs „Verfassunggebung" i n die Dogmatik des Verfassungsstaates hat ihren Preis: Der Begriff „Verfassunggebung" verliert an Allgemeingültigkeit — wie andere Begriffe der allgemeinen Staatslehre auch (ζ. B. die Souveränität) 1 9 7 . Aber diese (Selbst-)Beschränkung hat auch ihre Vorteile: Der Begriff Verfassunggebung w i r d glaubwürdiger, wirklichkeitsnäher und normativ, „ehrlicher", verpflichtender und menschlicher. Er vermittelt nicht zuletzt dem Bürger seine Verfassung und er stellt sie und ihre Verfahren i n dessen Dienst. Verfassunggebung ist ein genuin öffentlicher — pluralistischer — Vorgang, der jeden Bürger angeht, ihm eine Chance gibt und i h n zugleich i n die Kontinuität früherer Generationen und die Solidarität m i t künftigen stellt. Von der Größe, Verantwortung und Realisierung dieser Aufgabe hat gerade die Schweiz immer wieder Zeugnis gegeben. Der Beitrag markiert den Beginn der verfassungsvergleichenden Arbeit des Verf., im Blick auf die Schweiz. „Fortgeschrieben" wurde er für die Kantonsebene in: „Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz", in: JöR 34 (1985), S. 303 bis 424. In der in Raum und Zeit rechtsvergleichenden Dimension hat der Verf. seinen Ansatz ergänzt in: „Die verfassunggebende Gewalt des Volkes i m Verfassungsstaat", AöR 112 (1987), S. 54 ff. Praktische Versuche spiegeln sich i n der 2. Auflage dieses Bandes: „Ergänzungen 1995", ζ. B. i m Blick auf Estland (Nr. 34) und Polen (Nr. 35); vgl. auch JöR 43 (1995), S. 105 bis 183. 108 Hier werden Entsprechungsverhältnisse von Verfassungstext und „gelebter" Verfassung relevant, für die der Verfassungstext Indizwirkung behalten muß: Er darf einem unbefangenen Leser nicht ein völlig unzutreffendes Bild der tatsächlichen Verhältnisse liefern, eine Fassade, hinter der nicht normierte, aber durchaus reale Gewalten wirksam sind. s. Art. 19 ff. der DDR-Verf. (Grundrechte und Grundpflichten der Bürger), die nur auf dem Hintergrund des marxistisch-leninistischen Verständnisses von Grundrechten durchschaubar sind: Einheit von Recht und Pflicht, Grundrechte als Zustandsbeschreibung, Einbettung in die sozialistische Gesellschaft und Gesetzlichkeit, Führungsanspruch der Partei (vgl. Art. 1 Abs. 1, 19 Abs. 1, 86 ff. [90 Abs. 1]). — Zur Kritik des marxistischen Verfassungsverständnisses Kriele, Einführung in die Staatslehre, 1975, S. 220 ff. — Zur neuen UdSSR-Verfassung s. Der Spiegel, Nr. 43/1977, S. 182 ff. — Zum Verfassungs- und Grundrechtsverständnis sozialistischer Staaten: Lammich, AöR 102 (1977), S. 441 ff. 197 Dazu P. Häberle, AöR 92 (1967), S. 259 ff.; allgemein ders., AöR 102 (1977), S. 284 (291 ff., 2S5 f.).

7. Öffentlichkeit und Verfassung* Bemerkungen zur 3. Auflage von Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit (1968)* I. Das Werk von Habermas hat über den engeren Fachbereich hinaus eine ungewöhnliche W i r k u n g entfaltet. Neben Rezensionen, die seine Bedeutung alsbald erkannten 1 , finden sich kritische 2 oder zustimmende und weiterführende Äußerungen 3 . Von brisanter tagespolitischer Aktualität ist Habermas i n der Diskussion um die Hochschulreform. Er gilt als Kronzeuge für studentische Forderungen, die auf „aktive" und „materielle" Öffentlichkeit zielen. Ungeachtet der großen Publizität dieses Buches über Öffentlichkeit: die deutsche Staatsrechtswissenschaft hat Habermas 1 Herausforderung nur vereinzelt angenommen. Insbesondere fehlen Überlegungen, die i n spezifisch verfassungsrechtlichem Ansatz und i m Zusammenhang auf seine Fragen eine A n t w o r t zu geben suchen oder sich selbst u m das öffentliche bemühen. Sieht man von dem großen Entwurf von Smend 4 einmal ab, so ergibt sich folgendes Bild: Probleme des öffentlichen werden i n den unterschiedlichsten Zusammenhängen diskutiert: ζ. B. i n Fragen des Staatskirchenrechts 5 , des Rechts der politischen Parteien® sowie i m Rahmen der Kontroverse u m „öffentliche * ZfP 16 (1969), S. 273 - 287 mit Nachtrag (1978). * Politica Bd. 4, Luchterhand Verlag. 1 z.B. H. J. Arndt, in: Der Staat 3 (1964), S. 335 ff.; H.-D. Fischer, PVS 5 (1964), S. 359 (363 f.); Prakke, ZStW 121 (1965), S. 377 f., alle jedoch nicht unter spezifisch juristischen Aspekten; s. aber die Kurzbespr. von H. Hub er, JZ 1964, S. 79 f. 2 Marcic, „Öffentlichkeit als staatsrechtliches Prinzip" in: Richter und Journalisten, 1965, S. 153 ff. (179, 184, 200, 202). 3 z. B. J. H. Kaiser, „Die Wahrnehmung öffentlicher Publizitätsinteressen" in: Das Frankfurter Publizitätsgespräch, 1962. S. 88 ff. (105); Scholler, Person und Öffentlichkeit, 1967, S. 74 ff.; F. Schneider, Pressefreiheit und politische öffentlichkeit, 1966, z. B. S. 12 f., 71, 74. 4 Zum Problem des öffentlichen und der öffentlichkeit, Gedächtnisschrift für W. Jellinek, 1955, S. 11 ff. 5 Pirson, „Öffentlichkeitsanspruch" in: Ev. Staatslexikon, 1966, Sp. 1390 ff.; Hollerbach, V V D S t R L 26 (1968), S. 57 (61, 78, 85 ff., 99); meine Anm. in: DVB1. 1966, S. 216 ff. 6 Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 11 ff. (39 ff.); P. Häberle, „Unmittelbare staatliche Parteifinanzierung unter dem GG — BVerfGE 20, 56" in: JuS 1967, S. 64 ff. (71 ff.). 15 Verfassung

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Aufgaben" der Presse 7, um die Stellung der Gewerkschaften 8 , um die Notstandsgesetzgebung 9 , das öffentliche A m t 1 0 und das Recht der öffentlichen Sache11. Aber auch einem so zentralen Begriff wie „Repräsentat i o n " 1 2 w i r d Öffentlichkeit spezifisch zugeordnet. Zumal die Diskussion um das heutige Verhältnis von Staat und Gesellschaft mündet immer wieder i m Problem des öffentlichen 1 3 . I m Rahmen seiner Allgemeinen Staatslehre hat sich Herb. Krüger des öffentlichen besonders stark angenommen 1 4 — freilich i n einer Weise, die gerade nicht auf den spezifischen Zusammenhang von Öffentlichkeit und Verfassung führt 1 5 . Bisher ist das öffentliche nur sehr punktuell i n die Dogmatik des Verfassungsstaates, i n seine einzelnen Institute und Prozeduren hereingeholt worden: ζ. B. i n bezug auf das Rechtsstaatsprinzip 16 , die Demokratie 1 7 und die Verfassungsänderung 18 . „Verfassung" selbst und insgesamt w i r d nicht i n den i h r eigenen besonderen Öffentlichkeitsbezug gebracht — etwa i m Sinne eines Verständnisses derVerfassung als öffentlicher Prozeß, als normativer öffentlicher Gesamtordnung, als öffentlicher Gestalt 1 9 oder i n Form der Frage nach den i n einzelnen Grundgesetzbestimmungen erkennbaren öffentlichkeitsgeboten (Konstituierung von öffentlichen Verfahren, Anregung und Kontrolle öffentlicher Willens7 Scheuner, V V D S t R L 22 (1965), S. I f f . (29 ff.); s. auch die Diskussion ebd. S. 160ff.; zuletzt Czajka, Pressefreiheit und öffentliche Aufgabe der Presse, 1968. — Zum Problem der öff. Aufgaben und ihrem Verhältnis zu „staatlichen" Aufgaben: Peters, FS für Nipperdey, I I (1965), S. 877 ff.; P. Häberle, JuS 1967, S. 73. 8 Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften, 1960. 9 Ridder, „1933 findet nicht statt" in: Fischer Bücherei Nr. 858, 1967, S. 75 ff.

(80). 10

Kôttgen, in: Festgabe für Smend, 1962, S. 119 (120 f., 146 f.). Stern, V V D S t R L 21 (1964), S. 183, 192 ff., bes. 194. 12 J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956, S. 355 f.; Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, 3. Aufl. 1966, S. 176 ff.; C. Schmitt, Verfassungslehre, 4. Aufl. 1965, S. 208 f. 13 ζ. B. Scheuner, Artikel „Staat" in: HDSW 12 (1965), S. 653 ff. (660). 14 2. Aufl. 1966, passim, bes. S. 440 ff. Dazu Morstein Marx, ZfP 12 (1965), S. 2 ff. (10 f.). 15 Zu den Vorbehalten gegen allgemeine Staatslehre heute: mein Beitrag in ZfP 12 (1965), S. 381 ff. Sie sind um so stärker geltend zu machen, als die traditionelle versteckt und offen monarchische „Staatlichkeit" den Zugang zum öffentlichen versperrt und vor allem die institutionelle Freiheit des öff. Bereichs gegenüber dem Staat i. e. S. vernachlässigt. 18 Durch Hans F. Zacher, V V D S t R L 25 (1967), S. 308 ff. (355 f.). 17 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, 2. Aufl. 1968, S. 60 f.; P. Schneider, Rechtsgutachten zur Frage der Auslegung des Art. 5 Abs. 1 GG, 1963, S. 55 f. 18 Jacobi, in: Die RG-Praxis im dt. Rechtsleben, Bd. 1 (1929), S. 233 (270). 19 Dazu meine Bemerkungen in: ZfP 12 (1965), S. 293 (297) mit dem Ziel optimaler Verfassungstransparenz (Schüle). 11

7. Öffentlichkeit und Verfassung

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bildungs- und Entscheidungsvorgänge, Eröffnung allseitiger Kommunikationsprozesse öffentlicher und privater Potenzen). Publizität w i r d kaum für so öffentlichkeitsbezogene Begriffe wie „öffentliche Interessen", „öffentliches Recht" hergestellt 20 . Insofern besteht ein verfassungstheoretisches „Öffentlichkeitsdefizit". Die Ursachen hierfür liegen i n Besonderheiten der Geschichte des deutschen Staates und der ihn begleitenden Wissenschaft vom öff. Recht. Der monarchische Staat hat als solcher (vor jeder Verfassung) ein Öffentlichkeitsmonopol durchsetzen und weithin erhalten können. Das w i r k t sich noch heute i n der Weise aus, daß zunächst und vor allem einmal das Staatliche öffentlich ist 2 1 . Es w i r d nicht primär gefragt, was von der Verfassung her öffentlich ist, wo und wie sie normative (und faktische) Öffentlichkeit konstituiert und warum und inwieweit sie selbst öffentlich ist und sein soll 2 2 . „Öffentlichkeit" ist dabei i n dem Maße Norm und Aufgabe wie Verfassung Norm und Aufgabe (Scheuner) ist, und sie ist von vornherein i n die Verfassung hereinzunehmen (konstitutionelle Öffentlichkeit). A n ders das traditionelle „staatliche" Bild. Ihm korrespondiert die vorherrschende Neigung, das Öffentliche i n das bloß Soziologische, i n die „Gesellschaft" abzuschieben 23 , es also nicht oder nur widerstrebend zum Gegenstand des „eigentlich" Juristischen zu machen. Historisch besteht ein Zusammenhang von Verfassung und Öffentlichkeit indes darin, daß die deutsche Verfassungsbewegung Stück für Stück dem monarchischen Arkanstaat Öffentlichkeit abtrotzen wollte und ζ. T. konnte: i m Gesetzgebungs-, Rechtsprechungs- und Verwaltungsbereich (insbes. i n der Selbstverwaltung). Öffentlichkeit ist das Gesetz, unter dem „Verfassung" angetreten ist; auch heute sollte sie sich ihm nicht entziehen. Verfassungsrecht ist qua öffentliches Recht zunächst „Recht der Öffentlichkeit" par excellence. Doch ist diese Öffentlichkeit nicht etwa der Souverän; denn außerhalb der Verfassung gibt es keine Souveränität. Angesichts dieser hier nur skizzierten Situation erscheint eine Auseinandersetzung m i t Habermas unter verfassungsrechtlichen Aspekten unumgänglich. Sie erfordert einen wenigstens kurzen Überblick über seine wichtigsten Gedankengänge. 20 Dazu meine Freiburger Habilitationsschrift „öffentliches Interesse als juristisches Problem", 1968 MS, u. a. mit dem Ziel, das öff. Interesse zu einem republikanischen Topos zu machen. 21 ζ. B. bei H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öff. Rechts im System des GG, 1966, S. 64, 66, 68, 71, 74, 76. 22 Smend, a.a.O., S. 19 f., betont, das konstitutionelle Ausland habe (anders als Deutschland) „alle Begriffsmomente der Publizität in ihrer expliziten Fülle in sein konstitutionelles Bewußtsein aufgenommen". 23 Beispiele bei H. Klein, DÖV 1965, S. 755 (758 f.); H. Weber, a.a.O., S. 60, 73 ff.

15*

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II. I m Vorwort (7 f.) stellt sich H. die Analyse des Typus „bürgerliche Öffentlichkeit" zur Aufgabe. Angesichts der Komplexität des Gegenstandes verböten sich „ressortspezifische Verfahrensweisen eines einzigen Faches". H. möchte Öffentlichkeit i n jenem „breiten Feld" aufsuchen, von dem einst die traditionelle Politik ihren Blick bestimmen ließ (Hennis). Er beschränkt sich auf Struktur und Funktion des liberalen Modells bürgerlicher Öffentlichkeit, auf dessen Entstehung und Wandlung, er vernachlässigt bewußt die Variante einer plebejischen Öffentlichkeit. Und er „stilisiert die liberalen Elemente bürgerlicher Öffentlichkeit und deren sozialstaatliche Transformationen". I m folgenden werden nur die Passagen referiert, die unter dem Blickwinkel „Öffentlichkeit und Verfassung" relevant sein könnten. Daß H. selbst insoweit sein bester Interpret ist, als er seine Einsichten auf glanzvolle Formeln zu bringen versteht, erleichtert die Aufgabe sehr. Ungeachtet der Tendenz des „Zerfalls" bürgerlicher Öffentlichkeit, ist für i h n Öffentlichkeit „offenbar mehr und anderes als ein Fetzen liberaler Ideologie, den die soziale Demokratie unbeschadet abstreifen könnte" (14). I m Rahmen seiner Analyse der Genese der bürgerlichen Öffentlichkeit beschreibt er die Entstehung der Sphäre der öffentlichen Gewalt — objektiviert i n einer ständigen Verwaltung und dem stehenden Heer. Die „Privatleute" sind von i h r ausgeschlossen (28). Als Pendant zur Obrigkeit konstituiert sich die bürgerliche Gesellschaft (29). Indem die Obrigkeit sich der Presse bedient (32, 34), werden die Adressaten der öff. Gewalt zum Publikum der nun entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit. Dieses Publikum beginnt die öff. Gewalt zur Legitimation vor der öff. Meinung zu zwingen (36), und es braucht die Presse dabei nur „umzufunktionieren". Diese Entwicklungen sind i n viel gerühmter souveräner Manier wort-, begriffs- und geistesgeschichtlich belegt. Die zum Publikum versammelten Privatleute beanspruchen die obrigkeitlich reglementierte Öffentlichkeit gegen die öff. Gewalt, um sich m i t i h r über die allgemeinen Regeln des Verkehrs i n der grundsätzlich privatisierten, aber öffentlich relevanten Sphäre des Warenverkehrs und der gesellschaftlichen Arbeit auseinanderzusetzen; das Medium hierfür ist das öffentliche Räsonnement (38). Wie die Arkana einer Aufrechterhaltung der auf voluntas gegründeten Gesellschaft, so soll Publizität der Ausrichtung einer auf ratio gegründeten Gesetzgebung dienen (65 f.). Die „literarische Öffentlichkeit" dient der Effektivität der politischen. „Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin" (68). M i t der öff. Bekanntgabe der Bilanz des Staatshaushalts gelingt es Necker, der politisch

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fungierenden Öffentlichkeit eine Bresche ins absolutistische System zu schlagen (81). Später setzen die Generalstände die Öffentlichkeit ihrer Verhandlungen durch, bildet sich eine politische Tagespresse. Der faktischen Institutionalisierung der politischen Öffentlichkeit folgt ihre j u ristische Normierung: i n den Kodifikationen der französischen Revolutionsverfassung (82). Die politisch fungierende Öffentlichkeit erhält den normativen Status eines Organs der Selbstvermittlung der bürgerlichen Gesellschaft m i t einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsgewalt (86). Doch spricht H. von einer „widerspruchsvollen Institutionalisierung der Öffentlichkeit i m bürgerlichen Rechtsstaat" (91 ff.): Der W i derspruch besteht darin, daß eine politische Ordnung begründet war, deren gesellschaftliche Basis entgegen ihrer Idee Herrschaft doch nicht überflüssig machte (101 f.). Die Öffentlichkeit, der sich dann Marx konfrontiert sah, widersprach ihrem eigenen Prinzip allgemeiner Zugänglichkeit (138). Auf Untersuchungen zur Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral (Kant, 117 ff.), zur Dialektik der Öffentlichkeit (Hegel und Marx, 131 ff.), zur ambivalenten Auffassung der Öffentlichkeit in der Theorie des Liberalismus (J. S. Mill, Tocqueville , 143 ff.) folgt eine Darstellung des sozialen Strukturwandels der Öffentlichkeit einerseits (157 ff.) und ihres politischen Funktionswandels andererseits (199 ff.). I n diesem Rahmen finden sich die für die Fragestellung „Öffentlichkeit und Verfassung" besonders relevanten Gedankengänge (bes. 242 ff.). Ihre wichtigsten Stichworte sind: politische Öffentlichkeit i m Prozeß der sozialstaatlichen Transformation des liberalen Rechtsstaats; der Sozialstaat ist i n Fortsetzung der Rechtstradition des liberalen Staates zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse genötigt; das Maß, in dem sich kritische Publizität gegen bloß veranstaltete durchsetzt, bezeichnet den Grad der Demokratisierung — nämlich sozialstaatliche Rationalisierung des Vollzugs sozialer und politischer Gewalt; Verbände und Parteien sind dem demokratischen Öffentlichkeitsgebot zu unterwerfen; was über die Grundrechte durch Ausgrenzung nicht mehr gewährleistet werden kann, bedarf der Gewährung: die Teilhabe an sozialen Leistungen und an Einrichtungen der politischen Öffentlichkeit; der Streit der demonstrativen manipulativen Publizität m i t der kritischen, den zwei „Gestalten" heutiger Publizität, ist offen, und: der Sozialstaat soll einen kritischen Prozeß öffentlicher Kommunikation in Gang setzen. Solche Thesen sind eine Herausforderung ersten Ranges an den Verfassungs juristen — weil Verfassung i n dem Maße w i r k l i c h ist, wie sie öffentlich ist, weil ihre juristischen Institute und öffentlichen Verfahrensarten Öffentlichkeit ständig neu „einzufangen" suchen und ζ. T. eingefangen haben. Da die Öffentlichkeit i m geschichtlichen Prozeß nicht die gleiche bleibt, kann die — öffentliche — Verfassung nicht auf dem

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status quo ihrer öffentlichkeitsbezogenen Institute und Prozeduren verharren. Eine „lebende" Verfassung kann Wandlungen der und in der Öffentlichkeit und ihrer „Infrastrukturen" nicht passiv hinnehmen, sie setzte sich andernfalls selbst außer Kraft. Die Öffentlichkeit darf nicht an der Verfassung „vorbeigehen". Sie muß sich intra constitutionem halten und die Verfassung ständig aktualisieren. Die Verfassung ist i n ihren organisatorischen, prozessualen, funktionellen und sachlichen Öffentlichkeitsaussagen effektiv zu machen. III. Für die verfassungstheoretische Problematik ergibt sich daher folgendes: H.s Analysen sind unverzichtbar, insofern sie eine tatsächliche Bestandsaufnahme heutiger Öffentlichkeitsstrukturen, -funktionen und -Veränderungen zu geben suchen und Kontakt zur Wirklichkeit halten. Gerade wenn man die „wirkliche Verfassung" 24 zum Gegenstand wählt, bedarf es eines Blicks dafür, wie es um die von der Verfassung gewollte normative Öffentlichkeit faktisch bestellt ist, welches die Bedingungen ihrer optimalen Realisierung sind, ob sie in einer hochindustrialisierten Massengesellschaft eine Chance hat, ob sie zur Scheinöffentlichkeit denaturiert ist, wo es „Publizitätsschwund" gibt, welchen Gefährdungen die Öffentlichkeit ausgesetzt ist und wie ihnen zu begegnen ist, kurz: ob Verfassung (noch) öffentlich ist. Sobald aber i m Sinne eines Verfalldenkens von einem bestimmten (historischen) Modell her ohne durchgängigen Blick auf die normative Verfassung hic et nunc und ihre Öffentlichkeitsgebote argumentiert wird, ist das Vorgehen fragwürdig. Die Wirklichkeit w i r d nur oder primär an einer abstrakten Kategorie — der „bürgerlichen Öffentlichkeit" — und an ihren einzelnen juristischen Ausformungen (ζ. B. am Gesetzesbegriff) gemessen. Sie erscheint dann als „verfallen", weil sie dem Modell nicht mehr entspricht. Die Analyse gewinnt einen pessimistischen Zug. Das führt aber gerade von dem eigentlichen Problem ab, nämlich: unter welchen Voraussetzungen i n welchen Formen heute verfassungskonforme Öffentlichkeit realiter geschaffen werden kann. Befragt man nicht von vornherein die konkrete Verfassung des GG auf Öffentlichkeitsgehalte, die auch und gerade neuartig konkretisierte Formen annehmen können und müssen, und sucht man nicht im gleichen Augenblick nach deren geglückter oder gefährdeter „Umsetzung" in die öffentliche Wirklichkeit, so verfehlt jedenfalls der Jurist (zumal der Öffentlichrechtler) seine Aufgabe. Er überläßt anderen die Öffentlichkeitsproblematik, die i n Wahrheit vor allem einmal eine juristische ist. 24

Hesse, Grundzüge, a.a.O., S. 17 ff.

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Damit sind die große Relevanz des Werks von H. für den Verfassungsjuristen wenigstens angedeutet, zugleich aber auch seine Grenzen und der Ansatz für etwaige K r i t i k , die von der gegenwärtigen Verfassung und „ihrer" Öffentlichkeit auszugehen hat. I m einzelnen: 1. H.s Kunst zur Diagnose sei nur an einigen Beispielen illustriert, und zwar an solchen, bei denen heute i n der Öffentlichkeit selbst zunehmend m i t öffentlichkeitsgeboten argumentiert und nach neuen juristischen Öffentlichkeitsinstrumenten und -verfahren gerufen wird. Das gilt für die demokratische Wahl, für das Presse-, Partei- und Verbandswesen. Seine Analysen legen hier den Finger auf manch wunden Punkt. Sie sind unverzichtbar für alle Versuche, von den grundgesetzlichen Publizitätsgeboten aus mehr Öffentlichkeit und damit mehr Kontrolle, Verantwortung und Vertrauen i n Bereiche und Zusammenhänge zu tragen, von denen Gefahren für die überkommenen öffentlichkeitsbezogenen Institute ausgehen und die damit der Öffentlichkeit der Verfassung Abbruch tun. Hierher gehört die Analyse des Wahlverhaltens der Bevölkerung (231 ff.). H. beschreibt dabei die „zum Zweck des Wahlvorgangs nur temporär hergestellte, nur vorübergehend mobilisierte Öffentlichkeit", die jene andere Öffentlichkeit der public relations zur Herrschaft bringe. Indes sollte nicht vom „Zerfall der Öffentlichkeit" gesprochen werden, weil es „zur genuin publizistischen Aufgabe der Parteien" werde, so etwas wie Öffentlichkeit periodisch überhaupt erst herzustellen (231). Denn es handelt sich u m eine neue, jetzt vor allem über öffentliche Aufgabenwahrnehmung durch die Parteien aktualisierte Öffentlichkeit. Sie ist ständiger Natur und nicht, wie das BVerfG i m Parteifinanzierungsurteil (E 20, 56) annimmt, ein punktuelles Plebiszit 2 5 . H. mißt hier die heutige Wirklichkeit an der Stimmabgabe der Privatleute i m 19. Jahrhundert, die „der Idee nach" (232) nur der abschließende A k t eines kontinuierlichen öffentlichen Streites von Argument und Gegenargument war. Dieses ideale Bild dürfte ebensowenig wirklichkeitstreu gewesen sein wie das pessimistische über die Gegenwart. Darum verliert das Wort (235) von der „wahlperiodischen Neuinszenierung einer politischen Öffentlichkeit" als „Zerfallsform" bürgerlicher Öffentlichkeit seine Uberzeugungskraft. Abgesehen davon gibt H. jedoch all jenen die besten Argumente, die den Parteien einen öffentlichen Status und eine öffentliche Aufgabe zusprechen, die i n öffentlicher Freiheit zu erfüllen ist. H.s Kunst zur „Realanalyse" bewährt sich i m Verbands- und Parteiwesen nicht minder (bes. 217 ff.), freilich um den Preis mancher dialek23 Dazu P. Häberle, JuS 1967, S. 64 (67 f.); Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozeß, 1968, S. 531.

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tischer Zuspitzung. Die Ergebnisse seien wenigstens angedeutet: Ziel der Verbände ist die Umwandlung privater Interessen vieler einzelner i n ein gemeinsames öff. Interesse; sie können die öff. Meinung manipulieren, ohne sich von ihr kontrollieren zu lassen; Repräsentation der Verbände ist Ausdruck ihres „Öffentlichkeitsanspruchs". Die Parteien deutet H. als Exponenten eines Systems von öffentlichen Verbänden (224), und er geht so weit, dem Abgeordneten „faktisch" von seiner Partei ein i m peratives Mandat zugewiesen zu sehen (224)2e — ohne A r t . 38 I GG auch nur zu befragen 27 . I n diesem skeptischen, durch die Verfassungswirklichkeit nicht bestätigten B i l d findet eine deutliche Abwertung des Kompromisses statt (224, s. auch 216 f.), als ob er nicht ein Kennzeichen pluralistischer Demokratien wäre. Immerhin kommt H. für Verbände wie Parteien zu Publizitätsforderungen (229), und zwar vom GG aus. Unbestechlich sind die Analysen, die die Verschränkung von Staat und Gesellschaft dartun (tendenzielle Verschränkung der öff. Sphäre m i t dem privaten Bereich, 157 ff.), doch sollte man auch hier mit der Wertung „Zerfall der Öffentlichkeit" zurückhaltend sein. H. kann hier Entsprechungsverhältnisse zwischen der staatlichen Intervention i n die gesellschaftliche Sphäre und der Übertragung öffentlicher Kompetenzen auf private Körperschaften feststellen, zwischen der Ausdehnung der öffentlichen Autorität über private Bereiche und dem gegenläufigen Prozeß einer Substitution staatlicher Gewalt durch gesellschaftliche (158). So läßt sich eine „repolitisierte Sozialsphäre" beobachten, i n der sich staatliche und gesellschaftliche Institutionen zu einem einzigen, „nach K r i terien des öffentlichen und des Privaten nicht länger mehr zu differenzierenden Funktionszusammenhang zusammenschließen" (164, s. auch 195 ff.). Damit und m i t den Worten „Publizierung des Privatrechts" (165) und „Privatisierung des öffentlichen Rechts" (167) ist der Boden für die neueren Bemühungen um ein „Gemeinrecht" aufbereitet 28 . Die Passagen über das Pressewesen sind von besonderer Aktualität i n einer Zeit, die ein Publizitätsgesetz für die Presse fordern muß — um der öffentlichen Freiheit willen. H. behandelt diese Entwicklungen unter dem Stichwort: „ V o m Journalismus schriftstellernder Privatleute zu den öffentlichen Dienstleistungen der Massenmedien — Werbung als Funktion der Öffentlichkeit" (199 ff.). Die betriebssoziologischen Aspekte des Strukturwandels der Presse, der Konzentrationsprozeß 29 , die Ge2e s. auch S. 223: Die Parteien sind Instrumente der Willensbildung, aber nicht in der Hand des Publikums, sondern derer, die den Parteiapparat bestimmen. 27 Zum Problem: BVerfGE 5, 85 (233 f.); Hesse, Grundzüge, a.a.O., S. 220 ff. 28 Bullinger y öffentliches Recht und Privatrecht, 1968. 29 Zum Problem: Löf fier, „Die Pressekonzentration bedroht die Pressefreiheit" in: ZRP 1 (1968), S. 12 ff.; Ehmke, in: FS für Arndt, MS, 1968; s. auch das symptomatische neue Wort von der „publizistischen Gewaltenteilung".

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fahr für die Autonomie des Redakteurs, die Privatisierung der Öffentlichkeit, das Einströmen privater Interessen i n die Öffentlichkeit, die i n ihr privilegiert zur Darstellung kommen („publizistische Selbstdarstellungen privilegierter Privatinteressen"), und die damit gegebene Tendenz zur „Refeudalisierung" der Öffentlichkeit: all das sind Phänomene, denen die Gesetzgebung trotz ihres öffentlichen Gemeinwohlauftrages bisher nicht und die Rechtsprechung nur in ihrem funktionellrechtlich eng begrenzten Rahmen und vor allem i m Blick auf Gefahren aus dem staatlichen Bereich begegnen 30 . Hier w i r d eine „private" Öffentlichkeit sichtbar, vor der die Öffentlichkeit als solche zu bewahren Sache der „institutionalisierten Öffentlichkeit", d. h. des Staates ist 3 1 . Verfassungsrechtliche Grundlage hierfür sind die aus „Republik", „Demokratie", sozialem Rechtsstaat sowie aus den Grundrechten zu entwikkelnden öffentlichkeits- (und Gemeinwohl-)Gebote.Um der Freiheit der Öffentlichkeit w i l l e n muß auch i n der res publica dem Staat das Monopol öffentlicher Gewalt (nicht das auf öff. Interessen) verbleiben — unbeschadet der angedeuteten Entstaatlichung des öffentlichen. Nur ist die Ausübung öffentlicher Gewalt durch den Staat durch Intensivierung des Öffentlichkeitsprinzips transparent zu machen. 2. Unüberhörbar sind indes die wertenden Akzente, die H.s Analysen begleiten. Die (Bei)Worte „Pseudo-", „Quasi-", „Schein-", „Des-", Zerund Verfall, Verlust, Destruktion, Auflösung, Entstellung sind häufig und nicht ohne Melodramatik. Solche (Ab-)Wertungen können aber nicht behutsam genug vorgenommen werden, wenn es zunächst einmal um die Bestandsaufnahme von historischen Wandlungen geht, die noch nicht per se Verfall zu sein brauchen. Jede „Entlarvung" heutiger W i r k lichkeit läuft Gefahr, ihre Maßstäbe von außerhalb zu holen — aus der (stilisierten) Geschichte, aus „reinen" Modellen, die es historisch vielleicht nie gegeben hat —, statt innerhalb der zugleich normgeprägten Wirklichkeit zu bleiben. Diese K r i t i k gilt für Aussagen wie: an Stelle der literarischen Öffentlichkeit trete der „pseudo-öffentliche oder scheinprivate Bereich des Kulturkonsums" (176, s. auch 178), die durch Massenmedien erzeugte Welt sei Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach (188) — ein Urteil, das zu undifferenziert w i r k t und das jedenfalls korrigiert werden muß durch einen Hinweis auf die durch das Fernsehurteil des BVerfG von 1961 (E 12, 205, 262) geforderte repräsentative Vertretung aller „gesellschaftlich relevanten" (d. h. i n der Öffentlichkeit wirksamen) Gruppen i m Rundfunk und das Verbot, diesen einer gesellschaftlichen 30 BVerfGE 10, 118 (121); 12, 113 (125 f.), 205 (260 ff.); 13, 54 (80); 15, 223 (225 f.); 20, 162 (176 f., 198). 31 Denn die legitimierende Kraft der Öffentlichkeit bildet nun einmal einen Anreiz für private Interessen, sich durch Manipulationen i. S. H.'s absolut zu setzen.

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Gruppe auszuliefern. Und: Läßt sich w i r k l i c h allgemein sagen, kritische Publizität werde durch manipulative verdrängt (195)32? A u f dieser Linie liegt es, daß für H. vieles (öffentlich) zu sein „scheint", was es aber i n Wahrheit nicht ist (ζ. B. 213, 188, 180, 232 f.). Doch ist ζ. B. keineswegs ausgemacht, ob öffentliche Meinung wirklich als „staatsrechtliche F i k t i o n " 3 3 gelten kann und man gar genötigt ist, an dieser institutionalisierten Fiktion (258) festzuhalten. Die Gegenwart kennt Gegenbeispiele („Fall" des Kieler Landtagsvizepräsidenten Schwinkowski), und die Rechtsprechung des BVerfG und B G H sucht Meinungs- und Pressefreiheit so zu interpretieren, daß freie öffentliche Meinung möglichst effekt i v werden kann. Öffentlichkeitsarbeit 34 der öff. Gewalt und der Parteien sowie der organisierten Interessen (215 f., 326 f.) ist Konsequenz demokratischer Öffentlichkeit im sozialen Rechtsstaat; sie verdient, i m Rahmen der Verfassung erfüllt, keine Zensur i m Namen „bürgerlicher" Öffentlichkeit. Endlich kann von der konsumkulturellen Entstellung der juridischen Öffentlichkeit (226) nicht die Rede sein: H. spricht von einer Verkehrung des kritischen Prinzips der Publizität, insofern an Stelle einer Kontrolle der Rechtsprechung durch die „versammelten Staatsbürger" die Präparation der gerichtlich verhandelten Vorgänge für die Massenkultur der versammelten Verbraucher trete. Gewiß gibt es i n der Berichterstattung über spektakuläre Strafverfahren Exzesse (gab es sie je nicht?). Das t r i f f t aber nicht den Kern heutiger demokratischer und rechtsstaatlicher Publizitätsgarantien im Gerichtsverfahren. H. übersieht die leisen, differenzierten Interpretationstechniken, die die Gerichte entwickelt haben, u m Öffentlichkeit i m juristischen Wertungs- und Entscheidungsvorgang wirksam werden zu lassen — sie beweisen, daß „Öffentlichkeit" juristisch weit weniger „passiv" ist, als vielfach angenommen wird, daß sie weit weniger „formal" ist, als die sie heute gerne denunziert w i r d 3 5 . Und er vergißt die guten Argumente, die heute jene Bestrebungen ins Feld führen können, die eine Publizität von Minderheitsvoten vorsehen wollen 3 6 . Kennzeichnend für H.s Denkstil ist denn auch seine brillante Kontrastarbeit. Etwa: Der i m öffentlichen Räsonnement ermittelte Konsens weiche dem nicht-öffentlich erstrittenen oder einf ach durchgesetzten Kompromiß (198), oder: einst habe Publizität gegen die Arkanpolitik der Mon32 s. aber S. 56, wonach der heutige Streit einer kritischen Publizität mit der zu manipulativen Zwecken veranstalteten offen ist, sowie S. 180, wo H. auch in der Gegenwart eine Tendenz zur Fortsetzung öff. Räsonnements sieht. 83 Dazu Forsthoff, in Festgabe für Schmitt (1968), I, S. 185 ff. (206 f.). 34 Dazu Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966, bes. S. 82 ff. 35 Zur normierenden Kraft der Öffentlichkeit meine oben Anm. 20 zit. Studie. 36 Dazu der Bericht vom 47. Dt. Juristentag in: NJW 1968, S. 2045 (2048 f.).

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archen durchgesetzt werden müssen, heute werde sie umgekehrt mit Hilfe einer Arkanpolitik der Interessenten durchgesetzt (220); Öffentlichkeit müsse „gemacht" werden, es gebe sie nicht mehr (220); während sich ihre Sphäre „immer großartiger" erweitere, werde ihre Funktion immer kraftloser (14). Die historische wie die gegenwärtige Wirklichkeit ist jedoch viel zu komplex, als daß sie sich auf derlei griffige Formeln bringen ließe. Deren besondere Gefahr besteht darin, daß sie zu Instrumenten werden können, die die i n überkommenen Instituten wie Rechtsstaat, Parlament, Gerichtsöffentlichkeit und Gesetz „angelegte" Publizität verdecken, statt sie i n einer den heutigen öffentlichen Herausforderungen gemäßen Weise intra Constitutionen zu aktualisieren und fortzuentwickeln. Freilich darf auch die andere Gefahr nicht verkannt werden: Wer „ n u r " von der normativen Verfassung ausgeht, kann allzuleicht die öffentlichkeitsdefizitären Entwicklungen in der Verfassungswirklichkeit übersehen. Diese hier nur zum Teil erwähnten Analysen haben das Modell der „bürgerlichen" Öffentlichkeit zum Hintergrund. Die Frage ist, ob sie als Typus zutreffend erfaßt ist und nicht zu positiv bewertet w i r d sowie ob ihre (Re-)Konstruktion und Stilisierung nicht vielmehr dazu verführt, vorschnell als „Zerfall" zu brandmarken, was i n Wahrheit — öffentlicher — Wandel ist. M i t anderen Worten: Ist H. von Verfall denken und kulturpessimistischen Zügen immer frei 3 7 ? Oder sind sie vielleicht gerade der Preis für seine scharfsichtigen Diagnosen? Ein kritischer Einwand muß hier H.s zentralen aber paradoxen Begriff der privaten Öffentlichkeit der „zum Publikum versammelten Privatleute" treffen — die keineswegs so homogen gewesen waren, wie H. glauben machen möchte 38 . Sie gleicht einem „Wechselbalg" 39 . I n Wirklichkeit handelt es sich damals wie heute um öffentliche Öffentlichkeit — weil es um den Bereich (und die Funktion) geht, i n dem i m M i t - und Gegeneinander ein Konsens und Kompromiß über pluralistische öffentliche Interessen hergestellt wird. H. selbst hat für diese Sicht durchaus die Schlüssel in der Hand: i n Gestalt seiner Deutung der Grundrechte i m liberalen Staat als einem Stück öffentlicher Ordnung 4 0 . H.s Öffentlichkeit ist also gar nicht so „privat", wie sie sich gibt. Es ist nicht einzusehen, warum er 37 Krit. auch H. J. Arndt, der Habermas' Öffentlichkeit allzusehr als liberal, präliberal und postliberal festgelegt sieht (a.a.O., S. 340 f., 342 f.); Scheuner, V V D S t R L 22 (1965), S. 25 Anm. 73. 3R S. 38 f., 41, 68, 141, 193, 243. S. 157: Bürgerliche Öffentlichkeit entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft, aber so, daß sie selbst Teil des privaten Bereichs bleibt. 39 Marcie , a.a.O., S. 184, 200. Marcic sieht heute die Möglichkeit, von der „privaten Öffentlichkeit" loszukommen, a.a.O., S. 203. 40 Siehe S. 244: Der liberale Staat will auch eine Gesamtrechtsordnung von Staat und Gesellschaft sichern. — S. 96: Grundrechtlich umschriebene Sphäre der Öffentlichkeit und ihrer Funktionen.

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geradezu unnachgiebig an dem Epitheton „privat" für die bürgerliche Öffentlichkeit festhält, die er damit aufspaltet, warum er die „öffentlich relevant gewordene Privatsphäre" (30, 38,164) nicht als öffentliche Sphäre qualifiziert. I m öffentlichen Räsonnement (63 ff., 117, 141) sind die „Privatleute" nicht mehr privat, sondern politisch. Die Sicherung ihres privaten Bereichs ist ein Korrelat ihres öffentlichen Wirkens, aber sie macht diese Öffentlichkeit nicht ihrerseits privat! Entgegen H. (100) hatte es der Bürger durchaus nötig, „zur Ausübung seiner öff. Rolle aus der privaten Existenz irgend herauszutreten". Die privaten Interessen des Bürgers konvergierten keineswegs „automatisch" i n dem gemeinsamen Interesse der Wahrung einer bürgerlichen Gesellschaft als Privatsphäre. Die Machtkämpfe der Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts um Öffentlichkeit und Gemeinwohl belegen das von Anfang an. I n dieser „Privatisierung" der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer widerspruchsvollen Konstituierung bei H. mag es begründet sein, weshalb er für die Gegenwart vor allem einmal zu Verfalldiagnosen kommt. Sieht man aber auch die bürgerliche Öffentlichkeit weit mehr öffentlich als privat — ihre Interessenkonflikte weit weniger harmonisch und nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt des „Marktes" —, so ergeben sich für die Probleme der heutigen sozialstaatlichen Öffentlichkeit von vornherein andere Perspektiven. Das öff. Räsonnement, das H. auf innerparteilicher und verbandsinterner Ebene zu Recht fordert (228 f., 252) — sei es vom Sozialstaatsgebot her, sei es i m Zeichen eines demokratischen Öffentlichkeitsgebots —, ist eine neue Form der Öffentlichkeit; diese ist genausowenig privat, wie bürgerliche Öffentlichkeit „privat" w a r — und sie soll es auch nicht sein 41 . I n der res publica gibt es keine private Öffentlichkeit in H.s Sinne. Er dürfte für das 19. Jahrhundert die Staat und Gesellschaft gemeinsame Öffentlichkeit (und ihre integrierende Kraft) zu gering bewerten, die sich über die von ihm selbst prägnant charakterisierte Öffentlichkeit als staatliches Organisations- und Verfahrensprinzip (86, 112, 196, 244), die öffentlich Gesetze beschließenden Volksvertretungen und die öffentlich rechtsprechenden Gerichte (96 f., 226 f.) herstellt. Durch diese Öffentlichkeit hindurch waren aber schon damals (wie heute) Staat und Gesellschaft einander vermittelt, mag es auch sonst zu schweren Konflikten zwischen der Öffentlichkeit der obrigkeitlichen „öffentlichen" (Arkan-)Gewalt und der bürgerlichen Öffentlichkeit gekommen sein. Wie so oft w i r d die Bedeutung des Trennungsdogmas Staat/Gesellschaft retrospektiv überbewertet 42 . 41

Siehe auch H. selbst für die Gegenwart: S. 164. Siehe S. 64: Die politische Aufgabe bürgerlicher Öffentlichkeit ist die Regelung der Zivilsozietät im Unterschied zur res publica. — H. distanziert den Bürger so weit vom Staat, daß er glaubt, auch den öff. Bereich noch privat halten zu müssen. 42

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Schon i m bürgerlichen Rechtsstaat dürfte es neben dem offenbar unvergleichlichen „öff. Räsonnement" nicht nur kritische, sondern auch demonstrative und manipulative Öffentlichkeit gegeben haben. Öffentlichkeit ist damals wie heute von plebiszitären Zügen nicht frei. M i t anderen Worten: H. hat seine Kategorie bürgerlicher Öffentlichkeit auf eine so „allgemeine" Stufe abstrahiert, obwohl sie eine individuelle Erscheinung war, daß es i h m schwerfällt, die heutige konkrete Öffentlichkeit sachangemessen zu behandeln. Insofern steht er i n einer Linie m i t den Staatsrechtslehrern der Gegenwart, die die juristischen Elemente des bürgerlichen Rechtsstaats so stilisieren, daß sie den sozialen Rechtsstaat auf Verf assungsebene nicht konstituieren können 4 3 . So kommt es, daß H. zwar einen scharfen Blick für die Gefährdungen heutiger Öffentlichkeit besitzt, daß er aber gegenüber den positiven, zum Teil neuen juristischen Instituten und Prozeduren, die Öffentlichkeit konstituieren sollen, „farbenblind" ist. Es ist symptomatisch, daß Theorie und Praxis der öffentlichen Hearings, die i n jüngster Zeit ein hoffnungsvoller Versuch sind, eine neue effektive Form von Öffentlichkeit i m Rahmen parlamentarischer Arbeit zu finden, i n den einschlägigen Passagen des Buches nicht hervorgehoben sind (S. 226 m. Anm. 71). Öffentlichkeit ist ein Stimulans für die (noch) nicht interessierte Öffentlichkeit, zur interessierten Öffentlichkeit zu werden! Auch sonst gibt es neue Öffentlichkeitsformen, die bereits juristisch greifbare Gestalt angenommen haben und Folge ζ. B. der Funktionswandlungen i m Verhältnis von Legislative und Exekutive, von Staat und Wirtschaft sind, so etwa i m Stabilitätsgesetz 44 . Das Planungs- und Raumordnungsrecht ist für solche neuen Publizitätsformen nicht minder ergiebig. Die Institute des Verfassungsstaates sind der Idee nach immer neue Versuche, Öffentlichkeit j u r i stisch wirklich zu machen.Und: „ i m " öffentlichen und seinen Korrelatbegriffen trägt die Verfassung die Voraussetzungen und Bahnen ihrer eigenen Fortbildung i n sich selbst, w i r d sie „geprägte Gestalt, die lebend sich entwickelt". Die öffentliche Verfassung ist insofern immer „unterwegs". Daß die juristischen Institute elastisch genug sind, um Wandlungen der Öffentlichkeit „aufzufangen", beweist die Entwicklung des Gesetzesbegriffs, soweit sie unter dem Stichwort Maßnahmegesetz beschrieben ist. Das Maßnahmegesetz zeichnet sich weder durch einen „öffentlichkeits43 Neuestens wieder Forsthoff, „Von der Staatsrechtswissenschaft zur Rechtsstaatswissenschaft" in: Studium Generale 21 (1968), S. 692 ff. — Habermas versäumt, das Problem der Öffentlichkeit von vornherein auch von der Demokratie her anzugehen. Die geschichtliche und soziologische Ausklammerung der Demokratie aus dem Problemfeld des öffentlichen (Ansätze nur S. 112, 239) ist ein Grund für die Einseitigkeit seiner bürgerlichen Öffentlichkeit. 44 Vom 8. Juni 1967, BGBl. I, S. 582: §§ 2, 3 Abs. 2, 9 Abs. 2, 12 Abs. 2, 17, 18.

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schwund" aus, noch ist bei ihm die Gemeinwohlkonkretisierung weniger gesichert als bei den sog. klassischen Gesetzen. Daß H. sich hier selbst unmittelbar i n die juristische Kontroverse begibt, erleichtert die Diskussion m i t ihm. Er stellt die auf ratio begründete Gesetzgebung i n einen Öffentlichkeitszusammenhang (der als solcher auch heute gar nicht ernst genug genommen werden kann). Das öffentlich bekanntgemachte Gesetz ist etwa bei Locke an einen common consent gebunden. Die Kriterien des Gesetzes — Generalität und Allgemeinheit — hatten für die bürgerliche Öffentlichkeit eine spezifische Evidenz (65 ff.). H. illustriert den Zerfall bürgerlicher Öffentlichkeit gerade an der Auflösung des klassischen Gesetzesbegriffs (196 ff., 216 ff.). Seine Thesen sind: Der (liberale) Zusammenhang von öff. Diskussion und Gesetzesnorm w i r d nicht länger beansprucht, der veränderten Struktur des Gesetzes ist anzusehen, daß dem Grundsatz der Publizität die Aufgabe einer Rationalisierung der politischen Herrschaft nicht mehr zugemutet wird, die Trennung von Staat und Gesellschaft w i r d durch den verteilenden Vorsorgestaat überwunden; es kommt zu Maßnahmegesetzen. Abgesehen davon, daß auch das 19. Jahrhundert eine Fülle von Maßnahmegesetzen kannte 4 5 , ist dem folgendes entgegenzuhalten: Das Maßnahmegesetz ist weder weniger „öffentlich" noch weniger gemeinwohlbezogen als das klassische Gesetz — das zeigt ζ. B. das wohl spektakulärste Maßnahmegesetz, das Investitionshilfegesetz 46 . Durch Kompromiß zwischen i n der Öffentlichkeit sich geltend machenden und konkurrierenden Interessen und getragen von einer bestimmten öffentlichen Meinung, kam es zu einem öffentlichen Gemeinwohlkonsens. Auch der Gemeinwohlgehalt dieses Gesetzes ist nicht per se geringer. Dogmatisch bedeutet dies: Das Maßnahmegesetz ist die sozialstaatliche Form des rechtsstaatlichen Gesetzesbegriffs 47 . Es ist nur eine neue Erscheinungsform der Idee, die früher die „Allgemeinheit" des Gesetzes forderte. Und es ist Ausdruck einer gewandelten, nicht einer „zerfallenden" Öffentlichkeit (wie eines gewandelten Gemein wohl Verständnisses), sofern man nur bereit ist, Öffentlichkeit auch wirklich als historische Kategorie zu nehmen 48 . Das ist ein Vorbehalt gegen alle Thesen, die vom Zerfall „der" Öffentlichkeit sprechen und damit durchaus unhistorisch eine konkrete Öffentlichkeit (die des 19. Jahrhunderts) verabsolutieren 49 . 45 Siehe K. Zeidler, Maßnahmegesetz und „klassisches" Gesetz, 1961, S. 77 ff., 135 ff. 46 Dazu BVerfGE 4, 7 (18 f., 20). 47 K. Huber, Maßnahmegesetz und Rechtsgesetz, 1963, S. 182. 48 So H. selbst, S. 7, der freilich diesen Ansatz nicht voll durchhält. — Marcic, a.a.O., S. 182 ff., unterscheidet verschiedene Entwicklungsstufen im Sinnwandel der Öffentlichkeit. 49 So ergibt sich auch ein spezifisches Bild für die Tarifautonomie der Sozialpartner. Daß sich die staatlich institutionalisierte Öffentlichkeit qua Gesetz-

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3. Sowenig H. nach all dem die Chance nutzt, die Öffentlichkeit des Rechtsstaatsprinzips der heutigen Wirklichkeit entsprechend zu aktivieren 5 0 — er ist viel zu sehr auf den bürgerlichen Rechtsstaat und dessen Öffentlichkeit fixiert, als ob die Verfassung ihn zementiert hätte—,so ergiebig ist sein Sozialstaatsverständnis unter dem Aspekt konstitutioneller und juristisch greifbarer Öffentlichkeit. Hier gelangt er zu sehr konkreten normativen Öffentlichkeitsansprüchen. Etwa i n dem Satz (228): Auch heute verpflichte die Verfassung des Sozialstaats als einer Massendemokratie die Tätigkeit der Staatsorgane zur Öffentlichkeit, damit ein permanenter Prozeß der Meinungs- und Willensbildung wenigstens als freiheitsverbürgendes Korrektiv an der Macht- und Herrschaftsausübung wirksam werden könne. Solche Öffentlichkeitsgebote sieht H. an Parteien, an öffentliche Verbände und an politisch effektive Massenmedien gerichtet — weil sie „staatsbezogen" agieren. Man w i r d i h m zustimmen müssen, wenn er feststellt, daß und wie sehr die heutigen Verhältnisse hinter diesen Anforderungen noch zurückgeblieben sind 5 1 . Dies ändert nichts daran, daß das Sozialstaatsprinzip ein verfassungsrechtlicher A n satz (unter anderen) für solche Öffentlichkeitsforderungen ist, die nicht nur rechtspolitische Relevanz haben, sondern auch normative K r a f t i n Interpretationsproblemen entfalten. Doch muß jedem Mißverständnis vorgebeugt werden, die Verfassung fordere „totale" Öffentlichkeit. Das GG ist i n seinem Gesamtzusammenhang auf Öffentlichkeit zu befragen. Gerade das w i l l oder kann H. nicht leisten. So ist es symptomatisch, daß er meist vom „Sozialstaat" spricht (242, 164, 215, 252 f., 264, 266) und nur selten vom „sozialen Rechtsstaat" (nur 244, 247 f., 252) — er verstellt sich damit den Weg, nach den öffentlichkeitsgeboten des sozialen Rechtsstaats i. S. des GG zu fragen, und zwar i n jener verfassungsnormativen Einheit, die Bachof und E. R. Huber diesem Begriff gegeben haben 52 . Statt dessen w i r d den Arbeiten von Abendroth und Ridder (247 f., 249 f., 228 f., 250 f.) über Öffentlichkeit und Sozialstaat der Vorzug gegeben, die den öffentlichkeitsgeboten gerade nicht jene „Mäßigung" geben, die grundgesetzlich geboten ist. A l l gebung hier heraushält (217, 166), ist nicht zu beklagen. Hier zeigen sich einmal mehr neue nicht-staatliche öff. Kompetenzen, die durchaus auf das Gemeinwohl (BVerfGE 18, 18 [27 f.]) verpflichtet sind. 50 Wegweisend, speziell für die Subventionsverwaltung, Hans F. Zacher, a.a.O., S. 308 355 ff., 358 ff.); s. auch Marcie, a.a.O., S. 182, 189. 51 Beispiel: Die verkümmerte Offenlegungspflicht (Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG) der polit. Parteien im Parteiengesetz von 1967 (§§ 23 ff.). Wenn das BVerfG (U. v. 3. 12. 1968, NJW 1969, 179 [183]) § 25 im Hinblick auf Art. 21 Abs. 1 S. 4, Art. 3 Abs. 1 GG insofern für nichtig erklärt, als es die Freigrenze von 200 000 D M für die Offenlegung von Spenden juristischer Personen für willkürlich hält im Vergleich zur 20 000 DM-Grenze bei natürlichen Personen, so macht es damit Öffentlichkeit juristisch effektiv. 52 VVDStRL 12 (1954), S. 37 ff. bzw. DÖV 1956, S. 200 ff.

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zuleicht droht hier das öffentliche alles Private i n seinen Sog zu ziehen 5 3 , ohne daß der reiche Farbenbogen normativ gesicherter, differenzierter Abstufungen und Zwischenformen zwischen öffentlich und privat erhalten bliebe. Private Freiheit ist Bedingung öffentlicher Freiheit i n dem Maße, wie etwa das geheime Wahlrecht Bedingung öffentlicher und freier Wahlen ist 5 4 . Insofern ist es gewiß kein Zufall, daß nicht durchweg deutlich ist, wann H. von der verfassungsrechtlichen Argumentationsebene in die soziologische überwechselt — der Ort der „Verfassungswirklichkeit" bleibt unklar (siehe etwa 246 f., 251, 266). Das Verhältnis der sozialstaatlichen Öffentlichkeit zur bürgerlichen Öffentlichkeit ist bei H. nicht ganz eindeutig. Er scheint zwischen der Charakterisierung heutiger Öffentlichkeitsstrukturen als bloßem Zerfall (ζ. B. 14, 158,193 ff., 252, 270 u. ö.) und als Wandel, als Stationen auf dem Weg zu neuen Publizitätsformen zu schwanken 55 . Bezeichnend ist, daß er für die bürgerliche Öffentlichkeit offenbar nicht ausdrücklich auf die Verfassung rekurriert. So selbstverständlich scheint sie i h m historisch zu sein. Der optimistische Zug, den seine sozialstaatliche Öffentlichkeit immerhin auch besitzt, w i r d bezeichnenderweise erst i n dem Augenblick erkennbar, als auf die Verfassung Bezug genommen ist (242 ff., 228 f.). Das geschieht gegen Ende des Buches, spät, aber entschlossen und recht plötzlich, nicht ohne inneren Bruch, als sich H. innegeworden sein mag, daß sein „Abwärtstrend" i h n letztlich an den Möglichkeiten der Gegenwart und ihrer spezifischen Öffentlichkeit vorbeiführen würde. H. spricht offen von der Öffentlichkeit des Sozialstaates, die als Zerfallsgestalt bürgerlicher Öffentlichkeit zwei miteinander i m Streit liegenden Öffentlichkeitsformen Raum gibt: der kritischen und der demonstrativen (252, 256). Dabei w i r d wohl übersehen, daß auch die bürgerliche Öffentlichkeit den Gefahren der manipulativen Öffentlichkeit ausgesetzt war und heute die kritische Öffentlichkeit auch über Demonstrationen wirksam werden kann 5 6 . Das beweist die Neubesinnung, die bei den Juristen über Recht und Grenzen öff. Demonstrationsfreiheit — eines besonders publizitätsbezogenen Grundrechts — einzusetzen beginnt — i m Sinne ihrer Verstärkung, w e i l es um öffentliche (Gemeinwohl) Dinge 53

Siehe aber auch H.'s Zitat von Bahrdt, S. 175. Es bedarf nicht nur der Konstituierung und Aktualisierung des öffentlichen, sondern auch seiner Begrenzung — von der Verfassung her (ζ. B. durch die „private Seite" der Grundrechte). 55 S. 242: „Transformation" des liberalen Rechtsstaats zum Sozialstaat; S. 244: Sozialstaat in „Fortsetzung" der Rechtstradition des liberalen Staates; s. auch S. 8. 56 Auch die öff. Demonstration organisierter Interessen ist positiv zu bewerten, entgegen H., S. 197 f.; siehe aber auch S. 218. — Grundlegend J. H. Kaiser, Repräsentation, a.a.O., passim. 54

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geht 57 . Hier zeigt sich, daß man am liberalen Modell bürgerlicher Öffentlichkeit und der von ihr zugelassenen und „bemessenen" Demonstrationsfreiheit nicht mehr festhalten kann. Das neue Verständnis dieser Grundrechte ist Paradigma dafür, daß Öffentlichkeit ihre Basis zugleich erweitern und intensivieren kann; gleiches gilt für manche Erscheinungsformen außerparlamentarischer Öffentlichkeit. Solche Phänomene bekommt H. gerade nicht i n den Griff (s. etwa 14, 225, 217, 198, 254). Z u mal hier hat die von ihm so sehr abgelehnte nur „temporäre" Öffentlichkeit (z.B. 242, 226, 194, 230) eine positive Funktion. Sie ist eine „aktive" Öffentlichkeit i n einem prägnanten Sinne des Wortes 5 8 . 4. Große Hilfe gibt H. bei Versuchen, sich über das öffentliche der öff. Interessen auch auf das öffentliche des Staates zu besinnen: Der Staat (als öffentliche Gewalt) verdankt das A t t r i b u t der Öffentlichkeit seiner Aufgabe, für das öffentliche, das gemeinsame Wohl aller Rechtsgenossen zu sorgen (11). Mag dieser Ansatz bei H. auch nicht weiter relevant werden, sieht er insbesondere nicht die Zusammengehörigkeit von öffentlichkeitsgeboten und Gemeinwohlgehalten der heutigen Verfassung, wichtig bleibt der Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und öffentlichen Interessen i n den historischen Passagen: etwa i n der Beobachtung (34), bürgerliche Öffentlichkeit entwickle sich i n dem Maße, i n dem das öff. Interesse an der privaten Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr nur von der Obrigkeit wahrgenommen, sondern von den Untertanen als i h r eigenes i n Betracht gezogen werde, i n der These (95), i m bürgerlichen Rechtsstaat solle eine politisch fungierende Öffentlichkeit „voluntas i n eine ratio überführen, die sich i n der öffentlichen Konkurrenz der privaten Argumente als der Konsensus über das i m allgemeinen Interesse praktisch Notwendige herstellt" (s. auch 100, 153 Anm. 142), oder i n der (überspitzten) Konfrontierung der liberalen Zeit (213), i n der auf der Basis des „allgemeinen Interesses" eine rationale Übereinstimmung öffentlich konkurrierender Meinungen zwanglos sich einspielen konnte, m i t der Gegenwart, i n der dieses allgemeine Interesse i n dem Maße geschwunden sei, in dem publizistische Selbstdarstellung privilegierter Privatinteressen es für sich adoptierten. Mögen hier auch i m Kontrastverfahren des Weiß-Schwarz ein wenig die „grauen" Z w i schentöne übersehen sein und Stilisierungen der bürgerlichen Zeit ein allgemeines öffentliches Interesse als Ideal postulieren, das so gewiß nie erreicht war. Bedeutsam bleibt der Gedanke, daß es über einen i n öffent57 Dazu etwa Denninger, „Demonstrationsfreiheit und Polizeigewalt" in: ZRP 1 (1968), S. 42 ff. — Das öffentlichkeitsbezogene Rechtsgut „öff. Verkehr" muß gegebenenfalls stärker hinter der öff. Funktion der Demonstrationsfreiheit zurücktreten als bisher. 58 Daher auch die besondere Form der Demonstrationsfreiheit aus aktuellem Anlaß, so daß spontane Versammlungen insoweit nicht anmeldepflichtig sein können.

IG V e r f a s s u n g

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lichkeit gewonnenen Konsens, i n den Privatinteressen „einströmen", zu öff. Interessen kommt 5 9 . M i t anderen Worten: Über öffentlichkeit gewinnt H. einen mehr oder weniger deutlichen Zusammenhang 60 all jener öffentlichkeits- (und gemeinwohl-)bezogenen Begriffe und Institute, die sich speziell i n der Wissenschaft vom öffentlichen Recht so sehr verselbständigt haben, daß ihr Epitheton „öffentlich" sachlich nichts Gemeinsames mehr zu bezeichnen scheint: öff. Interessen, öff. Gewalt, öff. Recht, öff. Aufgaben und öff. Meinung. I n diesem Sinne kann es nicht ernst genug genommen werden, daß H. von Öffentlichkeit retrospektiv als Organisationsprinzip für das Verfahren der Staatsorgane ζ. B. i n Gestalt der Publizität öffentlicher Parlamentsverhandlungen und der Gerichtsverfahren spricht (96 f., 86, 100) und vom Rechtsstaat als bürgerlichem sagt (94), er etabliere die politisch fungierende Öffentlichkeit als Staatsorgan, u m den Zusammenhang von Gesetz und öff. Meinung institutionell zu sichern. Denn damit w i r d der Staat wieder auf Öffentlichkeit zurückgeführt, ohne daß er diese für sich (und das öffentliche Wohl) wie zur Zeit des Absolutismus zum Monopol usurpieren dürfte 6 1 und das Arkanprinzip weiterhin durchsetzen könnte (64 f.). Für heute heißt das: Es gibt s t a a t liche und außerstaatliche (aber keine extrakonstitutionelle) Öffentlichkeit. Beide sind Erscheinungsformen der einen Öffentlichkeit der Verfassung und der durch sie konstituierten res publica 6 2 . Sie stehen sich gegenüber und sind zugleich vielfältig verbunden. Den Blick auf die eine Öffentlichkeit der res publica zu lenken fällt um so leichter, als das dualistische Trennungsschema Staat/Gesellschaft nicht mehr aufrechterhalten werden kann 6 3 . Für ein entsprechendes Grundrechtsverständnis gibt H. unverzichtbare Hilfestellung: nämlich allen Tendenzen, die die grundrechtliche Freiheit i n einen Öffentlichkeitsbezug rücken, ohne daß damit freilich ihr Inhalt erschöpft würde. Für diese Auslegung seien hier die Stichworte: grundrechtliche Freiheit als Konstituens öffentlicher Gesamtordnung, Grund59 s. auch H.'s Auffassung (225 f.) von der Relativierung der strukturellen Interessenkonflikte nach Maßgabe eines „erkennbaren Allgemeininteresses" — dieser Voraussetzung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit lasse sich heute „nicht mehr schlechthin ein utopischer Charakter vindizieren"; ferner S. 217: Ausgleich der Interessen untersteht dem liberalen Anspruch der Öffentlichkeit, sich am Allgemeinwohl zu legitimieren. 60 Wenn auch nur in der historischen Retrospektive, und das bezeichnet eine Grenze seines Buchs und eine Herausforderung. 61 Vgl. S. 21, 80; S. 28: öffentlich wird synonym mit staatlich. 62 Ansätze bei H., S. 14: Öffentlichkeit ist nach wie vor ein Organisationsprinzip unserer politischen Ordnung. 63 Dazu Bullinger, a.a.O., S. 73 f. Wichtig Marcie , a.a.O., S. 185, 187, 205 f., ohne daß dessen „präpositiver", ontologischer Ansatz hier geteilt würde (z. B. S. 196, 209, 157 ff.), s. auch meine Bemerkungen in: ZfP 12 (1965), S. 381 (386 f., 393).

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rechte als öffentliche Freiheit, Grundrechte als Gemeinwohlgüter gewählt. Die „öffentliche Seite und Funktion" einiger Grundrechte, insbesondere der Meinungs-und Pressefreiheit, w i r d i n der staatsrechtlichen Diskussion zunehmend bewußt (weniger die grundsätzliche Fragestellung). H.s Analysen liefern dazu insofern den soziologischen „Unterbau", als er schon von der Verfassung des liberalen Rechtsstaats meint (243), die grundrechtlich fixierte öffentliche Ordnung 6 4 habe die Privatrechtsordnung i n sich befaßt, liberale Menschenrechte und demokratische Bürgerrechte hätten wie die Privatrechtsordnung und die „grundrechtlich fixierte öffentliche Ordnung" überhaupt ursprünglich zusammengehört (244, 95 f.). Damit w i r d nicht nur die Fragwürdigkeit der einseitigen Konzeption der Grundrechte als bloßer Abwehrrechte offenkundig 6 5 , evident w i r d auch die Zusammengehörigkeit von „freiheitlich" und „öffentlich" — sie besteht schon i m Ansatz und von Verfassungs wegen. Sie zeigt sich nicht nur i m Grundrechtsbereich, sondern m i t besonderer Aktualität i n Status und Funktion der politischen Parteien. Durchweg kann dabei „Öffentlichkeit" keine zusätzliche Pflichtbindungen bedeuten — unter dem Stichwort der öffentlichen Aufgabe, ζ. B. der Presse, machen sich solche zuweilen zu Unrecht geltend 66 . Vielmehr hat die Einsicht i n den Öffentlichkeitsbezug der Freiheit allein den Sinn, die Freiheit (als Gemeinwohlgut) zu verstärken. IV. Verfassung als öffentlicher — und offener — Prozeß hat auch bei H. wie in der Gegenwart überhaupt eine Chance. Gerade sein Werk unter dem Gesichtspunkt „Öffentlichkeit und Verfassung" zu befragen, erweist sich zumal i m Blick auf die Sozialstaatsklausel als ergiebig — unbeschadet der angedeuteten verfassungstheoretischen Vorbehalte. Die Wirklichkeit der Verfassung ist die Wirklichkeit ihrer Öffentlichkeit und ihres — öffentlichen — Rechts. Die Geltungschancen einer Verfassung liegen i n ihrer Öffentlichkeit. „Normierende K r a f t " entfaltet Verfassung wesentlich als öffentliche Kraft — i m öffentlichen Bewußtsein und seinem Gemeinwohlkonsens. Ihre Inhalte und Prozeduren müssen optimal zum Gegenstand von Publizität werden. Ohne Publizität gibt es keine Verfassung. Und: Außerhalb der Verfassung gibt es keine Öffentlichkeit 6 7 . „Verfassungsklarheit" 68 ist i n dem Maße erreicht, in dem 64 s. auch E.-W. Böckenförde, „Der Stellvertreter-Fall" in: JuS 1966, S. 359 (361): Die Grundrechte gehören zu den Bestandteilen der öff. Ordnung. Ferner Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1968, S. 19. 65 Dazu meine Diss.: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 19 f., 70 ff. u. passim. 60 Krit. P. Schneider, a.a.O., S. 53. 07 In den verschiedensten Formen: über prozessuale Öffentlichkeitsgarantien — öffentliche Verfassung bewährt sich vor allem in öffentlichen Verfahren

κ;*

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V e r f a s s u n g i n diesem S i n n e ö f f e n t l i c h w i r d . A u f d e m „ U m w e g "

über

die ö f f e n t l i c h e V e r f a s s u n g w i r d aber auch der S t a a t (i. e. S.) i m R a h m e n d e r res p u b l i c a w i e d e r i n e i n e m sachlichen Sinne ö f f e n t l i c h — u n d z w a r seiner i n n e r e n S t r u k t u r n a c h 6 9 .

Nachtrag

z u „ Ö f f e n t l i c h k e i t u n d V e r f a s s u n g " ( N r . 7)

Habermas' M a r b u r g e r H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t i s t m i t t l e r w e i l e i n d e r 8. A u f l a g e erschienen (1976). Seine T h e m e n b e a r b e i t u n g h a t — i n e i n i g e r V e r z ö g e r u n g u n d nach d e n verfassungstheoretischen P i o n i e r a r b e i t e n z u m ö f f e n t l i c h e n (Smend u n d Hesse) 1 — auch d i e Verfassungsrechtswissenschaft b e e i n f l u ß t : i m ganzen 2 w i e i m e i n z e l n e n 3 . (zumal im Normbildungsprozeß), über öff. Interessen, über öff. Gemein wohlfunktionen einschl. der Rechtsprechung. 68 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 280. 69 Verfassung und Öffentlichkeit — das ist gerade heute auch eine Frage „guter" Verfassungspolitik. Es sind die Institute, Formen und vor allem (öff.) Verfahren eines due process zu entwickeln, die den Gefahren für die heutige Öffentlichkeit entgegenwirken und Scheinöffentlichkeit dort beseitigen, wo Öffentlichkeit gefordert ist. Das hat im Wege der Gesetzgebung zu geschehen, bezieht sich aber auf alle drei Staatsfunktionen als öff. Gemeinwohlfunktionen, zumal auf die funktionellrechtlich nicht mehr zu rechtfertigenden Rudimente der traditionellen A r k a n - ( = Geheim-)Verwaltung. — Einzelheiten vor allem zur Verfassungsinterpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung und Gemeinwohlkontretisierung in meiner oben Anm. 20 zit. Studie. — I m übrigen ist Öffentlichkeit ein wesentlicher, wenn auch nicht der einzige Schritt zum Gemeinwohl — es gibt öff. Ämter (Hennis), die um bestimmter öff. Interessen willen nicht-öffentlich arbeiten (müssen). — Öffentlichkeit u. Gemeinwohl ( = öff. Interessen) gehören heute — symptomatischerweise meist gleichzeitig — juristisch u. rechtspolitisch zu den vitalsten, sich allenthalben geltend machenden (Kampf-)Begriffen. — Angesichts der Verfassung als öff. Gemeinwohlordnung, als Kompetenzordnung öff. Gemeinwohlaufgaben, sollten es sich polit. Oppositionsparteien geradezu zum Programm machen, Öffentlichkeit zu schaffen. — Jüngste Beisp. neuer Öffentlichkeitsformen: die geplante Publizität f. die Lobby-Liste (Veröff. im Bundesanzeiger), vgl. Der Spiegel Nr. 1/2 v. 6. 1. 1969, S. 27; zum E. eines G. über die Rechnungslegung von Großunternehmen (BT-Drucks. V 3197) als „Publizitätsgesetz" vgl. Zundel, ZRP 1 (1968), S. 70 f. So deutet manches darauf hin, daß der demokratische Gesetzgeber, selbst die öff. Funktion, „Öffentlichkeit" entdeckt u. zu seiner Sache macht, s. zuletzt das nordrh.-westf. „Modell für ein neues Petitionsrecht" (FAZ v. 7. 2. 1969, S. 4) : Zutrittsrechte des Petitionsausschusses zu den Behörden der Landesregierung u. der Verwaltung. Die Verwaltung wird auf diesem Weg stärker „öffentlich"! 1

Smend, in: Ged.-Schrift für W. Jellinek, 1955, S. 11 ff.; Hesse, V V D S t R L 17 (1959), S. 11 (41 ff.). 2 ζ. B. Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, 1971, z. B. S. 264 f. (dazu meine Bespr. JZ 1974, S. 38 f.); H.-P. Schneider, Die Parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der BR Deutschland I, 1974, ζ. B. S. 174 f. 3 Vgl. auch meinen Beitrag: „Struktur und Funktion der Öffentlichkeit im demokratischen Staat", in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 3 - 3 3 sowie die Besprechungen der Bücher von U. K. Preuß (in: AöR 95 [1970], S. 651 ff.) und H. Weber (in: AöR 94 [1969], S. 643 ff.).

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Das Schrifttum zu „Öffentlichkeit" in den übrigen Rechtsgebieten ist kaum mehr zu überblicken 4 . Mag auch die allgemeine „Öffentlichkeitseuphorie" Ende der 60er Jahre und der beginnenden 70er Jahre manchen Dämpfer erhalten haben, mag manche „Spiegel"-Öffentlichkeit auch fragwürdig sein, pluralistische Öffentlichkeit bleibt i n einer Republik konstituierend — sofern das Private, die Privatheit von einer entsprechend angelegten (staats- und gesellschaftsabwehrenden) Grundrechtstheorie her begrenzend und stützend (!) ebenfalls garantiert ist (konstitutioneller Privatheitsschutz). Heute deutet vieles darauf hin, daß als Korrelat zum konstitutionell öffentlichen eine grundgesetzliche Theorie des Privaten zu entwickeln ist 5 . Die zuletzt angemahnte verfassungsstaatliche Theorie des „Privaten" ist nach wie vor ein Desiderat der Forschung (vgl. aus der Rechtsprechung des BVerfG zuletzt: E 90, 145 (171); 255 (259 ff.)). Auch das Grundrecht auf „informationelle Selbstbestimmung" (BVerfGE 65, 1; 84, 192 (194 f.)) hat sie bislang nicht mit sich gebracht (aus der Lit.: G. Gross, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . .., AöR 113 (1988), S. 161 ff. — Rechtsvergleichend aufschlußreich: W. Brugger, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre in den Vereinigten Staaten von Amerika, AöR 108 (1983), S. 25 ff.). M. E. bleibt es beim inneren Zusammenhang zwischen „Öffentlichkeit und Verfassung" 6 — sofern er durch den verfassungsrechtlichen Privatheitsschutz balanciert ist. Alle „Verfassungsentwicklung" geschieht i n der formal geschützten und materiell gelebten Sphäre des Öffentlichen. Die vergleichende Verfassungslehre unserer Tage kann sich auch auf Textstufenentwicklungen berufen: einerseits mehren sich textliche Garantien des Privatheitsschutzes (wozu z. B. Datenschutzbeauftragte, vgl. Art. 74 Verf. Brandenburg von 1992, gehören). Andererseits schaffen Auskunftsrechte z. B. i n Bezug auf Umweltdaten in neueren Verfassungen i m Ergebnis mehr Öffentlichkeit (vgl. Art. 33 Verf. Thüringen von 1993). Auch das neue konstitutionelle Parlamentsrecht in den Verfassungen der neuen Bundesländer strebt nach mehr „Öffentlichkeit" (z. B. Art. 49 Abs. 1 und 2, 54 Abs. 4 Verf. Sachsen von 1992). 4

Vgl. zuletzt Rittner, Publizitätsprobleme bei der Zusammenschlußkontrolle, in: FS für von Caemmerer, 1978, S. 623 ff.; für den Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen s. Schiaich, in: HdbStKirchR Bd. 2 (1975), S. 231 ff., für die Gerichtsverfahren Stürner, JZ 1978, S. 161 ff. * Dazu meine Überlegungen zu Riipke, Der verfassungsrechtliche Schutz der Privatheit, 1976, in: Schmitt Claeser (Hrsg.), FS Boorberg Verlag, 1976, S. 47 (76 Anm. 125) sowie der Freiburger Gastvortrag (Nr. 4), zuvor die Besprechung des Buches von Dagtoglou, in: AöR 90 (1965), S. 381 ff. (bes. S. 384ff.). β Eine Auseinandersetzung mit den Thesen der Verf.: M. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung . . 1995, S. 86 ff., 120.

8. Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische „Gesellschaftelehre"?* Zu Ernst Forsthoff: Der Staat der Industriegesellschaft* I. M i t diesem Buch zieht E. Forsthoff in stilistischer Meisterschaft die Summe aus früheren Arbeiten 1 . Es handelt sich um ein „Spätwerk", vergleichbar manchen Schöpfungen der Kunst. F. gelingen Formulierungen von erregender Polemik und großer Durchschlagskraft, um die i h n jeder politische Schriftsteller beneiden muß: ich nenne die These, die Rundfunkanstalten seien „Nisthöhlen für Cliquen" (156), die K r i t i k an der Vorstellung von der Verfassung als „juristischem Weltenei, aus dem alles hervorgeht" (144). Erkenntnisse und Bekenntnisse sind vielfach eng miteinander verknüpft. Zugleich schafft F. Kompositionen von großer Dichte. Der Reichtum der Bezüge ist enorm — fast i n jedem Nebensatz verbirgt sich eine staatstheoretische These, eine verfassungsgeschichtliche Reprise, mindestens aber ein Bonmot. — Fast alle Veröffentlichungen F.s haben ein „Rauschen i m Blätterwald" ausgelöst: seine Entdeckung der „Daseinsvorsorge", des „Maßnahmengesetzes" oder seine These von der Verunsicherung des Verfassungsrechts durch das werthierarchische Grundrechtsdenken. Die vorliegende Schrift — an der sich wieder die Geister scheiden2 — läßt nur eine differenzierte Stellungnahme zu 3 . Zum Ethos der Schrift gehören die Freiheit der Person und die Humanität (z. B. 25, 28 f., 168 f.). Man mag M. Proust variieren und sagen, F. habe sich auf die Suche nach dem verlorenen Staat begeben, ihn aber nicht wiedergefunden, sondern eine neue Wirklichkeit von „Staat" entdeckt. Sie veranlaßt ihn freilich nicht, seine Kategorien und Leitbilder von Staat* Z H R 136 (1972), S. 425 - 446 mit Nachtrag (1978). * Becksche Schwarze Reihe, Bd. 77. C. H. Beck, München, 1971. 169 S. 1 Vgl. vor allem: Rechtsstaat im Wandel, 1964: Epirrhosis, Festgabe f. C. Schmitt, 1968,1 S. 185 ff.; Der Staat 9 (1970), 145 ff. 2 Besprechungen durch: v. Simson, in: Der Staat 11 (1972), 51 ff.; Seifert, KJ 1972, 120 ff.; A. Gehlen, in: Die Welt v. 27. 2. 1971 S. I I I . ; s. auch Ridder, Epirrhosis, in N P L 1971, 317 ff., bes. 333; Quaritsch, NJW 1972, 1359 f. 3 Jede pauschale Kennzeichnung ζ. B. als „konservativ", „etatistisch", „19. Jahrhundert!" usw. würde ihr nicht gerecht. F. hat z.B. keine typisch konservativen Affekte gegen die Industriegesellschaft als solche, s. aber seine Kritik an der Ablehnung der liberalen Freiheit des 19. Jahrhunderts als „progressive Attitüde" (69).

8. Retrospektive Staatsrechtslehre?

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lichkeit zu revidieren, „umzudenken", etwa i n Richtung auf ein politisch organisiertes Gemeinwesen 4 . Vielmehr verlagert er sein Staatsverständnis ζ. T. i n die Industriegesellschaft (d. h. weithin die Wirtschaft), die der „harte Kern" (164 f.) dieses neuen (?) Staates sei. F. konstruiert den heutigen Staat der BRD von der Gesellschaft her 5 : Er w i r d von ihrer Stabilität abhängig 6 . Darum handelt es sich nicht um eine neue Variante der Verfalltheorie, der ζ. B. Habermas nicht ganz entgangen ist 7 . Denn auf dem Umweg über die Industriegesellschaft führt F. „staatliche" Momente i n die BR Deutschland ein, die in ihr der Staat originär und unmittelbar nicht mehr besitzt. Anders formuliert: (neue) Staatlichkeit (ζ. B. Stabilität) wächst dem Staat nicht aus der ihn konstituierenden Verfassung zu, nicht aus der — i m Abbau befindlichen — Tradition, sondern aus der I n dustriegesellschaft und ihren Realitäten. II. 1. Der Staatsbegriff Kennzeichnend ist F.s Argumentation von bestimmten spätkonstitutionellen Staatlichkeitselementen her, die unvermittelt m i t der modernen Entwicklung konfrontiert werden. Sein Denken vom souveränen Staat als „politischem" autoritativem Entscheidungszentrum her beklagt die heutige Verkürzung des Staates zum „introvertierten Rechtsstaat". I m Vordergrund steht eine Negativbilanz: der Staat „verliert"; er ist ineffizienter, unpolitischer (ohne Ernstfall, 59 f.), unsicher geworden, er muß sich seine Macht und Stabilität von der Industriegesellschaft und ihren organisierten Interessen entlehnen. Ohne Souveränität, findet er keinen sittlich legitimierten Gehorsam mehr. Seine Autorität ist i n Frage gestellt, die Rechtssicherheit bedroht. Allgemeine Interessen werden oft nicht wahrgenommen, da dem Staat die Entscheidung über das Gemeinwohl genommen ist. Er verkümmert zum Rechtsstaat. Während sich die Rechtsprechung, insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit, über das Wertdenken als Gewalt „emanzipiert" 8 , erfüllt die Verwaltung durchweg „fremdgesetzte" Aufgaben. Sie weitet sich aus, ohne der Staatlichkeit etwas „einzubringen" (109). Sie ist weitaus mehr reaktiv als 4 Von F. selbst formuliert (25). Allgemein dazu Ehmke, in: Festgabe für Smend, 1962, 23 (44 ff.); Ρ. Häberle, ZfP 12 (1965), 381 ff. 5 Kritisch zum Denken von der Gesellschaft her: Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, 1961, 52 ff. 6 57: Seine (des Staates) Stabilität ist der Industriegesellschaft entlehnt, s. auch 47. 7 Dazu meine Kritik: Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), 273 ff. 8 Die Frage ist, an welchen „Einbruchsteilen" politische Wertungen in der Rechtsprechung des BVerfG sichtbar werden: etwa beim Gleichheitssatz, bei der Pressefreiheit (Politik durch Verfassungsinterpretation).

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aktiv und hat ihre führende Stellung der Gesellschaft gegenüber verloren (113)9. Damit geht einher eine Zerstörung der Beam ten Verhältnisse. Die Kategorien von Hoheit und Herrschaft schwinden dahin (pluralistische Auflösung der Staatsgewalt). Es entstehen Kooperationsformen. „Entscheidungen" werden selten oder unmöglich. Die politische Funktion des Parlamentes ist zugunsten einer „Vermarktung von Interessen" mehr oder weniger verabschiedet (103)10. Gesetzgebung als parlamentarische Aufgabe w i r d ins Fachmännische denaturiert. Die Gesellschaft besetzt den durch die rechtsstaatliche Verfassung gefesselten Staat. Institutionalisierungen von Freiheit führen zu neuen Privilegien. Als Sozialstaat (soziale Umverteilung und Daseinsvorsorge) hat sich jedoch ein abgeschlossenes Ganzes neben der Verfassung aufgebaut. Insgesamt ist der überkommene Staat der archimedische Fixpunkt für die Bewertung aller Entwicklungen. Wer „gewinnt" aus diesem Vorgang? Die Gesellschaft, die nicht nur bloßes Objekt des Staates ist (war sie es je?). Für F. sind die soziale und technische Realisation Schlüsselvorgänge: Zur „sozialen Realisation" gehören alle Bestrebungen, die darauf gerichtet sind, die öffentlichen Zustände unter sozialen Gesichtspunkten zu verändern (31). Überraschend ist die These, die soziale Realisation sei i n der BR Deutschland zu einem „gewissen Abschluß" gekommen (in der Sozialversicherung, i m Arbeitsrecht und i n den Formen der sozialen Umverteilung) 1 1 . Die Ausprägung des Sozialstaats sei dementsprechend „abgeschlossen" (32 f.). Dem ist entgegenzuhalten: Solange es sozialen Wandel und Innovation gibt, w i r d soziale Realisation nicht aufhören. Der Staat ist i n diesem Bereich nicht vollendet, wichtige Aufgaben liegen vor ihm. Die dank der Freiheit des einzelnen offene Geschichte läßt die Zementierung eines sozialen status quo auch faktisch schwerlich zu. Für das GG stehen i n der „Dialektik des sozialen Rechtsstaats" soziale Forderungen auf der Tagesordnung 12 . Das Stichwort ist: „soziale Grundrechtsgerechtigkeit" 13 , der es um reale Freiheit geht, die Freiheit und Gleichheit ernst zu nehmen sucht. Damit w i r d einem realistischen Verständnis des sozialen Ganzen das Wort geredet. Wo der (Verfassungs-) 9 Ein neues positives Bild der Verwaltung etwa i. S. „pluralistischer Verwaltung" (dazu P. Häberle, öff. Interesse als juristisches Problem, 1970, 457 u. ö.) wird nicht entworfen. 10 Das „Interesse" erhält hier vor dem Hintergrund eines staatlichen Gemeinwohlbegriffs ein negatives Moment; s. auch die Bemerkungen zur „Vorabbefriedigung" von Interessen durch die regierende Mehrheit. 92 f. 11 Hier wird F. zum Konservativen! 12 Man denke an Humanisierung der Leistungsgesellschaft (ζ. B. flexible Altersgrenze, Volksrente), an Vermögens(um)verteilung (Investivlohn, Steuerreform usw.), „Disziplinierung" des wirtschaftlichen Wachstums, an Chancengleichheit, im (Aus-)Weiterbildungswesen nach Maßgabe von Begabung, Leistung und Bedarf, an überbetriebliche Lehrlingsausbildung usw. 13 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), 43 ff.

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Jurist das Ende einer Entwicklung postuliert und in einem System dogmatisiert, besteht die Gefahr, daß ihm die Entwicklung entgleitet. Selbst der Rechtsstaat ist kein „abgeschlossenes" Ganzes; neue Gefahren verlangen neue Sicherungen (etwa i m Grundrechtsbereich). M. a. W.: der soziale Rechtsstaat ist in seinen beiden Bestandteilen offen und wandelbar 1 4 . Die soziale Realisation (nicht erst die technische) hat den „Staat" wesentlich verändert und sie w i r d ihn weiter ändern. Eine neue, positive Möglichkeit für den Staat sieht F. i n der „technischen Realisation"; sie allein w i r d zum „Motor" der Veränderungen. Der technische Trend w i r d zur stärksten innenpolitischen Potenz (33 f., 39: Präzedenzlosigkeit der modernen Technik). Es geht F. darum, den Staat um der Humanität willen i n die Verantwortung zu rufen, um dem sich um seiner selbst willen produzierenden technischen Prozeß Schranken zu setzen. Der Staat als Ausdruck und Hüter einer konkreten politischen Ordnung außertechnischer Provenienz bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen die technische Realisation abläuft 1 5 . Da F. die soziale Realisation „abgeschlossen" sieht und nur die technische detailliert beschreibt, bleiben viele konkrete sozial- und wirtschaftspolitische Fragen 1 6 im Schatten („sozialethische Unterbilanz"). Die Fixierung auf die Technik geht zu Lasten der Erkenntnis sozialer Inhalte und Prozesse als Aufgaben von Staat und Gesellschaft. Einer (vermeintlichen) Statik der sozialen Verhältnisse selbst w i r d die Dynamik der technischen Realisation gegenübergestellt. Entgegen F. hat der Staat sich heute immer neu in der sozialen wie in der technischen Realisation zu legitimieren. Und: die technische Realisation selbst w i r d zu einem Problem der sozialen Realisation! F.s Souveränitätsbegriff ist auf die Organsouveränität fixiert 17. Unklar bleibt, warum der Souveränitätsbegriff Bodins (14) i m heutigen Verfassungsstaat der richtige sein soll. Die Souveränitätsfrage ist auf ein Organ hin falsch gestellt: es geht um ein vielfältiges Zusammenspiel verschiedener Organe und Kompetenzen in Verfahren. Souveränität ist weder mehr eine „höchste" noch eine „fortdauernde" Gewalt — ein 14

Beispiel: die Ausformungen eines status activus processualis (ebd.). Daneben unterscheidet F. die Modelle (42 ff.) : Der Staat identifiziert sich mit der Technik (Beisp. Sowjetunion; die USA haben sich auf zwei Gebieten mit der Technik identifiziert: Kernspaltung und Raumfahrt) oder er läßt der technischen Entwicklung freien Lauf (Staatlichkeit als Komplementärfunktionen der Industriegesellschaft). 16 Unter Grundrechtsaspekten bedeuten die Pläne der Bundesregierung zur überbetrieblichen Vermögensbildung (FR v. 22. 6. 1971 S. 1,5) „Förderung" der Art. 12 und 14 GG. Siehe noch Fetscher, in: Demokratisches System und politische Praxis in der BRD, 1971, 55 (66): „Zwischen der Eigentumsordnung und der Eigentumsverteilung in der bundesdeutschen Gesellschaft und der politischen Verfassung der Demokratie besteht eine Spannung." 17 Kritisch zu ihr zuletzt Herzog, Allg. Staatslehre, 1971, 238 ff. 15

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Wandel, der entgegen F. (158) nicht zu bedauern ist. Sie ist i m Verfassungsstaat kein außerrechtlicher Begriff und darf nicht zum außerrechtlichen Problem werden 1 8 . Bei F. scheint über die Souveränität (i. S. Bodins) das Außerrechtliche, Machtpolitische durchzuschlagen 19 . Realitätsbezüge machen Rechtsbegriffe indes noch nicht zu außerrechtlichen oder Gegen-Rechtsbegriffen! Wo Dogmatisierungen rechtliche Begriffe versteinern lassen, sprengt die übermächtige Wirklichkeit den Rechtsbegriff. F.s StaatsbegriU — durch einen hohen Abstraktionsgrad gekennzeichnet und nicht durch die Verfassung individualisiert — ist über die Souveränität und die sie kennzeichnende Verbindung m i t der Vernunft (12) selbst ein Stück Vernunft. Staat ist die organisierte Instanz des konkret Allgemeinen 2 0 . Warum indes sollte sich das „konkret Allgemeine" nur auf den Staat radizieren lassen? F.s Staat ist durch seine Suprematie über die Gesellschaft definiert (74). Indem der Staat dem Geist und der Sittlichkeit zugehörig (51) 21 angesehen wird, zeigt sich eine fragwürdige idealistische Staatsüberhöhung: Der Staat ist jedoch keine sittliche Persönlichkeit! I n F.s Staatsbegriff ist die rechtsstaatliche Seite nur ein die Staatlichkeit umkleidender äußerer „Mantel" (71, 105), sie gehört nicht zur Substanz des Staates. Das zeigt sich an dem ζ. T. pejorativen, ironisierenden Akzent, der dem „Rechtsstaat" immer wieder verliehen w i r d 2 2 . Doch ist es gerade der Rechtsstaat, der — begrenzte — Macht verleiht; die A n t i these von Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit h i l f t nicht weiter. Die Macht des Rechts bleibt verdeckt durch eine Macht der Macht. I n der Verfassung ist ein Minimum an konstituierenden sachlichen Aussagen 23 erkennbar, in deren Dienst der Staat — und nicht nur er: i n einer Demokratie auch der Bürger! — gestellt wird. Staatlichkeit verwirklicht sich nicht i m Gegenüber zum Bürger. Jenseits der Vernunft der Bürger gibt es keine Vernunft „des" Staates. Es gibt keine „Staatswahrheiten". Der Staat hat nur soviel moralische K r a f t wie seine Bürger. 18

Dazu P. Häberle, AöR 92 (1967), 258 (268 ff.). S. 14: „Indem man den Souveränitätsbegriff von den Machtverhältnissen löste, entkernte man ihn und machte ihn zum pseudorechtsstaatlichen Spielmaterial". 12: Souveränität als alleinige Befugnis der Definition von Recht und Unrecht. 81: Aufhebung der „inneren Souveränität" durch Notwendigkeit der Daseinsvorsorge und Umverteilung. 20 S. 30, 109, 159. 21 „Geistig-sittliche Selbstdarstellung", s. seine Kritik an den sterilen Antithesen von Staat und Geist, Recht und Sittlichkeit (53). 22 S. 46: „eine zur Rechtsstaatswissenschaft zusammengeschrumpfte Staatsrechtswissenschaft, die in normativen Gehäusen ihr Wesen treibt", 106: „rechtsstaatliche Kuratel." Auf S. 145 f. wird die rechtsstaatliche Verfassung auf die alleinige (!) Aufgabe der Garantie gesetzlicher Freiheit reduziert. 23 I m Rahmen eines Maximums an Verfahren. 19

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Staatsbürgerlicher Unterricht muß heute „Verfassungsunterricht" sein. Verfassungsbewußtsein bildet sich nur auf Dauer 24 . Nach F. ist die geistig-sittliche Selbstdarstellung des Staates nicht eine Sache der bloßen Wissensübermittlung an die Bürger (55). Ist indes nicht solche Information das Wesentliche? Sollen dem Staat, der sich doch rational begründen muß, etwa irrationale Affekte entgegengebracht werden? Erinnert sei an das Wort von Bundespräsident G. Heinemann, er liebe seine Frau und nicht den Staat. Es geht um ein sachliches und weniger moralisches Verhältnis zum Staat. F. sieht freilich i m Staat etwas anderes als bcgrifflich-normative Aussagen, die i n dessen Verfassung enthalten sind (55). Hier rächt sich die extra-konstitutionelle Sicht von Staatlichkeit — es geht doch um Staatlichkeit nach Maßgabe des GG! Staatsräson ist heute Verfassungsräson (A. Arndt) 25' 26. Der Planung gilt ein eigener Abschnitt (115 ff.), in dem F. zwei Beispiele herausgreift: Bildungs- und Raumplanung: i n der ersten schreibt er dem Staat eine passive Rolle zu, er w i r d zum Gesellschaftsstaat 27 » 28 . Gewiß t r i f f t der Staat in der Bildungsplanung keine wirklichkeitsfreie Entscheidung — das ist i h m nach dem GG verwehrt, wohl aber gestaltet auch er aktiv, indem er steuert und Prioritäten setzt; Planung w i r d als „Planmäßigkeit" staatlichen Handelns (BVerfGE 27, 1, 7) das Signum des Verfassungsstaates. F. trübt sich bei der Beurteilung der Bildungsplanung durch sein „staatliches" Vor-Urteil den Blick für die tatsächliche Entwicklung und die positive Grund rechtsrelevanz der Planung, zumal die Grundrechte als „Freiheitsreservate" keine Affinität zur Planung haben können. Anders seine Sicht der Raumplanung, bei welcher 24 Vgl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, 128. — „Staatsmüdigkeit" darf nicht zur „Verfassungsmüdigkeit" werden. 25 F.s Klage über das gebrochene Verhältnis des deutschen Volkes zur Staatlichkeit (54) ist irrelevant: es geht heute politisch nur um die konsequente Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit: nach „links" wie nach „rechts". 28 Immer wieder betont F. die „Autorität" des Staates, die heute in Frage gestellt ist (z.B. 105 f., 117, 130 f.). Autorität ist nicht identisch mit „autoritär", und gewiß kommt auch eine freiheitliche Demokratie ohne auetoritas nicht aus. Aber es sollte sich um die auetoritas einer nicht an sich seienden Staatlichkeit handeln: um die Autorität des freiheitlichen sozialen Rechtsstaates. Sie muß demokratisch begründet sein und sich ζ. B. in der Auseinandersetzung mit dem Terror (163) bewähren. 27 F. gebraucht diesen Ausdruck nicht. 28 „Die Bildungsplanung ist nicht das Ergebnis einer Entscheidung, sondern die Resultante hingenommener Gegebenheiten" (116), eine Vokabel, die F. auch sonst gerne verwendet. Zur Gestaltungsfunktion des Staates im Bildungsbereich aber: H. Maier, SZ-Interview v. März 1971. Die These, die staatliche Bildungspolitik sei nicht mehr als eine Ausbildungspolitik nach Maßgabe des Bedarfs der Industriegesellschaft, widerspricht dem empirischen Befund (Überangebot an Soziologen, Politologen) und Art. 12 GG als sozialem Maßgaberecht auf individuelle Ausbildung (dazu Ρ. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), 43 ff.

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er dem Staat bzw. der Verwirklichung der Raumordnungsgesetze die Chance zubilligt, den industriell-technischen Prozeß unter eine gewisse Kontrolle zu stellen (118). Freilich denkt er primär an Konflikte zwischen dem Staat und den gesellschaftlichen Mächten, an die Machtprobe zwischen dem öffentlichen und dem partikularen Interesse. Wie sehr Raumplanung grundrechtseffektivierende Gemeinschaftsaufgabe von Leistungsstaat und -gesellschaft wird, bleibt außer Betracht. Gleichwohl ist der i m Vergleich zur Bildungsplanung optimistische Grundzug bemerkenswert — vielleicht weil Raumordnung eine neue — öffentliche — Gemeinwohlaufgabe ist, bei der das traditionelle und „ideelle" Staatsb i l d nichts präjudiziert 2 9 ? Speziell beim Umweltschutz ist evident, daß sich Staat und Wirtschaft letztlich am gleichen Gemeinwohl zu orientieren haben; dasselbe gilt für die Forschungspolitik (kein Wachstum ohne die notwendige Reformpolitik und umgekehrt). Die Apologie einer (geschlossenen) Staatlichkeit, der die Auflösung droht, ist auch Hintergrund der Angriffe, die F. gegen die Rechtsprechung unter dem Motto richtet: „Emanzipation der Justiz aus dem Gesamt der staatlichen Funktion" (127) — in Wirklichkeit emanzipiert sich die Justiz aus der Staatlichkeit und integriert sich i n die Verfassung 80 ! Hinter F.s K r i t i k an der verfassungsrechtlichen Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (137 ff.) steht ebenfalls eine „staatliche" Option (mag sie sich auch als Sorge um „Rechtssicherheit" geltend machen): denn die Bindung allen staatlichen Handelns an dieses Prinzip bringt dem Bürger größeren Freiheitsschutz 31 ! Die sich emanzipierende 29

„Planung und Verfassung" ist ein Thema, bei dem die Chance besteht, Staat und Gesellschaft über „Gemeinschaftsaufgaben" differenziert zusammenzuführen. Planungs- und Wohlstandskompetenzen werden wichtiger als Notstandskompetenzen. Von ihrer Konstituierung und Kontrolle hängt ζ. T. die Glaubwürdigkeit des Verfassungsstaats ab. 30 Es finden sich Vorbehalte gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit überhaupt und Kritik an der Herauslösung des Richters aus dem allgemeinen Beamtenverhältnis (127 f., 130), an der Bekanntgabe der dissenting vote (Verunsicherung der Rechtspflege, 129). Widerspruch provoziert die Behauptung, das BVerfG sei bei seiner Anwendung des Gleichheitssatzes über das Willkürverbot nicht hinausgekommen (135 f.). Denn dabei bleibt sowohl die „Gemeinwohl Judikatur" außer Betracht, die der Konturierung des Gleichheitssatzes dient (dazu P. Häberle, AöR 95 [1970], 86 [118 ff.]) und Gesetzgeber und Richter Handlungs- und argumentatorische Freiheit gibt, als auch die Rechtsprechung zum Begriff der Systemtreue (vgl. E 20, 374 [377 ff.]; 21, 54 [64 f.]; 27, 111 [127] und weiteren Topoi [wie Praktikabilität und „Typisierung"] z.B. E 31, 119 [131]). 31 Angesichts des inneren Zusammenhangs von Verfassung und Verwaltung erscheint der Hinweis auf die Unvertauschbarkeit verwaltungs- und verfassungsrechtlicher Begriffe (138) ebenso formalistisch wie die Kritik an der Herabstufung der Gesetzgebung als einer der wichtigsten Vorgänge des Verfassungslebens durch die Unterstellung unter die Kategorien des Verwaltungsrechts (143). Diese „Herabstufung" erfolgt ja nicht unabhängig von den Besonderheiten des Verfassungsrechts! (Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers statt Ermessen! wichtig BVerfGE 27, 58 [66]).

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(sic!) und zugleich expandierende Verfassungsrechtsprechung bestätigt nach F. die „Diskrepanz" zwischen rechtsstaatlicher Verfassung und Sozialstaat (146). Es sei autonomes Richterrecht, das die rechtsstaatliche Verfassung m i t den Bedürfnissen des Sozialstaats verknüpfe (146). Gegenfrage ist, ob darin nicht eine der großen Taten der neueren Rechtsprechung liegt 3 2 . Überdies: die Eigenheiten des „Leistungsrechts" sind ein nicht minder wichtiges Stück Sozialstaatlichkeit, i n deren Entwicklung die Rechtsprechung als Leistungsrechtsprechung eingeschaltet ist. Hier zeigt sich, daß sich statt irgendeiner extrakonstitutionellen Staatlichkeit die Verfassung (auch) dank der rechtsprechenden Funktion durchsetzt und zur „realen", präsenten Macht wird. Angesichts der „Abhängigkeit" des Staates von der Industriegesellschaft überrascht es nicht, daß F. die neuen Formen des — aktiven — „Leistungsrechts" 33 nicht erwähnt: die positiv steuernden, planenden und organisierenden Gesetze, die die Gesellschaft aktiv beeinflussen und die mittelbaren Formen von Herrschaftsausübung gleichkommen 34 , passen nicht i n F.s B i l d des i m wesentlichen nur reagierenden Staates. I m Abschnitt über Wähler und Parteien (83 ff.) verbinden sich treffliche Diagnosen m i t fragwürdigen obrigkeitsstaatlichen Leitbildern 3 5 . Zuzustimmen ist der K r i t i k an der 5 %-Klausel. Sie bewirkt tatsächlich eine „Geschlossenheit" des parlamentarischen demokratischen Systems 32 Auch das Gesetzesrecht der rechtsstaatlichen Verfassung „wird" bei realistischer Betrachtung Richterrecht. 33 Dazu, insbesondere zu Partizipationsnormen, mein Beitrag in: FS für G. Küchenhof f, 1972. — Anders freilich K. Hub er, Maßnahmengesetz und Rechtsgesetz, 1963, der zwar auf S. 83 ff. von „Plan-Gesetzen" spricht, Rechtsnorm und Plan jedoch in einer Weise konfrontiert, die vom freiheitssichernden und -schaffenden Leistungsrecht aus nicht möglich ist: S. 91 f.: Der Plan intendiert Verwirklichung, die Norm nicht. 34 Zwar wird das StabG im Zusammenhang mit der Konzertierten Aktion erwähnt (125): als förmliche Regelung der Kooperation von Staat und Wirtschaft, aber nicht als positiv zu bejahendes konkretes Stück Leistungsstaatlichkeit. 35 Beiläufig wird für Bismarck nachgewiesen, daß nach ihm das Wahlrecht selbstverständlich „nach den Bedürfnissen des Staates" geordnet werden müsse (86). Für das moderne Wahlrecht gelte das nicht mehr, es sei zum Ausdruck menschlicher Autonomie (s. aber unten bei Anm. 44) geworden (Mit diesen Thesen kontrastiert ein späterer Passus: auf eine Kritik an der staatlichen Parteifinanzierung (87) folgt die Aussage, die parlamentarische Demokratie, deren Sinn und Aufgabe darin besteht, den Staat zu aktivieren und seine Funktionen zu legitimieren und kontrollieren, gehe an den „Krücken eben dieses Staates" (88). So lange staatliche Parteifinanzierung begrenzt ist und die öffentliche Freiheit unangetastet läßt (dazu P. Häberle, JuS 1967, 64 ff. [71 f.]), findet die von F. beobachtete Instrumentalisierung nicht statt). Diese Konfrontation von Bedürfnissen des Staates und menschlicher Autonomie ist fragwürdig: in der Demokratie lebt der Staat von der Chance der Bürger, sich selbst zu bestimmen und mitzubestimmen.

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(89 f.) 36 . F. versäumt nicht, ein derartiges stabiles „parteiendemokratisches System" als den Bedürfnissen der Industriegesellschaft entsprechend zu kennzeichnen. Sachzwänge stellen sich F. immer dann i n den Weg, wenn man glaubt, eine von i h m erkannte Sollforderung könne normative Kraft entfalten. Sein kritischer Ansatz macht hier vor bzw. nach der Realanalyse halt. Reformansätze erscheinen bei diesem lähmenden Wirklichkeitspositivismus als unrealistisch. Symptomatisch für F.s Denkstil ist die A r t und Weise, wie er die Gemeinwohlproblematik i m heutigen Parteiensystem behandelt (91 f.): F. präsentiert Realanalysen; doch dann, wenn er Sollforderungen postuliert, t r i t t er alsbald einen Rückzug an angesichts bestimmter m i t der Industriegesellschaft gesetzter Bedingungen 37 . Sein „realistischer Sinn für Realitäten" verbindet sich m i t Fatalismus, der oft hinter den Vokabeln „Logik" und „Notwendigkeit" steckt 38 . Nach F. hat der Abbau der weltanschaulichen politischen Positionen dazu geführt, daß der moderne Wähler sich i n höherem Maß als je zuvor an seinen Interessen orientiert. Indes: Orientiert sich der Wähler nicht schon seit jeher (auch) an seinen Interessen? Steht der vielzitierten Entideologisierung nicht bereits eine gegenläufige Tendenz gegenüber? Der Anspruch der Parteien, als „Volksparteien" A n w a l t aller Interessen zu sein, „kontrastiert" nach F. m i t der Orientierung des Wählers an seinen Interessen (91 f.). Konsequenz seiner K r i t i k an dem „Kulissenspiel" von Parteien und Verbänden ist die Forderung nach einer größeren Zahl von Parteien, die sich offen zu den von ihnen vertretenen Interessen bekennen. Die Öffentlichkeit, die F. im Zusammenhang m i t der Presse so gering veranschlagt (159 f.), w i r d hier zur demokratischen Forderung: durch mehr Parteien würde der „für die Staatswillensbildung notwendige Interessenausgleich i n der Öffentlichkeit vonstatten gehen" 39 . 36 Diese „Erstarrung" des Parteiwesens erklärt F. aus der der Wirtschaftswerbung entsprechenden A r t der Werbung auf dem „politischen M a r k t der Öffentlichkeit", auch hier begünstige der M a r k t den Arrivierten (s. auch 95). Dieses Engagement F.s für die Offenheit von Demokratie und Staat ist ernstzunehmen. BVerfG und Politiker sollten ihre Rechtfertigung der 5 °/o-Klausel überprüfen. Wichtig ist das Plädoyer für die Chancengleichheit aller Wahlbewerber (92). 37 s. auch die Rolle der „Bedürfnisse der Industriegesellschaft" (93). Der Staat hat aber ihnen gegenüber keine bloße Notariatsfunktion! 38 „Utopien" werden zu undifferenziert verworfen (49 f.); s. aber 167. Wäre die Geschichte der Staatslehre ohne Utopien nicht sehr viel ärmer? 39 Beifall verdient seine Anerkennung des Dienstes, den die Verbände der B R D leisten (123): sie liefern Informationen, „sekundieren" ihr bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen usw.; s. auch 122: wichtige Aufgabe im Prozeß der Staatswillensbildung. — F. wendet sich gegen das Eindringen von Ideologien (67, 162 f.). Die Frage ist nur, ob er ohne sie auskommt. Ist nicht bereits sein bürgerliches Rechtsstaatsverständnis Ideologie? Werden nicht Zwangsläufigkeiten und Befindlichkeiten der Industriegesellschaft zu einer nicht weiter hinterfragten Ideologie? Status quo-Denken, das seine Kriterien geistesge-

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Mag F. auch nicht vom staatlichen Gemeinwohlbegriff 4 0 i n der einer res publica adäquaten Weise Abschied nehmen wollen und Pluralismus m i t Auflösung der staatlichen Gewalt gleichsetzen (20, 119): Er deutet auf Entwicklungen, die die allgemeine Wohlfahrt gefährden. Nach demokratischen Grundsätzen ist die „Realisationschance" eines Interesses u m so größer, je zahlreicher diejenigen sind, die daran A n t e i l haben (25, s. auch 120 f.). A m Beispiel des vernachlässigten Umweltschutzes, einem Interesse aller, weist F. das Gegenteil nach. Der Staat, der sich gerade der Interessen annehmen sollte, die „keinen organisierten gesellschaftlichen Patron" haben, konnte sich nicht gegen die organisierten Vertreter partikularer Interessen durchsetzen (26) — die Öffentlichkeit selbst w i r d hier normative K r a f t entfalten müssen! Die Repräsentation derartiger nichtorganisierter Interessen ist i n der Tat eine crux der heutigen Gemeinwohlproblematik: F. postuliert zu Recht einen vernünftigen Interessenausgleich (27), der berücksichtigen muß, daß sozialstaatliche Umverteilung eine leistungsfähige (humane) Industriegesellschaft voraussetzt — daran kommt keine Ideologie vorbei 4 1 ! Ein neuer Ansatz ist i n der These zu begrüßen, Staat und Verfassung seien berufen, dem assoziationsschwachen Jedermann zu Hilfe zu kommen (121) (d.h. doch auch: der Staat ist als sozialer Rechtsstaat Schutz des Schwachen) — nur reicht die „Ausübung des Wahlrechts" als Beteiligung an der „Assoziationsform" nicht mehr aus! Es bedarf weiterer Verfahren und Instrumente, um diese Interessen in die Öffentlichkeit zu heben! Der Gemeinwohlauftrag des Staates, das „allen Staatsbürgern gemeinsame Interesse auch gegen den Widerstand organisierter Interessen zu vertreten" (121), ist evident. Nur beginnen hier erst die Probleme: nach welchen Kriterien wenn nicht denen der Verfassung und ihrer Verfahren ist dieses Interesse zu ermitteln? „Konkret allgemein" ist nicht der Staat, sondern die Verfassung. Das allen Staatsbürgern gemeinsame Interesse ist nicht ex ante, aus sich heraus feststellbar, es wird erst i n komplexen Prozessen. Die Argumentation von einem wie immer geschichtlich von bestimmten verfassungsgeschichtlichen Epochen, besonders des 19. Jahrh., nimmt, läuft doch immer Gefahr, die Wirklichkeit von außen her zu4messen. 0 S. 12: „Die Logik des pluralistischen Staates, undemokratisch und unsozial

wie sie ist." 41 F. sucht nach einer organisierten Instanz, die der industriellen Expansion notwendige Schranken setzt (27). Das kann nur ein effizienter Staat sein als Garant für Freiheit und eine menschliche Umwelt (28 f.). Die „Konfliktlage" zwischen technischer Realisation und Staatsbegriff (40) verschärft sich deshalb so sehr, weil die Technik nicht von der Bedürfnisbefriedigung her verstanden werden kann (41). Er fordert vom Staat, hier einen eigenen, auf Freiheit und Gemeinwohl gerichteten Willen zur Geltung zu bringen (50). Diese Verknüpfung von Freiheit, Gemeinwohl und Humanität kann nicht hoch genug veranschlagt werden! Sie ergibt sich indes nicht aus einer „Staatlichkeit", sondern aus der Verfassung.

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arteten staatlichen, antipluralistischen allgemeinen Interesse aus erscheint fragwürdig. Immer wieder bricht bei F. eine Abwertung der, mindestens eine Distanzierung von partikularen, gesellschaftlichen Interessen durch 42 . Problematisch ist seine Auffassung, der Staat müsse frei „entscheiden", was i m Gemeininteresse notwendig oder wünschenswert ist (109), diese Entscheidung sei i h m durch die Tatbestände setzende Gesellschaft genommen. Hier scheint ein dezisionistischer Gemeinwohlbegriff nachzuwirken. Wesentlich ist doch, daß der Staat Bedürfnisse der Gesellschaft wie den Bau von Gemeinschaftseinrichtungen und Wohnungen erkennt und sich ihrer annimmt! Politischer Wille manifestiert sich doch nicht nur in der Erfindung „neuer", sondern auch i n der Erkenntnis vorhandener Gemeinwohlziele. — Agnostizismus liegt i n der These, man sollte m i t dem Staatsbürger nicht zu hart ins Gericht gehen, nachdem die rationale Bewältigung der Befindlichkeiten des modernen Staates und dessen, was ihnen not tue, ohnehin unmöglich geworden ist (83). Dieses pessimistische B i l d vom Bürger darf eine demokratische Verfassungslehre nicht zum Ausgangspunkt nehmen. Sie hat am Anspruch, staatliche Herrschaft rationaler Kontrolle zu unterwerfen, festzuhalten, um nicht von vornherein vor einer defizienten Wirklichkeit zu kapitulieren, der ζ. B. ein besseres (Aus-)Bildungswesen abhelfen könnte. Die Grenzen staatsbürgerlicher Einsicht (und Selbstbestimmung) 4 3 sind realistisch zu sehen, doch werden sie noch enger gezogen als sie sind bzw. sein können, sobald F.s gefährliches D i k t u m (die moderne Staatsentwicklung habe dem Wort vom beschränkten Untertanenverstand zur vollen Wahrheit verholfen [84]), in Umlauf kommt 4 4 . Wer den Staatsbürger zu früh überfordert sieht, kann i h n als „mündigen" Staatsbürger nicht ernst nehmen. Dem GG liegt aber ein optimistisches Menschenbild zugrunde. Der „überforderte Bürger" w i r d allzu leicht zur bequemen Ausrede, den Bürger zuwenig zu beteiligen! I m übrigen spielt der einzelne, i n seinen konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen Handelnde bei F. eine viel zu geringe Rolle. Auch die Figur des Staatsbürgers bleibt ohne den anthropologischen Ansatz 4 5 eigentümlich blaß 42 S. 57: Die Mentalität der modernen Industriegesellschaft ist die am eigenen Interesse orientierte Rationalität, 122: die Interessen dominieren, 91: Orientierung des Wählers an seinen Interessen; anders aber 118 (anläßlich der Raumplanung): das partikulare Interesse kann sehr wohl aus eigener Einsicht zurückstehen. 43 Zum „Selbstbestimmungsrecht im innersten Lebensbereich" : BVerfGE 27, 1 (7), dort auch der Begriff „Staat der modernen Industriegesellschaft". 44 I m Spiegelurteil (BVerfGE 20, 162 [214]) (Mehrheitshälfte) findet sich eine kongeniale Passage. Dazu meine Kritik, AöR 95 (1967), 86 (117 f. Anm. 85). 45 Dazu Herzog, a.a.O., 5 f., 141 f., 363. — Bemerkenswert ist die Art und Weise, wie F. gelegentlich Staat und Freiheit miteinander verknüpft (28 f., 151: Grundrechte als individueller Bereich, der außerhalb der Staatshoheit, aber zugleich unter den Schutz dieser Staatshoheit gestellt ist, 25: Frage, wo die

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und abstrakt. Insgesamt: nicht „der Staat ist tot", sondern nur manche der traditionellen Kategorien von Staatlichkeit, m i t Hilfe derer F. die heutige Wirklichkeit zu begreifen sucht. 2. Der Verfassungsbegriff a) Das Nebeneinander von Staatlichkeit und Verfassungsform (61 ff.) w i r d bei F. oft zum Gegeneinander, Verfassung bloß zum äußerlichen A t t r i b u t der Staatlichkeit Vieles, was er i n der Gesellschaft beobachtet, ordnet er nicht der Wirklichkeit der Verfassung, sondern allein der Faktizität der Industriegesellschaft zu. Der Sozialstaat bleibt wie die Daseinsvorsorge (73, 76 ff., 80 f.) vor den Toren der rechtsstaatlichen unpolitischen Verfassung. Realanalysen bleiben ohne Relevanz für Verfassungsinterpretation. I n Wirklichkeit ist der Rechtsstaat ein eminent politischer Bestandteil der Verfassung. Dort, wo wie beim Verhältnis von Sozial- und Rechtsstaatsprinzip dialektisches (wechselbezügliches) Denken erforderlich wäre 4 6 , fehlt es bei F. Er beschreibt nicht die Wirklichkeit des Verfassungsstaates, sondern die eines auf der Wirtschaft gründenden Gesellschaftsstaates! Verfassung als übergreifende Ordnung der res publica, als öffentlicher Prozeß (normativ prozedurales Verfassungsverständnis) 47 , als Konstituierung jeder Staatlichkeit — dieses heute für die westlichen Demokratien naheliegende Verständnis fehlt 4 8 . Das GG scheint i m wesentlichen ohne normative K r a f t zu sein, die gesellschaftliche Wirklichkeit weithin an i h m vorbeizuleben. Von der Legitimität der neuen Gesamtordnung w i r d nur negativ gesagt, das GG habe nicht „entschieden", worin seine neue Legitimität bestehe (66). Da für F. Verfassung einmalige, situationsbezogene Entscheidung ist, kann sich Legitimität auch nicht i n der lebendigen Verfassung 49 positiv entwickeln. Freiheit der Person ihren Beschützer findet). Das ist ein Bruch mit jenen Auffassungen, die Staat, öffentliches Recht einerseits, privates Recht andererseits mit Zwang (Unfreiheit) bzw. Freiheit gleichsetzen. I n der Tat gilt: „Je freiheitlicher ein Staat verfaßt ist, um so mehr ist er darauf angewiesen, daß der Gehorsam aus bejahter staatsbürgerlicher Verpflichtung jedes Einzelnen geleistet wird" (51). Deshalb braucht jedoch auch der Staat noch nicht in F.s Weise zum Ort des Sittlichen überhöht zu werden, in Distanz zu gesellschaftlichen Kräften. Der Staat ist heute nicht mehr der große Antipode des einzelnen (anders 150). Freiheitswahrung durch den effizienten Staat wird zu dem Thema. Nur sucht F. nicht von hier aus die Struktur der Grundrechte auf die Probleme des sozialen Leistungsstaats umzudenken. 46 Dazu E. R. Huber, DÖV 1956, 200 (203). 47 P. Häberle, ZfP 16 (1969), 273 ff. 48 F. bleibt bei einem rechtsstaatlichen Verfassungsverständnis (ζ. B. 71), hinter dem freilich punktuell ein anderer, dezisionistischer (67) oder ein politischer Verfassungsbegriff durchgreift. 40 Damit ist der Weg verschlossen, nach den Entwicklungsmöglichkeiten des GG zu fragen, das keineswegs bloß Produkt einer „Schwäche" ist (61), sondern ein Beweis für die Stärke unserer Demokratie. — Die Entleerung von F.s 17 Verfassung

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K a u m e i n B e g r i f f f ä l l t so o f t w i e d e r d e r Stabilität (47, 57, 122, 158 f., 164 ff., 168); f r e i l i c h n i c h t i m Z u s a m m e n h a n g m i t d e r Verfassung, die v i e l s e i t i g e n Prozessen d e r „ V e r u n s i c h e r u n g " u n t e r l i e g t (ζ. B . 67, 79, 129, 135 f.), s o n d e r n stets i m B l i c k a u f die Industriegesellschaft, die sich w e i t h i n m i t „ d e r W i r t s c h a f t " gleichsetzen l ä ß t u n d die „ s y s t e m s t a b i l i s i e r e n d e " K r a f t e n t f a l t e t . F . m a c h t n i r g e n d s d e n Versuch, s t a b i l i s i e r e n d e M o m e n t e i n d e r V e r f a s s u n g als r e c h t l i c h e r G r u n d o r d n u n g (Kägi), w e nigstens i n b e z u g a u f i h r e n „ b l o c des idées i n c o n t e s t a b l e s " (M. Hauriou) oder g a r i n d e r (innovationsreichen) V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t u n d i h r e r G r u n d r e c h t s k o n k r e t i s i e r u n g z u suchen 5 0 . F r e i l i c h k a n n e r d i e b i s h e r i g e S t a b i l i t ä t d e r B R D n i c h t i g n o r i e r e n : angesichts des v o n i h m b e obachteten Substanzverlustes des Staates k a n n er sie n i c h t diesem selbst zuschreiben, d a h e r v e r l a g e r t er d i e s t a b i l i s i e r e n d e n M o m e n t e ebenso e i n s e i t i g w i e e m p h a t i s c h a u f d i e Industriegesellschaft. B z w . : So k a n n F. den Widerspruch zu der „defizienten" Staatlichkeit der B R Deutschland u n d i h r e r F u n k t i o n s f ä h i g k e i t scheinbar e r k l ä r e n 5 1 . F . l ä ß t vieles, w a s d e r V e r f a s s u n g z u g e h ö r i g ist, a u ß e r h a l b ihres K r a f t feldes: H u m a n i t ä t , die sozialstaatliche Seite des Rechtsstaats (ζ. B . 80), d i e Daseinsvorsorge (78 f.), d i e i m L e i s t u n g s s t a a t auch d e n G r u n d r e c h t e n z u z u o r d n e n i s t (als „ G r u n d r e c h t s v o r s o r g e " ) , d e n L e i s t u n g s s t a a t selbst (158 f . ) 5 2 , alles, w a s als „ L e i s t u n g s r e c h t " z u k e n n z e i c h n e n ist, i n Verfassungsbegriff zeigt sich auch darin, daß er das Gemeinwohl nicht vom GG her konzipiert. Infolge seines staatlichen oder gesellschaftlichen Ansatzes stellt sich für F. das Problem der Verfassung s Wirklichkeit nicht; nur darin, daß der Staat genötigt ist, seine Macht mit den organisierten gesellschaftlichen Kräften zu teilen, erblickt er eine parakonstitutionelle Realität (123 f.). I m übrigen entwickelt sich der Staat teils unterhalb der Verfassung (wie die Staatsaufgabe Wohlstandsverteilung und Daseinsvorsorge, 81) — die BR Deutschland als „Administration" (143, 146) — teils erstarkt die Industriegesellschaft auf Kosten der Staatsgewalt („gesellschaftliche Machtverhältnisse", 24), ohne daß überhaupt ein Bezug zur Verfassung gesucht würde. 50 Dazu Smend, in: Festgabe für das BVerfG, 1963, 23 ff. (bes. 24, 26, 31). 51 Da F. das GG zur rechtsstaatlichen bürgerlichen Verfassung verkürzt (ζ. B. 70, 134), nimmt er sich (wohl bewußt) die Möglichkeit, den in sich bereits „abgeschlossenen" Sozialstaat (32 f.) als Leistungsstaat im GG selbst abzusichern. Damit fällt ein entscheidendes Stück (stabilisierender) moderner Staatlichkeit aus der Verfassung heraus. Man sieht jedoch nicht ein, weshalb die Sozialstaatsklausel eine Leerformel sein soll (86), wo sie doch so konturiert worden ist, daß sie das Verfassungsganze mitprägt. 52 F. stellt einer leistungsstaatlichen Wirklichkeit als massiver Faktizität unvermittelt gegenüber die ausgeformten, auf den bürgerlichen Rechtsstaat als Ordnungs- und Eingriffsstaat ausgerichteten Institute wie: Grundrechte als negative Staatszielbestimmungen, Gesetzes- und Rechtsbegriff als an der Schrankenziehung orientierte Begriffe. Die Verfassung wird so zum leeren Gehäuse einer vergangenen Zeit, die die Gegenwart überrollt und ignoriert und in der man allenfalls von einer früheren, „besseren" Wirklichkeit träumen kann. Das hier gewählte Verfassungsverständnis unterscheidet sich von dem von Forsthoff und Herb. Krüger (in: Der Staat 10 [1971], I f f . ; beide haben sich der leistungsstaatlichen Problematik gestellt) in zweifacher Hinsidit: dem

8. Retrospektive Staats(rechts)lehre?

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seiner f r e i h e i t s s t i f t e n d e n K r a f t , u n d d e n S t a a t zu a k t i v e n ζ. B. s t e u e r n d e n Prozessen i n s t a n d setzt; d i e A d m i n i s t r a t i o n , die schroff d e r K o n s t i t u t i o n g e g e n ü b e r g e s t e l l t w i r d (ζ. B . 72, 138, 142 f.), i s t i n i h r e r E i g e n s t ä n d i g k e i t f ü r F . S t a a t l i c h k e i t , „ n i c h t s w e i t e r " (105) — i n W a h r h e i t i s t sie eine v o m G G k o n s t i t u i e r t e E i g e n s t ä n d i g k e i t ! D i e f r e i h e i t l i c h e d e m o k r a t i s c h e G r u n d o r d n u n g des G G l ä ß t sich n i c h t auf d e n Rechtsstaat v e r kürzen. Das alles „ s p e r r t " F. v o n der auf d e n status q u o des b ü r g e r l i c h e n Rechtsstaats z e m e n t i e r t e n V e r f a s s u n g aus, d i e er so u n n a c h g i e b i g gegen Sozialstaat, Gleichheitssatz u s w . v e r t e i d i g t , daß d e r V o r w u r f der P r i v i l e g i e r u n g e i n e r b e s t i m m t e n Schicht, eben des B ü r g e r t u m s , n i c h t ausb l e i b e n k a n n . D i e Frage, w i e es u m d i e F r e i h e i t i m gesellschaftlichen Zusammenhang „ w i r k l i c h " steht, i s t d u r c h e i n e n d i a l e k t i s c h e n K u n s t g r i f f ausgeschaltet ( 2 2 ) 5 3 » 5 4 . Ü b e r s e h e n w i r d , daß faktische U n g l e i c h h e i t e n e i n z e l n e r Schichten e i n A u s m a ß a n n e h m e n k ö n n e n , das d i e g r u n d rechtliche F r e i h e i t i m sozialen L e b e n i m ganzen i n F r a g e s t e l l t 5 5 . W o v e r fassungsrechtliche F r e i h e i t z u m P r i v i l e g w i r d oder P r i v i l e g b l e i b t , i s t es u m d i e g l e i c h r a n g i g e ö f f e n t l i c h e u n d p r i v a t e F r e i h e i t a l l e r schlecht b e s t e l l t . F r e i h e i t b e d e u t e t auch, aber n i c h t n u r „ D i s t a n z z u m S t a a t " (78). Sie h a t i h r e n O r t n i c h t n u r i m Staat, s o n d e r n auch i n d e r Gesellschaft (s. aber 23). GG als Verfassung der res publica werden mehr Aussagen von leistungsstaatlicher und dementsprechender Grundrechtsrelevanz entnommen, als dies von einer betont „staatlichen" Sicht aus geschieht, die den status quo einer bestimmten Verfassungsform, den bürgerlichen (nicht-sozialen) Rechtsstaat zum archimedischen Punkt macht. Und: die Wirklichkeit, d. h. das, was F. an Leistungsstaatlichkeit diagnostiziert, wird dem GG, seinen Gemeinwohlaussagen und Verfahren von vornherein weit stärker zugeordnet. Insbesondere hat die Rechtswirklichkeit (des Leistungsrechts [BBauG, Planverfahren]), in die auch die Leistungsgesellschaft einbezogen wird, schon mehr an konstitutioneller Sozialstaatlichkeit hervorgebracht, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. 53 Diese Ausklammerung des Sozialstaatsprinzips überrascht um so mehr, als F. (151) eine Kombination durchaus „heterogener" Gestaltungsformen in einer Verfassung kennt: das demokratische und liberale Prinzip. Typisch für seinen Agnostizismus gegenüber dem Sozialstaatsprinzip der Verfassung, 145: „über die staatlichen, insbesondere die sozialstaatlichen Leistungen besagt die rechtsstaatliche Verfassung nichts." 54 Die Gleichheit war aber früher nicht „allgemein". F. referiert beifällig (23) von Mohl, L. von Stein und Gneist, nach denen die Freiheit ihren Ort nicht in der Gesellschaft haben könne, sondern nur im Staat („Der Staat als das Reich der Freiheit"!). F. spricht von einer durch 1789 ermöglichten Entfaltung einer Sozialordnung, in der sich „Ungleichheit und Freiheit angemessen vereinigen". Die Ungleichheit, die das Leben in der Gesellschaft kennzeichne, finde ihre dialektische Entsprechung in der staatsbürgerlichen Gleichheit (22, s. auch 23; 147: Bürgertum als „Nutznießer" der Grundrechte). In Wirklichkeit war aber nur der dritte Stand Staatsbürgertum. Nur seine Bürger waren Aktivbürger. 55 Überdies gab es „Demokratie" zunächst rechtlich und später faktisch nur für einen bestimmten Stand. 17*

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Die Verfassung ist mehr als ein „Rechtsinstrument politischer Ordnung" (s. aber 67); sie institutionalisiert Verfahren zur Aufdeckung und Beilegung von Konflikten. Gewiß ist vor Überbeanspruchung ihrer Inhalte zu warnen, ist einer Ideologisierung der Verfassungsauslegung Einhalt zu gebieten. Doch geht F. i n seiner Reduzierung zu weit: Verfassung ist auch Sozialprogramm 56 . Zwar ist die Verfassung kein „Supermarkt", auf dem alle Wünsche befriedigt werden können (78), doch ist sie auch keine Kolonialwarenhandlung des 19. Jahrhunderts, die nur das Bürgertum bedient! F. beklagt angesichts der Macht organisierter gesellschaftlicher Kräfte, die Verfassung habe ihren Rang als verbindliche und umfassende Regelung der Herrschaftsverhältnisse verloren (124). Diese Aussage verfehlt die heutige Wirklichkeit von Verfassung: sie ist zwar auch (und immer noch) Ermächtigung zur Macht und Begrenzung von Herrschaft, das konsensuale Moment gehört einer demokratischen Verfassung konkreter Freiheit nicht minder zu! Die normative Grundlage für die Konzertierte A k t i o n paßt i n F.s B i l d „herkömmlicher Staatlichkeit" ebensowenig wie der Gedanke, diese Kooperations- und Kommunikationsformen seien die Ausprägung einer der Verfassung auch wesentlichen Seite des Konsenses i n Konflikten. Die neuen Elemente einer „Wirtschaftsverfassung" (Art. 109 GG) bleiben bei F. i m Bereich der Industriegesellschaft, für das GG werden sie nicht verarbeitet. Nach F. hat die Verfassung aufgehört, ein Instrument der Einigung zu sein (72). Die supranationalen Gemeinschaften seien primär administrative Organisationen. Damit bleibt jenes konstitutionelle europäische Gemeinschaftsrecht außer Betracht, das sich i n der EWG herauszubilden beginnt 5 7 . Zumal die Grundrechte, besonders die Chancengleichheit i. S. der Marktfreiheiten, wirken hier integrierend. Sie wirken vom GG aus auf einen gemein-europäischen Standard. Bislang mochte die Einigung i n der EWG vor allem i n bezug auf den Rechtsstaat auf der Tagesordnung stehen 58 . Es liegt aber nahe, daß die weitere politische Einigung auch demokratisch erfolgen muß 5 9 . Insgesamt: weniger die Verfassung hat sich von der Realität entfernt (so F., 81), als vielmehr das B i l d von Verfassung, das uns F. gibt und das schon einer Textanalyse nicht standhält 60 . 56 Wichtig aber die Warnung Lerches, in: Festgabe für Maunz, 1971, 285 (289) vor „Veränderungsideologien" und seine behutsame Verknüpfung von Stabilität und Elastizität im Begriff „Verfassung als Konzentrat" (291). 57 Dazu Η . Ρ. Ipsen, Fusionsverfassung, Europäische Gemeinschaften, 1971. 58 Dazu J. H. Kaiser, VVDStRL 23 (1966), 1 ff. (28). 59 H. H. Rupp, NJW 1970, 353 (354); bislang besteht in der Tat ein Demokratiedefizit. 60 s. die Aussagen im GG zum sozialen Leistungsstaat, Nachw. VVDStRL 30 (1972), 43 (46 ff.). — Es gibt formelles und materielles Leistungsrecht.

8. Retrospektive Staats (rechts) lehre?

261

b) „Das GG ist nicht das Ergebnis einer politischen Entscheidung, sondern das Produkt einer Lage" (61, 70, 127); die „juristische Essenz einer Verfassung" liegt i n dem, „was sie entscheidet (nicht lediglich regelt)" (67). Verfassunggebung ist für F. ein (irrationaler) politischer Entscheidungsakt. Hier kehrt die bekannte normlose Entscheidungstheorie C. Schmitts wieder** 1. I n Wirklichkeit ist Verfassunggebimg auch, aber nicht nur Entscheidung. Der politische Wille, selbst geschichtlich eingebunden 6 2 , ist keine Leerformel. Je weiter die Polarisierung zwischen politischer Entscheidung einerseits, der Normativität und Normalität einer Lage andererseits getrieben wird, desto mehr w i r d die komplexe Natur des Vorgangs der Verfassunggebung verkannt 6 3 , werden Abgründe willkürlich aufgerissen, w i r d dem Irrationalen Spielraum gelassen und nicht nur das: „ P o l i t i k " w i r d aus der konkreten Verantwortung freier Entscheidungen einzelner und der Gruppen herausgenommen, i h r Ort i m Kontext des Notwendigen und Möglichen, ihre Einbettung i m gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang ist verkannt, gleichzeitig w i r d das Normative verharmlost und auf eine „Abbildfunktion" reduziert. Mehrfach findet sich eine Beschwörung des Politischen, das offenbar dezisionistisch, aktionistisch, staatsbezogen ist und stark am machtvoll verstandenen Konflikt (nicht auch am Kompromiß) orientiert ist 6 4 . I n F.s B i l d der BR Deutschland schwindet das Politische (Entpolitisierung). Er t r i f f t sich hier m i t manchen K r i t i k e r n von links. Dort, wo das Politische auch einen Ort hat: i n bestimmten Grundrechten, w i r d es übersehen 65 ; gleiches gilt für die Wirkung des Rechts als politischem Faktor. Das GG wurde aufgrund von Erkenntnissen der „Lagen" 6 6 wie von Entscheidungen geschaffen und i m stetigen Ringen u m Konsens i n Konflikten weiterentwickelt. Speziell das von F. m i t suggestiver Kraft herel

Dazu kritisch Heller, Staatslehre, 1934,194, 253, 264 f. Dazu in Kritik an von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965: mein Beitrag, AöR 92 (1967), 259 (275 ff., 278). 63 Dazu P. Häberle, AöR 94 (1969), 479 (483 ff.). 64 S. 79: Politisch handeln kann nur derjenige, der in der Lage und bereit ist, Risiken auf sich zu nehmen. Seine Schwäche (sc. des Staates) ist die reduzierte politische Potenz. 68: allgemeine Mentalität, die politisch resigniert hat. 145: Die weit bemessene Zuständigkeit der rechtsprechenden Gewalt und ihre emanzipatorische Tendenz weisen auf einen geringen Intensitätsgrad der im Staat wirksamen politischen Spannungen hin. Eine stärkere politische W i r kung zur Durchsetzung politischer Entscheidungen, wie er in der Weimarer Republik noch vorhanden war . . . 101 : In dem Maße, in dem Gesetzgebung fachmännisch wird, verliert sie ihre politischen Aspekte. 146: entpolitisierende Wirkung der sozialstaatlichen Strukturelemente. 65 Hier übernimmt F. C. Schmitts Unterscheidung der politischen und rechtsstaatlichen Elemente der Verfassung (70 f. : Die als bloßes Ergebnis einer Lage entstandene rechtsstaatliche Verfassung entbehrt der politischen Elemente.). ββ s. den Stellenwert des Begriffs „Lage" bei Herb. Krüger, Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966,15 ff., 196, 760. 62

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

ausgestellte Prinzip der Humanität ist i m GG beispielhaft und normativ „entschieden" worden (ζ. B. Präambel und Art. 1 I), und zwar aus der Stärke, nicht aus der „Schwäche". Das war freie Entscheidung i m klaren Blick auf entgegengesetzte Lagen eines inhumanen Staates. Das war jener „Umbruch", von dem F. als Voraussetzung für eine Verfassung als Ergebnis einer politischen Entscheidung spricht (65)! 3. Die (Industrie)Gesellschaft Sie w i r d zum eigentlichen Gegenstand von F.s Staatsrechtslehre über den Gesellschaftsstaat (Industriegesellschaft und ihre Ordnungsgruppen als Staatsersatz); aus ihr leitet er letztlich die Rest- oder neue Staatlichkeit der BRD her. Uberspitzt: die Industriegesellschaft w i r d als (bewegendes) Subjekt, der Staat als (bewegtes) Objekt postuliert. Gesellschaft und Staat lassen sich jedoch nicht i n das Subjekt/Objektschema bringen, ebensowenig i n das von Dynamik und Statik. Der Staat reagiert nicht nur, er agiert auch gegenüber der Gesellschaft. F. untersucht nicht konkret und detailliert die Gestaltungsfunktionen, die die staatlichen Instanzen ζ. B. bei der Sicherung der Vollbeschäftigung erfüllen. Die Normativität der Verfassung ist ersetzt durch die Normalität der formierten und stabilisierten Industriegesellschaft. Der klassische Staat, in vielen Einzelaspekten abgebaut gesehen, w i r d als Staat der Industriegesellschaft am Schluß dann doch nicht per se negativ bewertet: die Industriegesellschaft (d. h. vor allem die Wirtschaft) zeitigt Wirkungen auf den Staat, die Neues vielleicht doch noch erhoffen lassen. Darin liegt ein Bruch i n der Gesamtkonzeption der Schrift. Sind es Faktizitäten, die eine neue staatsbildende Normativität erhoffen lassen? F., der immer wieder von der Staatlichkeit aus argumentiert, erteilt dann doch dem „Staat der Industriegesellschaft" keine globale Absage. Dieser Hoffnungsschimmer kommt etwas überraschend und erscheint nicht voll glaubhaft. „Die freiheitsstiftende rechtsstaatliche Verfassung steht und fällt mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft" 67 — F. modifiziert den „Dualismus" von Staat und Gesellschaft („Verflechtung", „Verbund" [164, 165 f.], Verlagerung des Schwergewichts der politischen Gesamtordnung in die Industriegesellschaft [159, 165]) 68 . Es kommt zu einer A r t Selbststeuerung der Wirtschaft i n und über staatliche Formen — eine eigentümliche Verbindung von liberalem und konservativem Denken! 67 Dieser Satz fällt angesichts des GG zur Hälfte ins Leere, weil es die Verfassung des sozialen Rechtsstaats geschaffen hat. 68 S. 24: an der Funktionsfähigkeit der Industriegesellschaft hängt die Wohlfahrt aller, 168: Staat verdankt seine Stabilität der Funktionsfähigkeit der Industriegesellschaft.

8. Retrospektive Staatsrechtslehre?

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Diese „Verschiebung" der Gewichte ist es, die ihm eine wenn nicht optimistische so doch mögliche Prognose zum „Überleben" der BR Deutschland gestattet. Daraus werden aber keine Konsequenzen für das Problem der „ Wirtschaf tsverfassung" gezogen,das sich spätestens seit Art. 109 n.F. GG neu stellt. Das Problem Staat/Wirtschaft ist realistisch und normativ aufzugreifen, um der These vom „staatsmonopolistischen Kapitalismus" den Boden zu entziehen. F.s Staat der Industriegesellschaft ist vor allem ein Staat der Wirtschaft — seine Thesen dürften bald von einer i h m unerwünschten Richtung gegen ihn gekehrt werden! Indes ist der Staat kein von der Industriegesellschaft (sprich dem „Spätkapitalismus") beherrschtes Vehikel 6 9 . F. sieht nur die „Passiv-Seite" für den Staat, nicht auch dessen aktive Wirtschaftsbeeinflussung durch Planung und Steuerung 7 0 . Heute hat das politische Gemeinwesen die Verantwortung für die Stabilität der Gesamtwirtschaft 71 . Das Problem Grundrechte und wirtschaftliche (Über)Macht ist neu zu überdenken. Die Formel vom „harten Kern" des sozialen Ganzen: Vollbeschäftigung, steigendes Sozialprodukt (165) verdeckt, daß hier (soziale) Grundrechte des Jedermann und Humanität mitgemeint sind! 7 2 — freilich ist ökonomische Produktivität unverzichtbar. Fragwürdig ist die These (168), es fehle dem Staat die Macht, Herrschaftsfunktionen gegenüber der Industriegesellschaft auszuüben, die Gesellschaft habe sich über die Verbände des Staats bemächtigt (119). Zum einen sind das Arbeits- und Wirtschaftsrecht, die i n der Terminologie F.s dem Zugriff durch die Gesellschaft und ihrer Verbände (d. h. der Wirtschaft) ausgesetzt sein müßten, i n einer Weise normiert, die der Ausübung staatlicher Herrschaft zur Sicherung individueller (und sozialer) Freiheit sehr wohl Raum gibt. Man denke an die staatlich gewährleistete Wettbewerbsstruktur von Märkten (GWB und UWG) 7 3 , an Neutralitätspflichten i n der Betriebsverfassung, an Konsumenten- und 69 Wichtig ist die (gegen den Marxismus) gerichtete These H. Hellers, Staatslehre, 1934, 211 ff., die staatliche Funktion sei nicht nur ein Mittel der wirtschaftlichen („im Staat wird nicht nur eine Wirtschaftsgesellschaft organisiert", „relative Autonomie der staatlichen Funktion", „Eigengesetzlichkeit der politischen Funktion"). 70 Dazu Scheuner, Einführung, in: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, bes. 12 f., 60 f., 64 ff. 71 Ehm)ce (Anm. 5), 54. — Aus- und Weiterbildung sowie Umweltschutz sind die Gemeinschaftsaufgaben. 72 Die Gleichsetzung von Industriegesellschaft und Wirtschaft zeigt sich z. B. in dem Wort von den Abwehrreaktionen von Staat und Industriegesellschaft gegenüber „Aktionen", die den „harten Kern" des sozialen Ganzen berühren (165). 73 Und den Kampf des Bundeskartellamts gegen wettbewerbsfreie Räume auf den Binnenmärkten oder kartellvertragliche Absicherung nationaler I n teressensphären.

I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

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K ü n d i g u n g s s c h u t z u s w . 7 4 » 7 5 Z u m anderen: w e n n der Staat ( u n d z w a r n i c h t n u r d e r d e r B R Deutschland) w i r k l i c h i n d e m v o n F. geschilderten A u s m a ß v o n d e r I n d u s t r i e g e s e l l s c h a f t a b h ä n g i g sein sollte, s t e l l t sich die Frage, w i e „ r e g i o n a l e E i n h e i t e n " (168) oder i n t e r n a t i o n a l e O r g a n i s a t i o n e n sich h e r r s c h a f t l i c h gegenüber d e r W i r t s c h a f t s o l l t e n durchsetzen k ö n n e n , ζ. B. u m gegen d e n technischen Prozeß effizienter H ü t e r f ü r H u m a n i t ä t zu sein (69) 7 β . Wieso l ä ß t sich dies „ g e d a n k l i c h k o n z i p i e r e n " , w o nach F. staatsintern

doch d e r S t a a t d e r technischen R e a l i s a t i o n b z w . d e r I n d u -

striegesellschaft ausgeliefert i s t u n d i n s o f e r n a b g e d a n k t hat? W a r u m sollte zwischenstaatliche

oder s u p r a n a t i o n a l e H e r r s c h a f t mehr

vermögen

als staatliche Herrschaft? Spätestens h i e r h ä t t e F. seinen ü b e r k o m m e nen Souveränitätsbegriff

ü b e r p r ü f e n u n d ζ. B . m i t v. Simson

fragen

m ü s s e n 7 7 , ob h e u t e n i c h t d i e ü b e r s t a a t l i c h e B e d i n g t h e i t des Staates Souveränitätsgewinn

statt Souveränitätsverlust ist78»79.

M i t seiner K r i t i k a m F e r n s e h u r t e i l (155 f.) n i m m t sich F. die M ö g l i c h k e i t , staatliche

Organisation

und grundrechtliche

Freiheit

von vornher-

e i n z u s a m m e n z u s e h e n 8 0 ; er i g n o r i e r t die P a r a d i g m a t i k des Versuchs des 74 Das Parlament ist keineswegs bloß Legalisierungsinstanz für industriegesellschaftliche Interessen. 75 Die Diskriminierungsverbote im EWG-Recht sind weitere Belege. I m Bereich der Marktfreiheiten wird in einem sehr realen Sinn Herrschaft gegenüber einer Summierung von Industriegesellschaften und ihren Gruppen ausgeübt, werden Freiheitschancen offengehalten. Man mag einwenden, diese Gesellschaften stünden um der Selbsterhaltung willen unter dem Zwang, zur übernationalen Leistungsgesellschaft zu werden. Gleichwohl ist es (supra) staatliche „Gesetzgebung" und Administration, die hier agiert, z.B. steuert, Schranken setzt und d. h. Herrschaft ausübt — die Relevanz der Marktstruktur als Machtstruktur soll dabei nicht geleugnet werden. 78 Hier zeigt sich, daß der Staatsrechtslehrer mehr sein kann als ein bloßer Statist auf der politischen Bühne. 77 Dazu mein Bericht, AöR 92 (1967), 259 (285 f.). 78 Warum sollte der Staat, der intern nicht mehr „Hüter der Humanität" sein kann, zwischenstaatlich mit anderen Staaten der westlichen Industriegesellschaft diesen Auftrag erfüllen können? 70 Auch sonst fehlt es nicht an Widersprüchen. F. sieht in der „Verschränkung" von Staat und Gesellschaft die Gefahr, daß die gesellschaftlichen Kräfte ihren Einfluß dazu benutzen, um freie gesellschaftliche Verhältnisse in den Formen des öffentlichen Rechts zu verfestigen und auf diese Weise den Manövrierraum individueller Freiheit mehr und mehr einzuengen (148). Die Gefahr, pluralistische Kräfte könnten über den Staat die individuelle Freiheit besetzen, besteht gewiß, die Grundrechtsdogmatik muß ihr entgegenwirken. Indes: F. gebraucht den liberalen Begriff der freien gesellschaftlichen Verhältnisse, der an sich fragwürdig ist. An anderer Stelle ordnet er die Freiheit allein dem Staat, nicht aber der Gesellschaft zu (23), unter Zurückweisung der frühliberalen Idealvorstellung von der sich selbst stabilisierenden staatsfreien Gesellschaft. Wie wenig er sich von diesem Denken dann doch frei machen kann, zeigt seine Konzeption der Grundrechte als „Reservate". 80 Wenn das Fernsehurteil von „gesellschaftlich relevanten Gruppen" spricht, die zu Worte kommen müssen, so ist im Bereich des „überempfindlichen" Art. 5 GG zu fragen: Wo bleiben Minderheiten, die nicht (sogleich) gesellschaftlich relevant sind? Wird hier nicht ein „heiler" Begriff der gerechten

8. Retrospektive Staatsrechtslehre?

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BVerfG, eine grundrechtliche Freiheit leistungsrechtlich so zu organisieren, daß sie weder vom Staat noch von der Gesellschaft her „besetzt" w i r d 8 1 . Dieses Organisationsmodell grundrechtlicher Freiheit ist der Versuch, den über die Grundrechte offengehaltenen und offenzuhaltenden allgemeinen Interessenausgleich weder dem Staat noch der Gesellschaft auszuliefern 82 — die differenzierte Offenheit der Verfassung w ü r de sonst zur Fiktion. A u f den Kopf gestellt erscheint es, wenn F. i m Fernsehurteil (155 f.) und der Entfaltung der inneren Pressefreiheit (156) einen Marsch i n den „neuen Privilegienstaat" beobachten zu können glaubt. Er spricht von einer Verletzung der allgemeinen Gleichheit durch das „Privileg", das die Grundrechte in der Wurzel auszurotten bestimmt waren. Dagegen ist zu fragen, ob sie denn früher dieses Ziel erreichten? Blieb nicht der bürgerliche Rechtsstaat praktisch ein Privilegienstaat, weil die Grundrechte oft nur der besonderen Interessenentfaltung bestimmter Schichten dienten? Die allgemeine staatsbürgerliche Gleichheit war formal, weil es reale Freiheit doch nur für das Bürgertum gab 83 . Organisation, Ausgestaltung grundrechtlicher Freiheit, „soziale Grundrechte" sind der Versuch, der Freiheit gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit und Normalität zu verschaffen — das kann heute nur über den Staat und „Grundrechtspolitik" geschehen: in die Gesellschaft hinein. Was nützt alle Freiheit und Gleichheit gegenüber dem Staat, wenn i n seiner Gesellschaft die Ungleichheit zu Unfreiheit umschlägt! Freiheitsreservate werden zu Schutzpositionen privilegierter gesellschaftlicher Mächte. Es geht u m Freiheit nicht nur für den, sondern für die einzelnen. gesellschaftlichen Selbstregulierung und eines gesamtgesellschaftlichen I n teressenausgleichs vorausgesetzt? Der Minderheitenschutz ist zu differenzieren je nach Lebensbereich: Wissenschaft, Kunst, Meinungsfreiheit. Der Staat kann schwerlich passiv verharren angesichts des Prozesses, in dem sich gesellschaftlich relevante von gesellschaftlich nicht relevanten Gruppen zu unterscheiden beginnen. Denn hier geht es doch vor allem um Machtausübung. Eine Verfeinerung des Fernsehurteils von der grundrechtiichen Seite her mit Konsequenzen für die verfahrensrechtliche erscheint unabweisbar. 81 I n der Sprache des BVerfG (E 12, 205 ff. [262]): das moderne Instrument der Meinungsbildung darf weder dem Staat, noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert werden. 82 Nach F. besagt die Verfassung über die Struktur des Rundfunks nichts (156). „Das Mißverständnis wird von außen herangetragen". Als ob die konstituierende Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie jenseits des GG stünde! Als „etatistisch" erscheint F.s Bemerkung, die Rundfunkanstalten seien dadurch gegen den Staat abgesichert worden — darum geht es doch gerade! 83 Eine Effektivierung der Grundrechte durch institutionelle Absicherungen (leistungsrechtliche Organisation ihrer Ausübung), Ausgestaltung ihrer „Binnenbereiche" ist der Versuch, den Gleichheitssatz ernst zu nehmen. Wo die Grundrechte nur für wenige tatsächliches Handelnkönnen erlauben, sind sie deren Privileg (F. zitiert beifällig L. von Stein, für den es Aufgabe des Staates war, zu verhindern, daß sich aus der gesellschaftlichen Ungleichheit neue privilegierte Rechtsklassen entwickeln [22]. Dem sucht die neuere Grundrech tsdogmatik zu steuern.).

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Ganze Rechtsgebiete wie das Sozial- und Arbeitsrecht verdanken dieser Einsicht ihre Existenz. Die stärkere Stellung, die das neue Betriebsverfassungsgesetz den Arbeitnehmern einräumt (s. das Mitwirkungsund Beschwerderecht, §§ 81 ff.), sind der Versuch, Menschenwürde und Humanität am Arbeitsplatz real zu machen 84 . F. polemisiert (69) gegen die „Demokratisierung der Verfassungsinterpretation" ( „ Z u t r i t t aller": Soziologen, Politologen usw.). Sollte denn Verfassungsinterpretation zum Arkanbereich der Staatsrechtslehre und der Juristenzunft werden? Warum dieser Soupçon gegen Politologie? M. E. ist die Demokratie als Prinzip der Verfassung ernst zu nehmen, indem ζ. B. der Grundrechtsinterpretation neue Züge abgewonnen werden. Das lehnt F. für die Pressefreiheit ab 8 5 . Die Staatsrechtslehre bleibt aufgerufen zu definieren, was Neutralität des Staates gegenüber sozialen Gruppen 8 6 und „Pluralisierung des Staates von innen" her bedeuten. Es gilt, den Weg zu suchen zwischen einem „über" der Gesellschaft angesiedelten Staat einerseits (der i n Wirklichkeit aus dem sozialen Ganzen hinausverlagert w i r d — Staat als außergesellschaftliche Instanz) und einem von der Gesellschaft beherrschten oder „besetzten" Staat andererseits, zwischen „Entfremdung" des Staates von der Gesellschaft hier und der Identifizierung des Staates m i t der Gesellschaft dort. Staat und Gesellschaft konstituieren sich nicht erst in ihrer wechselseitigen Einwirkung. Eine Theorie vom leistenden Gemeinwesen hat hier anzusetzen. Dazu gehören sowohl der Leistungsstaat als Staat öffentlicher Einrichtungen als auch die Leistungsgesellschaft, die m i t einem Bürger rechnet, der aus eigener K r a f t leisten kann. Unverzichtbar w i r d die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen Wohlstandsentwicklung der Gesellschaft, den Leistungen der öffentlichen Hand 8 7 und den Ansprüchen einzelner. F. konzipiert zwar den überkommenen Staat als Hüter von Freiheit und Humanität; da er die (Industrie)Gesellschaft jedoch neben der Ver84 F. (69) sieht den Kampf um Demokratisierung der Gesellschaft zu einseitig: es gehe nicht um Schaffung von politischen Aktivrechten etwa der Arbeiter und der Belegschaft, sondern um eine Parole im Machtkampf der Verbände. I n Wirklichkeit ist wohl beides der Fall. 85 Sie ist nicht unter Berücksichtigung demokratischer Erfordernisse auszulegen (150 f.). Das überrascht um so mehr, als F. für die parlamentarische Demokratie von der Notwendigkeit spricht, den Staat durch Öffnung für die im Volk wirksamen politischen Kräfte lebendig zu halten (89). Bei der Presse beobachtet er nur die Form der Großstruktur, ein Äquivalent der (abnehmenden) rechtsstaatlichen Publizität erwartet er nicht, zumal er ganz auf die Idee einer angeblichen Privilegierung des Journalistenstandes fixiert ist (156 f.). Sollte „publizistische Demokratie" gefährdet sein, weil die pluralistische Vielfalt im Pressewesen gefährdet ist, so muß doch die Pressefreiheit entsprechend organisiert werden (s. auch BVerfGE 20,162 [175 f.]). 86 Dazu Scheuner, V V D S t R L 30 (1972), Diskussion, S. 144 f. 87 ζ. B. der Schaffung des Zugangs zu Kulturgütern (BVerfGE 31, 229 [244]).

8. Retrospektive Staatsrechtslehre?

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fassung läßt, kommt es zu keinem Auftrag, Staat und Gesellschaft im ganzen durch die Grundrechte 88 zu strukturieren. Seine Dualismusdokt r i n in bezug auf Staat und Gesellschaft — staatsbürgerliche Gleichheit und Freiheit auf der Seite des Staates, Ungleichheit auf der der Gesellschaft (22 f.) — versperrt den Zugang zur Freiheit als einheitlichem Problem der heutigen res publica. F.s Grundrechte sind nicht i n das Spannungsfeld der sozialen Wirklichkeit gestellt. Grundrechte stehen diesseits der Demokratie, sie sind vorwiegend auf den einzelnen (Privaten) hin entwickelt 8 9 . Institutionelles Denken erscheint als Privilegierung statt als Optimierung grundrechtlicher Freiheit 9 0 . Gewiß ist die der personalen Freiheit aus dem gesellschaftlichen Bereich drohende Gefahr heute i n neuen Formen des Terrors virulent. Sie ist ernst zu nehmen. F. nennt die Dinge beim rechten Namen (162 f.). Gleichwohl gelingt i h m nicht der Ubergang zu der These, heute müsse der Staat Freiheit i m gesellschaftlichen Bereich vielfältig verfassen — durch Grundrechtsausgestaltung und -effektivierung. Das zeigt sich i n seiner einseitigen A u f fassung 91 , Freiheit bedeute Distanz des einzelnen zum Staat (78) — das ist Freiheit gewiß auch. I n der freiheitlichen Demokratie vermitteln die Grundrechte den einzelnen und die Gruppen der verfaßten Staatlichkeit. Freiheit hat eine allgemeine politische Seite. Wenn F. Freiheit und das gesicherte Teilhabeinteresse an Leistungen der Daseinsvorsorge unerbittlich konfrontiert (78), so übersieht er ihren Zusammenhang (als Freiheit i n der Teilhabe, als Freiheit durch Teilhabe) 92 . Ein dogmatisches Grundrechtsdefizit besteht vor allem i n bezug auf die (grundrechtliche Chancengleichheit 9 3 . F. deutet nirgends an, daß wegen des inneren Zu88 Abgesehen von wenigen Stellen (ζ. B. 147) findet sich kein „staatlicher" Aspekt für die Grundrechte wie etwa bei Herb. Krüger, Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, 537 f. 539, 542 ff. oder ein „leistungsstaatlicher" (dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 [1972], 43 ff.). 89 S. 151: Die Grundrechte normieren einen individuellen Bereich. 90 Nirgendwo wirkt sich F.s enges Verständnis von Rechtsprechung, Interpretation so folgenschwer aus wie in Grundrechtsfragen, in denen er sich selbst als Hüter der Normativität gegen das Wertdenken versteht. 91 „Maßbestimmungen" bedurfte schon der bürgerliche Rechtsstaat (dies zu 134); Art. 8 Abs. 1 GG bedarf durchaus der weiteren Konkretisierung (dies zu 151 f.), s. meine Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl. 1972, S. 180 ff. 92 F. sieht nur ein Verhältnis „unaufhebbarer Spannung" zwischen Freiheit und Sicherheit (148), nicht auch das einer Zuordnung, das von seinem eigenen „dialektischen", „mehrschichtigen" Denken aus nahegelegen hätte. Überdies gibt es humanitäre Grundrechtsprobleme angesichts der keineswegs abgeschlossenen „sozialen Realisation" (ζ. B. am Arbeitsplatz). 93 Gleichheit begegnet nur als staatsbürgerliche (nicht auch als relative gesellschaftliche) Gleichheit, als Gleichheit gegenüber dem Staat (22) mit dem dialektischen Gegenstück der Ungleichheit in der Gesellschaft (bezeichnend die Kritik an der Bindung des Gesetzgebers an den Gleichheitssatz, 134 ff.). Als Korrelat der Freiheit (der rechtsstaatlichen Verfassung) hat Gleichheit keinen Platz; de facto ist es die bürgerliche Schicht, die der bürgerliche Rechtsstaat

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sammenhangs von Freiheit und Gleichheit Ungleichheit zur Unfreiheit umschlagen kann. Es geht heute um Freiheit und Gleichheit, teilweise um Freiheit durch Gleichheit. I n diesen Zusammenhang gehört das Sozialstaatsprinzip 94 , die soziale Umverteilung usw.; sie wollen über die Schaffung von Gleichheitschancen mehr Freiheit ermöglichen. F. ignoriert die grundrechtlichen Aspekte der „sozialen Umveiteilung", die er dem von den Grundrechten abgeschnittenen Sozialstaat zuordnet (27, 32, 80 f.). Nach der faktischen Auswirkung bloßer Gewährleistung von Freiheit in der Gesellschaft w i r d nicht gefragt. Die Verwirklichung von Freiheit liegt jenseits des Anspruchs von Grundrechtsnormen: das beweist der Angriff auf Grundrechte als Werte, die sie logisch zwingend „verwirklichen" müßten (68). F. trennt die Freiheit „als solche" von ihrem Gebrauch (154 f.): als ob das Wesentliche nicht i n der praktischen Ausübung liege! Grundrechte sind m. E. Normierungen nicht nur rechtlichen Dürfens, sondern auch tatsächlichen Könnens. Faktische Barrieren, die ihrer Realisierung entgegenstehen, müssen abgebaut werden — i m Rahmen der sozialen Opfergrenze 95 . Freiheit und Gleichheit w i r d es freilich nie „ideal" geben, insbesondere ist Freiheit immer relativ (so F. selbst 43) 96 . Alles Übel scheint für F. von der Interpretation der Verfassung und der Grundrechte als „Wertsystem" und „Werte" zu kommen, eine Interpretation 9 7 , die nicht an die ausgebildeten Regeln der juristischen Hermeneutik gebunden sei (68, 149 f., 149: „beliebige" Argumentationskette 9 8 ). Dieses Wertdenken ist indes oft nur verbaler Natur: i n der Sache handelt es sich darum, die Grundrechte als Rechtsgüter der Verfassung i m sozialen Leben i m ganzen ernst zu nehmen, sie, denen es um reale Geltung und Konstituierung von Offenheit geht. Ihre soziale Funktion lehnt F. ab (148). Grundrechte reduziert er auf negative Abwehrrechte 99 . F. sieht immer nur den Konflikt zwischen Grundrechten und Sozialstaat privilegiert. Die Gesellschaft ist per definitionem der Raum für Ungleichheit (22). Dasselbe klassenbezogene status quo-Denken bezüglich der Grundrechte dürfte auch dem Rechtsbegriff F.s zugrunde liegen: „der Jurist denkt in Ordnungen, die sind und die ihre Verbindlichkeit darin haben, daß sie sind" (110). Diese Aussage ignoriert eine ganze Literatur zu Recht und Gesetz als law in action (Esser). Die Ideologie vom vorgegebenen Recht ist längst als solche erkannt. F. geht von einem einseitig „reaktiven" Rechtsbegriff aus, dessen andere Seite (Steuerungsfunktion) unbeachtet bleibt. 94 Und: „Demokratie durch sozialen Rechtsstaat". 05 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), 43 ff. 96 s. aber C. Schmitts „absolute" Konzeption „echter" Grundrechte, Verfassungslehre (1928), 166. 97 Doch wird diese Entwicklung nicht positiv hinterfragt etwa im Blick darauf, ob sie eine Funktion für die grundrechtliche Freiheit aller enthält. 98 Rationalität i. S. logischer Nachvollziehbarkeit als Kriterium der Rechtsprechung: 133. 99 Zu ihrer institutionellen und leistungsstaatlichen Seite: mein Mitbericht, in: V V D S t R L 30 (1972), 43 ff.

8. Retrospektive Staatsrechtslehre?

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(„sozialstaatlicher Druck", keine „soziale Interpretation", 148). Wo soziale Komponenten ins Spiel kommen, w i r d der einzelne i n die „Ordnungen des aus Staat und Gesellschaft bestehenden sozialen Ganzen einbezogen" (150). F. kennt nur die Alternative „Freiheit oder soziale Gebundenheit". Wer die Grundrechte sozial interpretiert, gibt „staatliches Denken" auf und zeigt Unfähigkeit zu „dialektischem Denken" 1 0 0 . Nach F. stehen sich nur der isolierte einzelne und der hoheitliche Staat i n den Grundrechten gegenüber. Die Freiheit als soziales Phänomen fällt jedoch in seiner Dialektik zwischen Staat und (Industrie)Gesellschaft, Freiheit und Ungleichheit unter den Tisch. F. sieht durchaus das „Netz" überindividuell-gesellschaftlicher sozialer Beziehungen (153), begnügt sich aber m i t der Feststellung, dagegen böten die Grundrechte keinen Schutz. Dieselbe Passivität gegenüber Veränderungen zeigt er angesichts des „leistenden Staats". Den Versuch, den Grundrechtsschutz durch Einfügung eines sozialen Vorbehalts auf den leistenden Staat auszudehnen, sieht er wegen der Ambivalenz dieses Vorbehaltes scheitern (154). Die Sozialbindung gelte nicht nur für den Staat, sondern auch für die Freiheit m i t der Folge, daß diese um allgemeiner wirklich oder vorgegebener Belange willen auch eingeschränkt werden könnte. Alles hängt doch davon ab, wie soziale Bindungen rationalisiert, normativiert und aus der Verfassung begründet werden! Auch liberales Grundrechtsdenken kann ohne offene oder versteckte Gemeinwohlvorbehalte nicht auskommen 101 . Leistungsstaat und Gruppenmacht müssen heute die Adressaten neuer Formen des Grundrechtsschutzes sein, ζ. B. durch den Ausbau des status activus processualis 1 0 2 (als Inbegriff aller grundrechtsbezogener Teilhabe verfahren) 1 0 3 . Ist der „Staat der Industriegesellschaft" der Rettungsanker einer „realistischen" oder das Feigenblatt bzw. A l i b i einer konservativen Staatslehre? Die weitere Entwicklung der BR Deutschland imRahmen der übrigen westlichen Leistungsstaaten, nicht zuletzt aber die Entwicklung 100 Von der Unterwerfung der Grundrechte unter einem Vorbehalt befürchtet F. den Verlust ihres Reservatcharakters (diese Freiheitsreservate stehen in eigentümlichem Kontrast zur Staatlichkeit!) und eine Unterwerfung unter wirkliche oder vermeintliche Notwendigkeiten und Wünschbarkeiten (152). In Wirklichkeit hängt doch alles von der Art und Struktur des Vorbehalts ab; auch die liberale Grundrechtsdoktrin kommt ohne sie nicht aus. 101 Unerfindlich ist, warum F. das Eigentum offenbar „sozial" interpretieren will (unter Hinweis auf den Text des Art. 14 Abs. 2 GG), während er sonst eine soziale Interpretation der Grundrechte ablehnt (150): auch die Sozialstaatsklausel ist ein Stück Text des GG! 102 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), 43 ff. 103 Seine Kritik an der modernen Grundrechtsentwicklung zeigt sich an Art. 9 Abs. 3 GG in der Konzeption des BVerfG (154). In Wirklichkeit erschließt erst eine institutionelle Grundrechtssicht (zuletzt E 28, 295 [303 ff.]) die sich Art. 9 Abs. 3 (Koalitionsfreiheit) heute stellenden Probleme.

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der Staatslehre als öffentlicher Disziplin erst w i r d diese Frage beantworten können. F.s Staatslehre ist als Staatslehre weithin retrospektiv konzipiert; soweit sie die Industriegesellschaft angeht, ist sie eine i n Teilund Momentaufnahme, nicht aber i m Gesamten realistische Lehre von der Gesellschaft. I h r realistisches staatliches Gegenstück fehlt. Eine realistische demokratische Verfassungslehre der ganzen res publica steht noch aus. Nachtrag zu „Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische Gesellschaftslehre?" (Nr. 8) Die Positionen und Begriffe von Ernst Forsthoff sind aktuell geblieben. Insbesondere die Staat/Gesellschaft-Diskussion hat sich neu belebt (dazu der von E.-W. Böckenförde herausgegebene Band „Staat und Gesellschaft", Darmstadt 1976). Z u erwähnen sind insbesondere K. Hesse („Bemerkungen zur heutigen Problematik der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft", DÖV 1975, S. 437 ff.) und W. Schmidt (Die Entscheidungsfreiheit des einzelnen zwischen staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Macht, AöR 101 [1976], S. 24 ff.). Die positive Würdigung des Gesamtwerkes von Forsthoff i n JZ 1975, S. 685 ff. und ZSR 95 (1976), S. 477 ff. (unten Nr. 16) hat an der hier wieder abgedruckten Gegenposition des Verfassers nichts geändert: die Grundsatzkritik bleibt aufrecht erhalten. Die erste wegweisende K r i t i k von Hollerbach (AöR 85 [1960], S. 241 ff.) ist wiederabgedruckt i n Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 153 ff.

9. Allgemeine Staatslehre, demokratische Verfaesungslehre oder Staatsrechtslehre ?* I. Lehrbuchtraditionen halten sich oft länger, als es die sich wandelnde Wirklichkeit ihres Gegenstands eigentlich zuläßt. Das gilt besonders für die Allgemeine Staatslehre. Zwischen G. Jellinek und H. Heller sucht sie noch heute Gegenstand und Methoden; bislang ist sie über Heller nicht nur nicht hinausgekommen, sie hat i h n nicht einmal voll verarbeitet. Noch heute hält man die Bruchstücke der Grundsatzdiskussion der 20er und 30er Jahre i n der Hand. Uberspitzt: I n Deutschland dürfte es „Allgemeine Staatslehre" selbst dann noch geben, wenn es keinen „Staat" mehr gibt. II. H. gliedert i n 11 Kapitel: Standort und Aufgaben einer modernen Staatslehre; Die Gesellschaft als Grundlage der Staatslehre; Der Staat als Staatsapparat; Volk, Gesellschaft und Staat; Die Staatsgewalt; A l l gemeine Prinzipien der Staatsorganisation; Formen demokratischer Staatsorganisation; Die Staatsfunktion; Die Staatswillensbildung etc. 1 . H.s Staatslehre w i l l nicht auf den Methoden der „dialektischen Sozialwissenschaft" (Adorno, Habermas) aufbauen, diese aber zur selbstkritischen Überwachung heranziehen (28), und sie hat (nur) den modernen Staat demokratischer Prägung, den demokratischen Rechts- und Sozialstaat (145), zum Gegenstand (37). I m Kapitel „Die Gesellschaft als Grundlage der Staatslehre" (38 ff.) stellt sich H. die Aufgabe, Staat und Gesellschaft einander „ausgewogen" zuzuordnen (57). Ausgangspunkt ist das Volk (41)2. „Nation" kennzeichnet er durch den „Willen zur * AöR 98 (1973), S. 119 - 134. * Zu Roman Herzog: Allgemeine Staatslehre. Frankfurt/M.: Athenäum. 1971. 425 S. 1 Ideengeschichte wird mit Recht als bloßer „Vorspann" zur Behandlung einzelner Probleme betrieben (34 Anm. 36), nicht als „Literaturgeschichte" (107 Anm. 57). Geschickt werden Darstellung und Kritik großer Lehrmeinungen (Kelsen, Smend) über die Problemzusammenhänge „verteilt". 2 Dessen Begriff er um die Einbeziehung all jener Kulturtatsachen bereichert, die die Abstammung zu einer gemeinsamen Abstammung machen (42), sowie durch das subjektive Zusammengehörigkeitsgefühl („Wirbewußtsein"), ζ. B. auf Grund gemeinsamer Leistungen.

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Staatlichkeit" (45). Dementsprechend w i r d Gesellschaft einem konkreten Staat durch seine Staatsgrenzen zugeordnet (46)3, als egalitäres Phänomen („Jedermann innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen") und als „Massengesellschaft" charakterisiert (47). H. verwirft die Vorstellung einer vernunftorientierten Selbstregulierung der Gesellschaft (kein A n laß zu solchem anthropologischen Optimismus, 48)4. Auch i m demokratischen Staat komme es nicht zu einer echten Selbstregierung des Volkes; es gebe neben dem Volk als Träger der Staatsgewalt einen Staatsapparat, den man dem Volk bzw. der Gesellschaft gegenüberstellen müsse, wenn man seiner ständig wachsenden Bedeutung gerecht werden wolle (53). Unter dem Stichwort „vermachtete Gesellschaft" erörtert H. „private Herrschaftssysteme und Pluralismus der Gruppen und Verbände". Die Gesellschaft ist kein herrschaftsfreier Bereich (Freiheit und Ordnung drohen i m Sumpf der Oligarchien zu ersticken, 67)5. — H. plädiert für die klassische Drei-Elementen-Lehre und führt über sie hinaus, indem er gegen den monarchischen Staatsgedanken die heutige Bedeutung der Staatswillensbildung betont (86). „Wesentliche Merkmale des Staatsapparats" sind die „Form permanenter Organisation" 8 , Rationalität und Effektivität (94), unter Einbeziehung vorbeugender Maßnahmen (95), das System von Ämtern und Organschaften (95 ff.) und der Staat als Herrschaftsträger (102 ff.) 7 . Unter den „wesentlichen Aufgaben des Staatsapparates" beschreibt H. die „Bereiche moderner staatlicher Betätigung" (109 ff.): unerhörte Intensivierung der staatlichen Tätigkeit i n den letzten 100 Jahren (109), Verbreiterung der Staatsaufgaben (110 Anm. 61), Friedenssicherung i m gesellschaftlichen Bereich durch das Gerichtswesen (111), Aufgabenbereiche der Sozialstaatlichkeit, wozu Wachstumsvorsorge und die „allgemeine Fortschritts Vorsorge" zählen 8 . Die Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Gesellschaft 3 Hier ist anzumerken, daß die neuesten Entwicklungen die „Nationalisierung" der Gesellschaft rückgängig machen und im Zeichen der Leistungsgesellschaft überstaatliche Zusammenschlüsse erzwingen. 4 I m Rahmen des Abschnitts Staat und Gesellschaft in der Ideengeschichte behandelt H. die Vertragstheorien als „Vorgeschichte" (48 ff.). 5 S. 79: Totalisierungstendenzen der Gesellschaft, sie zerfällt als pluralistische Gesellschaft in Gruppen, Pluralität statt Homogenität (71), Kräfteparallelogramm der Gruppen (72). — H. wendet sich angesichts der Zersplitterung der Gesellschaft in Gruppen dagegen, zynisch von Gruppenegoismus zu sprechen und dem Menschen seine Abhängigkeit von ökonomischen Bedürfnissen und sein Streben nach Sicherung seiner physischen Existenz vorzuwerfen (70). Gleichzeitig hält er „Integration" nicht nur für den Bestand des Staates, sondern auch für den der Gesellschaft für grundlegend (81). 6 Dazu Heller, Staatslehre, 1934, passim. 7 Wobei neben staatlicher Herrschaft heute staatliche Leistungen in den Vordergrund rücken (104) und in der Liquidierung gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen durch den Staat eine der wichtigsten Funktionen staatlicher Gewalt überhaupt liegt (105). 8 Sie ist die Aufgabe des Staates, „aus der Fülle denkbarer Wege des Fort-

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führt H. zur Darstellung von „Modellen" ihres Verhältnisses: den Idealtypen Anarchismus und Totalitarismus, den Modellen des Rückzugs des Staates aus gesellschaftspolitischen Entscheidungsvorgängen (122 ff.) 9 . H. t r i f f t angesichts des Problems der Aufgabenverteilung zwischen Staat und Gesellschaft (147 ff.) seine Wahl zugunsten der Souveränität (staatliche Kompetenz-Kompetenz gegenüber der Gesellschaft); unter Berufung auf irgendein Prinzip unveränderliche Grenzen der staatlichen Aufgabenwahl zu errichten, lehnt er ab (151)10. I m Rahmen „allgemeiner Prinzipien der Staatsorganisation" (188 ff.) behandelt H. neben dem monarchischen Prinzip die monokratische und kollegiale Organstruktur. Ungeachtet der klassischen K r i t i k Smends 11 am Trägerbegriff erscheint ein Abschnitt „Träger der Staatsgewalt" (197 ff.). Demokratie bedeutet 12 : Prinzip der individuellen Berufung der Amtswalter durch das Volk oder durch volksgewählte Organe (210, 212). Eine Kette individueller Berufungsakte muß bis auf das Volk (demokratische Legitimität) als den Träger der Staatsgewalt zurückführen (214) — Scheuners Begriff der „Legitimationskette" w i r d hier einschlägig! H. w i l l den Repräsentationsgedanken auf eine „breitere" Grundlage stellen (217): Es liege näher, die Repräsentation des Volkes bei den Führungsmannschaften der beiden (!?) großen Parteien zu suchen als beim einzelnen Abgeordneten oder beim Gesamtparlament. Eine realistische Betrachtung 13 muß sich in der Tat mit H. von der Fixierung des Repräsentationsbegriffs auf ein vorgegebenes „höheres" Gemeinwohl lösen 14 . schritts diejenigen auszuwählen, die der Menschheit die Güter der Menschheit nicht vorenthalten und ihr trotzdem ein Leben in größtmöglicher Freiheit sichern" (117). 9 Dargestellt an so heterogenen Lebensbereichen wie der religiösen Wahrheitsfindung (weltanschaulich neutraler Staat), Freiheit von Forschung und Lehre, freie Marktwirtschaft und private Lebensgestaltung (ζ. B. Freizeitgestaltung). 10 H. (155 f.) wendet sich gegen die „positivistische Gleichstellung" von staatlicher Tätigkeit und Staatsgewalt (als Befehl und Zwang). I n seinem „modernen System staatlicher Herrschaftsausübung" unterscheidet er zwischen der wachsenden Herrschaftsausübung durch Sanktionen und durch geistigen Einfluß (ζ. B. wirtschaftslenkende Steuer, Konjunktursteuerung). Die Souveränitätsfrage wird als Frage nach der faktischen Durchsetzungskraft des Staates gestellt (180,187). 11 Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 119 (196 f.). 12 Demokratisches Prinzip als moralisch indiziertes Prinzip (203) ! 13 S. 218: Warnung vor der Vorstellung, Repräsentation sei automatisch ein ethisch wertvoller Vorgang. 14 S. 255: „Pluralistische Interessenrepräsentation"; zum Problem: P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 15, 346 f., 426 f., 510. — Nur ist die Frage, was der Begriff Repräsentation dann noch leisten soll, warum er einseitig auf die Führung großer Parteien verteilt, warum der Abgeordnetenstatus abgewertet werden soll. Das „Interesse", als zentraler Verfassung

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M i t dieser Entmythologisierung des Repräsentationsbegriffs sollte eine „Materialisierung" einhergehen: Die Fixierung auf zu repräsentierende „Ideen" (z. B. bei H. selbst, 218) wäre i n Frage zu stellen: nicht nur Ideen, auch Interessen werden repräsentiert 15 . H. entscheidet sich m i t Nachdruck für den modernen Staat als repräsentative Demokratie (220) — i n K r i t i k am Rätesystem (218 ff.) 16 . — Aus dem Abschnitt zur Gewaltenteilung (228 ff.) sei ihre Kennzeichnung als System sich gegenseitig überschneidender Kompetenzen (229), als politisches Prinzip echter Machtsplitterung (235) erwähnt; i n der Gegenüberstellung der „Regelungsautomatismen" Staat und Gesellschaft selbst liegt nach H. ein erhebliches Element der Gewaltenteilung und -kontrolle (237) 17 . Unter „Formen" demokratischer Organisation sind i. S. einer „Institutionenlehre" abgehandelt (242 ff.): Parlament, Exekutive, i h r gegenseitiges Verhältnis und (unverhältnismäßig ausführlich) das Staatsoberhaupt (Ablehnung des Begriffs „pouvoir neutre", 282), zuletzt die politischen Parteien. Bei den Staatsfunktionen (300 ff.) w i r d vorweg erörtert die Trias Einzel- und Vollzugsakt sowie die verfassunggebende Gewalt. — H. weist besonders auf die Entlastungs-, Lenkungs- und Planungsfunktion der geschriebenen Norm hin (303 f.) 18 . I m Kapitel Staatswillensbildung (338 ff.) w i r d der Staat als ein „Subsystem", eine Institution der Gesellschaft gekennzeichnet (339); sein Ziel ist die Bewältigung solcher Umweltprobleme, die der „unorganisierten Gesichtspunkt für Repräsentation genommen, ist auch dem Abgeordneten zuzuordnen. I m übrigen: bei H. kommt auf dem Umweg über den Staat als das bessere Gewissen der Gesellschaft (219) dann doch wieder eine „höhere Weihe" ins Spiel. — Jede freie plurale Gesellschaft wird von Randgruppen herausgefordert und bedroht. 15 Grundlegend J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956. — H. w i l l zwischen akzeptabler und nichtakzeptabler Repräsentation unterscheiden (218), je nachdem, ob sich die repräsentierte Idee im Rahmen des von der Gesellschaft tolerierten Wertkatalogs hält oder nicht — gibt nicht auch für diesen Katalog die Verfassung den Rahmen? 16 Hier wird von bestimmten Verfassungen aus gedacht, d. h. Staatslehre wird unversehens zur Verfassungslehre. — Mitunter wird der Begriff „Volkswille" zu naiv verwendet (ζ. B. 220) : Die politische Führung muß imstande sein, ihre politischen Aufgaben gegenüber der Gesellschaft zur Not auch gegen deren Willen zu formulieren und durchzuführen. Die Notwendigkeit der Wahl verhindere, daß sie sich dabei allzu weit vom „Willen des Volkes" entferne. 17 So fragwürdig das Bild vom „Automatismus" auf der staatlichen wie der gesellschaftlichen Seite ist, so wichtig ist es, den Blick dafür zu schärfen, daß Gewaltenteilung nicht nur im staatlichen Bereich relevant ist: im Bereich des öffentlichen, ζ. B. dem der politischen Parteien, kommt es zu Formen der Gewaltenteilung i. w. S. (§ 14 I I 2 PartG) : Staatliche Prinzipien „wandern" in den gesellschaftlichen Bereich. 18 I n diesem Rahmen untersucht H. die Funktionen der Verfassung (319 ff.): Verfassung als „besseres Gewissen der Gesellschaft" (322), als „kleinster gemeinsamer Nenner der pluralistischen Gesellschaft".

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Ordnungsbildung der gesellschaftlichen Kräfte allein nicht möglich wäre". H. bezeichnet die „Entscheidung als Notwendigkeit des modernen Staates" (348). Als „Formel" der Staatswillensbildung konzipiert er (350): „Entscheidung auf der Grundlage von Berechnung"; die voluntative Entscheidung, die die Politik bisher geprägt habe, sei durch das sachverständige K a l k ü l nicht so weitgehend ersetzt worden wie gelegentlich angenommen werde 1 9 . — Aus dem Kapitel Grundrechte (357 ff.) ist hervorzuheben: neben die individualrechtliche Komponente t r i t t ihre Bedeutung als „Konstitutionsprinzipien des Selbstregulierungsautomatismus der Gesellschaft" (366) — „mehrere ordnungspolitische Dimensionen" —, die These (360), die Gleichheitsrechte könnten i n erheblichem Umfang nicht aus einer anthropologischen Grundtatsache abgeleitet werden, sondern sie müßten durchgesetzt werden, obwohl gerade Ungleichheit der Menschen eine anthropologische Grundtatsache sei; die fehlende dynamische Komponente der traditionellen Gleichheitsrechte w i l l H. durch das Sozialstaatsprinzip und die ihm folgende W i r t schafts- und Sozialpolitik ersetzt sehen (388) 20 . III. 1. Methodisch ist die Entschlossenheit zu begrüßen, m i t der H. die Staatslehre i n den Kreis der „Staatswissenschaften" zurückführt (16), ebenso der Ernst, m i t dem er sie als kritische Wissenschaft versteht (33). Mag sich H. m i t der Prüfung begnügen, ob bestimmte „Tatsachen" von eigenen Ergebnissen der Staatslehre her „wünschenswert" sind oder nicht (34), die Tatsache, daß das „Vorhandene nach selbstermittelten Kriterien beurteilt w i r d " , ist ein kaum zu überschätzender Ansatz, erweitert man ihn u m die Dimension der zukunftsoffen erfragten Möglichkeiten und Notwendigkeiten (Ansätze: 34). Ein großer Fortschritt ist diese Staatslehre wegen ihres „Realismus" 2 1 ; dieser „mittlere" Weg zwischen idealistischer Selbstüberhöhung mancher traditioneller Staatslehren 2 2 und empirischer Befundnahme 23 ist der einzig mögliche. 19

Das Prinzip der Kontrolle in der Staatswillensbildung verdeutlicht H. im Anschluß an Loewenstein durch Intraorgan- und Interorgankontrollen (353: Staatsvolk als Gesellschaft auch Gegenstand staatlicher Kontrolle) und durch den Hinweis auf Kontrolle durch demokratische Öffentlichkeit (355 f.). 20 Unter dem Thema „Grundrechte und Gesellschaftsverfassung" werden die Drittwirkung der Grundrechte (389 ff.) und Grundrechte und Sozialstaatlichkeit (393 ff.) behandelt. Für H. ist ein starker Staat das kleinere Übel gegenüber einer mit Sicherheit totalitär werdenden Gesellschaft und ihren Machtkonzentrationen (393). Sozialstaatlichkeit ist immer auch Gleichheitsverwirklichung (394). 21 S. 57, 63, 67, 87, 91, 115, 134, 140, 205, 209, 356. 22 S. 63: Abwehr metaphysischer Spekulationen. 23 S. 154: institutionelle Staatstheorie als geeigneter Weg, Empirie und Spekulation in ein vertretbares Verhältnis zueinander zu bringen. 18*

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Das Buch lebt vom Ethos der Humanität (so pessimistisch das Menschenbild ist) und setzt den Staat von hier aus wieder i n manche Kompetenzen ein, die i h m heute mitunter abgesprochen werden. H.s Staatslehre ist für den Menschen 24 geschrieben, und sie braucht den Menschen (341)25. Dieses klare Votum ist unverzichtbar: übermenschliche Staatserhöhung deutscher Staatslehren der .Vergangenheit hat mindestens eine „Gefährdungshaftung" für Perversionen von Staatlichkeit begründet. Der anthropozentrische Ansatz 2 6 — nicht nur Recht und Bürger, sondern auch Staat und Bürger gehören zusammen — sollte i n einem humanitären Grundrechtsverständnis sein Gegenstück haben: Es ruft den Staat als „Leistungsstaat" i n neue Verantwortungszusammenhänge. 2. Eine Kernfrage heutiger Staats- und Verfassungslehre ist die nach dem Verhältnis von Staatlichkeit und Verfassungsinhalten. Gibt es nur so viel „Staat", wie die Verfassung konstituiert? Welches sind die „Rückzugsgebiete" von Staatlichkeit: Begriffe wie Souveränität, Kompetenz, Gemeinwohl, „Industriegesellschaft" usw.? 27 Für eine demokratische Verfassungslehre gibt es keine unverfaßte, vorgegebene Staatlichkeit. Dabei begnügt sie sich keineswegs m i t der jeweiligen Verfassung des politischen Gemeinwesens; der status quo w i r d nicht zum positi vierten Ideal stilisiert; denn sie verfügt infolge ihres offenen A n satzes über Richtpunkte und Verfahren, die über die jeweilige Verfassung hinausweisen, ohne daß sie sich an Blankettformeln wie souveräne Staatlichkeit (Forsthoff) f Aufgaben nach Maßgabe von Lagen (Herbert Krüger) verlöre 2 8 — sie sind ebenso unbegrenzt wie unberechen24 Smend, Festschrift für A. Arndt, 1969, S. 452 (460) : „Aber eine demokratische Staats- und Verfassungslehre kann nicht am formalen Staatswillen einsetzen, sondern am Menschen in seiner gesellschaftlichen, politischen Lage, an der Frage, was ihm zu bieten und zuzumuten sein möge." 25 Wichtig ist die Verknüpfung der Humanitätsidee mit dem demokratischen Prinzip (203), dessen ethische Bedeutung H. mit großem Recht unterstreicht. 26 Stich wort: anthropozentrischer Staat, 141 f., 363. — Vorbildlich wirkt die Verbindung von Einsicht und Interesse, Erkenntnis und persönlichem Engagement, die das Werk allenthalben kennzeichnet. — Überraschend ist, daß in dieser Staatslehre für den Menschen die Konzeption eines Kulturstaats fehlt. Mag „Kulturstaat" gegenüber dem Sozialstaat auch noch so schwer abzugrenzen sein, angesichts der heutigen leistungsstaatlichen Effektivierung kultureller Freiheiten der Bürger (dazu z. B. P. Häberle, AöR 97 [1972], S. 325 [326 ff.]), angesichts kultureller „Gemeinschaftsaufgaben" im bundes- und leistungsstaatlichen Sinne muß eine Staatslehre diesen Aspekt thematisieren: im Spannungsfeld zur weltanschaulich konfessionellen Neutralität des Staates und seiner pluralismusorientierten Kulturpolitik. 27 Zur Gefahr der „Rechts-staatlich" orientierten, den Rechtsstaat „zerlegenden" Staatslehre von Forsthoff: mein Beitrag, Retrospektive Staats-(Rechts) lehre oder realistische Gesellschaftslehre?, Z H R 136 (1972), S. 425 ff. 28 s. aber H., 187, für den „allen Theorien zum Trotz Souveränität keine selbstverständliche rechtliche Eigenschaft des Staates oder der Staatsgewalt ist, sondern eine faktische Eigenschaft, sich mit welchen Herrschaftsmitteln

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bar. Demokratische Verfassungslehre verfügt über Problemzusammenhänge und Begriffe, die von einer konkreten Verfassung aus und über diese hinaus fragen lassen, ohne daß sie i n Utopien mündet, die gewaltsam i n die Gegenwart gezwungen werden, ohne daß sie resignierend die sog. Realität als eine Gegebenheit hinnimmt, an der nicht viel zu reformieren wäre, und ohne daß sie Heutiges an einer zum Ideal stilisierten Vergangenheit mißt. Gemeint sind Begriffe wie Öffentlichkeit, Offenheit, Verfahren, abgeschirmte Privatbereiche für den einzelnen: Aspekte der res publica. Verfassungslehre bedarf solcher Begriffe, die ihre Zukunft offenhalten, ohne unverlierbare Einsichten wie die vom staatlichen Monopol 2 9 öffentlicher Gewalt zum Schutz persönlicher Freiheit preiszugeben. Ein M i n i m u m an einenden Inhalten und ein Optimum an Verfahren konstituiert das Forum demokratischer Verfassungslehre. Symptomatisch für die von H. dem Staat gegenüber der Verfassung eingeräumte Präferenz 30 dürfte es sein, daß Problematik und Methoden der Verfassungsinterpretation nicht behandelt sind 3 1 . Das ist um so bedauerlicher, als sich heute jedes Staatsdenken dem stellen muß, was über Verfassungsinterpretation m i t dem Staat (und seiner Gesellschaft) und auch gegen den Staat geschieht. Verfassungsinterpretation hat einen Stellenwert erhalten, der dem von Gesetzgebung und Verwaltung zur Zeit klassischer Staatslehren gleichkommt. Staatsverständnis w i r k t heute vor allem über Verfassungsinterpretation. Einsichten vermittelt H. dort, wo seine „Allgemeine Staatslehre" zum Verfassungsrecht wird. Ζ. B. unterscheidet er neben dem klassischen Norm- und dem Maßnahmegesetz das Planungsgesetz, das die Gesellschaft als dynamische Größe begreift und selbständige Impulse für künftige Entwicklungen gibt (328). Hier findet sich ein eindrucksvolles Plädoyer für die Schaffung eines „institutionalisierten Fortschreibungsverfahrens" — der naheliegende Typus der Leistungsgesetzgebung kommt freilich noch nicht ins Blickfeld 3 2 . Dabei zeigt sich eine Stärke des Buches: die Präsentation neuen empirischen Materials. auch immer durchzusetzen". Doch lehnt H. mit Recht die Organsouveränitätstheorien ab (238 ff.). 29 Das kein Monopol auf eine „öffentliche Wahrheit" ist. 30 S. 309: Verfassung nur ein Aspekt des Staatlichen. 31 Diese „Auslassung" hat ihr Gegenstück im Fehlen des Rechtsbegriffs. Dazu sagt H. nur (108), der Begriff „Recht" sei vieldeutig. Zum Begriff Norm: 300 ff. H. treibt mitunter durchaus Verfassungsinterpretation, ζ. B. 321; auf Umwegen oder in Nachsätzen bringt er die Verfassung ins Spiel: aber eben nicht unter Vorabklärung der Grundsatzfrage. 32 Dazu mein Beitrag: Leistungsrecht im sozialen Rechtsstaat, in: Festschrift für G. Küchenhoff, 1972, S. 453 ff. — Freiheit muß immer neu konstituiert werden : neben der individuellen Selbstbestimmung durch staatlichen Eingriff und staatliche Leistung.

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Manche Passagen sind zu sehr i n der A r t eines Zeitschriftenaufsatzes geraten; ein Lehrbuch lebt indes auch von prägnanten Lehrformeln, leitsatzähnlichen Konzentraten, und zwar i. S. mancher Teile der Kommentierung i m „Maunz / Dürig / Herzog". Holzschnittartige Strukturen sind der monographieähnlichen Darstellung aus pädagogischen Gründen vorzuziehen, Vereinfachungen und handhabbare Reduktionen brauchen i m Lehrbuch den Vorwurf der terrible simplification nicht zu scheuen. Hier darf m i t „Schlagworten" gearbeitet werden, sofern sie durch L i teraturangaben oder Vorbehalte abgesichert sind 3 3 . Damit w i r d nicht jenen Abbreviaturen das Wort geredet, die durch Brillanz die W i r k lichkeit verkürzen und ein unkontrolliertes Eigenleben führen. Doch muß sich Verfassungslehre für den heutigen politischen Tageskampf m i t plastischen dogmatischen „Kürzeln" wappnen, um eine gewisse Durchschlagskraft zu erreichen 34 . Das Verhältnis von Staat und Gesellschaf t 3 5 w i r d zum großen Thema. H. distanziert sich ausdrücklich von Ehmke, Hesse u. a. Doch bleibt eine Fülle von Fragen (zumal H. fast durchweg hinter Heller zurückbleibt), ζ. B. gegenüber der These: die Gesellschaft stelle beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen und innerhalb gewisser Grenzen einen Selbstregulierungsautomatismus dar (Regelung bestimmter menschlicher Probleme „ i n einer A r t Kräfteparallelogramm"). Hier ist zu fragen: lassen sich Staat und Gesellschaft gedanklich und praktisch so „isolieren"? Gibt es eine „Selbstregulierung", ein „Selbst der Gesellschaft" und ein „Gegenüber" zum Staat angesichts der Leistungszusammenhänge, i n denen Staat und Gesellschaft stehen? Kann man m i t solchen Kompetenzabgrenzungen arbeiten angesichts der heutigen „Gemeinschaftsaufgaben" i m „Leistungsstaat"? Und weiter: Nach H. stellt der Staat teils nur „Spielregeln" zur Verfügung — eine kaum mögliche Abstraktion angesichts der eminent gestaltenden Natur dieser Regeln 36 —, teils gibt er „Vollstreckungshilfe" gegenüber der sich selbst regulierenden Gesellschaft (124). Das von H. partiell aufrechterhaltene B i l d einer „Selbstregulierung" ist i n Frage zu stellen. Er spricht selbst von „Ergänzungsbedürftigkeit" der gesellschaftlichen Selbstregulierung und der Notwendigkeit, wonach die Zentripetal- die Zentrifugalkräfte „merklich" 33 Vorbildlich ζ. B. die Zusammenfassung der verschiedenen Inhalte des Souveränitätsbegriffs (87) oder die des Staatsbegriffs der Reinen Rechtslehre (89 f.). 34 Prägnante Zitierstellen: ζ. B. der Satz, eine uniformierte Nation sei keine integrierte Nation (83), zwischen dem Menschen- und Staatsbild des Totalitarismus und dem der freiheitlichen Demokratie gebe es keinen kleinsten Nenner gemeinsamer Argumentation (121), das allgemeine Gesetz sei nur die schriftlich fixierte öffentliche Meinung gewesen (245). 35 Dazu zuletzt E.-W. Böckenförde, in: Rechtsfragen der Gegenwart, 1972, S. 11 ff. 36 ζ. B. Bürgerliches- und Prozeßrecht im Rahmen der Marktwirtschaft.

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übersteigen müssen. Problematisch ist die These (136), der Staatsapparat diene als Instrument des Menschen zur Ergänzung und Bändigung des gesellschaftlichen Regelungsautomatismus — denn dieses B i l d verstellt den Weg zur Erkenntnis der gesellschaîtskonstituierenden Steuerung des Staates. Der Staat t r i f f t auf die Gesellschaft (und das Volk) weder „von außen" noch „von oben"! Die Gesellschaft ist kein staatsfreier Raum; i h r Wirkungszusammenhang kann unabhängig von dem des Staates nicht einmal gedacht werden. Wie kann der Staat das „bessere Gewissen" oder das „bessere Gehirn" (151) sein, wo die Gesellschaft „Grundlage" der Staatsrechtslehre ist (s. auch 219, 238) und derselbe Mensch i n Frage steht? Lebt hier nicht, wenn auch modifiziert, die gegenüber der Gesellschaft „höhere Sittlichkeit" des Staates fort? Läßt sich naturalistisch von einer vom „Prinzip des Eigennutzes beherrschten Gesellschaft" sprechen, die nur i n Grenzen sich selbst überlassen werden kann (144)? Konkretisiert der Staat per se das Gemeinwohl oder ist dieses nicht das Ergebnis von viel komplexeren, ζ. B. i n funktionaler Hinsicht staatlichen und gesellschaftlichen (etwa Partizipations-)Verfahren? Die von H. beibehaltene „Trennung" von Staat und Gesellschaft (147) manifestiert sich darin, daß er von der egalitären Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts als „Bereich unorganisierter Selbstregulierung" spricht und vom Staat (Staatsapparat) „von der Gesellschaft aus betrachtet" nicht als Element der Selbststeuerung 37 , sondern der Außenund Fremdsteuerung (146). Hier zeigt sich die Gefährlichkeit verräumlichender Bilder: „Selbst", „Außen" bzw. „Fremd" — das sind Chiffren, die der Realität des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft auch für den nicht gerecht werden, der ihre totalitäre Deckungsgleichheit ablehnt (Dürig). Gesellschaft ist immer organisiert und nicht selbstreguliert. Auch die Formulierung, Staat und Gesellschaft seien „unterschiedliche Aggregatzustände des Volkes" (145, 149, 353) h i l f t nicht viel weiter. H. spricht selbst von dem Unterschied i m „Verfahren der Entscheidungsbildung" (147). Es ist zu sehr „von außen" gedacht, wenn er ζ. B. (219) von einer Aufgabe der Staatsorganisation spricht, gesellschaftliche Verhältnisse zu kontrollieren und zu korrigieren. Partizipationsformen ζ. B. vermitteln heute Staat und Gesellschaft 38 . Und die Verfassung verfaßt nicht nu~ den Staat, sie strukturiert auch die Gesellschaft i m freiheitlichen 37

Problematisch auch 151 : „gesellschaftsimmanente Steuerung". s. aber auch 254: Staatslehre heute habe es nicht nur mit einer Gesellschaft der Individuen, sondern mit einer Gesellschaft der Gruppen zu tun. — Wo nun eigentlich Freiheit und Gleichheit sind und sein sollen, d. h. auf der Seite des Staates oder (auch) auf der der Gesellschaft, wird nicht voll deutlich: Gewiß soll der Staat Hüter von Freiheit und Gleichheit gegenüber den gesellschaftlichen Mächten sein, zum Schutz organisierter Minderheiten antreten (224 f.). Zugleich spricht H. indes von „gesellschaftlicher Freiheit und Gleichheit" (225). 38

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Sinne (insgesamt: die res publica), da potentiell ein „Bürgerkrieg der Gruppen" droht. Keine politische Freiheit ohne reale gesellschaftliche Freiheit: darum die von der Verfassung intendierte freiheitliche Gesam tordnung! 3. Staatslehren sind nicht nur nach ihren erklärten Schlüsselbegriffen (z.B. 121: freies selbstverantwortliches Menschenbild) zu bewerten, sie müssen auch daraufhin untersucht werden, welchen Grundfragen sie sich nicht stellen bzw. wie sie ihnen zu entgehen suchen 39 . a) Eine Fehlanzeige ist für das Problem des Politischen zu vermerken — eine moralische Komponente der Politik läge i n der Konsequenz von H.s Staatsverständnis. Das Politische w i r d nur unsystematisch relevant 4 0 . A m Problem des Politischen (im Spannungsfeld des Notwendigen und Möglichen) 4 0 a kommt indes keine Verfassungs- oder Staatslehre vorbei. Die vermeintlich unpolitische Eigenständigkeit und Neutralität von Recht gegenüber dem Politischen wurde längst als ( S e l b s t t ä u schung erkannt. Offen ist indes, wie sich Verfassung, Recht und Politik einander zuordnen lassen. Es gibt Politik durch Verfassungsinterpretation (ζ. B. durch das BVerfG). Wenn Recht geschaffen ist, hört Politik noch nicht auf. Scheidet eine Identifizierung von Recht und Politik aus, ebenso ihre wechselseitige Instrumentalisierung 4 1 , so ist doch auch die Meinung vom schlichten Nebeneinander abzulehnen: zugunsten einer funktionalen Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Instanzen i n verschiedenen Verfahren i m Rahmen desselben politischen und Rechtssystems. A n manche Positionen der bisherigen — an Vereinseitigungen leidenden — Kontroverse w i r d anzuknüpfen sein. So ist der Topos der „guten Ordnung" nicht ersatzlos zu streichen, nur ist er in seinen Dimensionen zu erweitern: u m den Begriff des Konflikts. Damit w i r d keiner Neuauflage des Freund/Feind-Denkens das Wort geredet, doch ist „gute Ord39 So ist es ebenso charakteristisch wie überzeugend, daß H. den „vieldimensionalen" Begriff der Souveränität nicht zusammenhängend behandelt, sondern über die verschiedenen Problemzusammenhänge gleichsam verteilt (87). 40 Mitunter führt H. ausdrücklich eine „politische Betrachtung" durch, ζ. B. für die Drittwirkung der Grundrechte (393). 393: der Staat muß nach seiner Verfassungsordnung und praktischen Politik bewußter Rechtsstaat sein. s. auch die Bemerkungen zu den Zielen der Bildungs- und Sozialpolitik (395). 349: Funktion staatlicher Politik: die Festlegung der anzustrebenden Ziele. 142: verfassungstheoretische und -politische Folgerungen der anthropozentrischen Staatsauffassung. Ein politischer Impetus ist auch in dem Bestreben erkennbar (153), nach Kriterien für die Beibehaltung oder Umgestaltung einzelner Elemente des Staates zu fragen. 40a Dazu im Blick auf die numerus-clausus-E. des BVerfG mein Beitrag, DÖV 1972, S. 729 (731 ff.). 41 Die sozialistischen Rechtstheorien zeigen, daß eine Rechtsordnung, die sich von vornherein als Instrument der Politik versteht, freiheitsvernichtend wirkt.

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nung" (wie der Kompromiß) ein Topos, der nicht als bequemer Vorwand zur Verhüllung und Ausklammerung von Konflikten dient, sondern solche einschließt. Inhalt und Verfahren „guter Ordnung" können Gegenstand von Konflikten sein, die freilich verfahrensmäßig diszipliniert werden müssen. „Gute Ordnung" ist kein konfliktfreier Bereich und kein Konfliktsverbot. Sie liegt i m Spannungsfeld der Öffentlichkeit. Der Begriff „gute Ordnung" darf nicht einer retrospektiven Staatslehre überlassen werden. Dichtet man ihn gegen Konflikte ab, so brechen diese um so unkontrollierter aus — oft an unerwarteten Stellen. „Politisierung" ist entgegen manchen zeitgenössischen Parolen kein Wert an sich; zu fragen ist, was i n welcher Weise und m i t welchen Zielen und i n welchen Grenzen „politisiert" werden soll. Oft geht es darum, verdeckte politische Zusammenhänge offenzulegen, damit sie rational diskutiert werden können. „Entpolitisierung" ist weder etwas an sich Gutes noch etwas Schlechtes. Es muß ζ. B. private und unpolitische Schutzzonen geben — nicht zuletzt gerade um politisches Denken und Handeln zu ermöglichen. Näherer Prüfung hält es nicht stand, wenn Begriffe wie Fachwissen, Sachverstand als „unpolitisch" qualifiziert werden. Nicht minder unrealistisch ist die Fixierung des Politischen auf das Irrationale. Freilich läßt sich aus anthropologischen Gründen das Irrationale aus dem politischen Handeln nicht verbannen, weil es menschliches Handeln ist 4 2 . Das Denken i n Konflikten (und den Verfahrensregelungen zu ihrer Austragung) ist eine Dimension des Politischen neben anderen: etwa der Ausrichtung an der Macht (als Mittel zur Erhaltung oder Veränderung bestehender Verhältnisse), an ihrem Erwerb, ihrer Ausübung und ihrer Kontrolle. Gerichte sind dort, wo sie staatliches Handeln kontrollieren, eminent politisch (auch i n Amtshaftungsprozessen oder verwaltungsrechtlichen Anfechtungsklagen). Es geht um die Frage, was die Gerichte (auch) politisch verantworten können, nicht darum, daß sie nur „Recht" „anwenden"! Gerichte haben heute sowohl eine Entlastungs- und Ausgleichsfunktion als auch eine Innovationsaufgabe 43 . Ge42 H. (211) stellt dem Staat des Mittelalters den „politisch orientierten Staat" gegenüber — er ist „Gestaltungsinstrument" in der Hand des mündig gewordenen Menschen. 43 Das Verfahren verfassungsgerichtlicher „Wahrheitsfindung" ist zu überdenken, im Blick auf die ausgreifende wirklichkeitsorientierte Funktion des BVerfG im politischen System. „Materialbeschaffung" (Beweiserhebung auch im Blick auf die Folgen) und „Interpretation" sind miteinander verschränkt. Darum sind die einzelnen Verfahrensabschnitte stärker in ihrem Zusammenhang und in ihrer Funktion für das politische System zu sehen. Von der Richter(aus)wahl („im öffentlichen Leben erfahrene Personen", vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 Hamb. VerfGG) über den fortzuentwickelnden § 26 BVerfGG (neuartige Formen der Einbeziehung von Gutachten, Hearings) zu Minderheitsvoten, die der normierenden Kraft der Öffentlichkeit Raum geben und den Begründungs-

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rade die Entscheidungstheorien könnten den notwendigen Anteil der (gestaltenden) Rechtsprechung bei der politischen Konkretisierung des Rechts zeigen. Recht als Kontrolle staatlicher (und gesellschaftlicher) Macht ist eine Form von Politik. Nur der juristisch-dogmatischen Durchdringung ist es zuzuschreiben, daß diese Binsenwahrheit zuweilen vergessen wird. Recht als Ermächtigung zur Macht (etwa Kompetenzen der Verfassung) ist ihrerseits eine Form von Politik, die durchaus an Normen gebunden ist. Die Affinität des Politischen zum K o n f l i k t zeigt sich selbst i n der Staatsrechtswissenschaft: sie n i m m t Kontroversen vorweg, reflektiert oder glossiert allgemeine politische Bewegungen und Akzentverschiebungen. Man erinnert sich an Windstille oder plötzliche literarische Publizität bestimmter Problembereiche, wobei Methodendivergenzen im Hintergrund stehen: so folgten i n den 60er Jahren auf Kontroversen um das Grundrechtsdenken eine solche zum Staatskirchenrecht, zum Verhältnis von Staat und Gesellschaft, zum Begriff des öffentlichen und die Methodendiskussion, die zuweilen ihren sachlichen Gegenstand zu verlieren droht. Die „Inflation" der Methodenkontroverse hat auch politische Gründe. Das „Wandern" des Lichtkegels des wissenschaftlichen Interesses, der sich auf bestimmte Probleme richtet und Konflikte aufdeckt und austrägt, ist ein Stück Politik innerhalb der Staatsrechtswissenschaft. Grundfrage bleibt, ob Politik mehr „Kunst der Steuerung von Objekten i m Strom als die Kunst der Steuerung des Stroms selbst" (H. Lübbe) ist. Was „Verfassung" inhaltlich und prozessual für Politik bedeutet und bedeuten kann, darf gewiß nicht überschätzt werden. Indes reicht es nicht aus, m i t H. zu sagen (220): Verfassungen und Gesetze könnten i m staatlichen Bereich eine gute und richtige Politik zwar nicht garantieren, wohl aber verhindern und damit auf der anderen Seite ermöglichen. Verfassungslehre ist kein Surrogat für gute Politik, wohl aber ein wichtiges Beispiel. Verfassung ist Grundlage „guter Politik", und ihre Konkretisierung ist auch Politik. zwang verstärken, sowie bis zur Möglichkeit einer „Revision" von Verfassungsgerichtsurteilen bei veränderten Verhältnissen. A l l dies sind Mittel zur Öffnung des BVerfG gegenüber dem sozialen Wandel, wobei der Wahrheitsbegriff in Richtung auf Konsenstauglichkeit zu hinterfragen ist. I n einem Gemeinwesen, das nicht an vorgegebene Wahrheiten glaubt, ist der überkommene Wahrheitsbegriff in Zweifel zu ziehen. — Erforderlich wird ein materielles Verständnis des Verfassungsprozeßrechts im ganzen und einzelnen, das dem prozeduralen Verständnis des Verfassungsrechts entspricht: „Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" bzw. als Recht, das das Verfassungsrecht in spezifischen Verfahrensarten durch eine spezifische Funktion, die Verfassungsgerichtsbarkeit, konkretisieren läßt. Beispiele: § 3 Abs. 3 BVerfGG einerseits, §§ 6, 7, 8, 9 andererseits; §§ 3 Abs. 4 Satz 1,18 Abs. 2 und 3, 30 Abs. 2 BVerfGG.

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b) M i t dieser Aussparung des Politischen und der Vernachlässigung der Verfassung (zu ihr: 319 - 323) mag es zusammenhängen, daß Verfassungspolitik als Aufgabe demokratischer Verfassungslehre nicht ins Blickfeld rückt. Sie bleibt wie die Gesetzgebungspolitik i m Schatten (Ansätze aber 328 ff.). Und doch hängt die Glaubwürdigkeit der Staatsoder Verfassungslehre von der Bereicherung ihrer Methoden und Inhalte durch die Verfassungspolitik ab. Sie hat der Verfassunggebung Richtpunkte und Alternativen i. S. einer „relativ besten" Lösung anzubieten, zumal i m Hinblick darauf, daß Verfassunggebung selbst immer stärker „normativiert" w i r d und aus komplexen Willensbildungsprozessen erwächst, d. h. nicht als normlose und geschichtslose Emanation eines souveränen Willensträgers erscheint 44 . Hier hat die Frage ihren Ort, inwieweit einzelne Verfassungselemente ein Stück ihrer Gegenstruktur 4 5 i n sich aufzunehmen haben, wie ζ. B. plebiszitäre und repräsentative Gestaltungsformen ausgewogen zu institutionalisieren sind (sofern sie sich nicht wie ζ. B. über die politischen Parteien verbinden); überhaupt wie das „Denken i n Balancen" praktisch aussieht 46 . H. hat durchaus Richtpunkte gesetzt, etwa i m Begriff der „Fortschrittsvorsorge" (117)47. Fortschrittsvorsorge ist aber auch i n bezug auf und durch die Wissenschaft vom Staat selbst erforderlich, d. h. als „Verfassungspolitik" (Innovation durch Verfassungstheorie). Vor allem bestimmte Grundfreiheiten, insbesondere die Meinungs-, Informations-, Wissenschafts- und Lehrfreiheit, Chancengleichheit i m (Aus-)Bildungswesen sind die Garanten für (Veränderungs-)Offenheit, Öffentlichkeit, Lebensfähigkeit und Fortbildung einer — Poppers „Philosophie des offenen Geistes" (Albert) und der Vielfalt gesellschaftlicher Interessen und Ideen entsprechenden — Verfassungslehre: Grundrechte als Vehikel der Verfassungslehre, die wissenschaftliche Kontroverse als Lebenselement dieser Disziplin. Für den Juristen gibt es kein Frageverbot gegenüber Verfassung und P o l i t i k 4 8 ; die Vermittlung von Wissenschaftstheorie und Politik i m Blick auf ihren Gegenstand ist die A u f gabe der Verfassungstheorie. 44

Dazu meine Besprechung: AöR 94 (1969), S. 479 (483 ff.). Vgl. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 14. 46 ζ. B. muß einem Mehr an Leistungsstaat ein Mehr an effizienter Demokratie und realer Freiheit gegenüberstehen („Leistung aus Freiheit"). 47 Dazu auch Eichenberger, Leistungsstaat und Demokratie, 1969, S. 9: „Prospektive". 48 Verfassungslehre muß sich heute ihren Weg suchen zwischen retrospektivem Verfalldenken in alten Staatsbildern und abstrakten Utopien, die sich aus der Offenheit und Unsicherheit der Gegenwart in eine vermeintlich sichere, entzeitlichte Zukunft flüchten (Verfassungspolitik muß auch die Trennung von Staat und Gesellschaft „überspringen".) Verfassungslehre ist also keine generalklauselartige Legitimierung des status quo. 45

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Schon der Begriff der „lebenden Verfassung", der Verfassung als öffentlicher Prozeß (law i n public action) 49 impliziert das kritische Weiterund Vorausfragen i. S. rationalen Problemlösungsverhaltens. Verfassungslehre muß sich bewähren und hat nicht bloß zu bewahren 50 . Sie ist unterwegs und hat sich über die handlungspraktische und entscheidungserhebliche Bedeutung juristischer Begriffsbildung i. S. einer praktischen Theorie Rechenschaft zu geben. Die Wirklichkeit ist ohne „Dogmatisierungen" auf vorläufige Begriffe zu bringen, u m Anpassungen an den und Steuerungen i m sozialen Wandel zu ermöglichen. Verfassungslehre muß sich unabhängig vom status quo etwaigen neuen Tendenzen möglichst früh, ex ante stellen 51 . Damit eröffnet sie sich Gestaltungsmöglichkeiten (i. S. von Poppers „piece meal social engineering"), um die sich eine retrospektive Staatslehre schon oft gebracht hat und die Retrospektivität unversehens zu Retroaktivität macht, d. h. i m Blick auf eine nicht „verfallene", z. B. nicht durch den Pluralismus bedrohte Staatlichkeit sich die Chance nimmt, Pluralismusdefizite zu benennen und zu verringern 5 2 . Umgekehrt muß Verfassungslehre auch i n die — interpretationsbedürftige — Vergangenheit zurück offen sein, d. h. sie hat Erfahrungen, die i n bestimmten Begriffen (insbesondere auch formalen Prinzipien) tradiert sind, auf ihre etwaige Relevanz i n der Gegenwart zu befragen. M. a. W.: Verfassungslehre ist mehr als „Auslegungsdogmatik " 5 , \ c) Vergeblich sucht man eine Behandlung des Verhältnisses von Verfassungsrecht/Wirklichkeit. Problematisch sind 1) ihr Verhältnis, 2) die Faktoren, die dieses Verhältnis beeinflussen. Hier hat die Diskussion neu eingesetzt 54 : Der Streit zwischen „Progressiven" und sog. „Konservativen" spielt sich heute z. T. i n unterschiedlichen Akzentuierungen des 49

Dazu P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. Dazu mein Mitbericht, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. (72). „Bewährung" kann in der Form von Bewahrung oder Veränderung erfolgen. 51 Das bedeutet auch: Offenheit für Experimente, wie überhaupt Poppers Fallibilismus in die Verfassungstheorie einzubringen ist. Auch die Verfassungsdogmatik hat die Probleme so zu formulieren, daß sie falsifizierbar sind. 52 Zum Pluralismus vor allem Smend, ZevKR 16 (1971), S. 241 (245 ff.). 53 Staatslehren liefern nicht nur Aspekte jeweiliger Staatlichkeit, sie geben auch Prospekte in bezug auf kommende Staatlichkeit. Staatslehren müssen in die Zukunft auszugreifen suchen, auch deshalb, weil heute Daseinsbewältigung ohne Planung nicht mehr möglich ist. H. spricht von der Fähigkeit des Staates zur vorausschauenden Lösung von menschlichen Problemen (118). Die Aufgabe der Staats lehre wird hier jedoch nicht sichtbar. Verfassungslehre liefert kein Fertighaus, allenfalls Bauelemente. Hierbei ist davon auszugehen, daß man den Menschen zwar nicht „besser" machen kann, wohl aber die Umstände, unter denen er lebt. 54 Vgl. Hennis , Verfassung und Verfassungswirklichkeit, 1968; dazu die Besprechungen von Hesse, AöR 96 (1971), S. 137 ff. und E.-W. Böckenförde, Der Staat 9 (1971), S. 533 ff. 50

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Verhältnisses von Verfassung und Verfassungswirklichkeit ab. Manche befürchten eine „Absorption" der Verf assung durch die Verf assungswirklichkeit 5 5 ; sie fordern: nicht die Wirklichkeit solle Verfassung werden, sondern die Verfassung solle Wirklichkeit werden 5 6 . Freilich sieht jeder Interpret auch diese Wirklichkeit vorgeprägt. Lerche w a r n t 5 7 zu Recht vor Veränderungsideologien, ferner vor Abwertung der geltenden Gesetzesordnung als einseitigem Interessenausdruck — oft ist indes das Gesetzesrecht einseitiger Interessenausdruck, und es kann oder sollte i. S. größerer Ausgewogenheit revidiert werden („Revisionismus" i n der Verfassungstheorie). K l a r ist die Gefahr zu sehen, daß die Verfassungswirklichkeit „schief" laufen kann und die Verfassung „überwuchert" 5 8 (Warnung vor Wirklichkeitsfetischismus, -positivismus und -ideologie). Die Frage ist, woher die Maßstäbe für die Diagnose dieses „Schief lauf ens" genommen werden. Die Formel von R. Schmid t r i f f t nicht voll: denn die Verfassung lebt auch aus Impulsen der — öffentlichen — Wirklichkeit. Eine Verfassung läßt oft mehrere Möglichkeiten „ihrer" Wirklichkeit zu — das einfache Gesetzesrecht hat Spielraum, so daß ein bisheriger Trend „umgekehrt" werden darf zu einer Entwicklung, die auch verfassungskonform ist. Z u unterscheiden ist zwischen dem, was nach der Verfassung möglich ist (eine Bandbreite von Alternativen), und dem, was von ihr gefordert ist und zwar als einzige Lösung 59 . Nicht alles Verfassungskonforme ist Verfassungsinhalt. Die Grenzen sind allerdings fließend. So können verfassungskonforme Gesetze schließlich zu einem Stück Verfassungsinhalt werden. Der vielzitierte „immanente Sinn" der Verfassung liegt nicht jenseits oder diesseits der Wirklichkeit, sondern mitten in dieser Wirklichkeit — der Verfassungstext ist von vornherein auch ein Stück dieser Wirklichkeit. Die normative K r a f t der Verfassung (Hesse) ist ohne eine bestimmte, schon je vorgegebene Wirklichkeit gar nicht auszumachen. Zugleich ist die Offenheit der Verfassung ernst zu nehmen: Was „ n u r " verfassungs konform ist, muß reversibel bleiben 60 . 55 Ridder, N P L 1971, S. 317 (332). Nur ist die Frage, ob Ridder nicht selbst ein vorgefaßtes Bild von „Verfassung" hat, das ihm die derzeitige Wirklichkeit weiter vom GG entfernt erscheinen läßt, als sie es ist. 56 R. Schmid , Unser aller Grundgesetz? 1972, S. 13. 57 In: Festgabe für Maunz, 1971, S. 285 (289). 58 s. das treffende Bonner „on dit": die Verfassung sei durch das Diätengesetz fortentwickelt worden. — Freilich kann Verfassungspraxis zur „Praxis der Theorie" werden. 59 Wichtig ist die Publizitätswirkung der Verfassung. 60 Beispiel: „Die soziale Marktwirtschaft". — „Öffentlichkeit der Verfassung" bedeutet hier: Verfassungsinterpretation darf nicht vorschnell eine unterverfassungsrechtliche Entwicklung rezipieren, sondern muß sich für alle verfassungskonformen Entwicklungen offenhalten. Es sollte möglich bleiben, daß sich die Wirklichkeit ändert. Nicht alles Wirkliche ist Ver/assnngswirklichkeit in dem Sinne, daß nur diese konkrete Wirklichkeit verfassungsmäßig wäre. Und : es gibt auch verfassungswidrige Wirklichkeit.

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Der Prozeß der Verwirklichung der Verfassung ist vielfältig determiniert und sollte doch „offen" sein. Z u warnen ist vor einer vorschnellen Präjudizierung der „Fortbildung" durch Festlegung auf bestimmte Richtungen. Da Interpretation der Verfassung oft schon ein Stück Fortbildung ist, kommt es entscheidend darauf an, welchen Stellenwert die Interpretation der Wirklichkeit — bewußt — einräumt. Diese W i r k lichkeit ist i n ihren wichtigsten Faktoren zu kennzeichnen: Es sind dies das Gesetzesrecht, die Staats- und Verfassungspraxis, die — keineswegs „neutrale", sondern „pluralistische" — Verwaltung, Parteipolitik, w i r t schaftliche Verhältnisse, außenpolitische „Lagen", die Lehre und vor allem — alles integrierend — die normierende K r a f t der Öffentlichkeit 6 1 . Das arbeitsteilige Zusammenspiel dieser Faktoren ist variabel. Doch darf kein Faktor verabsolutiert werden. Die crux ist: Der normative Sinn der Verfassung muß an der W i r k lichkeit abgetastet werden, und doch darf sich die Verfassung nicht nur von der Wirklichkeit her interpretieren lassen — sie würde sonst i n der Tat „absorbiert". Verfassung darf nicht „zu hoch" über der Wirklichkeit, aber auch nicht zu tief i n sie verstrickt interpretiert werden: „ w i r k l i c h keitsorientierte Verfassungsinterpretation" 62 . Insbesondere ist vor Verhüllung zu warnen. Zwar gibt es Politik durch Verfassungsinterpretation, doch sollte nicht unter der Tarnkappe „bloßer" Auslegung der Verfassung Politik „gemacht" werden. Schärfer als bisher ist das nach der Verfassung Notwendige von dem nach i h r Möglichen zu trennen. Das Wirkliche ist nicht das von Verfassungs wegen einzig Mögliche und Notwendige. Verfassung ist insofern Rahmenordnung; Legitimität gew i n n t sie durch die Wirklichkeit. Nicht alles Verfassungsmäßige ist Grundgesetzerfüllung. d) H. lehnt den „Freiburger" (222) Begriff des öffentlichen 63 ab. Das Öffentliche hat indes i n einer demokratischen Verfassungslehre den Rang eines „Schlüsselbegriffs". Alles hängt davon ab, wie er i m einzelnen strukturiert ist. 61 Dazu P. Häberle, in: Rechtstheorie und Rechtspraxis, hrsg. von Würtenberger, 1971, S. 36 ff. Zur Öffentlichkeit und ihren Wirkungen für den US Supreme Court: Dolzer, Die staatstheoretische und staatsrechtliche Stellung des BVerfG, 1972, S. 112. Zur Gesetzgebung als normierendem Schrittmacher von Verfassungs Wandlungen: P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl., 1962 (2. Aufl.: 1972), S. 213 ff. 62 63

P. Häberle, DÖV 1966, S. 660 ff.

S. 222 ff. u. 30 Anm. 2-9. Aus der Literatur: Hesse, V V D S t R L 17 (1958), S. 11 (39 ff.); P. Häberle, JuS 1967, S. 64 (73 f.); AöR 95 (1970), S. 651 ff.; Rinken, Das öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, 1971. — H. befürchtet begriffsjuristische Kunststücke und Faktenpositivismus. — Speziell die öffentliche Meinung ist die Gesellschaft in einem bestimmten Teilbereich (339).

9. Demokratische Verfassungslehre

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Verfassung lebt von der, d. h. von „ihrer" Öffentlichkeit. Ungeachtet aller Interdependenzen ist zwischen drei Bereichen, dem staatlichen, öffentlichen und privaten, zu unterscheiden — entgegen H. (222) ist der staatliche Bereich nicht „nahtlos" i n einen öffentlichen einbezogen 64 . Die Frage, ob beide Bereiche des öffentlichen unter Gesichtspunkten des demokratischen Prinzips „gleich wertvoll und gleich annehmbar sind" (223), ist nicht das Problem. Zum einen sind alle drei Bereiche für die res publica gleichermaßen wertvoll, zum anderen ist die „pluralistische Öffentlichkeit" des öffentlichen Bereichs konstituiert (ζ. B. durch Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit), ohne daß sie von der „demokratischen Legitimationsbasis" i. S. H.s wie i m staatlichen Bereich organisiert und legitimiert werden müßte 6 5 . e) Eine weitere Fehlanzeige betrifft das Problem Staat und Wirtschaft I h m haben schon H. Heller und Herbert Krüger einen zentralen Platz eingeräumt 60 . Die Fragen der staatlichen Einkommens- und Verteilungspolitik, der Globalsteuerung und Teilnahme am Wirtschaftsprozeß, die Bemühungen um ein ideologiefreies PlanungsVerständnis (Ehmke) — gibt es „Planung ohne Planwirtschaft"? — stehen heute an. Die von Forsthoff beobachteten Verflechtungen von Staat und Industriegesellschaft sind vor allem solche von Staat und Wirtschaft. Sind Politik und Ökonomie i n der BR Deutschland wirklich so miteinander verknüpft, daß von einer Verflechtung des Staatsapparates m i t Monopolen gesprochen werden muß („Staatsmonopolistischer Kapitalismus")? Diese Frage muß jede moderne Staatslehre behandeln, ebenso wie das Problem, inwieweit der Staat heute schrankenziehende und steuernde Funktionen entgegen aller K r i t i k von „links" und „rechts" auch gegenüber der Wirtschaft tatsächlich erfüllt. Der Staat ist nicht nur kein „Erfüllungsgehilfe" (E.-W. Böckenförde), er ist auch kein bloßer „Zahlvater" des wirtschaftlichen Prozesses. f) Vorbildlich ist die Entschlossenheit, m i t der H. die sachlich und terminologisch so verfahrene Problematik der Staatszwecklehren ent64 Der Bereich des öffentlichen ist nicht identisch mit dem der Verbände (anders H., 223), denn auch einzelne und Außenseiter können sich hier geltend machen. 65 H. denkt in den Kategorien der Gleichsetzung von Staat, Zwangsgewalt und öffentlichem Recht, wenn er meint (224), an der Herrschaftsgewalt des Staates könnten nur solche Gruppierungen teilhaben, d. h. Körperschaften des öff. Rechts könnten nur solche Gruppen sein, die über das Instrument der Zwangsmitgliedschaft verfügen — das läßt sich schon im Blick auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 5 W R V nicht halten. I m übrigen ist dieser Begriff des öffentlichen Rechts angesichts der „öffentlichen Freiheit" zu problematisieren. Dazu mein Beitrag: öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 68 Staatslehre, 1934, S. 211 ff. bzw. Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 572 ff., 809 u. ö. Grundlegend jetzt Scheuner, Einführung in: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 9 ff.

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w i r r t 6 7 . Er wählt den „neutralen" Begriff der Staatsaufgabe (106). I n der Tat sind Daseins-, Wachstums- und Fortschrittsvorsorge keine vom modernen Staat usurpierten, sondern dessen „genuine" Aufgaben (geworden). — Solche befreiende Tat der „Abräumung" von Ballast der „Staatslehre als Tradition und Literatur" hätte man sich auch sonst gewünscht. Problematisch ist ζ. B. H.s von Herbert Krüger stammende Begründung der Kompetenz-Kompetenz des Staates gegenüber der Gesellschaft (147 f.): Blankovollmacht für alle Fälle. Hier rächt sich der einseitige „staatliche" Ansatz: Souveränität als Blankovollmacht für die staatliche Aufgabenwahl (151). Der Staat hält die Entscheidung über den Katalog staatlicher Aufgaben in Händen; nach Verfassung und Verfassungsrecht w i r d nicht gefragt. H. orientiert sich nur an „Faustregeln politischer Klugheit"; unerwähnt bleiben Verfahren und Kompetenzen der Verfassung, ihre Direktiven für Staatsaufgaben, die verschiedenen Instrumente zu ihrer Konkretisierung usw. Spätestens hier hätte die Gemeinwohlproblematik verfassungstheoretisch aufgegriffen werden müssen 67 * Statt dessen entscheidet sich H. für die von i h m selbst als „bedrückend" (148) empfundene staatlich-souveräne Lösung, der gegenüber modifizierend und „bremsend" das Subsidiaritätsprinzip bloß „politisch" nachgeschoben wird. Verfassungslehre kann und muß indes mehr zur staatlichen Aufgabenwahl und -Verwirklichung sagen. Stichworte sind: die Unterscheidung zwischen öffentlichen und staatlichen Aufgaben, die „Gemeinschaftsaufgaben" zwischen Leistungsstaat und -gesellschaft 68 . Insgesamt: Eine Staatslehre von pädagogischem und wissenschaftlichem Rang, die nicht so sehr durch den Gesamtentwurf als durch ihre monographischen verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Teile zukunftsweisend ist. Weitergehen w i r d die Auseinandersetzung darüber, welche A r t von Staat der beste „Hüter der Freiheit" sein kann, ob und wie der „Entstaatlichung" zu begegnen ist 6 9 und wie Staatsbegriff und Demokratieverständnis auf einen Nenner gebracht werden können. Wicht i g ist, daß H. den Gesichtspunkt der Freiheitswahrung durch den Staat 07

I n erfrischender Nonchalance werden Bibliotheken zur Unterscheidung zwischen Staatszwecken und -aufgaben, Staatszwecken und Rechtfertigungen des Staates beiseitegeschoben. — s. jetzt Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Festschrift für Forsthoff, 1972, S. 325 ff. 07a Dazu mein Versuch: öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, bes. S. 17 ff., 708 ff. 68 Gewiß gibt es kein Prinzip unveränderlicher Grenzen der staatlichen Aufgabenwahl (150), es gibt aber Voraussetzungen und Bedingungen für die Veränderung dieser differenzierten Grenzen im Rahmen einer demokratischen Verfassung. 69 Kritisch zum „Geschäft der Entstaatlichung" C. Ahlers, zit. bei Quaritsch, NJW 1972, S. 1359.

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so stark i n den Vordergrund rückt. Seine Staatslehre könnte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht mehr-Publizität verschaffen, nachdem sie bislang gegenüber den Politik- und Sozialwissenschaften durchweg Terrain 7 0 verloren hat. Die Frage nach der mutmaßlichen Kategorie der „allgemeinen Staatslehre" und der Zukunft einer vergleichenden Verfassungslehre als eigener Disziplin bleibt m. E. auf der Tagesordnung der Forschung. Der Verf. selbst hat nur Vorstudien liefern können, die sich sehr punktuell und nur schrittweise entwickeln (vgl. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, Rechtsvergleichung i m Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992). Wenn es (nach einer Wendung von R. Smend, aufgenommen durch A. Arndt) nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert, so bleibt kein Raum für eine „Allgemeine Staatslehre". Freilich ist nicht zu verkennen, daß die Vorgänge auf dem Balkan seit 1991 plötzlich wieder die Alternative „J. Locke oder T. Hobbes" aktuell werden lassen. Leider fehlt es an einer Theoriedebatte des Völkerrechts, die die sich schon abzeichnenden konstitutionellen Momente (Menschenwürde, Menschenrechte, Minderheitenschutz, „kulturelle Standards", ζ. B. des Europarates, wie Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft) kongenial innervò lkerrechtlich verarbeitet hätte (Denkanstöße bei S. Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht, 1992). Das W. von Simson zu verdankende Wort von der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates" (dazu P. Häberle/ J. Schwarze/W. Graf Vitzthum, EuR Beiheft 1 (1993)) bedarf überdies der Ergänzung um die Einsicht in die „verfassungsstaatliche Bedingtheit des Überstaatlichen"! (s. jetzt P. Saladin, Wozu noch Staaten?, 1995). Auf neue Beispiele für das deutsche Ringen um Staats- bzw. Verfassungslehre sei verwiesen: F. Ermacora, Grundriß einer Allgemeinen Staatslehre, 1979; H. H. von Arnim, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1984; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft), 11. Aufl., 1991; G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992 (dazu meine Rezension i n ZRP 1993, S. 270 f.). Horizonte einer Verfassungslehre werden sichtbar bei D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991; J. P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993; s. auch U. K. Preuss, Revolution, Fortschritt und Verfassung, 1994. I n Frankreich ist C. Grewe / H. Ruiz Fabri („Droits constitutionnels européens", 1995) ein bemerkenswerter Vorstoß geglückt.

70 Es dürfte schwerlich durch Forsthoffs „Staat der Industriegesellschaft" (1971) zurückgewonnen werden. Dazu meine Kritik: Retrospektive Staatsr e c h t s l e h r e oder realistische Gesellschaftslehre?, ZHR 136 (1972), S. 425 ff.

19 V e r f a s s u n g

10. Effizienz und Verfassung"' 1. I n der tagespolitischen und wissenschaftlichen Kontroverse gerät „Effizienz" i n vielerlei Erscheinungsformen, ζ. B. als „Effektivität", „Funktionsfähigkeit", „Rationalisierung", „Zweckmäßigkeit", „ W i r t schaftlichkeit", Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft und der Industriegesellschaft insgesamt, zunehmend i n den Mittelpunkt des Interesses1. Dies gilt besonders für das „Leistungsprinzip": Von den einen w i r d es als inhumanes Druckmittel zur intellektuellen und wirtschaftlichen Anpassung an das „System" verteufelt (im Rahmen abstrakter utopischer Menschenbilder und Entwürfe sowie der Propagierung des Bedarfsdeckungsprinzips), von den anderen zu wenig i m Blick auf konkrete Humanität sowie die einer offenen Gesellschaft entsprechende Wandlungsfähigkeit der Maßstäbe für Leistung und ihren Sinn (Leistung als offene, flexible Größe) problematisiert 2 . Effizienz w i r d zu dem Reform-Schlagwort, zum politischen Kampfbegriff. I n dieser Funktion zeigt sich manche Verwandtschaft m i t anderen Grundbegriffen wie „Öffentlichkeit", „Demokratie", „Teilhabe", aber auch „Souveränität" und „Gemeinwohl", die i m Verlauf der politischen und Wissenschaftsgeschichte immer wieder (zum Teil gemeinsam) Brisanz gewannen und teils als Schlüsselbegriffe der Stabilisierung einer bestimmten politischen und rechtlichen Ordnung dienten, teils als Hebel zu deren Umgestaltung eingesetzt wurden. Aufgabe der Wissenschaft(en) ist es, die Ursachen der wechselnden Aktualität eines Begriffs wie „Effizienz" mitzubedenken, nach dessen konkreter historischer (Leitbild-)Funktion und den „erkenntnisleitenden Interessen" zu fragen sowie Wege zu seiner interdisziplinären Operationalisierung zu eröffnen. Heute dürfte „Effizienz" deshalb stärker * AöR 98 (1973), S. 625 - 635 mit Nachtrag (1978). * Zu Walter Leisner: Effizienz als Rechtsprinzip. Recht und Staat, H. 402/403. Tübingen: Mohr (Siebeck). 1971, 60 S. 1 Vgl. die Kritik der F A Z v. 10. 9. 1971, S. 1 an jenen, die eine Umwelt, in der jeder weniger leistet, noch als „Leistungsgesellschaft" denunzieren. 2 Zu undifferenziert die Formel von Roegele, zit. nach F A Z v. 21. 5. 1971, S. 15: Die Ablehnung des Leistungsprinzips solidarisiere zu leicht „Faule und Linke". Vetter, ebd.: Die Angriffe gegen eine freie Ordnung seien im Grunde die „Steine, die gegen das Leistungsprinzip schlechthin geschleudert werden". — Wichtig L. Erhard, F A Z v. 4. 4. 1973, S. 17 f.: „Die soziale Marktwirtschaft ist in sich eine Leistungsgesellschaft und bedarf auch keiner schmückenden Umschreibungen, um sozial und human zu sein."

10. Effizienz und Verfassung

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ins Bewußtsein der Hechts- und Sozialwissenschaften rücken, weil sie als M i t t e l dient, den Wirklichkeitsbezug einzelner Institutionen neu zu erfragen (Effizienz als „Transmissionsriemen" zur — gestaltbaren — Wirklichkeit, als Mittel zur Befriedigung des Nachholbedarfs juristischer Begriffe an Praxisnähe, Effizienzdefizit als mangelnde Konkordanz zwischen Theorie und Praxis): Wenn juristische Begriffe „handlungspraktische Bedeutung" und „interdisziplinäre Integrationsmöglichkeiten" besitzen, so vor allem die „Effizienz". Inwieweit ist sie ein „Grundmuster", das die Einzelwissenschaf ten umfaßt? Eine weitere Frage ist die nach den wirklichen oder vermeintlichen Gegen- und Korrelatbegriffen zur Effizienz: Freiheit, Pluralismus, Bundesstaat, Gerechtigkeit als „rivalisierende" Begriffe hier, Staatlichkeit, Staatsräson, Macht, Durchsetzungskraft, „Planung", Arbeitsteilung, Wettbewerb, Sachverstand, aber auch Teilhabe und Chancengleichheit als Korrelatbegriff dort. Das Effizienzproblem scheint politisch und wissenschaftsgeschichtlich zu „wandern", gegenständlich und methodisch: Es greift über die „kameralistische Tradition" (Naschold) hinaus und wächst in die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinüber (Gäfgen: Effizienz als „Meßbarkeit des Verhältnisses von Aufwand und Ertrag"). Beim verwaltungswissenschaftlich geforderten Neubau der Verwaltung ist es i n aller Munde, die „stilleren" juristischen Erscheinungsformen i n der Rechtsprechung treten demgegenüber zurück. Vor allem: Das Staats- und Rechtsverständnis ist i m Verhältnis zur Effizienz selbst variabel. Die übliche Trennung zwischen Zweckmäßigkeit und Rechtmäßigkeit ist historisch bedingt. Das Recht mußte sich dem (monarchischen) Staat gegenüber Effizienz verschaffen. Daher die traditionelle Distanz zwischen Rechtsstaatlichkeit und Effizienz. Bei realistischer Sicht kann „Gerechtigkeit" von Zweckmäßigkeitsüberlegungen jedoch schwerlich isoliert werden. Wo dies geschieht, steht ein wirklichkeitsfremder, vermeintlich unpolitischer Begriff von Gerichtsbarkeit und Justiziabilität dahinter. I m neueren Schrifttum werden denn auch Stimmen zur offenen Verrechtlichung der Zweckmäßigkeit laut 3 . Die überkommene monarchische Lehre von der Staatsräson ging und geht oft i m Zeichen von Effizienz über Recht 3 Zur Normativierung der Zweckmäßigkeit siehe die Arbeiten von Ehmke (bes.: „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff" im Verwaltungsrecht, 1960) sowie meine Überlegungen (öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, bes. S. 684 ff.): zur „inneren Ausrichtung des Ermessens" auf den Gesetzeszweck, gegen den Dualismus zwischen Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen, zur „Determinierung" des Ermessens vom Gesetzeszweck her und zur Rolle der Sinn- und Zweckformel. (Es geht um ein Problem der Konkretisierung, insbesondere um eine funktionell-rechtliche Arbeitsteilung zwischen Rechtsprechung und Verwaltung.) Die Verrechtlichung des Ermessens bzw. Ausrichtung am Gesetzeszweck müßte durch eine dogmatische und problemgeschichtliche Analyse etwaiger Zusammenhänge zur Staatszwecklehre bereichert werden (zu ihr grundlegend jetzt Scheuner, Festschr. für Forsthoff, 1972, S. 325 ff., bes. S. 340 ff.).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

und Rechte hinweg. Darum ist der Effizienz insbesondere dort nachzuspüren, wo sie sich gegenüber dem oder i m traditionell verstandenen „Recht" verbirgt (ζ. B. i m Topos der Praktikabilität). Heute gibt es kaum einen Bereich, i n dem nicht (immer systemimmanent?) „mehr Effizienz" gefordert w i r d : So soll die Justizreform die Justiz „leistungsfähig machen, wie es der Viélfalt des Rechtslebens entspreche" (G. Jahn); die Schule 4 soll so effizient und flexibel organisiert werden, daß Begabungen, Lern- und Bildungsziele zugleich optimal zu ihrem Recht kommen. Diese Zusammenhänge legen eine problemorientierte nüchterne Behandlung des diffus erscheinenden Themas nahe; es ist zu fragen, wie sich Effizienz „verteilt": bald dürfte sie von einzelnen Instituten absorbiert werden, so etwa i n der Zweckmäßigkeitsaufsicht nach § 68 VwGO, bald als rechtspolitische Maxime für Reformen (sowie i n der Frage nach der Auswirkung von Gesetzen5) teils neben anderen Gesichtspunkten als Interpretationstopos für die Gerichte wirken, teils t r i t t sie zu anderen Maximen hinzu, etwa i n der Lehre von den „Staatszwecken". Es w i r d sich darum handeln, „Effizienz" einerseits als weitgreifendes Problem zu erkennen, andererseits sie vor einer Inflation zu bewahren. 2. Bei dieser Sachlage darf das Buch von Leisner* große Aufmerksamkeit beanspruchen. Schon der Titel bringt die Stoßrichtung der temperament- und phantasievollen Studie zum Ausdruck: Effizienz w i r d gerade nicht als Staatsprinzip konzipiert. L. unterscheidet sich insofern von Herbert Krüger, der i n neuerer Zeit bahnbrechend die Effizienz als Problem gesehen7 und seine Allgemeine Staatslehre geradezu als Lehre von der Effizienz geschrieben hat 8 . L. geht von keiner „These" aus (S. 6 f.). Er untersucht, ob es einen „normativen Grundsatz des wirksamen Staatshandelns, insbesondere i n Regierung und Verwaltung" gibt (S. 5). Aspekte eines möglichen Effizienzprinzips sind: die Effizienz als „wirksame Erreichung vorgegebener Ziele" (Zielerreichungseffizienz), als optimales Zweck-Mittel-Verhältnis (Zweck-Mittel-Effizienz) und die zielunabhängige Effizienz (Or4 5

Vgl. Korn, FAZ v. 23. 4. 1971, S. 32.

Wichtig die neue „Schaden-Nutzenbilanz" des Nordrhein-Westfälischen VerfGH im Rahmen der Gemeinwohlklausel kommunaler Neugliederungsgesetze. Dazu Hoppe, in: Städte- und Gemeinderat, 1972, S. 257 (258 f.). __ β Zum Leistungsprinzip ders., Grundlagen des Berufsbeamtentums, 1971, S. 60 ff. 7 Das Leistungsprinzip als Verfassungsgrundsatz, 1957. 8 Zuletzt in: Festschrift für Wacke, 1971, S. 13 (21): „Staat als nationale Leistungseinheit." s. auch S. 28; demgegenüber L., S. 59: Effizienz als nicht staatstypischer Grundsatz, „er wird von außen in die Staatlichkeit hineingetragen, aus einer privaten Wirtschaft".

10. Effizienz und Verfassung

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ganisationseffizienz). Einen a priori einheitlichen Effizienzbegriff für die Staatstätigkeit gebe es nicht (S. 8 f.). I n Auseinandersetzung m i t Thoma's bekannter „Auslegung der Normen auf Effektivität" — einem Ausbruch aus dem Ghetto des Positivismus — kommt L. zu dem Ergebnis (S. 13): Effektivität als solche müsse „jeder Normauslegung, also auch dem Verständnis von Organisationsnormen von staatlichen Eingriff sbefugnissen zugrundeliegen". Speziell die Rechtsstaatlichkeit schließe Effizienz als Rechtsprinzip nicht generell begrifflich aus, sie fordere nur rechtsstaatliche Bestimmtheit des Eingriffs. Unter den Stichworten „Staatsräson und Effizienz", „Wirksamkeitsgrundsatz und Integration", „Organisationsspielraum und Effizienz", „politische" Ziele sowie „Rationalität und Effizienz" sucht L. zu belegen, daß die Allgemeine Staatslehre für ein allgemeines Effizienzprinzip „wenig" hergibt. Die Verfassung hält er i m ganzen für „effizienzneutral" (S. 25). Elemente für oder gegen Effizienz könnten allenfalls der normativen Organisation oder Verfassungspraxis bei einzelnen Verfassungsinstitutionen entnommen werden 9 . M i t dem Satz: Wirksamkeit sei von jeher ein Verwaltungsproblem gewesen (S. 31), steuert L. auf sein eigentliches Thema zu. Er untersucht Effizienzformen i n der Fiskal-, Leistungs- und Hoheitsverwaltung. Die Effizienzvorstellung des Fiskalbereichs ist die der Produktionswirksamkeit, bei der durch ökonomischen Vergleich das optimale Zweck-Mittel-Verhältnis ermittelt wird. I n der Leistungsverwaltung liegen i n der Regel Spezialzwecke öffentlichen Interesses und privatwirtschaftliches Gewinnmaximierungsstreben derart i m Gemenge, daß praktisch nur einer Effizienzvorstellung gefolgt wird: der der fiskalischen Produktivität (S. 36). Für die Hoheitsverwaltung ist typisch die „Zweckerreichungseffizienz" (S. 37). Ein allgemeiner Grundsatz der Zielerreichungseffizienz i m Verwaltungsrecht läßt sich nicht auffinden (S. 40) 10 . Die Unmöglichkeit eines Rechtsgrundsatzes der Zielerreichungseffizienz (S. 44 ff.) belegt L. m i t der These, einen allgemeinen Grundsatz, daß Zwecke durchgreifend, rasch, vollständig, „ohne Rücksicht auf Verluste" erreicht werden sollen, könne es i m Rechtsstaat nicht geben. Der ex-lege-Zweck der Freiheitssicherung verbiete Zielerreichungseffizienz (S. 46), der Rechtsstaat kenne Erforderlichkeit, allenfalls noch Produktionseffizienz. 9 S. 38: nur einige Erforderlichkeitsansätze. Speziell Föderalismus und Selbstverwaltung sind Organisationsformen, welche mehr Ineffizienz in Kauf nehmen, als daß sie einen Wirksamkeitsgrundsatz ins deutsche Staatsrecht einführten (S. 29), insgesamt fordert das Verfassungsrecht nicht mehr als die Erhaltung der Funktionsfähigkeit der Organe und damit eine „Gerade-nochEffizienz" (S. 30 f.). Indes: Optimale Funktionsfähigkeit ist doch Effizienz! 10 Die vieldiskutierte Effizienz im öffentlichen Dienst und in der Automation der Verwaltung stellt sich nach L. nur als Bemühen um Steigerung der Produktionseffizienz dar.

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Die mögliche Bedeutung der Produktionseffizienz in der Verwaltung untersucht L. unter dem Stich wort „Zweckerfüllung m i t geringsten M i t teln — Wirtschaftlichkeit" (S. 48 ff.), maximaler Erfolg m i t gegebenem Einsatz — Bestimmung des konkreten Zwecks aus den Mitteln (S. 52 ff.) sowie „der Schluß von der Organisation auf die Aufgaben" — der Umschlag von Produktions- in Zielerreichungseffizienz (S. 54 ff.). Die wichtigsten Ergebnisse: Jeder Schluß allein von der Organisation auf ihre Zwecke ist unzulässig, die Steigerung der Produktionseffizienz muß stets darauf geprüft werden, ob sie nicht in rechtsstaatswidrige Zielerreichungseffizienz umschlägt (S. 56). „Ergebnis und Ausblick" (S. 58 ff.) stellt L. unter das Motto: „ A b schied vom Effizienzstaat", i m Rechtsstreit zwischen Staat und Bürger könne Effizienz kaum normativ bedeutsam werden. Angesichts der deutschen rechtsstaatlich-gerichtsförmigen Denkweise werde Effizienz eine Kategorie der Ökonomie, allenfalls der Organismuslehre bleiben und sich im übrigen allgemein unklar in „politologisierenden Staatsbeschreibungen" finden. Effizienz erweise sich als ein nicht „staatstypischer" Grundsatz; er werde, wo er noch gelte, von außen i n die Staatlichkeit hineingetragen, aus einer privaten Wirtschaft; wenn aber Konkurrenz kein zentraler Begriff des öffentlichen Rechts sei, so sei es auch Effizienz nicht. Effizienz sei „Staatsromantik der Technokratie", gegen sie stehe heute rationalistische Rechtsstaatlichkeit. 3. Zur Kritik: a) I m Verfassungsrecht ist zu unterscheiden zwischen dem Effizienzproblem als allgemeinem verfassungstheoretischem und -praktischem Problem einerseits und den speziellen Effizienzfragen andererseits (Ansätze dazu L., S. 13). Allgemeiner Natur ist die Auslegung jeder Verfassungsnorm nach Effektivität (Tlnoma, Hesse, BVerfG, L. S. 12 f.). Hier geht es um das Problem der Geltung von Verfassungsnormen i m Rahmen der Gesamtverfassung. (Diese „allgemeine Normenwirklichkeit" klammert L. aus [S. 12 f.].) I n Frage steht die optimale Umsetzung der Verfassungsnormen in die Wirklichkeit — die Erfragung der Normzwecke —, wobei es zu Konflikten mit anderen Verfassungsnormen und „ihrer" Wirklichkeit kommen kann. Die bekannten „Leerlauf"-Diagnosen sind Hinweise auf Effizienzdefizite. Realanalysen erweisen sich als unverzichtbar (Effizienz als Vehikel zur Verfassungsverwirklichung, als Theorie/Praxis-Problem). Eine Theorie und Praxis der „Wirklichkeit der Verfassung" könnte auf lange Sicht freilich die allgemeine Effizienzproblematik in sich aufnehmen und „aufheben" 1 1 . Dieser allgemeine gesamtverfassungsrechtliche Aspekt ist um so wich11 Die „deutsche" Geschichte des Verhältnisses von Verfassungsrecht und -Wirklichkeit müßte im Lichte der Effizienz-(und Zeit-)Problematik neu überdacht werden.

10. Effizienz und Verfassung

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tiger, als hier kein Dualismus zwischen Recht und Gemeinwohl, Rechtsrichtigkeit und Ergiebigkeit, Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit auftreten sollte. Daneben gibt es zahlreiche spezielle Effizienzprobleme i m engeren Sinne. Sie bestehen jeweils in Verbindung m i t speziellen Verfassungsprinzipien, Normen und Instituten sowie Verfahren. Effizienz w i r d in ihnen, ihrer jeweiligen Eigenart entsprechend, zum Problem, und zwar mit unterschiedlichem Gewicht: i m Rahmen der Organisation als Funktionsfähigkeit von Organen, der „Rechtzeitigkeit" ihres Handelns (ζ. B. i n Währungskrisen), i m Rechtsstaatsprinzip als Erforderlichkeit (Geeignetheit), als Leistungsprinzip beim Berufsbeamtentum, als Zweckmäßigkeit bei der Auslegung von steuerrechtlichen Normen 1 2 . Es geht hier jeweils u m einen Gesichtspunkt unter anderen: Es gibt keinen allgemeinen Verfassungsgrundsatz für und gegen Effizienz i n diesem Sinne, sondern nur spezielle Aussagen für und gegen sie i m Rahmen eines komplexen Abwägungsvorgangs (Effizienz als Bindestrich-Problem)! Das könnte hinter der These von L. stehen (S. 25), die Verfassung i m ganzen sei effizienz-neutral, so anfechtbar die These i m übrigen ist (s. unten bei b). Es gilt, diese „Effizienz" i n ihrer je spezifischen Ausformung an das einzelne Sachproblem zu „binden"; auf diese Weise w i r d verhindert, daß sie eine unkontrollierte, ins Technokratische tendierende Eigendynamik entfaltet — wie i n gewissen Spielarten der Systemtheorie — und zum Allerwelts- und „Höchst"-Begriff wird; auch Effizienzprobleme unterliegen dem Wechselspiel von „conjecture" und „refutation" (Popper). M i t Recht wendet sich L. gegen ein „undifferenziertes Effizienzdenken" (S. 18). D. h. „allgemein" kann i n bezug auf Effizienz nicht argumentiert werden. Daraus erklärt es sich auch, daß sie i n so unterschiedlicher Terminologie auftritt. Um so sorgfältiger ist nach versteckten („getarnten") Effizienzkategorien und -problemen zu suchen. (Ζ. B. ist Chancengleichheit eine Effizienzforderung der grundrechtlichen Freiheit, Minderheitenschutz dient der Effizienz der Demokratie.) Die Intensität der „Normativierung" der Effizienz bzw. ihrer Aspekte ist zwar unterschiedlich; entscheidend ist jedoch, daß sie außerhalb der Verfassungsinstitute keine Eigenexistenz führt, gleichwohl virulent ist und daß sie überhaupt normativiert ist. Effizienz ist also kein einseitig staatlicher Begriff mehr. 12 Die Geschichte der Grundrechtsdogmatik ist die Geschichte ihrer wachsenden Effizienz (s. zuletzt die Erweiterung um den Teilhabeaspekt, dazu P. Häberle, VVDStRL 30 [1972], S. 43 [111 ff.]; D Ö V 1972, S. 729 ff.). „Reale Freiheit" (Hesse) meint effektive Freiheit. Über sie gewinnt aber auch der Staat selbst mehr Effizienz zur Erfüllung von Gemeinschaftsaufgaben. Der Staat kann materielle Grundrechtsvoraussetzungen und reale Grundrechtsmöglichkeiten nur dort schaffen, wo diese von der Gesamtgesellschaft erwirtschaftet sind.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Diese Unterscheidung zwischen der allgemeinen verfassungstheoretischen und -praktischen (!) Seite des Effizienzproblems, die eine Frage der Wirklichkeit (der Verfassung) ist, und den besonderen (sachspezifischen) Effizienzproblemen i m Rahmen einzelner konkreter Problemzusammenhänge, Normen, Institute und Verfahren kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß „Verfassungsinterpretation" i m Einzelfall beide Aspekte verbinden kann, ja gegebenenfalls verbinden muß 1 3 . Das zeigt sich, sobald es darum geht, zwei kollidierende Normbereiche, die beide möglichst „ w i r k k r ä f t i g " sein wollen und die überdies speziell effizienzbezogen sind (ζ. B. das öffentliche Haushaltsrecht), aufeinander abzustimmen. Ζ. B.: Effizienter Grundrechtsschutz i. S. des numerus-claususUrteils des BVerfG 1 4 und Länderstaatlichkeit kollidieren. Beide Normenkomplexe fordern als Verfassungsinstitute optimale Verwirklichung (ihrer Normzwecke), über beide machen sich überdies spezielle Effizienzforderungen geltend. I m Sozialstaatsprinzip stellen sich ebenfalls beide Effizienzprobleme: Es soll umfassendere W i r k k r a f t erlangen als bisher (ζ. B. reale Grundrechtsmöglichkeiten für alle, „Effektivierung" [„Erfüllung"] der Grundrechte); überdies fordert es i m Leistungsstaat spezifische Effizienz 15 . Durchweg muß höchst differenziert angesetzt werden: Selbstverwaltung ist unter Leistungsgesichtspunkten ein „ L u xus", unter Grundrechts- und Demokratieaspekten ein Gewinn. Gewaltenteilung ist vordergründig Effizienzminderung, aufs Ganze einer offenen pluralen res publica jedoch die Garantie für Leistungsfähigkeit 1 6 . Humanität muß oft um den lohnenden Preis der Ineffizienz einzelner staatlicher Funktionen erkauft werden. Andererseits bedarf sie eines effizienten Leistungsstaates. M. a. W.: Effizienz ist i n hohem Maße ambivalent 1 7 . „Effizienz" darf kein bequemes Mittel werden, eine Verfassungsnorm auf Kosten der anderen zu verabsolutieren. Insgesamt zeigt sich: Es geht jeweils um die konkrete Frage: Effizienz für was, i n bezug auf was und i m Vergleich m i t was, insbesondere i n bezug auf welche Ziele (Effizienz als Relationsbegriff). Effizienz ist also als Frage nach den Bezugsgrößen und -relationen legitim (Leistungsfähigkeit im Vergleich womit?); z.B. muß der Rechtsstaat effizient für den Bürger sein, ggf. auf Kosten staatlicher Effizienz. 13 Problematisch ist das Abhörurteil des BVerfG (E 30, S. 1 ff.): Es hat das Effizienzprinzip der Sache über die Verfassung gestellt, es verwendet die effektive Überwachung als verfassungsrechtliche Rechtfertigung, anstatt die effektive Überwachung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen (dazu meine Kritik, JZ 1971, S. 145 ff.). 14 E 33, S. 303 ff. Dazu P. Häberle, DÖV 1972, S. 729 ff. — L., S. 25: Dem Schutz des Bürgers kann Effizienz gerade auch dienen. 15 Dazu P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (60 f.). 16 I n dieser Offenheit liegt die Stärke der westlichen Gemeinwesen im Konflikt mit geschlossenen Klassenkampfideologien, solange es nicht zu einer „Herrschaft der Gesellschaft" kommt. 17 I n der Tat kann eine „gewisse Ineffizienz integrierend wirken" (L., S. 19).

10. Effizienz und Verfassung

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b) Nicht nur einzelne Verfassungsprinzipien wie Demokratie, Rechtsund Sozialstaat, vielmehr die Verfassung insgesamt als normative Ordnung der res publica ist auf „Effizienz als Problem" zu untersuchen. L.s These, die Verfassung i m ganzen sei effizienzneutral (S. 15), läßt diese Fragestellung nicht erkennen. Verfassung ist Organisation des politischen Gemeinwesens — offene Einheit — und als solche auf Effizienz ihrer Strukturen angelegt. Die von i h r konstituierten Organe, Funktionen und Verfahren müssen i m Zusammenwirken effizient sein — i n ihrer freiheitsschaffenden und -bewahrenden wie i n ihrer freiheitsbegrenzenden Bedeutung. Effizienz und Verfassung sind insofern schon i m Ansatz zusammenzusehen! Die Zusammenordnung verschiedener, oft kollidierender Verfassungsprinzipien, von Freiheit und Gleichheit (diese dient, i m rechten Maß, der Effektivierung jener) 1 8 , von Demokratie und Bundesstaat, von Funktionenteilung und -Verbindung f ü h r t zur Effizienz des Ganzen als realer freiheitlicher Gesamtordnung. Die These, Verfassung müsse „praktisch" werden und sein können, ist eine These zum „verfassungsimmanenten" Ort des Effizienzproblems. Da Verfassung unter dem Anspruch steht, sich „bewähren" zu müssen, w i r d Effizienz ζ. B. ein Gesichtspunkt beim E n t w u r f von „praktikablen" Verfassungsänderungen 19 . Verfassungspraxis kann hier zur „Praxis der Theorie" werden. Die Verfassung w i r d effizient über die „praktische K o n kordanz" (Hesse) ihrer verschiedenen oft einander widerstreitenden Prinzipien. Insofern steht Effizienz nicht neben oder gar über der Verfassung, sie ist in den einzelnen Instituten, Verfahren und Funktionen zu sehen und verbindet sie zur Gesamtverfassung. Jede Verselbständigung „des" Effizienzprinzips „an" und „ f ü r " sich wäre gefährlich. — Effizienz ist i m demokratischen Verfassungsstaat also n u r in Verbindung m i t Grundsätzen und Normen, nie „an sich" vertretbar. Effizienz ist insofern (verîassungs )akzessorischer Natur, „ r e l a t i v " ; anderenfalls geriete sie außer Kontrolle und stellte sich gegen die Idee von „Verfassung" selbst. Die Intensität, i n der „Efizienz" in Verbindung m i t einzelnen I n stituten w i r k t , ist daher verschieden. Diese Sicht erfordert es, Effizienz schon i m „normativen" Anspruch des Normativen selbst zu sehen. Anders formuliert, die Frage nach der normativen K r a f t der Verfassung ist die Frage nach ihrer Effizienz i. S. der optimalen Norm Verwirklichung, d. h. zugleich: Das Effizienzproblem 18 Die Frage nach den materiellen Bedingungen grundrechtlicher Freiheit ist eine Frage nach ihrer Effizienz. 19 Der Verfassungs jurist muß im Rahmen einer Verfassungslehre lernen, Probleme „auf Vorrat" zu entscheiden bzw. den Vorrat an Problemlösungen und Alternativen der Verfassungsvergleichung und -geschichte auszuwerten. Auch die Verfassung steht in den offenen Horizonten, die Poppers „kritischer Rationalismus" umschrieben hat („trial and error"). Sie ist keine vorgegebene Wesenheit, sondern ein Versuch, der Irrtümer ermöglichen und beseitigen soll.

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

w i r d „normalisiert". Das bedeutet keine Verharmlosung des Effizienzproblems. Es stellt sich schon i m wirklichkeitsorientierten Verfassungsund Rechtsbegriff selbst. Die Fragestellung, ob einzelne (Verfassungs-) Prinzipien, Normen, Institute und Verfahren an sich „effizienzneutral", „-feindlich" oder „-freundlich" sind, geht daran vorbei 2 0 . c) Der vom GG in zahlreichen Einzelaspekten normierte Leistungsstaat (z. B. A r t . 91 a, 109) — als Staat hoher Lebensqualität 21 , die durch öffentliche Gemeinschaftsaufgaben zu schaffen ist — und die ihm zugehörigen Effizienzprobleme geraten bei L. nicht zentral ins Blickfeld. Der Begriff „Leistungsstaat" — seine neuen heutigen (ζ. B. kulturellen) Infrastrukturleistungen sind evident — taucht (obwohl der Staat auf neuen Aufgabenbereichen leistungsfähig werden soll) nur am Rande auf (S. 53, 14)22. I m besonderen vermißt man eine Untersuchung des Sozialstaatsprinzips, das in einem ambivalenten, positiven, aber auch begrenzenden Bezug zur Effizienz steht. Wenn L. die Normativierung des Sozialstaatsprinzips für gescheitert hält (S. 14), so erscheint das mehr als Behauptung denn als Begründung. I m „Staat der Industriegesellschaft" (bzw. i n der Industriegesellschaft des demokratischen Staates) 23 bedingen sich Wirtschaftlichkeit des privaten, öffentlichen und staatlichen Aufwands. Insgesamt hätte die Verfassung, als rechtliche Grundordnung (Organisation) des öffentlichen Prozesses und Planung vielfältiger Verfahren und Aufgaben der res publica, ihrer Funktion nach grundsätzlich und i m einzelnen auf Effizienzproblem hin befragt werden müssen. Angreifbar erscheint die These (S. 28), es liege näher, aus der Föderalordnung des GG auf „generelle Effizienzfeindlichkeit des deutschen Verfassungsrechts zu schließen", als aus gelegentlichen 20 Fragwürdig ist es, daß L. „Effizienz" zu wenig in den rechtlichen Grundsätzen und Funktionen selbst denkt. „Recht" wird von der Effizienz (aus historischen Gründen?) mehr oder weniger isoliert; das zeigt sich in der These (26): Wenn Effizienz nur in norm-freien Räumen wirken könne, so sei Wirksamkeit kein machtvoller Rechtsgrundsatz; einen Effizienzstaat gebe es nicht, solange Rechtsstaatlichkeit herrsche (58), es gebe in der BRD keine Theorie von der effizienten Regierung, sondern nur eine Dogmatik von deren rechtsstaatlicher Beschränkung (27). Bilder wie „gewisse Bewegungsfreiheit" in normativen Räumen (23) sind daher problematisch. Da L. Verwaltung als Handeln in den „Grenzen des Rechts" versteht (14 f.), wird die normative Konstituierung und innere rechtliche und wirklichkeitsbezogene Ausrichtung der Verwaltungsfunktion übersehen. Sieht man Effizienzprobleme sehr viel stärker von vornherein „in" der Rechtsprechung und in den Rechtsnormen (als Stück „Wirklichkeit"), so verschwinden sie weder, noch werden sie unverhältnismäßig aufgebauscht, sie werden zu Fragen der Rechtsverwirklichung. 21 Das Verhältnis von Quantität und Qualität harrt hier noch der Klärung. 22 Gesamtgesellschaftlich schlagen sich Leistungen, über Grundrechte ermöglicht, in einem Zuwachs des Bruttosozialprodukts nieder. Milderung bzw. Abschaffung von Not setzt gesamtgesellschaftliche Leistungen voraus. 23 Kritisch zu Forsthoff: mein Beitrag „Retrospektive Staats(rechts)lehre oder realistische Gesellschaftslehre?", Z H R 136 (1972), S. 425 ff.

10. Effizienz und Verfassung

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Abwehrargumenten eine föderale Wirksamkeitstheorie entwickeln zu wollen. Unbeschadet der vielzitierten „Reibungsverluste", die der Bundesstaat in der Tat i n Kauf nimmt, besteht eine positive, aktive Verknüpfung von Bundesstaat und Effizienz, bei der es um mehr als bloße „Funktionsfähigkeitserhaltimg" (S. 29) geht. Sie zeigt sich vor allem in Art. 29 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Verfassungsauftrag zur Neugliederung steht unter der wichtigen Direktive der FunktionsSteigerung freiheitlicher Teilordnungen. Das ambivalente Verhältnis zwischen Demokratie und „Leistungsstaat" hat L. nicht herausgearbeitet. Demokratie ist keineswegs generell leistungsfeindlich (vgl. Art. 33 Abs. 2 GG) 2 4 , doch besteht insofern ein Spannungsverhältnis zwischen Leistungsprinzip und Demokratie, als die demokratische Auslese durch Wahlen die Bestellung der qualitativ Besten nur vermuten kann 2 5 . Das spannungsreiche Verhältnis zwischen Grundrechten 20 und Leistungsprinzip hätte ebenfalls problematisiert werden müssen — i. S. der eingangs erörterten 2. Alternative (Leistung als „offene Größe", „Leistung wofür?"). Die einzelnen staatlichen Funktionen hätten sowohl grundsätzlich als auch im einzelnen sehr viel stärker in Theorie und Praxis auf ihre Effizienz hin untersucht werden müssen: Effizienz hat einen zentralen Stellenwert im Rahmen einer Funktionenlehre (auch als Frage effektiver Mittel der Machtkontrolle). Nicht nur Normen, auch Funktionen, die ja rechtlich konstituiert sind und sein müssen, sollen effektiv sein. L. untersucht Effizienz nur i m Bereich von Regierung, Selbstverwaltung und vor allem der LeistungsVerwaltung. Die „Leistungsgesetzgebung" 27 kommt als solche weder dem Begriff noch der Sache nach ins Blickfeld, obwohl sie i n eben dem Maße Voraussetzung für die Effektivität grundrechtlicher Freiheit ist, wie dies die ausgestaltende einfache Gesetzgebung sonst ist 2 7 a . Und doch steht gerade sie i n komplexen Zusammen24

Zutreffend Lohmar, Demokratisierung ohne Leistung?, H P I Nr. 21 v. 10. 11. 1972, S. 3 (5), für den Demokratisierung und Leistung keine Gegensätze sind, sondern zwei Grundprinzipien, die einander bedingen. — s. auch H. Kühn, FR vom 18. 1. 1973, S. 5, zur notwendigen „Leistungsbereitschaft": „Für Sozialdemokraten ist Leistung ein Wertmaßstab. Auch die Kulturgesellschaft, die wir erstreben, wird eine Leistungsgesellschaft sein." 25 Vgl. Maunz I Dürig I Herzog, Kommentar, Rdnr. 14 zu Art. 33 GG: Uberlagerung von Art. 33 Abs. 2 durch das demokratische Prinzip. 26 Grundrechte sind als solche nicht leistungsfeindlich; sie sollen Leistungen ermöglichen, aber nicht erzwingen. 7 - Dazu mein Beitrag: Leistungsrecht im sozialen Rechtsstaat, in: Festschrift für G. Küchenhoff, 1972, S. 453 ff. Soweit ersichtlich, findet sich erstmals eine „offizielle" Verwendung des Begriffs „Leistungsgesetz" im Zweiten Stabilitätsprogramm der BReg. v. 9. 5. 1973 (Bulletin v. 11. 5. 1973, Nr. 53, S. 487 ff., unter Ziff. 11). 27a Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. 2. Aufl., 1972.

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hängen zum Effizienzproblem. Entsprechendes gilt für die (Leistungs-) Rechtsprechung. Ihre Analyse würde eine Fülle von Effizienzgesichtspunkten zutage fördern, denen der Richter längst Rechnung trägt 2 8 , ζ. B. über die Auslegung „vom Ergebnis" her" 2 9 . Die Gemeinwohlproblematik läßt L. zu schnell unter den Tisch fallen: qua „Staatsräson" schiebt er sie allzu rasch beiseite (S. 17 f.), obwohl sie als „Verfassungsräson" wesentliche Effizienzprobleme birgt. Die gegenseitige Angewiesenheit von Staat und Wirtschaft (Art. 109 GG), die Kooperationsformen und ihre zum Teil parallelen Zielsetzungen erfordern es, auch Effizienzprobleme i m Bereich der privaten Wirtschaft i n die verfassungsrechtliche Betrachtung einzubeziehen 30 . Daraus rechtfertigt sich die Legitimität des — humanisierten — Leistungsprinzips i m arbeitsteiligen Gemeinwesen. Freiheit, soziale und ökonomische Kraft gehören gerade hier zusammen; diese lebt von der regenerierenden K r a f t jener, für die freilich Preise zu zahlen sind. (Innovationsfähigkeit als Aspekt der Effizienz selbst.) Für den Verfassungsjuristen stellt sich die Schwierigkeit, wie er angesichts der „interdisziplinären Eignung" des Effizienzbegriffs (Gasparski) — sie beruht auf seiner Abstraktionshöhe und Unbestimmtheit — ergiebige analytische Erkenntnisse der neueren Verwaltungs-, W i r t schaft»- und Sozialwissenschaften hier aufnehmen kann (ζ. B. Instrumente des Effizienzvergleichs), ohne sich einer Effizienzeuphorie und einem Meßbarkeitsperfektionismus auszuliefern und so „seinen" Gegenstand, die Verfassung, zu verfehlen (Effizienz nach Maßgabe der Verfassung). I n der Kooperation m i t den Sozialwissenschaften kann nur differenziert, nach Sachgebieten gearbeitet werden: Sozialwissenschaftliche Fragestellungen zur Effizienz dürften i m Bereich des Rechtsstaats sehr viel weniger ergiebig sein als i n Fragen der Wirtschaftsverfassung (Nutzen-Kostenanalyse), der öffentlichen Langzeitinvestitionen, der Steuerung der Wachstumsrate und des Bruttosozialprodukts zur Verbesserung der Lebensqualität. I n Ergänzung zu L. wären überdies das Völker· und besonders das EWG-Recht i n die Problematik miteinzubeziehen, ζ. B. i m Zusammenhang m i t der „Auslegung auf Effektivität" (S. 11 ff.), aber auch i m Blick auf Kompetenzdefizite der EWG-Organe (fehlende europäische Regierung!). 28

Nachw. bei Ρ. Häberle, a.a.O. (s. Anm. 3), S. 458 ff., 463. Die durchgängig fehlerhafte Schreibweise des früh verstorbenen Staatsrechtlers Wittig (L., S. 17, Anm. 30; S. 21 f., Anm. 41, 42) muß leider ausdrücklich moniert werden. 30 Man denke an die totalen Verflechtungen, die sich in den Währungskrisen im Februar/März 1973 zeigten und die den Glauben an die (national)staatlichen Steuerungsmöglichkeiten wanken machen. 29

10. Effizienz und Verfassung

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d) L. qualifiziert Effizienz als „bescheidenes instrumentales Prinzip" (S. 60). Instrumentaler Natur ist sie gewiß: I m Rahmen der Verfassungsdogmatik geht es um die Frage, i n bezug auf welche Funktion, welche Inhalte und Ziele Effizienz bestehen soll; Effizienz w i r k t (nur) i n Normen, verfassungsimmanent, nicht von außen her. Sie ist kein selbständiger Grundsatz. Sie steht i m Dienste der Normverwirklichung. „Bescheiden" ist Effizienz im modernen Verfassungsstaat ζ. B. angesichts seiner ausgreifenden Gemeinschaftsaufgaben, die bewältigt sein wollen, indes keineswegs. L. dürfte i n seinem verständlichen Bemühen, Effizienz normativ zu limitieren (um nicht zu sagen: zu eliminieren), zu weit gegangen sein. I n die Organisations- und Funktionszusammenhänge des (Leistungs-)Staates i. S. Hellers 31 eingebaut, ist Effizienz ein heuristischer Begriff m i t juristischer Relevanz, die sie erst i n der Konkurrenz der verschiedenen Verfassungsziele i m Gesamtrahmen der Verfassung entfaltet. Hierbei hat sie nicht Vorrang, aber doch Rang (Warnung vor einer Ideologisierung!). Aufgabe der Verfassungsrechtsdogmatik w i r d es sein, diesen Rang der Effizienzgesichtspunkte, aber auch die Grenzen und Kontrollen sowie „Gegengewichte" zu bestimmen: i m Hinblick darauf, daß die offene Gesellschaft im Rahmen einer freiheitlichen pluralen Verfassung immer noch am meisten „leistet". L. hat wegweisende Arbeit i m Aufspüren einer Fülle einschlägiger konkreter „effizienz-relevanter" Bereiche geleistet, mag er auch die Effizienzproblematik unterbewertet und nicht spezifisch verfassungsrechtlich angesetzt haben. Seiner Untersuchung des Effizienzproblems für die Leistungs Verwaltung (S. 31 ff.) 3 2 haben Arbeiten in der angedeuteten Richtung zu folgen — unter Einbeziehung der verfassungstheoretischen und -praktischen Fragestellung. Wie dringlich eine umfassende Verfassungs-Lehre von den — konkurrierenden — „Staatszwecken" (im Effizienzdenken gesprochen: Leistungszielen), einschließlich der Grundrechte, derzeit ist, zeigt die anregende Studie besonders klar 3 3 . 31

Staatslehre, 1934, S. 232 ff.; s. L., S. 20. Treffend die Kennzeichnung der Verwaltung als „ein großes Abwägen, ein Auflösen komplexer Zweckstrukturen im Einzelfall" (S. 45). 33 Die Effizienzproblematik führt auch auf das bislang vernachlässigte große Gesamtthema: „Zeit und Verfassung" (bisher angesprochen ζ. B. in der Diskussion um das Staats- und Verfassungsverständnis, das Sozialstaats- und Demokratieprinzip, die „Geschichtlichkeit" des Rechts, die Rechtswissenschaft als „Zukunftswissenschaft", den Plan, die „wohlerworbenen Rechte", institutionelle status quo-Garantien und in der Beobachtung des sog. — in Wahrheit von der Interpretationstheorie überholten — „Verfassungswandels", zu ihm Fiedler, Sozialer Wandel, Verfassungswandel, Rechtsprechung, 1972). Hier wäre nach der Rolle des Zeitfaktors im Verfassungsrecht zu fragen: differenziert nach den verschiedenen Sach- und Rechtsgebieten oder Staatsfunktionen, aber auch je nach den politischen Hintergründen, etwa eines Satzes wie „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht", der lex-posterior-Regel, des „guten alten Rechts". „Wachstumsgeschwindigkeit" und „Zeitabhängigkeit", 32

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Nachtrag zu „Effizienz und Verfassung" (Nr. 10) Die Effizienzproblematik hat in den letzten Jahren eine A r t „Hausse" erlebt. Verwiesen sei auf die Arbeiten: Pitschas, Die Neuorganisation der sozialen Dienste i m Land Berlin, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 1/1976, S. 50 ff. (51 F N 2); Hartisch, Verfassungsrechtliches Leistungsprinzip und Partizipationsverbot i m Verwaltungsverfahren, 1975; Timmermann, Effizienz der öffentlichen Verwaltung, VerwArch 68 (1977), S. 311 ff. Zur Effizienz-Kontroverse etwa Eichhorn / Siedentopf, Effizienzeffekte der Verwaltungsreform, 1976; Battis, Partizipation i m Städtebaurecht, 1976, S. 47 ff. (m. w. N.); Mäding / Knöpf le (Hrsg.), Organisation und Effizienz der öffentlichen Verwaltung (Augsburger Symposium), 1974; von Oertzen (Hrsg.), „Demokratisierung" und Funktionsfähigkeit der Verwaltung (Verwaltungswissenschaftliche Fachtagung der Deutschen Sektion des Internationalen Instituts für Verwaltungswissenschaften), 1974. Zur Legitimität von Gründen der Verwaltungspraktikabilität: BVerfGE 44, 283 (288 f.). Wichtige Anstöße zur Gesamtdiskussion hat Leisner geleistet. Um den Versuch einer verfassungsdogmatischen Aufarbeitung des Problems bemüht sich der hier wieder abgedruckte Besprechungsaufsatz. Die Fortführung der Diskussion spiegelt sich z. B. in: R. Wahl / J. Pietzker, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 153 (162 ff.) bzw. S. 193 (197); zuletzt H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 1995. aber auch „Stetigkeit" der einzelnen Verfassungsbereiche differieren und verändern sich mit Konsequenzen für die Sache selbst. Zu untersuchen wäre, welche Verfahren und Institute den Zeitfaktor auf welche Art in das Verfassungsrecht „einbinden", daß die Zeit nicht nur auf der Seite der „Gesellschaften", des „sozialen Wandels", sondern von vornherein auch des Verfassungssatzes bzw. seiner Wirklichkeit selbst „läuft", daß „zeit-gerechte" Interpretation von dieser „Einbindung" lebt und die Verfassung in der Zeit leben läßt, auch dort, wo sie zur formellen Verfassungsänderung zwingt. „Offene", „prozessuale", „wirklichkeits·, gemeinwohl-, öffentlichkeits- und folgenorientierte Verfassungsinterpretation ist nichts anderes als der Versuch solcher „Einbindung" der bzw. in die Zeit. Die von den Sozialwissenschaften erzwungene gegenwärtige juristische Methoden-Diskussion gehört ebenfalls hierher. So heterogen wirkende Institute bzw. Problembereiche wie „grundrechtssichernde Geltungsfortbildung", der Vorrang der objektiven vor der subjektiven Auslegungsmethode, obiter dicta und „Grundsatzrechtsprechung", „Offenheit der Verfassung", die Vorund Rückwirkung von Gesetzen (jene ist zugleich ein öff. Legitimitätsproblem), die clausula-Lehre, die unterschiedliche Unbestimmtheit von Verfassungssätzen, gesetzgeberische Experimentier-, Reform- und Erfahrungsklauseln sowie Prognosen, die Akzentuierung des Verfahrensmoments (auch „Pluralismus" ist im doppelten Wortsinn ein Zeit-Problem) gewinnen im Lichte der Verfassungs-/Zeitproblematik einen gemeinsamen Bezugspunkt.

11. Verfassungstheorie zwischen Dialektik und Kritischem Rationalismus* I. „Rezensenten sind Totengräber. Aber wenn sie auch Lebendiges begraben, erhält sichs doch. Haben selbst zu lernen" . . . Diese Sätze Hegels, von Suhr zitiert (70), veranlassen den Rezensenten dieser Berliner Habilitationsschrift, sich seiner Aufgabe besonders sorgfältig anzunehmen. Suhr, den Lesern dieser Zeitschrift durch einen fundierten Aufsatz bekannt 1 , ist durch seine Dissertation „Eigentumsinstitut und Aktieneigentum" (1966) sowie durch eine Rezensionsabhandlung „Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit" 2 hervorgetreten. Sein neues Buch gehört zu den Grundlagenarbeiten heutiger Verfassungstheorie, das sich den Wissenschafts» bzw. Gesellschaftstheorien ebenso potent stellt wie es verfassungsrechtliche Fragen als Beispielsmaterial souverän verwendet. Das w i r d auch der anerkennen, der i h m wie der Rezensent nur zum Teil zustimmen kann. Die mittelfristige Nachwirkung dürfte nicht gering sein, und die Staats- bzw. Verfassungslehre „als Literatur", die für dieses Werk vorwirkte, ist m i t den Namen Heller 3, Smend auch dort verknüpft, wo diese nicht ausdrücklich genannt sind (Suhr, Vorbemerkungen, 14); Gleiches gilt für Herb. Krüger, dem das Buch gewidmet ist 4 . II. Das Buch gliedert sich i n die drei Teile: „Anknüpfungspunkte i n der Gegenwart" (mit den Stichworten: Verbindungsfäden zu Hegel, Weltanschauung und Realpolitik, Verfassungstheorie i m geteilten Deutschland), „Hegel und Marx" (mit den Abschnitten: Hegels Schrift zur deutschen Reichsverfassung, Religionskritische Jugendschriften, He* Zeitschrift für Rechtstheorie 7 (1976), S. 77 - 93 mit Nachtrag (1978). * Suhr, Dieter: Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung. Über Hegel und Marx zu einer dialektischen Verfassungstheorie. Schriften zur Rechtstheorie, Heft 41. Berlin 1975. Duncker & Humblot. 1 In: Rechtstheorie 3 (1972), S. 149 ff. 2 In: Der Staat 9 (1970), S. 67 ff. 3 An Heller erinnert S. 272: Verfassung als „werdende Gestalt, die der Wirklichkeit bei der bewußten und planmäßigen Gestaltung aus technischen Gründen vorausgehen muß"; vgl. Heller, Staatslehre, 1934, S. 258, 250: Verfassung als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt", als „offene Gestalt". Dies sind oft zitierte Passagen. 4 Bezugnahmen auf ihn in der Arbeit nur auf S. 341 m. Anm. 612. Gewisse „Wahlverwandtschaft" aber wohl S. 231 ff., 301, wo das Bedürfnis nach „Definition der Lage" zentral auftaucht; s. Herb. Krüger, Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, Vorwort S. V I f., S. 17 ff., 25 ff., 760.

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gel — Ziel, Strategie und Taktik, Hegels Staatsphilosophie und die List der Dialektik sowie Marx und sein dialektischer Materialismus) sowie „Elemente einer dialektischen Verfassungstheorie" (mit den Kapitel bzw. Abschnitten Dialektik und kritischer Rationalismus, Von der Dialektik zur Verfassungstheorie, Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung und geschriebene Verfassung, Verfassung der Gesellschaft, Die Produktion des Menschen durch den Menschen sowie Traditionelle Begriffe i m Lichte der dialektischen Verfassungstheorie). Schon dieser Uberblick verdeutlicht die Spannweite, den Originalitätsgrad und das „Reizvokabular" des Buches. I n Vorbemerkungen (11 ff.) umreißt S. sein Untersuchungsfeld m i t „Gesellschaft — Bewußtsein — Sprache". Als „roten Faden" nennt er die Formel von der „ u r wüchsigen über die erkannte und angewendete zur verfaßten Dialektik" und zu seinem erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Selbstverständnis erklärt er: „an kybernetisch-systemtheoretischen Erkenntnisweisen geschult, i m übrigen kritisch-rational disziplinierte Dialektik". S. beginnt m i t Hegels Satz: „Deutschland ist kein Staat mehr" (15). Er nimmt „drei große Tatsachen" als Endpunkte geschichtlicher Linien: die Trümmer des nationalen Machtstaates, die sozialistische Deutsche Demokratische Republik und „der durch sozialstaatliche Kompensationsmechanismen gedämpfte bürgerliche Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland" (16). Für Suhr ist es sicher, daß es an Marx und Hegel vorbei keine geeignete Sprache und keine tragfähigen Verständnisbrücken für verfassungstheoretische Erwägungen i m geteilten Deutschland gibt (18). Verfassungstheorie ist nach S. „Staatsrecht i n der methodologischen Emigration" (22); indem sie auswandert, entzieht sie sich der unmittelbaren Zensur durch die Verfassung (22). Sollte die Staatstheorie vergehen, werde die Verfassungstheorie bestehen (24). S. w i l l den Verfassungsbegriff gerade nicht auf die Bedeutung festschreiben, die er bei uns als Rechtsverfassung des Staates angenommen hat (24)5. Hegels Schrift zur deutschen Reichsverfassung und dessen Einleitungsfragment erscheint ihm als Schrift eines „deutschen Verfassungspolitikers", als Spiegel des Kampfes zwischen seiner „philosophischen und politischen Seele" (33); erst i n Berlin schreibt Hegel eine affirmative Rechts- und Staatsphilosophie (39). I m Kapitel „Hegel — Ziel, Strategie, T a k t i k " (63 ff.) sucht S. nachzuweisen, wie sehr für Hegel theoretische 5 Da die Grundfragen der Weltanschauungen nach S. die Grundfragen der Verfassungen sind (25), sieht er sich heute verfassungstheoretisch zu Hegel und von Hegel wieder in die Gegenwart verwiesen; zu Marx gelangt er, weil dieser den Staat in Hegels Staatsphilosophie und die deutsche Wirklichkeit kritisiert: im Hinblick auf die Rolle des Menschen in Staat und Gesellschaft (25).

11. Verfassungstheorie, Dialektik und Kritischer Rationalismus

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Arbeit die langfristig gründlicher wirksame Arbeit als die landläufige „Praxis" ist (69). Das Stichwort „Transsubstantiationen" (der Seinsgestalten i n Bewußtseinsgestalten und umgekehrt, 71) gewinnt besonderen Stellenwert, und S. weiß auch an Texten zu belegen, wie sehr es Hegel um „Bearbeitung des Bewußtseins" (72 ff.) ging. S. w i r d nicht müde, Hegel „ L i s t " nachzuweisen (12, 107, 119 f., 147, 231) und seine These von Hegel als „Partisan der Arbeit am Bewußtsein der Zeit" (12 f.) zu belegen; ebenso Hegels mittelbare Arbeit an der Verfassung Deutschlands (119), seine „Routen ins Reich" (108). Aber auch Hegels Folgerichtigkeit, m i t der er den Staat zum Über-Individuum „hinaufphilosophiert" (130) — „Gemälde von fürchterlicher Erhabenheit" —, w i r d kritisch beim Namen genannt. Nach S. sieht Hegel i n seiner Philosophie zu Recht die „Revolution überhaupt", und er stuft i h n als „Barrikadenkämpfer" ein: als einen, der Barrikaden i m Bewußtsein einreißt (135). Nach Hegel läßt S. Marx, Feuerbach und H. Heine zu Wort kommen (136 ff.) m i t Ergebnissen wie: „Hegel wünschte sich für sein Volk ein Reich als vernünftigen Staat. Marx macht sich daran, sein Volk von diesem Staat zu emanzipieren, bevor es i h n hatte" (148), „Marx hatte Hegel inzwischen als einen politischen Denker kennengelernt, der über die deutschen Zustände hinausgewollt hatte" (161). „Marx denkt den Staat aus der Zukunft der Geschichte weg und bekommt so auch für die Vergangenheit den Blick frei: auf einen Arbeitsprozeß der Gattung Mensch" (169)«. Der Dritte Teil „Elemente einer dialektischen Verfassungstheorie" (215 ff.) behandelt „Dialektik und kritischer Rationalismus" (218 ff.). S. entdeckt hier Popper als „wahrhaftigen Zeugen" für die grundlegende dialektische Erkenntnis: „Das gesellschaftliche Sein ist i n sich widersprüchlich" (218 f.). Dabei sucht er tieferreichende Vergleichbarkeiten zwischen Popper und Hegel nachzuweisen (220 f.), ζ. B. zwischen Poppers Drei-Welten-Theorie und Hegels Dialektik. Unter dem Stichwort „definierte Situation" i. S. von W. I. Thomas führt S. (226 ff.) die modernen sozialwissenschaftlichen Theorien zu den „Auswirkungen geistiger Handlungen" vor. Hierbei kommt Poppers Konzept einer „Logik der Situation" zur Sprache, und S. w i l l annehmen, daß Popper die von i h m erstrebte „allgemeine Situationslogik" nirgends anders finden dürfte als bei den Dialektikern (227). Erscheinungsformen der definierten Situation sind die „self-fulfilling und die suicidal prophecy" (227). S. sieht i n der Definition der Situation ein sozial technisches Instrument (231), und 6 Auf der Grundlage der „Verwandtschaft zwischen dem dialektischen Materialismus und Hegel" (171) entwirft S. einen „Verständigungsdialog" zwischen Hegel und Marx (172 - 217), in dem Marx der „Angriffslustigere" (172) ist — geschickt sind dabei in die erdachten Teile des Dialogs als dialektischer Wirklichkeit authentische Zitate eingebaut.

20 V e r f a s s u n g

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die Kunst besteht u. a. darin, „bedürfnisgerecht" zu definieren (231). Ist die innere oder äußere Lage erst einmal definiert, gewinnt die Definition ein Eigenleben gegenüber der Lage, die nach Definition gerufen hat (232). Unter dem Thema „Wiedereinspeisungszusammenhänge" (234 - 243) sucht S. zunächst nach einem Stichwort für alle Erscheinungsformen der „definierten Situation". Er findet es i n der Analogie zur Unterscheidung von hardware und software i n der Computertechnik: Die definierten Situationen sind Informationen „über" die Wirklichkeit, die „ i n " die Wirklichkeit wieder eingespeist werden (234)7. Software ist für S. offen genug, um so unterschiedlich definierte Situationen zu erfassen wie Mythologie, klassische Prophetie oder wissenschaftliche Texte, denn „jede Prognose gehört als Information zur Wirklichkeit" (235). M i t den Begriffen „definierte Situation" und „Wiedereinspeisungszusammenhang" sieht S. einige der wichtigsten „Vernetzungspunkte" zwischen der Rechtswissenschaft und den Sozialwissenschaften bezeichnet (235). Insbesondere Verfassungsrechtssätze gehören zu den Informationen, die i n die Wirklichkeit wieder eingespeist werden, aus der sie hervorgegangen sind. So t r i t t das Problem der „unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen absichtsgeleiteter menschlicher Handlungen" i. S. Poppers i n der Verfassungstheorie auf als das Problem einer Verfassung und einer Verfassungspraxis, die nicht zu einer suicidal constitution führen dürfen. Verfassunggebung ist der „Versuch, die prozeßhafte politische und gesellschaftliche Situation eines Gemeinwesens i n einer möglichst dauerhaften und sich-selbst-erfüllenden Weise zu definieren" (235). So ist der Boden der Gesellschaft heute gründlich durchwachsen m i t jüngsten, älteren und ältesten Situationsdefinitionen (236). Für S. w i r d darum das Problem der sozialen Kontrolle und des sozialen Wandels zum software- Problem (237). S. versucht immer wieder, Hegel und Popper bzw. den kritischen Rationalismus zusammenzuführen: so i n der These, die Empfehlung des kritischen Rationalismus, auf spekulativem Weg Hypothesen zu formulieren, die dann am gesellschaftlichen und am experimentellen Material geprüft werden können, decke sich m i t Hegels erkenntnistheoretischer Haltung (238), i n der These, daß sich bei der Dialektik wie bei den Wiedereinspeisungszusammenhängen der Kreis: Sein — Erkenntnis — Sein zeigt (244), und i n seiner Auffassung, Popper lasse sich i m publizistischen Kampf m i t seinen Gegnern zu einer superprophetischen Sprache hinreißen (245) — m i t pseudologischen Vokabeln (251) —, er 7 Die „großen Männer" in den Krisenzeiten der Geschichte, die die Situationen in umwälzenden Definitionen erfaßt haben, waren nichts anderes als Spezialisten für die menschlich-gesellschaftliche Software (234).

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spiele als Programmierer der menschlich-sozialen software m i t in dem „großen Beeinflussungsspiel", i n dem es ihm auf den Effekt ankommt 8 . Nach einer Kennzeichnung der sozialen Wirklichkeit als „Sprachspiel", i n dem es ernst zugeht: „ein vielstimmiges Gespräch oder Polylog" (252 ff.), Erörterungen zur „Wiederverkoppelung von Modell und W i r k lichkeit", wobei bei echt langfristigen Wahr-Sagungen das Modell „ein Phönix" sein muß (259), wendet sich S. „von der Dialektik zur Verfassungstheorie" (260 ff.). Es geht i h m um den Übergang von der dialektischen Entwicklung der Verfassung zur dialektisch verfaßten Entwicklung. S. sucht i n der Nachfolge von Hegel und Marx nach „Gesetzen hinter den Gesetzen" : dialektische Gesetze des gesellschaftlichen Prozesses, Wirkungszusammenhänge von „dialektischer Struktur", denen sich Verfassungstheorie und Verfassung „anzuschmiegen" haben. „Was eine Verfassung nicht in sich selbst an Dialektik vorsieht und was von der Gesellschaft nicht in ihr selbst an Dialektik w i r k t , bekommt sie als Revolution oder Krise ,νοη außen' zu spüren" (261)9. Freilich: Verfassungstheorie und Verfassunggebung behalten „Spielraum" (262). Und: Trotz vieler Mängel der Modelle der klassischen Staats- und Verfassungslehre (ζ. B. Nicht-Erkennen des dialektischen Charakters) spricht nach S. vieles dafür, daß sie als „konstitutionelle software-Pakete" bewahrenswerte Modellelemente enthalten, die auch i n einer transstaatlichen und dialektischen Verfassungstheorie unentbehrlich sind (263 f.). Gegen den V o r w u r f „Idealismus!" setzt sich S. zur Wehr (264 ff.): „Das bewußt-Sein ist ein Sein, das i n Resonanz mit sich selbst t r i t t " : Bewußtsein als ein „besonderer Aggregatzustand des materiellen Seins" (267). Diese Gedankengänge kulminieren i n den Thesen: K r a f t Verfassung werden urwüchsige Wechselwirkungen i n bewußt vorgesehene überführt (272), es kommt zur bewußten und planmäßigen Gestaltung der Gesellschaft; Verfassen erfolgt auch durch Sprache (273), das Gemeinwesen ist auch das Produkt der Sprache, Verfassunggebung erweist sich als wahrSagung (274 ff.). Verfassungsauslegung w i r d zur wahr-Sagungs-Hilfe, Verfassungsanwendung zur wahr-Sagungs-Erfüllung (277)10. Verfassung 8 Popper müßte die dialektische Grammatik zulassen, die er bekämpft (246), und Suhr meint, daß der kritische Rationalismus den Widerspruch als den Agenten seiner Erkenntnispraxis zuläßt (249). Fazit: Es ziemt dem kritischen Rationalismus nicht, die Dialektik als Aberglauben zu bekritteln, solange er selbst mit Geistern arbeiten muß, die es für ihn logisch gar nicht geben dürfte (250). 9 Zur Dialektik im Verfassungsrecht schon Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 14: „Stück Gegenstruktur" ; D. Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 3. Aufl. 1950, bes. S. 7 ff., 13 ff., 79 ff. 10 Suhr will mit dem Begriff „wahr-Sagung" den „Brückenschlag über Jahrtausende von Verfassungspraxis hinweg" bis in die modernen Sozialwissenschaften und die Kategorie der „definierten Situation" versuchen, nachdem schon die ältere Verfassungspraxis mit Vergleichbarem, der Prophetie, sozialtechnisch gearbeitet habe (279). !!U*

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begreift S. als „Grammatik" des gesellschaftlichen Prozesses (280 ff.). A u f lange Sicht hat nur diejenige Verfassung die Chance, i n keine Widersprüche m i t der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu geraten, welche die Wider-Sprüche selbst begrüßt, erfaßt und organisiert, die i n der Gesellschaft gegen die Gesellschaft emporkommen (282). S. führt sodann die Begriffe „Bewußtseinsverfassung", „Gesellschaftsverfassung" zentral ein (288 ff.). Sie werden einander gegenüber gestellt: Unterschied von Innen und Außen, aber auch i n Parallele gesetzt: „Entsprechung" i m Hinblick auf Organisiertheit und Verfaßtheit (288). „Sollen Bewußtseins- und Gesellschafts Verfassung zusammenstimmen, müssen sie annähernd von gleicher Struktur, von gleicher Feinheit, Gangart und vergleichbarer Vielstimmigkeit sein" (288). S. spielt am Modell der „internen Repräsentation" durch, wie eine Brücke zwischen Bewußtseinstheorie und Verfassungstheorie geschlagen werden kann 1 1 . Und er konzipiert als Gegenstück die Gesellschaftsverfassung als „fleischgewordene Bewußtseinsverfassung" (308 ff.): Theorie der externen Repräsentation. I m Blick aufs Ganze sind die Verfassung des Bewußtseins und die geschriebene Verfassung Teile oder Momente der Gesellschaftsverfassung (310). S. stellt damit die logischen Bedingungen für das Zusammenstimmen von Gesellschafts-, Bewußtseinsverfassung und geschriebener Verfassung zur Diskussion (314): Kriterien der kognitivpraktischen Konsonanz i m Gegenstandsbereich der Verfassungstheorie, d. h. gesellschaftliche Konsonanzbedingungen. Eine Gesellschaft ist nach S. dann w i r k l i c h als dialektischer Prozeß verf aßt, wenn die „konkreten menschlichen Stimmen gehört und beachtet werden", wenn i n dem Menschen der Nächste 12 w i r k l i c h schon repräsentiert ist (318). Es geht um „Zusammenklang" zwischen Bewußtsein und Gesellschaft (319) i n dialektischem „Rhythmus". Von Marx ausgehend thematisiert S. sodann die „Produktion des Menschen durch den Menschen" (321 ff.). Die Abhängigkeit des Menschen vom Menschen läßt sich zwar nicht aus der Gesellschaft „herauskürzen"; doch ist sie zu bejahen als wechselseitiger gesellschaftlicher Prozeß, in dem die Menschen verbindlich den Willen des einen in den Kopf des anderen hereinlassen und umgekehrt (330)13. — Zuletzt untersucht S. traditionelle Begriffe „ i m Lichte der dialektischen Verfassungstheorie" (340 ff.): Allgemeinwille, repräsentative Demokratie (Konsonanzkontrolle zwischen Repräsentierten und Repräsentanten, 347), De11 Stichworte sind „aufrechte innere Repräsentation" (293): Fremde Freude bleibt eigene Freude usw. 12 Zu einem „Recht des Nächsten": Erik Wolf, 2. Aufl. 1966. 13 „Das Hier und Jetzt des Menschen bin zu allererst ich selbst mit meinem Nächsten : Meine Anerkennung oder meine Mißachtung des anderen konkreten Menschen als eines Menschen" (338).

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mokratie (sie krankt m i t der Sucht zur Selbstherrschaft, m i t der Selbstbeherrschung gesundet sie, 346), Demokratie als Stück verfaßter Dialekt i k (348: „vom Herrschaftssubjekt zum Herrschaftsverfahren", wobei dieses allgemeine Demokratiemodell auf den sozialen Prozeß der Gesellschaft überhaupt zugeschnitten ist, 349), ferner „Gemeinschaft als soziales Subjekt" (juristische Person) und vor allem „Freiheit vom Menschen und Freiheit durch den Menschen" (354 ff.). Für die Freiheit durch andere gilt: „Der Mensch ist des Menschen Freiheit" (355); dies w i r d noch durch das herrschende „monadologische" Freiheitsmodell verdeckt (357), das auch übersieht, daß Schutz von Freiheitsgrundrechten stets Schutz ihrer D r i t t w i r k u n g ist (359)14. Suhr s Stichworte sind: Übergang vom Modell der unilateralen zu dem der bi- und multilateralen Freiheit (360), ζ. B. von der Freiheit der Presse zur Freiheit auch innerhalb der Presse. Die geschriebene Verfassung erweist sich als „sprachlich normativer Katalysator, der durch seine informative Gegenwart den politisch-sozialen Prozeß anregt und i n seinem Verlaufe beeinflußt" (361); darum die Forderung nach Kunst des verständigen Sprechens und Kunst des Verstehens (361). Heute erscheine die Bindung an das sprachliche Werk als Rechtsstaatlichkeit und sozialistische Gesetzlichkeit, Rechtsstaatlichkeit verstanden als „wirkliche Achtung der Menschen vor ihrem Werk, das ihre Selbstachtung durch wechselseitige Anerkennung freiheitlich organisiert" (363 f.). I I I . Zur Kritik. Angesichts der Fülle des von Suhr präsentierten „Materials" können hier nur Einzelprobleme diskutiert werden. 1. Vorweg einige Fragen : a) Problematisch erscheint der von S. gewählte Begriff von Verfassung und Verfassungstheorie. S. hebt m i t Recht ihr Moment der Offenheit hervor (23 f., 279, 350, 283: unbedingte Offenheit) 15 . Nur kann er sie ebensowenig „durchhalten" i m Blick auf die Verfassungen sozialistischer Staaten wie seine — d e m Anspruch nach auch sie umfassende (25, 315, 363), aus der Gegenwart nur durch zwei (!) marxistische Autoren abgesicherte — Verfassungstheorie: denn sowohl die DDR-Verfassung als auch andere sozialistische Verfassungen sind durch den Begriff der „sozialistischen Gesetzlichkeit" u. ä. i n einer Weise inhaltlich determi14 Grundrechte wie Art. 9, 8, 6, 15 GG fordern auf, „der sozialen Tiefenstruktur" der zwischenmenschlichen Situation nachzugehen (359). 15 Dazu auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 8. Aufl. 1975, S. 12 ff.; P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff.; öff. Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 60, 709; Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff.; Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.

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niert, die statt der offenen die geschlossene Gesellschaft etabliert 1 6 , statt von der Offenheit des Geschichtsverlaufs von seiner „Gesetzmäßigkeit" ausgeht usf. So beifallswürdig der Versuch ist, „Verfassungstheorie i m geteilten Deutschland" m i t dem Ziel zu treiben, Gemeinsames zwischen den ideologisch gegensätzlichen Blockteilen zu finden: er kann nicht gelingen. Oder aber Verfassung und Verfassungstheorie werden so weitgehend formalisiert, daß sie hier und dort nur den Namen gemeinsam haben, i n der Sache aber nichts mehr aussagen und untauglich werden. Es h i l f t nun einmal nichts: Die offene Gesellschaft hat ihre Feinde i. S. Poppers, und sie lassen sich auch nicht über eine dialektische Verfassungstheorie, über die Theorie des „Wider-Spruchs" in die Theorie der offenen Gesellschaft einbeziehen. So bleibt — leider — der sozialistische Verfassungstypus derzeit nur als Kontrastmaterial, als Negativbeispiel für die westliche demokratische Verfassungstheorie relevant. Aber auch die Offenheit „nach zurück", in die Geschichte, ist nicht evident: Warum muß Verfassungstheorie „Jahrtausende" umspannen (279)? Man w i r d S.s Anliegen gerne zustimmen, den Begriff „Verfassung" von vornherein so offen zu lassen, daß er auch „transstaatliche Gesellschaften" umfaßt — den Staat als Bezugspunkt fallen zu lassen (s. auch 283), ist schon oft gefordert worden 1 7 . Doch ist die Verfassungslehre dazu wohl am wenigsten durch die Lage „ i m geteilten Deutschland" provoziert: Denn die von S. apostrophierte „sozialistische" Deutsche Demokratische Republik tut — auch ideologisch — nicht nur nichts für die klassenlose oder transstaatliche Gesellschaft, sie tut vielmehr alles für deren Gegenteil: für staatliche Omnipotenz und totale gesellschaftliche Kompetenz. M. E. muß also trotz, nicht wegen der DDR die Verfassungstheorie wagen, über den Staat hinaus zu denken, ζ. B. i n Richtung auf Menschenrechte: M i t dieser Maßgabe verdient der Satz Suhrs (24), die Verfassungstheorie müsse sich als potentielle Erbin der Staatstheorie betrachten, Beifall; ebenso die These (22), i n der geringeren Abhängigkeit von bestimmten Verfassungen 18 liege die Freiheit des Verfassungstheoretikers. Zustimmung verdient auch das Anliegen, Marxisten und Nichtmarxisten durch ein Gespräch über den Menschen zusammenzuführen (26). Der Kampf um die Menschenrechte hier und dort, ζ. B. durch den Friedensnobelpreisträger Sacharow „nach Helsinki", sollte, so paradox das klingen mag, zu dem Gegenstand werden, der sowohl im Hinblick 16 Zum Marxismus: Popper, in: Rechtstheorie 4 (1973), S. 88 f.: dazu auch Ρ. Häberle, Verfassungstheorie ohne Naturrecht, AöR 99 (1974), S. 437 (449 ff., 463). 17 ζ. B. vom Rezensenten: Allgemeine Staatslehre, demokratische Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre?, AöR 98 (1973), S. 119 ff.; Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische Gesellschaftslehre?, Z H R 136 (1972), S. 425 ff. 18 s. meinen parallelen Ansatz, AöR 98 (1973), S. 119 (124).

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auf den Osten wie auf den Westen die Verfassungstheorie beschäftigen kann. Speziell für westliche demokratische Verfassungsstaaten erscheint Suhrs Verfassungsbegriff 19 zu umfassend. Gewiß geht es u m das verfaßte Gemeinwesen (22) 20 , um Verfassung als „geschichtliches Gebilde" (23); doch ist nicht jedes geschichtliche Gebilde i n „Verfassung". Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation mag „Verfassung" gehabt haben (23), aber es war keine demokratische Verfassung. Andernfalls w i r d „Verfassung" ein neutraler Allerweltsbegriff, den Idi Amin ebenso vindizieren kann wie Francos Spanien oder Stalins Rußland. „Verfassung" ist, auch dann wenn sie auf den freiheitlichen Staat und seine Gesellschaft bezogen w i r d 2 1 , von vornherein sehr viel konkreter anzusetzen. Hat sie nicht oft bloß technisch-instrumentalen Charakter als Konsequenz des auch von S. gewählten anthropozentrischen Ansatzes (25 f., 318 f., Dienst am Menschen)? Verfassung umfaßt nicht alles menschliche und gesellschaftliche Geschehen22. Vieles am und i m Menschen ist nicht (Bewußtseins-)verfaßt und gleichwohl gesellschaftlich höchst relevant! Es w i r d immer Sein ohne Bewußtsein i m Menschen geben, und Verfassungen müssen gerade damit rechnen! Verfassung grenzt Wesentliches gerade aus, stellt frei, verhält sich „neutral", schärfer: indifferent und sie ist nur ein, gewiß höchst „anregendes" 23 und begrenzendes, aber insgesamt doch recht bescheidenes Moment i n der Totalität des so widerspruchsreichen Geschichtsverlaufs. Sie ist Teil der Geschichte—nicht diese Geschichte selbst und insgesamt! Die Weltgeschichte ist nicht Verfassungrsgeschichte, sie w i r d es auch schwerlich i n Zukunft sein 24 . Daraus ergeben sich entsprechende Vorbehalte gegen S.s Begriff der „Verfassunggebung". b) Suhr begreift Verfassunggebung als wahr-Sagung (274 ff.), als Versuch einer politischen oder gesellschaftlichen Geschichtsschreibung α priori (275). Die Kunst der verfassunggebenden wahr-Sagung besteht für i h n darin, die „prozeßhafte Situation des Gemeinwesens i m konsti19 s. 362: Bewußte und planmäßige Gestaltung der Gesellschaft in den drei Aggregatzuständen Bewußtsein, Gesellschaft und Text der verfassenden Sätze. 20 s. aus der bisherigen Lit.: die Bemühungen Ehmkes, in: FS für Smend, 1962, S. 23 (44 ff.) und des Rezensenten (ZfP 12 [1965], S. 381 [385 ff.]) um Verfassungslehre des politischen Gemeinwesens. 21 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (56 f.); ders., AöR 98 (1973), S. 119 (126 f.). 22 s. aber 288 f. : Abhängigkeit der Gemütsverfassung von der Bewußtseinsverfassung. 28 Suhr, 361. Zur Verfassung als „Anregung": Smend, jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 1. Aufl. 1955, S. 189 f., 207, 507. 24 Zu Harmonisierungsbestrebungen bei Suhr z.B.: S. 288 im Verhältnis Bewußtsein und Gesellschaftsverfassung; sie stehen im Gegensatz zu seinem dialektischen Ansatz.

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tutionellen A k t zu begreifen, darzustellen und zu gestalten" (276 f.). Und er w i l l sie auch beschränkt wissen: „Erst wenn eine Verfassung weitgehend aufs Prophezeien . . . bestimmter Handlungen und Ereignisse verzichtet, wächst ihre Chance, mit ihren Prophezeiungen recht zu behalten" (275). Der quasi-theologische Stellenwert 2 5 der Verfassung als einer „ B i bel" (Verfassungstheorie als Verfassungstheologie) überschätzt ihre Möglichkeiten, übersieht ihre Grenzen und die besondere Aufgabe des kritischen Rationalismus i n der Verfassungstheorie: Verfassung hat — neben ihrer Retrospektivität und ihren relativen Festschreibungen i n statusquo-Garantien usw. — gewiß Zukunftscharakter, Programmatik, sie beschreibt aber auch Bestehendes. Sie ist nicht das „Buch der Bücher" der Geschichte eines Volkes. Es gibt sehr viele verschiedene Möglichkeiten der Regelung von Fragen durch den Verfassunggeber (ζ. B. stärker plebiszitäre Züge als i m GG): „Wahr-Sagung" hätte hier eine große Variationsbreite, und damit verliert der Begriff seinen Sinn. Verfassunggebung ist nicht nur „Geschichtsschreibung des Zukünftigen" (so aber 275), sondern auch Geschichtsschreibung des Gegenwärtigen und Vergangenen, ein Erfahrungsschatz (Ansätze: 263 f.); sie ist retrospektiv 2 6 , ein Resûmé definierter Situationen. Man denke an die Tradition „republikanischen" Gedankenguts i m französischen Verfassungsrecht, über die die Menschenrechte von 1789 auch in der V. Republik gelten. Verfassung als „wahrgesagte Ordnung" (276) — das legt i h r einen nicht zuletzt kraft der „Definition der Situation" — theologienahen Rang bei 2 7 , der Totalitätsansprüche auslösen kann, wenn auch nicht auslösen muß. I m übrigen ist der Begriff „Wahrheit" in Frage zu stellen. Die Verfassungstheorie sollte sich auch i n bezug auf den Prozeß der Verfassunggebung eher damit bescheiden, nach dem Möglichen, dem Notwendigen und dem Wirklichen zu fragen 28 . Sie sollte sich m i t dem SoMenscharakter der Verfassungsnormen zufrieden geben, auf ihre — sich auf Erfahrungen i n der Vergangenheit gründende — Abbildfunktion und ihre Gestaltungsfunktion verweisen. Wahrsagung, Prophetie 25 Zur Frage der Theologienähe von Suhr s Verfassungstheorie: S. 48, 278 f., 362. Auch die Sprache des Verf. selbst ist gelegentlich selbstsicherer, als dies im wissenschaftlichen Prozeß (und speziell für einen Dialektiker!) möglich sein kann. 26 A n anderer Stelle (282) rückt S. die „geschichtliche Verfassung" samt ihren „Modellvorstellungen" durchaus ins Blickfeld, doch werden sie nicht in den Prozeß der Verfassunggebung hereingenommen. 27 Suhr nimmt diesen Einwand selbst vorweg (278 f.), er fürchtet sich nicht vor „Ähnlichkeiten und Parallelen". 28 Dazu die Hinweise in: AöR 100 (1975), S. 333 (335 ff.).

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ist ein zu großes Wort; es sollte selbst für das kostbarste Gut freiheitlicher Gemeinwesen, ihre Verfassung, nicht verwandt werden — auch nicht für ihren „idealen Fall". Denn: Verfassungen stehen — auch idealtypisch — nicht jenseits der Prozesse von „ t r i a l and error". Verfassunggebung ist irrendes Menschenwerk. Sie darf — schon sprachlich — nicht i n die Nähe von Offenbarungsvorgängen gerückt werden, weil sonst der Verfassunggeber einen Totalitäts- und Wahrheitsanspruch erheben könnte, der den Bürgern allemal schlecht bekommt. Die Bedenken verstärken sich, wenn S. i n Verfassunggebung auch „Wahr-Sagung der menschlichen Natur" erblickt (284), und das fragwürdige Wort spricht: „Verfassungen machen und den gesellschaftlichen Menschen machen — das ist ein und dasselbe" (284). „Gesellschaft" ist zwar i n ihrer Freiheitlichkeit verfaßt, aber sie ist nicht „wie" der Staat verfaßt. Verfassungstheorie muß auch für die Falsifizierung konkreter Verfassungsbestimmungen gerüstet sein (Art. 79 Abs. 2 GG!); sie darf nicht primär „Bewahrheitung" erheischen (s. aber 361)29. I m übrigen müßte Suhr auf die nachweisbaren pluralistischen, kompromißhaf ten Vorgänge konkreter Verfassunggebung einerseits 30 und auf die andauernden, sich nicht i n einem einmaligen U r - A k t der Verfassunggebung erschöpfenden Vorgänge „verfassungsimmanenter" Verfassunggebung andererseits verwiesen werden 3 1 . Verfassunggebung dient dem Menschen. Sie ist ein öffentlicher Prozeß m i t vielen Beteiligten, auf vielen Foren und Bühnen, m i t Fortschritten und Rückschritten, und sie hat die schlichte Aufgabe, durch materielle Prinzipien und i n offenen Verfahren „Gemeinschaftsaufgaben" gerecht zu lösen. Vor allem sollte die Verfassungsänderung einbezogen werden: S. hat sie nicht erfaßt, obwohl sie i n der Zeitdimension unentbehrlich ist. Auch die noch so offene Verfassung muß ζ. B. durch Verfassungsänderungen fortgeschrieben werden. Das Institut der Verfassungsänderung belegt die Richtigkeit eines stärker experimentellen und partiellen, instrumentalen Verständnisses von Verfassung und Verfassunggebung 32 . Es gehört wesentlich i n das B i l d fortwährender Verfassunggebung. Suhr denkt zu stark vom „ U r p u n k t " der „einmaligen" Verfassunggebung aus. Vom Zeitpunkt des Erlasses einer Verfassung an kann sich aber vieles ändern, ohne daß „dialektisch" und mit dem Prädikat „wahr" oder „unwahr" argumentiert werden dürfte. Der von S. m i t Vorbehalten für richtig gehaltene Satz: „Wie w i r glauben, so geschieht uns" (343, 228) darf nicht dazu führen, m i t der 29

Dazu mein Beitrag, AöR 99 (1974), S. 437 (447 ff.). Dazu P. Häberle, AöR 94 (1969), S. 479 (486); jetzt mit Material: Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945,1973. 31 Dazu meine Bemerkungen in: AöR 94 (1969), S. 484 ff. 32 Zu einer Theorie der Verfassungsänderung s. meine Hinweise in: Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 (134 ff.), jetzt in Dreier / Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 (322 ff.). 30

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„Sozialtechnik" der „definierten Situation", der Wahr-Sagung durch Verfassunggebung Erkenntnisse des kritischen Kationalismus preiszugeben und Prophetie statt Rechts- und Sozialwissenschaften zu treiben. Es geht um Kontrolle gegenüber Prognosen! „Kontrolle" ist bei S. vernachlässigt (nur 237). Gewiß ist Vertrauen auch eine positive, höchst w i r k same Kraft; aber so sehr sie das freie Mandat trägt (345), so sehr muß auch das Mißtrauen „konstitutionalisiert" werden (ζ. B. i n der Gewaltenteilung, der Opposition, den Minderheitsrechten), besonders i n Verfahrensregeln des demokratischen Verfassungsstaates (s. aber 343). Denn der Mensch bleibt nun einmal i n der Gefahr, Macht zu mißbrauchen; daran kommt auch eine „dialektische Verfassungstheorie" schwerlich vorbei, so sehr die Verfassungstheorie aufgerufen ist, Vorkehrungen für das „bessere Ich" (Herb. Krüger, S. 341) zu schaffen. Kritik verdient S.s Handhabung der „definierten Situation". Gewiß hat eine von Menschen als wirklich definierte Situation als zunächst nur interne Wirklichkeit später weitreichende Auswirkungen (230). N u r berechtigt das nicht, die Definition der Situation zu dem sozialtechnischen Instrument zu machen. Die Wirklichkeit läßt sich nicht i n dem von S. angenommenen Ausmaß — durch Prophezeiungen — „überlisten". Zwar sucht sich S. abzusichern, indem er — auch hier — ein „Bedürfnis" nach Definition der Lage verlangt (232). Doch muß das, was Bedürfnis ist bzw. werden kann, noch sehr viel genauer ermittelt werden; vor allem aber: es müssen kritische Maßstäbe dafür entwickelt werden, wann und wie (durch Wissenschaft, nicht durch Prophetie!) eine Situation definiert werden darf (das gilt besonders für den Verfassunggeber!), was w i r k lich „Prognose" ist, was nicht (s. auch Suhr, 236); andernfalls w i r d dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet. Gewiß, 5. kennt auch Veränderungen der Definition, „denen auch sie unterworfen ist, insbesondere wenn sie sich i n der Praxis als allzu falsch oder hinderlich erweist" (233). Nur ist das keine genügend effektive Gewähr gegen Vergewaltigungen der Wirklichkeit. Die Definition hat schon oft ein irreversibles übermächtiges Eigenleben gewonnen. Zu fordern wäre also mehr kritisches Bewußtsein gegenüber Prophetie, i m verfassungstheoretischen Zusammenhang gerade gegen Theologie (238) 33 . M. a. W.: Zur „Kunst", „bedürfnisgerecht zu definieren" (231), muß sehr viel mehr gesagt werden als das sich bei 5. daran anschließende Hegel-Zitat von den „Geistreichen" des Volkes, den „Großen" (231 f.) erkennen läßt. Was bedürfnisgerecht ist oder werden kann, läßt sich leicht manipulieren. Darum müssen hier Begriffe wie Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Freiheit, Menschenwürde eingebaut werden. 33 Sonst droht die Gefahr einer unkontrollierten wirklichkeitsschaffenden Kraft des Wunschdenkens.

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I m übrigen: Dialektik und kritischer Rationalismus dürfen vor den „Bedürfnissen" nicht halt machen. Diese sind i n sich höchst widerspruchsvoll! Es müssen Verfahren und Instrumente dagegen entwickelt werden, daß „Große" „Lagen" definieren oder sich als gerufen bzw. berufen geben, obwohl wesentlich nur sie selbst sich herbeigerufen haben. Die Institutionen des westlichen Verfassungsstaates sind ein großangelegter Versuch, es zu solchen „Lagen" erst gar nicht kommen zu lassen. Vor allem: Wonach bestimmt sich, ob und wie „wahrgesagt" wurde? Suhr hängt Verfassung und Verfassunggebung letztlich an den „menschlichen Bedürfnissen" auf 3 4 . „Bedürfnis", den „wahren Interessen" nahe kommend, hat damit einen hohen, ja höchsten Stellenwert. Es ist eine A r t „deus ex machina", und S. verknüpft hier Hegel m i t Marx (98, 132, 151, 192, 198 f., 208, 231). Nur ist die Frage: Quis judicabit; wer formuliert, wer artikuliert welche Bedürfnisse „richtig"? Sind nicht auch die Bedürfnisse höchst widerspruchsvoll und nur sehr subjektiv formulierbar? Und: Wer definiert sie, die „wirkliche gesellschaftliche Situation", wahr und richtig (277), die „wahren Interessen" als solche (349)? Diese Fragen können hier nur gestellt werden. Jeder verfassungstheoretische Entwurf hat letztlich einen solchen Schlüsselbegriff als Prämisse; er kann nur akzeptiert oder verworfen werden. Doch ist er aufzudecken, und S. hat das Seine hierfür geleistet. c) Suhrs dialektische Verfassungstheorie ist ein herausragender Versuch, auf der Höhe der Wissenschafts-(Erkenntnis-) und Gesellschaftstheorie das Sein/Bewußtsein-, Uberbau/Unterbau-Problem zu thematisieren (dazu sogleich unten). Gleichwohl bleiben Fragen: S. bezieht das Wirken, die Wirklichkeit (der Gesellschaft) i n letzter Konsequenz ein 3 5 , ja, sie w i r d zur Quelle, zum Motor der Geschichte: als „Gesellschaft", als „Sein" 3 8 . Es fragt sich nur, ob damit nicht einer A r t gesellschaftsorientierter Erfolgsmetaphysik das Wort geredet w i r d — es kommt nur auf das gesellschaftliche Wirken an —, einer „Erfüllungsautomatik", die dann abläuft, wenn Bewußtsein und Gesellschaftsverfassung „konsonant" sind. Weltgeschichte ist aber nicht gleich Verfassungsgeschichte, die Weltgeschichte ist kein Verfassungsgericht, kein Gericht von, über 34 Vgl. 276: „Eine wahrgesagte Ordnung wird nur dann gewaltlos angenommen, wenn sie auf den Spuren der menschlichen Bedürfnisse vorher oder zugleich ins Bewußtsein dringt und das Bewußtsein beherrscht: als Fessel und Führerin des Bewußtseins." 277: „Das Gesagte wird nur wahr, wenn es auf ein entsprechendes Bedürfnis oder eine gewisse Bereitschaft bei den ,Hörern' stößt." 35

S. 349: Wahre Interessen des Menschen bzw. der Gesellschaft; 316: „den wahren weil wirklichen Menschen". Fragwürdig auch 349: „Fortgeschrittenes Bewußtsein" einer Partei. 36

S. 261: Dialektik „aus dem Schoß der Gesellschaft".

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und i n Verfassungen. Sie greift sehr viel weiter. Auch gibt es unbewußtes und gleichwohl höchst gesellschaftsrelevantes Handeln. Kann von einer „normativen K r a f t " der Verfassung 37 noch gesprochen werden, wenn diese i m Idealfall ohnehin „wahr sagt"? Verfassung ist doch i n Teilen „Entwurf", ein Stück „über" der sozialen Wirklichkeit, ja gegen sie normiert. Verfassungsidealität und -realität werden nie voll zur Deckung kommen. Verfassung hat postulatorischen Charakter, sie ist „Norm und Aufgabe" (Scheuner), sie geht i n der Wirklichkeit nicht auf. Diese bleibt notwendig defizient, anderfalls wäre das Paradies schon sehr nahe. Läuft dialektische Verfassungstheorie i. S. Suhrs nicht Gefahr, die sog. Wirklichkeit überzubewerten, obwohl sie doch nicht das Maß aller Dinge ist 3 8 ? I n konkreten geschichtlichen Situationen freiheitlicher Gemeinwesen ist meist mehr möglich als nur eine bestimmte Verfassungsordnung; die Variationsbreite der denkbaren Regelungen ist groß 39 . Es gäbe dann also mehrere „Wahrheiten"? Verwechselt S. nicht Wahrheit m i t Gerechtigkeit, Gemeinwohl usw.? I n all diesen Zusammenhängen steht S. — als Dialektiker konsequent — ganz i m Banne des Notwendigkeits- 4 0 und Wirklichkeitsdenkens — das Möglichkeitsdenken ist i h m fremd; die Freiheit w i r d hier (anders bei den Grundrechten: 354 ff.) nicht thematisiert! Und doch hat Möglichkeitsdenken in einer offenen Ordnung der Freiheit vieler — dank der Grundrechte — zentrale Bedeutung 41 . Suhr muß sich aber auch die Frage gefallen lassen, i n welchen Instituten und Verfahren er die Widersprüche, die Dialektik verfassungstheoretisch einfängt 42 . Regierung und Opposition, Mehrheit und Minderheit, Privatheit, Öffentlichkeit und Staatlichkeit sind solche Voraussetzungen für W i r k u n g und Gegenwirkung von „Widersprüchen". K o m m t es i n einer idealtypischen dialektischen Verfassung nicht zum Stillstand, weil und insofern die Widersprüche erfaßt und organisiert werden, zumal wenn die „Konsonanzbedingungen" zwischen Bewußtsein, Gesellschaft und geschriebener Verfassung (314) gefunden sind? Woher kommen sie überhaupt? Stecken nicht hinter dem Suchen nach „gesellschaftlichen Konsonanzbedingungen", nach konstitutionellen Formen, bei der 37

Vgl. Suhrs beifälliges Zitat von Hesse: 361 mit Anm. 631. J. H. Kaiser, Art. Staatslehre, Staatslexikon, V I I (1962), Sp. 589 (603). 39 s. Suhr selbst, 262 („Spielraum"). 40 Beispiele bei S.: 71, 279, 319. 41 Den Bogen zwischen dem Grundrechtsteil am Schluß (S. 354 ff.) und den methodischen und verfassungstheoretischen Teilen im Zentrum der Arbeit hat S. nicht geschlagen. 42 Ein abstrakter Hinweis auf Verfahren: 316. s. auch 282: „Die Wirklichkeit ist in sich wider-sprüchlich. Das kann ihr die Verfassung nicht ausreden; also muß sie es institutionalisieren." 38

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die Realdialektik „bewußt" inszeniert w i r d (314) — was doch viel, zuviel verlangt! —, Utopien antagonismusfreier Gesellschaften (trotz 315 f.)? Ist Suhr s Gesellschaft als dialektisch verfaßter Prozeß (316) nicht doch die große Harmonie, die entweder Dialektik enden läßt oder einer Verfassung nicht (mehr) bedarf? Ist nicht gegenüber der (marxistischen) A u f gabe, „das Ziel der menschlichen Entwicklung, die Gestalt der menschlichen Gesellschaft" bewußt herbeizuführen (321), kritischer Rationalismus am Platze? Es ist kein Zufall, daß sich S. hier fairerweise offen (315) m i t der „sozialistischen Gesellschaft" an einen Tisch setzt, deren Theoretiker ebenfalls nicht behaupten, daß die Dialektik plötzlich aus der Geschichte verschwinden wird. Der K o n f l i k t bleibt ein Element demokratischer Verfassungen. Vieles deutet darauf hin, daß Suhr die klassische Staat/GesellschaftProblematik m i t i n seine Dialektik hineingenommen hat. Das zeigt die These, die dialektische Verfassungstheorie habe das uralte gesellschaftliche Problem zu lösen: Wie der Wille vieler ein Wille w i r d und wie der eine Wille dann von vielen ausgeführt w i r d (286). Für S. ist dies das Problem der Staatswillensbildung, solange Geseilschaftsverfassung vor allem als Staatsverfassung begriffen werde. Die Staat/GesellschaftsDiskussion hat aber doch mittlerweile einige Ergebnisse gebracht, die diese Fragestellung hinter sich lassen 43 . Insbesondere beginnt das Gemeinwesen seine Gesellschaft zu verfassen und vom Staat als archimedischem Punkt der Verfassung abzurücken (ohne freilich „transstaatlich" zu werden), unter dem Motto, von der Staatsverfassung zur Verfassung des politischen Gemeinwesens. Schließlich ist auf den bereits formulierten anthropologischen Einwand zu verweisen: es gibt menschliches Sein ohne Bewußtsein i. S. Suhr s ; es entzieht sich der Ver-fassung und ist gleichwohl essentiell mit-menschliche Geschichte: man denke an die Kunst, an „Stimmungen und Gestimmtheiten" des Menschen, die so wesentlich und „primär" sind für ihn und die Gesellschaft wie sein Bewußtsein 44 ; man denke an den großen „Haushalt der Empfindungen und Antriebe" (342). Suhrs Verbindung: Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung, geschriebene Verfassung kann es hier nicht geben! Abgesehen davon ist sehr die Frage, ob das Innen/Außenschema auf Bewußtsein und Gesellschaft paßt 4 5 und wie wünschenswert (kreativ?) S.s „Entsprechung" i m Hinblick auf Organisiertheit und Verfaßtheit wäre. 43 Dazu Hesse, DÖV 1975, S. 437 ff.; meine Auseinandersetzung mit Herzog, AöR 98 (1973), S. 119 (125 ff.) ; zuletzt W. Schmidt, AöR 101 (1976), S. 24 ff. 44 Vgl. aber Suhr, 288. 45 s. aber 288; 319: „Gesellschaft und ihr inneres Double", 363: „dreifache Verfassung des Drinnen, des Draußen und des Wortes".

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2. Positiv ist zu würdigen: a) Vorab der methodische Ansatz. S. bringt Hegel, Marx und zugleich Popper zur Sprache und miteinander ins Gespräch: nicht nur i n dem höchst originellen „Verständigungsdialog" zwischen Hegel und Marx (172 ff.), wobei freilich Hegel zu passiv und blaß, bloß re-agierend erscheint. Das ist konsequent, weil S. m i t Recht auf die Wichtigkeit der Sprache abhebt (z.B. 223 ff., 272 f., 274, 350 ff.). Es geht i h m um die Schaffung der gemeinsamen Sprachebene. Die bisherige Durchschlagskraft der von S. primär und nicht auf den Umwegen über Sekundärtexte herangezogenen Primärtexte von Hegel und Maroc 46 rechtfertigt es auch, an Hegel und Marx „entlang" Verfassungstheorie zu treiben. S. versucht das Kunststück, Poppers Hegel-Kritik so einzubeziehen, daß er sich auf Hegel berufen kann, ohne sich der K r i t i k des kritischen Rationalismus Poppers auszusetzen, weil er Popper selbst Inkonsequenzen nachweisen kann (225, 245 f.). Der These, Erkenntnistheorie sei Gesellschaftstheorie 47 , w i r d man zustimmen. Problematisch ist jedoch der Stellenwert, der dem Glauben auch in der wissenschaftlich zu behandelnden Sache „Verfassung des Gemeinwesens" eingeräumt w i r d (343). Auch ist zu fragen, wer oder was in einer dialektischen Verfassungstheorie die These setzt, doch gewiß nicht primär der „große Mann", von dem S. allzu fasziniert erscheint. Suhrs dialektisches System w i r d gelegentlich zur großen Harmonisierungsveranstaltung (310 f.. 318), so überraschend das klingen mag: Spruch und Widerspruch sind zu gekonnt eingebaut 48 . Dem Rezensenten erscheint eine auf dem Boden des kritischen Rationalismus verfochtene Verfassungstheorie (zuletzt m i t dem Stichwort „die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten") demgegenüber i n bewußter Verengung auf die westlichen Demokratien realistischer und sie präjudiziert den Geschichtsverlauf nicht. Problembereiche, i n denen kritischer Rationalismus die Verfassungsdogmatik (einschließlich die Verfassungspolitik) in Fortführung klassischer Errungenschaften des Verfassungsstaates „anleiten" kann, sind z.B.: — der Ausbau von Grundrechten zu differenzierten Teilhaberechten, u m sie für „reale Freiheit" zu instrumentalisieren, einschließlich der Lösung binnenstruktureller Grundrechtsfragen 49 , 48

S. greift auch häufig auf Briefe und ähnliche Zeugnisse in einer sehr erhellenden Weise zurück (ζ. B. 46, 54 f., 59). 47 S. 281: „Zwei Seiten ein und derselben Sache." 48 Suhr spürt diesen Einwand vorweg (vgl. 314 f.). 49 Dazu mein Korreferat VVDStRL 30 (1972), S. 43 (109); s. Suhrs Hinweis: 360; jetzt H. H. Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (188 ff.).

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— damit zusammenhängend der Ausbau des — offenen — Leistungsrechts 50 , — der überlegte legislative, verwaltungsmäßige und richterliche Einsatz der „öffentlichen Interessen", um Öffentlichkeit und Offenheit des Gemeinwesens zu bewirken 5 1 (samt Rationalisierung des Selbstverständnisses als Vorverständnis), — die Verortung von Experimentierklauseln, von Vorverfahren zu Verfassungsänderungen 52 , das Verständnis der Verfassungsänderung 53 , — die Verfeinerung des Verfassungsprozeßrechts, um m i t Pluralismus und Demokratie auch i n den Vorgängen der Verfassungsinterpretation ernst zu machen 54 . b) Zuzustimmen ist der Behandlung des Zeitproblems (274 ff., 347). Es w i r d allenthalben zu einem verfassungstheoretischen Thema 5 5 , nur ist es auch auf die Verfassunggebung anzuwenden: Aus der punktuellen Verfassunggebung w i r d ein dauernder Prozeß (dazu oben). — Beifall verdient die Zusammensicht von Denken und Verfassung, von Weltanschauungen und Gesellschaftsordnungen (19: „cuius regio eius ordo"). Cogito ergo constitutus sum, constitutus sum ut cogitem, und umgekehrt cogito ut constitutus sim — das sind einschlägige Formeln. Die „Gleichung": Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung läßt viele Probleme i n neuem Licht erscheinen, auch wenn sie nicht überschätzt werden sollte: Es gibt auch dort keineswegs per se schlechte „Gesellschaft", wo nicht gedacht wird, wo nicht bewußt, sondern höchst irrational gehandelt und gewirkt wird. Man denke an die gesellschaftlichen Teilbereiche von Kunst und Religion 5 5 3 . c) Beifall verdienen S.s Hinweise zur Grundrechtstheorie und sein Plädoyer für das freie Mandat. Freilich hat die Grundrechtsdogmatik seit langem auf die kommunikationstheoretische und -praktische Seite der Grundrechte aufmerksam gemacht: unter den Stichworten „ a k t i v 50

Dazu mein Beitrag in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 ff. Dazu P. Häberle, öff. Interesse, mit der Anerkennung normierender Kraft der Öffentlichkeit und der öffentlichen Interessen, S. 215 f., 305, 493, 584 f., 593 f., u. ö. ; s. auch W. Schmidts Begriff der „latent" öffentlichen Interessen, VVDStRL 34 (1975), S. 183 (198 f.). 52 Dazu meine Vorschläge in AöR 99 (1974), S. 437 (463 Anm. 110). 53 Dazu Hinweise in: ZfP 21 (1974), S. 111 (134 ff.). 54 Zum input-orientierten Interpretationsverständnis : P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.; JZ 1976, S. 377 ff. 55 Aus der Lit.: P. Häberle, AöR 98 (1973), S. 625 (Anm. 33); ders., ZfP 21 (1974), S. 111 ff.; Kloepfer, Verfassung und Zeit, Der Staat 13 (1974), S. 457 ff.; Kirchhof, Verwalten und Zeit, 1975. 55a Dazu mein Aufsatz: „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft. DÖV 1976, S. 73 ff. 51

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bürgerliche" Seite der Grundrechte, „gemeinschaftsbegründende" „gruppenbildende" Wirkung, Grundrechte „ i n Verbindung m i t anderen einzelnen" insbesondere Smend und Schmitt 56. Art. 5 Abs. 1 GG ist ein solches klassisches Kommunikationsgrundrecht. Die Dogmatik hat die öffentliche Seite der Grundrechte seit längerem als „öffentliche Freiheit" 5 7 neben die private gestellt und damit die grundrechtliche Freiheit aus dem wirklichen oder vermeintlichen „Monadendasein" herausgeführt. Sie hat für die Kunstfreiheit neben dem „Werk-" den „Wirkbereich" entdeckt 58 . Sie hat von der „sozialen Seite und Funktion" der Grundrechte gesprochen 59 , und die Dogmatik zu grundrechtlichen Teilhabestrukturen ist von dem Anliegen getragen, den Bürgern in der Gesellschaft reale Freiheitschancen zu ermöglichen 60 . Das „ D u " und „ W i r " ist also der Grundrechtstheorie keineswegs so fremd wie S. glaubt. Das schmälert nicht sein Verdienst, erneut die m i t und zwischenmenschliche Seite der Grundrechte zur Diskussion gestellt zu haben. Grundrechte verweisen auf Nächstenrecht (Erik Wolf), und speziell A r t . 4 GG meint sowohl die „einsame" als auch die mitmenschliche Grundrechtssituation. Die Koalitionsfreiheit ist evident ein Freiheitsrecht durch andere und m i t anderen; denn hier w i r d kollektiv Macht ausgeübt und eben dadurch Freiheit „erfüllt". Auch hier trägt S.s durchgängig anthropozentrischer Ansatz 6 1 : Grundrechte zur Arbeit m i t anderen, am Menschen 62 . I m übrigen ist es äußerst fruchtbar, wie S. Verfassungstheorie grundsätzlich als Demokratietheorie sieht; das zeigt seine Diskussion des Herrschaftsproblems 63 (ebenso wie sein Plädoyer für das freie (343 ff.) bzw. gegen das imperative Mandat (296 ff.). 56 Smend, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 95 f., 318 f.; C. Schmitt, Verfassungslehre, Neudruck 1954, S. 165; Verf. Aufsätze, 1958, S. 207; s. auch P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 I I GG, 1. Aufl. 1962, S. 13, 22; Hesse, Grundzüge, 8. Aufl. 1975, S. 123; aus der jüngsten Lit. vor allem die von S. mit Hecht herausgestellten Arbeiten von Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971; Denninger, Rechtsperson und Solidarität, 1967. 57 P. Häberle, JZ 1966, S. 385 (388 Anm. 49). 58 Dazu F. Müller, Freiheit der Kunst als Problem der Grundrechtsdogmatik, 1969, S. 97 ff. und BVerfGE 30,173 (189). 59 Dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1. Aufl. 1962, S. 8 ff., 18 f., 48 f.; Luhmann, Grundrechte als Institution, 1. Aufl. 1965, S. 38,187 ff. 60 Dazu mein Korreferat V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (56 f., 62, 64, 68 f.) sowie D Ö V 1972, S. 729 ff. und die Auseinandersetzung mit H. H. Klein: D Ö V 1974, S. 343 ff. 81 Dazu etwa Herzog, Allg. Staatslehre, 1971, S. 141 f., 363 und meine Bespr. in: AöR 98 (1973), S. 119 (123 f.). 82 S. 331 ff. Ob die Figur der Repräsentation (293 ff., 308 ff.), dazu jetzt H. Hofmann, Repräsentation, 1974, noch etwas hergibt, muß hier offen bleiben. 63 S. 330, die Forderung nach Selbstbeherrschung (346), der gute Begriff Konsonanzverfahren" (349, im Sachregister heißt es besser: „Konsonanzkontrollverfahren"], 368).

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Im ganzen: Ein Werk von großer innerer Konsequenz, sicherem sozial» und rechtswissenschaftlichem Methodenbewußtsein, vorbildlich i m Umgang m i t den großen Texten von Hegel, Marx und Popper, ertragreich auch für die heutige Verfassungstheorie. Selbst dort, wo man den von S. „definierten Situationen" nicht zu folgen vermag, dürfte sein Buch wirken, weil es i m endlosen „Konzert" der Wissenschaft seine Stimme tragfähig artikuliert hat. „Dialektische Verfassungstheorie" oder Kritischer Rationalismus? Die Gesellschaft als „dialektisch verfaßter Prozeß" (316) oder die Offene Gesellschaft? Oder beides zugleich? Bislang ist m. E. die Uberzeugungskraft der „offenen Gesellschaft" größer, zumal die traditionellen Begriffe der Staats- und Verfassungslehre auch durch Suhrs Exemplifizierung (340 ff.) nicht zu grundlegenden Modifizierungen gezwungen sind, die sich nicht bereits hätten thematisieren lassen: weder i n der Grundrechts- noch i n der Demokratiediskussion. Das schließt nicht aus, sondern ein, Suhrs Begründungszusammenhänge als zusätzliche Absicherungen zu verarbeiten. Nachtrag zu: „Verfassungstheorie zwischen Dialektik und kritischem Rationalismus" (Nr. 11) Der Wiederabdruck dieser für den Verfassungsjuristen an etwas entlegener Stelle erschienenen Abhandlung bedarf der Ergänzung: Suhr hat seine eigene Entwicklung weiter vorangetrieben i n zwei später publizierten Büchern: „Entfaltung der Menschen durch die Menschen" (1976) und „Die kognitiv-praktische Situation" (1977). Dieser Besprechungsaufsatz suchte einem Autor gerecht zu werden, der sich später stärker noch auf andere Themen konzentrierte (ζ. B.: Der Kapitalismus als monetäres Syndrom, 1988; Die Vereinbarkeit des Gesundheitsreformgesetzes mit dem GG, 1990). Dem viel zu früh verstorbenen D. Suhr wurde von W. Hoffmann-Riem (Ganzheitliche Verfassungsrechtslehre und Grundrechtsdogmatik, AöR 116 (1991), S. 501 ff.) ein würdiger Gedenkaufsatz gewidmet.

21 Verfassung

12. „Positivismus" als Historismus ?* Besprechungsbeitrag zu Helmut Ridder: Die soziale Ordnung des Grundgesetzes* 1. Dieses Buch eines Autors, der m i t seinen Arbeiten „ Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften" (1960), „Aktuelle Fragen des KPD-Verbotes" (1966), „ I n Sachen Opposition" 1 , „Operation Verfassungsbeschwerde" (NJW 1972, S. 1689 ff.) viel befreiende K r i t i k geleistet hat, darf der gespannten Aufmerksamkeit der juristischen Fachwelt gewiß sein. Dies um so mehr, als R. seine Positionen i n den verfassungsrechtlichen Grundfragen jetzt i m Zusammenhang umreißt und i n Temperament, Angriffsschärfe, aber auch Einseitigkeiten seinen berühmten Attacken der sechziger Jahre i n nichts nachsteht. Die Offenheit der Angriffe des Autors auf herrschende („mittlere") Meinungen ist um so dankbarer anzuerkennen, als das deutsche Schrifttum nicht immer m i t derselben Offenheit argumentiert. I m Spektrum der GGExegeten, die am Detail entwickelte Gesamtkonzepte bieten (wie Forsthoff, Scheuner, Hesse u. a.) dürfte R. m i t diesem Buch einen dauernden Platz einnehmen; das erforderliche Profil ist jetzt erkennbar: i n seinem Verständnis der Verfassung als historischem Kompromiß, seiner Position zum Positivismus (auf Kosten der lebenden Verfassung), i n seiner Sicht von Demokratie und Sozialstaat (die den Rechtsstaat ζ. T. verdecken) sowie i n der Ablehnung aller Trennungsideologien i n bezug auf Staat und Gesellschaft, i n seinem Grundrechtsverständnis und i n der K r i t i k an Richterrecht und BVerfG. Da das GG klüger sein könnte als seine Interpreten, bleibt Raum für alle seine Interpreten; das legitimiert sie aber auch allemal und hält das GG m i t am Leben! 2. R. gliedert sein Werk in fünf Abschnitte: „Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit" (Bemerkungen zum Inhalt und zur ideologischen und politischen Funktion der Formel), „Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit i m Dritten Reich", „Die demokratische Gesamtverfassung als Bezugssystem des Sozialstaates", „Felder der sozialen * DÖV 1977, S. 90 - 92 mit Nachtrag (1978). * Leitfaden zu den Grundrechten einer demokratischen Verfassung, 168 S., Westdeutscher Verlag, Opladen 1975. 1 FS für A. Arndt (1969), jetzt auch in Ρ. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 429 ff.

12. „Positivismus" als Historismus?

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Ordnung des GG" (u. a.: politische Parteien, sonstige Vereinigungen m i t einem „Inkurs" über die „verfassungsmäßige Ordnung" und das allgemeine Persönlichkeits- oder Freiheitsrecht, „Die Bürger" (Massenmedien und „Inkurs über inpersonale Grundrechte"), „Arbeit" (Wirtschaft, Kultur) und „Grundgesetz und Rechtsstaat" (Inkurs über den allgemeinen Gleichheitssatz). — Im einzelnen: R. spricht einleitend von einer den „Experten" anzulastenden „Erosion" der Verfassungssubstanz des GG, insbesondere seiner Grundrechte, i n 25 Jahren (9 f.). Die Sozialstaatsklausel ist ihm der beste Therapieansatz für das „Spaltungsirresein" der deutschen Verfassungsrechtslehre i n bezug auf Staat und Gesellschaft (11), Verfassungsrecht und -Wirklichkeit und das gewaltige Demokratiedefizit. Für R. gibt es nur eine einzige legitime juristische Methode: sie trage den zu Unrecht schimpfbeladenen Namen „Positivismus" (11). I n seinem Zeichen verlangt er die Bereitschaft, die Normtexte zunächst einmal hinzunehmen, sowie das Festhalten am Syllogismus (16). Verfassungswirklichkeit sei in keinem Falle eine „Quelle" von Verfassungsrecht (17). Er warnt vor dem „soziologischen Positivismus" der Integrationstheorie (18). A u f Überlegungen, wonach unter dem Aspekt des Spannungsverhältnisses von „Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit" der Hauptstoß der zur Macht gelangten Faschisten auf die Sprengung aller rechtlichen Fesseln ihres politischen Aktionismus gerichtet war (25), belegt an Zitaten von C. Schmitt bis E. R. Huber, folgt der eigene Ansatz: die demokratische Gesamtverfassung als Bezugssystem des Sozialstaats (35 ff.), die alle Faktoren des permanenten politischen Gesamtprozesses durch die zu beachtende, aber keine Zäsur in den Realien darstellende Grenze zwischen Staat und Gesellschaft kreuzt und umspielt (39). Die Verfassung sei m i t ihrem Anspruch, nicht nur auszugrenzen, sondern in wichtige, vor allem ökonomische, gesellschaftliche Eigengesetzlichkeiten einzugreifen, zur Gesamtverfassung geworden (40). Die Sozialstaatsklausel ist für R. ein selbständiges Gebot m i t „fortschrittlicher Schubkraft" (46, 148), kein bloßer „Traditionsposten" (47). A r t . 20 Abs. 1 GG postuliere m i t dem sowohl demokratischen wie sozialen Staat „gleichschrittliche Entfaltung von Demokratie in der »staatlichen' und in der ,gesellschaftlichen' Sphäre", wobei die Sozialstaatsklausel aber nicht die Proklamation einer „totalen" Gesellschaft sei, die den „Staat" verschlinge (48). R.s sozialstaatliche Grundrechtsinterpretation geht von der Einsicht aus, daß grundrechtliche Freiheit i n der Gesellschaft inhaltlich erst von der konkreten Befindlichkeit des einzelnen her und gleichzeitig m i t ihrer rechtlich-organisatorischen Umhegung aufgebaut werden kann (49). Für R. gibt es keine „Grenze" zwischen Staat und Gesellschaft, sondern nur eine Unterscheidung, die sich nach der Unterscheidung der von Rechts wegen qua Freiheit mobilen von den qua Kompetenz verstetig21 *

I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

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ten Elementen des politischen Kontinuums bestimmt (52). A u f die K r i t i k am „Königsweg" der streitbaren Demokratie (61), der einschlägigen Rechtsprechung des BVerfG, auch zu A r t . 2 Abs. 1 GG, und an der Lehre vom Ubermaßverbot, am Lüth-Urteil sowie am „Berufsverbot" folgt ein „Inkurs" über „inpersonale Grundrechte" (85 ff.). So hat ζ. B. die Pressefreiheit keine Grundrechtsträger; sie .zielt m i t ihrem „inneren" Aspekt darauf ab, den politischen Prozeß von demokratiewidrigen Verzerrungen freizuhalten (89); wie alle Grundrechte zielt sie auf die „konkrete Freiheit eines sozialen Feldes durch dessen Organisation" (90 f.). Unter dem Stichwort „Arbeit" handelt R. Wirtschaft und K u l t u r ab (94 ff.): unveräußerliche individuelle menschliche Arbeit als der Faktor der Konstituierung von „Gesellschaft", Sozialisierung organisiert die Freiheit der Arbeiter (105). Unter „ K u l t u r " behandelt R. u. a. die Wissenschaftsfreiheit als inpersonales Grundrecht (134): „Wissenschaft ist ein die Definition von Wissenschaft selbst bestimmender Prozeß." Sie impliziert das „außerwissenschaftliche Definitionsverbot über Wissenschaft" (135). R.s K r i t i k am Hochschulurteil des BVerfG („ProfessorenUrteil") gipfelt i n dem Satz, aus dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit könne nichts Zwingendes für die Zusammensetzung und den Paritätenschlüssel wissenschaftlicher Berufungsgremien hergeleitet werden (138). A u f eine K r i t i k am Mephisto-Urteil (142 f.: „uferlos aufnahmefähiger Beutel der Menschenwürde") folgt R.s Auseinandersetzung m i t dem herrschenden Rechtsstaatsverständnis (144 ff.). Er möchte der „Seifenblasenpracht des Rechtsstaates" die L u f t ablassen (144), über ihn werde „Nicht-Recht" i n die Rechtsordnung eingeschleust (146). Alle wirklich i n der Verfassung gespeicherten „rechtsstaatlichen Errungenschaften" seien substantiell nur noch demokratische Errungenschaften (148), „Gesetz und Recht" sei eine „Tautologie" (149), die BVer/G-Rechtsprechung speichere i n A r t . 3 Abs. 1 GG fast nur noch „Metarecht" (153), die Perfektionierung des justiziellen Grundrechtsschutzes laufe auf eine Deformierung der Grundrechte hinaus (Tendenz zur Nullifizierung der demokratischen Freiheit und zur Totalisierung der Eigentumsfreiheit, 154). 3. Zur Kritik: R.s Verfassungsbegriff krankt an seiner Reduzierung auf den historischen Kompromiß, wobei er, hier Hartwich vergleichbar 2 , die geschichtliche Ausgangssituation des GG verabsolutiert, petrifiziert und dessen offenen, aus der Wirklichkeit laufend angeregten Prozeßcharakter ignoriert. Das zeigt seine These, zur Vervollständigung des Interpretations2

Dazu meine Kritik in AöR 100 (1975), S. 333 (335 ff.).

12. „Positivismus" als Historismus?

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Verfahrens könne nur der geschichtliche Standort der Verfassungskodifikation und der i n i h r festgehaltene politische Kompromiß herangezogen werden, die je aktuelle Wirklichkeit sei die dubioseste aller Erkenntnishilfen (17). Geschichte endet nach R. insofern m i t dem Erlaß einer konkreten Verfassung, i n Wirklichkeit setzt sie sich „ i n i h r " fort. Gerade das w i r d bei R. nicht erkennbar, nur vereinzelt sieht er sich dann doch zu Korrekturen gezwungen 3 . Z u vereinfacht ist die These (19), an die Stelle der Rechtsanwendung auf die Wirklichkeit sei die Wirklichkeitsanwendung auf das Recht getreten. Die Wirklichkeit ist i n ihrer „normativen Relevanz" weit komplexer als dies R.s Polemik gegen den „neueren soziologischen Positivismus" (18, 74) erkennen läßt. Gewiß, es gibt nicht nur „VerfassungsWirklichkeit", sondern auch verfassungswidrige „Wirklichkeit"; sie ist gerade keine Verfassungswirklichkeit und muß entsprechend denunziert werden. Die von der Verfassungsnorm gestaltete Wirklichkeit (s. für die Grundrechte: 77) w i r k t eben auch auf diese Verfassungsnorm zurück: über den demokratischen Gesetzgeber, Öffentlichkeitskristallisationen und fortgeschriebene „Interessenstrukturen", ohne daß die Wirklichkeit schon verfassungs(text)widrig wäre. Rechtstatsachen können als „Verfassungstatsachen" Faktoren dieses Entwicklungsprozesses einer Verfassungskultur werden, sofern sie nur offen als solche bezeichnet werden (s. aber zu „Rechtstatsachen" : 74). Insofern sind Verfassungssätze i n unterschiedlicher Weise nicht nur Soll-, sondern auch Aussagesätze (s. aber 89 f.). Die Verfassung bleibt bzw. wird klüger als der historische Verfassunggeber bzw. -interpret. Das ist „realistischer Positivismus" (119 f.). R.s Forsthoff benachbarter „Positivismus" führt darum nicht weiter; er dient aber als Mahnung, den Verfassungstext ernst zu nehmen (soweit er ergiebig ist), ohne (mit R.) den historischen Verfassunggeber zum Super-Verfassungsinterpreten zu machen, der er gerade i n einer freiheitlichen (fortschreitenden) Demokratie nicht sein kann. Beim Sozialstaatsprinzip h i l f t der relativ magere GG-Text R. nur wenig auf seinem tendenziell Abendroth folgenden Weg: daher muß er selbst an „Verfassungswirklichkeiten der Endphase" von Weimar anknüpfen (44 f.). Fragwürdig ist R.s Demokratie- und Sozialstaatsverständnis auf Kosten des Rechtsstaates4 und seine die private, unpolitische Grundrechtsseite verdeckende Sicht. Der Mensch lebt nicht von der Demokra3 Etwa S. 109: keine bürgerliche demokratische Verfassung mache sich anheischig, das Stattfinden von Geschichte zu verbieten, oder S. 77: da die historische Situation, auf die das Grundrecht angesetzt wurde, sich oft verändert habe, müsse versucht werden, deren „Gegenstücke in der Gegenwart" (!) ausfindig zu machen; s. auch S. 39: „Realien". 4 S. 53: das „durch die Sozialstaatsklausel generalisierte Demokratiegebot"; s. auch S. 60.

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

tie allein; das gilt gerade dann, wenn man mit R. Bedenken gegenüber dem Begriff des „Menschenbildes" (des GG) hat (154 f.). Die Unterscheidung (nicht Trennung) von Staat und Gesellschaft 5 hat freiheitssichernden Charakter 6 . Ein „mehrdimensionales", öffentliches und privates (auch ausgrenzendes) Grundrechtsverständnis kann Grundrechte gegen Staat und Gesellschaft sichern im republikanischen Spektrum der Bereiche öffentlich, staatlich und privat 7 . Die pauschale Diskreditierung des Denkens i n „Grundsätzen" (19), des Abwägens (63, 67, 74 f., 113) erscheint unbegründet. Uberhaupt hat R. eine Phobie vor der „ M i t t e " in jedweder Gestalt: als mittlere Lösung, als politische Mitte 8 . Die verfassungstragende K r a f t der politischen Mitte müßte aber gerade dann einleuchten, wenn die Verfassung als Kompromiß (97 f., 118) ernst genommen wird. Weder die Linke noch die Rechte leben „aus sich"; auch ist die Mitte oft Ergebnis, nicht Primärzustand politischer Argumentationsfelder, Kräfte, Ideen und Interessen. Der Vertrags- (und Kompromiß-)charakter der Verfassung verlangt ein immer neues — aktuelles — SichVertragen aller, er kann nicht dazu führen, daß eine geschlossene Gesellschaft „eigenständiger Partner" (131, 121) neue Partner i m Verfassungsleben ausschließt oder sich alte status-quo-Garantien sichert. Das ginge allzu leicht auf Kosten gesellschaftlicher Randgruppen. Verfassungskompromisse sind keine erratischen Blöcke. R.s herbe K r i t i k an dem herrschenden Rechtsstaatsverständnis schlägt nicht durch. Dessen differenzierter Ausbau, insbesondere durch das BVerfG, ist nicht „metarechtlich", sondern genuin juristisch: i m Spannungsfeld von Grundsatz und Norm, um so mehr dann, wenn „sozial" ernst genommen wird. Hier nur historisch zu argumentieren und ausschließlich demokratisch (148), verkürzt erneut. Die politischen Kosten von R.s Polemik gegen das BVerfG könnten allzu hoch werden. Dessen erzieherischer Auftrag und die pädagogische Seite von Verfassungsbestimmungen kommen nicht ins Blickfeld. R.s Vertrauen i n den demokratischen Gesetzgeber ist unbegrenzt wie sein Mißtrauen gegen das BVerfG. Die Polemik gegen M. Wolffs (des „Schopenhauer der juristischen Eigentumsideologie") Erfindung des „Instituts" Eigentum (106, 110 f.) überzeugt nicht. Fragwürdig ist auch, die Zulässigkeit des politischen Mandats (der Studentenschaften) als „kollektive Wahrnehmung des Grundrechts der Meinungsfreiheit" (70) zu rechtfertigen. 5

Zuletzt Hesse, DÖV 1975, S. 437 ff.

6

Dürig, VVDStRL 29 (1971), S. 127.

7

s. aber R.'s „Aufhebung" von Staat und Gesellschaft; S. 139: „demokratischer Zusammenfall" von Staat und Gesellschaft, s. auch S. 92: untrennbares Zusammenfallen. 8

Vgl. S. 99 f., S. 163, F N 58: „Was aber Mitte sein will, ist immer rechts."

12. „Positivismus" als Historismus?

327

Der hier angedeutete Dissens i n Grundfragen führt nicht zwingend zum Widerspruch zu allen Einzelthesen. R. vermittelt i n vielfältiger Hinsicht neue Perspektiven, die unmittelbar i n die fachwissenschaftliche Diskussion umgesetzt werden sollten. Zustimmung verdienen ζ. B. die Thesen vom Prozeßcharakter der Grundrechte des A r t . 5 Abs. 3 GG — Wissenschaft und Kunst (90, 52) — er kann auf den Charakter der Verfassungssätze i m ganzen nicht ohne Wirkung bleiben! Freilich, die „Sache Wissenschaft" kommt ohne personale Seite nicht aus, und die Kunst, die auf der sozialen Ebene keine Wirkungen entfaltet, ist Kunst i m Sinne des Normbereichs (142): Man denke an Noldes „ungemalte Bilder". Der gute Begriff der „grundrechtlichen Interessenstruktur" müßte zu den von R. so perhorreszierten Abwägungen (z.B. 75, 80, 98, 113, 123) führen. Beifall verdient der Gedanke, Wesensgehalt und Grundrechte seien zu identifizieren (117 f.). Vorbildlich erscheint die eigenständige Thematisierung von Wirtschaft, K u l t u r und Arbeit (94 ff., 127 ff.), so fragwürdig die Thesen zur Mitbestimmung (105: „keine A r t von Mitbestimmung tastet Eigentümerrechte an") sowie zum Aussperrungsverbot (118) sind. Nachdenklich stimmen die Thesen, die „topisch um sich greifende A u f lösung juristischer Methodik" gestatte keine exakte Prognose der präzedenziellen gerichtlichen Selbstbindung mehr (68), die Entscheidungen des BVerfG wirkten sich wie eine unaufhebbare Gesetzgebung aus (125, 154), wobei die normative Kraft von Sondervoten unterschätzt (51) und das Wort von der „ideologischen Rotation" des BVerfG (154) schlicht ungerecht ist. Die Judikatur des BVerfG sollte aber anderen Verfassungsinterpreten gelegentlich mehr funktionell-rechtlichen Spielraum lassen: auch dem demokratischen Gesetzgeber (dies zu 154). A u f die treffliche K r i t i k an Luhmann (S. 160 Anm. 43: „entmythologisierte Methode der Gegenaufklärung") sei verwiesen. Im ganzen: ein Gesamtentwurf des GG, wie Ridder es versteht, er, der mindestens i n bezug auf sprachliche Erfindungsgabe und kritische Phantasie einem Heinrich Heine der deutschen Staatsrechtslehre gleicht 9 . I n dieser mitunter ärgerlichen, immer aber anregenden Streitschrift hat er selbst den besten Beweis dafür angetreten, daß erstens der „Kampf zwischen der herrschenden Lehre" und dem „innovationsträchtigen Außenseitertum" für den Wissenschaftsprozeß lebensnotwendig ist (138) und daß zweitens i m „Kampf um Wissenschaft und Ideologie in der Wissenschaft die Ideologieanfälligkeit der Meister" keine geringere ist als die der „Gesellen" (138). 9 Vgl. z.B. S 9: Grundvertragsurteil des BVerfG als „Kyffhäuser-Urteil", Art. 15 GG führe keinen „Dornröschenschlaf", S. 102.

328

I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Nachtrag zu „Positivismus als Historismus?" (Nr. 12) Verfassungstheorie eines offenen Gemeinwesens kann sich nur i n der Auseinandersetzung m i t „allen Seiten" bewähren und entwickeln. Sie bezieht Einsichten gerade auch von den Positionen, die sie ablehnt. Jeder Rezensent hat darum besondere Verantwortung. Aus diesem Grund rechtfertigt sich der Wiederabdruck der Auseinandersetzung m i t Rodders K r i t i k an den Interpreten des Grundgesetzes (1975). Das Buch von H. Ridder hat auch von anderer Seite wenigstens einige Besprechungen erfahren, z. B. U. K. Preuß, DuR 1976, S. 448 ff. I n der Bandbreite der pluralistischen Staatsrechtslehre i n Deutschland bleibt Ridder m. E. bis heute eine unverwechselbare und unverzichtbare Stimme. Wenn je der Stand unserer Disziplin i n der reichen Fülle der Literaturgattungen über die Staatsrechtslehrertagungen hinaus gewürdigt werden sollte (dazu schon klassisch: H. P. Ipsen, Staatsrechtslehrer unter dem Grundgesetz, 1993), so dürfte sich zeigen, wie wichtig das Feld ist, das Ridder 1975 abgedeckt hat. Von Ridder selbst vgl. etwa die späteren Beiträge: Verfassungsrecht oder Staatsrecht?, Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 6 (1988), S. 3 ff.; H. Ridder, Das BVerfG, Bemerkungen über Aufstieg und Verfall einer antirevolutionären Einrichtung, in: Abendroth u. a., Der Kampf um das Grundgesetz, 1977, S. 70 ff., weitere Beiträge: Die Deutschen und die Volkssouveränität, FS P. Schneider, 1990, S. 355 ff. Der Verf. selbst ist einigen Perspektiven des Diskussionsstandes der deutschen Staatsrechtslehre mit weiteren Belegen nachgegangen in: FS Hans Maier, 1996, i. E.

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft* I. Die Ausgangslage Die Theorie des deutschen Staatskirchen rechts steht vor einer Herausforderung besonderer A r t : Durch große, i n jüngster Zeit erschienene Handbücher, Sammelwerke und Gesamtdarstellungen wie das Handbuch des deutschen Staatskirchenrechts (1974/75)1, Scheuners Schriften zum Staatskirchenrecht (1973)2, Hans Maiers Grundsatzarbeiten „Kirche und Gesellschaft" (1972), früher das verdienstvolle Sammelwerk von Quaritsch / Weber (1967) und jetzt das Staatskirchenrecht von Campenhausens (1973)3 sowie durch die sich verfeinernde Rechtsprechung des BVerfG 4 , aber auch dank der Tagungen der Mitarbeiter der ZevKR 5 und der „Essener Gespräche" über Staat und Kirche (seit 1969) liegen mehr als nur „Materialien" dafür vor, der „Sache Staatskirchenrecht" in einer freiheitlichen Verfassung ihren genuinen Stellenwert einzuräumen. Und diese Aufgabe hat ihre hohe tagespolitische Aktualität angesichts des unseligen FDP-Kirchenpapiers e . I n dieser Situation w i r d man die — von Listi mit einer fundierten Einleitung versehenen (19-25) — Religionsrechtlichen Schriften Paul Mikats um so dankbarer begrüßen, weil Mikat sowohl als Jurist als auch als Theologe und Historiker arbeitet, weil er akademischer Lehrer und Politiker ist (Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen von 1962 1966, MdB seit 1969) und als Präsident der Görres-Gesellschaft und M i t * DÖV 1976, S. 73 - 80 mit Nachtrag (1978). * Zugleich Besprechung von Mikat, Paul, Religionsrechtliche Schriften, Abhandlungen zum Staatskirchenrecht und Eherecht, hrsg. von J. Listi, 2 Bde., 1166 S., 1974, Staatskirchenrechtliche Abhandlungen, Bd. 5, Verlag Duncker & Humblot, Berlin - München. 1 Dazu meine Anzeigen in: DÖV 1975, S. 504 f. bzw. S. 755 ff. 2 Dazu M. Heckel, DÖV 1975, S. 39 ff. 3 s. auch die bisherige Kommentierung des Art. 140 GG durch Obermayer in: BK Zweitbearbeitung (1971). 4 Dazu der Rechtsprechungsbericht von Hollerbach, AöR 92 (1967), S. 113 ff., auch in: Quaritsch / Weber (Hrsg.), Staat und Kirche in der Bundesrepublik, 1967, S. 401 ff.; zuletzt BVerfGE 30, 112 (119 f.), 415 (421 ff.); 33, 23 (26 f., 28 f., 30 f.); 35, 366 (376). s. noch unten Anm. 79 f. r> Vgl. zuletzt etwa von Campenhausen, ZevKR 20 (1975), S. 110 ff. 6 Dazu krit. Hollerbach, in: Internationale Katholische Zeitschrift, 1975, S. 160 ff.; s. aber auch Engelhardt, JZ 1975, S. 689 ff.

330

II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

glied zahlreicher staatlicher und kirchlicher wissenschaftlicher Kommissionen und Gremien seine Sache in einer sonst seltenen Weise in Theorie und Praxis zu verbinden weiß und zu verantworten hat 7 . Die Zeit arbeitet an der „Sache Staatskirchenrecht" i n besonderer Weise, und sie hat trotz oder gerade wegen des „Rezeptionscharakters" des „Formelkompromisses" von A r t . 140 GG und seiner vielzitierten „Verlegenheitslösung" (Smend) die Staatskirchenrechtslehre immer wieder zu verfassungstheoretischen Grundsatzdiskussionen herausgefordert: man denke an den Streit um den „Bedeutungswandel" des Staatskirchenrechts und die darin implizierten Methodenfragen, an die Debatte um den „Öffentlichkeitsanspruch", das „Wächteramt", den öffentlich-rechtlichen Status der Kirchen, an das Konkordatsurteil des BVerfG (E 6, 309), an die ewige Diskussion um das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften bzw. der Schranken „des für alle geltenden Gesetzes", insbesondere auch an den staatlichen Rechtsschutzauftrag, an die Kontroverse um die Gemeinschafts- und Konfessionsschule, an den Religionsunterricht und seine Versetzungsrelevanz 8 , an die Auslegung des A r t . 4 GG im Blick auf die Garantien des Art. 140 GG, an die Relevanz des Selbstverständnisses der Kirchen und Religionsgemeinschaften 9 , an Schulgebet 10 , Kirchensteuer und Kirchenaustrittsrecht 11 , an Parität 1 2 sowie jüngst an die sozialkaritative Tätigkeit der Kirchen u. a. m. A m Staatskirchenrecht werden Grundsatzfragen von freiheitlich-demokratischen Gemeinwesen „durchgespielt" wie: Öffentlichkeit, Souveränität und Toleranz, Neutralität und Pluralismus, Kulturstaat, Staat und Gesellschaft, Grundrechtsverständnis und Rechtsschutzfunktion. Die „Sache Staatskirchenrecht" zwingt in besonderer Weise dazu, die Hand am Puls der verfassungsrechtlichen Entwicklungen zu halten. Nicht nur, wie meist gesagt wird, die Vergangenheit (so J. Hechel), sondern Gegenwart und Zukunft sind im Staatskirchenrecht besonders präsent. Inso7 Beispiele für den Einfluß Mikats auf das BVerfG in den E. zur religiöskonfessionellen Neutralität des Staates: Mikat (1960), 46: BVerfGE 12, 1 (4) — dazu mein Beitrag in: JuS 1969, S. 265 ff. — E. 18, 385 (386 f.) sowie bei der Ermittlung des Selbstbestimmungsrechts und seiner Grenzen: Mikat (1960), 100, mit der Formel „Natur der Sache", „Zweckbeziehung": BVerfGE 18, 385 (387), dazu P. Häberle, ZevKR 11 (1964/65), S. 395 ff. 8 Dazu BVerwGE 42, 346. 9 Vgl. BVerfGE 24, 236 (248 f.), dazu meine Bespr. in: DÖV 1969, S. 385 ff. 10 Hess. Schulgebetsurteil, DÖV 1966, S. 51 ff., dazu E.-W. Böckenförde, DÖV 1966, S. 30 ff., Scheuner, DÖV 1966, S. 145 (151 ff.); BVerwG, JZ 1974, S. 577, dazu Hollerbach, JZ 1974, S. 578 ff.; E.-W. Böckenförde, DÖV 1974, S. 253 ff. 11 Dazu etwa Pirson, JZ 1971, S. 608 ff.; v. Campenhausen, in: HdbStKirchR I (1974), S. 657 f. 12 Dazu M. Hechel, zuletzt in : HdbStKirchR I (1974), S. 445 ff.

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

331

fern wäre es reizvoll, Geschichte und Gegenwart der deutschen Verfassungrsrechtswissenschaft i m Spiegel der deutschen StaatsJcirchenrechtswissenschaft zu sehen: denn ihre Materie reagiert besonders sensibel auf atmosphärische Wandlungen und Beharrungen 13 . Auch „die Wirtschaft" und ihre Verfassung i m politischen Gemeinwesen dürfte eine i n ihrer Bedeutung dem Staatskirchenrecht vergleichbare, freilich weithin ungelöste verfassungstheoretische Grundsatzfrage sein 14 . I n den Religionsrechtlichen Schriften von Mikat lassen sich viele der angedeuteten Probleme in der Themenwahl und auch i m — meist offen erklärten — Wandel der Themenbehandlung verfolgen 15 : von 1960 (29 ff.) bis 1974 (413 ff.). Das zeugt von der Lebendigkeit seines wissenschaftlichen Werkes, das jetzt durch die Thesen zum „Religionsrecht" dazu zwingt, die Grundsatzfrage nach Ort und Rang gelebten Staatskirchenrechts i n einer demokratischen Verfassung der offenen Gesellschaft zu stellen. II. Das religionsrechtliche Werk Mikats Die beiden Bände gliedern sich in die Teile: „Staat und Kirche" (29 607), „Rechtstheologische und rechtshistorische Abhandlungen" (611 844) und „Eherecht" (847 - 1142); der Abdruck der Bundestagsrede des MdB Mikat (1971) zum Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts als Abschluß des zweiten Bandes ist besonders reizvoll, zumal Niveau und Inhalt durch die „Bindungen der Praxis" des Forums „Bundestag" nicht verändert wurden, was sich i m einzelnen durch einen Vergleich mit Mikats bisherigen wissenschaftlichen Publikationen nachweisen ließe 16 . Eingehend sollen hier die staatskirchenrechtlichen Arbeiten dargestellt werden (Band 1), besonders jene aus der jüngeren Zeit, die sich zur Grundlagenproblematik äußern: durch die Stichworte „ Z u r rechtlichen Bedeutung religiöser Interessen" (1973), die religionsrechtliche 13 Der Beitrag der (Rechts-)Wissenschaft zum Verhältnis und Selbstverständnis von Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften dürfte verglichen mit anderen Gebieten einzigartig sein. 14 Dazu grdl. Scheuner, Einleitung zu: Die staatliche Einwirkung auf die Wirtschaft, 1971, S. 9 ff.; zum Problem: Ρ. Häberle, AöR 98 (1973), S. 119 (133). 15 Vgl. ζ. B. die Modifizierungen zum Öffentlichkeitsauftrag (61 f., 232 f., 245 ff., 287 f., 428), zum „Bedeutungswandel" (54 f., 56 ff., 170 f.), zum öffentlichen (312 ff., 425 f., 428), zur Koordinationstheorie (63 f., 173, 328 f. Anm. 61, 379 ff.), zum Souveränitätsproblem (63 ff., 248 ff.). 16 s. etwa die Ausführungen zur „Sozialfunktion des Rechts" (1141), die differenzierte Stellungnahme zum „Prinzip Reform" in der Politik (1130), zur geschichtlichen Bedingtheit und Kontinuität (hier 1131 und früher 186, 917; 1093: „Man kann eine Rechtsordnung freilich andererseits nicht einfach aus ihrer eigenen Geschichte entlassen") oder zum „Wertpluralismus" (hier 1132 f. und früher S. 1060 f.).

332

I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

O r d n u n g s p r o b l e m a t i k i n d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d (1974), „ B e m e r k u n g e n zu O r t s b e s t i m m u n g u n d A u f g a b e n s t e l l u n g des deutschen Staatskirchenrechts" (1974) 1 7 . D e n n h i e r l i e g e n M a t e r i a l i e n z u r u n m i t t e l b a r e n B e w ä h r u n g i n d e r T h e o r i e des Staatskirchenrechts i m d e m o k r a t i s c h - p l u r a l i s t i s c h e n Verfassungsstaat v o r , M a t e r i a l i e n , die sich a n d e r e n B e m ü h u n g e n , e t w a z u m S t a a t s k i r c h e n r e c h t als K u l t u r v e r f a s s u n g s r e c h t 1 8 u n d zur „Freien Kirche i m demokratischen Gemeinwesen"19, konfrontier e n u n d i n t e g r i e r e n lassen. U n v e r k e n n b a r ist e i n gewisser E i n s c h n i t t d u r c h Mikats V e r a r b e i t u n g d e r Ergebnisse des 2. V a t i k a n i s c h e n K o n zils: b e g i n n e n d m i t d e m A u f s a t z „ K i r c h e u n d S t a a t i n n a c h k o n z i l i a r e r S i c h t " (1967) 2 0 .

1. Die Relevanz

des religiösen

Selbstverständnisses

und

für das

staatsbürgerlichen Staatskirchenrecht

D i e A u s w i r k u n g e n des 2. V a t i k a n u m s auf das V e r s t ä n d n i s des V e r hältnisses v o n S t a a t u n d K i r c h e speziell b e i Mikat — u n d besonders d u r c h i h n d e r deutschen Staats(kirchen)rechtslehre v e r m i t t e l t — s i n d e i n e r n e u t e r B e l e g f ü r d i e R e l e v a n z des Selbstverständnisses v o n K i r chen u n d Religionsgesellschaften i m Verfassungsrecht e i n e r o f f e n e n G e sellschaft ü b e r h a u p t 2 1 , so w i e u m g e k e h r t d i e m o d e r n e n E n t w i c k l u n g e n 17 So bedeutsam ζ. B. die Arbeiten über „Koexistenz als Problem" (1956, 611 -626), „Grundelemente katholischer Staatsauffassung" (1960, 627-648) oder zur „theologischen Ortsbestimmung des Kirchenrechts" (1969, 705 - 708), zur Entwicklung des päpstlichen Gesandtschaftswesens (1970, 789 - 809) ebenso wie die Arbeiten zum Eherecht und seiner Geschichte (ζ. B. zum Zerrüttungsprinzip, 915 - 1011), zu „Ehe und Eherecht im evangelischen Kirchenrecht" (1965, 1043 - 1056) oder zur Scheidungsrechtsreform in einer pluralistischen Gesellschaft sind (1970, 1087 - 1127): Sie können hier nicht referiert werden, bleiben freilich insofern mit im Gespräch, als sie Belegmaterial für den umfassenden religionsrechtlichen, sich auch im Detail bewährenden Ansatz von Mikat sind. 18 Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972. 19 Hesse, ZevKR 11 (1964/1965), S. 337 ff. 20 Beispiele: Das neue „weltbezogene Kirchenverständnis" (224) äußert sich ζ. B. in der Bereitschaft der Kirche zum Verzicht auf überlebte Privilegien (234, 289) — bei Mikat hat dies 1968 Auswirkungen auf sein Verständnis der deutschen kirchenpolitischen Ordnung (262 - 264), die eigene Position der Kirche in Staat und Gesellschaft ist i. S. der konziliaren Aussagen auf ihre „innere, geistliche Legitimation" zu prüfen (263, s. auch 304 f.). Die „Veränderung im Selbstverständnis" der beiden Großkirchen (400 f.) hat Konseqenzen für die heutige religionsrechtliche Ordnungsproblematik (401 ff., 404 ff.). — Prägnant auch 247, wonach die Vorstellung, die Stellung der Kirche zur und in der Gesellschaft sei gleichsam ein Reflex ihrer Stellung zum Staat, heute „weder mit dem Selbstverständnis der Kirche noch mit dem des freiheitlichdemokratischen Staatswesen zu vereinen" sei. 21 Dazu P. Häberle, JZ 1975, S. 297 (298) m. N.; s. schon Mikat, 58 (1960); herausragend: BVerwGE 34, 291 (297 f., 299 f.); s. auch die SelbstverständnisArgumentation des BremStGH JZ 1975, S. 365 (368).

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

333

i m staatlichen Bereich (Demokratie, Pluralismus, Menschenrechte, insbesondere Menschenwürde und Religionsfreiheit) unverkennbare Auswirkungen auf das kirchliche, hier katholische Selbstverständnis gehabt haben. Insofern sind das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und das Selbstverständnis freiheitlicher Gemeinwesen für ihr Verhältnis zueinander wechselseitig relevant — sie können gar nicht unabhängig voneinander gedacht werden. Diese Einsicht gebietet Offenheit dieses Verhältnisses und sie verlangt von der Verfassungslehre i n bezug auf „ihre" Sache Staatskirchenrecht, Methoden, Verfahren und I n stitutionen für die wechselseitigen Verständnisse und Selbstverständnisse sensibel zu halten 2 2 . Diese Verschränkungen sind um so intensiver, als ja dieselben Bürger (und Gruppen) als Mitglieder von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften Selbstverständnisse haben, sich als Bürger aber ebenfalls ihr B i l d von Staat und Gesellschaft machen und dies auch mannigfach aktualisieren 23 . Diese Vorgänge der Integration (aber auch Desintegration) von (Selbst-)Verständnissen müssen noch deutlicher als bisher thematisiert werden als ein Stück Aktualisierung der Sache Staatskirchenrecht 24 : von einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft aus, die sich die „Sache Staatskirchenrecht" zu eigen macht, ohne sich auf „Modelle" ζ. B. der Trennung oder Koordination einseitig festzulegen, sondern die je nach Sachgebiet komplexe Strukturen und Verfahren für das dreiseitige Verhältnis Staat/Kirchen bzw. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften/Gesellschaft entwickelt, Strukturen, i n denen personale und institutionelle, private und öffentliche, leistungsstaatliche und eingriffsstaatliche, individuelle und korporative 2 5 , distanzierende und verknüpfende („Verflechtungen"!) Elemente beweglich miteinander verbunden sind. 22 I m übrigen enthält das Selbstverständnis der Religionen immer zugleich positive und negative Elemente des Verständnisses von Staat und Gesellschaft. — Mikat (428) erwägt ζ. B. eine Legitimation des institutionellen Staatskirchenrechts „im Selbstverständnis der freiheitlich-pluralen Gesellschaft". 23 Das führt freilich zu einer Kritik an Mikats fragwürdigem Festhalten am dualistischen Rechtsverständnis (z.B. 716, 711, 176, 168); es erscheint als Relikt und paßt schwerlich in die offene Landschaft seines Staatskirchenrechtsverständnisses, das auf die Möglichkeit „gemeinen Rechts" angewiesen ist. Zum ganzen mein Beitrag in: Lutherische Monatshefte, 1975, S. 645, 688 f.; s. auch JZ 1966, S. 384 ff. 24 Entsprechendes gilt für den Bereich „Wirtschaft" zwischen den beteiligten Wirtschaftsverbänden im weitesten Sinne und die Verfassung dieses Bereichs sowie für die Sache „politische Parteien", die ihr Selbstverständnis nicht nur dem Staat vermittelt haben („Parteienstaat"), sondern auch in der Politik des Gemeinwesens insgesamt durchzusetzen suchen. Verständnis, Selbstverständnis, Fremdverständnis und ihr Gegen- und Miteinander wird so zu einer Grundfrage pluralistischer Verfassungslehre. 25 ζ. B. für das Verhältnis von Art. 4 und 140 GG: Mikat, 310 f., im Anschluß an Scheuner; P. Häberle, ZevKR 19 (1974), S. 206 (209 f., 211 f.).

334

I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

2. Die „Präsenz der Geschichte" als Spannungsfaktor in der Sache Staatskirchenrecht Mikat hat von Anfang an „historische Dimension", „Präsenz der Geschichte" (186) des deutschen Staatskirchenrechts hervorgehoben 26 und sowohl vor einer Geringschätzung als auch vor einer Überbewertung seiner geschichtlichen Grundlagen gewarnt, freilich nicht i. S. eines Historismus: Geschichte und Geschichtlichkeit verlangen keineswegs die Zementierung des status quo 2 7 . Staat und Kirchen müssen sich „geschichtsmäßig" verhalten, d. h. sie müssen sich i n ihren gegenseitigen Beziehungen konkreten geschichtlichen Situationen anpassen (263); es solle gefragt werden, ob nicht bestimmte kirchliche Rechtspositionen „unabhängig von ihrem historischen Entstehungsgrund eine neue gesellschaftspolitische Legitimation durch die Veränderungen erfahren haben, die i m Verhältnis unseres modernen, freiheitlich-demokratischen Staatswesens zur Gesellschaft zu verzeichnen sind" (305; s. auch 304 Anm. 3 a. E.). I n diesen Aussagen kommt die Ambivalenz des geschichtlichen Ansatzes zum Ausdruck; er ermöglicht auch die Relativierung des geschichtlich Gewordenen: auf der Folie der Einsicht, daß eine Rechtsposition aufgrund bestimmter Vorbedingungen so geworden ist. Wenn diese sich jetzt ändern, verlangt sie neue Legitimationsgründe oder aber die Anpassung. Besonders die Wandlungen in „nachkonziliarer" katholischer Sicht dürften Mikat verstärkt zu diesem „beweglichen" geschichtlichen A n satz geführt haben. Nur er ist konsequent von einer Theorie des Staatskirchenrechts aus, die das „Selbstverständnis" der einzelnen und gesellschaftlichen Gruppen mitkonstituierend sein läßt. Geschichtlichkeit entfaltet sich auch und gerade über den Wandel von Selbstverständnissen im gekennzeichneten Sinne. Und Geschichte muß notwendig auf Gegenwart und Zukunft stoßen, weil sie selbst einmal Gegenwart und Zukunft war. Diese Sicht der Geschichte als eines Prozesses ist eine weitere theoretische Vorbedingung für „Staatskirchenrecht i m demokratischen Gemeinwesen" und seiner offenen Gesellschaft. — Mikat bleibt auch i n der Auseinandersetzung m i t Quaritsch (314 f.) durchweg konsequent. Anders als Quaritsch 28 hält er nämlich das bundesrepublikanische Staatskirchenrecht (oder doch seine entscheidenden Elemente) durchaus geeignet für eine dogmatische Verallgemeinerung im Rahmen einer modernen Verfassungstheorie: sofern angesichts des Wegfalls geschichtlicher 26

S. 303 Anm. 2, 180: staatskirchenrechtlicher Wandlungsprozeß. Prägnant 387 Anm. 18: „Gerade im Staatskirchenrecht wird deutlich, wie sehr der bloße Verweis auf die Geschichte Ausdruck eines ahistorischen Denkens sein kann." 28 In: Der Staat 5 (1966), S. 451 (469 f.). 27

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

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Voraussetzungen „neue Legitimationen" gewonnen werden können 2 9 . Ein Weg zu solchen neuen Legitimationen, der für eine Theorie des Staatskirchenrechts neben dem kulturverfassungsrechtlichen Ansatz konstituierend sein kann, ist die neue religionsrechtliche Sicht Mikats. 3. Konstitutionelles

Religionsrecht

Mikat führt 1973 den Begriff „staatliches Religionsrecht" zentral in die Debatte ein. Er versteht darunter „nicht nur das Staatskirchenrecht i m engeren Sinne, sondern die Gesamtheit der staatlichen Rechtsnormen, die den religiösen Interessen Rechnung tragen, ζ. B. der strafrechtliche Schutz des religiösen Friedens, die Berücksichtigung spezifischer kirchlicher Ordnungs- und Wertvorstellungen i m Bereich des bürgerlichen Ehe- und Familienrechts, des Strafrechts oder auch i n dem des Bildungswesens" (306 Anm. 9, ebenso 377 Anm. 1). Schlüsselbegriff ist das in den Bereich der Ordnungsaufgabe des staatlichen Rechts fallende „empirische, gesellschaftsrelevante Faktum", das Mikat als „religiöses Bedürfnis" oder „religiöses Interesse" kennzeichnet (307). Diese religiösen Interessen sind nicht nur private, sondern auch öffentliche Interessen (308), öffentliche Potenzen (313). Orientiere man sich nicht an theologischen Aussagen, sondern gehe man von der Bedeutung personaler Bedürfnisse und gesellschaftlicher Grundkräfte aus, so erweise sich auch das Verhältnis „Kirche - Staat - Gesellschaft" letztlich als ein vom religiösen Interesse hervorgerufenes gesellschaftsrelevantes Problem (308), wobei die Religionsfreiheit der „unaufgebbare Kern des staatlichen Religionsrechts" sei (309). Für den freiheitlich-demokratischen Staat ergibt sich — neben der religionsrechtlichen Ausgrenzung — der Auftrag zur positiven Berücksichtigung religiöser Interessen bei der Wahrnehmung staatlicher Ordnungsaufgaben und zur Kooperation m i t den religiösen Institutionen (317). I n seinem Beitrag zur „religionsrechtlichen Ordnungsproblematik" (377 ff.) nennt Mikat als „Realgründe" des staatlichen Religionsrechts entweder eine „sozialtranszendente Ordoidee" (sozialtranszendentes Religionsrecht wie i n der islamischen Staatenwelt) oder i m Gegensatz dazu das „sozialimmanente Religionsrecht" (die bloße Berücksichtigung der Sozialrelevanz religiöser Interessen, 383) — sie ist in einem Gemeinwesen notwendig, i n dem es einen sozialtranszendenten Ordokonsensus 20 Und sie lassen sich gewinnen durch Verallgemeinerungen der Sache Staatskirchenrecht zugunsten aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit Hilfe verfassungsvergleichender Arbeit (beispielgebend: H. Maier, Kirche und Gesellschaft, 1972, S. 36 ff., ein Überblick bei Mikat: 289 ff. im Blick auf in der Sache gelebtes Staatskirchenrecht auch dort, wo Trennungsmodelle vorherrschen).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

nicht gibt (383). Ferner unterscheidet er zwischen „positivem" und „negativem" Religionsrecht — dieses liegt vor, wenn das Religionsrecht den justus ordo publiais des Gemeinwesens gegen bestimmte religiöse Interessen sichern will, jenes, wenn der sozialen Relevanz religiöser Interessen durch die Herausbildung entsprechender Rechtssätze und -einrichtungen positiv Rechnung getragen w i r d (386). Mikat verschafft sich hier eine Ausgangsbasis gegen die These, Religion sei allein Privatsache (423), die eben keine zureichende Maxime für die religionsrechtliche Ordnungsproblematik des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats m i t sich daraus ergebenden öffentlichen Aufgaben sei (389). Konsequenterweise bejaht er die Aktualität der „verfassungsorganisatorischen religionsrechtlichen Ordnungsproblematik" (403 ff.) — und damit das Staatskirchenrecht — auch i n der Industriegesellschaft wegen der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Religiösen, der Bedeutsamkeit religiöser Kräfte i m Pluralismus der öffentlichen Kräfte („Sozialisationsfunktionen", die Relevanz für „Kulturtraditionen" aus der deutschen Geschichte und ihre „funktionelle Relevanz" für die innere Ordnung des demokratischen Gesamtsystems 30 ). M i t diesen Thesen läßt sich ein Koordinatensystem schaffen, i n dem Einzelfragen wie „öffentliche Funktion der religiösen Gesellschaften" (404), die Gefahren einer nivellierenden laizistischen Intoleranz (403) ebenso Platz haben wie das Problem der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates (393 f.) und der Erhaltung kirchlicher Kulturdenkmäler (397). Ob und wie Mikats Entwurf ein wesentlicher Beitrag zur Begründung der Sache Staatskirchenrecht i m demokratisch-pluralistischen Gemeinwesen ist, soll i m folgenden dargetan werden: 1. vom leistungsstaatlichen Grundrechtsverständnis, 2. von der Verfassungstheorie des öffentlichen und der öffentlichen Interessen und 3. vom Verständnis des Staatskirchenrechts als Verfassung der Gesellschaft aus. Damit zeichnen sich Umrisse einer Theorie des Staatskirchenrechts ab, die Teil einer pluralistischen Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft werden kann. Methodisch dürfte nur der einer realistischen Verfassungslehre angemessene wirklichkeitswissenschaftliche Ansatz ergiebig sein 31 . Die Relevanz der Selbstverständnisse von Staat, Kirchen und Religionsgesellschaften, i h r Wandel, die „religiösen Interessen" und die i n ihnen an30 31

s. auch 424: „konfliktabsorbierende Potentialität" der Religion. Dazu mein Korreferat V V D S t R L 30 (1972). S. 43 (45).

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gesprochenen anthropologischen Gegebenheiten, das leistungsstaatliche Grundrechtsverständnis, der öffentlichkeits- und gesellschaftsbezogene Ansatz, kurz: Wirklichkeit und Möglichkeiten eines von der offenen Gesellschaft gelebten „Staatskirchenrechts" lassen sich nur durch eine Religionssoziologie, Theologie, Sozial- und Rechtswissenschaften integrierende Wissenschaft erfassen 32 . I I I . Verfassungstheoretische Begründung von „Staatskirchenrecht" im pluralistischen Gemeinwesen 1. Leistungsstaatliches Grundrechtsverständnis im Staatskirchenrecht Die „Sache Staatskirchenrecht" kann i n einer offenen Gesellschaft nur von einer um die leistungsstaatliche Seite erweiterten Grundrechtstheorie aus verfaßt werden 3 3 . Neben die die Religionsfreiheit vom Staat distanzierende, staatsabwehrende, private und öffentliche, individuelle und korporative Seite dieses Grundrechts müssen leistungsstaatliche und -rechtliche Momente treten 3 4 : i n der Sprache des Staatskirchenrechts „institutionelle Verflechtungen" des Staates m i t den („allen") Religionsgemeinschaften. Das zeigt sich bei einem modernen Verständnis der Staatsleistungen i. S. des A r t . 138 Abs. 1 WRV i. V. m. 140 GG 3 5 , bei einem zeitgemäßen, verallgemeinerten Verständnis der Kirchengutsgarantien als Religionsgutsgarantien 38 , aber auch i n der Anstaltsseelsorge. Dementsprechend stark ist das leistungsstaatliche Grundrechtsverständnis i m HdbStKirchR geworden 37 . Die Religionsfreiheit sowohl nach 32 Mikat fordert denn auch konsequent religionssoziologische Forschungen (407 Anm. 47); s. auch seinen Verweis auf ein „gesamtgesellschaftliches und speziell modernes Verfassungsverständnis" (407). — Einschlägig ist ζ. B. Text und Materialband des Buches „Wie stabil ist die Kirche?", 1974, hrsg. von H. Hild. — Vorbildlich i. S. eines Wissenschaftsverständnisses, das jeder Wissenschaft Teilkompetenzen läßt: Küng, Christ Sein, 3. Aufl. 1974, S. 77 ff.: „Theologie darf keine Totalregelung der Wirklichkeit beanspruchen, welche die anderen Wissenschaften überspielt" (77). 33 Zur „leistungsstaatlichen Seite" der Grundrechte: P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 ff.; BVerfGE 33, 303 ff., dazu mein Beitrag D Ö V 1972, S. 729 ff.; Kritik bei Friesenhahn, Festvortrag zum 50. Dt. Juristentag, 1974, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, G 29 ff.; s. auch Martens, V V D S t R L 30 (1972), S. 7 ff. 34 Erst die Gesamtheit von Doppelaspekten der Religionsfreiheit: individuell/korporativ, privat/öffentlich, personal/institutionell, staatsabwehrend/ leistungsstaatlich, gesellschaftlich/gesellschaftsabwehrend, umschreibt die Fülle von Inhalt und Grenzen der Art. 4 und 140 GG. 35 Dazu meine Bespr. von Brauns, AöR 97 (1972), S. 325 ff.; ebs. jetzt Isensee, in: HdbStKirchR Bd. I I (1975), S. 51 (89 f.). 36 Zur Entwicklung „vom Kirchengut zum Religionsgut": meine Bespr. von Wehdeking, ZevKR 20 (1975), H. 4, S. 430 ff. 37 Dazu meine Nachw. in DÖV 1975, S. 757 (759).

22 Verfassung

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A r t . 4 Abs. 1 u. 2 als auch i n ihren Ausprägungen des A r t . 140 GG w i r d zum Gegenstand von Grundrechts-Aufgaben des Staates 38 . Bei Mikat ist der entsprechende Ansatz erkennbar, insofern er von „religionsrechtlichen Aufgaben" des Staates spricht (308) und den freiheitlich-demokratischen Staat vor die Aufgabe gestellt sieht, um der Freiheit seiner Bürger w i l l e n bei seiner Tätigkeit i m Kultur-, Bildungs- und Wohlfahrtsbereich religiöse Interessen positiv zu berücksichtigen (312) und zur Kooperation m i t den religiösen Institutionen zu kommen (317) 89 . Staatliche Leistungen für die Religionsfreiheit durch Förderung religiöser Interessen 40 erfolgen i n vielerlei Formen abgestufter Direktheit, auch i n Gestalt kultureller Interessen 41 , und sie haben einerseits paritätskonform zu geschehen (also nicht nur religiöse Interessen der Großkirchen zu berücksichtigen: Neutralität durch Gleichbehandlung!), andererseits der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates gerecht zu werden (zum Problem Mikat, 393 f.). Die Handlungsformen und Verfahren für diese leistungsstaatliche Grundrechtsaktivierung i n dem als Einheit angesehenen Feld von A r t . 4 und 140 GG sind vielfältig: direkte staatliche „Subventionen", Raum für Anstaltsseelsorge und Religionsunterricht, aber auch strafrechtlicher Schutz des religiösen Friedens und religiöser Kunstdenkmäler, Kooperation i m sozial-karitativen Bereich 42 . Dieser Ansatz von der sozialstaatlichen Grundrechtsaufgabe i n bezug auf Religionsfreiheit „etabliert" die Sache Staatskirchenrecht grundrechtlich (freiheitlich) und damit verfassungsrechtlich, läßt Raum für Differenzierungen und Wandel, gibt den religiösen Interessen ihren gesamtgesellschaftlichen, sozialimmanenten Ort und integriert Momente 38 Zu „Grundrechtsaufgaben und -politik" des Leistungsstaates: mein Korreferat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (103 ff.). 39 Mikat verweist ausdrücklich auf die neuere Grundrechtsdogmatik zur Teilhabefrage und BVerfGE 33, 330 f. (315 f. m. Anm. 36). s. auch 378 f.: „Aufgabenkonzeption" in bezug auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung religiöser Interessen; s. noch 406 f. 40 Negatives Lehrstück aus neuerer Zeit ist die Sowjetunion als „konfessioneller", nämlich staatsatheistischer Staat. Dazu Kardinal F. König, F A Z vom 16. 8.1975, S. 6. Obwohl trotz 58 Jahren atheistischer Propaganda und Diskriminierung „religiöse Bedürfnisse weiterbestehen", bleibt es bei der „Verkürzung der religiösen Freiheit zur bloßen Kultusfreiheit" (ohne Recht auf religiöse Propaganda), der Etablierung des Staatsatheismus und seiner Propagierung in der Verfassung von 1936. Der Staat identifiziert sich mit dem Atheismus, der auf diese Weise zur negativen Staatsreligion wird. Zu marxistischen Erkenntnisansätzen, wonach Marxismus/Leninismus und dieser Staatsatheismus nicht unbedingt zusammen gehören: König, a.a.O., S. 6 und 7. — Anschauungsmaterial zur NS-Zeit unter dem Stichwort „Entpolitisierung der Kirchen" und „Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" bei Mikat, 53, 58 f., 169 f. 41 Bei Mikat: „Überlagerungsfälle" (396 f.). 42 Gegen ein staatsmonopolistisches System hier: Mikat, 305 f.

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des überkommenen Staatskirchenrechts(-verständnisses) (ζ. B. die Garantien des A r t . 138, 137 WRV) i n die neuere Grundrechtsdogmatik und ihr gewandeltes Verständnis von Staat und Gesellschaft. Das bedeutet zugleich eine Abwehr etatistisch-laizistischer Tendenzen (dazu Mikat 382). Entsprechend dem anthropologischen Ausgangspunkt einer Staatsbzw. Verfassungslehre insgesamt 43 ist auch für die grundrechtliche Seite i m Staatskirchenrecht anthropologisch anzusetzen: am Menschen und Bürger 4 4 . Das Wort „idem civis et christianus" wäre zu modifizieren i n „idem civis et religiosus". Der Bürger kann sich für eine religiöse Existenz entscheiden und dementsprechend individuell und (oder) korporativ, privat und (oder) öffentlich religiösen Interessen i m Gemeinwesen Ausdruck verleihen, denen dann religionsrechtliche Leistungsstaatlichkeit gerecht werden muß 4 5 ; er kann sich aber auch „neutral", indifferent oder gar antireligiös verhalten (wollen), und die verfassungsrechtliche A n t w o r t des Staates auf diese Alternativen ist das Prinzip der weltanschaulich-konfessionellen Neutralität. 2. Staatskirchenrecht im Spannungsfeld des konstitutionell öffentlichen und der öffentlichen Interessen Die Sache Staatskirchenrecht aktualisiert sich auch, wenngleich nicht allein, i m Bereich der verfassungsrechtlich strukturierten Öffentlichkeit 4 6 . Die Dogmatik hat dem immer wieder Rechnung zu tragen versucht durch Hinweise auf den „Öffentlichkeitsauftrag" der Kirchen, auf Art. 4 GG als öffentliche Freiheit 4 7 , die Qualität der Kirchen als öffentliche Potenzen 48 und in allen Versuchen, die öffentlich-rechtliche Körperschaftsstellung nach A r t . 137 Abs. 5 WRV i. V. m. 140 GG zu legitimieren. Mikat vertieft diese Ansätze durch die entschiedene Bezugnahme auf neuere verfassungstheoretische Arbeiten zum öffentlichen (312 f., 393) und durch seine Begründung des gesamtgesellschaftlichen Interesses an einer öffentlichen Wirksamkeit religiöser Kräfte (406 f., 408 ff.). 43 Dazu Smend, in: FS für Arndt, 1969, S. 451 (460 f.); s. auch Herzogs anthropozentrische Allgemeine Staatslehre 1971, dazu meine Bespr. in: AöR 98 (1973), S. 119 (123 f.). 44 Mikat sieht zwar die „existentielle Bedeutung" der religiösen Interessen (307, 384 ff.), er lehnt den anthropologischen Ansatz überraschenderweise jedoch ausdrücklich ab (392 Anm. 26), obwohl er an anderer Stelle (409 m. Anm. 49 u. 410) in die Anthropologie zielende Hinweise gibt. 45 Religionsrechtliches Leistungsrecht sind die Normen, die die religionsrechtliche Ordnungsproblematik i. S. Mikats positiv lösen. Zum Leistungsrecht mein Beitrag, in: FS für Küchenhoff, 1972, S. 453 ff. 46 Zu ihm P. Häberle, ZfP 16 (1969), S. 273 ff.; Bespr. in: AöR 94 (1969), S. 643 (645 ff.). 47 Vgl. meinen Beitrag, JZ 1966, S. 384 (388 Anm. 49). 48 Holicrbach, VVDStRL 26 (1968), S. 57 (85).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Das Staatskirchenrecht rückt auch deshalb i n den Bereich des öffentlichen der Verfassung, weil i m pluralistischen Gemeinwesen über die privat und öffentlich praktizierte Religionsfreiheit die sich hier geltend machenden religiösen Interessen öffentliche Interessen sind (dazu 308, 385, 403), aus denen staatliche und öffentliche Aufgaben 4 9 folgen (316, 389) 50 . Religion ist also nicht nur Privatsache: sie ist auch Privatsache, aber zugleich öffentliche (gesellschaftliche) Sache 51 und, i m Zusammenhang der leistungsstaatlichen Grundrechtsproblematik erkennbar, auch „Staatssache"! Die für freiheitliche Gemeinwesen konstitutive „Trias" staatlich/öffentlich/privat 52 spiegelt sich besonders deutlich i m Felde des Staatskirchenrechts 53 wider, was für dieses als inneren Teil des Verfassungsrechts nur konsequent ist. Diese Bezüge zu Öffentlichkeit und öffentlichen Interessen der Verfassung erschließen der Sache Staatskirchenrecht eine weitere Legitimationsebene 54 , unbeschadet aller unterschiedlichen und variablen konkreten Ausformungen 55 . Sie weisen auf die höchst reale öffentliche Seite und Funktion religionsfreiheitlicher Garantien 5 6 und Grundrechte hin, ohne die private, staats- und gesellschaftsabwehrende Seite der Religionsfreiheit zu überrollen. Das Höchstpersönliche, Private der und i n der Religionsfreiheit (das Recht aufs „stille Kämmerlein"), traditionell die Hausandacht (vgl. I V § 9 Abs. 1 Verf. Bayern 1818), bleibt sichtbar. Der religionsrechtliche bzw. leistungsstaatliche Ansatz gehört gemeinsam m i t dem kulturverfassungsrechtlichen ins Gesamtbild der „Sache

49 Mikat spricht nur von „öffentlichen Aufgaben". Genauer ist zu differenzieren zwischen staatlichen und öffentlichen Aufgaben: mein Beitrag, JuS 1967, S. 64 (73). 50 Zum verfassungstheoretischen Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und öffentlichen Interessen: Ρ. Häberle, öff. Interesse, 1970, passim bes. S. 708 ff. 51

Dazu noch unter 3. Dazu mein Beitrag, in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 3 (18, 21, 22). 53 — das dem terminologisch freilich nicht Rechnung trägt. Der Begriff „Verfassungsreligionsrecht" wäre besser, ist aber unschön. 54 Das hat zur Folge, daß bei der Konkretisierung des „Gemeinwohlvorbehalts", den die Rechtsordnung der Betätigung religiöser Interessen setzt (Mikat, 322 ff.), auf beiden Seiten des Abwägungsprozesses öffentliche Interessen stehen. Zu solchen „In-sich-Konflikten" des öffentlichen und der öffentlichen Interessen: P. Häberle, öff. Interesse, S. 420 ff.; JuS 1969, S. 265 (270); s. auch Mikat, 324. 55 z. B. ist der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus ohne Art. 137 Abs. 5 WRV, 140 GG verfassungsrechtlich nicht gefordert. 56 Dabei ist besser von religionsrechtlicher Freiheits- statt von „religionsrechtlicher Ordnungsproblematik" zu sprechen. 52

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

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Staatskirchenrecht" 57 . Religiöse Interessen sind m i t kulturellen nicht gleichzusetzen, aber es zeigen sich mannigfache Überschneidungen i n diesen Gemeinwohlinteressen: bei den Kirchenguts-, allgemeiner: Religionsgutsgarantien, i m Denkmalschutzrecht, i m Bereich der privaten (Aus-)Bildung durch Kirchen und Religionsgemeinschaften usw. I n dem Maße, i n dem sich der Blick für das Kulturverfassungsrecht schärft, w i r d dies der Begründung des Staatskirchenrechts zugute kommen 5 8 . 3. Staatskirchenrecht

als Problem der Verfassung der Gesellschaft

Sowohl die leistungsstaatliche und -rechtliche Seite der „Sache Staatskirchenrecht" als auch ihre verfaßte Öffentlichkeitsqualität verweisen auf das Problem „Gesellschaft". Mikat w i r d dem gerecht durch seine Hinweise auf die (gesamt-)gesellschaftliche Bedeutung, die „Sozialrelevanz religiöser Interessen" (379, 387), besonders aber durch seine entschiedene Thematisierung des Verhältnisses Kirche - Staat - Gesellschaft (246, 308), man hätte zu präzisieren: Religion - Staat - Gesellschaft 59 . D. h. die Sache Kirche bzw. Religion w i r d nicht nur i m Verhältnis zum Staat gesehen, sondern wesentlich auch i m Verhältnis zur und i m Rahmen der „Gesellschaft". Diese mehrdimensionale, gesellschaftsorientierte Sicht der Probleme des heutigen Staatskirchenrechts ist unverzichtbar. Denn den Kirchen w i r d die freie Entfaltung nicht so sehr vom Staat als von der Gesellschaft bestritten (214, 257): i m gesellschaftlichen — öffentlichen — Pluralismus haben sich Kirchen und Religionsgemeinschaften zu behaupten. Diese gesellschaftsorientierte Sicht der Probleme des Staatskirchenrechts korreliert m i t einem seit dem 2. Vatikanischen Konzil stärker „weltbezogenen Kirchen Verständnis" 60. 57 Zum Staatskirchenrecht als Kulturverfassungsrecht vor allem Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972; s. auch meine Besnr. in: ZevKR 18 (1973), S. 420 (427 ff.), 19 (1974), S. 206 (210); Scheuner, HdbStKirchR I (1974), S. 5 (85). 58 Bei Mikat klingt die Kulturstaatlichkeit an: z.B. 391: „kulturstaatliche Rechtsordnung"; 394: „Solange sich der Staat als freiheitlich-demokratischer Kulturstaat versteht, sind religiöse Interessen durch die staatliche Rechtsordnung anzuerkennen"; 428: Kirchen als „Institutionalisierungsphänomen des Kultursystems"; 410: religiöse Kräfte als „Kulturtradition". 59 Erinnert sei an die Sätze: Das Staatskirchenrecht münde ein „in den Rechtskomplex, durch den die Gesellschaft ihre wesentlichen geistigen Kräfte institutionalisiert" (428), es könne Legitimation im „Selbstverständnis der freiheitlich-pluralen Gesellschaft" finden (428); s. auch 316: mittelbare Verantwortung des Staates gegenüber den „freien gesellschaftlichen Institutionen geistlicher Daseinsvorsorge". Partner der Kirche für ihre öffentliche W i r k samkeit ist „nicht mehr nur der Staat, sondern vornehmlich die Gesellschaft" (244). 60 Dazu Mikat, 224: bezeichnend auch der Beitrag „Zum Dialog der Kirche mit der modernen Gesellschaft" (237 ff.), ζ. B. „Dienstfunktion" der Kirche gegenüber der Gesellschaft (239, 244), „integrierende Funktion" als Aufgabe der Kirche gegenüber der Gesellschaft (242).

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Staatskirchenrecht als ein Stück Verfassung der Gesellschaft, nicht nur als Verfassung des Verhältnisses Staat/Kirche (bzw. Religionsgemeinschaften) ist Ausdruck einer weit allgemeineren Entwicklung. Der Gesamtbereich „Gesellschaft" 61 , besonders aber Teilbereiche wie die Wirtschaft, das Kulturleben usw. werden durch die Verfassung des Gemeinwesens strukturiert. Man denke an die „ D r i t t w i r k u n g " von Grundrechten, an die Öffentlichkeitsanforderungen gegenüber übermächtigen Verbänden, an kulturstaatliche Subventionen. Wenn nun auch das Staatskirchenrecht i n diese allgemeine verfassungstheoretische Entwicklung gerückt wird, so zeigt sich daran, wie sehr es integrierender und lebendiger Bestandteil des Verfassungsrechts freiheitlicher Gemeinwesen ist 6 2 . Die Privatsache, die öffentliche und „Staatssache" „Religion" gerät in die allgemeine Entwicklung einer zunehmenden Verfassung gesellschaftlicher Teilbereiche, die sich eben nicht (mehr) durch bloße Verfassung i m Verhältnis zum Staat — als Teil der „Staatsverfassung" — ordnen lassen. Die Position der Kirchen und Religionsgemeinschaften dem Staat gegenüber ist m i t ihrer Position der Gesellschaft gegenüber nicht mehr identisch. Das ist eine Konsequenz der modernen Entwicklung zum Pluralismus. Kirchen und Religionsgemeinschaften „als" pluralistische, gesellschaftliche „Größen" sind, auch wenn ihr Selbstverständnis das erst allmählich zugeben mag, auf „gesellschaftliche Präsenz" 63 und „gesellschaftliche Repräsentanz" angewiesen 64 . Sie wollen und müssen in der Gesellschaft wirken, ihre gesellschaftliche Potenz immer wieder erproben in der Auseinandersetzung m i t anderen religiösen und nichtreligiösen Gruppierungen sowie in der Legitimierung vor dem Bürger, der sich m i t ihnen identifizieren, sie ignorieren oder auch bekämpfen kann. Das ist der Preis der Offenheit der Gesellschaft. 61

Zu seinem Verhältnis zum Staat jetzt Hesse, DÖV 1975, S. 437 ff. Diese als „offene" verfaßte Gesellschaft ist dabei die Gesellschaft des demokratischen Gemeinwesens, weil nur die „Staatsform" der Demokratie real und ideal offene Gesellschaft ermöglicht. Zum Zusammenhang zwischen Poppers „Philosophie der Demokratie" und der offenen Gesellschaft meine Hinweise in: JZ 1975, S. 297 ff. — Zur neueren positiven Einstellung der katholischen Kirche zur freiheitlich-demokratischen Staatsform: Mikat, 226 ff., 244; S. 287 auch zum „institutionellen und geistigen Auseinanderrücken von Kirche und Staat in der Demokratie" als „Angebot und Verpflichtung" für die Kirche zugleich. — Die hier umrissene zukunftsorientierte Staatskirchenrechtslehre als Teil einer Verfassungslehre versteht sich daher wie diese als Lehre möglicher, notwendiger und wirklicher demokratischer Verfassungen. 63 Ausdruck bei Mikat, 247. Zur „gesellschaftlichen Relevanz" der Kirchen: Mikat, 423. 64 ζ. B. in Fernseh- und Rundfunkgremien, in der Bundesprüfstelle nach dem GjS (§ 9 Abs. 2 Ziff. 8) und sonstigen Partizipationsgremien, s. auch die Partizipationsformen im Parlamentsrecht (vgl. § 73 Abs. 3 GeschOBT) und im Verfassungsprozeßrecht (vgl. §§ 77, 82 Abs. 2 und 3 BVerfGG) ; zu den Kirchen als Verfassungsinterpreten i. w. S. mein Beitrag, JZ 1975, S. 297 (299); aus der Praxis des BVerfG zuletzt E 39, 1 (23 ff., 33) zu § 218 StGB. 62

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

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Diese Gesellschaft verlangt für sich selbst nach Verfassungsstrukturen i m ganzen und einzelnen. Das — zeitgemäß verstandene und entwikkelte — Staatskirchenrecht vermag sie ihnen für seinen Bereich als konstitutionelles Religionsrecht und als Kulturverfassungsrecht zu geben, ohne den Säkularisationsprozeß rückgängig zu machen. I m einzelnen sind solche Elemente wachsender Verfaßtheit („Konstitutionalisierungen") der gesellschaftsorientierten Seite des Staatskirchenrechts: — die leistungsstaatliche bzw. -rechtliche Entfaltung der Religionsfreiheit (die Gesellschaft w i r d durch die Grundrechte strukturiert 6 5 ), — die differenzierte, geschichtliche und wandlungsoffene Relevanz des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften i m „staatlichen", genauer: pluralistischen Recht 66 , — der i. S. Mikats positive religionsrechtliche Ansatz (von der sächlichen und finanziellen Subvention bis zur Bereitstellung korporativer Organisationsformen), — die öffentlichkeits- und gemeinwohlgerechte Einpassung der Sache Staatskirchenrecht in das politische Gemeinwesen — und die sog. negativen religionsrechtlichen Normen, die den justus ordo publicus sichern: gerade sie sind von großer verfassungsstruktureller Bedeutung, w e i l sie die Gesellschaft offen halten (müssen), ζ. B. durch den Schutz negativer Religionsfreiheit 67 , insbesondere aber auch alle Normen, die die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates sichern, denn sie haben große Auswirkungen auch auf das Gegen- und Miteinander der öffentlichen (religiösen und nichtreligiösen) Kräfte und Interessen in der Gesellschaft. Vor allem gehört das „ f ü r alle geltende Gesetze" 68 i n diesen Zusammenhang: Es sichert die offene Struktur der verfaßten Gesellschaft, ist also nicht primär staatsbezogen auszulegen. Der Staat erfüllt hier einen spezifischen Schutzauftrag für die offene Gesellschaft (der Religiösen und Nichtreligiösen) 69 und die Prinzipien ihrer freiheitlichen Verfas65 Insbesondere durch die Beteiligung der Religionsgesellschaften in öff. Leistungssystemen, in der Sozial- und Jugendhilfe usw. ββ Dazu mein Beitrag, JZ 1975, S, 297 ff. 87 Schutz vor religiöser (Ab-)Werbung: Tabakfall (BVerfGE 12, 1, dazu mein Beitrag in: JuS 1969, S. 265 [266 ff.]). 68 Dazu Hesse, HdbStKirchR I (1974), S. 409 (430 ff.), s. die zutreffende Fragestellung in BVerfGE 24, 236 (249): „Wo die Grenzen der Religionsfreiheit... in einer pluralistischen Gesellschaft zu ziehen sind . . . " (Hervorhebung v. Verf.) 89 Dazu gehört auch der — dem staatlichen Rechtsprechungsmonopol zugehörige — staatliche Rechtsschutzauftrag ζ. B. für die Kirchenaustrittswilligen, vgl. zum Kirchenaustritt im Blick auf Art. 4 Abs. 1 GG: BVerfGE 30, 415 (423 f., 427). s. noch BVerwGE 28, 345 (350 f.): 30, 326 (341 ff.) und im Blick auf BVerfGE 18, 241: meinen Beitrag, DÖV 1965, S. 369 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

sung 70 . Er schützt hier weniger sich selbst als vielmehr „seine" offene Gesellschaft — auch gegen „religiöse Interessen"! Freilich bedarf es der ständigen Aktualisierung aller erwähnten Erscheinungsformen, Aspekte und Perspektiven der konstitutionellen Religionsgemeinschaften durch den Bürger und seine Religionsgemeinschaften i n der Gesellschaft selbst. Er muß die religionsfreiheitlichen Verfassungsstrukturen der offenen Gesellschaft leben, religiöse Interessen i n ihr positiv artikulieren, andernfalls nützen auf Dauer alle staatlich-rechtlichen Rechtsgarantien nicht gegen etwaige etatistisch-laizistische Tendenzen i n der Gesellschaft. I n besonderem Maße hat Staatskirchenrecht lebendiges Teilgebiet des Verfassungsrechts zu sein oder es verliert dieses Prädikat, schrumpft und sinkt zu einfachem Gesetzesrecht ab oder verschwindet gar, so daß schließlich die „Sache Religion" ohne oder gegen die Rechtsordnung und die Gesellschaft vertreten werden muß. Denn die Verfassung kann auf Dauer nicht mehr und nichts anders „anbieten" als das, was die offene Gesellschaft „annimmt". Religionsrecht muß sich i n einem spezifischen Sinne „einbürgern". Die offene Gesellschaft sollte sich die Verfassung geben, die sie selbst versteht, die sie leben und interpretieren kann; das gilt besonders für das Staatskirchenrecht. Die Kunst „guter" Verfassungsinterpretation und -poliük besteht darin, die offene Gesellschaft und ihre Wirklichkeit auf einem Teilbereich durch „Staatskirchenrecht" so zu verfassen, daß sie religiöse Interessen ernst nimmt, ohne die Offenheit der Gesellschaft und d. h. auch, die religiös-Weltanschauliche Neutralität des Staates zu gefährden 71 . Ein so — als Ordnung des Ausgleichs und der Freiheit 7 2 — verstandenes „Staatskirchen"-Recht w i r d zum Ausdruck des Selbstverständnisses der offenen Gesellschaft und damit zu „ihrem" Verfassungsrecht i m besten Sinne des Wortes. I V . Religionsverfassungsrecht (Ausblick) Die „Sache Staatskirchenrecht" als integrierender Bestandteil des freiheitlichen Verfassungsrechts ist damit aus den Grundprinzipien dieser Verfassung legitimiert — jenseits historischer Festschreibungen (status-quo-Garantien) wie sie etwa bei den Kirchengutsgarantien 73 70 Mikat schneidet sie, soweit ersichtlich, nicht ausdrücklich unter dem Stichwort „negative religionsrechtliche Ordnungsproblematik" an (398 ff.), Problemerörterung aber auf S. 322 ff. — Der Begriff „offene Gesellschaft" ist bei Mikat erwähnt: S. 400; s. auch S. 378 f.: Staatskirchenrecht einer „demokratisch verfaßten und freiheitlichen Industriegesellschaft". 71 Für eine „problemoffene pluralistische Freiheitsordnung, die niemand zu seinem Glauben zwingt": Küng, Christ Sein, 3. Aufl. 1974, S. 43. 72 M. Heckel, VVDStRL 26 (1968), S. 5 (9). 73 Symptomatisch: Wehdeking, Die Kirchengutsgarantien . . . , 1971.

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

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oder Staatsleistungen, insbesondere für die drei christlichen Kirchen vorherrschen. Stichworte, die i n diese Richtung deuten, sind: Staatskirchenrecht für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften 74 , „Staatskirchenrecht der Verbände" 7 5 , „vom Kirchengut zum Religionsgut", Religionsparität „ i m weiteren Sinne" als „Verfassungsgebot" 76 . Verfassungsprinzipien, i n deren Kraftfeld es zu einer solchen „Verallgemeinerung t( des Staatskirchenrechts inmitten der Verfassung kommen kann, sind: leistungsstaatliche Grundrechtsseite, Pluralismus 7 7 , Toleranz 78 , „Religionsparität", Kulturverfassungsrecht, Öffentlichkeit und „Verfassung der Gesellschaft". Das Selbstverständnis der Bundesrepub l i k Deutschland als eines weltanschaulich-religiös-konfessionell neutralen Staates i. S. der Rechtsprechung des BVerfG 79 und die A k t i v i e rung des Art. 4 GG durch das BVerfG 80 haben eine wesentliche Grundlage für dieses allgemeine — religionsrechtliche — Verständnis des Staatskirchenrechts gelegt. Gleichwohl steht es noch i n den Anfängen. Erklärtermaßen „neue Kapitel" werden erst nach und nach für einzelne Gebiete erschlossen 81. Die Kirchen- und Religionsgemeinschaften haben nicht nur Terrainverluste. Es gibt Problembereiche, in denen die Verfassungstheorie bislang nur historisch begründete Positionen neu und besser zu legitimieren weiß: z.B. über die Relevanz des religiösen Selbstverständnisses für die Verfassungsinterpretation i m pluralistischen Gemeinwesen. Der Blick für die „kleinen" Kirchen und die Weltanschauungsgemeinschaften w i r d geschärft: gerade auch i m Bereich des A r t . 140 GG von A r t . 4 Abs. 1 und 2 GG aus. Neue Sachgebiete, etwa i m karitativen Feld, wachsen hinzu. Es ist also nicht nur die eine Seite zu betrachten: Wo müssen die Kirchen von ihrer Vorrangstellung Abstriche machen, etwa unter dem Gesichtspunkt religionsrechtlicher Parität? Vielmehr ist auch die andere Seite zu verdeutlichen: Wo kommt es zu „Verallgemeinerungen" 74

Dazu meine Bespr. von Schiaich und Wehdeking, in: ZevKR 18 (1973), S. 420 (427 ff.) bzw. 20 (1975), H. 4, S. 430 ff. 75 s. meinen Diskussionsbeitrag in: V V D S t R L 28 (1970), S. 117; jetzt auch Rinken, HdbStKirchR I I (1975), Sl. 345 (364). 76 BVerwGE 34, 291 (297). 77 C. Link, in: I. Gampl/C. Link, Deutsches und österreichisches Staatskirchenrecht in der Entwicklung, 1973, S. 50 f., 56. 78 Vgl. BVerfGE 33, 23 (32), 32, 98 (108) und meine Bespr. in: ZevKR 19 (1974), S. 206 (212 f.); Scheuner, in: HdbStKirchR I (1974), S. 5 (50 ff.). 79 E 10, 59 (85); 19, 206 (216); 30, 415 (421, 424); 32, 98 (106). 80 ζ. Β.: E 24, 236 (245 ff.); 30, 112 (119 f.), 415 (423); 32, 98 (106 ff.); 33, 23 (28 f., 30 f.); 35, 366 (376 f.), mit dem Hinweis (z.B. 32, 98 [106]; 33, 23 [28]), auf die „soziale Relevanz" religiöser Vereinigungen bzw. einer Glaubenshaltung komme es für die Garantie der Glaubensfreiheit nicht an. 81 ζ. B. Rinken, a.a.O., S. 346, für das karitative Feld.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

des Staatskirchenrechts zugunsten der Nicht-Kirchen, der nicht-christlichen Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften, die jetzt gemeinsam m i t den Kirchen dem Nicht-, A n t i - oder Areligiösen gegenüberstehen 82 ? A u f diesem Weg werden die Umrisse eines Religionsrechts der Verfassung sichtbar, das i m Ansatz auch in den freiheitlichen Staaten gelebt wird, die sich textlich auf reine Trennungsmodelle festgelegt haben, mehr als dies das Modelldenken wahrhaben w i l l . Dieses konstitutionelle „Religionsrecht" ist dem Staat nur zum Teil verbunden, etwa seinem leistungsstaatlichen Element; es ist wesentlich auf die Verfassung des politischen Gemeinwesens i m ganzen, insbesondere seine offene Gesellschaft bezogen 88 . Der weitere praktische und theoretische Ausbau solchen konstitutionellen Religionsrechts einer verfaßten Gesellschaft, die Untersuchung von Eigenart, Struktur und Funktion sowie seiner sozialwissenschaftlichen Bedingtheit ist — nicht zuletzt dank Mikat — eine vordringliche Aufgabe. Nachtrag zu „Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft" (Nr. 13) Dieser Aufsatz versteht sich als Baustein auf dem Weg vom „verfaßten Staat zur verfaßten Gesellschaft". Er ist zugleich der Versuch einer Aktivierung des Toleranzbegriffs (vgl. auch den Freiburger Gastvortrag, Nr. 4) und einer differenzierenden Betrachtung des A r t . 4 i. V. m i t A r t . 140 GG bzw. 137 ff. WRV 1 . Gewiß, um das „Staatskirchenrecht" im ganzen ist es derzeit ruhiger geworden (auch der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der K i r chen erscheint praktisch nicht bedroht 2 ). Das dürfte politische Gründe haben, hängt aber wohl auch m i t dem eindrucksvollen „Handbuch des Staatskirchenrechts der BRD", Bd. I (1974), Bd. I I (1975) zusammen 3 . 82

Etwa anderen Verbänden (Art. 9 Abs. 1 GG), „profanem" Eigentum (Art. 14 GG) statt Religionsgut (Art. 138 Abs. 2 W R V i. V. m. Art. 140 GG), nicht auf die Religionsfreiheit bezogenen Staatsleistungen usw. 83 A m Begriff „Staatskirchenrecht" ist insofern irreführend sowohl der Begriff „Staat" als auch der Begriff „Kirche". Gleichwohl kann er die (auch bestehenden) Verbindungen zwischen Staat und Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften zum Ausdruck bringen, freilich nur als ein Teil der Sache „Religionsverfassungsrecht" als zukunftsorientierter Wissenschaft. 1 Dazu auch meine Besprechungen der Bücher von Listi bzw. Wehdeking, in: ZevKR 19 (1974), S. 206 - 216, bzw. 20 (1975), S. 430 - 438. 2 Vgl. aber auch Schmidt-Eichstaedt, Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts?, 1975, und meine Besprechung in DVB1.1976, S. 648 f. 3 Dazu meine Besprechungen in D Ö V 1975, S. 504 f., 757 ff., sowie Gampl t AöR 102 (1977), S. 626 ff.; Kästner, in: Die Verwaltung 10 (1977), S. 67 ff.

13. „Staatskirchenrecht" als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft

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Es hat eine A r t „Summe" gezogen, durch die neue Ansätze zu neuen Problemen erst einmal „hindurch" müssen4. Seit dem Erscheinen des Aufsatzes hat sich als besonderer Problembereich konstituiert die Frage des Verhältnisses von „Kirchenautonomie und gesetzlichem Kündigungsschutz" 5 bzw. allgemein des Verhältnisses von Kirchen und staatlichem Arbeitsrecht 8 . Die Essener Gespräche zum Thema „Staat und Kirche" erfüllen eine besondere Forums-Funktion, zuletzt etwa für Schulfragen, vgl. H. Maier, Hans Ulrich Evers u. a., Essener Gespräche, Bd. 12, 1977. Nicht nur aus Paritätsgründen sei für die evangelische Seite auf die Heidelberger Tagungen der Mitarbeiter der ZevKR verwiesen 7 . Eine lebhafte Diskussion hat BVerfGE 42, 312 und die von ihr aufgehobene Entscheidung des Bremer StGH (DÖV 1975, S. 492 ff.) ausgelöst 8 . Der Beschluß des BVerfG müßte vor allem der Diskussion um die Selbstverständnis-Problematik neue Impulse geben9 (vgl. E 42, 312 [334, 341, 344]; s. auch E 46, 73 [88, 95 f.]). Die Konzeption, Klassikertexte als Verfassungstexte im weiteren Sinne zu sehen (dazu der Freiburger Vortrag, Nr. 4) und sie als „Kontexte" zu begreifen, hat ihre naheliegende Entsprechung i n der Relevanz der Selbstverständnis-Texte der Kirchen und Religionsgesellschaften. Eine Grundthese dieses mehrfach wieder abgedruckten Beitrags gipfelt i n einem Votum gegen den Begriff „Staatskirchenrecht" (vgl. Art. 137 Abs. 1WRV i. V. m. Art. 140 GG: „Es besteht keine Staatskirche" — m. E. also auch kein „Staatskirchenrecht"!) und i n dem Engagement für das „Religionsverfassungsrecht" (vgl. dazu i m Blick auf die Verfassungsbewegung i n Deutschland: JöR 43 (1995), S. 355 (382 f.)). S. aber A. Hollerbach, FS H. Schmitz, 1994, S. 869 ff. 4 Solche sind z. B. erkennbar in Lorenz, Wissenschaftsfreiheit zwischen K i r che und Staat, 1976. — Zum „deutschen und österreichischen Staatskirchenrecht in der Diskussion": M. Heckel, AöR 102 (1977), S. 122 ff. 5 Vgl. Rüthers, NJW 1976, S. 1918 ff. 6 Vgl. Frank / Jurina / Mayer-Maly, in: Essener Gespräche 10 (1976); zuletzt Mayer-Maly, in: Betriebs-Berater, Beilage 3/1977 zu Heft 24 (1977). — Den Ansatz Mikats hat jüngst I. Pernice für den europarechtlichen Bereich aufgenommen: JZ 1977, S. 777 ff. 7 Vgl. etwa das Referat von M. Stock, Kirchenfreiheit und Medienfreiheit, ZevKR 20 (1975), S. 256 ff. 8 Aus der Literatur zum BVerfG etwa J. Henkel, DÖV 1977, S. 57 ff.; Erwin Stein, ZevKR 22 (1977), S. 117 ff.; zum Brem. StGH: von Campenhausen, JZ 1975, S. 349 ff.; Müller-Volbehr, DÖV 1975, S. 495 ff.; Steiner, in: Der Staat 14 (1975), S. 491 ff.; s. auch Dahrmann (Hrsg.), Dokumentation zum Bremer Verfassungsrechtsstreit, 1977. n Seine Grundlinie zum Staatskirchenrecht hat das BVerfG bestätigt in E 44, 37 (52 ff., 56 ff.).

14. Staatslehre als Verfassungegeschichte* 1* I. Jede — lebende — Wissenschaft b l e i b t a u f d e r Suche nach i h r e m G e genstand, i h r e n M e t h o d e n u n d i h r e n A u t o r e n . I n b e s o n d e r e m M a ß e g i l t dies f ü r die A l l g e m e i n e Staatslehre. I n d e n l e t z t e n J a h r e n m e h r e n sich d i e Versuche, die Sache Staat/Gesellschaft u n d Verfassung, G r u n d rechte u n d D e m o k r a t i e ganz oder u n t e r b e s t i m m t e n A s p e k t e n a u f d e n B e g r i f f z u b r i n g e n : E r i n n e r t sei an Forsthoff s „ S t a a t d e r I n d u s t r i e g e sellschaft" (1971), a n Herzogs A l l g e m e i n e Staatslehre (1971), a n Ermacoras Staatslehre (1970) sowie a n Zippelius' Staatslehre (5. A u f l . , 1975). Baduras A r t i k e l „ V e r f a s s u n g " ( i n : E v . S t a a t s l e x i k o n , 2. A u f l . 1975, Sp. 2708 ff.) u n d Hesses „ G r u n d z ü g e " (9. A u f l . 1976) g e h ö r e n h i e r h e r — diese, sofern sie z u M a t e r i a l i e n d e r Verfassungslehre a b s t r a h i e r t w e r den. A u c h das G r u n d v e r t r a g s u r t e i l des B V e r f G 2 h a t z u r Sache S t a a t u n d V e r f a s s u n g e i n e n B e i t r a g geleistet, w i e seine E n t s c h e i d u n g e n ü b e r haupt Elemente u n d Ansätze f ü r „Allgemeine Staatslehre" enthalten3. * AöR 102 (1977), S. 284 - 297. 1 Besprechung von Kriele, Einführung in die Staatslehre, Die geschichtlichen Legitimationsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, 1975, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, 352 S. 2 E 36,1 (15 ff.). 3 s. etwa BVerfGE 5, 85 (233 f.), dazu P. Häberle, AöR 95 (1970), S. 260 (261 f.); ferner im Blick auf den „Kulturstaat" (E 39, 1 [46]), den „modernen Sozialunid Kulturstaat" (E 35, 148 [153], abw. Votum Simon, Rupp-von Brünneck die Staatsqualität der Länder im Bundesstaat (E 34, 9 [19 f.]), die Formel „Staaten mit einer freiheitlich-demokratischen Verfassung" (E 37, 271 [282]; s. auch E 12, 113 [125]: öff. Meinung, „die sich im freiheitlich-demokratischen Staat nowendig pluralistisch..."); s. die Bezugnahme auf die „heutige parlamentarische Demokratie" in E 24, 260 (264). s. auch E 24, 300 (348): „in einer parteienstaatlichen Demokratie"; E 32, 157 (164), E 11, 266 (273): „der moderne demokratische Parteienstaat". Auf der Ebene der Verfassungsstaatslehre argumentiert das BVerfG z.B. in E 18, 151 (154): Prinzipien „des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates". Ergiebig sind auch die Passagen, in denen das BVerfG den unbestimmten Artikel wählt (z.B. E 20, 56 [98]: „in einem (!) demokratischen Staatswesen" (s. auch E 37, 217 [239]), E 20, 106: Bezugnahme auf Hellers Staatslehre!) oder typusentsprechend formuliert (E 9, 268 [281]: „Der demokratische Rechtsstaat im Sinne des Grundgesetzes", E 7, 198 [208] : „der freiheitlich-demokratische Staat", E 5, 85 [206] : die freiheitliche Demokratie). Gelegentlich wählt das BVerfG die Methode der Verfassungs(staats-) vergleichung (ζ. Β. E 39, 1 [46] : „in den meisten Kulturstaaten", s. aber auch abw. Votum Simon, Rupp - von Brünneck, ebd., S. 73 f., 94) oder es postuliert allgemein: „Der Staat ist ein Instrument der ausgleichenden sozialen Gestaltung" (E 5, 85 [205]). — Zuletzt: „Bedingungen einer freien Gesellschaft" (E 40, 276 [284]); E 41, 29 (50), 88 (107): „in einer pluralistischen Gesellschaft".

14. Staatslehre als Verfassungsgeschichte

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Trotz all dieser Bemühungen deutet viel darauf hin, daß Staats- bzw. Verfassungslehre heute nur noch unter einzelnen Aspekten geschrieben werden kann oder jedenfalls bisher so geschrieben worden ist, etwa sub specie Souveränität (Forsthoff, von Simson, Quaritsch), Menschenund Grundrechte, Staat und Gesellschaft 4 , Parteienstaat (Leibholz), Demokratie, Neutralität oder Öffentlichkeit (Habermas), Gemeinwohl 5 oder von den Staatsaufgaben 6 , vom Sozialstaat und Pluralismus 7 her oder i n methodenkritischem Gewand 8 . Diese Themen liefern Aspekte i m Mosaik der Sache: Staat und Verfassung, Demokratie und Grundrechte; aber es w i l l schwer gelingen, das Ganze des politischen Gemeinwesens einzufangen. Staatslehre bleibt „Stückwerktechnik", freilich eher i m negativen Sinne. Ein Beleg ist die Tatsache, daß dem Staat eine Fülle von heterogenen Attributen zugedacht w i r d : er w i r d als Verbände-, Wirtschafts- oder Gewerkschaftsstaat, als Sozial- und Kulturstaat, als Parteien- und Grundrechtsstaat, als Verwaltungs-, Gesetzgebungsstaat oder Hechtswegestaat apostrophiert. Ist der Staat all dies zugleich? Relativieren sich diese Eigenschaften nicht gegenseitig so, daß sie insgesamt nichtssagend werden? Das Defizit an Staatslehre überrascht, weil bedeutsame Einzelbeiträge vorliegen und auch jede staatsrechtliche Frage letztlich von Vor- und Selbstverständnissen aus behandelt wird, die i n Bezirke der (allgemeinen) Staatslehre reichen 9 . Offenbar w i l l es nicht (mehr) gelingen, Staats- und Verfassungslehre aus einem Schlüsselbegriff zu entwickeln oder sie auf eine (politisch bedingte) Fragestellung zu reduzieren: wie „Integration", „Entscheidung", „Grundnorm" und Stufenaufbau, Staat/Gesellschaft, Freiheit. Denkbar wäre, daß es so viele Aspekte des Staates gibt, wie es Wissenschgiften vom Menschen gibt, und daß das politische Gemeinwesen letztlich nur von einer anthropologisch fundierten ganzheitlichen, aber nicht totalen Integrationswissenschaft aus erfaßt werden kann. 4 Hesse in Auseinandersetzung mit E.-W. Böckenförde, H. H. Klein u.a.: DÖV 1975, S. 437 ff.; W. Schmidt, AöR 101 (1976), S. 24 ff. 5 Dazu P. Häberle, öff. Interesse als juristisches Problem, 1970; s. auch Stolleis, VerwArch 65 (1974), S. 1 ff. 6 Bull, Die Staatsauf gaben nach dem GG, 1973. 7 Fraenkel, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, 6. Aufl. 1974, S. 197 ff.; Hans F. Zacher, in: Der Staat 9 (1970), S. 161 ff.; Scheuner, in: Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 ff. 8 Aspekte bei Suhr, Bewußtseinsverfassung und Gesellschaftsverfassung, 1975; dazu mein Beitrag, Verfassungstheorie zwischen Dialektik und kritischem Rationalismus, Zeitschrift f. Rechtstheorie, 7 (1976), S. 77 ff. 9 Darum ist es verständlich, daß Autoren, die eine allgemeine Staatslehre wagen, von „ihren " Themen und bisherigen Arbeitsgebieten aus eine solche schreiben, also K. von der Demokratie (vgl. V V D S t R L 29 [1971], S. 46 ff.) und einer „Theorie der Rechtsgewinnung" her (1967); s. auch ders., Die Herausforderung des Verfassungsstaates, 1970.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

I m Vordergrund dürften die Versuche stehen, Staats- und Verfassungslehre von der Demokratie aus zu entfalten: Staatslehre als Demokratiewissenschaft 10 , wobei die einzelnen Kapitel u m die „pluralistische Demokratie" zu komponieren wären und eine typologische Verarbeitung des verfassungsgeschichtlichen Materials gelingen müßte 1 1 . I n anderer Weise w i r d Staats- oder Verfassungslehre i m Kraftfeld der Methodenkontroverse entwickelt: Systemtheorie oder Dialektik, kritischer Rationalismus oder Marxismus. Die Auseinandersetzung m i t dem Marxismus zwingt zunehmend zu geschichtsphilosophischen Fragestellungen. Angesichts der wachsenden überstaatlichen Bedingtheit moderner Staaten, der Möglichkeiten und Notwendigkeit von „Völkerrecht", insbesondere der Aktualisierung der Menschenrechte i n den Menschenrechtspakten stellt sich für die allgemeine Staatslehre das Verhältnis zum Völkerrecht und die Frage der sog. Staatenverbindungen neu. Auch die Beiträge zum Europarecht enthalten Elemente für moderne Staats- und Verfassungslehren 12 . I n der gegenwärtigen Diskussion sind folgende — grobe — Unterscheidungen möglich: — „staatliche" Staatslehre (Forsthoff, nen des Pluralismus

Quaritsch) m i t den Gegenpositio-

— „gesellschaftliche" Staatslehre (Heiler, Luhmann) m i t Gegenpositionen i n den Reihen der juristischen oder positivistischen Staatslehren (Kelsen) — Staatslehre als Verfassungslehre (Smend, Scheuner 13 und jetzt Kriele) — Mischformen (ζ. B. Herb. Krüger). Heute ist i n Deutschland eine Gleichzeitigkeit dieser Staatslehren t y pisch, so sehr historisch oft die eine Grundrichtung die andere(n) provoziert hat. Es gibt keine „herrschende" Staatslehre. Doch lassen sich alte und neue „Testfragen" stellen, an deren Beantwortung sich die Geister scheiden. Dabei werden Einordnungen wie „konservativ" und „liberal" zunehmend schwieriger bzw. nichtssagend. Solche Testfragen

sind:

— der Pluralismus und seine „Verarbeitung" i m Verhältnis zu Souveränität, Neutralität, staatlichen Funktionen (freiheitliche Gesell10

Bäumlin, Artikel „Demokratie", Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 362 ff. Hier geht es um Repräsentanz, nicht Vollständigkeit des geschichtlichen Materials; z.B. hätte K. alle wichtigen Staats- und Verfassungsbegriffe vorstellen sollen, auch die wichtigsten Staatsutopien (Ansätze 81 ff.). Ansätze zu diesem Behandlungsstil bei der Erörterung der Souveränität, 56 ff. 12 Grundlegend H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972. 13 Art. Verfassung, Staatslexikon Bd. V I I I (1963), Sp. 117 ff. 11

14. Staatslehre als Verfassungsgeschichte

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schaft durch einen „starken" Staat?, Staatswohl jenseits von Gruppenwohl?), — die Erkenntnismethoden, besonders Konfrontation und Kooperation mit den anderen „Staatswissenschaften", — Staatsaufgabenlehre und Gemeinwohl, Rechtsbegriff und Sozialstaat, Wirtschaft und ihre Konstitutionalisierung. „Klassische" Testfragen wie Staatsbegriff und Staatselementenlehre können ihre Brisanz verlieren zugunsten neuerer: Verfassungs- und Grundrechtsverständnis, Gewaltenteilung (pluralistische Gewaltenteilung als Gewaltenteilung i. w. S.), Öffentlichkeit, Kompetenzen und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit 14 . Hinzu gehören Fragen, die bestimmte Staatslehren bzw. Autoren „auslassen" bzw. die sie bewußt ihrer eigenen Kompetenz zurechnen oder von sich weisen, wie etwa Verfassungspolitik 15 . M. a. W.: Verringerung oder Erweiterung des Problemund Themenkatalogs bzw. der Methodenvielfalt variieren (politisch bedingt), sie signalisieren das jeweilige Selbstverständnis und die Enge des „Fachs" bzw. die Bereitschaft zur Kooperation m i t anderen „staatswissenschaftlichen" Disziplinen, wobei auch die Naturwissenschaften einzubeziehen sind „als" Humanwissenschaf ten. Aufgabe einer Staats- bzw. Verfassungslehre dürfte es sein, die Beiträge anderer Wissenschaften, ζ. B. der politischen Wissenschaft „richtig" zu thematisieren, wenn sie sie schon nicht selbst leisten kann, etwa die Lehren von den Internationalen Beziehungen, die Verwaltungs- und Vergleichende Regierungslehre. Staatslehre hat wissenschaftstheoretisch Steuerungsfunktion. Sie ist universal und selbstbescheiden zugleich. Sie organisiert die Arbeitsteilung zwischen den Wissenschaften. N u r dann kann sie den Anspruch, Wirklichkeits- und humane Möglichkeitswissenschaft zu sein, einlösen: als Wissenschaft für den Staat um des Menschen willen (anthropologische Möglichkeits Wissenschaft). II. K.s Werk gliedert sich in die drei Teile: „Friede: Der Staat" (19 - 103), „Freiheit: Der Verfassungsstaat" (104 - 223) und „Gerechtigkeit: Der demokratische Verfassungsstaat" (224 - 340). Fortschritt i. S. des demokratischen Verfassungsstaates bedeutet für K. (230): Friede w i r d vom Staat, Freiheit vom Verfassungsstaat, Gerechtigkeit vom demokratischen Verfassungsstaat erwartet. Eingangs legt K . sein Selbstverständnis offen: 14 Dazu jetzt Kriele, NJW 1976, S. 777 ff.; Ρ. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976. 15 Für ihre Einbeziehung gegen Herzog: mein Beitrag in: AöR 98 (1973), S. 119(129 f.).

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Staatslehre über die Realbedingungen von Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit unter Auswertung der Geschichte des demokratischen Verfassungsstaates (14 f.), Staatslehre als „kritische Staatslehre": wirklichkeitsbezogene K r i t i k am historisch so gewordenen Staat, rechtswissenschaftliche Staatslehre m i t Selbstbescheidung gegenüber der politischen Wissenschaft (17). Der erste Teil (Friede: Der Staat) enthält die Kapitel „Legitimität", „Souveränität" und „Äußere Souveränität". Nach K . bilden Souveränität und Legitimität den Schlüssel zum Verständnis fast aller Probleme der Staatslehre, es gehe bei ihnen u m die Außen- und Innenseite desselben Problems (19). Die Legitimitätsgrundlage des Verfassungsstaates liege i n der Menschenwürde (32), seine Stabilitätsbedingung sei eine genügend breite Schicht von Bürgern, die nicht Bourgeois, sondern Citoyens seien (34). A u f das Votum für „materiale Rationalität" als Legitimationsgrundlage (34 ff.) und K r i t i k an Luhmanns Auflösung der Normativität i n Faktizität (38 ff.) folgt die Entfaltung der „praktischen Vernunft" (40 ff.). K . w i l l den normativen Gehalt der als legitim geltenden Institutionen aus der Geschichte des geistigen Kampfes ermitteln, der u m ihre Begründung und Durchsetzung geführt wurde (40 f.). Das Verständnis der materialen Rationalität des Verfassungsstaates bedeute Fortschrittsbewahrung und sei darüber hinaus die Voraussetzung dafür, daß Veränderungen fortschrittlich sein können (42). Politische Vernunft ist für K . „realistisches Erkennen politischer Möglichkeiten i m Dienste der Humanität", „gute politische Theorie ist Aufklärung über die jeweiligen Realbedingungen der politischen Humanität" (42), „Offenheit für das Argument" der „Anfang der politischen Vernunft" (43). Die materiale Rationalität weist sich an konkreten verfassungsgeschichtlichen Institutionen aus: Menschenrechte, Gewaltenteilung, Öffentlichkeit, Rechtsstaat, demokratisches Prinzip (46). Nach dem „politischen Realismus" geht das „fundamentalere Interesse" vor, d. h. „das Interesse, dessen Befriedigung Voraussetzung dafür ist, daß die weiteren, höheren Interessen befriedigt werden können" (46). I m Kapitel über Souveränität (47 ff.) qualifiziert K . den inneren Frieden als fundamentale Voraussetzung für die Entwicklung und Durchsetzbarkeit eines Rechts, das die Freiheit schützt und Gerechtigkeit schafft (47). A u f die Unterscheidung der Souveränitätsbegriffe folgt die Kennzeichnung des Verfassungsstaates: m i t seinen Institutionen wie Geltung des Gesetzes, Verfassungsbindung der Staatsgewalt, Menschenrechte, Gewaltenteilung, demokratische Wahlen ist er „so sehr Ausdruck der Grundbedürfnisse" zumindest des zu geistiger K u l t u r erwachten Menschen, daß er sich weltweit verbreitet hat und sich auch dort zu behaupten vermochte, wo zunächst der Versuch, die Souveränität zu in-

14. Staatslehre als Verfassungsgeschichte

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stallieren, Erfolg hatte (63). Das führt K . zum Absolutismus vor der französischen Revolution (63 ff.); die Einsicht i n die Mängel der absolutistischen Theorie führt zum Verständnis des Verfassungsstaates der Neuzeit (66). Unter dem Stichwort „Friedensfunktion des Staatsbegriffs" (69 ff.) sieht K . den Staatsbegriff auf seine formalen Elemente reduziert. „ I n einem universalen Völkerrecht muß der Staatsbegriff ganz abstrakt sein" (69). A m Beispiel Deutschland, der Bundesrepublik und der DDR veranschaulicht K . die „politische Funktionalität des Staatsbegriffs" (74). Als Typen von Staatsbegriffen unterscheidet er den „juristischen" („pragmatisch ausgrenzend") und den „phänomenologischen", den völkerrechtlichen („wertfreien") und den postulatorischen („wertbestimmten", 81 f.). Der verhältnismäßig allgemeinste Staatsbegriff ist der des Völkerrechts (84); i h m liegt auch die Drei-Elementen-Lehre zugrunde (85). Nach K . ist die verfassunggebende Gewalt für den Verfassungsstaat die einzige souveräne Gewalt, die es gibt (87). Von der Gewalt der inter« und supranationalen Organisation unterscheidet sich die Staatsgewalt durch die Vermutung für die sachliche Aufgabenhoheit (93). Der Staat habe eine umfassende Aufgabenhoheit nur i m Rahmen der Verfassung (93). Den zweiten Teil unter dem Motto „Freiheit: Der Verfassungsstaat" eröffnet K. m i t der „logischen Stufenfolge der Probleme des Verfassungsstaates" : formaler Gesetzesstaat, materialer Rechtsstaat, Rechtswegestaat, gewaltenteilender Verfassungsstaat und parlamentarischer Verfassungsstaat (104). Die Besonderheit des deutschen Rechtsstaatsbegriffs sieht er darin, daß in ihn die Realisierungsbedingungen der Rechtsverwirklichung nicht eingegangen sind (105), die Staatsgewalt ging der Verfassung historisch und theoretisch voraus. Demgegenüber ist für den parlamentarischen Verfassungsstaat kennzeichnend: Es gilt die „rule of law and not of men", es gibt keinen Souverän, und das Naturrecht erschöpft sich nicht i m moralischen Appell an einen Souverän (106). Die parlamentarische Demokratie begreift K . geschichtlich und theoretisch aus der Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozeß der Gesetzgebung (106), den rechtlichen Fortschritt als „unendlichen Prozeß von Diskussion und Dezision" (107), den demokratischen Legitimationszirkel als ständigen Rechtfertigungsprozeß (108); Herrschaft des Volkes ist für ihn identisch m i t Herrschaft des Rechts i. S. der rule of law (109); für sie ist die Entwicklung des Rechts ein „ i n der Geschichte fortwährender und unabgeschlossener Prozeß". Nach einer Freilegung der Wurzeln des Verfassungsstaates i m England des 17. Jahrhunderts (119 ff.) wendet sich K. der „Komplexität" zu 23 V e r f a s s u n g

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(140 ff.). Niemand könne das Ganze überschauen, Fortschritt setze i n bereits bestehenden Verfassungsstaaten Bewahrung des Erreichten voraus (141) und Cokes Vermutung zugunsten der Vernünftigkeit des geltenden Hechts (144) erscheint ihm ebenso beispielhaft wie Haies These, dem Rechtsreformer sei Begründungspflicht und Argumentationslast zuzuweisen (145). Das Kapitel „Menschenrechte und Gewaltenteilung" (149 ff.) enthält die Forderung: es komme darauf an, aus den Menschenrechten Grundrechte zu machen (151). Während Amerika unter dem Motto „Verfassungsstaat ohne Gleichheit" behandelt w i r d (160 ff.), gilt Frankreich die Formel „Menschenrechte ohne Verfassungsstaat" (162 ff.). Die europäische Naturrechtsidee hätte sich als ohnmächtig erwiesen ohne das Modell des Verfassungsstaates, das Amerika beisteuerte (162). K.s Parlamentarismus-Kapitel (165 ff.) führt zu Sätzen wie: Offenheit für das Argument sei die Moral des Parlamentarismus (169), die rationalistische Theorie erhoffe sich i m aufklärerischen Sinne Verbesserung des Rechts aus besseren Gründen (170), i n Fragen der praktischen Philosophie sei der common sense oft klüger als die Theorie (179), ihren dialektischen Gang nehme die Geschichte auch ohne parlamentarische Demokratie, dann aber auf langwierigen und blutigen Wegen, der Sinn der parlamentarischen Demokratie sei es, die geschichtliche Dialektik gewissermaßen an prozessuale Regeln zu binden, die ihr Freiheit geben und zugleich ihre Friedlichkeit gewährleisten (184), ihre Fortschrittsidee beziehe sich auf die erwähnte Annäherung des Rechts an die Gerechtigkeit (186). Bedingung seien: der schon institutionalisierte Verfassungsstaat ( „ K l i m a des inneren Friedens") und die Bewahrung des schon Erreichten (186). I n der freien geistigen Auseinandersetzung habe das bessere Argument eine „etwas bessere Chance" (187). I m großen und ganzen behalte die Wahrheit doch einen Überschuß an Überzeugungsfähigkeit, das Verfahren erhöhe die Chance der Vernunft (189). Das Kapitel „Verfassungsstaat und Wirtschaftsfreiheit" (194 ff.) gipfelt i n den Thesen: der innere Zusammenhang von Marktwirtschaft und Verfassungsstaat bestehe lediglich darin, daß der Verfassungsstaat in dreierlei Hinsicht günstige Bedingungen für die Marktwirtschaft schaffe : Rechtssicherheit, parlamentarischer Einfluß und die Gewährleistung bestimmter Freiheiten, insbesondere des Eigentums (195), der Verfassungsstaat schütze die persönliche Freiheit um der Menschenwürde, nicht um der Marktwirtschaft willen (169), i m Planwirtschaftssystem sei die W i r t schaft nicht für den Menschen, sondern dieser für die Wirtschaft da, was die Aufhebung der Menschenwürde bedeute (200), in Zukunft werde die den Verfassungsliberalismus zerreibende Polarisierung zwischen Besitzindividualismus und Marxismus zum wichtigsten Problem werden (205), die besitzindividualistische Korrumpierung der Marktwirtschaft habe da-

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zu geführt, daß die wirtschaftliche Macht ζ. T. mächtiger geworden ist als die staatliche Macht (209). Besitzindividualisten und Marxisten bringt K. auf den gemeinsamen Nenner: nicht Wirtschaft i m Rahmen der Verfassung, sondern Verfassung im Rahmen des Wirtschaftssystems (221). Der dritte Teil „Gerechtigkeit: Der Verfassungsstaat" entfaltet sich i n den Kapiteln „Volkssouveränität", „Volkssouveränität und Identität am Beispiel der zwei französischen Revolutionen 1789 und 1792", „Staat und Gesellschaft i n Deutschland", „Demokratie und Freiheit". K. beginnt m i t den Sätzen: „ N u r wo die Freiheit auf Menschenrechten und nicht nur auf Toleranz beruht, kann es Demokratie geben" (224), und weiter: „Der Verfassungsstaat ist nur eine notwendige, keineswegs eine hinreichende Bedingung der Demokratie", aber: „ohne Verfassungsstaat keine Demokratie" (227). K. stellt — unbeschadet vieler Varianten — zwei Grundmodelle („Idealtypen") der Demokratie vor: den demokratischen Verfassungsstaat und die „Souveränitätsdemokratie" (228 ff.), diese beruht auf dem Ideal der „Identität von Herrschenden und Beherrschten", jener ist der parlamentarische Verfassungsstaat, der demokratisiert worden ist durch Ergänzung des Prinzips der Freiheit durch das der Gleichheit: „die Realbedingungen der Freiheit solle jedem gleich zugute kommen". K . rechtfertigt seine Definition des Demokratiebegriffs („Demokratie setzt Freiheit und deshalb den Verfassungsstaat voraus") m i t Volksherrschaft, m i t der naturrechtlichen Tradition, d. h. dem Zusammenhang zwischen Demokratie, Freiheit und Menschenwürde, und der „Verfassungsgeschichte": Englands und Amerikas Demokratie auf dem Boden der rule of law bzw. 1789 auf dem der Menschenrechte (232). Erst m i t dem demokratischen Verfassungsstaat seien die Realisierungsbedingungen für den Anspruch geschaffen, daß die Ausübung der Staatsgewalt i m Interesse des Volkes erfolgen kann (242). Das Prinzip der Volkssouveränität sei eine „politische Tatsache", die verfassungsrechtlich anerkannt wird, aber kein Rechtsprinzip (287). Zum verfassungsstaatlichen Denken gehöre es, dieses Prinzip möglichst auch aus dem Bewußtsein zu verdrängen (-288). Staat und Gesellschaft in Deutschland behandelt K. unter den Stichworten (292 ff.): Verspätung des demokratischen Verfassungsstaates, die konservative Gegenbewegung, Demütigung des demokratischen Liberalismus, Staat gegen Verfassungsstaat. Er wendet sich gegen die „konservative Staatskonzeption" (Forsthoff s, 311) und befürchtet, daß eine Theorie, die den Staat vom Verfassungsrecht ablöse, unabsichtlich i n eine Tendenz führe, die die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates erschüttern könne (315). — I m Schlußkapitel „Demokratie und Freiheit" (318 ff.) spricht sich K. gegen Leibholz' „Prinzipiengegensatz" von Parlamentarismus und Demokratie und für Gleichheit als 23*

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„Konsequenz" der Freiheit aus, er legitimiert die Forderung, die Identität von Plädierenden und Entscheidenden vom Parlament auf die Wählerschaft auszudehnen (327), sieht i m Sozialstaatsprinzip eine Korrektur i m Interesse der „Freiheitsbegründung durch Gleichheit" (334) und setzt Grundrechte und Demokratie i n ein Verhältnis „wechselseitiger Bedingtheit" (335) — unter Hinweis auf die klassische „Einheit von Demokratie und Rule of L a w " (336). III. Zur Kritik: 1. K . gestaltet seine — zu bescheiden — „Einführung i n die Staatslehre" titulierte Wissenschaft theoretisch und praktisch weitgehend als Verfassungsgeschichte. Das zeigen die Äußerung, es gelte die Institutionen bis zu ihrer geschichtlichen Wurzel zurückzuverfolgen (11) 1β , seine Frage, was lehrt die geschichtliche Erfahrung über Sinn, Bewährung, Stabilität oder Gefährdung dieser Institutionen? (12, s. auch 40 f.), und die Forderung, das i n der Verfassungsgeschichte schon Erreichte dürfe nicht gefährdet werden (16) 17 . Dieser spezifisch verfassungsgeschichtliche 1 8 Ansatz führt zu gewissen Verengungen und verschließt manche (Denk-)Möglichkeiten. Im einzelnen: K. vermittelt wie kaum eine Staatslehre vor i h m die hart erkämpften Errungenschaften des westlichen Verfassungsstaates bewußt als Erfahrungen 1 9 aus der Geschichte. So kann i h m ζ. B. i n der Betonung der Unverzichtbarkeit des inneren Friedens nur zugestimmt werden (47 ff.). Staatslehre ist insofern (leidvolle) Erfahrungswissenschaft. Sie ist verfassungsgeschichtliche Retrospektive — mit dem Aspekt der Prospektive 20 . 16 s. auch 259: Wenn man die Begriffe der allgemeinen Staatslehre an ihrem geschichtlichen Ursprung verortet, so können sie ihre Abstraktheit und Befremdlichkeit verlieren und Leben gewinnen. 17 s. auch 195: „verfassungsgeschichtlicher Fortschrittsaspekt", 186: das Recht in den westlichen Verfassungsstaaten enthält heute unvergleichlich viel mehr Vernunft, als jeder einzelne aufzubringen vermag, 312: Warnung vor Forsthoff s „Rückfall hinter ein bereits erreichtes geschichtliches Niveau des Verfassungsbewußtseins". 18 — keineswegs bloß geistesgeschichtliche Ansatz, s. 12: Der demokratische Verfassungsstaat schafft die verhältnismäßig günstigsten Realbedingungen für inneren Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, 42: Realbedingungen der politischen Humanität, 171: Vernünftige Gründe sind niemals abstrakt, sondern immer bezogen auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. 19 S. 46: „Erst wenn wir einen Zeitraum von einigen hundert Jahren der Geschichte des modernen Staates überblicken, erkennen wir den Zuwachs an Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit." 20 ζ. B. 66: Dieser Weg zur Erklärung des Verfassungsstaates (durch Einsicht in die Mängel der absolutistischen Theorie) bedeutet zugleich eine Nachzeich-

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Lebt die Staatslehre jedoch so stark wie bei K . 2 1 von der Geschichte, so hat das auch Nachteile: bestimmte Problemfelder der Gegenwart und noch mehr der Zukunft bleiben vernachlässigt. So ist es kein Zufall, daß K. nur wenige neue Infragestellungen der Verfassungs- bzw. Staatslehre oder neue Fragestellungen der Staatslehre nennt: aus der Wirtschaft als Grundproblem ζ. B. die Aufgabe (14), Institutionen zu schaffen, die einerseits mächtig genug sind, die Gemeinschaftsinteressen gegenüber den mächtigen gesellschaftlichen Verbänden, ζ. B. gegenüber multinationalen Konzernen und Gewerkschaften, durchzusetzen, und die andererseits die Verfassungsinstitutionen, die die Freiheit und Demokratie gewährleisten, unangetastet lassen. K. thematisiert „Verfassungsreform" abstrakt ebenso (11) wie die Frage nach „Realalternativen" (12) 22 . M. a. W.: Staatslehre als (Verfassungs-)Geschichtswissenschaft (einschließlich der Klassikerzitate) ja, aber sie ist auch Zukunftswissenschaft 23 . Auch (konkrete) Staatsutopien gehören zur Geschichte des Verfassungsstaates. K. läßt sie weitgehend aus 24 . Sie thematisieren Möglichkeiten und erklären sich aus geschichtlichen Situationen. Die staats- und verfassungstheoretische Relevanz von Utopien besteht i n doppelter Hinsicht: negativ als Kontrastprogramm, positiv als Herausforderung für Verfassungsreformen. Nicht nur „Fehldeutungen" können in die politische Wirklichkeit ausstrahlen (238), auch Deutungen, über deren Fehlerhaftigkeit heute noch nichts ausgesagt werden kann 2 5 . Auch Utopien können geschichtliche Wirklichkeit (re)produzieren. Es geht um Modelle des verfassungstheoretisch und -praktisch Möglichen. Bedarf es nicht des philosophischen Sprungs „aus der und über die Geschichte", gerade dann, wenn man ihren Verlauf für offen hält? Die Geschichte — besonders der und i n freiheitlichen Gemeinwesen — ist nur eine Möglichkeit, freilich eine machtvolle. Sie liefert n u r Beispiele 2e, nicht mehr und nicht weniger, d. h. konkret: Geschichte ist nicht nung der in der Geschichte der Neuzeit tatsächlich gewonnenen Erfahrungen; 275: Aber wenn wir nicht nur Geschichte zur Kenntnis nehmen, sondern im Rahmen der Staatslehre Erfahrungen verarbeiten und Lehren für die praktische Politik aus ihnen ziehen wollen. 21 Trotz der Äußerung (13): „Aber die Staatslehre ist nicht Verfassungsgeschichte." 22 Treffend 275: Beiahung des Sinns der „rein gedanklichen Frage", „welche Chancen bestanden haben und welche Wendung die Dinge hätten nehmen können, wenn mehr Klugheit gewaltet hätte". 23 Dazu mein Beitrag in: AöR 98 (1973), S. 119 (130 f.). Für die Dogmatik des Verwaltungsrechts vgl. Brohm, V V D S t R L 30 (1972), S. 245 (251). 24 s. aber 137, 254: Kritik am „konservativen" oder „etatistischen Utopismus". 25 Zur self-fulfilling prophecy: Suhr, a.a.O., S. 227 ff.; dazu mein Beitrag in: Rechtstheorie 7 (1976), S. 77 (85 ff.). 26 s. aber N. Hartmann, Wirklichkeit und Möglichkeit, 1938, dazu K., 275.

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der einzige Nachweis für die „Richtigkeit" von Kategorien, Elementen und (In-)Fragestellungen der Staatslehre. Die Möglichkeiten und die Wirklichkeit von morgen kommen nicht ins Blickfeld bei bloß geschichtlichem Ansatz. Staatslehre ist gewiß Wirklichkeitswissenschaft i. S. Hellers 27 , aber zum einen w i r d die Wirklichkeit immer wieder eine andere, zum anderen bedarf es der Einbeziehung der Dimensionen des Möglichen — der Alternativen — in die wissenschaftliche Betrachtung 28 : Staatslehre als Wissenschaft vom Möglichen, vom Wirklichen und Notwendigen. Wirklichkeit und Geschichte sind nicht das Maß aller Dinge 2 9 . Theoretische Modellbildung und Typenkonstituierung bleiben unverzichtbar, so sehr an der Wirklichkeit kontrolliert werden muß. Die Verfassungs-Geschichte ist gewiß das vielzitierte „Schatzhaus" — aber es gibt auch neue Währungen! Die Bedingungen der Veränderung von Währungen, deren Maßstäbe usw. lassen sich nicht allein vom Schatzhaus der Geschichte aus ermitteln: es bedarf auch der „Philosophie": ggf. gegen die Geschichte. M. a. W. die „Richtigkeit" des Geschichtsverlaufs muß stärker als bei K. (und nicht nur aus der Perspektive des westlichen Verfassungsstaates) i n Frage gestellt werden. Rationalität aus der Geschichte?80 K. scheint die Vernunft i n der Geschichte gelegentlich zu überschätzen. Verfassungs- bzw. Staatslehre hätte sich ein „System" zu erarbeiten, das auch Distanz zur Geschichte ermöglicht 3 1 , so schwer dies ist. Die Geschichte ist nur Beispielmaterial für „gute" Staaten bzw. Verfassungen und entsprechende Staats- bzw. Verfassungslehren. Entsprechendes gilt für das konkrete Verfassungsrecht einzelner westlicher Staaten und die zugehörigen Staats- und Verfassungslehren, die als Beispiele eines T y pus, nicht als dieser selbst genommen werden dürfen. Der Geschichtsverlauf ist zu diffus und „sinnlos" 3 2 , positiv gewendet: zu offen, als daß er zum Fortschritt stilisiert werden könnte. Die Präponderanz des Verfassungsgeschichtlichen nimmt den Blick für Verîassungs-Môglichkeiten und -Alternativen, die gerade auch K. 27 Zurückhaltend aber wohl K., 17, bei klarer Betonung des Realitätsbezugs von Staatslehre, ζ. B. 171. 28 Zur Tradition und zu den Chancen des Möglichkeitsdenkens mein Beitrag in AöR 102 (1977), S. 27 ff. 29 s. für die Wirklichkeit die Formel von J. H. Kaiser, Art. Staatslehre, Staatslexikon, V I I (1962), Sp. 590 (603). 30 Dazu meine Fragen an Stolleis, Gemeinwohlformeln im NS-Recht, 1974, in: AöR 101 (1976), S. 292 (293 ff.). 31 s. aber M. Bloch, Apologie der Geschichte oder Der Beruf des Historikers, 1974. 32 s. noch Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I I , 3. Aufl. 1973, S. 320 ff., 333 ff.

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braucht, weil er m i t großem Recht die Offenheit für Reformen so stark betont 3 3 . So behutsam „neue Ufer" i m Wege von trial and error anzusteuern sind, so klar müssen sie entdeckt werden können! Verfassungspolitik ist ein Grundsatzthema der Verfassungslehre. Deshalb kann Verfassungslehre auch mehr von der Politikwissenschaft übernehmen, als K . meint (17). Eine — gewisse — Relativierung 3 4 der Verfassungsgeschichte ist darum unvermeidlich. Von welchen — vorläufigen — „nautischen Positionen" 35 aus und i n welchen Formen w i r d sie möglich? Sicher auch von der Verfassungsvergleichung her, wobei Verfassungsgeschichte Verfassungsvergleichung i n der geschichtlichen Dimension ist, i m Grunde jedoch von der Wissenschaftstheorie (als Gesellschaftstheorie) aus. Sie kann die von K. i m Auge behaltene Folgen- oder Kostenfrage i. S. Poppers beantworten 3 6 . Vieles deutet darauf hin, daß Verfassungslehre durch den kritischen Rationalismus entfaltet werden kann: i m einzelnen, ζ. B. i m Interpretationsvorgang 37 , bei der Gewaltenteilung zwischen Staat und Wirtschaft (314) und „innerhalb" der Wirtschaft (Gewaltenteilung i. w. S.), aber auch i m ganzen: Politik als Stückwerk-Reformpolitik. Als Möglichkeitswissenschaft und als „Verfassungsvernunft" 38 müßte sie gleich dem Sachverständigenrat zur Begutachtung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts begrenzt Prognosen stellen und Alternativrechnungen durchführen können. „Staat" w i r d dann zur res publica, die optimale Bedingungen für die Offenheit des Geschichtsverlaufs und damit für die Freiheit des Menschen gewährleistet — m i t sich steigernder Außenwirkung i n dem Maße, wie der Typ dieses freien Gemeinwesens auch i n der Völkerrechtsgemeinschaft attraktiv w i r d 3 9 . Der demokratisch verfaßte Staat ist das vorläufige, relativ beste Ergebnis und ein Garant dieses Geschichtsverlaufs. Auch kann der kritische Rationalismus die Völkerrechtsgemeinschaft zu 33 s. 131: „Konkrete geschichtliche Herausforderungen" Rechtsänderungsvorschläge", s. auch 145.

für

„praktische

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s. 171: „reformerische Rechtspolitik", 338: trial and error. Vgl. K., 108 für den politischen Meinungskampf. 36 Vgl. 146: Verantwortung des politischen Theoretikers für die voraussehbaren praktischen Auswirkungen seiner Theorie. 37 Dazu P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. — s. auch K., 185: „Alle geistigen und politischen Strömungen in der Geschichte nehmen an der politischen Debatte teil", 239 : Selbstbehauptung des demokratischen Verfassungsstaats verlangt, daß ihn eine genügend breite Schicht von Bürgern zutreffend interpretiert. 35

38 Dazu mein Beitrag in: AöR 99 (1974), S. 437 ff. (452); s. auch K., 186: Ansammlung von „Vernunftpotential". 39 s. K.'s Votum für ein „System globaler Kooperation" (13).

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Menschenrechten führen und damit Öffnungen schaffen. Bürger- und Menschenrechte nähern sich an. Unverzichtbar w i r d das Menschenrecht auf Auswanderung. A u f lange Sicht könnte die Schizophrenie der Verfassungsstaatslehre überwunden werden. Sie besteht darin, daß sie zwei Staatsbegriffe hat: einen „für sich" und einen für das Völkerrecht 4 0 .

2. In der Sache sind hier nur punktuelle Anmerkungen möglich. a) Soweit Grund zu Fehlanzeigen besteht, resultieren sie meist aus den methodischen Prämissen K.s: so hätte man sich eine über die USA, Frankreich und England hinausreichende systematische Verarbeitung von Verfassungstexten bzw. -prinzipien gewünscht. „Dialektik" läßt K. allzu abstrakt stehen (trotz 184)41. Das Verhältnis von „Staatsrecht und Verfassungslehre" ist nicht voll geklärt, gelegentlich geht K.s Staatslehre unvermittelt ins konkrete Staatsrecht über (ζ. B. 318 ff, 335 ff.). Das Problem Wirtschaft ist zwar bemerkenswert thematisiert 4 2 , doch w i r d es nicht „frontal" m i t neuen Lösungen i n Angriff genommen, nämlich als Konstitutionalisierung der wirtschaftlichen Macht ζ. B. durch Gewaltenteilung i. w. S., Präzisierung der Aufgaben der Wirtschaft usw. 4 3 . Zwar w i r d das Staat/Gesellschafts-Problem behandelt (309 ff.) 44 , aber die praktische Ausbeute bleibt relativ gering 45 . Nicht i n Angriff genommen ist das Problem der Konstitutionalisierung der Gesellschaft 46 . Die geforderte „demokratische Begriffsreinigung" der Redewendung „Staat und Gesellschaft" w i r d nur fragméntarisch durchgeführt (309). 40 s. auch K. y der im Völkerrecht den Staatsbegriff der Drei-ElementenLehre bejaht (85). 41 S. 181: Dialektisch: „eingebunden in den Prozeß der geschichtlichen Auseinandersetzung", 184: Dialektik durch „Großräumigkeit und Langfristigkeit des Bewegungsvorgangs der Vernunft in der Geschichte", 324: „Vernunft ist ihrem Wesen nach dialektisch und kann sich nicht anders verwirklichen als durch Parteien und Parteienkampf". 42 s. das große Kapitel Verfassungsstaat und Wirtschaftsfreiheit, 194 ff., die Kritik an den Versuchen, das Modell des wirtschaftlichen Wettbewerbs auf die politische Auseinandersetzung zu übertragen (178 ff.). 43 Ansätze: 200, 314, wohl auch 203, 221: „Wirtschaft im Rahmen der Verfassung". Zum Verteilungskampf: 14. 44 Fragwürdig: 309: „Auch in unserer Verfassungsordnung ist es sinnvoll, zu sagen, daß der Staat — als das Gesamt der Staatsorgane und des Staatsrechts — gegenüber der Gesellschaft souverän sein müsse, wenn er seine Funktion erfüllen und sich durchsetzen solle". 45 s. aber die Überlegungen zu Pressekonzentration (192 f., 339 f.) und zu einem realistischen Grundrechtsverständnis (161: Schaffung der realen Voraussetzungen für die Freiheit eines jeden). 48 Dazu P. Häberle, Staatskirchenrecht als Religionsrecht der verfaßten Gesellschaft, DÖV 1976, S. 73 (78 f.).

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Fraglich ist, ob und wie K. das Naturrecht i n den Prozeß von „ t r i a l and error" (338) einbeziehen kann bzw. w i l l 4 7 . Gibt es von i h m aus „neues Naturrecht" als „Fortschritt der Vernunft" (254)?48 Und: Was ist Gerechtigkeit, letztlich der archimedische Punkt von K.s Staatslehre (ζ. B. 310)? Ist die von K. erhoffte gerechte Entscheidung als „unparteiische A b wägung von Interessen" möglich (320, anders 324)? Überhaupt stellt sich die Frage, wie weit die Deutung des parlamentarischen Systems als „Übertragung des juristischen Prozesses auf den politischen Prozeß der Gesetzgebung" trägt (106 ff., 319 ff., 340). Ist politische (und Verfassungs-)Geschichte einem juristischen Prozeß vergleichbar? (so etwa 41 ff., 319 f.). Analogien stoßen hier doch wohl auf Grenzen. K.s Gewichtungen sind unterschiedlich: klassische Kapitel und Themen der Staatslehre wie Utopien, die Lehre von den Staatsverbindungen fehlen, dagegen finden sich gute Kapitel über Ideologien (172 ff.), Parlamentarismus und neue Überlegungen zum dialektischen Diskussionsbegriff (181 ff.). Problematisch ist die Behandlung des Problems der Souveränität. Nach K. (87, 111 ff.) ist die verfassunggebende Gewalt für den Verfassungsstaat die einzige souveräne Gewalt, die es gibt. Innerhalb des Verfassungsstaates gibt es keinen Souverän. Verfassunggebende Gewalt und verfaßte Gewalt lassen sich jedoch nicht so scharf trennen, wie K. annimmt (113)49. Die Souveränität des Volkes verwirklicht sich i n ständiger, detaillierter, tagtäglicher Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung und i n den darin liegenden Entwicklungen der Verfassung 50 . Und: Die verfassunggebende Gewalt ist nicht so „souverän", wie dies die auf dem Umbruch von 1789 entwickelte Theorie glauben machen möchte. Westliche Kulturstaaten jedenfalls sind durch republikanische Tradition und Menschenrechte auf einem Standard, der die 47 S. 329 : Annäherung des positiven Rechts an das Naturrecht, 184: Naturrecht nicht als „feststehender Normenkomplex", sondern als „geschichtlicher Prozeß dialektischer Rechtfertigung, die die relativ größte Chance zur Verwirklichung der Gerechtigkeit im positiven Recht eröffnet". 48 S. 336: „Aber die Freiheit wurde immer auch als grundlegende Voraussetzung für die Verwirklichung des Naturrechts im offenen politischen Prozeß verstanden." s. auch 186, 242: „Annäherung" des Rechts an die Gerechtigkeit, 191: „dialektisches Naturrechtsverständnis, das dem Parlamentarismus zugrunde liegt" ; s. auch 332. 49 s. schon die von E. Kaufmann widerlegte Unterscheidung zwischen Substanz bzw. Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt (in: Ges. Schriften I I I [1960], S. 51); s. aber K., 225, 261, 300. 50 Zum ganzen: meine Bespr. von Steiner, in: AöR 94 (1969), S. 479 (483 ff.). Anders K., 226: „Die demokratische Souveränität ruht, solange der Verfassungsstaat besteht"; s. auch 292.

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

souveräne verfassunggebende Gewalt bindet, ja weitgehend determiniert 5 1 . b) Die positive Ausbeute ist groß: Die Ausführungen zu Hobbes dürften zur klassischen Hobbes-Interpretation werden (61 f., 123 ff., 133 ff.); sie sind nicht nur „geistesgeschichtliche" Darstellung. Die K r i t i k an C. Schmitt bzw. an dessen Parlamentarismuskritik (166 ff.) und an Forsthoff s redlichem Etatismus (311 ff.) ist vorbildlich i n wissenschaftlicher Fairneß und sachlicher Überzeugungskraft 52 . Die Kapitel zur englischen Verfassungsgeschichte sind brillant (119 ff., bes. 120 ff.); faszinierend ist auch die Darstellung der zwei französischen Revolutionen von 1789 und 1792 (259 ff.). Entsprechendes gilt für die Revolution von 1848 (303 ff.): die einzige Revolution, die uns Deutschen hätte gelingen müssen! Hingewiesen sei auch auf die Abschnitte zur Korrumpierung des Verfassungsstaates durch den Besitzindividualismus am Beispiel der US-Verfassung (210 ff.). Erwähnt sei der geglückte, aber nicht weiter ausgebaute Begriff der „evolutionären Verfassungsänderung" (256) und die Integrierung der politischen Parteien i n den Parlamentarismus 53 . Gut ist die Formalisierung des Staatsbegriffs zum Völkerrecht hin 5 4 , herausragend das Plädoyer für den Parlamentarismus (ζ. B. 184 ff.), so sehr dessen Mängel stärker hätten beim Namen genannt werden müssen; praktisch kann eben nicht jeder den korrigierenden Prozeß der parlamentarischen Gesetzgebung i n Gang bringen (vgl. 320). Trefflich ist die Auseinandersetzung m i t dem Marxismus (220 ff.) und die K r i t i k an der Rätedemokratie (247 ff.), vorbildlich das Engagement für die Menschenrechte 55 , insbesondere für das Recht auf Emigration (232, 200, 237), und die Freiheit 51

s. den überholten Souveränitätsbegriff bei K. 280 : „Souverän i s t , . . . wer über das Recht disponieren und es durchbrechen kann". Dagegen unter Hinweis auf Haenel mein Beitrag in AöR 92 (1967), S. 259 (262, 267). K. 288: „ . . . gehört es zum verfassungsstaatlichen Denken, das Prinzip der Volkssouveränität möglichst aus dem Bewußtsein zu verdrängen". 52 Zu Forsthoff mein Beitrag in: JZ 1975, S. 685 ff. 53 s. 321: Parteien als die „logische Evolution der dem Parlamentarismus immanenten Prinzipien", 327: „Der Parteienkampf gehört zum Wesen des Parlamentarismus". 54 s. 100: „Der Staatsbegriff muß von allen Legitimitäts- und Verfassungsfragen frei bleiben", u. a. deshalb, weil jeder postulatorische Staatsbegriff die Universalität des Völkerrechts bedroht (101). — Nur ist die Frage, ob im Interesse der Entwicklung des Völkerrechts (UNO-Charta) materiale Momente ins Spiel gebracht werden (müssen). Freilich stellt sich damit die alte Frage neu, ob eine Staatslehre mit zwei Staatsbegriffen operieren darf, einem verfassungsstaatlichen und einem völkerrechtlichen. 55 s. 111: „daß sich die Staatsgewalt als menschenrechtsschützende Gewalt definiert", 118: „Menschenrechte und Verfassungsstaat bedingen sich wechselseitig".

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und Gleichheit verbindende Grundrechtssicht (332 ff.) . Damit stellt sich die Aufgabe der Aktualisierung der Menschenrechte in der Ausländerpolitik 5 7 . I n all diesen Zusammenhängen kann K. als Anwalt, Politiker und Jurist „plädieren". Er könnte sich wissenschafts- und demokratietheoretisch absichern durch Popper, der ja auf dem Hintergrund angelsächsischer Erfahrung geschrieben hat. Die Wichtigkeit von Konventionairegeln (191 ff.), „Grundregeln der politischen und gesellschaftlichen Sittlichkeit, nicht des Rechts" (193) betont K. m i t guten Gründen. Überhaupt sind politische K u l t u r und Bürgerethik im demokratischen Verfassungsstaat jetzt wieder ins Blickfeld gerückt. Bürgerethik sollte — mit allen Konsequenzen für den Erziehungsauftrag des Staates, das Ehrenamt 58 , für Ehrenpflichten und Grundpflichten 5 9 (auch des parlamentarischen Ehrenkodex), die verfassungstheoretische Fundierung der Sozialethik und Toleranz im Verhältnis von Bürgern und Gruppen untereinander (gesellschaftliche, nicht nur staatliche Toleranz) — zu einem Thema der Verfassungslehre werden 6 0 : nicht als — vorbelastete — „Staatsethik", sondern als Verfassungsethik, nicht als Tugend des Staates, sondern als Tugend des Demokratiebürgers. I m ganzen: Eine Staatslehre (genauer: Verfassungslehre) von hohem wissenschaftlichem Rang, die von der Veriassungsgeschichte lebt, was in systematischer Hinsicht und für Gegenwartsbezug und Zukunftseignung Grenzen indiziert. Man möchte dem Buch von K. eine zweite Auflage wünschen: auf der Grundlage des hohen Standards der ersten und angesichts der möglichen und notwendigen Verbesserungen i n Richtung auf eine noch stärker typologisch gearbeitete Verfassungslehre.

56 s. die Kritik an H. H. Klein und an dessen Freiheit und Demokratie antinomisch sehendem Grundrechtsverständnis (335 f.). 57 Zustimmung verdient die These (118), für die Wirksamkeit der Menschenrechte sei die richterliche Unabhängigkeit wichtiger als der verfassungsrechtliche Grundrechtskatalog. 58 Zum demokratischen Amtsethos, K., 241 ff. •r'9 Dazu zuletzt H. H. Klein, in: Der Staat 13 (1974), S. 153 ff. fi0 Vgl. jetzt BVerfGE 41, 29 (51 f.), 65 (78, 83), 88 (108).

15. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität* I. 1. Die Souveränität ist ein Begriff, dessen Vergangenheit noch nicht bewältigt ist und dessen Gegenwart und Zukunft nur wenig erschlossen sind. Ein „vieux fétiche", die „radix malorum", ein „Popanz", die Häresie unserer Zeit, obrigkeitsstaatliches Überbleibsel, antiquierter Begriff, der möglichst zu eliminieren, wenn nicht gar schon tot sei, dogmatisch unergiebig, vieldeutig — das ist die Souveränität den einen; den anderen bedeutet sie das Fundament staatstheoretischen Ansatzes und ein „völkerrechtlicher Strukturbegriff" ersten Hanges, der das Miteinander weltanschaulich verschiedenartiger Staaten ermöglicht. Apologie und K r i t i k der Souveränität werden von den unterschiedlichsten Denkansätzen aus unternommen. I m Europa der letzten Jahrhunderte war Souveränität der Leitbegriff des öffentlichen Rechts überhaupt 1 . Speziell das Völkerrecht war „Zwischensouveränitätsrecht" (Jahrreiß). I n der Weimarer Zeit gehörte die Souveränität zu jenen Begriffen, an denen sich der Grundlagenstreit i n besonderem Maße entzündete. Besonders A r tikel 48 WRV gewann damals große politische Brisanz. Für die deutsche Rechtswissenschaft ist es typisch, daß sie zwischen den Extremen der Übersteigerung eines formalistischen Souveränitätsbegriffs zu formaler Allmacht und seiner grundsätzlichen Ablehnung schwankte 2 . — In der Gegenwart bietet sich ein anderes Bild. 1951 konstatiert Hennis 3 ein Schweigen der heutigen Staatswissenschaft auf die gegenwärtige Infragestellung der Souveränität. I n der Tat: Die Souveränitätsproblematik w i r d nur punktuell, weniger polemisch aufgenommen und lediglich i m Zusammenhang m i t Einzelfragen erörtert: ζ. B. i m Staatskirchenrecht, wo die Frage von Kirche und Staat als den „Zwei Souverä* AöR 92 (1967), S. 259 - 287 mit Nachtrag (1978). * Zugleich Besprechung von Werner von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart. Berlin: Duncker & Humblot, 1965, 275 S. 1 Ophüls, Staatshoheit und Gemeinschaftshoheit, in: Recht im Wandel, 1965, S. 519 (520). 2 Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgeselz, ZevKR 1 (1951), S. 4 ff. (12); Hennis , Das Problem der Souveränität, Diss. iur. Göttingen 1951, S. 5 f. kennzeichnet die deutsche Wissenschaftsgeschichte des Souveränitätsbegriffs durch einen „Mangel an Mitte". 3 a.a.O., S. 86, 56.

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nitäten" offen oder versteckt eine Rolle spielt: bei der Bestimmung des für alle geltenden Gesetzes bzw. der Frage, ob die staatlichen Gerichte über die „Souveränitätsgrenze" gegenüber den Kirchen aus eigenem Recht entscheiden 5 , oder i n dem Streit darüber, ob kirchliche Gewalt originär öffentliche Gewalt ist. Andere Problembereiche, i n denen Fragen der Souveränität diskutiert werden, finden sich i m europäischen Gemeinschaftsrecht. Hier w i r d etwa auf Seiten der Gemeinschaft eine „Souveränitätsanreicherung" 6 oder neben der staatlichen Souveränität die Gemeinschaftshoheit beobachtet, die originärer Natur sei 7 . Auch stellt sich die Frage, ob „Supranationalität" sozusagen ein Zerfallsprodukt der Souveränität oder Ausdruck ihres geschichtlichen Wandels ist. Ipsen 8 hat die lex posterior-Regel als ein Instrument zur Entwicklung der Souveränität des modernen Staates erkannt und hinzugefügt, der zur Vergemeinschaftung bereite Staat (Art. 24 Abs. 1 GG) gebe das Instrument dieser Regel wieder aus der Hand, soweit und indem er i n der H i n nahme qualitativ andersartiger Gemeinschaftsnormsetzung für sein Gebiet seine Souveränität aus eigener Entschließung wieder „einschränke". Mag diese Sicht auch nicht ganz von dem „klassischen" Souveränitätsdogma frei sein, dem als Einschränkung der Souveränität erscheint, was mindestens heute eher ihre Bedingung und Verwirklichung ist. Sie macht jedenfalls den Weg dafür frei, die Souveränität i n ihrer geschichtlichen Bedingtheit und zugleich die verschiedenen Phasen und Stufen ihrer Entwicklung zu sehen. Sie ermöglicht, einzelne Rechtsinstitute, die sich i n historischen Konflikten gebildet haben, angesichts veränderter problemorientierter Fragestellung neu zu überdenken. Was von einem „klassischen", abstrakt definierten Souveränitätsbegriff aus — er war 4

Als ob es angemessen wäre, der Kirche „Souveränität" zuzusprechen. Grundmann, Das Bundesverfassungsgericht und das Staatskirchenrecht^ JZ 1966, S. 81 ff. (86). — Zur Souveränitätsproblematik im Verhältnis von Staat und Kirche bes. Quaritsch, Kirchen und Staat, in: Der Staat 1 (1962), S. 175 ff. (188 ff.), 289 ff. (298, 317 ff.), freilich von einem hier nicht geteilten Ansatz aus. bei dem Souveränität vor allem als Konfliktsbegriff auf die Frage nach dem „letzten Wort" reduziert wird, wobei das Denken in den Kategorien von Subordination, Entscheidung des souveränen Volkes, von Befehl und Zwang, Herrschaft und Gewalt naturgemäß im Vordergrund steht. 6 So Pernthaler, Bespr. von Koppensteiner, Die europäische Integration und das Souveränitätsproblem, 1963, in: österr. Z. f. öff. Recht, Bd. X V I , 1966, S. 200 (201). 7 Ophüls, a.a.O., S. 555, 583 Anm. 184. Für die originäre Natur der Hoheitsgewalt und Rechtsordnung der Europ. Gemeinschaften schon J. H. Kaiser, Zur gegenwärtigen Differenzierung von Staat und Recht, österr. Z. f. öff. Recht, Bd. X , 1959/60, S. 413 ff. (420). Zu den Schwierigkeiten, die sich bei der Einordnung der Europ. Gemeinschaften in die Souveränitätslehren ergeben H. Wagner, Grundbegriffe des Beschlußrechts der Europ. Gemeinschaften, 1965, S. 48 ff. (54, 56 ff., 66). 8 Das Verhältnis des Rechts der europäischen Gemeinschaften zum nationalen Recht, in: Aktuelle Fragen des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1965, S. 1 ff. (25 f.). 5

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stark am monarchischen Einheitsstaat der europäischen „großen" Mächte orientiert — als Einschränkung, Demontage oder partielle Auflösung erscheinen mag®, erweist sich so als geschichtlicher, inhaltlicher Wandel eines strukturell offenen Begriffs, der nur als solcher eine praktische Funktion haben kann. Auch hier ist es verhängnisvoll, bestimmten I n stituten und rechtlichen „Begriffen" Klassizität beizulegen, der gegenüber geschichtlicher Wandel bestenfalls zur Adaption und zu Randkorrekturen nötig, schlimmstenfalls als Krise und Verfall beklagt wird. Gerade angesichts der Probleme des A r t . 24 G G 1 0 erscheint es wenig sinnvoll, einen klassischen, „reinen" Souveränitätsbegriff 1 1 fortzuführen, der nur unter dem Druck eines allenthalben beobachteten Abbaus von Staatlichkeit nachträglich und notgedrungen korrigiert wird. I n der Pluralismusdiskussion und beim Problem der Subsidiarität 1 2 schließlich ist heute die Souveränität ebenfalls aktuell. Es ist nicht nur Zufall, daß angesichts der bisher nur punktuell wieder aufgerollten Problematik der Souveränität i n Lexikon-Artikeln und manchen Monographien viele Fragen eher unbesehen fortgeschleppt, denn problemorientiert neu gestellt werden. Das gilt etwa für die äußerliche (dualistische) Gegenüberstellung der staatsrechtlichen, „subordinationsrechtlichen" Seite (Souveränität als höchste Gewalt nach innen, als Herrschaft über das Recht) und der völkerrechtlichen, „koordinationsrechtlichen" Seite des Souveränitätsbegriffs 13 (Souveränität als Unabhängigkeit nach außen); es gilt für die Frage nach dem Subjekt oder „Träger" der Souveränität 14 , nach der Souveränität als „Eigenschaft" der Staatsgewalt 15 , wobei das Verhältnis zur Staatselementenlehre iso9

I m Völkerrecht wurde die Souveränität im 19. Jahrhundert zum Extrem schrankenloser Freiheit im zwischenstaatlichen Verkehr gesteigert. Als solche war sie Rechtsbegriff eher dem Namen nach. 10 Ophüls, a.a.O., S. 582 ff., wirft angesichts der entstehenden Gemeinschaftshoheit die Frage nach einer „Wandlung" des klassischen Souveränitätsbegriffs auf. 11 Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht, JIR 12 (1965), S. 11 ff. (12, 13 f.), bemerkt, daß die als klassisch geltende Epoche des Völkerrechts des 19. Jahrhunderts samt ihrem Souveränitätsbegriff in Wirklichkeit eher „spezielle" Züge getragen habe, eher eine „Ausnahme-" als eine Normalstellung einnehme. 12 Vgl. etwa Herzog, Subsidiaritätsbegriff und Staatsverfassung, in: Der Staat 2 (1963), S. 399 ff. (417 ff.); Herb. Krüger, Allg. Staatslehre, 1964, S. 774 f. 13 I m Sinne einer scharfen Trennung von innerer und äußerer Souveränität statt anderer Gunst, Der Begriff der Souveränität im modernen Völkerrecht, 1953, S. 57 f. Die vollständige Trennung von staatlichem und Völkerrecht war Konsequenz des traditionellen Souveränitätsgedankens (Ophüls, a.a.O., S. 521, 525). Sie ist heute durch die Gemeinschaftshoheit in Frage gestellt (ders., a.a.O., S. 586 ff.). 14 Krit. zum Trägerbegriff in diesem Zusammenhang schon Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Staatsr. Abh., 1955, S. 119 (196 f.). 15 Krit. Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 19. Hennis , a.a.O., S. 88 f., fordert zu Recht eine Ganzheitsbetrachtung von Staat und Souveränität.

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liert und vordergründig behandelt wird, ferner für die schroffe Trennung eines juristischen und eines politischen oder soziologischen Begriffs der Souveränität, der Organ- 1 6 und Staatssouveränität. 2. Dieses B i l d der gegenwärtigen Diskussion um die Souveränität entspricht nicht nur der allgemeinen Wissenschaftslage ; es dürfte besondere, problemgeschichtliche Hintergründe haben. Der i n der Vergangenheit i m Zeichen der Monarchie und des Nationalstaates etatistisch übersteigerte, m i t Superlativen (Einzigkeit, Unteilbarkeit, Undurchdringlichkeit 1 7 , Einseitigkeit, Allumfassendheit, Zuhöchstsein 18 ) und absoluten Ausschließlichkeitsansprüchen ausgestattete und reichlich überstrapazierte Souveränitätsbegriff — er ist i n besonderem Maße „ideologiegefährdet" (Höllerbach) 19 — befindet sich hinsichtlich seiner dogmatischen Leistungsfähigkeit und Unentbehrlichkeit für konkrete Probleme des Verfassungsstaates offenbar auf dem Rückzug. Dabei fällt es bisher leichter, i. S. einer negativen Problemauslese zu sagen, wo „der" Souveränitätsbegriff keine Rolle (mehr) spielt, als seinen positiven Inhalt zu umschreiben. Fast ist man geneigt, i h m den Abschied zu geben. Das hat seine besonderen Ursachen. Die Fixierung des Souveränitätsbegriffs auf den Konfliktsfall und seine polemische Ausrichtung auf Volks-, Fürstenoder Staatssouveränität verdeckten seinen eigentlichen Sinn: i m Normalfall als inhaltsbestimmter, rechtlich begründeter und einheitsstiftender Begriff bei der Bewältigung sachlicher Aufgaben i m Staat zu wirken 2 0 . Untersucht man, wo der „staatsrechtliche" Souveränitätsbegriff i n seiner überkommenen Gestalt i m heutigen Verfassungsstaat aktuell wird, so zeigt sich, daß er keineswegs die prädominante Rolle eines „höchsten" und „obersten" Begriffes mehr spielt, die i h m der staatsrechtliche Positivismus monarchischer Provenienz i n seinem Denksche18 Krit. gegen jede Art von Organsouveränität Heller, Die Souveränität, 1927, S. 76. 17 Ophüls, a.a.O., S. 583, 572, sieht angesichts der Gemeinschaftshoheit die Unteilbarkeit, die Undurchdringlichkeit und das Monopol des souveränen Staates auf die Völkerrechtsunmittelbarkeit zu Recht in Frage gestellt. — Hennis, a.a.O., S. 1, spricht von einer bis ins Absurde gehenden Überhöhung des Souveränitätsbegriffs. — Vgl. schon die wegweisende Kritik von Haenel, Deutsches Staatsrecht, 1. Bd., 1892, S. 114, an den „schroffen Einseitigkeiten" and „leeren Abstraktionen in scholastischen Formeln" der Souveränitätslehren seiner Zeit. 18 Zum Merkmal des „Zuhöchstseins", aus dem dann „deduziert" wird, statt anderer Koppensteiner, a.a.O. (Anm. 6), S. 32. 19 Ideologie und Verfassung, in: Maihof er (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1969, S. 37 ff. (55). i0 Zum normativen Berufsgedanken als Begründung des Souveränitätsbegriffs Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, ZevEthik 6 (1962), S. 65 (75).

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ma von Befehl und Gehorsam, von Staatsgewalt und Untertan und der damit verbundenen Verarmung des öffentlichen Rechts beigelegt hat 2 1 . I n der Bundesstaatstheorie ist es um die Souveränität recht still geworden. Die Begriffsartistik, die hier i n Gestalt der Lehre von der „geteilten", „doppelten" usw. Souveränität vorherrschte, ist weitgehend verschwunden. Mitbestimmung ist i m Zeichen des kooperativen Föderalismus an die Stelle der souveränen Selbstbestimmung getreten 22 . Speziell i n den USA hat die Idee des kooperativen Föderalismus die Lehre von der doppelten Souveränität abgelöst 23 . Gerade hier zeigt sich, daß und wie es u m Einheitsbildung bei der Bewältigung sachlicher A u f gaben geht. Spricht man sich m i t Hesse dafür aus, daß i n A r t . 79 Abs. 3 GG der Primat der rechtlichen Verfassung über die Volkssouveränität gestellt ist, so hat diese Terrain verloren 2 4 ; ja es läge nahe, i n A b wandlung von Krabbes Idee der Souveränität des Rechts 25 heute i m Bereich des Verfassungsstaats von Souveränität der Verfassung zu sprechen. Angesichts der außerordentlichen Aufwertung der rechtsprechenden Gewalt w i r d vereinzelt dem Grundgesetz ein „dualistischer" Zug beigelegt: Dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität ist die Souveränität des Rechts gegenübergestellt; i n i h m findet die Rechtsprechung die Legitimation ihres Tuns 2 6 . Auch i n der Völkerrechtswissenschaft ist der Souveränitätsbegriff bescheidener — „relativ" (Dahm) — geworden; er hat auch hier das Podest des Absoluten geräumt und einen „Ernüchterungsprozeß" 27 durch21 Zur „schroffen" Ausbildung der Souveränitätslehre durch den Positivismus jetzt Ophüls, a.a.O., S. 533, 527, zur Formalisierung Hennis , a.a.O., S. 15 ff. 22 I m Bereich des Völkerrechts zeigt sich eine gewisse Parallele, insofern hier manche aus der tatsächlichen Interdependenz der Staaten das Postulat der Kooperation und Solidarität folgern; dazu Erler, Staatssouveränität und internationale Wirtschaftsverflechtung, in: Zum Problem der Souveränität, Berichte der dt. Gesellschaft f. Völkerrecht, Bd. 1 (1957), S. 29 ff. (30). Siehe jetzt bes. Scheuners Hinweis auf die wachsende internationale Verantwortung, Zusammenarbeit und Kooperation, JIR 12 (1965), S. 11 ff. (37 ff.). 23 Vgl. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 1960, S. 115 f. 24 Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 20. 25 Der Begriff „Souveränität des Rechts" ist schon deshalb zu eng, weil Verfassung nicht im Recht aufgeht. Sie garantiert Bereiche, die durch die Rechtsordnung nur teilweise umschrieben sind: Ermessen, Gestaltungsfreiheit der Ämter und die Kompetenzen zur Gemeinwohlverwirklichung. 26 So Menger, Landesrecht vor Bundesgerichten, 1962, S. 26 f. Die Dogmengeschichte der Souveränität ist reich an verschiedenen Arten von Dualismen: vgl. etwa den Dualismus von Souveränität des Staates und Souveränität des Gewissens, des Volkes und des Rechts. Der schroffe Dualismus staatlichen und Völkerrechts gehört ebenfalls hierher. 27 Erler, a.a.O., S. 56, 34 f.; Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, 1966, S. 35 ff. (50) : „Daher bezeichnet Souveränität heute weder eine Herrschaft des Staates über das Recht noch meint sie in irgendeiner Hinsicht eine unbeschränkte und unbegrenzte Gewalt."

15. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität

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gemacht: Gleichheit und Unabhängigkeit von fremdstaatlicher Herrschaft (nicht von Bindung völkerrechtlicher Normen) sind die heutigen Elemente der Souveränität (s. auch A r t . 2 Ziff. 1, 7 S VN) 2 8 . Die gegenwärtigen Block- und Paktsysteme, die Hegemonie der USA und der Sowjetunion stellen dem Denken über Souveränität weitere Probleme 29 , mag auch gerade i n neuester Zeit die Auflockerung der Machtblöcke nicht zufällig unter der Flagge der Souveränität erfolgen. Dieser Überblick legt die Vermutung nahe, daß es ein Kennzeichen gerade unserer Zeit ist, den Begriff der Souveränität sozusagen nur oder vor allem „negativ" zu diskutieren, d. h. seinen Grenzen und seiner I n fragestellung (und nicht positiv seinem Inhalt) nachzugehen. Das gilt etwa für die Verhältnisse Souveränität und Kirche, Souveränität und Gewissen, Souveränität und Pluralismus, die an einem Punkt immer auf das Problem des Widerstandsrechts geführt haben; es gilt auch angesichts der Beschränkungen „von außen", d. h. durch die Völkerrechtsordnung. Diese negative Diskussion dürfte nicht zuletzt m i t den Erfahrungen des totalen Staates zusammenhängen. Gerade die Züricher Schule 3 0 hat betont nach den Schranken der Souveränität gefragt und sie i n der Würde des Menschen und der Gerechtigkeit gesehen. Ein personales Menschenbild w i r d hier zur Grenze der Souveränität wie ja allen Souveränitätsdogmen ein ganz bestimmtes Menschenbild zugrunde liegt 3 1 . Und doch gilt es auch und gerade nach der positiven Aufgabe der Souveränität und ihrem praktischen Sinn zu fragen; daraus folgen dann ihre Grenzen. 3. I n der Wirrnis, die durch die traditionelle und gegenwärtige Behandlung des Souveränitätsproblems hervorgerufen und durch die noch immer aktuelle ideologische Eigengesetzlichkeit und Durchschlagskraft dieses Begriffs bestimmt ist, läßt sich eine Orientierung nur durch probiemorientierte Fragestellungen erreichen. Sie sind Voraussetzung für die Gewinnung eines inhaltsbestimmten, von den sachlichen Aufgaben des Staates ausgehenden, normativen, geschichtlichen Souveränitätsverständnisses i. S. von Smend, Hennis, Hesse und Bäumlin. Dabei handelt es sich um offen oder versteckt auftretende Fragestellungen, die zu28 Zu völkerrechtlichen „Auflockerungen" des Souveränitätsgedankens etwa Ophüls, a.a.O., S. 534 f.; Scheuner, Fünfzig Jahre Völkerrecht, a.a.O., S. 53, beobachtet als Veränderung eine „Milderung der Härten und Konturen" der Souveränität; Ophüls, Die Geltungsnormen des Europ. Gemeinschaftsrechts, Festschrift f. Riese, 1964, S. 1 ff. (18), sieht in der Abschwächung des Souveränitätsgedankens den wesentlichen Sinn und Zweck des Gemeinschaftsrechts. 29 Erler, a.a.O., S. 36 ff., 51 f., 56, verweist auf die Elastizität des Stellungswechsels, die Möglichkeit der Neutralität hier und die Funktionseinbuße zugunsten eines Hegemonialstaates dort. 30 Dazu Hennis , a.a.O., S. 78 ff., 84 f. 31 Dazu Hennis, a.a.O., S. 37, 52.

24 V e r f a s s u n g

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sammengehören, aber oft getrennt behandelt wurden. A n der A r t , wie die einzelnen Autoren hier die Akzente setzen, manche Fragen auslassen oder i m Ansatz verengen, andere i n den Mittelpunkt ihres Souveränitätsverständnisses rücken, läßt sich Entscheidendes ablesen. A n der Vernachlässigung eines derartigen ganzheitlichen, problemorientierten Fragens krankt die derzeitige Souveränitätsdiskussion 32 . Souveränität ist eine historische Kategorie (G. Jellinek, Heller). Sie ist ein Begriff, dessen gedankliche Substanz geschichtlich erarbeitet ist (Gierke ) 33 . Z u fragen ist, i n welchen wechselnden Situationen Souveränität als Problem empfunden wurde, wie sie theoretisch diskutiert und praktisch (zur Erreichung welcher Ziele?) eingesetzt wurde. Denn Souveränität war immer eine geschichtliche A n t w o r t auf eine bestimmte geschichtliche Problemlage. So konstituierte sich der Absolutismus m i t Hilfe der Souveränität gegen Reich, Stände und Kirchen und begründete damit die „Einheit des Staates". Die Volkssouveränität war die polemische A n t w o r t auf die Fürstensouveränität. Die Staatssouveränität — von Hegel begründet und vom Positivismus übernommen — bildete die Kompromißformel des monarchischen Prinzips 3 4 . I n solchem problemgeschichtlichen Ansatz lassen sich sieben Richtpunkte setzen, innerhalb derer die Souveränität diskutiert wurde. Dabei setzen sich die einzelnen Autoren oft polemisch voneinander ab, indem sie i m Entweder-Oder-Stil denken. Meist fehlt die „rechte Mitte". — A r t und Breite des methodischen und sachlichen Denkansatzes, das unterschiedliche Verfahren der Begriffsbildung präjudizieren das sachliche Ergebnis weithin. So arbeiten Schmitt und Heller i n bewußter Gegenbewegung zur formalistischen Entleerung der Souveränität i m Positivismus und zu Kelsens „rein juristischem" Ansatz 3 5 mit Hilfe breiter Einbeziehung der Dogmengeschichte, der sozialen Wirklich32 Das gilt etwa für Kurz, Volkssouveränität und Volksrepräsentation, 1965. Er verliert sich in einer Aufzählung, die in die „diffuse Dialektik" von Staatslehre und Souveränität (Zacher, Geleitwort zu Kurz, a.a.O., S. 15) wenig Ordnung bringt. Zacher, a.a.O., S. 16, spricht zu Recht von „Differenzen und Spannungen, Alternativen und Interdependenzen, Veränderlichkeiten und Entwicklungen", die im Phänomen der Souveränität angelegt sind. 33 Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, Darmstadt 1961, S. 16. 34 Staatssouveränität und Hechtsstaat sind spezifisch deutsche Resultate einer „gebrochenen Geschichte" (Hennis, a.a.O., S. 13). Krit. zu Labands Auseinanderreißung von Staat und Volk, die das Volk zum bloßen Objekt der Herrschaft des Staates macht, Gierke, a.a.O., S. 35; bei G. Jellinek spielt Souveränität nur in der Bundesstaatsproblematik eine praktische Rolle (dazu Hennis, a.a.O., S. 22). Schmitt wie Heller ging es vor allem um die Gewinnung staatlicher Einheit. Dies Ziel ist auf dem Hintergrund der besonderen zeitgeschichtlichen Situation Weimars zu sehen (dazu Hennis, a.a.O., S. 4, 43, 71 f., 75); es beinhaltet aber darüber hinaus eine noch näher auszuformende, bleibende Einsicht in die Souveränitätsproblematik. 35 Dazu Hennis, a.a.O., S. 38 ff.

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keit und des Moments „politischer Wertung". Je nach dem Denkansatz erscheint Souveränität als absoluter (Erler, Gunst) oder relativer (D. Schindler), als formaler (G. Jellinek, Kelsen) oder materieller, als Inhalts- oder Funktionsbegriff (Erler), als abstrakter oder (und) konkreter, geschichtlich bedingter (Rechts-)Begriff, als soziologischer, politischer 36 (W. Jellinek, Leibholz) oder juristischer Begriff, als Grenzbegriff (Schmitt, Erler) oder inhaltsbestimmter „materieller" Begriff (Smend, Hennis). — Die A r t und Weise des Denkansatzes spiegelt sich besonders i n dem zweiten Bereich, der Souveränität als Problem des Spannungsverhältnisses von Sein und Sollen, von Wille und Norm, von Norm und Individualität (Heller), von Rechtlichem und Außer rechtlichem, von Entscheidung und Norm, von faktisch und rechtlich höchster Macht (Schmitt), von Recht und Interesse (Gemeinwohl). Souveränität erscheint als Grenzbegriff zwischen Recht und Wirklichkeit 3 7 ; je nachdem wie hier die Akzente gesetzt werden, ändert sich das Souveränitätsverständnis. Die „rechte Mitte" vermißt man dabei allenthalben. — Der dritte Problemkreis läßt sich als oft gestellte und meist hypostasierte 38 Frage nach dem „Träger", dem letztinstanzlich entscheidenden — geschichtlich wechselnden — „Subjekt" der Souveränität kennzeichnen 39 . Hier sind methodische Fehlansätze besonders häufig. — Das führt zum Problembereich Souveränität und Staatsgewalt, zur „Monopolisierung" der Hoheitsgewalt auf die souveräne Staatsgewalt, zur Souveränität als Eigenschaft der „universalen Gebietsentscheidungs- und Wirkungseinheit" (Heller), zu ihrer Kennzeichnung als Eigenschaft des Staates oder des Rechts (Kelsen) und der (höchsten) Staatsgewalt 40 . 36

Koppensteiner, a.a.O., S. 16, spricht von politisch-rechtlicher Ambivalenz des Souveränitätsbegriffs und unterscheidet streng zwischen einem Rechtsbegriff und einem politischen Begriff der Souveränität (a.a.O., S. 33 ff., 46, 48 ff.). — s. noch Loewenstein, Souveränität und zwischenstaatliche Zusammenarbeit, AöR 80 (1955/56), S. I f f . (3): „Die politische Wirklichkeit ist aber seit jeher von dem starren Rechtsformalismus der unbedingten Staatssouveränität abgewichen." 37 Herb. Krüger, Art. Souveränität, HdSW 9, 1956, S. 308 (311). 38 Hans F. Zacher, a.a.O., S. 17, kritisiert zu Recht die „Verstrickungen" der Souveränität in „fiktive soziale Letztwerte und Letzteinheiten". 39 So besonders bei Schmitt, Politische Theologie, 2. Ausg., 1934, S. 16, 12; bezeichnend sein „Gegensatz" von Subjekt und Inhalt der Entscheidung (S. 46). Heller hat von der Krise des Souveränitätsbegriffs als Krise des Subjekts der Souveränität des Staates gesprochen (a.a.O., S. 34) und in der heutigen Subjektlosigkeit die „crux" des Souveränitätsproblems erblickt (S. 59). 40 Die Frage, ob nur der Staat „Träger" der Souveränität sein könne, oder Staat und Souveränität getrennt werden können, spielte in der Bundesstaatsproblematik der Bismarckzeit eine besondere Rolle; dazu etwa Koppensteiner, a.a.O., S. 30, 33. 24*

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— Die Frage von Unterscheidung oder Zusammenhang des völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Souveränitätsbegriffs ist ein weiterer Problembereich, wobei oft i n verräumlichender, das Recht als menschliche Ordnung vernachlässigender Denkweise die „äußere" Seite von der „inneren" Seite der Staatssouveränität getrennt w u r de 41 . Dabei wurde die Einsicht i n das Bedingtheitsverhältnis von staatlicher und internationaler Zuständigkeit nicht genügend fruchtbar gemacht. — Die Frage nach Sinn und Grenzen der Souveränität kehrt immer wieder. Schranken werden i h r „von außen" — durch das Völkerrecht — gesetzt, „nach innen" durch ein bestimmtes Menschenbild, oberste Rechtsgrundsätze, durch Freiheit, Gewissen und geschichtliche Werte. A u f der absolutistischen und positivistischen, normlogischen und dezisionistischen Entwicklungsstufe des Begriffs wurde die Frage nach den Grenzen der Souveränität infolge eines mangelnden inhaltlichen, geschichtlichen Rechts- und Staatsbegriffs vernachlässigt; die eigentliche Frage nach ihrem Sinn und positiven Inhalt ist erst i n jüngster Zeit von einem materialen Ansatz aus durch Smend, Hennis , Hesse und Bäumlin zentral gestellt worden. — Schließlich ist — geschichtlich — nach den konkreten Anwendungsbereichen des Souveränitätsbegriffs bei den einzelnen Autoren, i n der politischen und Rechtspraxis zu fragen: Das Souveränitätsproblem scheint zu „wandern" 4 2 . A u f diesem Hintergrund sind es zwei Ursachen, die i n der Gegenwart das Wort von der partiellen Auflösung der Souveränität (Lenz), ihrem „Abbau" oder Wandel nahelegen; dies deshalb, weil bereits viele der traditionellen und verengten Fragestellungen sich als ungeschichtliche Vereinseitigungen und Verabsolutierungen erweisen. a) Da die Souveränität nicht mehr i n einem früheren Zuständen vergleichbaren Ausmaß Konflikts- und Kampf begriff ist, und gerade i m Verfassungsstaat die Konfliktslagen durch bestimmte rechtliche und ver 41 Herb. Krüger, Art. Souveränität, a.a.O., S. 311, beobachtet in dem infolge der Souveränität bisher koordinationsrechtlichen Völkerrecht subordinationsrechtliche Züge und im Staatsrecht, dem traditionellen „Subordinationsrecht", die Anfänge koordinationsrechtlicher Gestaltung. Krit. zu der mit dem strengen Souveränitätsdogma gegebenen Alternative Völkerrecht (Koordinationsrecht), Staatsrecht (Subordinationsrecht) jetzt Ophüls (Anm. 1), S. 587, 589 Anm. 193. Scheuner, a.a.O., S. 49, 68, tendiert in dieselbe Richtung, insofern er die überkommene Vorstellung von der „Undurchlässigkeit" des Staates gegenüber dem Völkerrecht in Frage gestellt sieht, s. auch Anm. 80. 42 Dazu bei und in Anm. 22, 24, 26. Unter gewissen geschichtlichen Bedingungen kann Souveränität in bestimmten Bereichen Aktualität gewinnen, die sie später verliert. I n Gestalt des Art. 24 GG stellt sich das Problem der Souveränität auf einem „neuen" Gebiet.

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fahrensmäßige Vorkehrungen entschärft werden, scheint sich der traditionelle formal übersteigerte Souveränitätsbegriff aufzulösen. Es kommt zu seiner rechtlichen Begrenzung. A u f weniger spektakuläre A r t zeigen sich i m Verfassungsstaat Manifestationen der Souveränität: über Ä m ter-, Kompetenz- und Rechtsordnung geschieht die Bewältigung sachlicher Aufgaben, der ständige Ausgleich und die notwendige Einheitsbildung, ohne daß m i t der Fiktion „eines Trägers" gearbeitet werden müßte. b) Die Übersteigerung des absoluten, etatistischen Staats- und Souveränitätsbegriffs 4 2 a , sei er demokratischer (voluntaristischer), sei er monarchischer Herkunft, wird, wenn auch i m Wege des Eingriffs- und Schrankendenkens, zurückgenommen — sowohl nach der Völkerrechtsais auch nach der staatsrechtlichen Seite hin. Der Primat der Verfassung oder des Rechts und die rechtliche Verpflichtung und Verbundenheit der Staaten (Scheuner) rücken i n denVordergrund. Innerhalb von Verfassung, Recht und den Kompetenzordnungen werden Konflikte und Grenzfälle ausgetragen und sachliche Aufgaben erfüllt. Für die Souveränität i m traditionellen, weitgehend entleerten Sinne bleibt damit wenig Raum. Vor allem verbietet der Rechtsbegriff i m Verfassungsstaat, an der Formel vom Staatsrecht als Subordinationsrecht festzuhalten 43 ; sie ist im Grunde ein Nachklang des „absolutistischen öffentlichen Rechts" (Gierke). Beide Gründe hätten Anlaß sein sollen, die Frage nach dem positiven Inhalt der Souveränität neu zu stellen und sie i n einer dem Verfassungsstaat angemessenen Weise zu beantworten, d. h. die Souveränität als inhaltsbestimmten, rechtlich begrenzten, vom — geschichtlichen — Staat als Beruf (Smend) aus konzipierten Begriff zu definieren, der sich i n der Erfüllung sachlicher Aufgaben und der darin bewirkten Einheitsstiftung verwirklicht. Von hier aus erscheint der „klassische" Souveränitätsbegriff wenn nicht als „absolutistischer Zufall" 4 4 , so doch als jedenfalls heute nicht mehr maßgebliche Entwicklungsstufe eines wandlungsfähigen Begriffs. Die Souveränität w i r d bei diesem Ansatz von vornherein auf einer ganz anderen — normativen — Ebene aufgebaut, nicht i n der traditionellen, formalen Weise, die einen absolut gedachten Souveränitätsbegriff nachträglich einschränkt und relativiert. Der Staat steht nicht mehr u m seiner Souveränität willen i n einem nur „zufälli42 a Vgl. Haenels Kritik, a.a.O. (Anm. 17), S. 117 Anm. 2, an den Begriffsbildungen der Souveränität, die in einem „logischen Spiele aus den abstrakten Begriffen: Herrschaft und Superlativ" kombiniert werden. 43 Geht man von der Verfassung als einer „Entscheidung" des „souveränen" Volkes aus, so bleibt freilich nur die Alternative Subordination oder Insubordination, so etwa bei Quaritsch, a.a.O., S. 180. 44

Quaritsch, a.a.O., S. 320.

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gen" Verhältnis zum Recht (Haenel) Ua. Bei dieser Sicht ist die Frage nach dem Abbau des Souveränitätsbegriffs von vornherein falsch gestellt, sie präjudiziert das — höchst ungeschichtlich gewonnene — Ergebnis; sie ist nur aus unbewältigter absolutistischer und spätkonstitutioneller, durch den Positivismus fortgeführter Vergangenheit des Souveränitätsbegriffs erklärlich. So ragt der bisherige Souveränitätsbegriff gleich anderen Grundbegriffen des öffentlichen Rechts wie ein Relikt aus früherer Zeit i n die Gegenwart des Verfassungsstaats. Die Geschichte des Souveränitätsbegriffs steht einem der Gegenwart angemessenen sachlichen Verständnis des Souveränitätsproblems i m Wege. Ausgangspunkt ist dabei die Einsicht, daß die Meinung, die „letzte Vorstellung sei entweder Norm oder Dezision oder Ordnung, Punkt für Punkt unrealistisch ist" 4 5 , daß die Geschichte die innere Struktur von Recht und Staat bildet 4 6 , daß das Wesen des Staates wie der Souveränität vom normativen Berufsgedanken 47 her zu bestimmen ist und (ihre) Normativität und Normalität in korrelativer Zuordnung zu sehen sind (Heiler) 48 . Die Erkenntnis der Geschichtlichkeit von Souveränität, Staat und Recht 49 ergibt, daß viele überkommene Fragestellungen sich schon i m Ansatz als Verzerrungen, als Ergebnis undifferenzierten aut-aut-Denkens erweisen, die der Wirklichkeit Gewalt antun. Die Gegenwart öffnet den Blick dafür, daß Staats- und Völkerrecht durch die Souveränität v/eniger scharf getrennt sind als früher, wie überhaupt das Denken im Innen-Außen-Schema fragwürdig ist. Die gegenwärtige Souveränität als Rechtsbegriff integriert Staats- und Völkerrecht 5 0 . Sie verbindet sie durch gemeinsame Rechtsgrundsätze und läßt positiv Raum für das Gemeinschaftsrecht 51 . Juristischer und politischer Souveränitätsbegriff las44 a Haenel, a.a.O., S. 114 f., 117 mit Anm. 2, verknüpft Recht und Souveränität ebenso grundsätzlich wie wegweisend schon im Ansatz miteinander. 45 Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 315 mit Anm. 374. 48 Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 15, 43, 48. 47 Smend, Das Problem der Institutionen und der Staat, ZevEthik, a.a.O., S. 65 ff. (75 u. passim); vgl. auch Hennis, a.a.O., S. 76: „Denn nur um seiner Aufgabe willen ist der Staat souverän." 48 Staatslehre, 3. Aufl., 1963, S. 252 ff., 185. 4Λ Zur Geschichtlichkeit des Staatsbegriffs und des Rechts vgl. bes. Gierke, Labands Staatsrecht, a.a.O., S. 64, 18 ff. 50 I m Sinne einer Ganzheitsbetrachtung meint Hennis, a.a.O., S. 104 f. Anm. 1, S. 134, ein staatsrechtlicher Begriff der Souveränität müsse die Tatsache der Neben- und Zusammenordnung der Staaten als materiales Moment so gut enthalten wie ihm vom Eigenwert des Menschen her Grenzen gesetzt seien. — s. noch bei und in Anm. 58 a, 80. 51 Vgl. schon E. Kaufmanns Kritik an der dualistischen Theorie unter Berufung auf die Einheit der Rechtsidee, Traité internationale et loi interne, Ges. Schriften I I , 1960, S. 473 (474 ff.).

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sen sich nicht mehr in der bisherigen Schärfe trennen 5 2 , ebensowenig wie i n dem Konflikt zwischen (wirklichkeitsfremdem) Recht und (normfreier) Wirklichkeit das Wesentliche des Souveränitätsproblems gesehen werden darf. Bei all dem w i r d verkannt, daß wirkliches Recht ein das Politische gestaltender Faktor ist — i m innerstaatlichen wie i m zwischen- und überstaatlichen Bereich — und daß das Recht seinerseits die politischen Wertungen und Strömungen i n seinen Kategorien autonom auffängt. Man darf also nicht bei einer äußerlichen Konfrontierung von Recht und Wirklichkeit, Recht und Politik stehen bleiben. Wer die Frage der Souveränität zur Frage nach dem Subjekt, dem Träger oder dem I n haber der Macht zur Dezision steigert 53 , verkennt, daß normalerweise i m normativen Zusammenwirken vieler Kompetenzen die sachlichen A u f gaben des Staates erfüllt werden. Was vielen „Beschränkung" der Souveränität ist, ist i n der Gegenwart — begriffen als „Geschichte von morgen" — Inhalt der Souveränität. „Handlungsfreiheit", „Selbstbestimmung" als Definition der Souveränität ist keine Freiheit zur Beliebigkeit und W i l l k ü r und keine Freiheit i m luft- und rechtsleeren Raum. DELS Denken i n den Kategorien von Abhängigkeit und Unabhängigkeit, von Koordination und Subordination, von Innen und Außen übersieht, wie stark die Interdependenz der Staaten untereinander ist, wie sehr sie von ideellen und soziologischen „Realien", besonders aber von den i n ihnen wirkenden Menschen abhängig sind. Der geschichtliche Ansatz führt schließlich auch zu den Ursachen, weshalb Souveränität im heutigen Verfassungsstaat vergleichsweise von dogmatischer Unergiebigkeit ist 5 4 . Insgesamt zeigt sich, daß hinter den extremen Zuspitzungen des Denkens über Souveränität m i t entsprechend antinomischen Ergebnissen sich ein höchst ungeschichtlicher Ansatz verbirgt, der m i t Verabsolutierungen, isolierendem Trennungsdenken und Scheinalternativen arbeitet. Immer ist es das Denken von der Ausnahme, der Grenze, dem Konflikt statt vom Normativ-Normalen her und der ungeschichtliche, vorschnell zu Abstraktionen greifende Ansatz, aus dem dann wieder „deduziert" wird, welches i n verhängnisvollem Zusammenwirken den Zugang zur Souveränität als Problem versperrt. 4. Die Einsicht i n die Geschichtlichkeit von Staat und Recht (Bäumlin) hat die Erkenntnis der Geschichtlichkeit der Souveränität zur Folge 55 . 52

Krit. zur Ausschaltung der sozialen Wirklichkeit und aller nicht „rein rechtlichen" Fragen aius dem Problemkreis der Souveränität Hennis, a.a.O., S. 11 ff., 17, 40, 56, 89 f., 97. 53 Siehe Schmitts Lob für Bodin in: Politische Theologie, 2. Ausg., 1934, S. 14, der das Verdienst habe, die Dezision in den Souveränitätsbegriff „hineingetragen" ( !) zu haben. 54 Vgl. Herb. Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, in: Zum Problem der Souveränität, 1957, S. 1, im Hinblick auf das Völkerrecht. 55 Hennis , a.a.O., S. 25, spricht von „Wandlungsmöglichkeiten" des Souveränitätsbegriffs.

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Denn sie ist Staat und Recht von einer „bestimmten Seite" gesehen. Souveränität hat wesentlich dort ihre Wirklichkeit, wo es nicht zum „letzten" Konflikt kommt, weil andere Institute und Vorkehrungen dies verhindern: Kompetenzordnung, Ämterzuweisungen, Verfahrensarten und materielle Rechtsordnung sind wesentliche Mittel, m i t Hilfe derer die bei der Bewältigung sachlicher Aufgaben durch den Staat sich ergebenden Konflikte entschärft werden. Eben hierbei kommt es immer von neuem zur staatlichen Einheit und zu verantwortlicher Selbstverwirklichung des Staates 56 . I m normalen Gang des Verfassungslebens v e r w i r k licht sich Souveränität. Souveränität geriet durch die geschichtliche ideologisch bedingte Alternative Volkssouveränität, Fürsten- oder Staatssouveränität i n eine Frontstellung zu Recht und Verfassung, die den Zugang zu ihrem inhaltlichen Verständnis versperrte. I n der Erfüllung eines normativ geregelten Kompetenzauftrags durch den Staat, i n der Wahrnehmung sachlicher (Gemeinwohl-)Aufgaben, in Rechtssetzung und Rechtsfindung, i n der Erfüllung des Rechtsberufs (Gierke ) liegt ein Souveränitätsakt, eine wesentliche tagtäglich erfolgende Souveränitätsäußerung. Die geschichtlich bedingte Reduzierung und ideologisch aufgeladene Fixierung der Souveränität auf den rechtlich nicht geregelten Fall, den von der Verfassung angeblich nicht „entschiedenen" Konflikt und die Fälle des ungelösten Kompetenzstreits verdecken das Wesen der Souveränität i m heutigen Verfassungsstaat. Der Begriff der Souveränität ist vom Grenz- und Ausnahmebegriff zum Normativ- und Normalbegriff zu entwickeln. Er ist nicht deshalb über Bord zu werfen, weil man ihn i n vielen traditionellen Konfliktslagen nicht zu brauchen scheint; sondern er ist von seinem geschichtlichen Odium, Kampfbegriff gegen Recht und Titel für (willkürliche) Macht (auch i m Völkerrecht) zu sein, zu befreien. Gewiß, die Souveränität hat auch i m Konfliktsfall eine Funktion; aber darin liegt nicht das Entscheidende. I m Verfassungsstaat ist der Ausnahmezustand i m übrigen kein verfassungsloser, sondern ein rechtlich geregelter Zustand 5 7 . Die traditionelle Rolle der Souveränität als Konflikts- und Kampfbegriff ergibt sich aus dem i n sieben Punkten skizzierten problemgeschichtlichen Ansatz. Sie wurde und w i r d bald als Frage nach dem „letzten" 58 Hennis , a.a.O., S. 127, erblickt den staatstheoretisch-politischen Sinn der einzelstaatlichen Souveränität in der geschichtlichen Selbstverantwortung, wobei er die „wertbestimmte Individualität (Einheit)" als Voraussetzung ansieht (S. 100 ff.). 57 Bettermann, Die Notstandsentwürfe der Bundesregierung, in: Der Staatsnotstand, 1965, S. 190 ff. (192). Vor der nicht seltenen ideologischen Dramatisierung des Zusammenhangs von Souveränität und Ausnahmezustand bewahrt die Eliminierung des Trägerbegriffs und die Einsicht in die Tatsache, daß der Ausnahmefall verfassungsrechtlich im Zusammenspiel vieler Kompetenzen bewältigt wird. Auch gibt die Souveränität für die Unterscheidung des Ausnahmefalls vom Normalfall nichts her.

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Träger der Souveränität sichtbar, i n der Kennzeichnung als Grenzbegriff, i n ihrer Instrumentalisierung für den rechtlich nicht erfaßt gedachten Ausnahmefall, i n der Konfrontierung von soziologischem und „rein" juristischem Souveränitätsbegriff 58 . Dabei wurde Souveränität meist dort eingesetzt, wo Einheit hergestellt werden sollte, ohne daß dies auf die Weise des Rechts, i n einem rechtlich geregelten Verfahren oder i n normativ umrissener Kompetenz möglich erschien. Konflikt und Ausnahme, Befehl und Wille, Entscheidung und soziale Machttatsachen, methodische Engführungen und die Ubersteigerung des staatlichen Rechtssetzungsmonopols 58 * versperrten ideologisch den Weg zu Normativität und Normalität der Souveränität, zu ihrem normalen Erscheinungsbild, das darin besteht, im Kompetenz- und Rechtsweg sachliche Aufgaben zu erfüllen, u m eben dadurch staatliche Einheit zu bewirken. Diese aufgegebene „offene" Einheitsbildung als Sinn der Souveränität w i r d gerade dort evident, wo sie heute i n Frage gestellt zu sein scheint — i n der europäischen Integration. I n Wahrheit kommt es zu einer neuen Form staatlicher Einheit m i t Hilfe der Gemeinschaftsverträge, i m Bundesstaat i m Wege der „Kooperation". Recht, Kompetenz, Ämter und Verfahren sind die normativ-normalen Formen auf dem Weg zu staatlicher Einheit. Die Kompetenzproblematik, i n ihrer Verklammerung m i t der Gemeinwohlfrage und dem Rechtsbegriff ein Stiefkind der Staatsrechtslehre, ist dabei an zentraler Stelle i n das Denken über den Staat als Beruf (Smend) einzuordnen. A u f diesem Hintergrund w i r d die Auseinandersetzung m i t einem Buch unumgänglich, das i n jüngster Zeit zum ersten Male wieder die Grundlagenproblematik der Souveränität aufrollt, der Arbeit von W. v. Simson. II. Von Simson entwickelt seine Gedankengänge i n sechs der Einleitung folgenden Abschnitten: Zur Definition der Souveränität. Die Souveränität als rechtslogischer Begriff (Kelsen), Die Souveränität als Sachverhalt, 58 Vgl. demgegenüber Hennis ' Anliegen, das Souveränitätsproblem wieder in die Wirklichkeit des geschichtlich-sozialen und politischen Gesamtzusammenhangs zu stellen (a.a.O., S. 2, 7, 11, 65 f., 71 f., 75, 77, 88 f., 90, 97). — Für Hans F. Zacher, a.a.O., S. 15 f. bewegt sich die Souveränitätslehre auch im „sozialwissenschaftlichen und rechtspolitischen Umfeld der Rechtsdogmatik". 58a Zu dem traditionellen etatistischen Souveränitätsdogma gehört das „etatistische Rechtsbild" (Esser, a.a.O., S. 297) mit seinem etatistischen Quellenmonopol (S. 10, 294). Es wird heute zunehmend durch vom „Staatswillen" unabhängige jurisprudentielle Ordnungsfaktoren (a.a.O., S. 298) in Frage gestellt, die zu einer „Gemeinrechtsbildung" führen, sei es in der koordinierenden Rechtsprechung zu supranationalen Gesetzen, sei es in Gestalt der „universalrechtlichen" jurisprudentiellen Rechtsprinzipien in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Privatrecht (S. 342).

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Das Verhältnis dieser Sätze zu einigen bisherigen Souveränitätsvorstellungen (insb. bei Heller, Kant und Hegel 59). I m Bewußtsein, daß die gegenwärtige Besinnung auf Probleme der Souveränität durch die Grundlagendiskussion der Weimarer Zeit und ihre Fortführung i n der Gegenwart hindurch muß,behandelt v. Simson i m Rahmen des Abschnitts über „Die Dualität der Universalvorstellungen und die Entscheidung zwischen diesen" die Positionen von Schmitt, Smend, Ehmke und Scheuner. Das Buch schließt m i t dem Abschnitt über den „Weg zur überstaatlichen Bedingtheit des Staates", der zugleich seinen besonderen Höhepunkt bildet. Souveränität w i r d als „verwirklichter Vereinzelungsanspruch" (18 ff.), als willkürlich bestimmte Vereinzelung der Rechtsgrundlagen (89) definiert. Souveränität ist souveräne Vereinzelung als Grundlage jeder rechtlichen Herrschaft auf einem bestimmten Gebiet. Sie bedeutet Abgrenzung vom Universalen und Ablehnung des willensunfähigen „Allgemeinen". Sie ist „vernunftausschließende Formel" (98 f., 253), insofern sie als „Wille" i n bestimmten Dingen den Zweifel ausschließt, weil nur dann Ordnung bestehen kann. — Von Simson w i r f t i n voller Schärfe die Frage nach der „abstrakten" oder „pragmatischen", auf die jeweiligen historischen Tatbestände bezogenen Definition des Begriffs der Souveränität auf (29 ff.). Er spricht sich für die Trennung von „allgemeinen" und „geschiehtsabhängigen" Merkmalen aus. Souveränität i n abstracto, als notwendiges „ M i n i m u m " allgemeiner Eigenschaften (29), ist nach ihm in Anknüpfung an Heller „das faktisch einer jeden Rechtsordnung zugrundeliegende und diese Rechtsordnung in sich aufnehmende, von der Rechtsordnung selbst aber nicht erfaßbare Willenselement" (31). Souveränität als allgemeiner Rechtsbegriff ist (42, 237, 32) derjenige Teil des rechtlich ungebundenen Willens bzw. des fortwirkenden Ergebnisses seiner Betätigung, welcher i n jeder denkbaren Rechtsordnung enthalten ist. Das Recht ist „zunächst nur formales Recht" und an keinen anderen Inhalt gebunden als an seine „Effektivität als ordnungsschaffendes System von Befehl und Gehorsam" (42). M i t dieser abstrakten Definition der Souveränität als eines „ i m wesentlichen formalen Tatbestandes" i. S. Kelsens (44) w i l l v. Simson alles sagen, was sich über den „theoretischen, d. h. von aller geschichtlichen Wirklichkeit unabhängigen Begriff der Souveränität aussagen läßt". Theoretisch ist für ihn nur eine Eigenschaft, nämlich die negative bestimmbar: von keiner rechtlichen Kompetenzzuweisung sich herzuleiten und eine isolierende Vereinzelung um der Ordnung willen darzustellen (45). Souveränität ist der „Willkürgehalt der jeweils existierenden Ordnung" (78), das rechtlich nicht artikulierbare, willkürliche Element (52), das die Rechtsordnung erst ermöglicht und in ihr w i r k t (44, 46). 59 Die Gedanken zu Idee und Wirklichkeit bei Hegel (120 ff.) dürften über den konkreten Anlaß hinaus ein wichtiger Beitrag zur Hegel-Interpretation sein.

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Ein bestimmter Rechtsinhalt der Souveränität im Sinne der Möglichkeit, aus dem Begriff selbst eine rechtlich geschützte Wertordnung herzuleiten, läßt sich von der allgemeinen, geschichtsunabhängigen Definition nicht gewinnen (52 f.). Die Einschränkung des Ausmaßes der Souveränität ist eine Frage ihrer konkreten Entscheidung und betrifft nicht die allgemeine, zeitunabhängige Definition (237). So w i r d die Frage der Souveränität zur Frage nach der Bedingtheit der Rechtsverwirklichung durch die willkürliche Macht (66). Indes ist dieser „Gegensatz" zwischen Souveränität und Recht nicht übersteigert; er besteht „nicht unbedingt" (67). Je näher das gewordene und geübte Recht an die Tatsachen der sozialen Welt und an die Rechtsvorstellungen heranrückt, um so geringer w i r d der zu überbrückende Abgrund (68), um so geringer das Bedürfnis nach Souveränität i. S. der „rechtsunabhängigen Gewalt". Souveränität ist der rechtsformende, selbst aber nicht rechtlich gebundene Wille; dieser ist zugleich geschichtsbedingt (70) und die Geschichte, die dieser Wille macht, „gerinnt" zu rechtlich wirksamen Bedingungen. Sie können entscheidend dafür werden, „was die Souveränität sein muß, was sie sein kann und schließlich was sie nicht sein darf". Dennoch: „Theoretisch", als allgemeiner Begriff, ist die Souveränität unbeschränkt (70). Anderes gilt für die jeweilige „konkrete Manifestation"'. Hier w i r d es möglich zu fragen, wie die Souveränität als Ergebnis ihrer eigenen Betätigung aussieht, ob sich aus den von ihr geschaffenen Zusammenhängen Folgen ergeben, die ihr Wesen „wenigstens für eine bestimmte Epoche bestimmen und begrenzen" (s. auch 245 f.). Von Simson unterscheidet drei Hauptzustände für das Verhältnis von Souveränität und Recht (71 ff.); sie umfassen alle geschichtlich erscheinenden Ordnungsformen und sind schichtweise in einer konkreten Ordnungseinheit enthalten. I n diesen drei Stufen ist der Typus der Souveränität jeweils ein anderer (78); je nach der gewählten Stufe ist auch der Grad der Bindung verschieden, welcher die Souveränität unterliegen darf oder muß, u m den Anforderungen dieser Stufe gerecht werden zu können (48), entsprechend ist auch das Spannungsfeld zwischen „Ordnung und Idee" verschieden (71). I n der ersten Stufe besteht „kein anderes Ziel als das einer Ordnung überhaupt". Die einzige Beziehung des hier herrschenden Willens zum Recht ist die, „daß es formal Recht schafft" (72). Souveränität ist hier „nichts als Wille" (78). Der zweite Ordnungstypus, die „Leistungsstufe", verlangt einen Sinn der Ordnung. Er w i r d zum legitimierenden Grund für die Hinnahme des „Willens". Hier besteht die Souveränität aus einem zweckgebundenen Uberzeugungsinhalt (79). Die dritte Stufe der denkbaren Ordnungen ist die höchste (76). Es handelt sich um die „Hereinnahme fremder Lebensrechte in den eigenen Verantwortungsbereich" und die „ V e r w i r k l i chung gewisser absoluter Forderungen, seien es konkrete Wahrheiten,

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sei es die Achtung bestimmter, den Wert des einzelnen Menschen ausmachender von der Einzelperson nicht zu trennender Möglichkeiten. Eine solche Ordnung setzt voraus die Selbstentäußerung der Souveränität zugunsten bestimmter m i t ihrer unbeschränkten Geltung gleichzeitig nicht denkbarer Freiheitswerte". Obwohl ν . Simson daran festhält, daß die Souveränität auf einer Entscheidung beruht (194), fügt er doch hinzu, daß diese angesichts heute bestehender ganz bestimmter Herrschaftsapparate nicht beliebig wiederholt, ergänzt und abgeändert werden kann, ja er spricht von einem „Ende der Selbstgerechtigkeit des Staates" (220). I n den gegenwärtig existierenden Staaten beobachtet er (254) „das Vorhandensein sowohl von reversiblen als auch von irreversiblen Entscheidungsergebnissen". Freilich, die Ansicht, die Entscheidung zur Freiheit sei irreversibel, lehnt er ab (186). Er sieht sie durch die Existenz von Staaten widerlegt, die ohne Identitätsverlust von der einen Lebensform i n die andere übergegangen sind. — Aus der Einsicht i n die überstaatliche Bedingtheit des Staates folgert er (18): Der Begriff der Souveränität als einer dem Staat vorgegebenen, nur i h m allein zukommenden Eigenschaft, deren wesentliches Merkmal ihre Unbeschränktheit und Unbeschränkbarkeit sei, genüge nicht mehr für eine Definition des staatsbedingenden Phänomens. Ein solcher Begriff negiere das heute wesentliche Problem. Angesichts der „Entmythologisierung" der westlichen Staatssouveränität (263) beobachtet er eine Begrenzung der Souveränität durch gewisse, ihrem Einfluß nicht zugängliche Grundüberzeugungen und durch die Achtung der Souveränität als einer „gegenseitig anerkannten legitimen W i l l k ü r macht des anderen". Der übernationale Rechtsbestand der westlichen Welt (262), verbunden m i t der Erkenntnis des Weltfriedens als Lebensbedingung i m technischen Zeitalter, steht i n Auseinandersetzung m i t dem Osten, der sich von i h r durch die Definition des Freiheitsbegriffs unterscheidet. Je mehr das für die Identität des Staates bestimmende Bewußtsein überstaatlich orientiert ist, um so weniger „vernunftausschließend und vereinzelnd" (264) braucht der Staat für sich selbst zu sein. Das „Gerüst des Unbezweifelten" muß, wenn es i m Staat entbehrlich werden soll, garantiert sein in dem einer Staatengruppe gemeinsamen Bewußtsein. Die teilweise Auflösung des Unbedingtheitsanspruchs des Nationalstaats t r i f f t m i t der Verminderung seiner Fähigkeit zusammen, souveränen politischen Aufgaben für sich allein gerecht zu werden. Diese Auflösung ist aber ihrerseits Bedingung und zusammenhaltende K r a f t für die Schaffung von Gemeinsamkeiten unter mehreren gleichartig orientierten Staaten, i n denen allein die weiterhin erhaltene staatliche Souveränität dem erweiterten Aufgabenbereich genügen kann (247). Die Einschränkung des staatlichen Geltungsanspruchs, die heute sichtbar wird, geht nicht nur aus Verhältnissen hervor, die der

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Staat außerhalb seiner selbst vorfindet, sondern aus den Bedingungen, welchen seine eigene Substanz unterworfen ist (185). III. 1. Der methodische Ansatz von Simsons präjudiziert i n doppelter Hinsicht seine sachlichen Ergebnisse. Der Versuch einer Kritik hat darum hier einzusetzen. a) Von Simson steigert den Souveränitätsbegriff einerseits auf eine höchste Ebene der Abstraktion (abstrakter Begriff der Souveränität m i t seiner rein formalen Willenskomponente), obwohl er einräumen muß, daß der Begriff der Souveränität selbst erst ein „historisch entstandener" Begriff ist (21 ff.) und ein abstrakter Souveränitätsbegriff möglicherweise rechtswissenschaftlich nicht verwertbar erscheint (30); andererseits verweist er auf die „Geschichtsabhängigkeit" dieses Begriffs. Der abstrakte Souveränitätsbegriff ist durch eine weitgehende Entleerung gekennzeichnet. Das führt zur Frage ob er für praktisch-juristische Probleme noch brauchbar ist, und welchen Sinn dieser hohe Grad der Abstrahierung besitzt. Gerade wenn man die Souveränität als geschichtlich bedingten und nicht „ontisch" vorgegebenen Begriff erkennt, aus dem einfach „deduziert" werden kann, bedarf es des abstrakten Begriffs i m Grunde nicht; ja er w i r d zur Gefahr für diesen Begriff selbst, insofern er ihm Normativität und Normalität nimmt. Er w i r d zwar als notwendiger „Rechtsbegriff" (237) postuliert, da er aber „theoretisch" unbegrenzt ist, ist er i m Grunde doch nichtrechtlicher Natur. Zugleich bleibt der Souveränitätsbegriff wesentlich negativ. Dieser Abstraktionsgrad hat eine Formalisierung zur Folge, die sich etwa i n der w i r k l i c h keitsfremden Kategorie des normfreien Willens, der normativ indifferenten Entscheidung zeigt, und die i n der Ausschaltung des Legitimitätsproblems aus dem Souveränitätsbegriff problematisch wird. I n W i r k lichkeit intendiert Souveränität gerade nicht W i l l k ü r 6 0 . Souveränität hat nicht dort ihre wesentliche Aufgabe und Erscheinungsform, wo noch kein Recht gilt oder wo das Recht aufhört. Was Souveränität normativ bedeutet, läßt sich nur i n von vornherein geschichtlichem Ansatz sagen; was sie geschichtlich bedeutet, läßt sich nicht unter Abstrahierung von der Rechtswirklichkeit bestimmen. Denn: das Recht ist i n die geschichtliche Bewegung „eingebunden" und diese ist ihrerseits durch das Recht mitkonstituiert 6 1 . Die Geschichte begrenzt nicht einen abstrakten Sou60 Herb. Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, in: Zum Problem der Souveränität, 1957, S. 16. 61 E.-W. Böckenförde, Die historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, Collegium Philosophicum, 1965, S. 9 ff. (27, 36, 30 f., 32 f.).

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veränitätsbegriff, sondern sie konstituiert ihn „konkret" im Wandel. Dabei hat v. Simson selbst ein Geschichtsbild, das für ein normatives inhaltliches Verständnis der Souveränität grundlegend wird: die Aussagen v. Weizsäckers über die Notwendigkeit des Weltfriedens (260). Die Reduzierung des abstrakten Begriffs der Souveränität auf die normfreie Entscheidung und auf den willkürlichen Befehl hat ganz bestimmte Konsequenzen für v. Simsons Bestimmung des Verhältnisses von Souveränität und Rechtsordnung. Die Souveränität ist für ihn der Rechtsordnung gegenüber ein subsidiärer Begriff. Sie ist nur da unentbehrlich, wo das Recht nicht hinreicht 6 2 . Die Souveränität ist Ergänzungsbegriff zum Recht 63 . Bei dieser Sicht rächt sich die fehlende innere Verklammerung von Recht und Souveränität und die mangelnde inhaltliche Bestimmung der letzteren. Der abstrakte ungeschichtliche Souveränitätsbegriff versperrt den Zugang zu einem normativen Souveränitätsverständnis. Die Souveränität steht neben dem Recht, außerhalb des Rechts und ist durch einen „Abgrund" (52) von ihm geschieden, wobei v. Simson die Notwendigkeit außerrechtlicher Ordnungselemente für das Recht deutlich sieht (34). Die Souveränität droht damit gegen Recht und Rechtsordnung gestellt zu werden e 3 a , sie ist jedenfalls kein Rechtsbegriff, sondern außerrechtlicher, soziologischer Natur 6 4 . Damit ist für die rechtswissenschaftliche Behandlung wenig gewonnen. Auch besteht angesichts des deskriptiven Ansatzes die Gefahr, daß das Recht unversehens zum bloßen Ergänzungsbegriff der Souveränität wird, wobei diese pervertiert. I n Wahrheit ist i h r das Machtmoment und das Rechtsmoment eigen 65 . Sie ist nicht außerrechtliche Beschränkung des Rechts, sondern ein Stück wirklichen Rechts. Reißt man Recht und Macht i m Souveränitätsbegriff auseinander, so läuft man Gefahr, das Machtmoment als „politische" Seite der Souveränität ungewollt zu verstärken und die Rechtsordnung vorschnell einem „willkürlichen" Befehl, einem „souveränen", normativ indifferenten Willen preiszugeben. Freilich steht v. Simson hier in einer ganz bestimmten Tradition 6 6 : der Souveränität als Problem des oft überinterpretierten Spannungsver62 Vgl. S. 66 f.: Souveränität als lückenfüllender Begriff; S. 68: Überbrükkungsfunktion des Souveränitätsbegriffs. 63 s. 67: Souveränitätsbegriff dient zur Erfassung der außerrechtlichen, dem Recht komplementären Voraussetzungen eines sozialen Ganzen (s. auch S. 78, 82). — S. 42: Souveränität ist das, was als außerrechtlicher Wille fortwirkende Voraussetzung für die Rechtsordnung ist. 63a s. demgegenüber Haenel, a.a.O., S. 117 mit Anm. 2: Verknüpfung der Souveränität mit dem Rechtsberuf des Staates und seinem Gemeinzweck. „In diesem Sinne wird er (sc. der Staat) nicht verpflichtet durch seinen eigenen Willen, sondern durch die ihm sich aufdrängende Notwendigkeit des Rechts." 64 S. 67: Souveränität als außerrechtlicher Uberbrückungsbegriff. 65 Grundmann, JZ 1966, S. 81 ff. (83). 66 Zu ihren Erscheinungsformen oben bei und in Anm. 36 f.

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hältnisses von Recht und außerrechtlicher Wirklichkeit — die weit weniger „außerrechtlich" ist als man gemeinhin annimmt. Sucht man m i t Smend,* 7 den Souveränitätsgedanken als den Gedanken inhaltlichen Rechts und inhaltlicher Grenzen des Staates von der Berufsidee her zu bestimmen, gibt man m i t Hesse 68 den überkommenen „formalen" Souveränitätsbegriff auf und geht man von den „sachlichen Aufgaben" des Staates und seiner inhaltlichen geschichtlichen Wesensbestimmung aus, so ergibt sich daraus eine normative Konstituierung und innere Begrenzung des Begriffs der Souveränität. Damit w i r d ausgeschlossen, sie i m wesentlichen dort „formal" und m i t dem Pathos des „Zuhöchstseins" einzusetzen, wo das Recht „aufhört" oder noch nicht „angefangen" hat. Dadurch mündet die Frage nach Sinn und Aufgabe der Souveränität — sie wurde von den älteren Souveränitätslehren bezeichnenderweise vom Souveränitätsproblem getrennt — zugleich in das Legitimitätsproblem 6 9 . W i r d dies verkannt, so läuft man Gefahr, die Souveränität dazu einzusetzen, die Frage nach der Legitimität nicht aufkommen zu lassen. Das ist weder vom Staatsbegriff her möglich — bei v. Simson ist er stark auf Staatsgewalt und Herrschaft reduziert (ζ. B. 19) — noch vom Rechtsbegriff her einleuchtend: denn beide bedürfen des Konsenses 70 . Das gilt nicht nur für den westlichen Verfassungsstaat, i n dem der Konsensgedanke eine vorherrschende Rolle spielt 7 1 , wo Verfassung konstituierend ist für Einheitsbildung und die vertraglichen Elemente i. S. eines immer neuen Sichvertragens 72 stets präsent und aktualisierungsbedürftig sind. Es gilt, wenngleich i n geringerem Maße, auch für die östlichen Staatstypen. I n der Gegenwart w i r d zugleich auf einen anderen Titel zurückgegriffen, u m i m freiheitlichen Staat die Souveränität materiell und rechtlich zu fassen: auf das Gemeinwohl 7 3 . Diese Koppelung von Souveränität und 67

(12).

Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 1 (1951), S. 4 ff.

68 Staatskirchenrechtliche Voreiligkeiten?, ZevKR 6 (1957/58), S. 177 ff. (181 f.). 69 Hennis , a.a.O., S. 5, läßt die Lehre von der Souveränität in die von der Legitimität münden (s. auch S. 40, 71 f., 76). — Herb. Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, a.a.O., S. 24 fragt, ob angesichts von Frieden und Verständigung als Zielen des Völkerrechts dem „an sich wertindifferenten Begriff" der Souveränität nicht auch gewisse positive Möglichkeiten für die Erzeugung eines materiell richtigen Völkerrechts zuzugestehen seien. 70 Krit. zu Hellers Reduzierung des Staates auf die „reine Herrschaftsordnung" unter Hinweis auf die Bedeutung der der Entscheidung vorgeordneten Verständigung und die vorgegebenen Ziele sowie die dem Staat aufgegebene Vereinheitlichung in sittlichen Werten Hennis, a.a.O., S. 67 ff., 76. 71 Dazu Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, V V D S t R L 20 (1963), S. 53 ff. (71 f., 131,133). 72 Vgl. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 53, 61 f., 86, 124 f. 73 So etwa bei Grnndmann, JZ 1966, S. 83.

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Gemeinwohl ist legitim; sie ist m i t der Entstehung des modernen Staates verknüpft und hat ihre Tradition. I n ihr spielen die Phasen eine besondere Rolle, i n denen das monarchische (außerrechtliche) Gemeinwohl Gegentitel und Kampfbegriff zum (gewordenen) Recht und Gesetz waren. Heute finden sich da und dort noch Spuren dieser Tradition, insofern auf das Gemeinwohl als einen vor der Verfassung liegenden „staatlichen" Begriff zurückgegriffen w i r d 7 4 . Indes ist m i t diesem FreundFeind-Verhältnis zwischen Staat, Souveränität, Gemeinwohl hier, Verfassung und Recht dort entschieden zu brechen. „Wille" und „Entscheidung", die zu einer konkreten Verfassung führen, sind keineswegs normativ so indifferent wie dies der Dezisionismus behauptet. Das zeigt das Beispiel Deutschlands i m Jahre 1945 und die Verfassungsgesetzgebung, die zum GG führte. Der Verfassunggeber hat keineswegs i m luftleeren Raum neu geschöpft. Sein „ W i l l e " ist keine Leerformel, weder Leertitel noch Blankettbegriff 7 5 . Er ist selbst geschichtlich. Die besonderen geschichtlichen Erfahrungen, die Wiederbesinnung auf überlieferte Kulturgüter, das Bewußtsein vom eigenen K u l turauftrag, das einheitstiftende Rechtsbewußtsein des Volkes und sein normativ bestimmtes Wollen, als Volk weiterzubestehen, haben die einzelnen verfassungsrechtlichen Regelungen wesentlich geprägt. Die Geschichte selbst ist normierende Größe. Das Volk existiert i n „verfaßter" Gestalt 76 . Die geschichtliche Wirklichkeit des Lebensprozesses, i n dem das Volk immer neu Gestalt gewinnt, kennt keine normfreie „Entscheidung". I n der sogenannten Grundentscheidung sind normative Momente immer m i t enthalten; andererseits ist der Prozeß der Interpretation und Fortentwicklung des Rechts von „volitiven Akten" nicht frei 7 7 . Da i n langer Tradition diese volitiven Momente i n Recht und Rechtsprechung ignoriert und auf einen außerrechtlichen „höchsten Willen" konzentriert wurden, blieb Souveränität als „reiner Wille" weithin außerhalb und vor der Verfassung, ihren Kompetenzen und ihrem materiellen Recht; ja sie blieb vor und außerhalb der Geschichte. — Man mag einwenden, daß die Formalisierung bei v. Simson notwendig ist, u m zur Souveränität als einer Kategorie der Allgemeinen Staatslehre zu gelangen. Doch 74 Das hängt mit der Auffassung zusammen, die das Wesentliche des Staates „in seiner tatsächlichen Macht, in seiner Verfassung aber nur eine sozusagen wesenswidrige, nachträgliche, ja beinahe zufällige Form jener Wirklichkeit, nicht ein Moment dieser Wirklichkeit" sieht, Smend, Gutachten in : Der Kampf um den Wehrbeitrag I, 1952, S. 148 ff. (152). 75 Zu den inhaltlichen Bindungen im Vorgang der Verfassunggebung Ehmke, a.a.O., S. 86 ff., 52 f. 78 Nur eine voluntaristische Hypostasierung der Größe „Volk" hat die Gegenthese „Souveränität des Rechts" herausgefordert. Begreift man Volk im oben angedeuteten Sinne, so entfällt der Dualismus Volks- oder Rechtssouveränität. 77 Vgl. Esser, a.a.O., S. 236, 245, 256 ff., 262.

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das verschiebt nur die Problematik. Staatslehre als Disziplin ist heute anfechtbar, für die konkreten Probleme des Verfassungsstaates gibt sie wenig her 7 8 . Freilich bleibt die Frage, ob es zureichend ist, einen Souveränitätsbegriff zu entwickeln, der nur für den Verfassungsstaat westlicher Prägung gilt, nicht aber für Diktaturen. Gerade die völkerrechtlichen Probleme der Souveränität (Kontinuitätsfragen!) und die angesichts der Blocksysteme aktuelle Sorge um die Einheit des Völkerrechts könnten darauf hinweisen, daß die Souveränität so abstrakt, formal und neutral zu halten ist, daß sie Aussagekraft für alle „Staaten" besitzt. Hat man sich aber nicht auch damit abzufinden, den Begriff des Rechts wie den der Freiheit auf dem Boden des Verfassungsstaats zu entwickeln, und liegt nicht i n dieser Selbstbeschränkung eine unverzichtbare Tat, die ein Stück Legitimation der Rechtswissenschaft selbst ist? Indes, die Einsicht, daß Souveränität geschichtlich bedingten Inhalt hat und sich ihre Erscheinungsform nicht absolut und abstrakt fixieren und auf keinen status quo festlegen läßt, ermöglicht es, sie auch außerhalb des Typus des Verfassungsstaats zu verwenden. I n Diktaturen kommt es zur Einheitsbildung und Selbstverwirklichung weniger i n der Weise des Rechts und auf bestimmte Güter hin, weniger m i t Hilfe fest umrissener Kompetenzen und eines vielgliedrigen Zusammenspiels von Verfahren. Insofern ist Souveränität ein „sinnvariierender" Begriff. I m Verfassungsstaat ist sie nur eine andere Bezeichnung für die geschichtlich aufgegebene W i r kungs- und Verantwortungseinheit des Staates (Bäumlin). Gerade i m Völkerrecht ist es notwendig, Souveränität nicht nur auf den Verfassungsstaat zu beschränken. Gewiß gelangt man damit zu verschiedenen Arten von Souveränität. Doch nötigt das nicht zu der Folgerung υ. Simsons, deshalb sei zwischen einem abstrakten und einem geschichtlichen Begriff der Souveränität zu unterscheiden. Heute bestehen Souveränitätsformen i n verschiedenen geschichtlichen Spielarten nebeneinander. Staaten, denen ein normativ weniger bestimmter, „ w i l der" (ν . Simson) Souveränitätsbegriff eigen ist, wie er für das Europa des 19. Jahrhunderts kennzeichnend gewesen sein mag, finden sich neben Staaten, i n denen die Souveränität Normativ- und Normalbegriff i m entwickelten Sinne ist. Geschichtlich erweist sich als „allgemeines" Kontinuum der Souveränität ihre Verknüpfung m i t Recht und Kompetenz. Das Souveränitätsproblem w i r d i m Verfassungsstaat teilweise oder fast ganz von bestimmten Instituten, Kompetenzordnungen und Ämterzuweisungen „absorbiert". Die Souveränität steht sozusagen i n ihrem 78 Dazu P. Häberle, Allgemeine Staatslehre, Verfassungslehre oder Staatsrechtslehre?, ZfP 12 (1965), S. 381 ff.

2ü Verfassung

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eigenen Schatten. Weil sie geschichtlich polemischer Kampfbegriff 7 9 war und man sich heute davon nicht zu befreien vermag, verfehlt man leicht ihren positiven Sinn. Dem traditionellen Denkstil entsprechend ruft man vor allem dann etatistisch nach „der Souveränität", wenn man sie gegen oder außerhalb von Hecht, Verfahren und Kompetenz als „legitimierenden" Titel einsetzen zu müssen glaubt. Dabei w i r d vergessen, daß der Normalfall wesentliche Erscheinungsform des Staates wie der Souveränität ist. Daraus erklärt sich vieles: das Schwanken zwischen Souveränitätsübersteigerung und Souveränitätsleugnung, die einseitige Reduzierung der Souveränität auf den rechtlich nicht geregelten Konfliktsfall, die damit implizierte Frontstellung zum Recht (mitunter i m Zeichen des Gemeinwohls oder unbenannter „Staatszwecke"), das Schwanken zwischen Souveränität des Rechts und (etatistischer) Staatssouveränität, zwischen dem politischen und dem juristischen Souveränitätsbegriff, schließlich die einer Spaltung von Recht und Rechtsbewußtsein gleichkommende Trennung von Souveränität i m Völker- und Staatsrecht, die durch den Gedanken eines gemeinen Rechts zu mildern ist 8 0 ; diese Trennung w i r d heute m i t der Formel „dualisme, mais interpénétration" (Cavaré) 81 von innerstaatlichem- und Völkerrecht auch zunehmend relativiert. Sobald man erkennt, daß die Souveränität als Problem i m Normalfall, i n der tagtäglichen Rechtssetzung und Rechtsfindung, dem ständigen staatlichen Handeln „nach Kompetenz" und der Erfüllung sachlicher Berufsaufgaben und Wahrnehmung politischer Ämter zwar verdeckt aber sehr real vorhanden ist, ist sie nicht primär Konflikts· und Grenzbegriff, sondern normativer und normaler Begriff, steht sie nicht mehr (als blankettartiger Herrschaftstitel) über dem Recht und außerhalb der Geschichte. Dieser Ansatz t r i f f t sich m i t Bäumlins 82 Verständnis der Souveränität als Bezeichnung für die „aufgegebene Ein79 E. Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, in: Ges. Schriften 1,1960, S. 1 ff. (3). 80 Deutliche Ansätze dazu bei Scheuner, der von einer „inneren und materiellen Berührung der Prinzipien des internationalen Rechts und Landesrechts" spricht, die der formalen Natur der bisherigen Völkerrechtsbetrachtung entgehe (Fünfzig Jahre Völkerrecht, a.a.O., S. 43); gleiches gilt für seinen Hinweis (S. 46, 68), das Völkerrecht lebe wie jedes Recht im einzelmenschlichen Bewußtsein; s. auch van Kleff ens, Die Niederländische Verfassung als Beitrag zur einheitlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, Festschrift f. Riese, 1964, S. 45 (52): „Wechselwirkung" zwischen nationalem und Gemeinschaftsrecht. Auch bei Scheuner, JIR 12 (1965), S. 11 ff. (18, 21, 27, 37, 41) klingt der Gedanke der Interdependenz von nationalem und internationalem Recht deutlich an. — Speziell von der durch die Integration übernationaler Gemeinschaften bewirkten „Differenzierung" von Recht und Staat meint J. H. Kaiser, a.a.O., S. 423, sie sei nicht identisch mit der Abgrenzung von staatlichem und Völkerrecht, deren dualistische Entgegensetzung von innen und außen ihr fremd sei. 81 Dazu K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 22, 39. 82 a.a.O., S. 19 f., 38; ähnlich schon Hennis, a.a.O., S. 76 f., 127 f., 129 f.

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heit des geschichtlichen Staates". So gesehen befindet sich Souveränität als Aufgabe übernommen immer „ i n einem Stadium ihrer relativen Verwirklichung". Sie kennzeichnet den Staat i n seiner Ordnungs- und Befriedigungsfunktion, seinem „gegebenen und aufgegebenen Verantwortungszusammenhang". A u f die bisherigen Souveränitätstheorien bezogen heißt das: Souveränität verwirklicht sich i m Normalzustand und i m — normativ erfaßten, durch Kompetenzen geregelten — Ausnahmezustand. Sie offenbart sich i n der rechtlichen Entscheidung wie in der nicht „durchnormierten" offenen Entscheidung, die zur Kompetenzfrage wird. Sie zeigt sich nicht i n der Abwesenheit von Hecht und i m Durchgriff auf unbestimmte „Staatszwecke". Die Frage nach einem Subjekt der Souveränität w i r d gegenstandslos: Da das geschichtlich gewordene Volk keine außerhalb des Rechts stehende Größe ist, läßt sich kein Dualismus von Volks- und Rechtssouveränität konstruieren. Da der Staat von vornherein rechtlich konstituiert ist, kann man nicht Staats- und Rechtssouveränität einander gegenüberstellen. Da der Staat keine „undurchdringliche" Einheit ist, die über den Pluralgruppen schwebt, ist die Fragestellung „Souveränität gegen Pluralismus" von vornherein verfehlt. I m Verfassungsstaat ist es eine Vielzahl von Verfahren, Ämtern und Kompetenzen, die den Konfliktsfall kontrollierbar machen und entschärfen, die zum Ausgleich zwingen und die anstehenden sachlichen Aufgaben i m Wege des „geordneten Verfahrens" (Herb. Krüger) lösen 83 . Heute geht es u m die sachgerechte Einordnung der Souveränität i n das materiale Koordinatensystem von Verfassung, Kompetenz, Recht und Gemeinwohl, u m die Bestimmung ihres Stellenwerts i n diesem Gesamtzusammenhang. Nur bedarf es dabei eines geschichtlichen und inhaltlichen A n satzes. „Material" w i r d Souveränität durch ihre Konstituierung als Rechtsbegriff und die Orientierung an sachlichen, geschichtlich bedingten Aufgaben. Der Souveränitätsgedanke als Gedanke inhaltlichen Rechts und inhaltlicher Grenzen des Staates (Smend) ist nur möglich, wo Souveränität nicht als Grenzbegriff, sondern als normativer und normaler Begriff verstanden wird. Sie w i r d auf diese Weise aus den schroffen Alternativen Wille, Macht, Gemeinwohl, Kompetenz oder Staatszwecke hier gegen Recht und Freiheit dort genommen. W i r d Souveränität aus ihren obrigkeitsstaatlichen, „demokratischen", nationalstaatlichen, offen oder versteckt etatistischen und dezisionistischen Ubersteigerungen, die sie zum archimedischen Punkt der Staats(rechts)lehre machten, gelöst, w i r d sie als normative Gegebenheit und 83 Der Verfassungsstaat ist im Kampf gegen eine bestimmte geschichtliche Erscheinungsform der Souveränität, der Fürstensouveränität, entstanden. Er legitimiert sich polemisch und ideologisch an der Volkssouveränität. Heute besitzt er die Kraft, diese Ideologie als solche aufzugeben. Das schließt nicht aus, das Volk als verfaßte Größe zum normativ ideellen Bezugspunkt des Verfassungsstaats zu machen.

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Aufgegebenheit i n einem geschichtlichen Gesamtzusammenhang verstanden und durch die Aufdeckung ihrer Verklammerung m i t den anderen Grundbegriffen des Verfassungsstaats i n diesen hereingeholt, so kann sie als — inhaltlicher — Rechtsbegriff konzipiert werden; dies i n einer Weise, die nicht nur Lippenbekenntnis^ 4 bleibt. Souveränität steht nicht jenseits des Rechts, sie ist nicht „Herrschaft über das Recht". I n und durch Rechtsverwirklichung wie i n der Erfüllung des Gemeinwohlauftrags, i m täglichen staatlichen Handeln „nach Kompetenz" verwirklicht sich „Souveränität". b) Der zweite kritisch zu untersuchende methodische Ansatz ist die bewußt deskriptive Haltung des Verfassers 85 . Von Simson präsentiert den Souveränitätsbegriff durchgehend deskriptiv. I n bewußtem Purismus werden Norm und Wirklichkeit voneinander getrennt. Das zeigt sich ζ. B. i n der normfreien Verwendung von Wille und Entscheidung oder bei der Behandlung der an allgemeinen Rechtsvorstellungen orientierten Bindungen der Souveränität (42 ff., 47, 49 ff.). Diese Selbstbeschränkung ist von der Überzeugung motiviert, auf diese Weise ein größeres Maß an wissenschaftlicher Objektivität und Überprüfbarkeit erreichen zu können. Sie hat manche Vorzüge, aber auch einige Nachteile. Diese liegen darin, daß hic et nunc gegebene normative Probleme historisch relativiert werden. Kann aber der Jurist zu gegenwärtigen Sachfragen der Souveränität Stellung nehmen, wenn er diese nur i n deskriptiver Weise aufbereitet? Gewiß ist vor jeder voreiligen und unkontrollierten Vermengung von Beobachtung der Wirklichkeit einerseits, normativen Vorgriffen und Werturteilen andererseits zu warnen. W i r d das normative Engagement indes offengelegt und als solches zur Diskussion gestellt, so ist es kontrollierbar. Jurisprudenz ist einschließlich der A l l gemeinen Staats- oder Verfassungslehre wirklichkeitsorientierte Norm84 Das ist sie, wenn sie als „absoluter Rechtsbegriff", „rein juristisch" gesehen wird wie bei Gunst, a.a.O., S. 105, 114 f., 118, 60, auch wenn dabei von geschichtlichen, politischen und faktischen Veränderungen die Rede ist. — Selbst Hellers Souveränitätsbegriff bleibt insofern formal, als er „ganz ungeschichtlich" (Hennis, a.a.O., S. 71) ist und ihm der Zugang zu einer materialen Theorie durch die „starre" Orientierung am Staat als „Herrschaftsordnung" versperrt bleibt. 85 Vgl. etwa seine Wahl des „heutigen politischen Tatsachenbildes" als Ausgangspunkt (196 ff.), das Nach- und Nebeneinander von „faktischen Bindungen und geistigen Bindungen", Souveränität als summarischer Ausdruck für eine bestimmte Erscheinungsform gesellschaftlichen Lebens und Handelns (69), die Fragestellung nach der tatsächlichen Ausübung der Souveränität, die zur geschichtlichen Sachlage geführt habe. „Wir beobachten (!) . . . die Souveränität einerseits als Begriff ohne weitere pragmatische Qualifikationen und andererseits als geschichtliches Faktum" (31). s. noch die Interpretation der „tatsächlich erscheinenden Souveränitätsformen" (226 f.) und die Definition der Souveränität als eines „soziologischen Phänomens" (109), den Abschnitt Souveränität als „Sachverhalt" (66 ff.) und seine Interpretation der Wertbezogenheit gewisser Verfassungen als „heute verwirklichter Tatsachenlagen" (157).

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Wissenschaft. Es geht ihr vor allem u m „praktische Qualifikationen". Ihnen dient die juristische Begriffsbildung. Daher ist fraglich, ob man wie ν . Simson den „theoretischen" Begriff der Souveränität (44) durch Abstrahierung von aller geschichtlicher Wirklichkeit ermitteln kann und soll. Denn auch Theorie w i r d — jedenfalls i n der Rechtswissenschaft — in der geschichtlichen Wirklichkeit gewonnen. Eine Souveränitätslehre, die sich bewußt beschreibend verhält, vermag etwa wiederkehrenden Perversionen des „souveränen" Staates weniger Widerstand entgegenzusetzen als ein inhaltsbestimmter normativer Souveränitätsbegriff, der wie jede juristische Begriffsbildung ein die Wirklichkeit gestaltendes Moment besitzt. I m politischen Bereich ist jedenfalls ein normativer Souveränitätsbegriff eher geeignet, gegen Extreme Schutz zu bieten als ein deskriptiver, der ein theoretisches Problem zu historisieren und zu relativieren droht. Gewiß, ν . Simson vermag seinen deskriptiven Ansatz insofern glücklich durchzuhalten, als gerade i n neuerer Zeit wie nie zuvor die rechtlichen Grenzen und sachlichen Bedingtheiten der Souveränität sich deskriptiv als „Fakten" beobachten lassen; das ist fast eine „List der Vernunft des Autors". Nur, er hat daraus nicht die Folgerung für einen von vornherein inhaltsbestimmten Souveränitätsbegriff gezogen. Angesichts der besonderen geschichtlichen Lage der Gegenwart w i r d bei v. Simson i m Gewand des Deskriptiven ein normativer Souveränitätsbegriff wenigstens präsent, wenn auch nur als historisches Beispiel. Indes bleibt er „theoretisch" und normativ widerrufbar. Das macht eine Schwäche dieses Ansatzes aus. Die normativen Aufgaben, die der Souveränitätsbegriff der Rechtswissenschaft wie dem Staat stellt, bleiben i n der Unverbindlichkeit des nur beschreibenden Denkens außer Betracht, mögen sie auch vielleicht bewußt nicht zum Thema des Buches gemacht sein. Die (normativen) Aussagen, zu denen v. Simson über den Souveränitätsbegriff i n der westlichen Staatenwelt kommt, bleiben so relativiert und damit geschwächt. Die historische Gunst der Stunde sollte die heutige juristische Theorie jedoch zum Anlaß nehmen, die Souveränität von vornherein als materialen Rechtsbegriff zu konstituieren, seine geschichtliche Bedingtheit zu seiner inneren Struktur zu rechnen, d. h. auf die „erste Stufe" v. Simsons ebenso zu verzichten, wie auf Wille und Entscheidung als normativ aus dem Nichts geborene leere Kategorien. Diese Fragen führen freilich zum Selbstverständnis der Rechtswissenschaft. Wie sehr Souveränität konstitutiven Wert und eine bestimmte positive Funktion i n der täglich zu bewältigenden (Rechts-)Wirklichkeit i m Verfassungsstaat besitzt, zeigt sich an Hand einer aktuellen Frage: Inwieweit hat sich das staatliche Rechtsprechungsmonopol unter dem Gesichts-

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II. Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

punkt der nur durch den Staat zu wahrenden Einheit des Rechts gegen pluralistische Gerichtsbarkeit 86 zu behaupten? Hier dürfte Souveränität, verstanden als normativer einheitsstiftender Begriff, Gesichtspunkte zur Lösung einer konkreten Frage zu liefern haben. Der abstrakte und deskriptive Ansatz v. Simsons bietet dabei wenig Hilfe. Rechtsprechung muß auch heute noch „staatlich" sein, da diese sachliche Aufgabe eine wesentliche Funktion bei der Einheitsbildung besitzt; dies auch in einem Bereich, in dem wie etwa bei der Tarifautonomie die Rechtsetzung delegiert ist — die Tarifautonomie macht die Tarifpartner nicht etwa „souverän". Entsprechendes gilt für andere autonom gestellte Bereiche, die eben dadurch für das Ganze sachlichere Ergebnisse erwarten lassen. Überhaupt ist es nicht sinnvoll, die Souveränität auf verschiedene „Träger" aufzusplittern, etwa auf die Souveränität der Gesellschaft, der Pluralgruppen, des Gewissens, der Öffentlichkeit oder öffentlichen Meinung oder die Souveränität dessen, der die Kompetenz hat, über den Ausnahmezustand zu entscheiden. Dabei darf der Pluralismus nicht polemisch als Gefahr für die Souveränität diskreditiert werden. Souveränität als materialer, rechtlich begrenzter Begriff und Pluralismus bedingen sich. I m freiheitlichen Gemeinwesen hat der Pluralismus eine souveränitätsbegründende Seite. Gewerkschaften, Verbände und andere Pluralgruppen tragen das Ganze mit. Das gilt gerade im Rahmen einer pluralistischen Gemeinwohltheorie (Fraenkel). Der Pluralismus ist nicht notgedrungen als Übel geduldet. Der Verfassungsstaat kann heute Einheit in der Offenheit nur gewinnen, indem er ζ. B. Tarifautonomie gewährt. Uber den Pluralismus vollzieht sich ein Stück der die Souveränität kennzeichnenden Einheitsbildung in der Mannigfaltigkeit der sozialen Wirklichkeit 8 7 . Von Simsons deskriptiver Ansatz — fast ist man versucht, von einer „Realanalyse" zu sprechen — hat freilich auch außerordentliche Vorzüge. Er gibt den Weg für eine umfassende Bestandsaufnahme frei; sie kann 86 Betriebsjustiz, Berufsgerichtsbarkeit, Schiedsgerichtsbarkeit, kirchliche Gerichtsbarkeit; dazu P. Häberle, „Gemeinrechtliche" Gemeinsamkeiten der Rechtsprechung staatlicher und kirchlicher Gerichte?, JZ 1966, S. 384 ff.; ders., Berufsgerichte als „staatliche" Gerichte, DÖV 1965, S. 369 ff. mit Nachw. 87 Die Souveränität läßt sich also nicht selbst als „pluralistisch" kennzeichnen. Abzulehnen ist daher die Pluralismustheorie von Laski: Ihm ist der Staat nicht mehr (allein) souverän; das Gewissen des einzelnen hat es übernommen, sich in den Konflikten zu entscheiden, die in dem in verschiedene souveräne Gruppen als Träger von Hoheitsrechten aufgespaltenen „pluralistic state" entstehen können (dazu Ehmke, a.a.O. [Anm. 72], S. 108 f., Anm. 15). — Der im Text beschriebene Zusammenhang von Souveränität und Pluralismus ist freilich in Deutschland immer gefährdet: durch das von Schmitt aufgenommene französische Dogma von der Volkssouveränität, das einen vorgegebenen einheitlichen Willen fingiert, und durch den deutschen Begriff der Staatssouveränität.

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eine genügend breite Grundlage für normative „Aussonderungen" und Folgerungen sein. Diese Seite des Werkes — sozusagen unentbehrliche Vorstufe zu einem inhaltsbestimmten, dem Recht schon i m Ansatz zugehörigen Souveränitätsbegriff zu sein — kann i n ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden. Von Simsons Kunst zu beobachten und zu beschreiben ist die eine Seite, von der aus man sich dem Souveränitätsproblem zu nähern hat: Wirklichkeitsbezogenheit, politische Ambiance, Trends, Situationsgebundenheit und Geschichtlichkeit kommen so ins volle Blickfeld. Die inhaltliche Anreicherung der Souveränität i. S. normativer Bestimmung und Begrenzung auf der Basis eines Denkens von den sachlichen Aufgaben her, ist der gleichzeitig zu wählende andere Ansatz 8 8 . Die beschreibende Methode bewährt sich in völkerrechtlichen Zusammenhängen. Hier kann man gar nicht genug „beobachten". Das entspricht der Besonderheit des Gegenstands. Wirklichkeitsnähe hat hier i n spezifischer Intensität i n die juristische Begriffsbildung einzufließen 89 . So ist es kein Zufall, daß i n der Erkenntnis des heutigen Weges zur „überstaatlichen Bedingtheit" des Staates bahnbrechende Einsichten zum Souveränitätsproblem vermittelt werden (186 ff.). Entsprechendes gilt für die innerstaatliche Souveränitätsproblematik, die souveränitätsbegründende Bedeutung der Freiheit i m Westen. Beide Ergebnisse sind i n den gebotenen inneren Zusammenhang m i t normativen Folgerungen zu bringen; sie verklammern die oft getrennte völkerrechtliche und staatsrechtliche Seite des Souveränitätsbegriffs 00 . 2. a) Die Freiheit besitzt souveränitätsbegründende Bedeutung — auf diese Formel läßt sich eine wesentliche Einsicht v. Simsons bringen. Bei i h m steht der Souveränitätsgedanke nicht (mehr) gegen die Freiheit. I n den westlichen Staaten ist das Wirken der Staatsautorität an die Über88

Diesen Schritt hat v. Simson, in: Der politische Wille als Gegenstand der Europ. Gemeinschaftsverträge, Festschrift f. Riese, 1964, S. 83 ff., in paradigmatischer Weise getan. Zwar erscheint hier zunächst die Kategorie des „Willens" (S. 83 f., 87, 88: das öffentliche Recht besteht aus Willensfestlegungen) als wesentliches Element der Souveränität. Doch werden dann „pragmatische Verhältnisse" und „historische Bestandslagen" in die rechtliche Untersuchung des Souveränitätsproblems einbezogen; dabei wird das Denken von der Aufgabe her unmittelbar relevant (S. 96: die souveränen Staaten stehen vor übersouveränen Aufgaben), auch wird die „bedingte rechtliche Bindung" gesehen, die die fortschreitende Bildung gemeinsamer faktischer Bedingtheiten ermöglicht (91,97 f.). 8ß Herb. Krüger, a.a.O. (Anm. 60), S. 27, 6, betont die „besondere Nähe von Völkerrecht und Wirklichkeit". fl 0 Herb. Krüger, ZevKR 6 (1957/58), S. 72 ff. (76) beobachtet für das Verhältnis Staat — Kirche eine „Vervölkerrechtlichung" staatsrechtlicher Verhältnisse und als gegenläufigen Prozeß eine „Verstaatsrechtlichung" völkerrechtlicher Verhältnisse (bei den supranationalen Organisationen). Das ist nur eine Folge der Tatsache, daß Souveränität sich nicht in der herkömmlichen Weise in eine Souveränität nach außen und nach innen als „Herrschaft über das Recht" aufspalten läßt.

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einstimmung m i t gewissen allgemeinen, freiwillig oder zwangsweise verbindlichen Grundvorstellungen gebunden (85), so daß ein A k t , der diese Bindung verläßt, aufhören würde, als „souveräner" A k t möglich zu erscheinen. Nach dieser neueren Entwicklung besteht eine verfassungsmäßig festgelegte Bindung der Staaten an gewisse m i t ihrem eigenen Wesen verbundenen Rechtsinhalte (86, 254, 168). Nicht was möglich w i r d durch den Staat, ist das, was seine Bürger an ihn bindet (246). Die Begrenzung der Souveränität durch gewisse Grundentscheidungen wie Freiheit, Toleranz, Würde und Gleichheit gehört heute zu den dem Staat vorgegebenen Grundentscheidungen (263). Bei dieser Verknüpfung von Freiheit und Souveränität, i m Verständnis der Freiheit als einem Stück Konstituierung der staatlichen, inhaltlich begrenzten Souveränität liegt ein bedeutsamer Fortschritt; er ist normativ auszuwerten. Er befreit Freiheit (und damit auch Gewissensfreiheit, kirchliche Freiheit, die Freiheit des und i m Pluralismus) aus ihrer einseitigen Frontstellung zur Souveränität. Gewissensfreiheit und Pluralismus werden zur Stärkung der Souveränität; diese ist dabei schon i m Ansatz m i t dem Recht verknüpft. I m Begründungsvorgang der — staatlichen — Souveränität liegt ein Stück Freiheit. Durch Freiheit w i r d Souveränität rechtlich wirklich, insofern nur über sie und die durch sie vermittelte Offenheit heute staatliche Einheitsbildung und verantwortliche Selbstverwirklichung geschichtlich möglich ist. Über diese Begründung und Zusammenschau von Freiheit und rechtlich konstituierter Souveränität kommt es i m Verfassungsstaat zur Einheitsbildung. Sieht man die Frage nach der Souveränität als Frage nach Vorgang, Erscheinungsweisen und Mitteln der Einheitsbildung, so erweist sich Freiheit (und Recht) als wesentliches M i t t e l zur Gewinnung dieser Einheit. Es w i r d möglich, die traditionelle Fixierung der Souveränität auf den Konflikt, der „souverän" entschieden wird, zu beseitigen. Auch Gerichte lösen Konflikte, sprechen das „letzte Wort" und sind doch nicht „souverän". I m Verfassungsstaat gibt es außerhalb der Verfassung keine Souveränität. I n ihrer „offenen" Aktualisierung kommt es zur Verwirklichung des „aufgegebenen Verantwortungszusammenhangs". Verfahrens- und Kompetenzvorschriften greifen dort ein, wo materiell-rechtliche Normen den „ K o n f l i k t " nicht regeln, und das ist häufig genug der Fall. b) Die überstaatliche Bedingtheit des Staates ist Souveränitätsgeiüinn, nicht Souveränitätsverlust — das ist ein zweites Hauptergebnis des Buches. Für v. Simson ist der Staat heute auf Kräfte angewiesen, die er i n eigener Souveränität nicht hervorbringen kann und die ihm nur auf Grund fremder oder m i t Fremden gemeinsamer Willensbildung zur Verfügung stehen (16). Er beschreibt die Orientierung an überstaatlichen Ideen als den „geschichtlichen Fakten" (198, 18). Das durch Gruppenbildung heute i n gemeinsame Regie genommene Aufgabengebiet gehört zu

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den Leistungen, deren Erbringung für den souveränen Staat lebensnotwendig „und damit eigentlich ein Souveränitätsakt" ist (229). Das führt zu der Einsicht, daß Souveränität heute auf höherer Ebene, in Gruppen und überstaatlicher Gemeinschaftsbindung wieder gewonnen wird. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der zwischenstaatlichen Interdependenzen w i r d i m Eingehen von Bindungen ein Stück Verwirklichung der Souveränität gesehen 91 . „Ein souveränes Handeln ist vielfach nur möglich i n Gemeinschaft mit anderen ihrerseits souveränen Staaten" — nach ν . Simson die wesentliche, die Souveränitätslehre betreffende Evolution unserer Zeit (86), das „Stirb und Werde des Souveränitätsgedankens" (247). Die Souveränität erscheint damit als Mitspracherecht i n größeren Verbänden. Bei diesem Ansatz w i r d das den Souveränitätsbegriff kennzeichnende traditionelle Schrankendenken korrigiert 9 1 a . Souveränität besteht auch und gerade i m Eingehen von Bindungen 9 2 ; dies ist wesentliche Erscheinungsform ihrer selbst. Sie besteht nicht i n der militanten oder polemischen, isolierenden Selbstbehauptung nach außen, wie das dem Souveränitätsverständnis der Großmächte i m 19. Jahrhundert entsprach. A n die Stelle der Selbstbestimmung als Kennzeichen des alten Souveränitätsbegriffs t r i t t der Gedanke der Mitbestimmung. Das Dogma von der prinzipiellen Unbeschränktheit souveräner staatlicher Gew a l t verliert damit auch vom Rechtsbegriff her i m überstaatlichen Bereich ebenso seine Berechtigung wie i m innerstaatlichen. Die „ M i t v e r antwortung für das Fremde" (94) ist in der Tat der eigentliche „Fortschrittsbegriff" i n der Souveränitätslehre der westlichen Welt. — Diese Einsicht vermag die Diskussion um den domaine reservé 93 und seine geschichtlich wechselnde Reichweite außerordentlich zu befruchten. Sie stärkt die Position derer, die i n der staatlichen Zuständigkeit einen völkerrechtlichen Begriff sehen; diese erweist sich damit als abhängige (aber nicht beliebig) Veränderliche der internationalen Zuständigkeit. Beide Kompetenzbereiche stehen nicht starr einander gegenüber, sondern sie befinden sich als komplementäre geschichtliche Größen i n einem nach 91 Auch von der Groeben, Geleitwort zu Koppensteiner, a.a.O., beobachtet bei dem Integrationsprozeß eine scheinbare Einbuße staatlicher Souveränität, der ein Gewinn an europäischer Handlungsfreiheit, ein „Souveränitätsgewinn" gegenüberstehe. 91a Ein ebenso repräsentatives wie fragwürdiges Beispiel für ein Eingriffsdenken, dem sich eine verfehlte Konfrontierung von Recht und Souveränität zugesellt, ist die Auffassung, die Anwendung fremden öffentlichen Rechts sei per se „Beschränkung" der Souveränität des eigenen Staates; dazu K. Vogel, Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnormen, 1965, S. 201 ff. 92 Für Herb. Krüger, Souveränität und Staatengemeinschaft, a.a.O., S. 64, eröffnet gerade die Anerkennung der Souveränität den Staaten die Möglichkeit, völkerrechtliche Bindungen einzugehen. 93 Dazu Mosler, Bräutigam, Art. Staatliche Zuständigkeit, Strupp-Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, I I I , 2. Aufl., 1962, S. 317 ff.

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beiden Seiten (relativ) offenen rechtlichen Interpretationszusammenhang. Es sind die „relativ" souveränen und die in ihrer Souveränität von vornherein rechtlich gebundenen und verbundenen Staaten, die als geschichtliche Individualitäten geschichtliches Völkerrecht und die Staatengemeinschaft mitkonstituieren. Und die Völkerrechtsgemeinschaft garantiert ihrerseits die „staatliche Zuständigkeit", indem sie bestimmte inhaltliche Rechtsvorstellungen entwickelt, deren Anerkennung durch die Staaten letztlich i n ihrem eigenen Interesse liegt. Der Staat als historisch bedingter Ordnungstypus schützt sich selbst, wenn er den domaine reserve anderer Staaten respektiert. Die A r t und Weise, wie heute Völkerrecht und innerstaatliches Recht durch den Souveränitätsbegriff „hindurch" über einander befruchtende Rechtsvorstellungen i n Wechselw i r k u n g gelangen 94 , zeigt: staatliche und internationale Zuständigkeit stehen i n einem sachlichen, rechtlichen Bedingtheitsverhältnis zueinander. Die oft beobachtete heutige Tendenz zu einer Ausweitung der internationalen Zuständigkeit spiegelt den geschichtlichen Wandel der Souveränität. Sie offenbart wachsende „Mitverantwortung für das Fremde", die zur rechtlichen Mitverantwortung wird. Diese ist zugleich ein Stück Mitverantwortung für das Eigene. So gesehen liegt die große Bedeutung des Buches v. Simsons nicht zuletzt in der Zukunft: nämlich dort, wo aus den deskriptiv gewonnenen Einsichten normative Folgerungen nicht nur für das Souveränitätsproblem, sondern für das Völkerrecht überhaupt gezogen werden. Nachtrag zu „ Z u r gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität" (1967) (Nr. 15) Dieser Beitrag bedarf in doppelter Hinsicht der Ergänzung: einmal in bezug auf neuere Literatur, die sich m i t der Souveränitätsproblemat i k befaßt 1 ; zum anderen hinsichtlich der Themen und Werke, welche die Souveränitätsproblematik bewußt oder unbewußt „auslassen". So ist ζ. B. auf der Baseler Staatsrechtslehrertagung 1977 das Souveränitätsproblem kaum behandelt worden 2 . Bemerkenswert ist die A r t i k u l i e rung eines Konsenses durch Zacher i n bezug auf „Herrschaft des Volkes" als „Herrschaft des Rechts" in VVDStRL 29 (1971), S. 134 f. 94

Dazu bei und in Anm. 41, 58 a, 80. z.B. Meessen, Art. „Souveränität", in: Hdb. Vereinte Nationen (Hrsg.: Wolf rum ί Prill / Brückner), 1977, S. 404 ff.; Besprechung von v. Simson durch Badura, in: EuR 2 (1967), S. 179 ff.; Kriele, Einführung in die Allgemeine Staatslehre, 1975, bes. S. 47 ff., dazu meine Rezensionsabhandlung in AöR 102 (1977), S. 284 (295 f.) und die Besprechung des Buches von Steiner, in: AöR 94 (1969), S. 479 ff.; weitere Nachweise bei Dagtoglou, Artikel „Souveränität", Evang. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 2322 (2329 f.). Verwiesen sei auf den Sammelband von Simson, Der Staat und die Staatenwelt, 1978; s. auch H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 227 ff. 2 Vgl. aus der Diskussion Delbrück, V V D S t R L 36 (1978), S. 156 f. 1

15. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität

395

Souveränität ist von der „Innenseite" des Ver/assimgsstaates her gesehen ein „sterbender", wenn nicht schon ein gestorbener Begriff. Der Vorschlag, wenn überhaupt von „Souveränität" dann von „Souveränität der Verfassung" zu sprechen 3, erscheint nicht mehr utopisch. Inwieweit „Souveränität" i m Idealtypus des kooperativen Verfassungsstaates von außen her noch Sinn hat, w i r d in dem einschlägigen Beitrag für die FS Schelsky (Nr. 17) untersucht, der auch jeder Verfassungs-,,Selbstgerechtigkeit" i m Internationalen Privatrecht entgegenwirken möchte.

» P. Häberle, AöR 91 (1967), S. 259 (267 ff., 279 ff., 285).

16. Zum Staatedenken Ernst Forsthoffs* I. Ernst Forsthoff s wissenschaftliches Lebenswerk bleibt i n der Diskussion. Das zeigt sich am Wiederabdruck seines Aufsatzes „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes" i n der von Dreier / Schwegmann vorgelegten Dokumentation 1 und i n der Einleitung Dreiers 2, es zeigt sich aber auch an Beiträgen i n der Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Deutschen Bundesverfassungsgerichts „Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz" 3 . Der durch Ernst Forsthoff von letzter Hand vorbereitete Sammelband „Rechtsstaat i m Wandel", m i t einem einfühlsamen Vorwort von Frey versehen, bildet zusammen m i t dem „Staat der Industriegesellschaft" 4 einerseits, der 10. Auflage des Verwaltungsrechts I (1973) andererseits eine Trias, die das Gesamtwerk dieses „großen konservativen Staatsrechtslehrers" 5 — bei allen Spannungen i m einzelnen 6 — erkennen läßt. Die weitere Entwicklung muß zeigen, was von diesem Werk zu bewahren ist und was sich i n Frage stellen lassen muß. Den wissenschaftlichen und politischen Prozessen der Bewährung darf und kann sich keine Staats- bzw. Verfassungslehre entziehen 7 ; die hier vorgelegte Sammlung wichtiger Arbeiten ist i n ihrer äußeren Präsentation eine denkbar gute Voraussetzung für diese Diskussion. II. Die Reihenfolge der (nur ζ. T. wieder abgedruckten, ζ. T. neuen) Aufsätze bzw. Vorträge wurde gegenüber der ersten Auflage von 1964 * Zeitschrift für Schweizerisches Recht, Bd. 95, 1976, S. 477 - 489. * Zugleich eine Besprechung von Ernst Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel — Verfassungsrechtliche Abhandlungen 1954 - 1973, 2. Aufl., vom Verfasser überarbeitet und nach seinem Tode herausgegeben von Klaus Frey. München 1976 (C. H. Beck), 258 S. 1 Probleme der Verfassungsinterpretation, Baden-Baden 1976, S. 51 ff. 2 Ebenda, bes. S. 13 ff. 3 1976; z. B. Roellecke, Bd. I I , S. 22 (26, 49), Badura, Bd. I I , S. 1 (8, 12), Kirchhof, Bd. I I , S. 50 (60, 62), H. Schneider, Bd. I I , S. 390 (3-95). 4 2. Aufl. 1971. 5 Frey, S. X V . 6 Dazu P. Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung?, JZ 1975, S. 685 ff. 7 Vgl. Forsthoff s eigenen Hinweis auf Kritiker wie H. P. Ipsen, S. 175 Anm. 1, und U. Scheuner, S. 203 Anm. 4.

16. Zum Staatsdenken Ernst Forsthoff s

397

durch Zwischenüberschriften neu geordnet, wobei die Strukturierung i m Blick auf eine geschlossene Staatslehre unverkennbar ist (ihr Hauptmotto: Bewahrung des Rechtsstaats, S. X V I I , Sorge um die Staatlichkeit). A u f I „Die Bundesrepublik Deutschland" folgt I I „Rechtsstaat m i t staatsideologischer Unterbilanz" m i t den Arbeiten „Das politische Problem der Autorität", „Verfassung und Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik" und (neu, d. h. aus dem Jahre 1973) „Wer garantiert das Gemeinwohl?" Daran schließt sich an: I I I „Das Spannungsverhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit". Erst dann folgt als I V „Der Verfassungsgrundsatz der Demokratie" m i t den bekannten „Strukturwandlungen" (1964). Unter dem Stichwort „methodische und institutionelle Wandlungen des Rechtsstaates" finden sich die jeweils unterschiedlich berühmt und wirksam gewordenen Aufsätze wie „Über Maßnahmegesetze", „Die Bindung an Gesetz und Recht", „Die Umbildung des Verfassungsgesetzes" 8, „Der introvertierte Rechtsstaat", „Von der Staatsrechtswissenschaft zur Rechtsstaatswissenschaft" und „ Z u r heutigen Situation einer Verfassungslehre". Abgeschlossen w i r d der Band durch den Abschnitt „Aufgabe und Anrecht des heutigen Juristen", i n dem der „lästige Jurist", der „Jurist i n der industriellen Gesellschaft" und „Rechtsstaat oder Richterstaat" zusammengefaßt sind — ein glücklicher Abschluß, dessen Bedeutung durch die Diskussion auf der Deutschen Staatsrechtslehrertagung von 1975 in Augsburg unter dem Stichwort „personales Substanzproblem" bestätigt wurde 9 . III. Eine Wiedergabe der wesentlichen — weithin bekannten — Thesen Forsthoffs ist nicht erforderlich; i m folgenden sollen einige Schwerpunkte herausgegriffen werden, i m Sinne einer Fortführung der Diskussion, wie sie Forsthoff selbst gewünscht hat; dies w i r d an der A k t u a l i sierung der Fußnoten bei „Wahrung der textlichen Integrität" 1 0 deutlich 1 1 . Die Frage des Verhältnisses von „Rechtsstaat i m Wandel" zum „Staat der Industriegesellschaft" 12 kann hier nur gestellt, nicht beantwortet werden. Manches deutet darauf hin, daß der „Staat der Industriegesellschaft" Rückwirkungen auf das Konzept der 2. Auflage des „Rechtsstaats i m Wandel" hatte — er ist mehrfach i n die Fußnoten eingearbeitet 1 3 —, so wie umgekehrt die 1. Auflage des „Rechtsstaates" vorberei8 Teilabdruck jetzt in P. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, Darmstadt 1976, S. 272 ff. 9 Vgl. Hans F. Zacher, V V D S t R L 34, 1975, S. 284. 10 Vorwort, S. I X . 11 Vgl. S. 72 Anm. 24, 183 Anm. 36, 179 Anm. 20, 185 Anm. 43, 191 Anm. 15. 12 Kritisch dazu P. Häberle, Retrospektive Staatsrechtslehre oder realistische Gesellschaftslehre? ZHR 136, 1972, S. 425 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

tend war für den „Staat der Industriegesellschaft" 14 . Anhand des folgenden Problemkatalogs ist nachweisbar, wie aktuell Forsthoff für die Grundsatzfragen einer Verfassungslehre auch dann ist, wenn man ihm nicht folgt. Der Problemkatalog soll zugleich die Aufmerksamkeit auf Bereiche lenken, die bisher nicht immer i n der gebotenen grundsätzlichen Weise diskutiert worden sind. 1. Wissenschaftlicher oder wissenschaftlicher

Pessimismus Optimismus?

Diese Frage der Grundeinstellung einer Verfassungslehre ist aus der Tradition der Staatslehre bekannt, herkömmlich etwa i m Gewand des pessimistischen bzw. optimistischen Menschenbildes bei Hobbes und Lobke 15. Heute präsentiert sie sich i n Methodenfragen. Deutlich neigt Forsthoff einer „pessimistischen Dimension" zu 1 6 . Sie zeigt sich zum Beispiel immer dann, wenn Forsthoff seiner Sorge Ausdruck verleiht 1 7 oder glaubt, bloße beschreibende, analysierende Feststellungen (ohne naheliegende negative Bewertungen) treffen zu können 1 8 . Dabei gerät er leicht in den Bann von Verfalltheorien 1 9 . Hier zeigt sich Wahlverwandtschaft zu Schelskys wissenschaftlichem Pessimismus 20 , i n dem Forsthoff laut Fußnoten mehrfach einen neuen Gewährsmann sieht 2 1 . Heutige Verfassungslehre muß sich des Problems „Pessimismus oder Optimismus" bewußt sein und sich dazu erklären, wo und wie auch immer sie sich entscheidet 22 : beim Verständnis der Verfassung, der Grundrechte, des Staates, der Gewaltenteilung oder des Gemeinwohls 23 . Die höchstper13

z. B. S. 25 Anm. 5, S. 198 Anm. 33, S. 200 Anm. 45. Vgl. z.B. die Passagen zu BVerfG und Verfassungsinterpretation: Staat der Industriegesellschaft, S. 134 ff., 148 ff. und jetzt Rechtsstaat, S. 158 ff., 171 ff.; ferner S. 4 ebenda: Bundesrepublik als Staat ist eine Funktion der Gesellschaft geworden; siehe auch S. 210. 15 Dazu M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, Reinbek b. Hamburg 1975, S. 133 ff., 202 f. 16 Frey, Vorwort, S. X V . 17 Vgl. S. 162, ferner S. 49 in bezug auf das Gemeinwohl. S. 37: „Es sieht nicht gut aus mit der Zukunft der Freiheit", S. 201: „Der Stern der kodifizierten Verfassung ist im Sinken", S. 226: Zerstörung der Verfassung als logisches System; S. 211: „kein Anlaß, allzu optimistisch zu sein". 18 z.B. S. 13, 127, 167, 187; siehe auch S. 10: „Beschreibung dessen, was ist", sowie S. 166. 19 Siehe S. 251 für den „Rang" der Verfassung. 20 Dazu kritisch P. Häberle, AöR 100, 1975, S. 645 (650). 21 z. B. S. 30, 32, 93, 200. 22 Kritik am anthropologischen Optimismus: P. Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Aufl. Bern 1975, S. 429. 23 Zum „Gemeinwohl-Optimismus" vgl. meine Besprechung von M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, in AöR 101, 1976, S. 292 (295 ff.). 14

16. Zum Staatsdenken Ernst Forsthoff s

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sönliche Haltung des jeweiligen Autors fließt dabei verstärkend (oder gegenläufig) i n sein wissenschaftliches Werk m i t ein. Von der A r t und Weise, wie es der Verfassungslehre gelingt, das „Prinzip Hoffnung" — ohne Euphorie — wissenschaftlich und praktisch so festzumachen, daß Poppers (Reform-)Prozeß von „ t r i a l and error" i n Gang bleibt, dürfte in Zukunft viel abhängen 24 . 2. Staatsrechtslehre zwischen Konservativismus und sozial-liberaler Fortschrittlichkeit — ihre Verarbeitung der Wirklichkeit Die Frage „konservativ oder fortschrittlich" — so fragwürdig beide als Kürzel sind — hängt m i t der ersten zusammen. Forsthoff selbst hat — als Skeptiker — bemerkenswerterweise verlangt, die Verfassungsauslegung müsse einem „vorsichtigen Konservativismus" huldigen (S. 162). Damit ist sein Vorverständnis von Verfassungsinterpretation offengelegt und zwar ebenso ehrlich wie treffend. Damit ist aber auch gesagt, daß solche Vorverständnisse die Auslegung steuern (können) und daß eine über Savignys Methodenkanon 25 hinausweisende Auslegung einer vorsichtigen Fortschrittsidee (besser: dem Entwicklungsgedanken) folgen könnte. I n der Verbannung des Sozialen und sozialer Gehalte aus Verfassung und Verfassungsinterpretation — exemplarisch bei Forsthoff s Sozialstaatsverständnis 26 , i n der Beharrung auf dem „liberalen" Grundrechtsverständnis 27 , liberal freilich eher i n der Sicht eines C. Schmitt und seines sog. Verteilungsprinzips 28 als i m heutigen Selbstverständnis der Liberalen, etwa des Freiburger Programms der FDP —, zeigt sich Forsthoff i n der Tat als Konservativer. Die Staatsrechtslehre bleibt aufgerufen, sich zu fragen, ob sie „konservativ" und das Gegenstück („sozialliberal"?) näher definieren und deutlicher rationalisieren kann. Denn immer mehr zeigt sich, daß nicht nur im politischen Raum, sondern auch i n der wissenschaftlichen Diskussion 29 dies ein Kriterium zur (Unter-) Scheidung der „Geister" wird. Da das Wort „liberal" heute von allen Seiten i n Anspruch genommen wird, ist die Aufgabe freilich schwer. Die Schwierigkeiten wachsen, wenn man sieht, daß Forsthoff i n manchem neuerdings i n H. Ridder einen Mitstreiter gefunden hat 3 0 , der 24 Siehe auch die nicht weiter hinterfragten Begriffe wie „Logik des Systems" usw.: S. 13, 170; S. 199: „Logik des Grundgesetzes", S. 255: „Logik der Werte". 25 Dazu S. 131, 173. 26 z. B. S. 70, 75, 77 ff., 79 f., 204, 209. 27 z. B. S. 196, 209 f. 28 Dazu S. 203 ff. 29 Vgl. ζ. B. die Staatsrechtslehrer-Diskussion in VVDStRL 30,1972, S. 142 ff.; 33, 1975, S. 272 ff.; 35, 1977, S. 109 ff. (zum Verhältnis Staat/Wirtschaft). 30 Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, dazu mein Besprechungsaufsatz in D Ö V 1977, S. 90 ff.

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schwerlich als Konservativer gelten kann: Ridder 31 spricht, wie Forsthoff (S. .125), vom Einbruch des Irrationalen i n das Recht, er ist auf die geschichtliche Ausgangslage des GG (zum Nachteil der Verfassungswirklichkeit) ebenso fixiert wie Forsthoff und er deutet die Formel „Gesetz und Recht" parallel; schließlich wendet er sich ebenso wie Forsthoff 22 gegen das „verunsichernde" deutsche Bundesverfassungsgericht und dessen Interpretation. Sind solche Übereinstimmungen zwischen bewußt zugespitzten Positionen auf beiden Seiten des „Hauses mit vielen Wohnungen", der Wissenschaft, Zufall oder mehr? Sind die Ermutigung für die „mittlere" Lösung, weiter wirklichkeitsnah, entwicklungsoffen zu arbeiten, mehr an der Bewährung als an der Bewahrung orientiert? Forsthoff verabsolutiert den Rechtsstaat und ignoriert seine soziale Struktur, Ridder geht i n umgekehrte Richtung, beide berufen sich auf die Geschichte. Die A r t , wie Wirklichkeit „unter" der Verfassung, neben oder außerhalb von i h r verarbeitet wird, ihre normative Relevanz oder (vermeintliche) Irrelevanz w i r d zu einem wichtigen Unterscheidungskriterium für heutige Staatsrechtslehren (ζ. B. für die Frage, wie es um grundrechtliche Freiheit „ w i r k l i c h " steht). Das läßt sich an Forsthoff immer wieder belegen 33 . Er ringt um „realistische Wirklichkeitsanalyse" 34 , ohne doch die Konsequenz für die Verfassung zu ziehen. 3. Staatsrechtslehre auf dem Weg von der „staatsideologischen Unterbilanz" zur Verfassungsethik? Forsthoff s schon sprichwörtliche Formel von der „staatsideologischen Unterbilanz" 3 5 des GG verweist auf ein Problem heutiger Verfassungslehre, wenn auch an unrichtiger Stelle. Vorab dieses: es geht weniger u m eine „Staatsideologie" als um eine „Staatsidee" 36 . Aber es geht nicht so sehr um die Verortung von für den Bürger attraktiven, ihn engagierenden Ideen beim Staat, als vielmehr beim politischen Gemeinwesen i m ganzen, von dem der Staat nur ein Teil ist (Verfassungsbewußtsein statt Staatsideologie). M i t andern Worten: den Verfassungen sind ethische Gehalte abzugewinnen, sie können sich dann auch dem Staat ver31

a.a.O., S. 11, 18 f., 41, 144 ff. S. 147 ff., 151, 191 f., 206. 33 Vgl. S. X V I I I : Sozialstaat ist das „Werk von Gesetzgebung und Verwaltung unter der Verfassung und ohne die Verfassung". 34 z. B. S. 166. — Vgl. auch S. 181 : wirklichkeitsbezogene Staatsrechtslehre, S. 222: Bedauernder Hinweis auf den „Realitätsverlust" der Verfassung; siehe aber auch S. 66: „Alle Offenheit der Auslegung gegenüber der Wirklichkeit hat ihre Schranke an der Struktur der Verfassung". 35 z. B. S. 5 ff., 20, 91, 99, 153 ff., 167 f., 184, 240. 36 Zu diesem Unterschied zwischen Ideologie und Idee: A. Hollerbach, in W. Maihof er (Hrsg.), Ideologie und Recht, Frankfurt a. M. 1969, S. 37 ff. 32

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mittein. Auch die offene Gesellschaft, einschließlich der Wirtschaft, ist auf solche Gehalte hin auszurichten: auf-dem Wege der Verfassung 37 . Sozialstaat — als Staat „sozialer Gerechtigkeit" — ist doch der Versuch, dem Staat eine neue ethische Qualität zu vermitteln. Die Sozialstaatsklausel gehört zur Substanz der Verfassung 38 . Die Möglichkeit der Selbstidentifikation des Bürgers m i t dem Gemeinwesen — eine anthropologische Notwendigkeit — w i r d heute wesentlich auf diese Weise geschaffen. I m übrigen wäre den verschiedenen Schichten der Bedeutung von Verfassungsnormen i n sorgfältiger Einzelauslegung die Dimension des Verfassungsethischen zu entnehmen. I n diesen Zusammenhang gehört auch das Problem, ob nicht weniger m i t Forsthoff nach einer „Rechtskultur" (S. 242) und ihrem etwaigen Verfall zu fragen wäre, als vielmehr nach „Verfassungskultur". 4. Freiheit durch „redlichen Etatismus" oder durch die Verfassung von Staat und Gesellschaft? Forsthoffs Staatsbegriff bleibt gekennzeichnet durch Sätze wie „Die Staatsgewalt als solche ist i n allen Verfassungen gleich" 3 9 und „Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit begegnen sich i m Eingriff" (S. 177). Er beklagt die „Ausklammerung des Staatsbegriffs aus dem Grundrechtsverständnis" (S. 182) und bedauert, daß der Staat heute der individuellen Freiheit nicht mehr als „geistig-politische Potenz m i t anerkannter Autorität" gegenübertrete 40 . Er kritisiert einerseits, daß der Freiheitsraum der Grundrechte nicht i m Vorfeld der Staatlichkeit belassen werde, Freiheit höre auf, eine vorstaatliche zu sein (S. 208), andererseits betont er die „eminente Bedeutung des Staates" für die Ermöglichung individueller Freiheit (S. 35). Zwar konstituiert die Freiheit „nichts" (S. 178), doch bejaht er gleichzeitig eine „integrierende W i r kung" der Abwehrfunktion der Grundrechte (S. 178). Die Vermutung, die „Stunde des Staates" habe geschlagen (S. 35), steht neben der These, die rechtsstaatliche Verfassung habe einen zweifachen Aspekt, den herrschaftlich-staatspolitischen und den rechtsstaatlichen 41 . Die Ungereimt37 Dies ist ein Aspekt der Heidelberger Diskussion über „Grundpflichten" der Unternehmer im Sinne Saladins (VVDStRL 35, 1977, S. 7 [15 ff.], mit denen deshalb nur wenige etwas anzufangen wußten, weil einerseits die Prozesse der notwendigen Konkretisierung solcher Pflichten von der Gesetzgebung bis zur Verwaltungstätigkeit unbeachtet blieben (siehe aber D. Suhr, ebenda, S. 142 f.), andererseits die Verfassung s ethische Dimension („staatsbürgerlicher Unterricht") nicht gesehen wurde. 38 Anders Forsthop, S. 27, 65, 71, 166 mit Note 36; S. 33: Abbau der Staatlichkeit „in dem Maße, in dem sie sich in Sozialstaatlichkeit verwandelt". 39 S. 50; dazu meine Kritik in Z H R 136, 1972, S. 425 (426 ff.). 40 S. 191: Siehe auch S. 239: Staat ist „nicht mehr Herr, sondern Funktion der Gesellschaft". 41 S. 176. Von Pluralismus ist wenig die Rede, vgl. etwa S. 32, 103.

26 V e r f a s s u n g

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heiten liegen auf der Hand. Fixiert auf einen „staatlichen" Staat, fasziniert von seiner herkömmlichen spätabsolutistischen Herrschaftlichkeit, w i r d der Weg des GG nicht nachvollzogen: das demokratische Gemeinwesen, das grundrechtliche Freiheit vom Staat, durch den Staat und gegen den Staat w i l l 4 2 , Herrschaft, wo nötig, für den Staat anerkennt, vor allem aber eine Verfassung der Freiheit schafft. Staatlichkeit ist nach dem GG nur als verfaßte Staatlichkeit anerkannt. Aufspaltungen i n Staatlichkeit und Hechtsstaatlichkeit 43 , Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaat gehen daran vorbei. Der schrittweise sich vollziehende Vorgang des Verfassens der Gesellschaft als Teil des politischen Gemeinwesens gehört von vornherein i n das Gesamtbild dieser verfaßten Staatlichkeit: als konstitutionelle Gesellschaft 44 . Die Freiheit konstituiert nicht nur nicht „nichts" 4 5 , sie konstituiert i m politischen Gemeinwesen alles, jedenfalls i n einer offenen Bürgerdemokratie. Damit erhalten aber auch die Grundrechte den ihnen gebührenden Platz, ohne daß der Staat und seine freiheitssichernde Funktion vergessen würde. 5. Gespaltene Verfassungsauslegung? Forsthoff lenkt auf seine Weise die Aufmerksamkeit auf die Frage, ob und wie die Verfassungsauslegung i n bezug auf die Grundrechte einerseits, den organisatorischen Teil andererseits gleich bzw. einheitlich sein kann. I n seiner K r i t i k an der Lehre von den Grundrechten als „Wertsystem" oder „Kultursystem" (S. 159) fragt er, warum die übrigen Teile der Verfassung wie Parlament, Regierung, die Zuständigkeitsnormen, der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff usw. von diesem Wertsystem ausgeschlossen bleiben sollen 46 . Dem ist zu antworten: I n der Tat darf die „Einheit der Verfassung" nicht durch grundsätzlich unterschiedliche Methoden zerrissen werden. Die ungleichgewichtige wissenschaftliche Behandlung der beiden Teile des GG mag den Eindruck erwecken, hier werde unterschiedlich ausgelegt. I n Wahrheit ist die „spezifisch verfassungsrechtliche" Auslegung des GG — und nur um sie geht es — nicht auf die Grundrechte beschränkt worden. Man denke an Smends Erarbeitung der „Bundestreue" oder an das sog. positive Kompetenz42 Insofern bleibt den Grundrechten der Reservatcharakter (dazu S. 211) als Teilaspekt. 43 Vgl. z.B. S. 180: Verhältnis von Staatlichkeit übte Herrschaft") und Rechtsstaatlichkeit.

(als „präsente und ausge-

44 Dieser Vorgang mußte Forsthojf wegen seines stereotypen Hinweises auf den „Gesetzescharakter" der Verfassung verschlossen bleiben. 45 46

Siehe aber S. 178.

S. 159, 183. — Siehe auch seine Kritik an dem „ethisch aufgeladenen" modernen Grundrechtsverständnis (S. 211).

16. Zum Staatsdenken Ernst Forsthoff s

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Verständnis 47. Der Gesetzesbegriff erweitert sich um die „leistungsrechtliche Dimension" 4 8 . Die „gewandelte Sozialordnung" kann (entgegen Forsthoff, S. 205) gerade auch i n den organisatorischen Teil der Verfassung „hineingeholt" werden. Das GG öffnet sich diesem Vorgang sogar besonders, das zeigen — ζ. T. durch Verfassungsänderung eingeführte — Begriffe wie „wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser" (Art. 74, Ziffer 19 a), „Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellung" (ebenda Ziffer 16), „Ausbildungsbeihilfen" (ebenda Ziffer 13) sowie die „Gemeinschaftsaufgaben" (Art. 91 a). Das schließt „Spannungslagen" und Differenzierungen nicht aus. So kommt der „Staatspraxis" bzw. den sie prägenden „Verfassungsorganen" als Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinn i m Kompetenzteil besondere Bedeutung zu. Gewohnheitsrechtsbildung kann hier i n anderen Zeiteinheiten erfolgen als sonst, „formales" Verständnis stärker geboten sein als bei den Grundrechten. Bei all dem soll nicht bestritten werden, daß i n der „spezifisch verfassungsrechtlichen" Auslegung aller organisatorischen Bestimmungen noch viel zu leisten ist. 6. Staat und Wirtschaft,

Staat und Verbände

Forsthoff hat sie zwar nicht i n einem eigenen Abschnitt, der Sache nach aber als Grundproblem behandelt. Er findet jetzt i n Ridder 49 sein Gegenstück, so unterschiedlich die Positionen sind. Freilich, nach Forsthoff ist die heutige Wirtschaft als Gefüge nicht eine staatliche Schöpfung, sondern primär eine Hervorbringung der i n der Wirtschaft tätigen Kräfte selbst (S. 3). Doch spricht er i n dem ihm eigenen Realismus von Staat und Wirtschaft als „Funktionseinheiten" 5 0 : Staat, Wirtschaft, Soziales, K u l t u r wüchsen i n einer „heute noch nicht benennbaren Einheit" zusammen (S. 29). N i m m t man das von i h m beobachtete Zusammenwirken von Staat und Verbänden hinzu (S. 241, 215), so stellt sich die Frage, ob hier nicht neue „Verfassungsstmkturen" heranwachsen 51 . Dies um so mehr, als i n Verfassungstexten und anderen Normen der Wirtschaft ausdrücklich Aufgaben zugeschrieben werden, wie überhaupt das GG (und das EG-Recht) auf wirtschaftsverfassungsrechtlich relevante Normen hin zu untersuchen ist (von A r t . 74 Ziffer 16 bis A r t . 109 Abs. 1, 91 a Abs. 1 GG). Die von Forsthoff nicht benannte „Einheit" ist die des „politischen Gemeinwesens". 47 Dazu H. Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, S. 111, 421; P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, Homburg v. d. H. 1970, S. 396 ff., 468 ff. 48 Dazu mein Beitrag in: „Recht und Staat", Festschrift für G. Küchenhoff, Berlin 1972, S. 453 ff. 40 a.a.O., S. 94 ff. 50 S. 29; siehe auch S. 194. 51 Insofern kommt es in der Tat zu einer (neuen) „Politisierung" der Gesellschaft (S. 222), die aber auch im 19. Jahrhundert nicht entpolitisiert war!

2Û*

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

I n dieser Einheit w i r d „der Staat" nicht mehr das Podest des Absoluten haben, doch n i m m t er — wenn auch bescheidener — teil an der Legitimität der Gesamtordnung als solcher. Aufgaben und Formen, Pflichten und Grenzen der Wirtschaft sind ihrerseits nur ein Teilaspekt, aber ein solcher, der seinerseits — ζ. B. durch den Gedanken der Gewaltenteilung — strukturiert ist. 7. Staat und Gemeinwohl Den Vortrag aus dem Jahre 1973 „Wer garantiert das Gemeinwohl?" hat Forsthoff i m Abschnitt „Rechtsstaat m i t staatsideologischer Unterbilanz" piaziert (S. 39 ff.). I n seiner Sicht ist das konsequent. Denn seine Hauptthesen lauten: der Begriff des Gemeinwohls ist an den Staat gebunden (S. 41), der Staat ist kein bloßer Zweckverband auf der Basis des Interesses (S. 42), das Gemeinwohl läßt sich nicht von der ethischsittlichen Legitimation des Staates ablösen (S. 42), es ist nicht gut bestellt um das Gemeinwohl (S. 49). Dieses „staatliche" Gemeinwohlverständnis 5 2 läßt Forsthoff zwar nach A r t . 1 (Menschenwürde) und A r t . 2 Abs. 1 GG blicken, doch dann stellt er fest, der Weg der Verfassungsinterpretation führe nicht weiter 5 3 » 5 4 . Indes ist die Verfassung noch sehr viel ergiebiger für materielle und prozessuale Gemeinwohlgehalte 55 . Einen sachbezogenen juristischen Ansatz wählt Forsthoff, indem er auf § 2 BRaumordG verweist (S. 47). So groß das verfassungstheoretische und -praktische Gemeinwohldefizit erscheint, Forsthoffs folgendem Umschreibungsversuch w i r d man zustimmen können (S. 48): „Gemeinwohl ist kein bloßer Pauschalbegriff, sondern gliedert sich auf i n eine große Skala sehr unterschiedlicher Anforderungen, die von ethisch-sittlichen Regionen bis i n pragmatische Verhältnisse" (Raumplanung) hinabreichen. Nur muß das Gemeinwohl unter Einbeziehung der Industriegesellschaft, nicht „außerhalb" von ihr (so aber: S. 49) konzipiert werden. Der Staat kann ebensowenig „über" den gesellschaftlichen Interessen piaziert werden (siehe aber S. 45), wie er von der Gesellschaft getrennt ist; er kann aber auch nicht m i t den gesellschaftlichen Interessen identifiziert werden, weil er nicht m i t der Gesellschaft „zusammenfällt". Demgemäß ist das Gemeinwohl weder nur staatlich, noch nur gesellschaftlich. Es ist verfassungsrechtlich strukturiert und entsprechend differenziert zu ermitteln: aus den Teilordnungen und Verfahren der Verfassung und unter der Verfassung. 52

Kritik in meiner Studie „öffentliches Interesse" (zit. oben Anm. 47), S. 23, 143 f., 710. 53 S. 43. — Richtig aber die Einbeziehung des Art. 38 GG (S. 46). 54 Siehe auch seine Kritik an der Auslegungsmethode, der die „disziplinierte Ausstrahlung der Staatlichkeit" (S. 225) fehle. 55 Dazu mein Bericht in AöR 95, 1970, S. 86 ff., 260 ff.

16. Zum Staatsdenken Ernst Forsthoff s

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8. Aufgabe und Anrecht des Juristen Forsthoff ist durch die Thematisierung der „Aufgabe des Juristen" i m Rahmen seiner Staatsrechtslehre wegweisend: Die Verfassungslehre hat sich den Fragen zu stellen, wer ist „Jurist", welche Aufgaben hat er, wie ist er auszubilden und wer ist — i n welcher Funktion — Verfassungsinterpret 56 . Dieser personale Aspekt ist nicht gebührend beachtet worden, obwohl es konkrete Menschen sind, die nach Verfassungsrecht leben, es gestalten, interpretieren oder ändern. Weiter gedacht wären auch die Persönlichkeiten einzubeziehen, die i n der Staats- bzw. Verfassungslehre Geschichte (oder/und „Staat") gemacht haben. Man würde hier auf „Entdeckungen" stoßen: etwa i m Blick auf die Renaissance der Staatslehre Hellers. M i t anderen Worten: Staats- und Verfassungslehre hat auch sich selbst, einschließlich der personalen Seite, zu thematisieren: weil sie einerseits i m Rahmen einer konkreten Verfassung arbeitet, von ihren kulturstaatlichen Freiheitsgarantien lebt, weil andererseits „Wissenschaft als Prozeß" sich gerade i n und über eine offene Verfassungslehre entfaltet 6 7 . Art. 5 Abs. 3 GG erweist sich so gesehen als institutionelle Garantie der Verfassungslehre. Sache und Person sind i m Feld der Staatslehre besonders eng verwoben. Die Vorverständnis-Diskussion sollte das. klargestellt haben. „Aufgabe und Anrecht des Verfassungslehrers" und Aufgabe der Sache „Verfassungslehre" müßten also das Anfangs- und Schlußkapitel von Gesamtentwürfen dieser Disziplin sein. Spätestens die Diskussion u m den „Neuen Juristen" 5 8 belegt dies. Nicht nur das Recht w i r d in seinem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft überdacht, auch die Aufgaben der Juristen werden neu definiert, insbesondere i m Blick auf andere „gesellschaftliche Berufe". Forsthoff hat sein Juristenbild unmißverständlich umschrieben: der Jurist ist „weder Eroberer noch Reformer, noch Sozialgestalter, sondern Ordner von Lebensverhältnissen" 59 , und dieses Verständnis hat seine konsequente Entsprechung i n Forsthoff s 58 Dazu P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. 57 Zum Möglichkeitsdenken: P. Häberle, AöR 102, 1977, S. 27 ff. 58 Dazu der gleichnamige Band, Neuwied 1975. 59 S. 228. — Das Verhältnis des Juristen zur „Zeit" ist eigener Behandlung wert (Ansätze in meinem Beitrag „Zeit und Verfassung" jetzt in Dreier! Schwegmann, Probleme der Verfassungsinterpretation [zit. Anm. 1], S. 293 ff.). Forsthoff postuliert (S. 225) einen „wesentlichen Unterschied, ob der Verfassungsinterpret in seinen logisch-juristischen Prozeduren, von seiner Zeit berührt, ihr bewußt oder unbewußt ( !) seinen Tribut leistet", was er für legitim hält, oder „ob der Verfassungsinterpret seine Resultate in bewußter Methode aus den geistigen und sozialen Befindlichkeiten der Zeit ableitet". Indes ist der Jurist durch die Norm hindurch immer zeitabhängig, und es geht darum, dies bewußt zu machen.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Deutung von „Gesetz und Recht" 60 . Man w i r d hier einem gewandelten, weiteren Interpretationsverständnis gemäß auch zu einem gewandelten B i l d vom Juristen kommen müssen, und: Gesetzgebung ist eine Aufgabe auch der Wissenschaft geworden 61 . Darum ist der Jurist sehr wohl auch als „Reformer" auszubilden 62 . Die Bestimmung der Aufgabe des Juristen hängt letztlich m i t verfassungstheoretischen Grundsatzfragen zusammen: m i t dem Verhältnis von Verfassung und Staat bzw. Gesellschaft, m i t der Bestimmung der „guten" Gesetzgebung und Verwaltung* 3 , m i t den Methoden der Verfassungsinterpretation, m i t dem Denken über Politik und Verfassungsrecht, schließlich m i t dem Verhältnis von Verfassungslehre und Sozialwissenschaften. IV. Ein Rückblick ergibt: Forsthoff läßt die Umrisse einer ganzen Staatsrechtslehre erkennen, so sehr die Aufsätze und Vorträge als Fragmente wirken. Fasziniert von einer „geschlossenen Staatlichkeit", konnte er sie nur retrospektiv konzipieren, während er i m gesellschaftlichen Bereich viele Entwicklungen scharfsichtig erkannte (mit den Instrumenten einer Situations- oder Realanalyse). Der Durchbruch zu einem Verständnis der Gesellschaft, das deren Chancen i n Prozessen ihres „Verfassens" sieht 64 , zur verfaßten und als solche offenen Gesellschaft führt 6 5 und eine entsprechend offene konstitutionelle Staatlichkeit verlangt, ist nicht erfolgt. Forsthoff s Verfassungsbegriff greift zu kurz. Das Fehlen eines Realismus i m Verfassungsverständnis selbst, die negative Deutung des G G 6 6 sowie die Vorliebe für begriffliche Konfrontationen 6 7 tun ein übriges. Der Problemkatalog dürfte aber zeigen, wie aktuell die Forsthoffschen Fragestellungen geblieben sind, auch für den, der weder m i t seinem „Konservativismus" noch m i t seinem Pessimismus (und den Folgeerscheinungen i n der Verfassungsinterpretation) übereinstimmt 6 8 . 60

Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. S. 122 ff., 244 ff. Dazu P. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbek b. Hamburg 1973; jetzt: J. Rödig (Hrsg.), Studien zu einer Theorie der Gesetzgebung, Berlin u. a. 1976. 82 Diskussionswürdig ist die These vom „Kontrast zwischen der Entwicklung des Richtertums" (Eroberung großer Entscheidungsräume) und des Juristen in der Verwaltung (Einengung, S. 241). 63 Dazu Forsthoff, S. 230. 84 Eine wohl von ihm selbst kritisch beobachtete Tendenz: Rechtsprechung als „Herr" einer „wertungsgebundenen Gesellschaft" (S. 182). 85 Dazu für das Staatskirchenrecht: P. Häberle, DÖV 1976, S. 76 ff. 88 S. 189: „Das GG enthält nichts, das verdiente, als Errungenschaft bezeichnet zu werden". 67 Vgl. z. B. S. 75: Freiheitsrecht/Teilhabe. 88 Bei der weiteren Verarbeitung seines Werkes in diesem Sinne könnte ein Sachregister von großem Nutzen sein. 61

17. Der kooperative Verfassungsstaat* I. Problem, Begriff, Ausgangsthesen; 1. Möglichkeiten, Wirklichkeit und Notwendigkeiten kooperativer Strukturen in den „Staatswissenschaften"; 2. Verfassungsstaat und „kooperativer Verfassungsstaat"; a) Begriffliches; b) Der Wandel von Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen der Kooperation; c) Erscheinungsformen und verfassungstextliche Anknüpfung; 3. U r sachen und Hintergründe; 4. Grenzen und Gefährdungen — I I . Elemente einer Bestandsaufnahme; 1. Koordinations-, Koexistenz- und Kooperationsvölkerrecht: Verfassende Elemente der Völkerrechtsgemeinschaft; a) Die Organisation der Staatengemeinschaft; b) Regionale Formen intensivierter Kooperation; c) Ansatzpunkte eines „humanitären" und „sozialen" Völkerrechts; d) Staatsübergreifende Kooperation von privater Hand: Die internationale Gesellschaft; 2. Vom souveränen Nationalstaat zum kooperativen Verfassungsstaat; a) Völkerrechtsoffenheit in Verfassungstexten; b) Das Internationale Privatrecht als Ausdruck offener Rechtsstrukturen — I I I . Verfassungstheoretische Konsequenzen; 1. Neuorientierung der Rechtsquellenund Interpretationslehre; 2. „Gemeines Kooperationsrecht": Die Integration von Staats- und Völkerrecht; 3. Kooperative Grundrechtsverwirklichung; 4. Schluß — Zusammenfassung — Ausblick. I . Problem, Begriff, Ausgangsthesen 1. Möglichkeiten, Wirklichkeit und Notwendigkeiten kooperativer Strukturen in den „Staatswissenschaften" D e r T y p u s des w e s t l i c h e n f r e i h e i t l i c h - d e m o k r a t i s c h e n V e r f a s s u n g s staates 1 i s t als solcher n i c h t u n w a n d e l b a r . J a h r h u n d e r t e h a b e n a n sein e m „ e n s e m b l e " v o n rechtsstaatlichen u n d demokratischen, g r u n d r e c h t l i c h e n u n d z u l e t z t sozial- u n d k u l t u r s t a a t l i c h e n E l e m e n t e n g e a r b e i t e t , u n d die Z u k u n f t w i r d i h n w e i t e r e n t f a l t e n . D i e e i n z e l n e n i h n k o n stituierenden M e r k m a l e sind v o n der Verfassungslehre i n w i r k l i c h k e i t s n a h e r B e g r i f f s b i l d u n g z u k o n z i p i e r e n 2 ; andere Wissenschaften, e t w a d i e ( V o l k s - u n d W e l t - ) W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n s o w i e die L e h r e v o n den internationalen Beziehungen haben „Zubringerarbeit" zu leisten. V i e l e s d e u t e t d a r a u f h i n , daß d e r Verfassungsstaat v o m Völkerrecht h e r i n eine neue Phase g e t r e t e n i s t : das „ G e f l e c h t " i n t e r n a t i o n a l e r Beziehungen, Gegenstand der Basler Staatsrechtslehrertagung v o n 1977 3 , h a t eine solche I n t e n s i t ä t , B r e i t e u n d T i e f e g e w o n n e n , daß d e r • Gleichzeitiger Abdruck in FS Schelsky 1978, S. 141-177. ι Zu seinen Strukturmerkmalen s. etwa: Badura, Evang. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 2708 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 10. Aufl. 1977, S. 5 ff., 85 ff. 2 Dazu P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 ff. (bes. S. 442 ff.); 100 (1975), S. 333 (337 f.); 102 (1977), S. 27 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

westliche Verfassungsstaat i n seinem Selbstverständnis darauf angemessen reagieren muß: I n diesem Sinn w i r d der Begriff des kooperativen Verfassungsstaates vorgeschlagen. Der westliche Verfassungsstaat w i r d als heutiger Typus konzipiert, es gibt i h n als solchen, er läßt i n diesem Rahmen Abwandlungen i n beträchtlicher Variationsbreite zu: entscheidend ist seine verfaßte, d. h. rechtlich begrenzte, und entscheidend ist seine — nach innen und außen — offene Struktur 4 . Sie w i r d garantiert durch pluralistische Demokratie, Grundrechte, Elemente der Gewaltenteilung, die i n den gesellschaftlichen Bereich hinein zu erweitern sind 5 , und durch unabhängige Rechtsprechung. Die ideell-moralische Seite (ausgedrückt durch Verfassungssätze wie „internationale Zusammenarbeit" bzw. „Verantwortung", „Friede i n der Welt", „Grundrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft", A r t . 1 Abs. 2 GG, universale (!) Erklärung der Menschenrechte usw.) ist m i t der soziologisch-wirtschaftlichen, „staatswissenschaftlich" zu erfassenden 6, vielfältig verknüpft: der Meeresboden als „gemeinsames Gut der Menschheit" 7 , die Knappheit des wirtschaftlichen „Substrats" (Rohstoffe, Energie, Lebensmittel), der Ressourcen und die soziale Situation der Menschen in Entwicklungsländern zwingt die Staaten i n gemeinsame Verantwortung. Der Verfassungsstaat begegnet ihr „innen wie außen" mit wachsender, sich verbreitender und intensivierender Kooperation. Kooperation w i r d für den Verf as sung sstaat ein Teil seines Selbstverständnisses, das er i m Interesse der „Verfassungsklarheit" nicht nur praktizieren, sondern i n seinen Rechts texten, besonders i n den Verfassungsurkunden, auch dokumentieren sollte. Ein Vergleich der Verfassungsstaaten zeigt, daß sie i n dieser Hinsicht noch sehr unterschiedlich „kooperativ" sind 8 . 3 Berichte von Tomuschat und R. Schmidt, V V D S t R L 36 (1978), S. 7 ff.; s. auch Bernhardt und Zuleeg, D Ö V 1977, S. 457 ff., 462 ff.; Grabitz, DVB1. 1977, S. 786 ff. 4 Verfassungsgrundsatz der „offenen Staatlichkeit": Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1967, S. 36 ff.; Zuleeg, D Ö V 1977, S. 462 (465). s. auch Isensee, VVDStRL 32 (1974), S. 49 (57 f.). 5 Dazu der Jubilar Schelsky, Systemüberwindung, Demokratisierung und Gewaltenteilung, 1973, S. 55 ff. und meine Bespr. in AöR 100 (1975), S. 645 (648 f.). 6 Unten bei Anm. 42. 7 Zum Problem vgl. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972; J. Westphal, Neues Seerecht — nicht ohne Schlagseite? in: F A Z v. 31. Okt. 1977, S. 9; Dicke, in: Ged. Schrift f. Klein, 1977, S. 65 ff. 8 Vgl. die Aufzählung „kooperationsoffener" Verfassungen unten bei Anm. 123 ff.

17. Der kooperative Verfassungsstaat

409

„Kooperativer Verfassungsstaat" ist der Staat, der seine Identität gerade auch i m Völkerrecht, i m Geflecht internationaler und supranationaler Beziehungen, i n der Wahrnehmung internationaler Zusammenarbeit und Verantwortung sowie i n der Bereitschaft zur Solidarität findet 9 . Er entspricht damit weltweiten friedenspolitischen Notwendigkeiten. 2. Verfassungsstaat und „kooperativer Verfassungsstaat" Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Vorstellung vom kooperativen Verfassungsstaat 10 als einer Form des westlichen Verfassungsstaates, die diesen als Typus und als relatives Ideal i n die Völkerrechtsgemeinschaft so eingliedert, daß er ihren gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben elastisch gerecht zu werden vermag. a) Begriffliches Die Begriffsbildungen einer Verfassungslehre sollen nicht nur W i r k liches, schon sicher Erreichtes widerspiegeln, sie sollen als „Vor- und Nachformung" politischer Entwicklungen (i. S. „wissenschaftlicher Vorratspolitik") auch i n der Lage sein, mögliche künftige Entwicklungen rechtzeitig aufzufangen und zu verarbeiten. Der kooperative Verfassungsstaat ist nicht nur eine mögliche (künftige) Entwicklungsform des Typus „Verfassungsstaat"; er hat tendenziell schon heute i n der W i r k lichkeit Gestalt angenommen und er ist vor allem notwendige Form legitimer Staatlichkeit von morgen 11 . 9 Ansätze hierzu finden sich aus der Sicht des Völkerrechts bei der Qualifikation der Charta der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten von 1974, zu der etwa Tomuschat, ZaöRV 36 (1976), S. 444 (453) feststellt, sie erkenne „ein Prinzip weltweiter Solidarität an, indem sie den entwickelten Staaten eine allgemeine Verantwortung für die E L (sc.: Entwicklungsländer) zuspricht"; dazu auch Petersmann, ZaöRV 36 (1976), S. 492 (496): „Das neoliberale Wirtschaftsvölkerrecht soll damit durch redistributiv-solidarisches Gemeinschaftsrecht (ζ. B. auch völkerrechtliche Sicherung « kollektiver wirtschaftlicher Sicherheit » bei der Energie- und Nahrungsmittelversorgung) ergänzt und eine entwicklungspolitische Völkerrechtsentwicklung eingeleitet werden, die der vorangegangenen Entwicklung vom liberalen ,Nachtwächterstaat' zum sozialen Wohlfahrtsstaat sowie der Ergänzung bürgerlicher und politischer durch wirtschaftliche und soziale Menschenrechte komplementär verläuft und teils eine notwendige Abhängigkeit des Wirtschaftsvölkerrechts vom nationalen Wirtschaftslenkungsrecht ist". Daß der Gedanke der internationalen Solidarität nicht neu ist, zeigt Scheuner, 50 Jahre Völkerrecht, in: Fünfzig Jahre Institut für internationales Recht an der Universität Kiel, 1965, S. 53 f. 10 Zu diesem Begriff mein Diskussionsbeitrag in V V D S t R L 36 (1978), S. 129 f., 163; zust. u. a.: Kopp, H.-P. Schneider, ebd.; Tomuschat hielt den Begriff in der Diskussion ebd. für „erwägenswert". 11 Zum Zusammenwirken von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken mein Beitrag: Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, AöR 102 (1977), S. 27 ff.

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I I . Offener Staat und verfaßte Gesellschaft

Der Begriff „Verfassungsstaat" kann hier nur skizziert werden: als Staat, i n dem die öffentliche Gewalt rechtlich konstituiert und begrenzt ist durch materielle und formelle Verfassungsprinzipien: Grundrechte, sozialer Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Gerichte, — und i n dem sie demokratisch legitimiert ist und pluralistisch kontrolliert wird. Es ist der Staat, ìil dem auch gesellschaftliche Macht (wachsend) begrenzt w i r d 1 2 durch „Grundrechtspolitik" und gesellschaftliche (z. B. „publizistische") Gewaltenteilung 1 3 . Verfassungsstaat ist idealtypisch der Staat der „offenen Gesellschaft" 14 . Offenheit hat zunehmend auch eine internationale bzw. „übernationale" Dimension — ihr korrespondiert Verantwortung. Der kooperative Verfassungsstaat betreibt aktiv die Sache der anderen Staaten, der internationalen und supranationalen Einrichtungen und der „fremden" Bürger: seine „Umweltoffenheit" ist „Weltoffenheit" (vgl. A r t . 4 Verf. Jura) 1 5 . Kooperation vollzieht sich politisch und rechtlich. Sie ist vor allem ein Moment der Gestaltung. Der kooperative Verfassungsstaat „entspricht" Entwicklungen zum „kooperativen Völkerrecht" 1 6 . Idealtypisches ( ζ . T. noch „realtypisches"!) Gegenstück zum kooperativen Verfassungsstaat ist — innerhalb des Spektrums des Typus Verfassungsstaat — der „egoistische", selbstbezogene und nach außen „aggressive" Verfassungsstaat, außerhalb dieses Spektrums der totale Staat m i t „geschlossener Gesellschaft" (Sowjetunion oder Chile) und/oder der „wilde" Staat (Entwicklungsländer wie ζ. Z. Uganda). Insofern das Modell vorbildliche Elemente (hier: der Kooperation) enthält, übt es durch seine ideelle Konzipierung i n der Wirklichkeit unmittelbar eine positive (Vorbild-)Wirkung aus, auch wenn es dieser Wirklichkeit partiell noch „voraus" ist. Dieses „gedämpft" optimistische Verfahren 1 7 ist auch unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten 12 Vgl. meine Besprechung Loewenstein, JZ 1970, S. 196 f. und VVDStRL 30 (1972), S. 43 (56). 13 Vgl. Schelsky (Anm. 5), S. 84 ff., und meine Besprechung AöR 100 (1975), S. 645 (648 f.). 14 Dazu im Anschluß an Popper mein Beitrag, JZ 1975, S. 297 ff., DÖV 1976, S. 73 ff. 15 Vgl. unten vor Anm. 136. 16 Hierzu etwa Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 1975, S. 83ff.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht, 1976, S. 59 f., 251 ff. 17 Anders freilich der Jubilar (Anm. 5), S. 17 f.; dazu meine Vorbehalte, AöR 100 (1975), S. 645 (650); zum Problem auch Stolleis, VerwArch 1974, S. 1 (15 mit Anm. 69). — Wie es „utopischen Denkens" für die Überwindung des „wilden" Staates zum „Verfassungsstaat" hin (Th. Morus) bedurfte, bedarf es seiner auch zur Relativierung des „Verfassungsstaats" als nationalem Verfassungsstaat: vgl. Grabitz, DVB1. 1977, S. 786 (794).

17. Der kooperative Verfassungsstaat

411

legitim, sofern es nur rationalisiert w i r d und nicht einem „euphorischen Optimismus" anheimfällt — der bekanntlich oft ins Gegenteil „guter" Leitbilder und Institute umzuschlagen droht. I n vielem ist der kooperative Verfassungsstaat „noch" nicht zur vollen Wirklichkeit gelangt; manches an kooperativen Strukturen, Verfahren, Aufgaben und Kompetenzen ist erst i n nuce erkennbar, fragmentarisch ausgebildet oder gefährdet und prekär. Indes ist das kein Hindernis, sondern eher Ansporn zur künftigen Arbeit an dem „Modell" eines kooperativen Verfassungsstaates — einem Modell freilich, das auch Gefährdungen von seiten ungebändigter („wilder") Staaten, autoritärer, antidemokratischer Gebilde ausgesetzt ist, die eine Ambivalenz i m Verhältnis Verfassungsstaat und internationale Beziehungen sichtbar werden lassen 18 . b) Der Wandel von Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen der Kooperation Das aktive Moment der und i n der Kooperation hat eine formellverfahrensrechtliche Seite: das Procedere (Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln, zu „Abstimmungen", zu Arrangements bis h i n zu Verträgen und festen Einrichtungen), und es hat eine materielle (-rechtliche) Seite: solidarische sachliche Ziele wie „Friede i n der Welt", „soziale Gerechtigkeit", Entwicklung von anderen Ländern, Menschenrechte 19 . Beides gehört zusammen. Oft muß das kooperative Verfahren vorausgehen, oft ist es der alleinige Nenner, auf dem kooperiert w i r d und Einigung möglich ist: der Dissens über die sachlichen Ziele ist (noch) zu groß. Darum ist die „formelle" Seite hoch einzuschätzen. Kooperation beginnt beim punktuellen Kontakt, z. B. Sprechen, geht über das ständige „Sich-Vertragen" und endet i m „Füreinander-Da-Sein" (im Kontrakt). Die begrenzte „Anlehnung" an den Begriff des „kooperativen Föderalismus" liegt nahe 20 . I n manchem deutet der kooperative Verfassungsstaat auf Vorformen bundesstaatlicher Strukturen, Verfahren, K o m 18

Auf die Gefahren dieses „Gefälles" hat vor allem Zacher in der Basler Diskussion hingewiesen: V V D S t R L 36 (1978), Sl Auch dem öffentlichen Gesetzgeber gegenüber kommt es zu normierender Kraft öff. Interessen: wenn und insofern sich öff. Interessen aus der „außerstaatlichen" Öffentlichkeit heraus in seinem Normbildungsprozeß geltend machen wollen und können. Der Prozeß der Rechtsentstehung ist ins öffentliche gehalten. Das entspricht dem Gemeinwohlbezug des Rechts. Morstein Marx, Einführung in die Bürokratie, 1959, S. 172, verweist auf die angloamerikanischen Begriffe der „notice" (öffentliche Ankündigung bevorstehender Maßnah50

21. Normierende Kraft der Öffentlichkeit

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Es i s t e i n K e n n z e i c h e n demokratischer, i m Gegensatz zu m o n a r c h i scher G e m e i n w o h l b e s t i m m u n g u n d R e c h t s f i n d u n g , daß die (gesamte) Ö f f e n t l i c h k e i t n i c h t „ a b s e i t s " steht, daß sich „ s t a a t l i c h e " G e m e i n w o h l k o n k r e t i s i e r u n g n i c h t ohne die Ö f f e n t l i c h k e i t — i s o l i e r t — , sondern ö f f e n t l i c h u n d offen v o l l z i e h t . I m ü b r i g e n v e r s t ä r k t es die G e l t u n g s k r a f t der R e c h t s o r d n u n g als n o r m a t i v e r ö f f e n t l i c h e r Gemeinwohlo r d n u n g , w e n n die Rechtsprechung ( u n d die Gesetzgebung u n d V e r w a l t u n g ) d e n Ö f f e n t l i c h k e i t s b e z u g ö f f e n t l i c h e r Rechtsgüter s u c h t 5 2 , w e n n sie sich i n Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e r Ö f f e n t l i c h k e i t z u b r i n g e n w ü n s c h t — sofern d a d u r c h die R a t i o n a l i t ä t des Rechts (auch als G e meinwohlrecht) nicht überspielt wird5'1. Bei den Erscheinungsformen normierender K r a f t der Öffentlichkeit b z w . ö f f e n t l i c h e r Interessen (der Ö f f e n t l i c h k e i t eines Interesses) k o m m t es z u d e m so b e d e u t u n g s v o l l e n Z u s a m m e n h a n g zwischen verfassungsr e c h t l i c h geschützter Ö f f e n t l i c h k e i t u n d ö f f e n t l i c h e n Interessen. D i e ö f f e n t l i c h e n Interessen e r w e i s e n sich h i e r sehr r e a l als „ ö f f e n t l i c h " u n d sie w i r k e n zugleich n o r m i e r e n d — sie s i n d eine besondere F o r m demokratischen Konsenses. O h n e die v o m S t a a t ( i m engeren Sinne) u n a b h ä n g i g e v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e P u b l i z i t ä t k ä m e es n i c h t z u a l l d e n offenen u n d v e r s t e c k t e n F o r m e n des E i n w i r k e n s der d e m o k r a t i s c h e n men, der Unterrichtung der Öffentlichkeit oder bestimmter Gruppen vor Erlaß von Rechtsverordnungen) und des „hearing", in dem die Betroffenen Gelegenheit zu Einwendungen haben. M. a. W. : der due process of law ist ein spezifisches öffentlichkeits- und Gemeinwohlinstitut! Selbst die Verwaltung, zumal als planende Funktion, ist bei ihrer Konkretisierung öff. Interessen von dieser Öffentlichkeit nicht abgeschnitten; als „öffentliche" Verwaltung darf sie das nicht sein. Die Rolle des öff. Interesses bei der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen aus aktueller Öffentlichkeit heraus ist ein Beispiel für den Zusammenhang von Öffentlichkeit, öff. Interessen und öffentlicher Funktion des Parlaments. ",2 Mit Formeln wie: „Vertrauen der Öffentlichkeit", „die Öffentlichkeit erwartet". Die normierende Kraft der Öffentlichkeit ist auch dort zu beobachten, wo die Rechtsprechung private Interessen als „schutzwürdig" und „berechtigt" anerkennt. Diese nor mativierenden Zusätze sind Ausdruck einer öff. Interessenbewertung (dazu meine Studie „Öff. Interesse", S. 394 Anm. 144, 410 f., 450, 548, 550 Anm. 184). 53 Die normierende Kraft öff. Interessen als normierende Kraft der Öffentlichkeit wirkt nicht im rechtsleeren Raum. Sie knüpft an bestimmte normierte öffentliche Interessen und Rechtsgüter vielfältig an und eröffnet den Gerichten die Möglichkeit, diese unter Berufung auf das „Interesse der Öffentlichkeit", das „öffentliche Vertrauen" etc. interpretatorisch zu verstärken. Vielfach wirken also die beiden anderen Formen normierender Kraft öff. Interessen mit: die normierende Kraft der Staats- und Verwaltungspraxis (dazu P. Häberle, „Öff. Interesse", S. 475 ff.) wird in ihren Gemeinwohlvorformulierungen gestützt durch Hinweise auf die Öffentlichkeit: normierte öff. Interessen werden auch zur Öffentlichkeit in Bezug gesetzt. Die institutionalisierte Öffentlichkeit iils Staat im engeren Sinne, die nicht-staatliche Öffentlichkeit und die öffentliche Rechtsordnung wirken also über das öff. Interesse und seine normative Konkretisierung vielfältig zusammen — wie dies dem Bild der einen res publica entspricht.

492

I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

Öffentlichkeit auf die von der Rechtsprechung konkretisierten öffentlichen Interessen. Die Verfassung selbst w i r d „von unten" her öffentlich, wenn sich die Rechtsprechung gegenüber dieser von i h r vorausgesetzten Öffentlichkeit offenhält; das öffentliche Recht selbst w i r d öffentlich. Keine konstitutionelle Publizität ohne richterliche Publizität Die Rechtsprechungsanalysen zu den inhaltlichen Einwirkungen der Öffentlichkeit auf die Judikatur, insbesondere die „richterliche Mobilisierung von Vertrauenskapital" der Öffentlichkeit i n bestimmte Rechtsgüter (gute Personal- und Ämterpolitik, Integrität von Beamten) 54 , sowie die prätorischen öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogenen Figuren wie der „Durchschnittsbürger", der „aufgeschlossene Betrachter" etc., ermutigen zu dieser Verklammerung von Öffentlichkeit der Verfassung und Öffentlichkeit der Rechtsprechung sowie von Verfassung, öffentlichen Interessen und Öffentlichkeit. Rechtsprechung erweist sich nicht nur über i h r öffentliches Verfahren 5 5 , sondern auch sachlich als öffentliche Funktion. Das Spektakuläre an dieser Erscheinungsform normierender Kraft „öffentlicher" Interessen ist, daß sie von jenem Bereich aus erfolgt, der zwar verfassungsrechtlich garantiert, selbst aber nicht normativierbar ist: dem öffentlichen Bereich 56 . Und doch erscheint sie i n einer res publica weit selbstverständlicher, wenn man sich bewußt macht, daß speziell die Gesetzgebung ebenfalls aus der Öffentlichkeit heraus tätig w i r d und vor allem öffentliche Funktion ist. Uberspitzt gesagt: Die Gesetzgebung ist i n der res publica eine besondere Form normierender K r a f t der Öffentlichkeit dieser res publica 5 7 . Gesetzgebung ist eben nicht i n dem Sinne abgeschlossen, wie das die Gesetzesanwendungsdoktrinen und das „alte Tatbestandsdenken" (Esser) annahmen. Wenn es der Rechtsprechung u m die Konkretisierung der law i n public action geht, so liegt es nahe, daß sich nicht nur normierte öffentliche Interessen auf das weitere öffentliche Schicksal des Gesetzes auswirken, sondern auch die nichtnormierten: sie artikulieren sich i n der Öffentlichkeit 5 8 (An54 Zuletzt BVerfGE 25, 296 (305 f.): Informationsinteresse der Öffentlichkeit an der Aufdeckung wirklicher Mißstände in der Öffentlichen Verwaltung. 55 Das Verfahren kann auch hier in seiner Bedeutung für die materielle Funktion der Rechtsprechung kaum überschätzt werden. 58 Die normierende Kraft der Öffentlichkeit wirkt oft auf die normierende Kraft normierter öff. Interessen bzw. ist mit ihr gleichzeitig nachweisbar. So schreibt die Rechtsprechung gern der Öffentlichkeit bestimmte Rechtsgüter zu, die schon normiert sind und die sie nur bei dem jetzt anstehenden Gemeinwohlinterpretationsproblem aktualisiert — in einem neuen Zusammenhang. 57 Siehe das Beispiel des Gesetzes über das freie Geleit; dazu meine Studie „öff. Interesse", S. 589 ff. 58 Ist das Recht von seiner Aufgabe her notwendig „eingebunden" in die geschichtliche Bewegung der Gesellschaft (E.-W. Böckenförde, Die Historische Rechtsschule und das Problem der Geschichtlichkeit des Rechts, in: Collegium philosophicum, 1965, S. 9 ff. [27]), besteht das Recht für die soziale Wirklichkeit

21. Normierende Kraft der Öffentlichkeit

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r e i c h e r u n g des Gesetzes d u r c h ö f f e n t l i c h e Interessen). Das Gesetz w i r d i m Vorgang der judiziellen Gesetzesinterpretation sachlich öffentlich, Rechtsprechung w i r d z u r ö f f e n t l i c h e n Gemeinwohlrechtsprechung. „ R e c h t s p r e c h u n g " k a n n h e u t e v o n Verfassungs w e g e n n i c h t ohne diese Bezüge z u m G e m e i n w o h l gedacht w e r d e n . I n t e r p r e t a t i o n w i r d z u r Öffentlichkeitsaktualisierung und Gemeinwohlkonkretisierung. Voraussetzung f ü r die n o r m i e r e n d e K r a f t „ ö f f e n t l i c h e r " Interessen sind Öffentlichkeit der d r i t t e n Gewalt, richterliche Unabhängigkeit u n d „ d u e process" i m S i n n e e i n e r o p t i m a l e n , d e n r i c h t e r l i c h e n A u f g a b e n gerecht w e r d e n d e n prozessualen A u s g e s t a l t u n g des f o r m e l l e n V e r f a h r e n s . I n d e r K o n t r o l l e d u r c h die Ö f f e n t l i c h k e i t u n d i n Ö f f e n t l i c h k e i t i h r gegenüber k a n n d e r R i c h t e r aus d e m u n ü b e r s e h b a r e n n o r m a t i v f o r m u l i e r t e n G e m e i n w o h l m a t e r i a l die G e s i c h t s p u n k t e „ s a m m e l n " , d e r e n er b e i seiner a k t u e l l e n G e m e i n w o h l k o n k r e t i s i e r u n g b e d a r f . E r i s t g e z w u n g e n , seine ö f f e n t l i c h e n Interessen ö f f e n t l i c h z u k o n k r e t i s i e r e n u n d seinen B e g r ü n d u n g s v o r g a n g offenzulegen. R i c h t e r l i c h e U n a b h ä n g i g k e i t schützt i h n gegen d e n S t a a t w i e gegen d i e Ö f f e n t l i c h k e i t . Beides i s t v o n n ö t e n angesichts d e r r e l a t i v e n F r e i h e i t , die er b e i d e r A u s w a h l d e r g e m e i n w o h l - u n d ö f f e n t l i c h k e i t s r e l e v a n t e n Verfassungsoder sonstigen Rechtssätze h a t 5 9 . und auf sie hin (ebd. S. 26), muß es immer wieder wegen seiner sozialordnenden Aufgabe auf die sich geschichtlich wandelnden sozialen Ordnungsaufgaben normativ antworten (S. 27), und ist es Teil einer gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit (S. 28), so führt das zum „öffentlichen" Interesse als juristischem Topos. Über ihn hält sich das Recht in Konkordanz mit der Bewegung der Gesamtgesellschaft, sei es, daß das öff. Interesse im Wege ζ. B. folgenorientierter, korrigierender Interpretation eingeführt wird oder daß es zu schöpferischer Gesetzesergänzung anregt, sei es, daß es als kompetenzschaffender und leitender Titel (insbes. in der Verfassungsrechtsprechung) Offenheit des staatlichen Handelns nach Kompetenz (ζ. B. Gemeinwohländerungs-Tatbestände, vgl. meine Studie: „öff. Interesse", S. 162 ff., 389 f.) in Zeit und Öffentlichkeit ermöglicht. Die gesetzlichen Interessenbewertungen werden durch das öff. Interesse als Topos elastisch gehalten. Er hält das Recht des Gemeinwesens in seinem geschichtlich-sozialen Zusammenhang. Staatliches Handeln wie richterliche Rechtsfindung orientieren sich am Gesetz als law in public action und an den ihm zuzuordnenden öff. Interessen (seinen durch die Zweck- oder andere Techniken ermittelten impliziten oder expliziten Zielen aus der Öffentlichkeit). Durch das öff. Interesse kommt die sich wandelnde Wirklichkeit in Recht und Staat „hinein". Was in der res publica öffentlich wirksam wird — Allgemeingut der Öffentlichkeit ist —, wird jetzt dem Recht vermittelt: durch öff. Interessen. Umgekehrt werden Rechtsgedanken in gesetzlichen I n teressenbewertungen über das öff. Interesse Teil des öffentlichen Gesamtzustandes — kraft des gemeinsamen Öffentlichkeitsbezuges. — Die normierende Kraft der Öffentlichkeit kann sich gelegentlich sogar zuerst in der Rechtsprechung und dann in der Gesetzgebung zeigen. Zum Beispiel hat die Judikatur der Presse eine öff. Aufgabe zuerkannt, ehe der Gesetzgeber in den zahlreichen Landespressegesetzen diese öff. Aufgabe als solche normierte. Die Rechtsprechung ging in der Artikulierung jener Aufgaben als öff. Aufgaben der Gesetzgebung voran, indem sie die Information über bestimmte Vorgänge angesichts der parlamentarischen Demokratie zum Gegenstand öff. Interesses machte. 59 Die prozessualen Öffentlichkeitsgarantien der Rechtsprechung werden

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

Öffentlichkeit der Rechtsprechung bedeutet: Die Rechtsprechung hat sich i n und vor der Öffentlichkeit (nicht vor dem Staat!) zu verantworten — unbeschadet, ja gerade wegen ihrer Bindung an Gesetz und Recht. Hier realisiert sich ein Stück republikanischer, demokratischer, rechtsund sozialstaatlicher Öffentlichkeit. Gewiß ist vor einem „Öffentlichkeitsoptimismus" der liberalen Tradition zu warnen. Aber das bedeutet nicht, daß unter den Verhältnissen der Gegenwart der Öffentlichkeit richterlicher Verfahren nicht ein realer Sinn abgewonnen werden könnte 6 0 . Die Öffentlichkeit des demokratischen Gemeinwesens ist nicht mehr Gegenstand jenes grundsätzlichen Mißtrauens, das die „bürgerliche" Öffentlichkeit der monarchischen Öffentlichkeit und ihrem Instrumentarium entgegenbringen mußte. M. a. W.: es ist legitim, heute der Bindung an Gesetz und Recht bestimmte kontrollierbare richterliche Techniken zur Konkretisierung und Einbeziehung öffentlicher Interessen und (in ihnen) der Öffentlichkeit in den Rechtsfindungsprozeß an die Seite zu stellen 01 . Das Demofcratieprinzip des GG ist neben dem Rechts- und Sozialstaatsprinzip der Ansatz für das Öffentliche und die öffentlichen Interessen als „Verfassungsdirektiven" mit Folgen für die Rechtsprechungsfunktion. Die demokratische Öffentlichkeit ist nicht nur die Öffentlichkeit des Parlaments, der Gerichtsverfahren und mancher Verwaltungs-, insbesondere Planverfahren. Sie w i r k t auch und gerade über das Öffentliche der öffentlichen Interessen, die der Richter bestimmt, und ist eine ζ. T. lautlose

Form

demokratischen

Konsenses.

Die Willensbildungs-

und

Wertungsvorgänge, die sich im Bereich des Öffentlichen dank öffentlicher heute freilich meist recht technisch behandelt. Sie sind eigentümlich verblaßt. Von dem Öffentlichkeitselan und der eminent politischen Bedeutung, die zu ihrer Normierung im 19. Jh. geführt haben, ist nur wenig zu spüren (vgl. für die Rechtsprechung im Strafrecht aber BGHSt 4, 279 [283]). Kein Wunder, daß auch der gerade durch die Öffentlichkeitsgarantie öffentliche Status des Richters und die dahinterstehenden materiellen Zusammenhänge in Vergessenheit geraten sind. Eine praktische Theorie des öff. Interesses und der Öffentlichkeit vermag diesen prozessualen Garantien wieder ihren sachlichen Inhalt in der res publica zu vermitteln. 60 Historisch dürfte hinter der Forderung nach Öffentlichkeit der Justiz auch der Gedanke gestanden haben, das monarchisch manipulierte öff. Interesse als „Richtlinie" des Richters bei der Fällung des Richterspruchs auszuschalten: m. a. W.: die ausschließliche Bindung an Gesetz und Recht zu sichern. Nur bei vordergründiger Betrachtung erscheint es paradox, heute einen Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und der Bindung an Gesetz und Recht einerseits, der richterlichen Teilhabe an der Konkretisierung öff. Interessen andererseits herzustellen. 61 In diesem Zusammenhang gewinnt die prozessuale Öffentlichkeit neuen Sinn: Sie kontrolliert die normierende Kraft der Öffentlichkeit bzw. der öff. Interessen und die richterliche Konkretisierung gesetzlich normierter öff. Interessen. Und sie verleiht ihr inhaltliche Impulse. Durch die Ermächtigung des Richters, im Rahmen seiner Kunstregeln Interessen zu öffentlichen zu „machen", gewinnt er ein Stück demokratischer Legitimation.

21. Normierende Kraft der Öffentlichkeit

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Freiheit abspielen und die sich als Gruppen- und Pluralinteressen geltend machen, sind „Materialien", von denen der Richter bei seiner Ermittlung von Gesichtspunkten öffentlicher Interessen in der Rechtsfindung ausgehen kann (Interpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung). Seine Unabhängigkeit gibt ihm den unverzichtbaren Status zur Erfüllung dieser — öffentlichen — Aufgabe. Dabei h i l f t das beliebte B i l d des „Sprach- oder Hörrohrs" nicht weiter: Die miteinander ringenden Gruppeninteressen hat der Richter nicht abzuhören i n dem Sinne, daß er sie statistisch ermittelt und i m übrigen passiv „anerkennt". Die i n der Öffentlichkeit vertretenen „Meinungen" sind Materialien. Der Richter hat ihnen gegenüber eine spezifisch wertende und normative, durch seine Kunstregeln präzisierte Aufgabe. Andernfalls verfehlt er seinen Verfassungsauftrag. Die „Meinungs-" und „Stimmungs"demokratie ist nicht die Demokratie, die über das öffentliche öffentlicher Interessen (und sonstiger öffentlichkeitsbezogener Begriffe, ζ. B. öffentliche Sicherheit und Ordnung) für den Richter wirksam werden soll. Der Richter besitzt kraft seiner Unabhängigkeit gegenüber dem Staat wie gegenüber der Öffentlichkeit und der jener korrespondierenden Bindung an Gesetz und Recht gegenüber den sich i n der Mitte des öffentlichen Bereichs und im Raum öffentlicher Freiheit vordrängenden „repräsentierten" Interessen „Neutralität". Das setzt ihn instand, die miteinander in K o n f l i k t stehenden öffentlichkeitsbildenden und sich i n Publizität artikulierenden pluralistischen Interessen gegeneinander abzuwägen und sachlich „normund zwecknah" zu bestimmen und sie i n optimaler Weise zu öffentlichen Interessen zu integrieren (durch offenen Kompromiß). Dennoch bzw. gerade dadurch gewinnt der Richter Kontakt zur demokratischen Öffentlichkeit, von der ihn die deutsche konstitutionelle Theorie und Praxis materiell abgeschnitten hatte. Der „pluralistisch aufgespaltene Volkswille" hat durch die Öffentlichkeit der Verfassung bzw. das der Rechtsprechungsfunktion immanente Publizitätsgebot eine ständige Möglichkeit, m i t der Rechtsprechungsfunktion in Berührung zu bleiben 62 . Dadurch, daß der Richter öffentliche Interessen — in 02 Welche Gefahren „volksnahe" Rechtsprechung mit sich bringt, hat die NSZeit gelehrt. Die damals manipulierte Öffentlichkeit, der Abbau der Normativität des Rechts zugunsten „von oben" bestimmter Allgemeininteressen, die per se schon den Einzel-, Gruppen-, und Privatinteressen vorgingen, die Aushöhlung richterlicher Unabhängigkeit bedeuten wichtigen negativen Anschauungsunterricht. Er vermag als Kontrast zu zeigen, wie das „Innenverhältnis" von Recht und öff. Interessen in der Rechtsprechungsfunktion (das Gemeinwohlrecht) nicht aussehen darf. Eigenart des Rechts und die offene Öffentlichkeit wurden damals institutionell wie funktionell, materiellrechtlich wie prozessual in Frage gestellt. Recht und öff. Interessen wurden einander nicht nur entfremdet, beide pervertierten zugleich. Das zeigt, wie sehr sie — sachgerecht verstanden — schon im Ansatz zusammengehören. Das Recht selbst war im

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

w e l c h e n r a t i o n a l e n T e c h n i k e n auch i m m e r — k o n k r e t i s i e r t , n i m m t er eine e m i n e n t „ r e p r ä s e n t a t i v e " A u f g a b e w a h r : R e p r ä s e n t a t i o n i s t h i e r als d e r Sphäre des ö f f e n t l i c h e n z u g e o r d n e t e r V o r g a n g v e r s t a n d e n , d e r a u f das G e m e i n w o h l h i n t e n d i e r t 6 3 . D u r c h diesen ü b e r das ( m e h r oder w e n i g e r g e n e r a l k l a u s e l a r t i g e ) „ ö f f e n t l i c h e " Interesse u n d a l l seine E r s c h e i n u n g s f o r m e n v e r m i t t e l t e n B e z u g z u r d e m o k r a t i s c h e n Ö f f e n t l i c h k e i t u n d das i m ö f f e n t l i c h e n V e r f a h r e n gesetzte Recht, sowie seine K o n k r e t i s i e r u n g d u r c h d e n R i c h t e r g e w i n n t dieser e i n S t ü c k d e m o k r a t i s c h e r L e g i t i m a t i o n 6 4 . D i e p r a k t i s c h e O f f e n h e i t d e r ö f f e n t l i c h e n Interessen i n r i c h t e r l i c h e n E n t s c h e i d u n g e n gegenüber d e r Ö f f e n t l i c h k e i t 6 5 h a t i h r e G r e n z e n : d e r R i c h t e r k a n n u n d s o l l sich W e r t s c h w a n k u n g e n d e r u n d i n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t gegenüber z u r ü c k h a l t e n d zeigen. Seine spezifische r a t i o n a l e — u n d d u r c h K u n s t r e g e l n b e w e g l i c h gehaltene — Bindung a n Gesetz u n d Recht d a r f n i c h t e i n e r v o r e i l i g e n W e r t u n g aus d e r Ö f f e n t l i c h k e i t des Tages, aus w i r k l i c h „ d i f f u s e n " Ö f f e n t l i c h k e i t s t e n d e n z e n heraus z u m O p f e r gebracht w e r d e n . G e r a d e deshalb i s t e r n i c h t n u r d e m Staat, s o n d e r n auch d e r Ö f f e n t l i c h k e i t gegenüber u n a b h ä n g i g — v o n V e r f a s sungs w e g e n 6 6 . Dies m i n d e r t n i c h t die g r u n d s ä t z l i c h e B e d e u t u n g d e r Grunde nicht mehr „öffentlich". Das bestätigen nicht nur die Geheimerlasse, die geheimen Gerichtsverfahren etc., sondern auch die Aufweichungen des Rechts durch die Uberwertigkeit des beliebig bestimmten „Gemeinnutzes". Die Notwendigkeit der Verklammerung eines materialen Rechtsbegriffs mit dem öff. Interesse und seiner Öffentlichkeit könnten nicht augenfälliger belegt werden, die Korrelativität von öff. Interesse und Recht als eigenständigen Größen nicht sinnfälliger sein. 63 I n der Theorie ist der Zusammenhang von Repräsentation und Gemeinwohl immer wieder hergestellt worden: vgl. die Zitate bei Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. Aufl., 1966, S. 52 ff. 84 Diese öff. Interessen kristallisieren sich in dem komplexen Integrationsvorgang, der die res publica stets von neuem verfaßt und in dem die Totalität der geschichtlichen Wirklichkeit des öffentlichen Rechts des Gemeinwesens steht. 85 Die Öffentlichkeit wird auch relevant, indem die Gerichte sich bei der Konkretisierung öff. Interessen an publizierte Gesetze als Gemeinwohlmaterial anlehnen (dazu Nachw. in meiner Studie „öff. Interesse", S. 374 ff.). 88 Es bestehen „deutsche" Ursachen dafür, daß der materielle Zusammenhang von Öffentlichkeit, öff. Interessen und der richterlichen Interpretation dieser Interessen im Einzelfall bisher unbeachtet blieb und selbst von der Rechtsprechung mehr versteckt als offen bejaht wird. Der Rechtsprechung, dem deutschen Richtertum, ja der Rechtswissenschaft im allgemeinen und im öffentlichen Recht im besonderen ist ein theoretisch geklärtes inneres Verhältnis zum öffentlichen und öff. Interesse nicht geglückt. Die Ursachen dafür sind in der besonderen deutschen Entwicklungsgeschichte und den Belastungen von Öffentlichkeit und öff. Interessen im Zeichen des monarchischen Obrigkeitsstaates und des von ihm monopolisierten Begriffs des öffentlichen zu suchen. Dazu Marcie, Öffentlichkeit als staatsrechtlicher Begriff, in: Richter und Journalisten, 1965, S. 153 ff. (177, 183 f.). Wichtig das Zitat Feuerbachs (zit. bei F. Schneider, Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit, 1966, S. 223).

21. Normierende Kraft der Öffentlichkeit

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n o r m i e r e n d e n K r a f t des ö f f e n t l i c h e n Interesses als n o r m i e r e n d e r K r a f t der Öffentlichkeit 67. D e r S t e l l e n w e r t des ö f f e n t l i c h e n Interesses i m R a h m e n d e r Rechtsf i n d u n g k a n n n i c h t ohne d e n Richtertypus e r m i t t e l t w e r d e n : die R i c h t e r b i l d e n i n d e r pluralistischen Öffentlichkeit eine G r u p p e v o n r e l a t i v e r E i g e n s t ä n d i g k e i t . Das h a t angesichts der h e u t i g e n pluralistischen G e m e i n w o h l v o r s t e l l u n g e n durchaus V o r z ü g e . Es sichert i h n e n eine gewisse N e u t r a l i t ä t , w e n n es d a r u m geht, die ö f f e n t l i c h e n I n t e r e s s e n aus d e r Ö f f e n t l i c h k e i t i n h a l t l i c h z u b e s t i m m e n oder f u n k t i o n e l l a n z u e r k e n n e n — n i c h t z u l e t z t d a n n , w e n n dies u n t e r B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r e i n z e l n e n i n der ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g „ v e r t r e t e n e n " Interessen z u geschehen h a t (die ö f f e n t l i c h e M e i n u n g i s t i h r e r s e i t s v o n d e r V e r f a s s u n g a n e r k a n n t [ A r t . 5, 8, 20, 21 G G ] ) . D e r R i c h t e r m u ß sich d e n G r u p p e n v o r s t e l l u n g e n gegenüber o f f e n h a l t e n . Sie k ö n n e n u n d d ü r f e n „ g e f i l t e r t " i n sein V e r s t ä n d n i s des Gesetzes als l a w i n p u b l i c a c t i o n einfließen. D e r R i c h t e r k a n n a u f d e n Ausgleich v o n sich als öffentliche Interessen g e l t e n d machenden G r u p p e n i n t e r e s s e n versachlichend wirken68. 67

Unter dieser Formel sind nicht nur jene sozusagen unmittelbar durch die Öffentlichkeit „normierten" und vom Richter aufgenommenen Wertungen der und in der Öffentlichkeit zu verstehen; vielmehr werden auch alle jene zahlreichen Techniken und Erscheinungsformen richterlichen Einsatzes des öff. Interesses hinzugerechnet, die das öff. Interesse als „echtes Topos" erscheinen lassen. Auch dort, wo der Richter sich bei der Auslegung eines Gesetzes an Gesichtspunkte öff. Interessen anlehnt, die in benachbarten, höheren oder niederen Normen zum Ausdruck gelangt sind (Gemeinwohlrecht), wo er Verwaltungspraxis und -Vorschriften als normative Interpretationshilfe benutzt, wo er staats- oder verwaltungsrechtlichen Verträgen und Abkommen Auswirkungen („Ausstrahlungen") auf die Bestimmung des öff. Interesses einräumt, wo er aus Gesichtspunkten der Sachnähe, des Sachzusammenhangs, des Zwecks des Gesetzes, der sachlichen Erwägungen zu bestimmten öff. Interessen findet (dazu Nachw. in meiner Studie „öff. Interesse", S. 240 ff. bzw. S. 307 ff.) — in all diesen kompetenz- und verfahrensrechtlich zu sehenden Fällen wirkt das öff. Interesse in mehr oder weniger starker Intensität normierend. Hier ist nicht etwa eine staatliche Öffentlichkeit normierend, wenngleich es staatliches Handeln ist, dessen Ergebnis der Richter qua öffentliches Interesse aufnimmt. Es wird also keineswegs auf einem Umweg doch wieder einem gespaltenen Öffentlichkeitsbegriff Tribut gezollt. Denn die Art und Weise, wie der Richter das öff. Interesse in die Interpretation einführt und auslegt, ist nicht an einem „staatlichen" öff. Interesse orientiert. Vielmehr wird der ganze Umkreis der Interessen in Erwägung gezogen und praktisch richterlich durchgesetzt, die in einer umfassend gedachten res publica lebendig sind. Auch sind Gesichtspunkte, die aus unterschiedlichen normativen Gemeinwohlakten das Staates gewonnen werden und „als" öffentliche Interessen vom Richter gewertet werden, nicht per se staatliche öff. Interessen („Entstaatlichung" der öff. Interessen in der Rechtsprechung). Die Öffentlichkeit ist keine „Staats"funktion, und doch hat sie wesentlichen Anteil an der Konkretisierung öff. Interessen. Oder anders gewendet: Der Staat und seine Funktion werden zunehmend öffentlich. 68

Seine jeweilige Aufgabe ist auf dem Hintergrund einer bestimmten geschichtlichen Epoche zu sehen. Der heutige Funktionswandel in der Rechtsprechung, die Forderung nach „sozialem Ausgleich durch Richterspruch" ist eine andere Bezeichnung dessen, was der Richter über die Öffentlichkeit von InterVI V e r f a s s u n g

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Durch die variationsreiche richterliche Aktualisierung öffentlicher Interessen aus der Öffentlichkeit, durch Judizieren i n Öffentlichkeit und durch Veröffentlichung von Minderheitsvoten (Interpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung) w i r d der Richter i n die Öffentlichkeit des demokratischen Gemeinwesens einbezogen. Vor allem die Publizität des Minderheitenvotums ermöglicht diesem, potentiell Gegenstand der normierenden K r a f t der Öffentlichkeit zu werden. Das Recht verliert dadurch keineswegs an Autorität. Es gewinnt an Überzeugungskraft, wenn der Prozeß seiner Konkretisierung und Fortbildung vor der Öffentlichkeit offengelegt, vor ihr verantwortet und i n ihrem öffentlichen Konsens mitgetragen wird. Recht und Rechtsprechung, die allzusehr und allzulange i n Selbstisolierung gegenüber der Ganzheit des Gemeinwesens und seinen Integrations- und Kommunikationsvorgängen, aber auch gegenüber seinen Konflikten standen, können durch diese Öffentlichkeit von innen her (institutionell wie funktionell über die normierende K r a f t „öffentlicher" Interessen) nur gewinnen. Hier zeigt sich die Bedeutung der Verfahren. Durch Offenlegung gewinnt das Recht an Rationalität. Der Rechtsprechungsvorgang und die — public — law i n action nimmt über die Öffentlichkeit bzw. das öffentliche Interesse an der Offenheit der Demokratie teil. Die Wirklichkeitsbezogenheit des Rechts und seiner öffentlichen Interessen w i r d offen zugegeben und bei der Veröffentlichung von Minderheitsvoten nicht durch realitätsfremde Abstraktionen von richterlicher Einstimmigkeit, von der richterlichen Person und dem richterlichen Gremium, Abhängigkeit nur vom „vorgegebenen" Gesetz, wegretuschiert. Insofern ist es kein Zufall, daß sich besonders i n der Verfassungsrechtsprechung neuerdings Minderheitsvoten durchsetzen. Denn ihre Gemeinwohl- und Öffentlichkeitsbezüge sind besonders intensiv. Weil heute das i n der Öffentlichkeit des Parlaments beratene und verabschiedete Gesetz nichts „Fertiges" ist und deshalb Interessen der Öffentlichkeit versteckt oder offen, tatbestandsmäßig und richterlich bei der Konkretisierung des Gesetzes eine wachsende Rolle spielen, muß sich die Öffentlichkeit verstärkt dort einschalten können, wo das Gesetz interpretiert und fortgebildet w i r d : i n Rechtsprechung und Verwaltung. Es liegt i n der Konsequenz der modernen Entwicklung, die Öffentlichkeit des Gesetzes i n der Öffentlichkeit von Rechtsprechung essen leistet und zu leisten hat —dank seines öffentlichen Status'. Die Formel von der Bindung des Richters an das Gesetz, wie er es versteht (Esser), bedeutet keine Relativierung dieser Bindung — auch nicht, wenn in diesem Verständnis „öffentliche" Interessen einfließen, wie er sie verstehen darf. Der Begründungsstil kann dabei nicht kritisch genug „seziert" werden.

21. Normierende Kraft der Öffentlichkeit

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und Verwaltung i n dieser Weise „fortzusetzen", sie i n den Einzelfall hinein zu projizieren. Bei aller Legitimierung richterlichen Einsatzes und richterlicher Konkretisierung öffentlicher Interessen, bei allen Versuchen, einen offenen Katalog hermeneutischer Kunstregeln zu entwickeln: wann, wo und wie aus der Öffentlichkeit bestimmte öffentliche Interessen zu konkretisieren sind und welchen „Kurswert" sie als Topoi und Argumente i m Wertungsvorgang haben, muß bedacht werden: Rechtsprechung, auch als „GemeinWohlrechtsprechung", ist Kontrolle von Verwaltung bzw. Gesetzgebung (letzteres ist sie als Verfassungsrechtsprechung). Sie ist (auch) Kontrolle i m Hinblick auf das „öffentliche" Interesse und dessen rechtswidrige — insbesondere verfassungsgemeinwohlwidrige — Konkretisierung durch die öffentliche Gewalt. Die Normativität des — öffentlichen — Rechts ist auch i n ihrem Gemeinwohlbezug ernstzunehmen; der Rechtsprechung ist sie in spezifischer Weise anvertraut. I I I . Grenzen der normierenden Kraft der Öffentlichkeit Wo liegen indes die Grenzen der normierenden Kraft der Öffentlichkeit? Dieser Frage sollten w i r uns m i t vollem Einsatz annehmen: Die Gefahren einer manipulierten und manipulierbaren Öffentlichkeit liegen auf der Hand. Unsere jüngste Geschichte kennt Beispiele dafür, wie über eine Pervertierung der Öffentlichkeit das Gemeinwohl — etwa als „Gemeinnutz geht vor Eigennutz "-Parole — zum Moloch wurde, jede Berechenbarkeit und Begrenztheit verlor und private Existenz aufhob. Kurz: i n dem Maße, wie öffentliche Interessen ideologie anfäll i g 6 9 sind und Öffentlichkeit irrational werden kann, i n dem Maße gilt es, nach Kriterien zu suchen, die diesen Mißbrauchsgefahren entgegenwirken, ohne dem Richter die Sensibilität für öffentliche Gemeinwohlwertungen zu nehmen. Dies ist um so dringender, als Öffentlichkeit kein Zauberstab ist, der die Dinge per se besser macht. Ihre sachliche Leistungsfähigkeit (und Informiertheit) darf auch i m demokratischen Gemeinwesen nicht überschätzt werden. Bei der Bestimmung der Grenzen der normierenden K r a f t der Öffentlichkeit i n juristischen Gemeinwohlfragen vermögen uns jene Techniken 7 0 zu helfen, die die Rechtstheorie gegenüber Generalklauseln 69 Zur Ideologieanfälligkeit: Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in Ideologie und Recht, hrsg. v. W. Maihof er, 1969, S. 37 ff. (55). 70 Der richterliche „Stil" der Konkretisierung öff. Interessen ist bei aller Parallelität zur Gemeinwohlgesetzgebung (dazu meine Studie „Öff. Interesse", S. 702) durch die spezifisch richterlichen Status und Verfahren bedingt.

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

entwickelt hat (ζ. B. i m Rahmen des sich in öffentlichen Wertungen konturierenden § 242 BGB) 7 1 . Ich erinnere an die Arbeiten von F. v. Hippel 72, J. Esser 73 und F. Wieacker 74. „Richtlinie und Kasuistik", die Trias von „Argument, Wertung und Konstruktion" und rationale, offengelegte, auf Vorverständnis und Methoden befragte Normati vierungstechniken, Fallgruppenbildung sowie d;e Besinnung auf die funktionell-rechtlichen Grenzen des — öffentlichen — Richters, auch des Verfassungsrichters 75 , helfen hier weiter. Aufgabe des Richters wie der Rechtsphilosophie w i r d es sein, das „Interesse der Öffentlichkeit" als Rechtsprechungstopos unter — öffentliche — Kontrolle zu bringen und zu halten. Das „öffentliche" Interesse als „vagabundierendes Element der Rechtsgestaltung" 76 w i r d durch verfeinerte Auslegungstechniken „domestiziert" 7 7 . Für den Richter ist ein Höchstmaß an Kontrolle solchen „Vagabundierens" anzustreben, ohne daß das „öffentliche" Interesse von dem Kraftfeld des öffentlichen Bereichs, aus dem es wichtige Impulse empfängt, abgeschnitten w i r d (normierende Kraft der Öffentlichkeit). Soweit der Richter das öffentliche Interesse an rationalen Maßstäben und aus der Öffentlichkeit konkretisiert oder soweit er es „autonom" einführt — also das Gesetz m i t Hilfe des öffentlichen Interesses und das öffentliche Interesse m i t Hilfe von Verfassung und Gesetz i m Lichte der Öffentlichkeit interpretiert —, leistet er durchaus dem von Esser postulierten „Zurück zu der Arbeit am Gesetz" Folge 78 . Die Einbeziehung des „öffentlichen" Interesses (als Interesse der Öffentlichkeit) i n die richterliche Interpretationsaufgabe ist von jener Auffassung aus konsequent, der der Bestand an Gesetzesrecht nicht in der Weise statisch festgelegt und objektiviert ist, daß jede weitere richterliche Rechtsbildung als 71 Siehe noch F. Werner, Das Unbehagen an und in der Verwaltung, in: Reform für die Städte von morgen, 1967, S. 61 (73 f.): Auch vom Standpunkt des Gemeinwohls und des Bürgers spricht für Generalklauseln, daß sie einer Erstarrung der öffentlichen Ordnung entgegenwirken können. 72 Richtlinie und Kasuistik im Aufbau von Rechtsordnungen, 1942, jetzt in: Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, 1964, S. 148 ff. 73 Grundsatz und Norm, 2. Aufl. 1964; ders., in: Festschrift für F. v. Hippel, 1967, S. 95 ff.; ders., Wertung, Argument und Konstruktion im Zivilurteil, 1965; zuletzt: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970. 74 Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956. 75 Dazu für die Verfassungsgerichtsbarkeit: Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 53 (68 f., 74 ff., 97 f.); Hesse, Grundzüge, S. 32 f. 76 So Esser für die Billigkeit, in: Summum ius summa iniuria, 1963, S. 22 ff. (23). 77 Auch hier geht es darum, einem „illegalen Zug" zur Gemeinwohlrechtsprechung durch reflektierte Techniken vorzubeugen (Esser, a.a.O., S. 30, warnt vor einem illegalen Zug zur Billigkeitsrechtsprechung, der sich in Kurzschlüssen äußere). 78 Esser, Richterrecht, FS für F. v. Hippel, 1967, S. 117.

21. Normierende Kraft der Öffentlichkeit

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etwas Gesetzesfremdes, als eine sekundäre Rechtsbildung erscheinen muß 7 9 . Der Richter leistet hier jene Auslegungs- und „Auffrischungsarbeit" 8 0 am — öffentlichen — Gesetz, die nicht mehr tarnend aus i h m „abzuleiten" ist. K r a f t seines Stellenwerts in der res publica ist das „Interesse der Öffentlichkeit" i n dieser Weise gesetzesimmanent. „Der Richter ist frei und nur dem Gesetz unterworfen — das Gesetz ist aber das, was er selbst darunter pflichtgemäß versteht 8 1 ." Uber dieses „pflichtgemäß" — die persönliche Gewissensbindung 82 — kommt jenes „öffentliche" Interesse ins Spiel. Es verschafft dem Richter nicht Freiheit vom, sondern „zum" Gesetz, sofern man vom positivistischen Verständnis des Verhältnisses von Richter und Gesetz abrückt. Über das öffentliche Interesse als Interesse der Öffentlichkeit entsteht also „Richterrecht" — freilich ein Richterrecht der A r t , das gegenüber dem Gesetz kein Eigenleben führt 8 3 , sondern „lebendes Gesetzesrecht" ist 8 4 : law i n public action. So gesehen sind die richterlichen Interpretationstechniken zum — öffentlichen — Interesse, m i t Hilfe derer der Richter das Gesetz auslegt, nicht „sekundäres Richterrecht", vielmehr sind sie Teil des eigentlichen öffentlichen „Wachstumsprozesses des Gesetzesrechts" selbst 85 . Dennoch: es gibt Grenzen richterlicher Verantwortung und richterlicher Leistungsfähigkeit i n Gemeinwohlkonkretisierungsfragen, auch i n der Demokratie. Das öffentliche Interesse muß vor der konstitutionellen Öffentlichkeit verantwortet werden (können). Vor allem: es gibt eine Grenze zwischen 86 irrationalem und unkontrollierbarem „Druck" der Öffentlichkeit, dem auch der Gemeinwohlrichter — öffentlich — standzuhalten hat, und jenem Prozeß richterlichen „Auffangens" öffentlicher Gemeinwohlwertungen, das i m ständigen Werden der Rechtsordnung unverzichtbar ist — unverzichtbar — solange eine Rechtsordnung gelebt wird, solange sie sich um der öffentlichen Gerechtigkeit willen öffentlich unterwegs weiß und solange die Rechtsordnung Sache aller: res publica ist, als res publica semper reformanda.

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Esser, ebd., S. 117. Esser, ebd., S. 117. 81 Esser, ebd., S. 113; S. 115: Pflichtmäßigkeit der Uberzeugungsbildung. 82 Esser, ebd., S. 129. 83 Esser, ebd., S. 118: Gesetz und Richterrecht führen nun einmal kein Eigenleben; s. auch S. 129 f. 84 Esser, ebd., S. 123. 85 Vgl. die geglückte Formulierung von Esser, ebd., S. 118 f. 86 So sehr öff. Meinung „das" Gemeinwohl verfehlen kann, im Ansatz ist ihr wieder der Bezug auf das Ganze der res publica zu geben. 80

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

Nachtrag zu „Formen und Grenzen normierender Kraft der Öffentlichkeit i n gemeinwohlhaltigen Fragen der Praxis" (Nr. 21) Dieser auf der Freiburger Tagung für Rechtsphilosophie 1970 gehaltene Vortrag ist das Seitenstück zu der Rechtsprechungsanalyse „Gemeinwohl] udikatur und Bundesverfassungsgericht", AöR 95 (1970), S. 86125 und 260-298. Der Zusammenhang von demokratischer Öffentlichkeit und pluralistischem Gemeinwohl hat sich seitdem eher verstärkt, vor allem ist er bewußter geworden. Neuere Belege aus Rechtsprechung und Dogmatik, Politik und Rechtspraxis müßten zu einer eigenen Abhandlung führen. Hier sei nur darauf verwiesen, daß auch der B G H mit gemeinwohlbezogenen Idealfiguren arbeitet: vgl. BGHZ 48, 193 (196: „heutige Anschauungen und Vorschriften", „einsichtiger Eigentümer"), so schon BGHZ 23, 30 (Grünflächenurteil, 35: „vernünftiger und einsichtiger Eigentümer") und B G H L M Nr. 60 zu A r t . 14 GG (Buchendom-Urteil), S. 8/9, ferner BGHZ 30, 338 (344). Die Literatur hat diese Rechtsprechung teils zustimmend, teils kritisch kommentiert, einerseits Hoppe, Bauen i n vorgeprägter Umgebung, in: Ged.-Schrift für F. Klein, 1977, S. 190 (224), andererseits Battis , Novelliertes Bundesbaugesetz und Grundgesetz, DVB1.1978, S. 113 (119). Zum Grundsätzlichen vgl. auch den Ansatz von W. Schmidt, Organisierte Einwirkungen auf die Verwaltung, VVDStRL 33 (1975), S. 183 (198 ff.) und die anschließende Diskussion ebd., z. B. S. 289 f., 329 sowie Stolleis, öffentliches Interesse als juristisches Problem, Besprechungsauf satz des gleichnamigen Buches des Verfassers, in: VerwArch 65 (1974), S. 1 ff. Die Einsicht i n die Verflechtung öffentlicher und privater Interessen 1 hat einen neuen Höhepunkt erreicht im Urteil des BVerwG vom 25. 2. 1977 (NJW 1978, S. 62 ff.) anläßlich der Auslegung von § 35 BBauG: „Das Gebot der Rücksichtnahme auf schutzwürdige Individualinteressen steht zu den öffentlichen Belangen nicht i m Gegensatz. Vielmehr ist dieses Gebot zugleich ein öffentlicher Belang im Sinne von § 35 Abs. I I I BBauG 2 ." Die „republikanische Bereichstrias", d. h. die Unterscheidung zwischen dem (i. e. S.) staatlichen, öffentlichen und privaten Bereich und damit ein Stück Aufgaben- u. Gewaltenteilung bleibt dessen ungeachtet aufrecht erhalten. 3 1 Vgl. auch öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 60 ff., 67 ff., 525 ff., 637 ff., 710 f., zuvor: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 21 ff. * Beispiele für „Gemeinwohljudikatur" des BVerfG zuletzt: E 44, 105 (117 f., 120 f.), 322 (340 ff.), 353 (373 ff., 377 f.); 45, 272 (287), 376 (387 f.). 3 Fortschreibungen in: „Kommentierte Verfassungsrochtsprechung", 1979, S. 308 bis S. 329 und in: „Die Gemeinwohlproblomatik in rechtswissenschaftlicher Sicht", Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff.

22. Verfassungsrechtlicher Abgeordneten status und Grunddiätenbeeteuerung in der egalitären Demokratie (BVerfGE 40,296)* A. Die prozessuale Vorgeschichte Das Diätenurteil, i n der öffentlichen Meinung überwiegend begrüßt, in der Fachliteratur eher kritisch bedacht 1 und vom Bundestag insofern vorweggenommen 2 , als er laut einstimmiger Absichtserklärung am 5. 6. 1974 die Grunddiäten vom 1. 1. 1975 an ohnehin besteuern wollte 3 , schließt einen ereignisreichen Verfassungsprozeß ab. Die prozessuale Vorgeschichte des Schlußurteils vom 5. 11. 1975 ist durch drei Besonderheiten gekennzeichnet: 1. durch die vom 2. Senat durchgeführte „Fragebogenaktion", durch die „Sachverhaltsbeteiligte" i m weiteren Sinne Gelegenheit zur Stellungnahme zu neun Problemkreisen erhielten, nämlich Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, die Landtage (auch der bayerische Senat!) und die i m Bundestag vertretenen Parteien. Das Verfassungsprozeßrecht erwies sich als Partizipationsrecht, insofern ein großer „repräsentativer" Kreis von Verfassungsinterpreten i m weiteren Sinne einbezogen wurde 4 ; 2. waren i m Rahmen der i m Herbst 1975 durchgeführten Wahlen von sechs Verfassungsrichtern Spekulationen darüber angestellt worden, ob noch die „alte Besetzung" des 2. Senats das Diätenurteil fällen und verkünden würde, ob und wie sich die Neuwahlen auf ein etwa noch nicht rechtzeitig abgesetztes Urteil auswirken würden; * Originalbeitrag mit Nachtrag zum AbgG (1978). Kritisch J. Henkel, D Ö V 1975, S. 819 ff.; Menger, VerwArch 67 (1976), S. 303 ff.; P. Conradi , ZParl 7 (1976), S. 113 ff. Einzelfragen behandelt H. Dietrich, ZBR 1976, S. 97 ff. 2 Die Steuerfreiheit beruhte auf § 3 Ziff. 12 EStG. Für den Bundestag ergab sich 1975 folgendes Bild: Grunddiäten D M 3 850,—, Tagesgeldpauschale D M 1 500,—, Bürokostenpauschale D M 1 500,—, Reisekostenpauschale D M 1 050,— = D M 7 900,—. 3 Auch befaßte sich ein unabhängiger Beirat im Dt. Bundestag mit dem Problem. Eingesetzt wurde ein Sonderausschuß des BT. Zu dem Vorschlag des Beirats für Entschädigungsfragen ( D M 7 000,— zu versteuerndes Monatsgehalt): Woche im Bundestag vom 30. 6. 1976, S. 35. Er bereitete das Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Dt. Bundestages vom 18. Febr. 1977 (BGBl. I, S. 297) zusammen mit dem Sonderausschuß vor. 4 Dazu P. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff.; ders., im Band „Verfassungsgerichtsbarkeit", 1976, S. 1 (37 f., 40, 44 f.). 1

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

3. waren schon Tage vor der Verkündung des Urteils am 30. 10. 1975 durch Indiskretionen die Gründe der Entscheidung bekannt geworden 5 , was den Vizepräsidenten Seuffert zu einer Erklärung veranlaßt hat 6 und zu der Frage führt, unter welchen Voraussetzungen sich das BVerfG außerhalb (und innerhalb) von Verfahren an die Öffentlichkeit wenden kann 7 (Öffentlichkeitsarbeit des BVerfG?). I n der Sache selbst handelt es sich um eine (ζ. T. durch BVerfGE 32, 157 vorbereitete) Grundsatzenscheidung, die vor allem den — freien, gleichen und öffentlichen — Abgeordnetenstatus ausbaut und durch seine Anforderungen an ein spezielles Diätengesetz (keine „technische" Koppelung m i t der Beamten- bzw. Ministerbesoldung) eine Effektivierung des demokratisch und rechtsstaatlich begründeten Öffentlichkeitsprinzips der Verfassung bringt. Die Entscheidung ist ein Stück „Realpolitik" durch Verfassungsinterpretation m i t „idealpolitischem" Hintergrund: bei der Umschreibung des Bildes des „neuen" Parlamentariers und der intendierten Zusammensetzung der Parlamente. Sie ist ein Beitrag zu allen Bemühungen, das arbeitsteilige Zusammenwirken von Verfassungsgerichtsbarkeit und Legislative sachlich und zeitlich differenzierend zu sehen8. Da in Diätenfragen die Abgeordneten „Lobby in eigener Sache" sind, ist strenge verfassungsgerichtliche Kontrolle nötig. Das Urteil dürfte auch einen staatsedukatorischen Effekt haben: Bürger und Abgeordnete sind vor der Staatsgewalt auch i m Steuerrecht gleich. Parlamente, die sich sonst als Motor für Gleichheit unter den Bürgern verstehen, hätten gut daran getan, diese Gleichheit rechtzeitig auch für — bzw. gegen — sich selbst durchzusetzen. — Es gibt gute Gründe dafür, durch eine maßvolle Erhöhung der steuerpflichtigen Grunddiäten (i. S. „angemessener" Diäten) das bisherige Nettoeinkommen der Abgeordneten zu erhalten („Besitzstandswahrung") — um der Qualität der Parlamente und ihrer ausgewogenen, repräsentativen Zusammensetzung willen. 5 Auch das Urteil des BVerfG zu § 218 StGB (E 39, 1 ff.) war schon vor seiner Verkündung bekannt geworden und kritisiert worden, ζ. B. von der Bundestagsvizepräsidentin Funcke, von Bundeskanzler H. Schmidt (dazu F. K. Fromme, F A Z v. 29. 1. 1975). 8 Laut FR v. 6. 11. 1975, S. 2, übte Seuffert in der öffentlichen Sitzung des Senats am 5. 11. 1975 scharfe Kritik an der „großen Mißachtung" des Gerichts durch ARD und ZDF, die in Sendungen vom 30. 10. 1975 den Inhalt des Urteils verbreitet hatten; vgl. auch Pressemitteilung des BVerfG NJW 1975, Nr. 48, Umschlagseite I I . 7 Wohl erstmals hat das BVerfG im September 1975 zu Pressemeldungen Stellung genommen, die Angriffe gegen ein Mitglied des Gerichts (hier: Bundesverfassungsrichter Haager) enthielten (FAZ v. 17. 9.1975, S. 1). — Problematisch ist die „Interpretation" der „Radikalen-Ε." durch den daran beteiligt gewesenen Richter Hirsch im „Spiegel"-Interview v. 4. 8. 1975, S. 30. 8 Dazu mein Beitrag in NJW 1976, S. 537 ff.; ebd. S. 542 f. zu funktionellrechtlichen Grenzüberschreitungen.

22. Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung

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B. Materiellrechtliche Grundfragen I. Der dreifache Status des Abgeordneten: Freiheit, Gleichheit, Öffentlichkeit 1. Freiheit und Unabhängigkeit Der Senat geht den Weg von der Aufwandsentschädigung im Honoratiorenparlament zur Einkommensalimentation i m „Arbeits"-Parlament von Berufspolitikern. LS 1 lautet: Aus der in Art. 48 Abs. 3 GG geforderten Entschädigung, die einmal eine Entschädigung für besonderen, mit dem Mandat verbundenen Aufwand war, ist eine Alimentation des Abgeordneten und seiner Familie aus der Staatskasse geworden als Entgelt für die Inanspruchnahme des Abgeordneten durch sein zur Hauptbeschäftigung gewordenes Mandat. Der Abgeordnete, der dadurch nicht „Beamter" geworden, sondern — vom Vertrauen der Wähler berufen — Inhaber eines öffentlichen Amtes, Träger des „freien Mandats" und Vertreter des ganzen Volkes geblieben ist, erhält nicht mehr bloß eine echte Aufwandsentschädigung, er bezieht aus der Staatskasse ein Einkommen.

a) Realistische Verfassungsinterpretation? Die Verfassungsinterpretation des Senats ist im Ansatz „realistisch" und undogmatisch, ja ein Stück Realpolitik; darüber hinaus ist sie „idealpolitisch" am B i l d eines zukünftigen Parlamentariers orientiert. Der Interpretation geht der Versuch einer wirklichkeitswissenschaftlichen Bestandsaufnahme voraus (Umschreibung des Abgeordneten-Typus), seiner drei Aktivitätsbereiche in Parlament, Fraktion sowie i m Wahlkreis, aber auch sein Ringen um die Wiederwahl, Nennung von Wochenarbeitszeiten usw.). Die Verfassungsinterpretation reflektiert jedoch nicht nur Verfassungswirklichkeit von heute, sie w i r k t zum Teil konstitutiv für die von morgen; die Wirklichkeit w i r d z.T. vom Senat schon überholt. Das gilt ζ. B. für die Passagen zum Berufspolitiker als Regeltypus 9 . („Der Typ des Honoratioren-Ab geordneten ist immer seltener geworden", „verlangt" ist heute der „ganze Mensch", Abgeordnetenmandat als „fulltime-job"). Hier ist der Senat i n dem Wunsch, den Abgeordneten von heute zu schildern, unversehens zu einer Skizzierung des Abgeordneten von morgen gelangt. Wirklichkeitsdarstellung w i r d zu einem Stück — zu weitgehender — Wirklichkeitsgestaltung! I m übrigen ist bemerkenswert die Enthaltsamkeit des BVerfG in bezug auf dogmatische Fest9

Kritik bei Seuffert, unter C 1 b (S. 338 f.). Offen geblieben ist die Frage für die Landesparlamente (BVerfGE 40, 292 [314], s. aber auch 319). Klatt, Die Altersversorgung der Abgeordneten, 1972, S. 197 f., schätzt die Zahl der Berufspolitiker für den Bundestag auf ca. 50 °/o.

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. Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

legung im Streit um Leib ho lz' Parteienstaatsdoktrin 10 und seine bisherige Rechtsprechung 11 . b) Unabhängigkeit durch „ Vollalimentation" Der Senat sieht die Vollalimentation als Absicherung der Unabhängigkeit des Abgeordneten. Diese Unabhängigkeit, Teil seines Status öffentlicher und gleicher Freiheit, ist heute weniger vom Staat 1 2 als vielmehr von den Parteien und „vor allem" von „einflußreichen Gruppen der Gesellschaft" bedroht. Sie ist gefährdet durch das Parlament und seine Hierarchien sowie durch die Fraktionen und ihre Oligarchien („Kanalarbeiter" und „Hinterbänkler"). Die Frage ist, ob die jetzt durch Anspruch auf Vollalimentation abgesicherte Unabhängigkeit nicht durch neue Abhängigkeiten erkauft w i r d : w e i l der Senat die Abgeordneten grundsätzlich als Berufspolitiker, wenn nicht auf Lebenszeit, so doch auf möglichst lange Dauer konzipiert. Das kann i h n i n verstärkte Abhängigkeit von der Partei 1 3 — die (wieder) nominiert — bringen, so sinnvoll es sowohl für das Gesamtparlament als auch für die Partei ist 1 4 , neben jungen auch erfahrene, „verdiente" Abgeordnete zu haben. Die Höhe des Alimentationsanspruchs muß der „Bedeutung des A m tes angemessen" sein („ausreichende Existenzgrundlage", Verantwortung, Belastung, „Rang" i m Verfassungsgefüge als Gesichtspunkte). Sie darf nicht anderen Zwecken als der Unterhaltssicherung dienen und keine verschleierte Partei-, Fraktions- oder Wahlkampffinanzierung sein (C I I 1, S. 316) 15 . Mehr hat der Senat m i t Recht nicht gefordert. Er verweist auf die „Überzeugung des Parlaments" (C I I 2, S. 317). So selbstverständlich „angemessene" Erhöhungen bleiben, so unzulässig sind automatische Dynamisierungen (auch bei Altersdiäten), da sie die selbständige, „vor Augen der Öffentlichkeit" diskutierte Entscheidung umgehen würden. 10 Dazu mit Kritik P. Häberle, JuS 1967, S. 64 (74); Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 530 ff.; Scheuner, in: FS für Arndt, 1969, S. 385 (393 f.). 11 I m einzelnen dazu mein Beitrag: NJW 1976, S. 537 (538). 12 Der Senat formuliert unzutreffend: „nicht mehr vom Staat" (S. 313). 13 s. die Aufgabe der Parteien in § 1 Abs. 2 PartG sowie § 22 Abs. 2 BWahlG. 14 s. die Ausführungen unter C I 1 (S. 313) der E.: „Das (sc. die Bemühungen um Wiederwahl) liegt in der Regel auch im Interesse der politischen Partei und des Parlaments" ; der Senat weist hier auf die Unentbehrlichkeit der Parteien in der parlamentarischen Demokratie einer „höchst" komplexen Wirtschaftsund Industriegesellschaft" hin (arg. Aufrechterhaltung des Rechtsstaats, der Freiheit, des Pluralismus). 15 Das stärkt die Abgeordnetenunabhängigkeit, begrenzt aber die Parteiund Fraktionsautonomie, auf Grund derer bisher solche Abzüge festgelegt wurden.

22. Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung

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Schwierig ist die Umschreibung des Rechtscharakters des Abgeordnetengehalts. Es ist schwerlich „ arbeitsrecht] iches" Entgelt für geleistete Arbeit, denn sie steht i h m frei: Der Abgeordnete „ n i m m t i n Unabhängigkeit sein Mandat wahr", er „schuldet rechtlich keine Dienste". Sicher handelt es sich nicht u m ein Beamtengehalt 16 , so gewiß manche Parallelen zum Beamtenrecht (trotz des Wegfalls von Beamtenprivileg und Koppelung m i t Beamtengehältern) kommen werden. Der Senat hat den Begriff der (Voll-)Alimentation aus der Staatskasse („Entgelt für die Inanspruchnahme durch sein zur Hauptbeschäftigung gewordenes Mandat", „Einkommen") gewählt 1 7 . A r t . 48 Abs. 3 GG spricht besser von „Entschädigung". „Vollalimentation" ist mißverständlich. Der Abgeordnete ist „Freiberufler", kein Beamter! c) Verfassungsdogmatische Absicherung des Freiheits-(Unabhängigkeits-)Status i m GG Der mehrfach betonte Status der Unabhängigkeit des Abgeordneten ist eine Ausprägung der Freiheit des Mandats: A r t . 38 Abs. 1 S. 2 GG (sie schließt die Freiheit zur Niederlegung des Mandats ein). Abgesichert ist die „Unabhängigkeit" durch A r t . 48 Abs. 2 S. 1 und 2, und der vom Senat ausgebaute Status der Gleichheit („formalisierte Gleichheit") m i t dem i h m entspringenden Anspruch auf „Vollalimentation" ist jetzt eine wesentliche Absicherung dieser Unabhängigkeit (Freiheit durch Gleichheit!) 1 8 . Der verfassungsrechtliche Abgeordnetenstatus insgesamt ergibt sich aus einer Integration der A r t . 38 Abs. 1, 48, 42 und A r t . 3 („egalitärer Gleichheitssatz", Gleichbehandlung aller durch das Gesetz) sowie 42, 46, 47 76 und 137 Abs. 1 GG. Er ist verfassungsdogmatisch unter Einbeziehung der A r t . 21 und 20, 28 Abs. 1 S. 1 und 2 sowie Abs. 3 (vgl. C I I I , S. 319) durch die Drei-Statuslehre zu strukturieren. Dabei sind die inneren Verbindungen zu Art. 1, 2, 5 und 8 GG, d. h. zur Abgeordnetenpersönlichkeit als ganzem, i m Blick zu behalten. Hinzu gehört einerseits das „Vorfeld", der Weg zum Abgeordnetenmandat: die Freiheit des „Noch-nicht"-Abgeordneten, das passive Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1, ab16

Apodiktisch: „Der Abgeordnete ist . . . kein Beamter", kein Gehalt im beamtenrechtlichen Sinne (S. 316). Dies kann gar nicht stark genug betont werden. 17 Offen bleibt, ob das „auch für alle Landesparlamente gilt" (S. 314, s. aber auch S. 319). 18 Der Senat zitiert nur Art. 48 Abs. 3, 38 Abs. 1 GG, jedoch nicht direkt, aber der Sache nach: „freies Mandat", „Vertreter des ganzen Volkes". Er läßt die Einkünfte aus arbeitslosen Beraterverträgen am „unabhängigen Status" der Abgeordneten und an ihrem Anspruch auf gleichmäßige finanzielle Ausstattung in ihrem Mandat scheitern (C I I 3 b, S. 318 f.); insofern gehört die „formalisierte Abgeordnetengleichheit" und der finanzielle Anspruch auf gleiche Ausstattung unmittelbar zum Status der Unabhängigkeit.

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. Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

gesichert durch A r t . 48 Abs. 1 und 2, aber auch A r t . 3 Abs. 1 i. V. m. A r t . 33 Abs. 1 GG); andererseits zeitigt der verfassungsrechtliche Status des „Nicht-mehr"-Abgeordneten begrenzte „Nachwirkungen", er ist „folgenreich" (vgl. Art. 46 Abs. 1, 47 GG, Alters-, Invaliditäts- und Hinterbliebenenversorgung, Übergangsgeld). Das Urteil ist ein Beitrag zu Sicherung und Ausbau des Freiheitsstatus des Abgeordneten (Freiheit durch angemessene „Vollalimentation"). Dieser Status — i h m fallen jetzt bestimmte Beraterverträge zum Opfer — ist immer wieder gegen Gefahren zu behaupten, aber auch im Blick auf andere Verfassungssätze zu begrenzen: in der Diskussion um „Mandatsverlust bei Parteiwechsel" 19 , die Freiheit des Mandats insgesamt 20 , um das sog. ruhende Mandat 2 1 , um Redezeitbegrenzung (BVerfGE 10, 4 [12 ff.]), „Ehrengerichtsbarkeit" für Parlamentarier und freien Zugang zum Mandat 2 2 , um die Rechtsstellung der Abgeordneten i n Ausschüssen 23, die Abgeordnetenbestechung 24 , aber auch um den fragwürdigen Mandatsverlust bei Parteiverboten (Art. 21 Abs. 2 GG 2 5 ). Dank der Konturierung des Gleichheits- und Öffentlichkeitsstatus ist der „verfassungsrechtliche Status" des Abgeordneten 26 jetzt wesentlich gefestigter. 2. Formalisierte

Gleichheit im Abgeordnetenstatusrecht

I m Redezeiturteil angesprochen (BVerfGE 10, 4 [16]) und i n E 11, 266 (272), 351 (364); 13, 1 (12), 243 (246) zum passiven Wahlrecht vorausgesetzt, ist der Status der Gleichheit jetzt i n doppelter Hinsicht greifbar: — als Gleichheit an Rechten zum und im Parlament — doch bleibt die Chancengleichheit der Abgeordneten eingebunden i n die Funktionsfähigkeit von Parlament und Fraktionen 2 6 3 , 19 Dazu Kriele, ZRP 1969, S. 241 f.; H. Trautmann, JZ 1970, S. 405 ff.; Trachternach, DVB1. 1975, S. 85 ff. 20 Badura, Bonner Kommentar, Zweitbearb., Art. 38; P. Krause, DÖV 1974, S. 325 ff.; s. die Diskussion in: VVDStRL 33 (1975), S. 163 f., 175 f.; Kewenig und E.-W. Böckenförde, in: Fragen der Verfassungsreform, 1973, S. 109 ff., 123 ff.; G. Trautmann, ZParl 1971, S. 54 (68 f.); Kromarek, DÖV 1974, S. 458 ff. 21 Neil, JZ 1975, S. 519 (521 f.); jetzt Hess. StGH, Urt. v. 7. 7. 1977, NJW 1977, S. 2065 ff. ( = StAnz Hessen 1977, Nr. 31, S. 1526 ff.). 22 BVerfGE 38, 341 (342): Abw. Meinung von Seuffert. 23 Dazu Η. H. Klein, D Ö V 1972, S. 329 ff.; zu fraktionslos gewordenen Abgeordneten: Brem. StGH DÖV 1970, S. 639 (640 f.). 24 Dazu Kühne, Die Abgeordnetenbestechung, 1971; Schulze, JR 1973, S. 485 ff. 25 BVerfGE 2, 1 (73 f.), 5, 85 (392); krit. Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), S. 9 (23). 26 Vgl. BVerfGE 2, 143 (164, 166); 4, 144 (149); 6, 446 (448 f.); 10, 4 (11); 20, 56 (103). 26a Vgl. noch R. Schmidt, in: FS v. d. Heydte, 1977, S. 1179 (1191); Zuleeg, JuS 1978, S. 245 (244 ff.); R. Hof mann, ZfP 1978, S. 32 (39 ff.).

22. Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung

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— als Gleichheit i n den Pflichten: Gleichheit der Besteuerung 27 („Lastengleichheit"). Die Gleichheit hat evidente Demokratiebezüge: soziale Demokratie ist privilegienfeindlich 2 8 , daran scheitert auch das Beamtenprivileg und mittelbar auch der „Beratervertrag ohne Arbeit".

a) Die (Chancen-)Gleichheit vor dem und im Parlament aa) Gleichheit der Abgeordnetenentschädigung LS 2 lautet: a) Aus dem formalisierten Gleichheitssatz folgt, daß jedem Abgeordneten eine gleich hoch bemessene Entschädigung zusteht, unabhängig davon, ob die Inanspruchnahme durch die parlamentarische Tätigkeit größer oder geringer ist, ob der individuelle finanzielle Aufwand oder das Berufseinkommen verschieden hoch ist.

Die Gründe beginnen m i t einem Paukenschlag (unter C I I 3 a, S. 317): „Die Demokratie ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie". Der Senat gestattet dem Gesetzgeber i n der Behandlung „der einzelnen und ihrer relevanten gesellschaftlichen Gruppen" „Differenzierungen, die durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt sind", und er verwendet seine bekannte Aussage, ob und i n welchem Ausmaß der Gleichheitssatz bei der Ordnung bestimmter Materien dem Gesetzgeber Differenzierungen erlaubt, richte sich nach der Natur des jeweiligen Sachbereichs (unter Hinweis auf E 6, 84 [91], 32, 155 [167]). Dieser sachbereichsbezogenen Sicht des Gleichheitssatzes ist zuzustimmen. Sie erlaubt seine differenzierende Anwendung i. S. der Skala von der bloßen Willkürgrenze 2 9 bzw. dem Erfordernis eines „sachlichen Grundes" zur Systemgerechtigkeit 30 und der Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen 31 bis zum Postulat des „besonderen zwingenden Grundes" 3 2 und der verschieden starken Formalisierung des Gleichheitssatzes 83 . 27 Zur Gleichmäßigkeit der Besteuerung als Fundamentalnorm des Steuerrechts: Kruse, Steuerrecht I, Allg. Teil, 3. Aufl. 1973, S. 42 ff. — Aus der Rspr. des BVerfG: E 14, 76 (103). Zur Steuergerechtigkeit (Art. 3 Abs. l GG): BVerfGE 13, 181 (202). 28 Vgl. BVerfGE 8, 51 (68): Verbot der Differenzierung, die zu einer Privilegierung finanziell leistungsfähiger Bürger führen würde. 29 E 35, 263 (272); 38,1 (17). 30 E 11, 283 (293); 34, 103 (115); 34, 118 (130 f.); 36, 383 (393 f.). 31 E 36, 126 (133); 37, 217 (259 f.); 38, 187 (197). 32 Zuletzt E 38, 326 (340) für die Einschränkung der egalitären Wahlrechtsgleichheit, vgl. E 12, 10 (25). 33 Aus der Lit.: Dürig, in: Maunz ! Dürig ! Herzog ! Scholz, K., Art. 3 Abs. 1 GG, Rdnr. 308 ff.; Hans F. Zacher, AöR 93 (1968), S. 341 ff., bes. S. 351 ff.; Ρ. Häberle, AöR 95 (1970), S. 86 (118), im Blick auf Gemeinwohlgesichtspunkte.

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. Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

M i t Recht entscheidet sich der Senat i m „Sachbereich Wahlen" für eine starke Formalisierung. Er nimmt Bezug auf die historische Entwicklung zum Demokratisch-Egalitären, und dieser unter dem Einfluß von Leibholz viel verwandte, dem Repräsentativ-Liberalen gegenübergestellte Begriff taucht i m Urteil nur hier auf. Es sei davon auszugehen, daß „jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte i n formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können (BVerfGE 11, 266 [272], 34, 81 [98]) 34 . Die egalisierende K r a f t des Gleichheitssatzes w i r k t so i n voller Konsequenz für den und i m Abgeordnetenstatus: sowohl vor den Toren des Parlaments, als Freiheit „zum Mandat", Freiheit für den Parlamentskandidaten 35 , als auch für die Phase im Parlament — bei der „Ausübung des Mandats". Die „formalisierte Gleichbehandlung" (an fünf anderen Stellen heißt es „formalisierter Gleichheitssatz") zielt gegen Rangunterschiede und Oligarchien i n Recht und Praxis der Parlamente. Der Senat folgert aus seinem Ansatz den Anspruch jedes (also auch des sog. „einfachen") A b geordneten auf eine „gleich hoch bemessene Entschädigung". Er läßt Ausnahmen vom formalisierten Gleichheitssatz nur i. S. eines „zwingenden Grundes" zu: für den Parlamentspräsidenten 30 und seine Stellvertreter (arg.: sie stehen an der Spitze eines „obersten Verfassungsorgans"). I n einer parlamentarischen Demokratie verdiente indes auch der Oppositionsführer als der Regierungschef der „Mehrheit von morgen" Heraushebung: wie i n England so auch i n Deutschland (i. S. fortschreitender

34 s. auch E 8, 51 (69): „Grundsatz der formalen Gleichheit, der die Ausübung politischer Rechte in der freien Demokratie beherrscht." — Nur mit der besonderen Problemlage zu rechtfertigen ist daher die bloße Willkürgrenze in E 4, 144 (155 f.). — Vgl. zur Gleichheit der Menschen „in ihrem politischen Grundgestaltungsrecht" (Art. 3, 38 GG): H. Meyer, V V D S t R L 33 (1975), S. 69 (76f.). 33

„Jedermann muß ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede, insbesondere auf seine Abstammung, seine Herkunft, seine Ausbildung oder sein Vermögen die gleichen Chancen haben, . . . Mitglied des Parlaments zu werden." Genauer müßte es heißen: „Jeder Deutsche muß . . . " — Dieser Satz wird faktisch relativiert durch den Primat der Parteien bei der Kandidatenaufstellung. Gleichwohl ist diese Chancengleichheit des Mandatsbewerbers als ein Stück grundrechtlicher Chancengleichheit ein Fortschritt und im Zusammenhang mit der Chancengleichheit des Abgeordneten zu sehen. Zur Chancengleichheit des Bewerbers: BVerfGE 7, 63 (70f.); 11, 351 (364). Der Senat hätte auf Art. 48 Abs. 1 und 2 GG hinweisen können, denn er ist Ausdruck der Idee, die faktische Bereitschaft und Möglichkeit zur Kandidatur zu begünstigen, vgl. Tsatsos, Die parlamentarische Betätigung von öff. Bediensteten, 1970, S. 9. — I m Bereich des Wahl- und Parteienrechts ist die Formalisierung des Gleichheitssatzes vom BVerfG früh entwickelt worden, dazu Lipphardt, a.a.O., bes. S. 689 ff., mit Kritik an den zunehmenden Differenzierungen. 36 Vgl. etwa Art. 98 Abs. 1 S. 2 Verf. Hessen, 84 S. 4 Bremen, 97 Abs. 1 S. 4 Rhld.-Pfalz. — Zur „besonderen" Stellung des bayer. Landtagspräsidenten: BayVerfGH BayVBl. 1970, S. 439 f.

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K o n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g der p a r l a m e n t a r i s c h e n O p p o s i t i o n 3 7 ) . I m ganzen leistet der Senat j e d o c h e i n S t ü c k „ E n t f e u d a l i s i e r u n g " d e r i n n e r p a r l a m e n t a r i s c h e n H i e r a r c h i e n , die i n der P r a x i s i n chancengleicher i n n e r fraktioneller u n d innerparteilicher Demokratie ihre Entsprechung haben müßte38. bb) B e r a t e r v e r t r ä g e E i n e „ b e l a s t e n d e " K o n s e q u e n z d e r A n w e n d u n g des f o r m a l i s i e r t e n Gleichheitssatzes i s t d i e v o m Senat „ a n g e h ä n g t e " Passage z u d e n B e r a t e r v e r t r ä g e n (C I I 3 b, S. 318 f.). L S 5 l a u t e t : Art. 48 Abs. 3 i. V. m. Art. 38 Abs. 1 GG verlangt gesetzliche Vorkehrungen dagegen, daß Abgeordnete Bezüge aus einem Angestelltenverhältnis, aus einem sog. Beratervertrag oder ähnlichem, ohne die danach geschuldeten Dienste zu leisten, nur deshalb erhalten, weil von ihnen i m Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird, sie würden im Parlament die Interessen des zahlenden Arbeitgebers, Unternehmers oder der zahlenden Großorganisation vertreten und nach Möglichkeit durchzusetzen versuchen. Einkünfte dieser Art sind mit dem unabhängigen Status der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf gleichmäßige finanzielle Ausstattung in ihrem Mandat unvereinbar. A r t . 38 A b s . 3 S. 1 i. V . m . A r t . 38 A b s . 1 S. 2 G G „ u n d d e r f o r m a l i sierte Gleichheitssatz" b e r ü h r e n d i e „ F r a g e d e r B e g r ü n d u n g eines B e r u f s n e b e n d e r P a r l a m e n t s t ä t i g k e i t u n d das d a r a u s erzielte E i n k o m m e n g r u n d s ä t z l i c h n i c h t " , N e b e n t ä t i g k e i t w i r d also als solche z u Recht n i c h t u n t e r s a g t 3 9 , angesichts des v o m Senat s k i z z i e r t e n B e r u f s b i l d e s (für B u n 37 Der Senat bleibt rigoros. Er läßt alles außer dem Präsidenten und seinen Stellvertretern unter das scharfe Messer des Art. 3 GG fallen, ζ. B. „eine Reihe von Pauschalen", „gestaffelte Diäten für Abgeordnete mit besonderen parlamentarischen Funktionen" usw. 38 Kritik an der „beklagenswerten Oligarchisierung der Redezeiten" bei Hennis , in: FS für Arndt, 1969, S. 147 (162). Diese Öffnung des Zugangs zum Parlament („Freiheit zum Mandat") und die Bemühungen um Offenheit im Parlament durch Chancengleichheit der Abgeordneten steht freilich nicht ganz in Harmonie zu dem Votum des Senats für „Dauerabgeordnete"; die etablierten Abgeordneten haben naturgemäß gegenüber den erstmals kandidierenden einen Vorsprung. — Reizvoll wäre die Diskussion um ein etwaiges Verbot der Wiederwahl von Abgeordneten nach mehrmaliger Parlamentszugehörigkeit. 89 Man denke an wirtschaftliche, künstlerische, wissenschaftliche, aber auch andere „bürgerliche" „Nebentätigkeiten", die, für die innere Balance der Persönlichkeit des Abgeordneten unverzichtbar, auch ein Stück seiner Persönlichkeitsentfaltung darstellen. Sein (mit seinem Abgeordnetenstatus verknüpfter) grundrechtlicher Freiheitsstatus (insbes. Art. 12 Abs. 1 GG) erlaubt ein grundsätzliches Verbot „neben"-beruflicher Tätigkeit nicht. — Die Ablehnung der Zulassung zur Anwaltschaft (FAZ v. 30. 5.1978, S. 5) ist verfassungswidrig. — Einem Verbot steht auch Art. 48 Abs. 1 und 2 GG klar entgegen (arg. Urlaub bzw. Kündigung oder Entlassung!). Der Senat hat Art. 48 Abs. 1 und 2 GG leider nicht bei seinem Grundsatz zitiert, sondern erst in dem folgenden Satz zu Beraterverträgen. — Zu Beraterverträgen: Meessen, in: FS Scheuner, 1973, S. 431 ff., der Art. 38 Abs. 1 S. 2 gerade kein absolutes Verbot entgeltlicher Beraterverträge, die auf die parlamentarische Vertretung partikularistischer Interessen ausgerichtet sind, entnimmt (S. 447 f.).

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destagsabgeordnete) wäre sie indes praktisch nur begrenzt möglich. I m übrigen wäre ein „Berufsverbot" für Abgeordnete verfassungswidrig. Die Freiheit des Abgeordneten findet hier i m Gleichheitssatz bzw. dem aus i h m entwickelten Alimentationsanspruch eine Grenze. Zugleich w i r k t sich der Status der Öffentlichkeit aus. Denn nur über die Offenlegung der — zulässigen — Beraterverträge und Transparenz des Abgeordnetenstatusrechts werden „gesetzliche Vorkehrungen" möglich sein. Der i n „Lobby-Beraterverträgen" von den „Zahlenden" erwarteten einseitigen Interessenwahrnehmung soll ein Riegel vorgeschoben werden 4 0 . Auch hier wäre ernst zu machen m i t dem „freien Mandat" und dem Abgeordneten als „Vertreter des ganzen Volkes" bzw. dem Wort vom „Vertrauen des Volkes", ohne daß das Volk als pluralistische Größe geleugnet werden dürfte. Die Schwierigkeiten der Abgrenzung der zwei Arten von Beraterverträgen sind beträchtlich. A u f Arbeit gerichtete („echte") Beraterverträge sind nach wie vor zulässig („danach geschuldete Dienste"); I n teressenvertretung durch den „gekauften" Abgeordneten für den „zahlenden Arbeitgeber, Unternehmer oder die zahlende Großorganisation" i m Parlament ist aber unzulässig. So bleiben „zwei Seelen" i n der Brust des Abgeordneten: die eine darf nichts von der anderen wissen! Wie soll er aber parlamentsbezogene oder -berührende Arbeit leisten, wenn ihm zugleich Interessenwahrnehmung i m Parlament für seine „NebenArbeitgeber" untersagt ist, die i h m aber repräsentationswürdig erscheint i m pluralistischen Willensbildungsprozeß? Gesetzgebung und Wissenschaft haben herauszuarbeiten, welche (zulässige) Arbeit gemeint sein kann, wie wer darüber kontrolliert 4 1 und wo die Grenzen zur un40 Gegen „arbeitsloses Zusatzeinkommen" von Abgeordneten schon von Arnim, Abgeordnetenentschädigung und Grundgesetz, 1975, S. 48. Meessen, a.a.O., S. 431 ff., beurteilt die „unechten" Beraterverträge differenzierend. — Hier besteht eine innere Verbindung zum Anliegen des Senats, pluralistische, repräsentative Interessenwahrnehmung im Gesamtparlament (Streichung des Beamtenprivilegs und Votum gegen „Verbeamtung" anläßlich des Art. 137 Abs. 1 GG) zu befördern. Wie soll es indes zu einer doch auch gewünschten berufsspezifischen, „repräsentativen" Schichtenverteilung im Parlament kommen, wenn die Abgeordneten immer mehr zu Berufspolitikern werden und solche bleiben wollen und die Sachkunde eines „bürgerlichen" Berufs nicht mehr einbringen? Das GG kennt gerade kein vorweggenommenes Gemeinwohl; es ist auf partikulare Interessen angewiesen. Vgl. K.-U. von Hassel, zit. nach „Der Stern", Nr. 46 (1975), S. 229: „Parlamentarier sollten einen Beruf ausüben können, damit sie den Bezug zur Praxis nicht verlieren." — Der B G H hat jetzt mit Recht die Vereinbarkeit von BT-Mandat und Zulassung zur Anwaltschaft bejaht (B. vom 26. 6.1978, NJW 1978, H. 33, Umschlagseite IV). 41 Wie soll die Arbeitsleistung für die Interessengruppe nachgewiesen werden? Offenlegung der Beraterverträge, des Entgelts, der geleisteten Arbeitsstunden? gegenüber wem? — Zu einigen Fragen: Meessen, a.a.O.

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zulässigen Interessenvertretung liegen 42 . Das BVerfG hat es sich hier wohl etwas zu leicht gemacht. b) Gleichheit i n der Besteuerung LS 3 lautet: Die Alimentation der Abgeordneten mit dem Charakter von Einkommen muß nach Grundsätzen, die für alle gleich sind, der Besteuerung unterworfen werden. Nur die Entschädigung für wirklich entstandenen, sachlich angemessenen, mit dem Mandat verbundenen besonderen Aufwand ist daneben noch echte Aufwandsentschädigung, die auch künftig steuerfrei bleiben kann.

Die bei der Vollalimentierung und den Rechten der Abgeordneten insgesamt vorgenommene Aktualisierung des Gleichheitssatzes mußte die Gleichheit i n der Besteuerung der „Einkommen" (Grunddiäten) zur Folge haben. Der Gleichheit in Rechten korrespondiert die Gleichheit i n Pflichten und Lasten. Die Gesamtheit dieser Rechtsnormen bildet den Status der Gleichheit der Abgeordneten. Der — i m Zeichen des „verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG)" 4 3 erfolgte — Abbau der Steuerfreiheit der Grunddiäten war aus demokratischen (demokratietheoretischen) Gründen unverzichtbar. Der vom Senat beim staatsbürgerlichen Recht auf freien, chancengleichen Zugang zum Parlamentsmandat beschworenen egalitären und privilegienfeindlichen K r a f t des Gleichheitssatzes i n der Demokratie mußte jetzt das „willkürliche Steuerprivileg" geopfert werden. Der Wandel i m Verständnis des A r t . 48 Abs. 3 GG (von der Aufwandsentschädigung zum „Einkommen") hatte notwendig die Besteuerung zur Folge 44 . Die staatsbürgerliche Gleichheit schlägt auf den Abgeordnetenstatus durch: ein Beleg für den Zusammenhang von allgemeinem Bürgerstatus und speziellem Abgeordnetenstatus 45 . 42

Das Problem der „Schenkung" wird jetzt noch aktueller, dazu Kühne, a.a.O., S. 36 ff. 43 Der Senat zitiert hier auffälligerweise keine Rspr. des BVerfG. 44 S. 2 von LS 3 ermöglicht konsequenterweise Steuerfreiheit nur noch für „echte" Aufwandsentschädigung für „besonderen" Aufwand, wobei der Senat sich zugleich gegen eine „formale" Betrachtung wendet. 45 Der Senat läßt die aus Art. 48 Abs. 3 entwickelten Grundsätze über Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG als „Essentialen des demokratischen Prinzips" auch in die Länder (das Saarland) wirken (unter I I I ) . Dem Gesetzgeber läßt er einen Gestaltungsspielraum (nähere Konkretisierung der aus Art. 48 Abs. 3 GG entwickelten Grundsätze „seinem Grundsatzcharakter entsprechend"). Offen bleibt die Frage, wie sich dies auf die Interpretation der Landesverfassungsbestimmungen zur Abgeordnetenentschädigung auswirkt (die saarl. Verfassung hat keine derartige Regelung). Soweit ersichtlich können alle einschlägigen Bestimmungen der L V zur Abgeordnetenentschädigung den „Wandel" des Art. 48 Abs. 3 GG kraft Interpretation „mitmachen", so daß es hier zu keinen Verfassungswidrigkeits- bzw. Nichtigkeitsproblemen (im Blick auf 33 V e r f a s s u n g

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III. Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche c) Der Wegfall des Beamtenprivilegs

Nach der Betonung der Privilegienfeindlichkeit der egalitären Demokratie (C I I 3 a, S. 317 f.) und der Aktualisierung des formalisierten Gleichheitssatzes war die Basis für einen Angriff auf das „Beamtenprivileg" gelegt. Es besteht herkömmlich darin, daß der ins Parlament gewählte Beamte sein Gehalt behält oder i n den Ruhestand t r i t t und Ruhegehalt bezieht. Dieses Privileg hatte eine vom Senat bei seinen Überlegungen zum „materiell" verstandenen Gewaltenteilungsprinzip befürchtete „Verbeamtung des Parlaments" (C I V 1, S. 320 f.) zur Folge, d. h. der öffentliche Dienst war und ist i n den Parlamenten weit überrepräsentiert 46 . Jetzt hat das Privileg „seine Berechtigung innerhalb des Abgeordnetenrechts i n dem Augenblick verloren, i n dem der Abgeordnete angemessen alimentiert wird. Außerdem widerspricht es dem formalisierten Gleichheitssatz" (LS 4 c). Der Senat 47 distanziert dieses Privileg vom Berufsbeamtentum (Art. 33 Abs. 5 GG 4 8 ), u m es dann vom Abgeordnetenstatusrecht her „fällen" zu können und zwar von der (sich aus der Unabhängigkeit bzw. Freiheit ergebenden) angemessenen Alimentation her einerseits, vom Gleichheitssatz („formalisierter Gleichheitssatz") aus andererseits: ein Beleg für das Zusammenwirken von Freiheit und Gleichheit i m Abgeordnetenstatusrecht! Der Senat rechnet dieses Privileg nicht nur „nicht zu den hergebrachten Grundsätzen" i. S. des A r t . 33 Abs. 5 GG, er sieht es sogar m i t dem überkommenen Beamtenrecht i m Widerspruch (Beamtenpflicht zu vollem Einsatz der Arbeitskraft, Alimentation des Beamten und seiner Familie als „Korrelat"). Dogmatisch n i m m t er dann eine Harmonisierung von A r t . 33 Abs. 5 m i t A r t . 48 Abs. 3 GG vor: als dem hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums „gemäße" Regelung sieht er es an, daß der Beamten-Abgeordnete für die Dauer der M i t gliedschaft ohne Bezüge beurlaubt w i r d oder daß für diese Zeit das Ruhen seiner Beamten-Rechte und -Pflichten angeordnet wird. Die Art. 31 GG: BVerfGE 36, 342 [362 ff.]) kommt. Die Anpassung des einfachen Landesrechts freilich muß „zum Beginn" der jeweils neuen Legislaturperiode erfolgen, so wie dies der Senat für das Saarland fordert (unter 6 a), nachdem er mit Recht von einer Nichtigerklärung der gerügten Vorschrift absah und damit den derzeitigen Abgeordneten nicht ein Teil der Rechtsgrundlage ihres status entzogen wird. — Zur Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 GG: BVerfGE 27, 44 (55 f.), dazu P. Häberle, JZ 1969, S. 613 (616 ff.), und BVerfGE 36, 342 (361 f.). 48 Vgl. die Zahlen bei von Arnim, a.a.O., S. 36 f. 47 Zuvor (vgl. LS 4 a) rechnet er die die Beamten unter den Abgeordneten betreffenden Regelungen „materiell zum Recht des Status der Abgeordneten, gleichgültig, ob sie in Rechtsstellungs-, Diäten- oder Beamtengesetzen enthalten sind". 48 Zu ihm, bes. zur Alimentation: BVerfGE 21, 329 (344 ff.); Leibholz / Rinck, GG, 4. Aufl. 1971, Rdnr. 5 ff. zu Art. 33.

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„nicht dem Beamtenrecht zugehörige Ausnahme", „ i n Wirklichkeit das Privileg", habe i m Augenblick angemessener Alimentation des Abgeordneten ihre Berechtigung „innerhalb des Abgeordnetenrechts" verloren. „Außerdem" widerspreche es dem formalisierten Gleichheitssatz 49 , der sich auch i m Abgeordnetenrecht durchgesetzt habe — man muß hinzufügen, den jetzt der Senat durchgesetzt und zum status-Prinzip verdichtet hat 5 0 . Die Streichung des Beamtenprivilegs w i r d neben der Besteuerung und der Begrenzung der Beratertätigkeit zu dem Ausdruck des Status der Abgeordnetengleichheit. Ihre Konsequenz kann eine „verbesserte" repräsentative Zusammensetzung der Parlamente sein. 3. Öffentlichkeit

des Abgeordnetenstatus

Bislang vor allem den Parteien und Gewerkschaften, aber auch den Kirchen zugesprochen — er ist nicht m i t „öffentlich-rechtlich" zu verwechseln — gewinnt der öffentliche Status jetzt auch für die Abgeordneten Konturen, öffentlicher Status meint die „öffentliche Freiheit" und Verantwortung des Abgeordneten i n seinem „öffentlichen A m t " . Er w i r k t spezifisch i n der Öffentlichkeit des Parlaments (Art. 42 Abs, 1 S. 1 GG), der Ausschußarbeit (z. B. § 73 GeschOBT), i n ständiger Kontrolle und K r i t i k seitens der öffentlichen Meinung; er ist Subjekt und Objekt der demokratischen Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen und als Parteibürger sowohl innerparteilich als auch i n der ständigen Wahlkreisarbeit i n der Sphäre des materiell öffentlichen aktiv. „Vertreter des ganzen Volkes" — das ist auch eine Umschreibung der öffentlichen Verantwortung für dieses Ganze, auf dem Hintergrund eines pluralistischen Gemeinwohlverständnisses 51 . Er erfüllt öffentliche — aber gerade nicht staatliche! — Aufgaben 52 . Der öffentliche Aspekt des A b geordnetenstatus verdichtet sich Parlaments- (und auch parteien-)rechtlich allmählich zu einem greifbaren verfassungsrechtlichen Statuselement. 49 Der Senat baut auch hier der Sache (nicht der Form) nach auf den Passagen von C I I 3 a und b auf. 50 Der Senat fügt hinzu, das gelte auch für die aktiven Beamten, die nicht von der Inkompatibilitätsvorschrift betroffen werden (im Saarland ζ. B. Bundesbeamte und Soldaten): eine Folge der Alimentierung und des Gleichheitssatzes. Die volle Wucht des „formalisierten Gleichheitssatzes" i. S. des Senats wirkt auch auf die saarl. Regelungen (C I V 2 b, 3, 4 a), in denen Angehörige des öff. Dienstes als Abgeordnete begünstigt bzw. teilalimentiert werden und die jetzt am Prinzip der einheitlichen, für alle gleichen und vollen Alimentation scheitern. 51 Dazu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 54 ff., 60 u. ö. 52 Zu ihrer Unterscheidung mein Beitrag in: JuS 1967, S. 64 (73).

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Dieser Öffentlichkeitsaspekt des Abgeordnetenstatus — ein demokratischer Teilhabestatus par excellence — bedeutet keine die private Seite und Freiheit absorbierende, die Unabhängigkeit gefährdende „totale" Veröffentlichung der Abgeordnetenpersönlichkeit. Die staatsabwehrende und — i m Blick auf die Parteien und großen Gruppen — auch gesellschaftsabwehrende K r a f t des Grundstatus des Abgeordneten (Art. 38, 46 - 48 GG) bleibt unvermindert. Überdies behält er seinen grundrechtlichen status negativus wie jeder Bürger. Private und öffentliche Freiheit sind auch hier unteilbar. Erst die Möglichkeit des „Rückzugs" auf die privaten Schutzzonen seiner grundrechtlichen Freiheit — auch gegenüber dem oft erbarmungslosen Zugriff der Öffentlichkeit gegenüber der Privatsphäre — setzt den Abgeordneten in Stand, sein öffentliches Mandat gewissenhaft zu „erfüllen": als „Freiberufler" eigener A r t . a) Das besondere Parlamentsgesetz (Abgeordneten-Rechtsstellungsgesetz) als Forderung des demokratisch und rechtsstaatlich begründeten Öffentlichkeitsprinzips. Der Senat formuliert i n LS 6: Das demokratische und rechtsstaatliche Prinzip (Art. 20 GG) verlangt, daß der Willensbildungsprozeß im Parlament, der zur Festsetzung der Höhe der Entschädigung und zur näheren Ausgestaltung der mit dem Abgeordnetenstatus verbundenen finanziellen Regelung führt, für den Bürger durchschaubar ist und das Ergebnis vor den Augen der Öffentlichkeit beschlossen wird.

Das Öffentlichkeitsprinzip der Verfassung (Art. 20, 21 Abs. 1 S. 4, 42, Abs. 1 GG 5 3 ) ist damit in einer vorbildlichen Weise aktualisiert. Es verlangt Transparenz des Abgeordnetenrechts, ein spezielles Parlamentsgesetz, das nicht dadurch praktisch „parlamentslos" w i r d und von der Öffentlichkeit unkontrolliert ohne Erregung von Aufsehen und ggf. von öffentlichem Ärgernis „ i n der Dunkelkammer" bleibt, daß es über ein undurchsichtiges „Koppelungsmanöver" an Minister- bzw. Beamtengehälter angeschlossen ist 5 4 . Die Parlamentarier müssen die ihre Finanzen betreffenden Gesetze(sentwürfe) jetzt öffentlich verantworten, jede Veränderung i n der Höhe der Entschädigung i m Plenum beraten und „vor den Augen der Öffentlichkeit" als eine „selbständige politische Frage entscheiden" (C I I 2 bzw. I V 4 c, S. 316 bzw. 327). Diese Forderung nach einem öffentlichen Gesetz verknüpft sachliche m i t formaler Publizität. Sie ist Ausdruck des politisch zu verstehenden demokratischen Gesetzesbegriffs 55 . 53 Dazu P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff.; ders., öffentliches Interesse als juristisches Problem, bes. S. 708 ff. 54 Vgl. jetzt die Regelung im Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Dt. Bundestages vom 18. Febr. 1977 (BGBl. I, S. 297). 55 Dazu Ehmke, Wirtschaft, und Verfassung, 1961, S. 61 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 10. Aufl. 1977, S. 204 ff.; P. Häberle, DVB1. 1972, S. 909 (911 ff.).

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Die politische Bedeutung des zu regelnden Gegenstandes, die für Bürger und Öffentlichkeit zu verlangende Durchschaubarkeit des relevanten Willensbildungsprozesses 56 , die Möglichkeit zur K r i t i k und Kontrolle fordern ein bestimmtes „diskutantes" Verfahren: das normale Gesetzgebungsverfahren m i t seinen spezifischen Öffentlichkeitsgarantien (mehrmalige Lesung, Aussprache i m Plenum usw.). Die „verfassungsrechtlich gebotene selbständige Entscheidung des Parlaments" über die Entschädigungsregelung muß Rang und Prädikat des demokratischen Parlamentsgesetzes haben. b) „Beraterverträge" „Verfassungsinterpretation als Öffentlichkeitsaktualisierung" sind bei näherem Zusehen auch die Ausführungen zu den Beraterverträgen i n LS 5. Dem Ansatz des Senats ist zuzustimmen, so schwierig die Abgrenzungsaufgaben sind. Z u begrüßen ist, daß er nicht m i t der — verfassungswidrigen — Waffe eines grundsätzlichen Verbots von „Nebentätigkeit" zugestoßen hat. Auch bleibt Raum für Besonderheiten der Landesparlamente, insbesondere der Stadtstaaten (sog. „Feierabend-Parlamente"), aber auch des bayerischen Senats. Es ist der Freiheit des A b geordneten überlassen, wie intensiv er sein Mandat erfüllt: Ob er etwa der inneren Balance seiner Persönlichkeit wegen noch (bezahlte) „Nebentätigkeit" (ζ. B. als Schriftsteller) wahrnimmt 5 7 . Das ist ein legitimes „ Existenzinteresse ". Öffentlichkeit (des Abgeordnetenstatus) w i r d dadurch geschaffen, daß die — zulässigen — Beraterverträge jetzt praktisch von G G wegen offenzulegen sind. Anlage 1 (und 1 a) GeschOBT erweist sich als Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Publizitätsgebots. Das BVerfG hat Publizität geschaffen und damit ein Stück „Parlamentarismus mit Transparenz". c) Das Parlament als „repräsentative Öffentlichkeit" Der status des Abgeordneten gewinnt auf dritte Weise Publizitätsaspekte: über ausgewogene pluralistische Zusammensetzung des Parlaments i m Ganzen. Das Parlament soll möglichst die ganze Öffentlichkeit der res publica widerspiegeln: ein freilich nie voll erreichbares Ideal, das aber zu postulieren ist, um Publizitäts- bzw. Représentations- und Pluralismusdefizite benennen und verringern zu können. 56 Zum Einfluß der öff. Meinung auf ausgabenerhöhende Diätenpolitik des Parlaments: BayVerfGH BayVBl. 1972, S. 210. 57 Zur conditio humana (Dürig) des Abgeordneten als Individualität und Personalität: Oppermann, VVDStRL 33 (1975), S. 43 und LS 10 (S. 63).

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I I I Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

aa) Der Senat erwägt die differenzierte (wortlautbegründete) Auslegung des A r t . 137 Abs. 1 GG („könnte"); der Gesetzgeber sei nur dazu ermächtigt, „einen Teil der (in A r t . 137 Abs. 1 GG) bezeichneten Angehörigen des öffentlichen Dienstes der Wählbarkeitsbeschränkung zu unterwerfen, jenen Kreis von Personen, bei denen die gleichzeitige Wahrnehmung amtlicher und parlamentarischer Aufgaben „zu einer ernsthaften Gefährdung des Prinzips der Gewaltenteilung und zu Interessenkonflikten führen kann" (S. 320). Dabei formuliert er den Satz: „Es läßt sich sogar fragen, ob das in Bund und Ländern zu beobachtende unverhältnismäßig starke Anwachsen der Zahl der aktiven und inaktiven Angehörigen des öffentlichen Dienstes unter den Abgeordneten („Verbeamtung der Parlamente"), sollte es sich fortsetzen, noch mit den Anforderungen eines materiell verstandenen Gewaltenteilungsprinzips vereinbar ist" (S. 321).

Dieser Durchbruch zum „materiellen" Gewaltenteilungsprinzip — materiell deshalb, weil auf Herkunft, Beruf, Sozialisation der Abgeordneten geblickt wird, die Auswirkungen auf die Interessenwahrnehmung i m Parlament haben — kann allgemein (etwa bei Fragen der Pressekonzentration, der Verbandskontrolle) und speziell i m Parlamentsrecht gar nicht überschätzt werden, weil es der „Hebel" für eine Verbesserung der parlamentarischen Repräsentanz ist. bb) Ob die von der Abschaffung des Beamtenprivilegs (Streichung der „Segnungen doppelter Bezüge") auf dem Weg über den Gleichheitssatz (!) erhoffte Zurückdrängung der „Verbeamtung" und damit eine ausgewogenere Sozialstruktur der Parlamente erreicht wird, ist offen. Die „Alimentierung" der Beamten ist höchst unterschiedlich, für die schlechter bezahlten Ränge könnte auch nach Streichung des Ruhegehalts für beamtete Parlamentarier das vollalimentierte Mandat nach wie vor attraktiver sein. Der Tendenz des Senats ist indes zuzustimmen. Die Zusammensetzung der Parlamente könnte auf längere Sicht der Bevölkerungsstruktur besser gerecht werden („pluralistische Repräsentation"); es käme zu Gewaltenteilung im Parlament. Verschiedene Berufsgruppen, Repräsentanten unterschiedlicher Bevölkerungsschichten sollen als Abgeordnete i m Parlament sein. Das Ideal eines solchen öffentlichen Pluralismus und „gesellschaftliche Repräsentanz" 58 (pluralistische Repräsentanz) i m Parlament w i r d freilich kaum je erreicht werden.

58

Ausdruck des BVerwG, JZ 1972, S. 204 (206).

22. Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung

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II. Abgeordnetenstatus- und Parteienstatusrecfat Insgesamt werden die Umrisse einer Statuslehre des Abgeordneten sichtbar, die der der Parteien entspricht. Wie diese hat der Abgeordnetenstatus einen dreifachen Aspekt: Freiheit, Gleichheit, Öffentlichkeit 5 9 . Alle drei status bedingen sich; insbesondere kommt es zu Freiheit durch Gleichheit und Öffentlichkeit. Die „Parallelisierung" von Abgeordneten- und Parteienstatus ist Ausdruck der parteienpluralistischen Demokratie des GG. Diese „Entsprechungen" zwischen der Parteien- und Abgeordnetenstatuslehre sind kein Votum für eine parteienstaatliche „Vereinnahmung" des Abgeordneten etwa i. S. eines Abbaus seines „repräsentativen" Status, den das BVerfG i m Urteil nicht, auch nicht ablehnend, erwähnt, oder i. S. einer Uberlagerung oder gar Einebnung des A r t . 38 durch A r t . 21 GG 6 0 . Der Senat legt genügend Gewicht auf den Abgeordnetenstatus der Unabhängigkeit, auch gegenüber den Parteien, nicht nur gegenüber „einflußreichen Gruppen der Gesellschaft". So ist die Bahn frei für eine die Parteien und Abgeordneten verbindende ganzheitliche Sicht ihres Status. Abgeordneten- und Parteienrecht gehören zusammen: i m Spektrum politischer Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit. Das Diätenurteil des BVerfG ist insofern auf einem guten Weg.

Nachtrag zu „Verfassungsrechtlicher Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung i n der egalitären Demokratie" (BVerfGE 40, 296) — Nr. 22 — zugleich eine Stellungnahme zum AbgG. 1. Diese hier erstmals publizierte Urteilsanalyse ist das Seitenstück zu dem stärker dogmatisch gearbeiteten Aufsatz: „Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus", der i n NJW 1976, S. 537 - 542 veröffentlicht wurde. Neben der Konturierung des Abgeordnetenstatus geht es diesem Aufsatz vor allem um eine flexible Sicht des Zusammenspiels von „judicial activism" und „judicial restraint" 1 . Er versteht sich als Beispiel jener A r t von Entscheidungsrezensionen, u m die sich der Verfasser seit 1965 bemüht hat 2 . 5f t

Zu diesen drei Status der Parteien: Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 11 (27 ff.). Zu diesem Problem BVerfGE 2, 72 ff.; 5, 85 (104,137). 1 Der Gedanke eines gewissen judicial restraint gegenüber Reformgesetzen zeigt sich jüngst ζ. B. in BVerfGE 44, 1 (20 f.), gegenüber „vorläufigen" Gesetzen, in: E 45, 400 (420). 2 Vgl. den Aufsatz: Berufsgerichte als „staatliche" Gerichte. Gedanken zum Beschluß des BVerfG v. 24. 11. 1964, in: D Ö V 1965, S. 369-374, oder die staatskirchenrechtliche Rechtsprechungsrezension „Kirchliche Gewalt als öffentliche und mittelbar staatliche Gewalt", in: ZevKR 11 (1965), S. 395-403. 60

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

„Kommentierte Verfassungsrechtsprechung" ist über die Entscheidung des einzelnen Falles hinaus relevant, insofern es ihr gelingt, das ständige Wechselspiel zwischen Rechtsprechung, wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher öffentlicher Meinung zu strukturieren. Folgt dem verfassungsrichterlichen Urteil wie hier alsbald eine Entscheidung des (Bundes· und später des Landes-)Gesetzgebers nach, ist der „Fall" unter dem Gesichtspunkt des Zusammenspiels aller staatlichen und öffentlichen Funktionen besonders aufschlußreich. Dogmatische Strukturen wie der vom Verfasser in NJW 1976, S. 537 ff. versuchte Dreischritt „Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus" können das Werk des Gesetzgebers steuern; sie müssen sich aber ggf. auch vom Gesetzgeber korrigieren lassen, jedenfalls dann, wenn es sich um ein „gutes" Gesetz handelt. Ob dies i n concreto der Fall ist, ist umstritten, läßt sich letztlich auch erst aus seiner längeren „Anwendung" erschließen. Das Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages vom 18. Februar 1977 (BGBl. I, S. 297) — AbgG — liegt seit etwa einem Jahr vor. Schon i m Entwurfsstadium wurde es (ζ. T. kritisch) kommentiert 3 . Die Rechtsprechungsentwicklung des BVerfG zum Abgeordnetenstatus ist i n dem als Nr. 23 wiederabgedruckten Aufsatz zur Öffentlichkeitsarbeit dargestellt 4 . „Status und Mandat des Abgeordneten" — ein „Freiberufler" eigener A r t — wurden zuletzt behandelt von Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 826 ff.; dort hat auch des Verfassers systematische Zusammenschau der Art. 38 Abs. 1, 48, 42, 3, 46, 47,137 Abs. 1 sowie der Art. 20 und 21 Abs. 1 GG zur Bestimmung des Abgeordnetenstatus aus NJW 1976, S. 537 (539) Beifall gefunden 5 .

3 Vor allem durch von Arnim, Reform der Abgeordnetenentschädigung, Stellungnahme zum Entwurf eines Abgeordnetengesetzes 1976 (BT-Drucks. 7/5525), 1976; ders., Das Verbot von Interessentenzahlungen an Abgeordnete, Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e.V., 1976. Aus der Literatur zum Gesetz: ζ. B. ZParl 1977, S. 4 ff. (Bericht); Lohse, JuS 1977, S. 417 f.; J. Henkel, D Ö V 1977, S. 350 ff.; ders., ZBR 1977, S. 113 ff. 4

Vgl. noch BVerfGE 42, 312 — mit mehrfacher Bezugnahme auf das DiätenUrteil (S. 327, 328) —, dazu die Anm. von J. Henkel, DÖV 1977, S. 57 ff. sowie zum Status des Abgeordneten jüngst: BVerfGE 43, 142 (148 f.); 44, 308 (315 ff., 319 ff.); s. auch die Bezugnahme auf die „einzelnen Abgeordneten" in BVerfGE 45, 1 (38) im Rahmen der Auslegung von Art. 110, 112 GG. 5 Vgl. Stern, Das Staatsrecht..., 1977, S. 828. Aus der Literatur allgemein noch Wiese, Das Amt des Abgeordneten, AöR 101 (1976), S. 548 ff. und D. Lattmann, Die Einsamkeit des Politikers, 1977; B. BaduraJ J. Reese, Jungparlamentarier in Bonn — ihre Sozialisation im Dt. Bundestag, 1976; Dittmann, ZRP 1978, S. 52 ff.

22. Abgeordnetenstatus und Grunddiätenbesteuerung

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Die weitere Diskussion konzentriert sich jetzt auf die von den deutschen Landtagen zu verabschiedenden Rechtstellungsgesetze für Landtagsabgeordnete 6 (Stichworte: „Teilzeitparlamentarier oder Vollprofis?"). Vorausgegangen ist ein Musterentwurf der Präsidenten der Landtage vom Frühjahr 19777. Das Diäten-Urteil des BVerfG hat — begrenzt — Raum gelassen für eine föderalismusadäquate unterschiedliche Ausgestaltung der Ländergesetze (vgl. BVerfGE 40, 296 [314]). Spielraum für entsprechend unterschiedliche Selbstverständnisse der Landtagsabgeordneten 8 ist notwendig: Vielleicht vermag die Diskussion um die Länderregelungen mittelfristig sogar noch zu neuen Einsichten zur Rechtstellung der Bundestagsabgeordneten zu führen. Da das BVerfG an seine eigenen Entscheidungen nicht gebunden ist — ganz abgesehen von der Frage der Reichweite der Bindungswirkung seiner Entscheidung für andere —, ist auch sein Wort nicht das letzte Wort! Trotz (oder gerade wegen?) des Diäten-Urteils des BVerfG und des AbgG bleibt der status des Abgeordneten weit über Juristenkreise hinaus in der Diskussion 9 . Sie dürfte sich i m Blick auf die Direktwahl zum Europaparlament fortsetzen (erste Hinweise i n BVerfGE 42, 312 [327]). Die Verabschiedung des Kontaktsperrengesetzes vom 29. September 1977 und die Auseinandersetzung innerhalb der SPD über das abweichende Abstimmungsverhalten einiger Abgeordneter hat die Grundsatzfragen zugespitzt 10 . I n einer offenen Gesellschaft w i r d die Diskussion um Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus nie endgültig sein. Denn er ist Teil der allgemeinen bürgerdemokratischen Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit. 2. Ob das Abgeordnetengesetz des Bundes (AbgG) seinen anspruchsvollen Namen zu Recht trägt, d. h. wie vollständig es die Rechtsstellung des Abgeordneten umschreibt, oder ob es sich wirklich nur i n einer „Besol6 Dazu M. Friedrich, Der Landtag als Berufsparlament?, 1977; vgl. auch den Bericht: „Bremer Pläne für Teilzeit-Abgeordnete", in: F A Z v. 12. 8. 1977, S. 4. — Vgl. jetzt die (in Höhe und Kostenpauschale fragwürdige) Regelung für Bayern: Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Bayerischen Landtags vom 25. Juli 1977, GVB1. S. 369; zuletzt die Regelung für Hessen: Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Abgeordneten des Hessischen Landtags (HessAbgG) vom 2. Mai 1978, GVB1. S. 255. 7 Vgl. F A Z v. 26. 2. 1977 und 13. 8. 1977. 8 ζ. B. das „Feierabendparlament" für Hamburg (FAZ v. 26. 2. 1977, S. 5). 9 Vgl. etwa den Vortrag von F. K. Fromme, Was Abgeordnete und freie Berufe verbindet, Geistige Leistung, Selbständigkeit, Entscheidungsspielraum und die Verpflichtung auf Freiheit, F A Z v. 11. 8. 1977, S. 5 f. oder „Der Tanz um das goldene Diätenkalb", FR v. 8. 2. 1977, S. 8. 10 Vgl. etwa den Leserbrief von G. Leibholz, „Abgeordnetenstatus und Kontaktsperre-Gesetz" (FAZ v. 24. 11. 1977, S. 9).

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dungsregelung" erschöpft 11 , läßt sich m i t Hilfe einer Beurteilung seiner Einzelregelungen anhand der Dogmatik vom „status der Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit" im Lichte der Aufgaben des Abgeordneten erschließen. Der status der Freiheit „dirigiert" § 2 AbgG (Schutz der freien Mandatsausübung), zugleich als Chancengleichheit beim Zugang zum Mandat bzw. Parlament, und § 2 Abs. 3 (Erweiterung des Kündigungsschutzes), m i t einer bemerkenswerten „Nachwirkung" i n Satz 4 (vgl. auch das Übergangsgeld nach § 18); gleiches gilt für § 3 (Wahlvorbereitungsurlaub), § 4 (Anrechnung der Mandatszeit auf Zeiten der Berufs- und Betriebszugehörigkeit) und für die Altersversorgung (§19 ff.), i n freilich fragwürdiger quasi-beamtenrechtlicher Ausgestaltung. Ein Stück „Leistungsrecht" (parallel den §§ 5, 18 bis 22 ParteienG) w i r d i m 4. und 5. Abschnitt des AbgG schon i n der Uberschrift sichtbar („Leistungen an", vgl. auch § 12 Abs. 4). § 12 (Amtsausstattung) dient der Freiheit (Unabhängigkeit) sowie der Gleichheit der Abgeordneten. Der status der Gleichheit gibt mehreren Normen Maß und Inhalt: einmal den erwähnten Bestimmungen über den chancengleichen Zugang zum (und Abgang vom) Mandat (Sicherung der beruflichen Existenz, bes. §§ 2 bis 4 AbgG); zum anderen als „formalisierte Chancengleichheit (vgl. §§ 5, 7, 11 Abs. 1 bzw. 2). Auch i m übrigen steht der status der Gleichheit i m AbgG stark i m Vordergrund. Er schlägt besonders durch bei der Gleichheit der Besteuerung. Der status der Öffentlichkeit schließlich prägt die §§ 2 (Schutz der freien Mandatsausübung) und 12 (Amtsausstattung). Hinter vielen öffentlichkeitsbezogenen Normen werden, wenn auch nur recht mittelbar, die Aufgaben des Abgeordneten sichtbar, z. B. § 12 Abs. 2 Ziff. 1 („Wahlkreisbetreuung"), § 17 („Auslandsreisen als Dienstreisen", „auswärtige amtliche Tätigkeit"), § 22 („Arbeitskraft") 1 2 . Die Berichtspflicht des Bundestagspräsidenten (§ 30 AbgG) ist insofern ein Stück (inner- und außerparlamentarischer) Öffentlichkeit, als dadurch sichergestellt wird, daß die „Angemessenheit der Entschädigung" regelmäßig nach unten und oben öffentlich zur Diskussion gestellt wird. §§ 11 ff. AbgG bzw. Art. 48 Abs. 3 GG sind i n gesteigerte Publizität gerückt, ganz i m Sinne der vom BVerfG geforderten Transparenz als Offenheit für K r i t i k . Da alle drei status des Abgeordneten innerlich zusammengehören, konkretisiert das AbgG „ i m " status der Gleichheit ζ. B. auch ein Stück 11

So J. Henkel, DÖV 1977, S. 350 (356). Vgl. auch die Erläuterungen des 2. Sonderausschusses des Dt. Bundestages, Ausschuß-Drucksache Nr. 46 vom 23. Juni 1976, S. 32 f., ζ. B. „Aufwendungen für Fachliteratur", „Besuch von Veranstaltungen" etc. 12

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Freiheit und Öffentlichkeit, so schmerzlich die Regelungslücke bezüglich der Beraterverträge ist 1 3 . Ein allgemeines Berufsausübungsverbot wurde aus guten Gründen nicht normiert 1 4 : es wäre verfassungswidrig, weil freiheitsstatus- bzw. grundrechtswidrig (Art. 1, 2, 5, 8, 12 GG!) 1 5 , ganz abgesehen von den unerfreulichen Auswirkungen auf die künftige Zusammensetzung des Parlaments. Fragmentarisch ist das Abgeordnetengesetz des Bundes insofern, als die große Chance zur Normierung eines allgemeinen — offenen — A u j g a benkatalogs (im Insbesondere-Stil) 16 für die —freien — Abgeordneten nicht wahrgenommen wurde. Das ist mehr als ein optischer Fehler. Eine Orientierung am Vorbild des § 1 ParteienG hätte weitergeholfen. Jedenfalls ist an einen solchen generalklauselartigen Aufgaben-(nicht Pflichten-)Katalog spätestens dann zu denken, wenn die noch ausstehende Regelung der Beraterverträge 17 nachgeholt wird. Auch bleibt zu prüfen, welche weiteren Teilelemente des Abgeordnetenstatus aus Abschnitt V I GeschOBT, der Anlage 1 (Anzeigepflicht nach Ziff. 2 und 3) sowie 3 (Fragestunde) zur GeschOBT sich inzwischen so bewährt haben, daß sie aus dem Erprobungszustand einer (Anlage zur) GeschOBT 18 i n die Gesetzesform erhoben werden können (Experimentierklausel in der Form untergesetzlichen Rechts!). Erst die Formulierung eines — die Freiheit des Abgeordneten unterstreichenden, nicht einschränkenden — Auf gabenkatalogs würde aus dem AbgG ein „rundes" Gesetz machen und den verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus einfachgesetzlich konkretisieren; erst dann würde nicht mehr wie jetzt der Steuer- und besoldungsrechtliche Anlaß des Diätenurteils i m Vordergrund stehen. Freilich muß jede auch nur entfernte Analogie zum Beamten- und Arbeitsrecht vermieden werden: eine Konsequenz des „freiberuflichen" Aspekts des Abgeordneten. Der Abgeord13 Vgl. auch die Kritik bei von Arnim, Verbot von Interessentenzahlungen, a.a.O., S. 15 ff. 14 Vgl. die Begründung des 2. Sonderausschusses, a.a.O., S. 19 f.; sowie Anhang 1 zur Begründung, Bericht des Beirats für Entschädigungsfragen vom Juni 1976, S. 48. 13 Vgl. meine Bemerkungen in NJW 1976, S. 537 (540, 541) und den hier abgedruckten Beitrag: Anm. 39, 57. 16 ζ. B. mit Hinweisen auf die freie Arbeit in den drei Bereichen Parlament und Fraktion, Partei und Wahlkreis (i.S. von BVerfGE 40, 296 [312]). Gründe für „legislative self restraint" (dazu meine Bespr. von Gerhardt, in: DVB1. 1978, S. 121 f.) bestehen nicht. 17 Vgl. BVerfGE 40, 296 LS 5 sowie die Begründung des 2. Sonderausschusses, a.a.O., S. 20. 18 Vgl. auch die Begründung des 2. Sonderausschusses, a.a.O., S. 41.

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nete als „Freiberufler": Dies sollte auch i n dem Aufgabenkatalog zum Ausdruck kommen (etwa: „unbeschadet nebenberuflicher Tätigkeiten"). Ein Wort zu den ζ. T. noch geplanten Abgeordnetengesetzen der Länder i m Hinblick auf das Selbstverständnis der Landesparlamente 19 und der Landtagsabgeordneten, das ernst zu nehmen ist, ernster als es das Diätenurteil des BVerfG zu nehmen scheint 20 » 21 . Wie stark die „Ausstrahlung" des AbgG des Bundes bzw. des Diätenurteils auf die Länder auch sein mag, die Abgeordneten der Länder sollten alles tun, um „ i h r " Gesetz so weit wie möglich nach „ihrem" Bild zu formen. Dabei werden sowohl empirische Ist-Momente relevant (Größe der Länder: Stadtstaaten hier, Flächenstaaten dort; bisherige Arbeitsbelastung, [„Teilzeitabgeordneter"], Organisationsstruktur der Parlamente, landtagsmandatsspezifische Kosten) als auch normative Soll-Momente (wie will und soll sich der Landtags-Abgeordnete heute und i n Zukunft selbst verstehen und sehen?). Der Weg zur schrittweisen Parlamentsreform, auch i m Lichte materiellen Rechts, ζ. B. der neuen Lehre zum demokratischen Gesetzesvorbehalt i. S. der „Wesentlichkeitstheorie", sollte ganz bewußt über innovationsreiche Abgeordnetengesetze der verschiedenen Länder gesucht werden. Insofern ist der einheitliche Musterentwurf der Landtagspräsidenten fragwürdig. Eine Vielzahl unterschiedlicher experimenteller Alternativen zu ermöglichen, entspricht der Bundesstaatlichkeit als einer Form des gewaltenteilenden Pluralismus in besonderem Maße. Gemeindeutsches Abgeordnetenrecht 22 sollte jedenfalls nicht primär aus übersteigerter unitarisierender Gesetzgebung entstehen. Speziell das „repräsentative" Element des Abgeordnetenstatus ist freilich eine für alle Länder gleich hoch zu veranschlagende Größe. Das durch objektive Daten mitgesteuerte, aber durch subjektive, sehr personale Leitbilder wesentlich angereicherte Selbstverständnis der Landtagsabgeordneten bleibt das Vehikel für ihre Abgeordnetengesetze. Die Chance sollte genutzt werden 28 .

19 Vgl. auch J. Henkel, DÖV 1977, S. 350 (351). — Zum fragwürdigen Bayerischen Gesetz: Anm. 6. 20 Dieser Gesichtspunkt war dem Verfasser (NJW 1976, S. 537 ff.) seinerzeit noch nicht genügend bewußt (s. aber die Andeutungen auf S. 539 Anm. 30). 21 Einen gewissen Rahmen auf Bundesebene lassen auch §§ 9, 10 AbgG. 22 s. zu diesem Ansatz („gemeindeutsches Verfassungsrecht") meine Ausführungen in JZ 1969, S. 613 ff. 23 Diese Ausrichtung auf einen optimalen Sollzustand der Landesparlamente, nicht nur auf die Gegenwart, sondern eine offene Zukunft, die auch einen Wandel der heutigen Daten bringen kann, relativiert die gründliche Bestandsaufnahme von M. Friedrich (a.a.O., S. 19 ff.). Mag die heutige (!) untergeordnete Bedeutung der Landesgesetzgebung (S. 26 ff.), mögen „Kontrollschwächen" der Landtage nachzuweisen sein, es muß Spielraum bleiben für „bessere" und neue(!) Aktivitäten der Landtage und ihrer Abgeordneter. Friedrich selbst

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Das Diäten-Urteil des BVerfG (E 40, 296) ist immer wieder kontrovers diskutiert worden (einige Nachweise in P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 231 f.). Die Einzelheiten der Rezensionsliteratur können hier nicht weiter verfolgt werden. Wohl aber sei vermerkt, daß der Status der Abgeordneten (dazu etwa K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,2. Aufl. 1984, S. 1057 U.\P.Badura, in: H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 489 ff.), vom Verf. als „Dreierstatus" umrissen (Status der Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit) dank der Verfassungsbewegung i n den neuen Bundesländern und der Judikatur des BVerfG (vgl. E 70, 324, und SV Mahrenholz S. 366 ff.; 80, 188 (217 ff.); 84, 304)) weiter konturiert und z. T. auch verstärkt worden ist. Beispielhaft seien zitiert: Art. 56 Abs. 2 bis 5 Verf. Brandenburg von 1992, Art. 53 Abs. 2 Verf. Thüringen von 1993, Art. 40 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993 (dazu die Texte und Kommentare in: JöR 43 (1995), S. 355 (367 f.) m. w. N.). Auf einfachgesetzlicher Ebene ist zum Abgeordnetengesetz von 1977 das Fraktionsgesetz von 1993 (dazu etwa H. Meyer, Die Fraktionen auf dem Weg zur Emanzipation von der Verfassung, FS Mahrenholz, 1994, S. 319 ff.) hinzugekommen. Der Streit um die Abgeordnetendiäten bildet im übrigen einen Teilaspekt der Kontroverse um die Parteienstaatlichkeit, dazu die Zuspitzungen bei H. H. von Arnim, Staat ohne Diener, 1993; ausgewogen: D. Grimm, Politische Parteien, HdBVerfR., 2. Aufl., 1994, S. 599, bes. S. 653 ff. S. auch die Referate und Diskussionen auf dem Kolloquium für P. Badura, hrsg. von W. Mößle, 1995. Der Verfassungsstaat als Typus muß sich heute neue Vorkehrungen und Verfahren ausdenken, um Mißbräuchen seitens der Parteien entgegenzuwirken. Dazu gehört die faktische Außerkraftsetzung von Art. 33 Abs. 2 GG durch die Vergabe hoher und höchster Richterstellen nach dem Parteienproporz. Direktive könnte Abschnitt 3 Abs. 3 Verf. Ungarn (1949 / 89) sein: „Die Parteien dürfen direkt keine Staatsgewalt ausüben. Demnach darf kein staatliches Organ von einer Partei beherrscht werden" (zit. nach JöR 39 (1990), S. 258). I n Frankreich erging 1995 ein „Transparenz-Gesetz". I n Deutschland müßten viele Inkompatibilitäten für Mandats- und Amtsträger ausdrücklich verordnet werden.

nennt schon für das Heute als unentbehrliche Funktionen der Landtage (a.a.O., S. 68): „Vermehrung der Partizipationschancen der Aktivbürgerschaft", „Entlastung des Bundestages" und „Klagemauer für den Bürger gegenüber der Verwaltung". Das sind aber Aufgaben, die sich in (naher) Zukunft ausdehnen werden bzw. ausdehnen sollten und deren Entwicklung nicht durch pauschale, status quo-fixierte Einstufungen der Landtagsabgeordneten abgeschnitten werden dürfen.

23. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien- und Bürgerdemokratie* Zum Urteil des BVerfG vom 2. März 1977* I. Einleitung: Reaktion in der Öffentlichkeit, Thematisierung von Grundsatzfragen Das Urteil des BVerfG vom 2. 3. 1977, ein Markstein i n der Geschichte des deutschen Parlamentarismus, ist trotz aller K r i t i k i m einzelnen auf viel Zustimmung 1 gestoßen; es zeitigte Sofortwirkungen, auch i n den Ländern 2 ; langfristig sind seine Folgen (ζ. B. für das Selbstverständnis von Parlament und Regierung, Opposition und Parteien) noch nicht übersehbar. Das Urteil dürfte populär sein: weil es die — jeweils regierenden — Parteien i n die Schranken weist und für die Zukunft Steuergelder spart. Der vom BVerfG festgestellte Mißbrauch der Staatsmacht für Parteizwecke darf jedoch nicht zu einer Antiparteienhaltung führen, erst recht nicht zur Staatsverdrossenheit, zumal die Aktivbürgerschaft vom BVerfG sehr ernst genommen wird. Das Urteil kann staatsedukatorisch als Stärkung der Idee der Bürgerdemokratie 3 und der Opposition interpretiert werden, ohne daß den Parteien das Ihrige genommen wird 4 .

* JZ 1977, S. 361 -371. * BVerfGE 44, 125 ff. 1 F A Z v. 3. 3. 1977, S. 1: „Erlösendes Urteil", „ein befreiendes Gewitter"; „Die Welt" v. 3. 3. 1977, S. 6; Leicht, SZ v. 3. 3. 1977: „Allen Parteien ins Stammbuch", „wohltuende Wirkung des Urteils"; Stuttgarter Nachrichten v. 3. 3. 1977; Bonner Generalanzeiger v. 3. 3. 1977. — „Der Spiegel" Nr. 11 v. 7. 3. 1977, S. 16: „Werbeverbot, das . . . seit langem überfällig war". — Überwiegend kritisch: FR v. 3. 3. 1977, S. 3; Schueler, „Die Zeit" v. 11. 3. 1977, S. 5: „Votum für ein Ideal", s. auch die — spätere — Kritik aus der Sicht von Politikern in den Bundesländern (nach „Der Spiegel" Nr. 14 v. 28. 3. 1977, S. 66). — Zust. Seifert, Anm. in DÖV 1977, S. 288 ff. 2 Vgl. die Anweisung des BPA an die sozialdemokratische Wahlkampfleitung in Hessen, im Blick auf die dort im März 1977 anstehenden Kommunalwahlen keine Werbemittel der Regierung mehr zu verteilen: „Der Spiegel" Nr. 11 v. 7. 3. 1977; F A Z v. 11. 3. 1977, S. 2: „Regierung Kühn sagt der CDU Verfassungstreue zu"; F A Z ν 30. 3. 1977, S. 3: Union fordert starke Kürzung der Mittel für Öffentlichkeitsarbeit. — SZ v. 23. 4. 1977, S. 6: Pressechefs vereinbaren sechsmonatige Schonfrist vor Wahlen. 3 Vgl. die bürgerdemokratische Konzeption bei H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), 69 (77 Anm. 26) : der einzelne, nicht „das Volk" als Grundelement der Demokratie; P. Häberle, ebd. S. 136 (Diskussion). Um „Balancierung" der Stellung

23. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung

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Die Leistungen des BVerfG sind hoch zu veranschlagen: es entwickelt sein Demokratieverständnis (besonders die Mehrheitsproblematik) fort, artikuliert ein demokratisches Staats-, Rechts- und Amts Verständnis, präzisiert sein Parteien-Bild, akzentuiert A r t . 38 GG und aktualisiert sein Öffentlichkeitsverständnis. Es profiliert sein Bild der Opposition als der „gewagtesten politischen Erfindung" (A. Arndt). Gleichwohl bleibt für Wissenschaft, Rechtsprechung und Staatsorgane als Teil der Öffentlichkeit viel zu tun. Die Verfassungstheorie muß sich neu bemühen um ein demokratisches Amts- und Staatsorganverständnis, u m ein B i l d von ideologiefreier staatlicher Neutralität, eine kompetenz- und funktionell-rechtliche Gemeinwohlkonzeption und eine Theorie der Parteien, die ihre öffentlichen Aufgaben sichtbar macht, ohne zum „Parteienstaat" zu führen, und die parteiendemokratische Elemente m i t dem bürgerschaftlichen status activus verbindet 5 . Die Festschreibung des Parteienstaates i. S. der abw. Meinung Rottmanns wäre zur abschüssigen Bahn auf Kosten des Bürgers geworden: die Inflation regierungsamtlicher Wahlwerbung hätte später kaum mehr gestoppt werden können. Freilich: Wie sind Regierungsamt und Parteimandat (ζ. B. bei Gesetzentwürfen) zu trennen, ohne daß gewisse Verquickungen i n der parlamentarischen Demokratie wegfingiert werden 6 ? Hier w i r f t das Urteil viele Fragen auf — auch an die Adresse des Selbstverständnisses der Parteien und an die staatsbürgerliche Bildung des Bürgers („Volkes") —, so beifallswürdig es i m Ergebnis ist. II. Methodenfragen Die vom Senat praktizierten Methoden der Verfassungsinterpretation interessieren i m Blick auf die ganzheitliche Sicht der Verfassungsnormen (und die Verarbeitung der Rechtsprechungstradition) sowie im Blick auf ihren Wirklichkeitsbezug. der Parteien durch Stärkung der Einflußmöglichkeiten der Bürger rang die Enquete-Kommission Verfassungsreform (vgl. Schlußbericht, BT-Drucks. 7/52924, bes. S. 10,12,14 ff.). 4 Die Bundesregierung hat das Urteil ohne große „Schelte" zur Kenntnis genommen. Für die CDU/CSÜ-Opposition besteht kein Anlaß zur Selbstgerechtigkeit, zumal sie in früheren Bundesregierungen und früher wie heute in Länderregierungen ihrerseits die Grenzen für die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit überschritten haben dürfte. 5 Ansätze finden sich in der Diäten- und der Daniels-Entscheidung (BVerfGE 40, 296 [312 ff., 317 f.], 41, 399 [412 ff, 416 ff.]), zu dieser die Anm. von Bogs, D Ö V 1977, 100 f. 6 Hier besteht ja ein Gegenspielerverhältnis von Regierung(s-Parteien) und Opposition(s-Parteien), um der Offenheit für Innovation willen, was Interorgankontrollen zwischen Regierungsmehrheit und „ihrer" Regierung nicht ausschließt (Oppermann, VVDStRL 33 [1975], 7 [64, 178]; s. auch H. Meyer, ebd. S. 69 [98, 101], für das Verhältnis Parlament/Regierung).

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Der Senat argumentiert betont „aus" Verfassungsnormen, aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 einerseits, A r t . 21 und 38 GG andererseits. Über diese Einstiegsnormen kommt er zu Normgruppen 7 . Freilich: Auch „ i n " Art. 20 GG w i r d A r t . 21 GG schon vielfältig wirksam (z. B. C 1 6). Diese interpretatorische Verknüpfung vieler Verfassungsnormen und -Institutionen ist vorbildlich, sofern etwaige Spannungen und mögliche Konflikte nicht übersehen werden 8 . Der Senat berücksichtigt die (Verfassungs-)Wirklichkeit 9 , aber er macht sie nicht zur „Rechtsquelle" 10 , d. h. er verwirft den von Rottmann gewählten Ansatz, Momente des „faktischen Parteienstaats" zum Parteienstaat des GG zu erheben 11 m i t der Folge, daß die Regierung nicht mehr demokratische organschaftliche Staatsfunktion, sondern Parteifunktion wäre 1 2 . Verfassungswidrige Wirklichkeit darf nicht auf dem (Um-)Weg über die Interpretation zur verfassungskonformen Wirklichkeit werden und das GG beiseite schieben. Die Identifizierung von Staat bzw. Regierung und Parteien (d. h. der reine Parteienstaat) wäre auf dem Felde der Öffentlichkeitsarbeit irreversibel geworden. Die jahrzehntelange (verfassungswidrige) Übung der parteiergreifenden Wahlwerbung von Regierungen ist weder über das Institut des „Bedeutungswandels" von Verf assungsnormen (z.B.BVerfGE 2, 380 [401], 34, 269 [288 f.] = JZ 73, 662 m i t Anm. v. Kühler), noch über Verfassungsge7

Vgl.: nähere Ausgestaltung des Art. 20 Abs. 1 und 2 in Art. 38 und 21 GG (C I 1), für Gehalt und Grenzen des Mehrheitsprinzips (C I 5), für das Prinzip „Öffentlichkeit" (C I 2), für die gleichen Grundrechte und Pflichten (C I 5), für den gleichen staatsbürgerlichen Status aller Deutschen (C I I 5), für die Selbstbestimmung (C I 5) ; s. die Aufzählung (C I 3) von freiem Mandat, Unabhängigkeit der Richter, Prüfung des Rechnungshofs usw. ; s. auch die Begründung der Zulässigkeit der Öffentlichkeitsarbeit unter C I I I . — Für Art. 21 bzw. 38 GG: C I I . 8 Bei der Verarbeitung der Rechtsprechungstradition des BVerfG fällt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber den „parteienstaatlichen" Zitatketten auf, noch deutlicher war dies im Diäten-Urteil (dazu P. Häberle, Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordnetenstatus, NJW 1976, 537 [538]). Immerhin wird das Grundsatzurteil BVerfGE 1, 208 (225) zitiert. Zur größeren Rolle des Art. 38 GG: E 41, 399 (415 ff.), ferner unten Anm. 59. 9 Wirklichkeitsorientierte Passagen finden sich unter C I 3, 1. Abs.: „vielfältige und tägliche Wechselwirkung" zwischen Willensbildung des Volkes und Willensbildung in den Staatsorganen usw.; C I I 2: Parteien als „Mittler", „Zwischenglieder" usw. und vor allem in der genauen Analyse der Wirkung regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit in der (Vor-)Wahlzeit (C I V 2 und 3) sowie in der konkreten Überprüfung der unzulässigen Tätigkeit der Bundesregierung im Vorfeld der Wahlen 1976 (C V), die harte und mustergültige Kleinarbeit an den Fakten ist. 10 vgl. den Titel des Beitrags von E.-H. Ritter, in: Der Staat 7 (1968), S. 352 ff. 11 Vgl. Abw. Votum Rottmann, I, zum „faktischen Monopol" der Parteien, sowie unter I I 1 und 1 f. („parteienstaatliche Demokratie"). 12 Rottmanns Abw. Meinung hat indes das Verdienst, die Gegenposition (in der Konsequenz von Leibholz) herausgearbeitet zu haben.

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wohnheitsrecht verfassungsmäßig geworden 13 ; denn sie blieb i n Theorie und Praxis i n Bund und Ländern kontrovers. Die öffentliche Meinung hat sie nicht akzeptiert, die Rechtsprechung nicht unbegrenzt legitimiert 1 4 . Eine sie billigende Rechtsüberzeugung aller die „offene Gesellschaft" tragenden Verfassungsinterpreten 15 lag nicht vor. Selten ist das Problem der Grenzen normierender K r a f t der W i r k lichkeit gegenüber Verfassungssätzen i n einem Urteil des BVerfG so klar gelöst worden wie hier. Selten mußte das BVerfG aus dem GG so prätorisch „entwickeln", was dann als Grenze gegenüber der — punktuell defizienten — Wirklichkeit zu „halten" hat. Dieses richterliche „Stopp" des BVerfG — das zugleich gutem politischen Stil als Ausdruck politischer K u l t u r dient — kam spät, aber nicht zu spät: i m Kraftfeld einer grundsätzlich positiv eingestellten Öffentlichkeit kann sich jetzt eine verfassungskonforme Praxis der Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Daß der Senat den beteiligten Verantwortlichen den weiteren Konkretisierungsauftrag zuweist (C I V 5), ist aus funktionell-rechtlichen Gründen zu begrüßen. Die jetzt vom BVerfG geschärfte Kontrolle durch die öffentliche Meinung gewinnt hier eine Funktion, die der i n der Diätenfrage entspricht 16 . I I I . Materiell-rechtliche Grundfragen 1. Verletzung des Demokratieprinzips („freier und offener Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes") Der Senat wählt (unter C) das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 S. 2 GG) und die Chancengleichheit bei Wahlen (Art. 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 GG) als doppelten Hebel für sein Verdikt gegen die Bundesregierung 1 7 . Äußerlich scheinen die jeweiligen Passagen nacheinander zu verlaufen (C I bzw. C II), der Sache nach zeigen sich jedoch so viele Verschränkungen, Präzisierungen oder gar Wiederholungen, daß eine getrennte Betrachtung verfehlt wäre. So ist A r t . 21 Abs. 1 GG unter C I, 13

Vgl. auch Geiger, unter A I I I . Vgl. BVerfGE 20, 56 (99 f.); 37, 84 (90 f.); 40, 287 (292 f.) sowie unten Anm. 97. Zur Kritik an Mißbräuchen vgl. W. Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972, S. 164. — s. aber Hirsch (Nordrhein-Westf. Innenminister, FDP), der lt. F A Z v. 17. 3. 1977, S. 4, kritisiert, das BVerfG ändere eine fast 30jährige Verfassungswirklichkeit. 15 Dazu P. Häberle, JZ 1975, 297 ff. 16 Dazu P. Häberle, NJW 1976, 537 (543). 17 Diesem doppelten Ansatz ist zuzustimmen. — Einen betont partizipationsdemokratischen Weg hatte Kempen, Grundgesetz, amtliche Öffentlichkeitsarbeit und politische Willensbildung, 1975, S. 132 ff., 144 ff., 169 ff., 177 ff. gewählt. Zu weiteren Ansätzen in der Literatur unten Anm. 67. — Zur Chancengleichheit jetzt Bay Verf GH, BayVBl. 1977, S. 271. 14

34 V e r f a s s u n g

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

2, 3 und 6 zitiert, auch betont der Senat (C I), die Grundentscheidung für die demokratische Staatsform sei i n A r t . 38 Abs. 1 und A r t . 21 Abs. 1 S. 1 GG näher „ausgestaltet". Darum lesen sich viele Passagen aus C I I als konkretisierte Fortsetzung von C I 1 8 . Das ist sachlich richtig: Denn i m Kontext des GG kann A r t . 20 nicht ohne A r t . 21 19 und A r t . 38 GG (der jetzt stärker betont ist als früher, etwa i n E 20, 56 [98, 113 f.], E 24, 300 [340, 354] = JZ 69, 557 [dazu Randelzhof er S. 533]) gelesen werden. Schon bei der Auslegung des A r t . 20 GG denkt der Senat an die Parteien, wenngleich jetzt das bürgerschaftliche Moment der Demokratie („grundrechtliche Verbürgungen der Freiheit und Gleichheit", „freie Selbstbestimmung aller") stärker akzentuiert ist und die Parteien — auch als Oppositionsparteien — i n gleichrangiger Verbindung m i t A r t . 38 GG erst später (C II) i n ihrem Wirken voll gewürdigt werden 2 0 . Hier scheint sich eine neue Rechtsprechung anzubahnen, die die „parteienstaatliche" Tradition des BVerfG vorsichtig revidiert, ohne doch m i t der gegenteiligen, viel kritisierten Staatsfreiheitsdoktrin aus BVerfGE 20, 56 (100 ff.), z. T. korrigiert i n E 24, 300 (348 ff.), ganz zu brechen bzw. ins andere Extrem zu verfallen. Der Demokratiebürger ist durch A r t . 38 Abs. 1 GG und die sonstigen grundlegenden Hinweise des Senats voll i m Blickfeld. Die Funktion der Parteien, nach wie vor „ M i t t l e r " , „Zwischenglieder zwischen Bürger und Staatsorganen" (C I I 2, s. auch C IV), w i r d überlegter umschrieben und begrenzt, auch i m Kontrast zum Sondervotum Rottmarins. So sehr der Senat 21 den freien und offenen Prozeß der Willensbildung vom Volk „zu" den Staatsorganen akzentuiert, um die Öffentlichkeitsarbeit später begrenzen zu können 2 2 , läßt er doch keinen Zweifel an der von der Literatur 2 3 gegen BVerfGE 20, 56 (99 f.) betonten grundsätzlichen und ständigen „Wechselwirkung" zwischen der Willensbil18 Rottmann spricht ( I I 2) von vom Senat in C I I „zum Teil entwickelten, zum Teil nur wiederholten Verfassungsgrundsätzen". 19 Zur gebotenen ganzheitlichen Sicht: Ρ. Häberle, JuS 1967, 64 (66); H. Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 35. 20 Die Prinzipien „Freiheit und Gleichheit" sowie „Öffentlichkeit" sind schon unter C 1 1 entfaltet. 21 C I 4, s. auch C I V 3 a: Gebot, „die Willensbildung des Volkes vor den Wahlen nach Möglichkeit von staatlicher Einflußnahme freizuhalten". C I I 3: Wahlentscheidung „in voller Freiheit". 22 Dabei findet sich statt der „Staatsfreiheit" der (neue) Begriff der „Integrität der Wahlen" bzw. der „Willensbildung des Volkes" usw.; s. auch C I 6 und C I 3. 23 ζ. Β. Ρ. Häberle, JuS 1967, 64 (66 ff.); Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 523 ff.; Tsatsos, ZaöRV 26 (1966), 371 ff. — Verfeinerungen der Kritik an der „Staatsfreiheit" (BVerfGE 20, 56) bei Kempen, a.a.O., S. 156 ff., 174 ff.

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dung des Volkes und der Willensbildung „ i n " den Staatsorganen 24 . Dennoch verwehrt er den Staatsorganen, i n amtlicher Funktion durch besondere Maßnahmen „darüber hinaus auf die Willensbildung des Volkes bei Wahlen einzuwirken, u m dadurch Herrschaftsmacht i n Staatsorganen zu erhalten oder zu verändern". Es sei ihnen untersagt, sich „als Staatsorgane" i m Hinblick auf Wahlen m i t Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren (s. auch LS 1). Gewisse Abgrenzungsschwierigkeiten sind hier unverkennbar: Wann und wie dürfen die Mitglieder der Bundesregierung „außerhalb ihrer amtlichen Funktion für eine Partei i n den Wahlkampf eingreifen" (C I 4, C I V 3 c)? Wie lassen sich allgemeine Maßnahmen der Einwirkung der Staatsorgane auf den freien Meinungs- und Willensbildungsprozeß der Wähler bzw. des Volkes (als Teil der besagten „Wechselwirkung") von „besonderen Maßnahmen darüber hinaus" abgrenzen? Wenn (C I 3) „die Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte i m Parlament bei ihrem Verhalten stets auch den Wähler i m Blick haben" (dürfen), wie soll sich dann zulässige Öffentlichkeitsarbeit von der unzulässigen klar scheiden lassen? Der Senat w i l l ja die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung nicht nur i m Blick auf Wahlen begrenzen und vom Aktivbürger her rechtfertigen 25 . Diese Ungereimtheiten folgen daraus, daß die Demokratie des GG Parteien braucht und die amtliche Regierungsfunktion notwendig von bestimmten Parteien „getragen" sein muß, die Bürgerdemokratie aber „Königsweg" für die parlamentarische Demokratie sein soll. M. a. W.: Seine Wechselwirkungstheorie kann der Senat i m Blick auf die Wahlen nicht durchhalten. Er muß Zuflucht suchen bei äußeren, formalen Momenten des Zeitpunkts, der „Anzeichen" usw. 26 . Er weiß überdies, daß 24 C I 3: „Politisches Programm und Verhalten der Staatsorgane wirken unablässig (!) auf die Willensbildung des Volkes ein und sind selbst Gegenstand der Meinungsbildung des Volkes" (s. auch C I 4). Nicht wiederholt ist hier die fragwürdige Ausnahmeformel vom „besonderen, . . . verfassungsrechtlich legitimierenden Grund" (aus E 20, 56 [99]). Sie findet sich mit Recht erst unter C I I 3 (zu Art. 21 GG). 25 Dazu bei und in Anm. 71 - 74. 26 Auch erscheint der Begriff „Integrität" der Willensbildung des Volkes durch Wahlen und Abstimmungen allzu „keimfrei", unrealistisch und insofern unpolitisch konzipiert. Immerhin spricht der Senat davon, daß das GG „außerrechtliche Ungleichheiten" seiner Wahlbürger und ihrer politischen Gruppierungen hinnimmt (C I 5). — Geiger (A I V 2) beobachtet mit Recht eine „mittelbare" Wirkung auf die Wahlentscheidung der Bürger, die als „Reflex von der Politik der Bundesregierung" ausgehe. — Der Zeitpunkt (vor Wahlen) hatte auch in der Literatur eine große Rolle gespielt: seit Eschenburgs Vorschlag, die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Jahr vor den Wahlen gesetzlieh einzuschränken (vgl. etwa Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966, S. 160).

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

die P a r t e i e n n u r „so w e i t i r g e n d m ö g l i c h m i t gleichen C h a n c e n i n d e n W a h l k a m p f e i n t r e t e n " (C I I 3). So g r u n d s ä t z l i c h u n d d i f f e r e n z i e r t d e r Senat Ö f f e n t l i c h k e i t s a r b e i t f ü r zulässig, j a geboten h ä l t (C I I I ) , auch j e t z t i s t e r g e z w u n g e n , „ n a c h t r ä g l i c h " zuzugestehen (C I V 1 b), daß sich d i e Aussagen d e r Ö f f e n t l i c h k e i t s a r b e i t d e r R e g i e r u n g m e h r oder m i n d e r m i t dfenen v o n P r o g r a m m e n u n d S t e l l u n g n a h m e n d e r P a r t e i e n decken oder decken k ö n n e n 2 7 . W i e i s t aber eine a u f das „Staatsganze bezogene Ö f f e n t l i c h k e i t s a r b e i t " e i n e r v o n P a r t e i e n g e t r a g e n e n R e g i e r u n g — realistischerweise — möglich? W i e i s t d i e G r e n z z i e h u n g zwischen b l o ß e r I n f o r m a t i o n u n d W e r b u n g (ζ. B . b e i G e s e t z e n t w ü r f e n ) p r a k t i k a b e l ? I s t d i e Regierungsfunktion als solche (auch gegenüber d e m Gesetzgeber) g e n ü g e n d herausgestellt, gerade i m parlamentarischen System28?

2. Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der verfaßten Demokratie (Inhalt und Grenzen) — Die Offenheit der konstitutionellen Demokratie für Machtwechsel im „neutralen" Staat — Das Staats- und Rechtsverständnis, die Gemeinwohlbindung E i n e n H a u p t p f e i l e r i n d e r A r c h i t e k t u r d e r G r ü n d e (C I 5) b i l d e t das M e h r h e i t s p r i n z i p . B i s l a n g i n d e r Wissenschaft t r o t z Scheuner 29 unge27 Unter C I V 3 b : I m Mehrparteienstaat decken sich die politischen Zielvorstellungen der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien „doch ganz überwiegend", ebd.: „weitgehende Ubereinstimmung" zwischen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und der sie unterstützenden Partei. 28 Es bleibt die Frage, ob sich nach dem 2. 3.1977 das Schleswig-Holstein-Urteil (BVerfGE 27, 44; zust. H. Schäfer, DVB1. 1969, 737; Knies, JuS 1975, 420 ff.; abl. P. Häberle, JZ 1969, 613 ff.) noch halten läßt. Unter C H des neuen U. heißt es im Anschluß an die wegen Art. 28 Abs. 1 GG auch an die Länder gerichteten Anforderungen: „Die personellen Träger der obersten politischen Staatsorgane bedürfen, damit ihr Verhalten dem Volk verantwortlich bleibt, in regelmäßig wiederkehrenden zeitlichen Abständen der demokratischen Legitimation durch Wahlen. Deshalb (!) werden die Abgeordneten des Bundestages auf Zeit gewählt (Art. 39 Abs. 1 GG), wird im parlamentarischen Regierungssystem des Bundes der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt (Art. 63 GG) und endet das Amt des Bundeskanzlers mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages (Art. 69 Abs. 2 GG)". Dieses „Deshalb" führt zu Friktionen mit E 27, 44, die ja im Saarland über die Neuwahlen von 1975 hinaus (wegen des Patts) den M P Röder ohne neue Legitimation im Amt ließ, er wurde am 3. 4. 1977 wenigstens durch die Vertrauensfrage abgesichert (FAZ v. 4. 4. 1977, S. 5). Denn diese Herleitung sowie der vom Senat betonte Zeitfaktor („regelmäßig wiederkehrende zeitliche Abstände", s. auch LS 2: Bundestag und Bundesregierung haben nur einen zeitlich begrenzten Auftrag) — Demokratie als Vertrauen auf Zeit — zeigen, daß Wahlen eben nicht nur die Parlamente, sondern auch die Regierungen jeweils neu legitimieren müssen. Der „Grundakt demokratischer Legitimation, die Wahl der Abgeordneten" (C I 4) muß auch die Regierung konstitutiv erfassén. 29

Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973.

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wohnlich vernachlässigt, gewann es i n der Rechtsprechung des BVerfG jüngst Stück für Stück an Boden 3 0 . a) Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips Der Senat rechtfertigt das Mehrheitsprinzip vom GG als „demokratischer Ordnung" her (er zählt auf: A r t . 42 Abs. 2, 63 Abs. 2 bis 4, 67 Abs. 1, 52 Abs. 3, 54 Abs. 6). Die grundrechtliche Seite der Begründung 3 1 ist nicht direkt erkennbar; indirekt aber insofern, als die vom Senat gekennzeichnete Demokratie auf Freiheit und Gleichheit der Bürger, auf die „Idee der freien Selbstbestimmung" gegründet ist. b) Grenzen des Mehrheitsprinzips aa) Hier ist dem Senat Pionierarbeit geglückt. Er betont zunächst die der „Mehrheitsherrschaft" gezogenen „rechtsstaatlichen und bundesstaatlichen Grenzen" („zumal über die Grundrechte") und verweist auf A r t . 79, 19 Abs. 4, 20 Abs. 3, 97 sowie 93 GG. Sodann geht es i h m u m die Bestimmung der Grenzen dort, wo das GG „ i n staatlichen Organen der Mehrheitsherrschaft Raum gibt". (Man könnte von [„system-"] immanenten Grenzen sprechen!) Der Senat läßt Ansätze zu einem Staats-, Rechtsund Demokratieverständnis erkennen, die größte Aufmerksamkeit verdienen 32 . Der Staat ist gesehen als „institutioneller Rahmen" für die „freie Selbstbestimmung aller", als „Entscheidungs- und Verantwortungszusammenhang", vermittels dessen sich das Volk seine „positive Rechtsordnung als verbindliche Sollensordnung" setzt. Diese Begründung und Autorität staatlicher Hoheitsmacht werde verfehlt, wenn „unter dem Mantel staatlicher Hoheit parteiergreifend auf den Grundakt demokratischer Legitimation", die Wahl zur Volksvertretung, eingewirkt wird. Der Rechtsgehorsam aller Bürger ginge verloren, wenn staatliche Gewalt als 30

Nachw. in meinem Beitrag, JZ 1977, 241 ff. Anm. 5,13, 29 f., 46. Dazu P. Häberle, JZ 1977, 241 (243 ff.). 32 Er verweist auf die staatliche Grundverpflichtung, auf „Schutz der Würde und Freiheit aller", auf „soziale Gerechtigkeit", die Orientierung am „Wohl aller Bürger". Zwar legitimiert die Freiheit und Offenheit des „regelmäßig zu erneuernden Meinungs- und Willensbildungsprozesses die Mehrheit" (grundsätzliche Teilhabe aller „wahlmündigen Bürger zu gleichen Rechten"), doch muß sie bei ihren Entscheidungen das — „je und je zu bestimmende Gemeinwohl" —, insbesondere auch die Rechte der Minderheiten achten und ihre Interessen berücksichtigen. — Damit ist der Schutz der Minderheit — sie kann „zur Mehrheit von morgen" werden — als Grenze des Mehrheitsprinzips thematisiert. Auch ist dies eine klare Absage an die Ideologie vom vorgegebenen Gemeinwohl und ein Votum für dessen Offenheit und Konkretisierungsbedürftigkeit, dazu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 17 ff. u. passim, AöR 95 (1970), 85 ff., 260 ff. 31

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„Werkzeug zur Perpetuierung der Herrschaft einer bestimmten Mehrheit" dienen könnte, der vom GG verfaßte Staat werde „vom ganzen Volk, nicht allein von der jeweils regierenden Mehrheit getragen" 33 , die Staatsorgane hätten als solche allen zu dienen und sich i m Wahlkampf „neutral" zu verhalten. bb) I m Rahmen dieser aus dem GG entwickelten Begrenzung der Mehrheitsherrschaft kommt ein Stück demokratischer Staats- und Rechtsphilosophie zum Ausdruck: der Gedanke einer neutralen staatlichen Hoheitsmacht 34 , die als solche, d. h. staatsorganschaftlich, „amtlich", keiner bestimmten Mehrheit dienen darf, des Gemeinwohls als Wohl aller Bürger 3 5 und Gruppen (mit den auch in der „pluralistischen Gesellschaft" und i m sozialen Rechtsstaat geltenden Grenzen des Privilegierungsverbots [Art. 3 Abs. 3 GG]). Neutralität, überparteiliches Gemeinwohl, Amtsgedanke und „Staat" 3 6 demokratisch zu begründen, ist i n der Wissenschaft bisher nur ζ. T. gelungen, zumal in Deutschland, wo die vordemokratischen monarchischen Belastungen dieser Begriffe fortwirken. Der grundrechtliche bzw. bürgerschaftliche (später durch A r t . 38 GG verstärkte) Ansatz („Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger") ist ein beachtlicher Versuch dazu; um so mehr, als er nicht m i t Fiktionen eines einheitlichen Volkswillens Rousseauscher Provenienz 37 erkauft w i r d — das Volk ist eine pluralistische Größe — und auch den Parteien ihren Platz läßt, ohne sie m i t dem Volk oder m i t dem Staat (ganz oder teilweise) zu identifizieren 3 8 . Gewiß, die nähere theoretische Begründung staatlicher 33

Unter Hinweis auf den gleichen staatsbürgerlichen Status aller Deutschen und ihre gleichen Pflichten. 34 „Neutralität" erscheint unter C I 5 und 6 V I d, „Neutralitätsgebot" unter C V 1. s. auch das Stichwort „wettbewerbsneutrale" Veröffentlichung (C I V a, V 2 a cc). Hinter dieser Verwendung des Neutralitätsbegriffs steht wie immer ein bestimmtes Staats- und Verfassungsverständnis (vgl. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, z.B. S. 2, 236; dazu meine Bespr. in: ZevKR 18 [1973], 420 ff.). 35 Hier hätte der Senat an den Staat als „Heimstatt aller Staatsbürger" (BVerfGE 19, 206 [216]) anknüpfen können. 38 Vgl. C I V 1 b: „auf das Staatsganze bezogene Öffentlichkeitsarbeit", C I 5: „auf das Staatsganze" bezogener Vorgang: Wahl der Volksvertretung, C I 4: Staatsorgane in „amtlicher Funktion"; das Verbot der „Identifizierung des Staates mit bestimmten politischen Parteien", Programmen . . . im Wahlkampf (C I 6; s. auch unter C I 4). 37 Siehe aber jetzt wohl wieder Leibholz, Das Demokratieverständnis des Bundesverfassungsgerichts, Leserbrief in F A Z v. 26. 3. 1977, S. 9. 38 So aber die „parteienstaatliche" Doktrin von Leibholz (ζ. B. VVDStRL 24 [196S], 5 [15 ff.], kritisch Ehmke ebd. S. 94 ff. [Diskussion], P. Häberle, JuS 1967, 64 [74]). — Der Verfassungsstaat ist der institutionelle Rahmen für diesen Pluralismus, seine Rechtsetzung erfolgt pluralistisch und auch in seiner Rechtsprechung finden sich pluralistische Komponenten.

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Neutralität „über" der pluralistischen Landschaft der Gesellschaft bleibt zu leisten: das Amtsverständnis i n der Demokratie 3 9 (gerade i m Blick auf die Regierung) darf nicht um den Preis vorgegebener, extrakonstitutioneller Neutralitäts- 4 0 und Gemeinwohlideologien erkauft werden. Auch ist zu fragen, wie frei der „freie und offene Meinungsbildungsprozeß" vom Volk „zu" den Staatsorganen i n der pluralistischen (und besonders der Parteien-)Demokratie wirklich ist und sein kann 4 1 . Der Senat selbst hat die „Wechselwirkung" zwischen der Willensbildung des Volkes (und damit auch dem Wirken der Parteien) und der Willensbildung „ i n " den Staatsorganen betont (C I 3). Die Regierung w i r d i n der parlamentarischen Demokratie nun einmal von konkreten Personen getragen, die ihre „Basis" in Parteien haben. Insoweit steht die Regierungsfunktion mittelbar i m Einflußbereich der Partei(en). Dennoch ist der Weg des Senats, das Mehrheitsprinzip i n das GG „einzubinden", zu begrüßen. Es besteht allerdings ein innerer Zusammenhang zwischen dem von ihm erst an späterer Stelle, bei der (zulässigen) Öffentlichkeitsarbeit (C III), erarbeiteten Grundkonsens der Bürger i n der Demokratie und dem Mehrheitsprinzip 4 2 . cc) Das Urteil ist kein Plädoyer für eine wie immer geartete „Staatsräson", sondern ein Votum für die „Verfassungsräson" (A. Arndt). I m Verfassungsstaat des GG kann es nur sie geben 43 . I n ihrem Rahmen 39 Zum Problem: Hennis , in: Festgabe für Smend, 1962, S. 51 ff.; W. Henke, a.a.O., S. 118 ff. 40 Unter der Prämisse des demokratischen Staates und seiner Willensbildungsvorgänge ist der Neutralitätsbegriff, ein „Relationsbegriff", brauchbar (zu seinen Bedeutungsvarianten Schiaich, Neutralität, S. 40 ff.). Zu sichten wäre die übrige Neutralitäts Judikatur des BVerfG, vor allem im Felde der Parteien, aber auch bei Art. 4, 140 GG. Die Parallele zu „Gruppenparität und Staatsneutralität als verfassungsrechtliche(n) Grundprinzipien des Arbeitskampfrechts" (vgl. die gleichnamige Monographie von F. J. Säcker, 1974) liegt nahe. 41 Problematisch ist das (etwas naiv erscheinende) Wort von der „Integrität des Grundakts demokratischer Legitimation", der Wahl der Abgeordneten. Es bedarf der Präzisierung und Relativierung (unten bei Anm. 81 f.). Vgl. Geigers Hinweis auf den „offenen politischen Prozeß" (A I V 2), wobei das Bild von „oben" (Staatsorgan) und „unten" (demokratische Wahlen) freilich fragwürdig ist (s. meine Kritik in JuS 1967, 66 f.). 42 Dazu Scheuner, a.a.O., S. 10, 42, 55; P. Häberle, JZ 1977, 241 (243). Das bürgerschaftliche „Einverständnis" in bezug auf die Prinzipien des GG (hier besonders den grundrechtlichen Minderheitenschutz, den Rechtsstaatsgedanken und das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition) ermöglicht erst, daß die Bürger einer Entscheidung der Mehrheit Verpflichtungskraft für alle beilegen, sie „als Wille der Gesamtheit" gelten lassen wollen und können und Rechtsgehorsam leisten (vgl. C I 5). 43 P. Häberle, Öffentliches Interesse, 1970, 171, 708 ff.; JZ 1971, 145 (147, 155). „Gemeinwohl" ist keine metaphysische Größe, es ist in Teilen „überparteilich" bzw. konstitutionell, in Teilen aus dem Parteienkampf heraus gestaltet!

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haben sich die i m politischen Prozeß i m übrigen zur Geltung kommenden strittigen pluralistischen Gemeinwohlvorstellungen zu halten. Demgegenüber formuliert Rottmann (Abw. Votum, I f . ) : „Die Verwirklichung des Programms der Mehrheitsparteien und des darauf fußenden Regierungsprogramms ist für die Dauer der Amtszeit der Regierung Verwirklichung des Gemeinwohls". Dieser Passus ist zu grob geraten: Außer acht gelassen sind die sachlichen Gemeinwohlaussagen des GG (z. B. A r t . 3Ö44, Sozialstaatsprinzip, Grundrechte), welche die Regierungsprogramme determinieren, und die grundgesetzlichen Verfahrensregeln, die die Prozesse ihrer Verwirklichung i n Form bringen. Vor allem aber fehlt die Eigenständigkeit der Regierungsfunktion (Art. 62 bis 69, 43 GG), die i m Redezeit-Urteil des BVerfG herausgearbeitet ist 4 5 . Der Eid von Bundeskanzler und Bundesministern (Art. 64 Abs. 2, 56 GG) 4 6 erinnert an den am ganzen Volk orientierten Amtsauftrag der — auf Zeit bestellten — Bundesregierung („dem Wohl des deutschen Volkes"), die ja zugleich Spitze der Exekutive (der Verwaltung) ist. Darum ist auch i m parlamentarischen Regierungssystem die Regierung nicht einfach ein Ausschuß der Parteien der Parlamentsmehrheit 47 , sind Kanzler und Minister als „Organwalter" nicht einfach „Abhängige" der Parteien: weder der Idee, noch der Wirklichkeit nach 48 . Die Staatsorgane sind ihrerseits verfaßte Größen 49 .

44

Rottmann zitiert ihn symptomatischerweise auch unter I d und e gerade nicht! Anders Geiger, Abw. Meinung, A I I I 1 - 3. 45 BVerfGE 10, 4 (bes. 17 ff.): „Die Regierung ist mehr als ein Exponent der Parlamentsmehrheit. Die Reden ihrer Mitglieder können nicht nur als eine Vertretung des Mehrheitsstandpunktes betrachtet werden" . . . „sie steht als Spitze der Exekutive zugleich dem Parlament, also der Opposition und der Mehrheit, gegenüber" (19) . . . auch in einer parlamentarischen Demokratie bleibt ein „Spannungsverhältnis zwischen dem Parlament als dem Gesetzgebungs- und obersten Kontrollorgan und der Regierung als Spitze der Exekutive bestehen" (17). — Kritik bei Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 90 ff. 48

Vgl. auch Abw. Meinung Geiger, A I V 1. Anders und widersprüchlich Rottmann (I e) : „Die Bundesregierung ist . . . nicht ,neutrale', über den politischen Parteien schwebende Exekutivspitze . . . ist vielmehr auch Exekutivausschuß der Regierungspartei". — Richtig Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 (22): Parlament und Regierung arbeiten nicht als bloße „Parteiregistrierungsmaschine", S. 29: Das Parlament bleibt bei der Gesetzgebung, die Regierung bleibt bei Regierungsmaßnahmen der „Schiedsrichter des allgemeinen Interesses", S. 33: Regierung nicht bloßer Vollzugsausschuß des Parlaments, „Selbständigkeit der Regierung als des politisch leitenden Exekutivorgans". 47

48 Gerade die jüngste Geschichte kennt Beispiele dafür, daß sich Regierungsmitglieder ihren Parteien gegenüber auf ihr Amt berufen haben! (gelegentlich in „Idealkonkurrenz" mit Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). 49 Dazu P. Häberle, JuS 1967, 64 (67).

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c) Der staatstheoretische Ansatz I n Umrissen ist eine Staatstheorie zu erkennen, die den demokratischen Staat — bei allem Realismus — auf die Idee der Bürgergleichheit und -freiheit 5 0 gründet, das Prinzip des Regierungswechsels als bloßen Wechsel von Personen bei dauerhaften Institutionen und gleichbleibenden Funktionen dadurch ermöglicht, daß es den Weg der Minderheitsopposition von heute zur Regierungsmehrheit von morgen offenhält, ja ζ. T. erst eröffnet 5 1 und damit den formalisierten, geregelten Wechsel zur Alternativregierung garantiert i. S. klassischer und parlamentarischer („konstitutioneller") Demokratie! Die Distanzierung vom „Parteienstaat", die Hinwendung zur Bürgerund Parteiendemokratie führt zur „(Re-)Konstruktion" eines bestimmten Staatsbildes: die Staatsorgane (besser: „Verfassungsorgane") Regierung 5 2 und Parlament sind, obwohl von Parteien getragen, als solche etwas anderes als diese Parteien. Sie sind keine parteiliche Veranstaltung, sondern institutionell-repräsentativer Teil der res publica, der Sache aller Bürger. Als Garant der Rechts- und Friedensordnung, als institutioneller Rahmen für die freie Selbstbestimmung der Bürger gew i n n t der (Verfassungs-)Staat eigenen Rang. Die Regierung darf als solche nicht dafür werben, „ i m A m t zu bleiben" 5 3 — auch hier w i r d i h r vom Senat bejahter eigenständiger Verfassungsorgancharakter sichtbar. Den Parteien w i r d dadurch ihre Verfassungsfunktion keineswegs abgesprochen, wohl aber werden ihre Ansprüche auf den Staat (i. S. eines „ C D U " oder „sozialliberalen Staates") abgewiesen, w i r d die Verfilzung von Staat und Parteien verworfen. Der Wissenschaft bleibt die Aufgabe, dieses Staatsbild ohne jede Metaphysik zu begründen — grundrechtlich und demokratisch. D. h.: Ohne antiparteiliche und antipluralistische, unpolitische Neutralitätsideologie hat der — demokratische — Staat zwar Rang (aus der Verfassung!), aber keine „ W ü r d e " 5 4 : sie ist nach dem GG (Art. 1 Abs. 1) allein dem Menschen vorbehalten. Der Staat ist um ihres Schutzes willen da. Dieser normative, tendenziell „ideale" Staat (ζ. B. seine Regierung) steht nicht so hoch „über" der Gesellschaft, daß deren reale Konflikte als solche der „Niederungen" einer defizienten Wirklichkeit (ab-)gewertet und einem 50

Volk als „Gemeinschaft Gleicher" (H . Meyer, a.a.O., S. 77) — und Freier! Der Senat hat insofern ein Stück bester „Oppositionspolitik" geleistet. 52 Vgl. Geiger, unter A I I 2. s. auch Leisner, a.a.O., S. 158 f.: „Die Regierung als selbständiges Organ" (auch gegenüber ihren Parteien). 53 Zur „Herrschaft auf Zeit" zuletzt: Oppermann, VVDStRL 33 (1975), 7 (20). 54 Darum sollte man nicht eine die „Staatswürde" auch nur von fern assoziierende Vokabel wählen wie „eines Staates nicht würdig" (so aber Rottmann, I I I 1). 51

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

Staat als Exponent „überparteilichen Gemeinwohls" gegenüber gestellt werden könnten. Das Gemeinwesen ist pluralistisch, das Gemeinwohl ist, nach Maßgabe der Determinierungen des GG, pluralistisch, und der Staat steht weder „über" noch „unter" der Gesellschaft — die ihrerseits verfaßt ist 5 5 . Verräumlichende Vorstellungen werden dem Problem Staat/Gesellschaft nicht gerecht: Die pluralistische Demokratie eines freiheitlichen Staates schließt sie ebenso aus wie das „Würdekonzept" des GG. Auch bei dieser Gesamtsicht bleiben Friktionen und Ungereimtheiten, ζ. B. i m Blick auf das Spannungsfeld, i n dem eine konkrete Regierung als „Regierungswirklichkeit" steht: als Staatsfunktion m i t Amtsauftrag einerseits, als konkrete Verbindung von parteipolitisch orientierten Menschen, die „wiedergewählt" werden wollen, andererseits, i m Blick auf die Auswirkungen der „Amtsautorität" des Bundeskanzlers (und der Bundesminister!) i m Wahlkampf 5 6 — er kann ja das Wahlprogramm seiner Partei schwerlich vergessen und darf gleichwohl nur als Parteimann (bzw. -führer) auftreten (Amtsbonus!) — oder angesichts der Ambivalenz bloßer regierungsamtlicher „Informationen" i m Wahlkampf, die auch als solche ein Stück parteilicher Werbung werden, so sachlich und „wettbewerbsneutral" sie gemeint sein können, usf. Schließlich bleibt die Frage, wie sich die (auch von Rottmann , IV, bejahte) Unterscheidung zwischen Regierungsinteresse und Interesse der Parteien i m Wahlkampf treffen läßt, und vor allem, wie der Bürger m i t diesen „ A u f spaltungen" i n regierungsamtliches Handeln und Parteienhandeln bzw. der „Doppelrolle" der Politiker bewußtseinsmäßig zu Recht kommt. Aber: M i t diesen Spannungen, m i t diesen „zwei Seelen" i n der Brust der parteiengebundenen Regierungsmitglieder kann und muß der Parlamentarismus leben, m i t ihrer Doppelrolle müssen und können die Verantwortlichen leben. Die „Reinheit" einer Theorie darf (zumal vom BVerfG) nicht so rigoros gesucht und zum Selbstwert stilisiert werden, daß sie den Weg für dem Bürger und seiner Freiheit dienliche praktische Lösungen verAssungsrechtlicher Streitfragen versperrt. Die Wissenschaft 57 hat Begriffe wie „Neutralität", „Gemeinwohl", „ A m t " i m einzelnen grundrechts- und demokratiekonform auszudifferenzieren und 55

Dazu P. Häberle, D Ö V 1976, 73 ff. Dazu Rottmann, I h, krit. zu dieser „Aufspaltung" ders., I I 1. — Einzelelemente wirklichkeitsfremder „Staatsfreiheit" sind — im Blick auf die Wahlen — auch im neuen Urteil erkennbar — freilich nicht mehr auf der Basis von BVerfGE 20, 56 (99 f.), sondern ohne diesen Begriff und „aufgeklärter": auf der von E 24, 300 (348 ff.) (s. noch unten Anm. 83). 57 I n der Literatur waren bisher „Neutralität", „Chancengleichheit der politischen Parteien" bzw. „Parität" bevorzugte Abgrenzungsargumente (vgl. für die Neutralität: Leisner, a.a.O., S. 163; zur Chancengleichheit: P. Häberle, in: Politische Bildung 1970, H. 3, S. 31; Kempen, a.a.O., S. 265; für die „strikte Parteienparität": Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 129. Gegen das (pluralisierte) Gemeinwohlprinzip hier: Kempen, a.a.O., z.B. S. 153 ff.; 56

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den „ideellen Überschuß" des Urteils über die Wirklichkeit so zu verarbeiten, daß die idealtypischen Strukturen des Parlamentarismus weder unglaubwürdig erscheinen, noch ihre steuernde K r a f t gegenüber der Wirklichkeit verlieren 5 8 , d. h. realtypische Existenz erlangen. 3. Verletzung des verfassungsmäßigen Rechts auf Chancengleichheit bei Wahlen Beim zweiten „Einstieg", dem Recht auf Chancengleichheit bei Wahlen (Art. 21 Abs. 1, 38 Abs. 1 GG), geht es dem Senat nicht nur um Parteien, sondern auch um „Wahlbewerber" („nachteilig Betroffene") — i m Lichte der Daniels-Entscheidung (E 41, 399 [416 ff.]) ist diese konsequent und ein Zeichen für das jetzt stärker bürgerschaftliche Demokratieverständnis des BVerfG 59. Der Senat arbeitet die spezifischen Funktionen der Parteien gemäß dem Mehrparteienprinzip heraus 60 — auch i m Blick auf die Oppositionsparteien. I n diesem Zusammenhang kann er frühere Erkenntnisse übernehmen 61 , vor allem zum Verfassungsgrundsatz der gleichen Wettbewerbschancen der Parteien und dessen grundsätzlich formalisiertem Verständnis 62 . Der Freiheitsraum der Parteien ist hier identisch m i t der Freiheit und Offenheit des Willensbildungsprozesses vom Volk „zu" den Staatsorganen, ohne daß eine oder alle Parteien behaupten könnten, sie allein seien m i t „dem" Volk identisch. „Das V o l k " ist eine pluralistische Größe 63 , die sich nicht nur aus Parteien zusammensetzt. ders., S. 154: „Im politischen Prozeß ist eine neutrale Instanz nicht denkbar"). — Zur Neutralitätspflicht der Regierung und Chancengleichheit der Parteien : Seifert, Bundeswahlrecht, K , 3 Aufl. 1976, S. 409 f. 58 Weiterführend ist Geigers (A V 2) verfassungsrechtliche Einbindung der Parteien. 59 Der Senat zitiert freilich nur Art. 38 Abs. 1, nicht auch Abs. 2 GG, was bei „Wahlbewerbern" doch naheläge — C sowie C I I . — Rottmann läßt — konsequent „parteienstaatlich" — Art. 38 GG in seinem gesamten Abw. Votum aus ! Geiger bezieht ihn gerade ein (A I V 1, 2, 3). 60 Stichworte sind (C I I 2): organisatorische Zusammenfassung der Aktivbürger, Zwischenglieder zwischen Bürger und Staatsorganen, Mittler für den Bürger „auch zwischen den Wahlgängen", Formulierung von Alternativen; für die Minderheitsparteien: Bilden und Wirksammachen der Opposition, Ausformung von Alternativen. 61 Hinweise auf BVerfGE 1, 208 (225), zur Mittlerfunktion vgl. den im übrigen an dieser Stelle nicht zitierten Passus aus E 20, 56 (113 f.). Vgl. auch den Hinweis auf BVerfGE 13, 54 (81) unter Β 1: Ausweitung des verfahrensrechtlichen Parteibegriffs auf politische Parteien, weil ohne sie als „formierte Einheiten" die „Durchführung von Wahlen und die Besetzung der obersten Staatsämter in der modernen Massendemokratie nicht möglich ist". 62 Vgl. den Hinweis (C I I 3) auf E 24, 300 (340 f.), 34, 160 (163), 14, 121 (132 f.); unter C I V 1 b : Gleichberechtigung der politischen Parteien. 63 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 9. Aufl. 1976, S. 54 ff. und oben Anm. 3.

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

4. Die Konstitutionalisierung

der Opposition

Reichen Ertrag bringt das Urteil zur Rolle der Opposition. Es mag offenbleiben, inwieweit sie bisher „Stiefkind" der Wissenschaft war 6 4 . Spätestens seit dem Urteil vom 2. 3. 1977 ist sie ein jedenfalls vom BVerfG geliebtes Wunschkind der parlamentarischen Demokratie. Die Beschneidung des Wildwuchses der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit bedeutet eine konstitutionelle Stärkung der Opposition. Der Senat entwickelt — bei aller organschaftlichen Sicht der Regierung — praktisch ein Stück „neuer" (informeller) Gewaltenteilung zwischen Regierung (bzw. Parlamentsmehrheit und den sie „tragenden Parteien") einerseits, der Opposition (der Parlamentsminderheit bzw. den Oppositionsparteien) andererseits. Die institutionelle Stärkung der Opposition als potentieller Alternativ-Regierung ist unverkennbar 6 5 . Dogmatisch w i r d sie über das Demokratieprinzip (Art. 20 GG) erreicht ( C H I : „müssen Minderheitsgruppen die Möglichkeit haben, zur Mehrheit zu werden") und dessen bürgerrechtliche Grundlegung, besonders aber über A r t . 21 GG (vgl. auch C I V 3 a)«6. 5. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung und Begrenzung der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit Die Begründung von Zulässigkeit und Notwendigkeit der Öffentlichkeitsarbeit sowie ihrer Begrenzung ist nach wie vor kontrovers 6 7 . Die bisherigen Aussagen des BVerfG waren andeutender Natur (vgl. E 20, 56 [99 f.]; 37, 84 [90 f.]; 40, 287 [292 f.]). Der Senat mußte diese Fra64

Vgl. jetzt das differenziertere Bild in: H.-G. Schumann (Hrsg.), Die Rolle der Opposition in der Bundesrepublik Deutschland, 1976; zuvor H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1,1974. 65 Vgl. die Worte: „Rechte der Minderheit", grundrechtliche Teilhabe aller wahlmündigen Bürger, „Neutralität des Staates im Wahlkampf", „freier, offener Prozeß der Meinungsbildung". 66 C I I 1: „Grundsätzlich gleiche Chancen zwischen herrschender Mehrheit und oppositioneller Minderheit", C I I 2: „Als Parteien der Minderheit bilden sie die politische Opposition", I V 2 a: Unzulässigkeit von regierungsamtlichen Äußerungen „mit negativem Akzent oder gar herabsetzend über die Oppositionsparteien". — s. auch unter C I I I 4 sowie (der Sache nach) die Kostenentscheidung (C V I I ) . — Vgl. Art. 23 a Verf. Hamburg (1971): Die Opposition ist ein wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Sie hat die ständige Aufgabe, die Kritik am Regierungsprogramm im Grundsatz und im Einzelfall öffentlich zu vertreten. Sie ist die politische Alternative zur Regierungsmehrheit. — Für die Redezeiten im Parlament war in BVerfGE 10, 4 (16) (und ist auch jetzt) offen geblieben, ob in ihrer Verteilung nach Faktionsstärke ein „Recht der Opposition auf Chancengleichheit mit der Regierung verletzt werde". 67 Aus der Lit.: Leisner, a.a.O., 1967, bes. S. 160 ff.; Ridder, in: FS für Erwin Stein, 1969, S. 57 ff.; P. Häberle, in: Politische Bildung, 1970, H. 3, S. 1 (30 ff.); Kempen, a.a.O; Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 113 ff.

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gen grundsätzlich klären 6 8 . Ein Stück bürgerschaftlicher Demokratie ist i h m auch hier geglückt. Er gerät indes i n gewisse Schwierigkeiten, w e i l es notwendig zu Friktionen kommen muß zwischen der Öffentlichkeitsarbeit und der „Integrität" des freien Willensbildungsprozesses vom Volk zu den Staatsorganen, der „Neutralität" des Staates sowie dem Amtscharakter seiner Funktionen 6 9 . Z u wählen ist ein spezifisch verfassungsrechtlicher und funktionellrechtlicher Ansatz, d. h., es ist vom GG auszugehen: vom Rang seines Prinzips Öffentlichkeit 7 0 . Funktionell-rechtlich sind von hier aus die Grenzen zu bestimmen. Staatliche Öffentlichkeitsarbeit ist i n einer freiheitlichen Demokratie doppelt zu begründen: institutionell von den Staatsorganî unktionen als öffentlichen Gemeinwohlfunktionen und grundrechtlich von der Meinungsfreiheit und vom Informationsinteresse des Aktivbürgers her (indes ohne unmittelbare subjektive Ansprüche). Beide Begründungs„Schienen" werden vom Demokratieprinzip getragen und darin miteinander verbunden. Öffentlichkeitsarbeit bringt Staat und Grundrechte durch den Demokratiebezug auf eine gemeinsame Ebene; sie ist so notwendig, wie das „Prinzip Öffentlichkeit" unverzichtbar ist. Alle Staatsfunktionen — Bundestag, Bundesrat, aber auch die Opposition — haben Öffentlichkeitsarbeit zu leisten: Arbeit „ i n " , an der und für die Öffentlichkeit; die „Staatsfunktionen" leben insofern aus der Öffentlichkeit. Staatliches Handeln und staatliches Recht sind für den Bürger transparent zu machen. — Verfassungstheoretischer Leitgedanke der Begrenzung der Öffentlichkeitsarbeit ist: die freie, pluralistische Öffentlichkeit des GG darf nicht durch regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit zur „staatlichen" Öffentlichkeit pervertieren. Diesem Ansatz w i r d der Senat, m i t gewissen Vorbehalten, gerecht. a) Begründung der Öffentlichkeitsarbeit Der Senat begründet (C I I I ) Zulässigkeit und (!) Notwendigkeit der Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaf68 Es war entgegen Geiger (Abw. Meinung, A I) nicht möglich, davon abzusehen. Sicher stand nach dem „Sachverhalt" nur die Beurteilung der Wahlwerbung an, aber zur Unterscheidung dessen, was zulässige Öffentlichkeitsarbeit und unzulässige Wahlwerbung ist, mußte der Senat zunächst die Öffentlichkeitsarbeit begründen. Ein Teil der angegriffenen Wahlwerbung hätte ja, obwohl in der Vorwahlzeit betrieben, zulässige Öffentlichkeitsarbeit sein können. 69 Die Einzelabgrenzung zwischen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Regierung und verbotenem parteiergreifendem Einwirken auf den Wahlkampf ist unter C I V und „hart an den Fakten" unter C V nur zum Teil geleistet. 70 Zum Verhältnis Öffentlichkeit und Verfassung: Ρ. Häberle, ZfP 19 (1969), 273 ff.

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ten aus dem Demokratieprinzip 71 : Das i n der Demokratie erforderliche Einverständnis des Bürgers m i t der vom GG geschaffenen Staatsordnung, den „Grundkonsens" lebendig zu halten, sei Aufgabe staatlicher Öffentlichkeitsarbeit 72 . Das demokratische Staats- und Rechtsverständnis w i r d als Grund für zulässige Öffentlichkeitsarbeit relevant, insofern der Senat (unter Hinweis auf E 20, 56 [100]) ausführt, Regierung und gesetzgebende Körperschaften legten der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Maßnahmen und Vorhaben sowie die künftig zu lösenden Fragen dar. Der Bürger ist aber nicht als Objekt staatlicher Öffentlichkeitsarbeit zu konzipieren: m i t Recht verweist der Senat auf die „verantwortliche Teilhabe der Bürger", spricht er von „Aktivbürgerschaft". Öffentlichkeitsarbeit läuft allzu leicht Gefahr, von einem passiven Bürger auszugehen 73 . Schließlich bezieht sich der Senat auf das Prinzip des sozialen Rechtsstaates: i n i h m könne Information „über das Recht, das den Bürger unmittelbar angeht", ein berechtigtes Anliegen sein 74 (Öffentlichkeitsarbeit als Informationsarbeit). b) Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit Z u unterscheiden ist zwischen (zeitlich) allgemeinen, „ständigen" Grenzen einerseits 75 , zusätzlich speziellen Grenzen i m Blick auf die Wahlen („nahes Vorfeld" u. ä.) andererseits. aa) Allgemein Eine allgemeine Grenze bildet der gebotene Sachzusammenhang der jeweiligen Funktion des betreffenden Staatsorgans (Öffentlichkeitsarbeit — „bezogen auf ihre Organtätigkeit" [C I I I , ebenso schon E 20, 56 [100]), speziell für die Bundesregierung: „zugewiesene Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche" (IV 1), m i t begrenzenden Folgerungen aus der 71 Freilich ist der Bogen zwischen der Öffentlichkeit unter C I 1 und der Rechtfertigung der Öffentlichkeitsarbeit aus Demokratie-, Sozialstaatsprinzip usw. nicht ausdrücklich geschlagen. — Doch erzwingt das BVerfG Öffentlichkeit für die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung! Es legt ihr (C I V 4) die regelmäßige Vorlage von Übersichten ihrer Öffentlichkeitsarbeit nahe. Rigoroser ist Geiger (A I V 7: „zusätzliche gesetzliche Regelungen"). 72 Hierher gehören Einrichtungen und Aufgaben staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung sowie staatsbürgerliche Werbung für den freiheitlichen Verfassungsstaat. 73 Vgl. den Hinweis, der einzelne werde zur „eigenen Beurteilung aufgerufen", „als selbstverantwortliches Glied der Rechtsgemeinschaft" die Gestaltung der Rechtsordnung zu beeinflussen etc. 74 Zu denken ist an Aufklärungsfibeln zu neuen Gesetzen, Erläuterungen usw. 75 Das folgt aus der Gesamtkonzeption des Urteils und wird an einzelnen Stellen besonders deutlich: z. B. C I V 2 („all das gilt") sowie das Wort „stets" (IV 1 b).

23. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung

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föderalen Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern (C I V 1 a und LS 5) 76 und unter Betonung ihrer „Sachverantwortung gegenüber dem ganzen Volk und Parlament" (vgl. BVerfGE 9, 268 [281] = JZ 60, 19 m i t Anm. von Partsch). Damit kommt auch hier das organschaftliche, amtsartige Verständnis der Regierungsfunktion zum Ausdruck, i m Sinne von: „Regierung für das ganze Volk". Die Verknüpfungen m i t dem erwähnten Gedanken des allgemeinen Wohls und der staatsbürgerlichen Gleichheit liegen auf der Hand. bb) Die zusätzlich speziellen Grenzen i m Blick auf die Wahlen (als „kritische Zeit") A u f sie geht der Senat aus aktuellem Anlaß detailliert ein (C IV, V). Er bemüht sich um faßbare Abgrenzungskriterien m i t Hilfe des Zeitmoments („Vorfeld" der Wahlen, Vorwahlzeit, „Anwachsen der Öffentlichkeitsarbeit i n Wahlkampfnähe" usw.) und einer A r t Indizientheorie („Inhalt", „äußere Form und Aufmachung" von Anzeigen als „Anzeichen", C I V 2 a), die zu einer Gesamtwertung führen muß 7 7 . Er greift zu formalisierbaren Momenten 78 . Gelegentlich kommt der Senat aber auch ins Schlingern; hier bietet er dem von Rottmann zu Ende gedachten „parteienstaatlichen" Ansatz gewisse Angriffsflächen 79 . I n der „kritischen Zeit" darf die Regierung (einschließlich des BPA) keine „Staatsmeinung" äußern, die die freie Willensbildung i m Blick auf die Wahlen beeinflußt. I n der vom Senat eingegrenzten „Vorwahlzeit" muß die Bundesregierung dafür Sorge tragen, daß sie ihre i m Rahmen (inhaltlich) an sich zulässiger Öffentlichkeitsarbeit hergestellten Druckwerke nicht an die Parteien als Wahlkampfmaterial geben oder von diesen verwenden läßt (C I V 3 b, s. auch LS 8 und 9). Der Zeitfaktor, die Nähe der Wahlen, erzwingt spezielle Grenzen. Der Senat war gezwungen, ein Stück parteiendemokratische Wirklichkeit — abwehrend — zur Kenntnis zu nehmen: die „weitgehende Ubereinstimmung" zwischen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und den sie stützenden Parteien ließ sich nicht leugnen 80 . Erst an dieser späten Stelle der Grün76 Denkbar ist aber, daß bei Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern der Bund (bzw. Bundestag und -regierung) durchaus auch in der Nähe von Landtagswahlkämpfen aufklärend tätig werden könnte (zutr. Rottmann, I I 2 a). Auch in Komunalwahlen könnten bundespolitische Argumente eine Rolle spielen (man denke an den Streit um die Finanzkraft der Gemeinden). 77 Auch die Grenzen kommunaler Presse- und Informationsämter werden kritisch zu überdenken sein, auch i. S. einer Sechs-Monats-Frist, vgl. F A Z v. 23. 4. 1977, S. 5. 78 ζ. B. im geglückten Hinweis auf § 16 BWG, s. auch Geiger, Abw. Meinung, A III. 79 Dazu im einzelnen unten bei und in Anm. 87 f. 80 s. auch C I V 3 a, wo der Senat zugeben muß, daß in der „heißen Phase" des Wahlkampfes sog. Arbeitsberichte und Erfolgsberichte der Bundesregie-

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. Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

de, nicht schon bei den „Wechselwirkungen" (C I 3) mochte der Senat darauf eingehen. Das Leitbild vom „freien Spiel" der (partei-)politischen Kräfte i n der (Vor-)Wahlzeit bleibt problematisch. Denn die vom Senat ebenso treffend wie realistisch eingangs umschriebenen „Wechselwirkungsvorgänge" hören doch nicht schlagartig m i t Beginn des Wahlkampfes auf! 8 1 Sie w i r k e n fort: mindestens i. S. einer „Nachwirkung". Die pluralistische Parteiendemokratie rechnet doch m i t einem „langen" und guten Gedächtnis des mündigen Bürgers (das dieser — leider — oft genug nicht hat), nicht m i t einem erst i n der (Vor-)Wahlzeit wachgewordenen Wähler! 8 2 I m übrigen fällt eine i n weiten Strecken bestehende Parallelität der Problemlage zwischen der staatlichen Teilfinanzierung der Parteien und der (unzulässigen) Wahlwerbung ins Auge. Es zeigt sich eine eigentümliche Dialektik: i n der Zulässigkeit staatlicher Gelder für die „staatsfreien" Parteien vor den Wahlen für den Wahlkampf (E 20, 56), sogar als „Abschlagszahlungen" i n den „Jahren vor der Wahl" (E 24, 300 [348 ff.]) einerseits, i n der parallelen Reduzierung bzw. Einstellung der regierungsamtlichen, „werbenden" Öffentlichkeitsarbeit i n eben dieser (Vor-) Wahlzeit um möglichst weitgehender „Neutralität" des Staates (bzw. der Freiheit der Meinungs- und Willensbildung vom Volk „zu" den Staatsorganen) und der Chancengleichheit willen andererseits 83 . Beide Gebote hängen zusammen, auch i n ihren Ungereimtheiten. „(Staats-)Freiheit" als Verbot der parteiergreifenden Arbeit m i t öffentlichen Haushaltsmitteln ist insofern phasenbezogen und „relativ". I m ganzen: Es gibt nur zulässige und unzulässige Öffentlichkeitsarbeit. Wahlwerbung der Regierung und Öffentlichkeitsarbeit stehen i n rung zu parteilichen Werbemitteln werden. Die Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung laufen im Grunde auf eine Reduzierung auf organfunktionsbezogene bloße Information hinaus. Daß diese Grenzziehung zur (verbotenen) .(Wahl-)Werbung schwierig bleibt, kann nicht überraschen: Auch die Literatur konnte sie bisher nicht eindeutig ziehen (vgl. etwa Kempen, a.a.O., S. 267). — Die strikte Trennung von (unzulässiger) Werbung und (zulässiger) Information befürworten: P. Häberle, in: Politische Bildung, a.a.O., S. 31; Lipphardt, aa.O. (Anm. 67), S. 115 f. m. N. 81 Wahlkämpfe haben ihr crescendo und ihr decrescendo, aber keine Fermaten! — Offensichtlich besteht ein Bezug zwischen dem Einsatz bzw. Nichteinsatz öffentlicher Steuermittel und dem Begriff des gemeinen Wohls. 82 s. auch das Wort von der „Aufgabe und Kompetenz der Regierung, den Bürger auch über zurückliegende politische Tatbestände, Vorgänge und Leistungen (!) sachlich zu informieren" (C I V 3 a) — das freilich sukzessive („zunehmend") in Wahlkampfnähe hinter das Neutralitätsgebot zurücktritt. 83 Geiger (A I V 3) verweist mit Recht auf §§ 18 ff. PartG. — Der Senat vermeidet den (belasteten und fragwürdigen) Begriff der „Staatsfreiheit" (anders noch E 37, 84 [91]).

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„negativer Komplementarität" zueinander (vgl. LS 4 S. 2). Wahlwerbung ist ein Unterfall unzulässiger Öffentlichkeitsarbeit 84 . Es gibt aber auch Öffentlichkeitsarbeit, die trotz Vorwahlzeit zulässig ist 8 5 . Sie unterliegt nur besonderen Bindungen. Es bleibt die Gretchenfrage, ob nicht trotz der ., Indizientheorie" des BVerfG jede erlaubte Öffentlichkeitsarbeit der Regierung als Selbstdarstellung 8 6 (ζ. B. als „aktiv") notwendig ein Stück Wahlwerbung 8 7 , ob sie insofern nicht per se „parteiergreifend" ist — weil in der von Parteien „getragenen" Regierung nach dem Telos der parlamentarischen Demokratie Regierungsfunktion stets auch i m Blick auf die Wahlen geleistet wird, zumal immer mehr oder weniger Wahlkampf ist. Ist der B ü r ger nicht überfordert, Regierungstätigkeit und die sie tragende Parteientätigkeit zu unterscheiden? Insofern bleibt unvermeidlich eine gewisse „Schizophrenie". Erfolge der Regierung „als Regierung" werden systemimmanent und -konsequent von der Öffentlichkeit und den Bürgern zugunsten der sie tragenden Parteien verbucht 88 . Erst i n Zukunft kann voll erklärt werden, was noch erlaubt, was verboten ist. Vor allem Bundestag und Landesparlamente 89 haben jetzt i n dreifacher Richtung Schrittmacherdienste für die „Umsetzung" des U r teils i. S. der Transparenz für Öffentlichkeitsarbeit zu leisten: über die 84

Diese hat der Senat ζ. B. im Auge, insofern er (C I V 1 b) verlangt, daß sich die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung stets der offenen oder versteckten Werbung für einzelne der miteinander konkurrierenden Parteien enthalte; an dieser Stelle kommt es prompt zu Schwierigkeiten, s. auch das Verbot „willkürlicher, ungerechtfertigt herabsetzender und polemischer Äußerungen über andere Parteien", ebd. 85 C I V 3 a: „informierende, wettbewerbsneutrale Veröffentlichungen aus akutem Anlaß" (vgl. auch C V 2 a cc); C I V 3 c: Wirken „in amtlicher Funktion über Rundfunk und Fernsehen". — Bölling, SZ v. 23. 4. 1977, S. 6: Die SechsMonats-Frist ist nicht informationslos. — Bölling erklärte für die BReg. die Bereitschaft zur regelmäßigen Veröffentlichung von Ubersichten über die Praxis der Öffentlichkeitsarbeit: F A Z v. 23. 4. 1977, S. 5. 86 Übrigens auch des Parlaments, man denke an bislang nicht im Parlament vertretene Parteien! Die Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente kontrollieren (wie die Diäten) letztlich nur die öffentliche Meinung und das BVerfG sowie ζ. T. die Rechnungshöfe. 87 Ridder, a.a.O., S. 68 f., rechnet es zu den „inneren Widersprüchen" des liberal-parlamentarischen Regierungssystems, daß „die Scheidewand zwischen der Regierungswerbung und ζ. B. der Werbung der Regierungsparteien hauchdünn ist". 88 Darum hätte der Senat deutlicher auf gegengewichtige Öffentlichkeitsarbeit von Bundestag (und Opposition?) als solche hinweisen sollen. Vgl. Lipphardt, a.a.O., S. 113: Öffentlichkeitsarbeit der Opposition als Ausgleich. Anders Kempen, a.a.O., S. 262 ff. 89 Die Geltung der Grundsätze des U. auch für die Länder im Blick auf Landtagswahlen (vgl. Geiger, A V I ) vermittelt Art. 28 Abs. 1 S. 1 u. 2 sowie Abs. 3 GG („demokratischer und sozialer Rechtsstaat", aus „freien, gleichen" Wahlen hervorgegangene Vertretung des Volkes), für die Gemeinden Art. 28 Abs. 1 S. 2 u. Abs. 3 GG. 35 V e r f a s s u n g

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Haushaltsgesetze, allgemeine gesetzliche Regelungen zur periodischen Offenlegung der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit und spezielle ad-hoc-Kontrollen. Einige konkrete Beispiele mögen als erste Orientierungshilfe dienen 90 . Hochglanzbroschüren reich bebilderter „Rechenschaftsberichte" m i t lächelnden Ministerkonterfeis sind i n „Wahlkampfnähe" nicht zulässig — obwohl man ein Interesse des Bürgers bejahen könnte, die Wahlaussagen einer Partei und die Leistungen der von ihr getragenen Regierung (ζ. B. als „Macher") miteinander zu vergleichen 91 . Zulässig sind sachlich kommentierte Gesetzestexte ohne „werbenden Charakter" zu jedem Zeitpunkt 9 2 sowie „informierende, wettbewerbsneutrale Veröffentlichungen aus akutem Anlaß" (vgl. C V 2 a cc m i t Beispielen), nicht aber sog. Arbeits-, Leistungs- und Erfolgsberichte (vgl. LS 8) 9 3 ; sie sind nur erlaubt, wenn sie „nicht i n unmittelbarer zeitlicher Beziehung zu einer bevorstehenden Wahl" stehen, „sich also voraussichtlich nur i n begrenztem Umfang (sie!) werbend auf das Wahlergebnis auswirken" werden (C I V 3 a). Ein Mindestmaß an „werbender" Öffentlichkeitsarbeit außerhalb der Vorwahlzeit ist der Regierung indirekt zugestanden. Das folgt auch aus LS 9. Die Formel von der „ins Gewicht fallenden Häufung und Massivität offenkundiger Grenzüberschreitungen" (C V) läßt insgesamt einen gewissen Spielraum. IV. Verfassungsprozessuale Einzelfragen 1. Überraschungsrechtsprechung? a) Das BVerfG hatte sich bisher nur kurz über Zulässigkeit und Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit geäußert 94 . Bis zum 2. 3. 197795 waren diese Fragen umstritten, i n der Literatur ebenso wie i n der Politik, (ins90 I n der Tat bleibt „in der Praxis eine Zone der Zweifelhaftigkeit" (Geiger, A V 5). So schwierig die Abgrenzungsfragen sind, die Verantwortlichen müssen alles tun, um bald zu einheitlichen Kriterien zu kommen: ein „permanentes Abgrenzungspalaver" würde selbst wiederum zum Teil des Wahlkampfes werden (so Fromme, F A Z v. 4. 3. 1977, S. 12). 91 Die Düsseldorfer Regierung Kühn plant für die Zukunft, regelmäßig, wahrscheinlich auch in Wahlkampfzeiten, sog. „Nordrhein-Westfalen-Reporte" erscheinen zu lassen (FAZ v. 11. 3.1977, S. 2). 92 Staatssekretär Bölling vom BPA fragte (ironisch), ob sich die Bundesregierung jetzt auf die Aufklärung über das Armenrecht des Bürgers beschränken müsse (Meldung des Z D F v. 29. 3. 1977). 93 Das Urteil könnte dazu führen, daß der Wahlkampf wieder „argumentativ" und sachlich wird, die Öffentlichkeitsarbeit im ganzen „manipulative Exzesse" verliert und der finanzielle Aufwand verringert wird. M P Vogel (Rh.-Pf.) regte eine 20prozentige Kürzung aller Öffentlichkeitsausgaben an, F A Z v. 23. 4. 1977, S. 5. 94 Oben bei Anm. 67, unten in Anm. 97 f. 95 Leider haben die in § 65 Abs. 2 BVerfGG genannten Verfassungsorgane Bundespräsident, Bundestag und -rat von der ihnen vom Senat gegebenen Gelegenheit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht (A I I 2). Das mag

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besondere zwischen der jeweiligen Bundesregierung und Opposition). Nun sagt es — aufgrund verfahrensrationaler, kontrollierbarer Verfassungsinterpretation — selbst (C VI), der Verlauf der Grenzen zwischen zulässiger Öffentlichkeitsarbeit und verfassungswidrigem Hineinwirken i n den Wahlkampf werde „jetzt erstmals näher präzisiert". Diese Grenzen seien nicht nur von der Bundesregierung 1976, sondern auch zunehmend von Regierungen des Bundes und der Länder überschritten worden, an der verfassungsrechtlichen Betrachtung könne sich dadurch nichts ändern. Wenn das BVerfG jetzt prätorisch Verfassungsge- bzw. -verböte entwickelt und einen (schweren) Verstoß der Bundesregierung feststellt, so drängen sich folgende Fragen auf: Können die Verfassungsorgane dann nicht für GG-Verstöße i n der Vergangenheit verantwortlich gemacht werden, wenn das BVerfG seine Rechtsprechung erst jetzt „findet", hätte es zuvor eine „Ankündigungsentscheidung" 96 treffen müssen? I n concreto lag zwar ausreichend andeutende, ja „warnende" Rechtsprechung 97 vor 0 8 . Doch befreit dies nicht von der Grundsatzfrage: Darf bei plötzlichen Rechtsprechungsänderungen oder interpretatorischen Neuschöpfungen das BVerfG nur ex nunc bzw. für die Zukunft judizieren, d. h. Verfassungsverstöße nicht ex tunc „nachträglich" rügen, weil angesichts des ständig „heißer" werdenden Wahlkampfes 1976 ζ. T. verständlich sein (zur grundsätzlichen Aufgabe der Verfassungsorgane, von ihren Partizipationsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, vgl. meinen Beitrag in JZ 1976, 377 [383 Anm. 102]). 98 Vgl. die Kritik von Rottmann, unter IV. — F. K. Fromme, F A Z v. 4. 3. 1977, S. 12, spricht vom „Verbot nach der Tat". 97 Vgl. BVerfGE 20, 56 (99 f.) : „besonderer Grund", Öffentlichkeitsarbeit „bezogen" auf die „Organtätigkeit"; s. auch die in E 20, 56 (100: „darlegen und erläutern") liegende Grenze. Auch hatte das BVerfG seit langem auf die grundsätzlich gleichen Wettbewerbschancen jeder Partei im Bereich der Wahlen hingewiesen und für das neue U. insofern Vorarbeit geleistet (vgl. E 34, 160 [163]). Auch die Diäten- und Daniels-Ε war „Vorarbeit", ebenso E 40, 287 (293): Chancengleichheit der Parteien als Grenze; 37, 84 (91): „Verfassungsgebot der grundsätzlich staatsfreien Meinungs- und Willensbildung des Volkes". — Schon 1976 hatte der Düsseldorfer Rechnungshof — viel beachtet — die Propagandaarbeit der dortigen Regierung als Verstoß gegen Verfassung und Etatrecht bezeichnet, die Vereinigten Senate hatten diese Rügen dann mit drei gegen zwei Stimmen zurückgenommen (vgl. F A Z v. 11. 3. 1977, S. 2). 98 — wenn auch die „jeweilige politische Bedeutung der Partei" (E 34, 160 [163 f.]) z. B. über ihre Beteiligung an den Regierungen (!) in Bund und Ländern berücksichtigt werden darf. Mit Recht verweist der Senat auf E 34, 160 (163), 24, 300 (340 f.) sowie 14, 21 (132 f.), unter C I I 3, an die sich sein Verbot der parteiergreifenden Einwirkung im Wahlkampf seitens der Staatsorgane konsequent anfügt. Vor dem BVerfG waren sogar Verfahren anhängig (vgl. Geiger, A I I I ) : nur stand damals die SPD auf der Seite der Opposition. Trotz bzw. gerade wegen der Rücknahme der Anträge blieb das Thema Öffentlichkeitsarbeit kontrovers. U m so mehr hätte sich die Bundesregierung zurückhalten müssen.

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

(noch) keine (so interpretierte) Verfassungsnorm vorhanden bzw. der verfassungsrechtliche Mangel noch nicht „evident" 9 9 war? Gibt die Eigenart des betreffenden Verfassungsstreitverfahrens, hier der Organstreit, Anlaß zu Differenzierungen? b) Problemlösungsmaterial findet sich i n der Diskussion zu den obiter dicta 1 0 0 sowie zur Rückwirkung der Rechtsprechung und ihren Grenzen 1 0 1 : „Neue" (geänderte, vorher nicht vorhandene oder „erstmals näher präzisierte" 1 0 1 0 ) Verfassungsrechtsprechung zum GG w i r k t zurück, insofern sie einen Verfassungsverstoß aus GG-Prinzipien herleitet, die so bislang nicht „konkretisiert" waren. Die für die oberen Bundesgerichte entwickelten Überlegungen lassen sich nicht einfach auf das BVerfG übertragen. Die besonderen Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit, i h r Kontrollauftrag ebenso wie ihre Gestaltungsfunktion (Stichwort: „Hineinragen i n den politischen Bereich") 1 0 2 verleihen ihr mehr Beweglichkeit. Ein Gran „Überraschung" steckt mehr oder weniger i n jeder Entscheidung des BVerfG 103: weil das Gericht als Verfassungsgericht Neuland beschreitet oder beschreiten muß oder jedenfalls notwendig und systembedingt selten nach gesicherten Rechtserkenntnissen judizieren kann und oft Grundsatzentscheidungen zu treffen hat. D. h.: Der prätorische Auftrag des BVerfG läßt sich nicht dadurch nur für die Zukunft, ex nunc realisieren, daß die Feststellung von Verfassungsverstößen „ex tunc" nur bei (vorher) „gesicherter" Rechtslage und „geläuterter Rechtserkenntnis" zulässig wäre. Ex tuncUrteile wären sonst weitgehend ausgeschlossen bzw. eine obiter dictaInflation wäre die Folge 1 0 4 . Das Problem der „Überraschungsrechtsprechung" ist je nach Art der anstehenden Verfassungsstreitigkeit unterschiedlich zu lösen: je nach Beteiligten einerseits, nach der A r t des verletzten Verfassungsrechts andererseits. Vieles spricht dafür, i m Grundrechtsbereich i m Interesse des betroffenen Bürgers „Überraschungsentscheidungen" m i t bloßer ex 99

Vgl. BVerfGE 34, 9 (26). Dazu Schlüter, Das obiter dictum, 1973; Kritik bei Köbl, JZ 1976, 752 ff.; s. auch Buchner, in: Ged.-Schrift für F. Dietz, 1973, S. 175 ff. 101 Zur Ankündigung von Rechtsprechungsänderungen Birk, JZ 1974, 735 ff.; s. auch BVerfGE 34, 9 (LS 3 und S. 26). — Zur Rückwirkung bei Änderung der Rechtsprechung: Schlüter, a.a.O., S. 53 ff. 101a So der Senat in C V I . 102 Dazu mein Beitrag m. N., in: Ρ. Häberle (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (2 ff., 38 u. ö.). 103 s. den Hinweis in C V I I : Beitrag der Antragstellerin „zur Klärung einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Frage, deren Tragweite weit über den konkreten Anlaß hinausreicht". 104 Die — maßvolle — Verwendung von obiter dicta ist ein Stück legitimer Strategie und Taktik des BVerfG. 100

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nunc-Wirkung auf extreme Fälle zu beschränken: Die übermächtige Staatsgewalt hat grundsätzlich das „Risiko" grundrechtswidrigen Verhaltens ex tunc zu tragen. Anders mag es in Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen sein 1 0 5 . Sie verdienen untereinander eher den Schutz vor „Überraschungsentscheidungen" des BVerfG mit ex tunc-Wirkung. Freilich ist zu differenzieren, je nach dem welche Verfassungsorgane gegeneinander stehen und wie das funktionell-rechtliche Zusammenspiel nach dem GG sein soll. So wäre dem BVerfG gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber weniger „Uberraschungsrechtsprechung" m i t ex tunc-Folgen zu erlauben als i m Verhältnis zwischen Regierung und Opposition — wie i m Urteil vom 2. 3.1977. A m Ergebnis ändert sich nach alledem nichts: Der Senat hat — materiell und verfassungsprozessual richtig — seine funktionell-rechtlichen Grenzen eingehalten, die (jeweils) Regierenden, die sich — demokratieund grundrechtswidrig — m i t dem Staat identifizieren, i n die Schranken verwiesen und die Schwächeren, die Opposition, vertreten durch die Oppositionsparteien, beschützt (Verfassungsgerichtsbarkeit „ i n Sachen Opposition" als ein Stück Bürgerschutz) 106 . Die Bundesregierung unterliegt einer A r t „Gefährdungshaftung". Sie hat i m Wahlkampf 1976 wahrlich provozierend gehandelt. Sie genoß keinen wie immer gearteten Vertrauensschutz. I h r Verhalten war mehr als „riskant": es grenzte an Verschulden 107 . Das Verdikt des ex tunc-Verfassungsverstoßes ist voll gerechtfertigt. „Richtlinien" nur für die Zukunft zu formulieren, wäre zu wenig gewesen, ein (an sich flexibler) verfassungsrichterlicher activism 1 0 8 war höchst angebracht 109 . 105 Hier dürften Verfassungsverstöße bei evident „neuer" Rechtsprechung des BVerfG kaum mit ex tunc-Wirkung zu solchen „gemacht" werden. Niederlagen in Organstreitigkeiten wiegen schwer: Die Verfassungsgerichtsbarkeit sollte in diesen Fällen ein Verfassungsorgan wie die Bundesregierung nicht ohne zwingende Gründe für die Vergangenheit desavouieren (vgl. die Rspr. zur wechselseitigen Rücksichtnahme der Verfassungsorgane: BVerfGE 36, 1 [14 f.] ; Pestalozza, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, 1976, S. 13, spricht treffend von „kooperativer Verfassungskontrolle"). 108 Dazu, inwieweit das Urteil an BVerfGE 20, 56 und sein Demokratieverständnis anknüpft vgl. oben I I I 1. s. auch Leibholz, Leserbrief in F A Z v. 26. 3. 1977, S. 9, der freilich die bürgerschaftlichen Momente zu übersehen scheint. 107 Auf Verschulden deutet der Passus (C V 2 c): „Die Bundesregierung konnte voraussehen und erkennen . . . Sie hat keinen Versuch unternommen, das zu unterbinden", s. auch das Wort von der „Häufung und Massivität offenkundiger Grenzüberschreitungen". 108 Dazu P. Häberle, NJW 1976, 537 (542 f.). Die Kontrollfunktion des Parlaments versagte, weil dessen Mehrheit die BReg. trug. Darum mußte das BVerfG (ggf. der Rechnungshof) aktiv werden. 109 Nachdrücklich genug hatte das BVerfG Freiheit und Offenheit des W i l lensbildungsprozesses verlangt; Schutz der Opposition, formalisierte Chancengleichheit aller Parteien und Wahlbewerber, also Teilelemente des Urteils,

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

2. Mehrheitsvotum

und Sondervoten: Konfrontation

und Integration

Unter zwei Gesichtspunkten ist das Urteil eine erneute Rechtfertigung des Sondervotums als Institution (§ 30 Abs. 2 BVerfGG) 1 1 0 . Zum einen: Durch das Sondervotum Rottmann ist die i m äußersten konsequent „parteienstaatliche" Doktrin i m doppelten Sinne des Wortes „aufgehoben": sie ist zur öffentlichen Sprache gelangt und w i r d die Wissenschaft zur weiteren Diskussion zwingen, sie ist von der Mehrheit des Senats — auf der Folie dieses Sondervotums — viel deutlicher zurückgewiesen worden als dies ohne Sondervotum erkennbar wäre. I m übrigen zeigt sich die Fruchtbarkeit einzelner Argumente Rottmanns und Geigers immer wieder 1 1 1 . Der öffentliche Prozeß zum Thema „Aufgaben und Grenzen staatlicher Öffentlichkeitsarbeit" ist mit Erlaß des Urteils vom 2. 3.1977 keineswegs zu Ende. Beide Sondervoten, so unterschiedlich sie sind, werden diesen Prozeß in Zukunft m i t Argumenten bereichern, wenn man w i l l : auch sie sind ein Stück — sehr rationaler — Öffentlichkeitsarbeit! Zum anderen: Die Dissenters und die Senatsmehrheit setzen sich aus Richtern zusammen, deren angebliche oder wirkliche (partei-)politische „ A f f i n i t ä t " keine Auswirkungen auf ihre Voten zeitigte. Mutmaßungen über parteipolitische Vorverständnisse erweisen sich als unergiebig: Bei der Mehrheit findet sich ebenso ein (mutmaßlich) „sozial-liberal" orientierter Verfassungsrichter wie bei den Dissentern. Alle Spekulationen brechen angesichts der konkreten Sachaufgaben schwieriger Verfassungsinterpretation in sich zusammen 112 . 3. Die Kostenentscheidung

(§ 34 Abs. 3 BVerfGG)

Der Senat hat gemäß § 34 Abs. 3 BVerfGG „ausnahmsweise" zugunsten der Antragstellerin die Erstattung der Auslagen angeordnet (C VII), unter Hinweis auf ihren „Beitrag zur Klärung einer grundsätzlichen waren durchaus erkennbar. — Denkbar war, daß der Senat nach § 32 BVerfGG von Amts wegen eine Anordnung in dem seit 23. 7. 1976 anhängigen Organstreit erläßt: Angesichts der greifbaren massiven GG-Verstöße der Bundesregierung von Frühjahr bis Herbst 1976 sprach viel für das Vorliegen des Gemeinwohltatbestands des § 32 Abs. 1 BVerfGG. Ein gerichtlicher Stopp der „regierungsamtlichen" Wahlwerbung hätte indes seinerzeit die sensiblen Prozesse der Vorwahlzeit so beeinflußt, daß der Senat wohl aus berechtigten funktionell-rechtlichen Gründen davon abgesehen hat. 110 Skeptisch allgemein Ossenbiihl, NJW 1976, 2100 (2106); positive Bewertung: P. Häberle, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 ff. (31, 34). 111 Geiger gab eine „concurring opinion". 112 Dieses Ergebnis überrascht wohl den Skeptiker deshalb nicht, weil frühere Bundesregierungen und heutige Landesregierungen, die parteipolitisch anders zusammengesetzt waren bzw. sind, rückblickend ebenfalls gegen die vom Senat gezogenen Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit verstoßen haben.

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verfassungsrechtlichen Frage" („erheblicher finanzieller Aufwand", „sorgfältige Vorbereitung und Durchführung des Verfahrens") sowie i m Blick darauf, daß die Antragstellerin nicht wie die Antragsgegnerin „und wie das i n aller Regel bei allen an einem Organstreit Beteiligten der Fall ist — die Aufwendungen aus Mitteln öffentlicher Haushalte bestreiten kann". Geiger hat dem i n seiner abw. Meinung widersprochen (unter B). Mag darin auch — worauf Geiger hinweist — eine Wende angesichts der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG (vgl. E 20, 119, 133 f.) liegen, sie überzeugt: § 34 Abs. 3 BVerfGG ist ein Ermessenstatbestand; er ist als solcher i m Verfassungsprozeßrecht fallweise zu konkretisieren und auf längere Sicht m i t Hilfe nachprüfbarer Kriterien Schritt für Schritt funktionell-rechtlich flexibel zu normativieren 1 1 3 . Das hat der Senat jetzt geleistet. Außer den von ihm genannten Gründen wäre anzuführen, daß hier eine politische Partei durch ihren Antrag der Opposition als Institution, dem parlamentarischen System und dem GG als Ganzem gegenüber der Arroganz der (Regierungs-)Macht einen hohen Dienst erwiesen hat. Die Steuergelder, die jetzt qua Ersatz der „notwendigen Auslagen" der Antragstellerin zugute kommen, sind denkbar beste Öffentlichkeitsarbeit: für das G G 1 1 4 ! Sie sind gut angelegt — besser als die zehn Millionen verfassungswidriger Wahlwerbung der Bundesregierung 1976 1 1 5 ' 1 1 β .

113

Vgl. zum Problem: P. Häberle, JZ 1976, 377 (383). I m Sinne des Senats (C I I I ) : im Blick auf den Gesamtkonsens. 115 Fragwürdig ist indes, ob das BVerfG weiterhin die Formel vom „Ausnahmecharakter" des § 34 Abs. 3 BVerfGG im Blick auf die Kostenfreiheit in Abs. 1 mitschleppen darf (vgl. die Rechtsprechungsnachweise in E 14, 121 [140], aus der Lit.: Lechner, K. z. BVerfGG, 3. Aufl. 1973, 3 zu § 34 Abs. 3). Die Methodenlehre hat die Problematik des Regel-/Ausnahmearguments längst erkannt (vgl. etwa F. Müller, Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 1976, S. 164 ff.; Abw. Meinung Schlabrendorff, Geiger, Rinck: BVerfGE 37, 363 [404 f]). Das BVerfG könnte und sollte sich aus ihrem Schatten lösen und statt dessen differenzierte Fallgruppen bilden. Das neue Urteil ist der beste Anfang dazu. 114

116 I n der Konsequenz des Urteils liegt es, die Opposition in anderen umstrittenen Fällen der Regierung gleichzustellen, sie jedenfalls nicht von ihr abhängig zu machen, d. h. sie zu „konstitutionalisieren". Das wird aktuell bei der in Hessen z. Zt. umstrittenen Frage, ob im neuen Hessischen Datenschutzgesetz Auskünfte, die die Opposition abrufen will, grundsätzlich zuvor von der Regierung freigegeben werden müssen (vgl. F A Z v. 24. 3. 1977, S. 4). Der gleichberechtigte Zugang der Opposition zu den Daten ist von ihrer Funktion her zu begründen (und von der Chancengleichheit der sie tragenden Parteien). Anderenfalls drohte eine Identifizierung der Regierung mit dem Staat — gegen die Opposition. Der hessische Datenschutzbeauftragte Simitis tritt ein für ein „Informationsgleichgewicht" zwischen Regierung und Parlament (FAZ v. 16. 3. 1977, S. 5) und für ein entsprechendes Zugriffsrecht der Fraktionen des Landtags. Privilegierte Zugriffsrechte auf Daten können der Opposition so gefährlich werden wie unzulässige Öffentlichkeitsarbeit bzw. Wahlwerbung!

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

4. Exkurs: Wahlanfechtung und Wahlprüfung, Wiederholung der Bundestagswahl von 1976? Die Konsequenzen für die Wahlprüfung und Gültigkeit der Bundestagswahl 1976 hat der Senat nur angedeutet. Er sagt (C I V 3 c): „Werden diese verfassungsrechtlichen Gebote nicht beachtet und läßt sich infolgedessen bei gravierenden Verstößen nicht mehr ausschließen, daß dadurch die Mandatsverteilung beeinflußt worden ist, so kann das i m Wahlprüfungsverfahren nicht ohne Konsequenzen bleiben und die Gültigkeit der Wahl gefährden". Dieser Passus ist zunächst auf viel A u f merksamkeit gestoßen 117 . a) Der Senat n i m m t hier i n einem obiter dictum zu Fragen des nicht kodifizierten materiellen Wahlprüfungsrechts Stellung und scheint dessen restriktive Konkretisierung i n der bisherigen Wahlprüfungspraxis — Ergänzung von fiktiven Wahrscheinlichkeits- und Möglichkeitsannahmen durch eine Bestandsschutzvermutung 118 — modifizieren zu wollen, er hält jedoch am Prinzip der reinen Mandatsprüfung (Auswirkung auf die Sitzverteilung) fest 1 1 9 . Unzulässige regierungsamtliche Wahlwerbung gehört jedenfalls nach dem Urteil vom 2. 3. 1977 zu jenen „qualifiziert-gesetzwidrigen" und damit für das Wahlprüfungsverfahren relevanten Tatbeständen, die geeignet sind, die freie Entscheidung der Wähler i n Gleichheit ernstlich zu beeinträchtigen 120 . Noch pointierter formuliert Geiger i n seinem Sondervotum (A V 6): ein „parteiergreifendes Einwirken der Bundesregierung . . . auf den Wahlkampf" sei i m Zweifel (!) eine so schwerwiegende Einmischung, daß nicht mehr ausgeschlossen werden könne, daß die Wahl ohne Einmischung anders ausgefallen wäre. Die hier aufgestellte Erheblichkeitsvermutung bei schweren Einmischungen widerspricht dem am Bestandsschutz, an der Vermeidung aufwendiger Wahlwiederholungen orientier117 Vgl. die Frage Biedenkopfs, ob die Bundesregierung die Wahlen v. 3. 10. 1976 überstanden hätte ohne den durch vom BVerfG festgestellten Verfassungsverstoß erkauften Vorteil (FR v. 3. 3. 1977, S. 5; F A Z v. 4. 3. 1977, S. 12). Zweifel an der Legitimität der sozialliberalen Bundesregierung äußerte für die CSU Tandler (SZ v. 3. 3.1977, S. 2). 118 Dazu: v. Heyl, Wahlfreiheit und Wahlprüfung, 1975, S. 108 ff., 114 ff., 119 ff. mit Nachw. aus der Rspr.; Schmitt-Vockenhausen, Die Wahlprüfung in Bund und Ländern unter Einbeziehung Österreichs und der Schweiz, 1969, S. 26; Seifert, D Ö V 1967, 231 (237); ders., Bundeswahlrecht, K., 3. Aufl. 1976, S.399. 119 Seit BVerfGE 1, 430 (433) ständ. Rspr.: E 4, 370 (373); 21, 196 (199); 22, 277 (280); 28, 214 (219 f.); 29, 154 (164 f.); 34, 81 (96 f.); 34, 201 (203); 35, 300 (302); 37, 84 (89); Einwände bei Seifert, Bundeswahlrecht, a.a.O., S. 397 ff.; zum Problem auch: Olschewski, Wahlprüfung und subjektiver Wahlrechtsschutz, 1970, S. 43 ff. 120 Vgl. Seifert, Bundeswahlrecht, a.a.O., S. 407 f.

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ten Pragmatismus der überkommenen Wahlprüfungspraxis 1 2 1 und bezieht ausdrücklich die Entstehenssicherung der Wahlwillensbildung i n Wahlprüfungserwägungen m i t ein 1 2 2 . Die Ausführungen des Senats müssen für die Zukunft zu einem für das materielle Wahlprüfungsrecht erheblichen Neuorientierungsprozeß führen, der sich verstärkt den Funktionen und „integren" Voraussetzungen von Parlamentswahlen und Abstimmungen zuzuwenden hat. Dabei entsteht eine Fülle von Fragen, da der Senat das ein Wahlprüfungsverfahren entscheidende Problem der Folgen einer verfälschten (d. h. durch Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz des Urteils vom 2. 3. 1977 „unfreien" und nicht grundsätzlich chancengleichen) Willensbildung für die Sitzverteilung nicht weiter vertieft: Ist i m gegebenen Fall die Wahl ungültig aufgrund der Gesamtheit der auf die bevorzugten Wahlvorschläge abgegebenen Stimmen wegen der überregional unberechenbaren Auswirkungen der Wahlbeeinflussung 123 ? Ist ein gegenläufiger Effekt (Abschreckung durch Öffentlichkeitsarbeit) i n Rechnung zu stellen? Sind die gesamten Wahlkampfkosten i n Relation zu bringen zu den Haushaltsmitteln, m i t denen die Bundesregierung i n unzulässiger Weise i n den Wahlkampf eingegriffen hat und wäre erst bei einer bestimmten Relation von der Ungültigkeit der Bundestagswahl auszugehen? Sind unzulässige Wahlbeeinflussungen gerade bei knappen Mehrheiten (wie 1976) wahlprüfungsentscheidend 124 ? Bei der Beantwortung dieser Fragen w i r d von folgendem auszugehen sein: Einflußnahmen auf die Wahl Willensbildung sind, anders als Wahlverfahrensmängel, i m motivationsbildenden Vorfeld der Wahlen angesiedelt und daher nicht quantifizierbar. Auch die empirische Wahlforschung könnte nur Korrelationen, aber keine eindeutigen Kausalitäten erhärten. W i l l man auswirkungsunklare Wahlungültigkeitsgründe nicht generell aus dem materiellen Wahlprüfungsrecht herausnehmen, muß man, i n pragmatischer Abgrenzung, auf die Schwere 125 („Massivität" und „Häufung") und den Zeitpunkt des Wahlfehlers (Wahlkampfnähe) abstellen 1 2 6 und auf fiktive Wahrscheinlichkeits- bzw. potentielle Kausali121

Anschaulich v. Heyl, a.a.O., S. 114 ff. v. Heyl, a.a.O., S. 209 f., will die Wahlwillensbildung insgesamt dem Wahlprüfungsverfahren entziehen: Der im gegebenen institutionellen Rahmen gebildete Wählerwille sei als frei zu akzeptieren. Wahlwiederholungen müßten „wegen der strukturell angelegten Unabgrenzbarkeit von Einwirkungen auf die Willensbildung . . . auf eine permanente Übersteuerung hinauslaufen ...". 123 So wohl Seifert, Bundeswahlrecht, a.a.O., S. 411 f. 124 Dies im Gegenschluß zu BVerfGE 37, 84 (89) (Volksentscheid in Baden). 125 So auch BVerfGE 37, 84 (89), jedoch quantifiziert. 126 Verstöße gegen die vom Senat für die Zeit davor entwickelten allgemeinen Begrenzungen der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit stellen darum besonders schwierige Fragen für etwaige Wahlprüfungsverfahren. 122

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tätstheorien verzichten, wenn (wie 1976) durch schwerwiegende Verstöße gegen die demokratische Legitimations-, Kreations- und Integrationsfunktion der W a h l 1 2 7 diese zu einem „Selbsterzeugungsvorgang" der „amtierenden" Regierung denaturiert und eine Freiheit der Wahl Willensbildung i n Gleichheit nicht gewährleistet ist. Die allgemeine soziale Determiniertheit der Wahlentscheidung und des Wählerverhaltens darf nicht zu einer so weit gehenden Autonomiefiktion führen, daß von den realen Voraussetzungen der Wahlfreiheit und -gleichheit gänzlich abstrahiert w i r d 1 2 8 . Bei gravierenden Wahlbeeinflussungen darf nicht lediglich auf eine Korrektur durch den politischen Prozeß verwiesen werden; dessen „ I n t e g r i t ä t " 1 2 9 steht gerade in Frage. b) Ein Wort zu den formellen Vorausetzungen einer erfolgreichen Wahlanfechtung. Die Prüfung erfolgt auf Einspruch („Anfechtungsprinzip") eines Wahlberechtigten, einer Gruppe von Wahlberechtigten, eines Landes- oder Bundeswahlleiters oder des Bundestagspräsidenten (§ 2 Abs. 2 WPrüfG) binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses (§ 2 Abs. 4 S. I ) 1 3 0 . Diese Frist ist verstrichen. Der Wahlprüfungsausschuß des Bundestages (§ 3 WPrüfG) ist aber an die Entscheidung des BVerfG insofern gebunden (§ 31 BVerfGG), als er i m Rahmen eines nach der Bundestagswahl fristgemäß anhängig gemachten Wahlprüfungsverfahrens eine verfassungswidrige Einflußnahme der Bundesregierung auf den Wahlkampf zu untersuchen hat, da die Offizialmaxime das Anfechtungsprinzip ergänzt 1 3 1 . Unabhängig davon kann der Bundestagspräsident nach § 2 Abs. 4 S. 2 WPrüfG innerhalb der dort genannten Frist Einspruch einlegen, da jetzt „Umstände bekannt" sind, „die einen Wahlmangel begründen können" 1 3 2 . Ohne Rücksicht auf die Fristbestimmung des § 2 Abs. 4 S. 2 WPrüfG dürfte bei nachträglich festgestellten schweren Wahlmängeln, die einen Verlust der Existenzberechtigung des Bundestages zur Folge haben, jeder nach § 2 Abs. 2 WPrüfG Berechtigte zur Einlegung des Einspruchs befugt sein 1 3 3 . Diese Korrektur von Verfahrensvorschriften, die aus materiellem Wahlprü127 Zur Funktionsanalyse: v. Heyl, a.a.O., S. 124 ff. und Kißler, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, 1976, S. 426 ff. 128 v. Heyl, a.a.O., S. 156 f. mit Nachw. aus der sozialwissenschaftlichen Literatur. 129 Bei allen Vorbehalten gegen diesen Begriff (oben Anm. 26). 130 Nach Pressemeldungen sollen einzelne Wähler innerhalb dieser Frist Einspruch eingelegt haben. Die Frage kann also noch vor das BVerfG kommen. 121 Seifert, Bundeswahlrecht, a.a.O., S. 380 f. 132 Dies ist nach Pressemitteilungen nicht geschehen; auch die politischen Parteien sind an einem Wahlprüfungsverfahren nicht interessiert. 133 Vgl. Seifert, Bundeswahlrecht, a.a.O., S. 415; Maurer, Die verfassungswidrige Bundestagswahl, 1969, S. 35 f. für die Fälle der (Teil-)Nichtigerklärung des Wahlgesetzes oder von Wahlrechtsbestimmungen.

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fungsrecht folgt und für einen Teilbereich i n § 15 WPrüfG positiviert ist, muß auch bei „massiven und häufigen" Einmischungen des Staates (hier: der Bundesregierung) i n die „Integrität" der Wahlwillensbildung vorgenommen werden. Als Folge einer Ungültigerklärung der Wahl durch den Bundestag (§ 13 WPrüfG) oder das BVerfG (§ 48 BVerfGG) ist auf Mandatsverlust bzw. die Erforderlichkeit einer Wiederholungswahl zu erkennen (§§ 44, 46 Abs. 1 S. 1, 47 Abs. 1 S. 1 BWG) 1 3 4 . V. Ausblick: Die pragmatische Integration von Theorieelementen durch das BVerfG Die politischen Parteien sind nicht der Staat. Es gibt keine „Staatsparteien". Der Verfassungsstaat gehört nicht einer oder mehreren Parteien. Er ist für den Bürger da, gehört ihnen, die Bürger sind nicht partei- oder staatseigen. Die parteiendemokratische Komponente hat das BVerfG bislang ausreichend genug anerkannt durch Legitimierung begrenzter staatlicher Parteifinanzierung sowie steuerliche Abzugsfähigkeit von Spenden etc. 1 3 5 . Diese parteiendemokratischen Elemente wären durch ein etwaiges parteienstaatliches Urteil i. S. der abw. Meinung Rottmanns endgültig umgeschlagen i n einen Parteienstaat, i n dem der Staat und die Steuergelder als „Beute" der „regierenden Parteien", die Regierungsmacht als Erbhof dieser Parteien erschienen wären. Auch das freie Mandat wäre auf Dauer in diesen Sog geraten 136 . Freilich: Einzelfragen sind off engeblieben und nur i m Zusammenwirken von Staatsorganpraxis, Verfassungsgerichtsbarkeit und Öffentlichkeit zu klären. Der Senat hat aber i m Grundsatz eine geglückte Synthese zwischen den parteien- und bürgerdemokratischen Elementen gefunden. Sie kommt Parteien und Bürgern, i m ganzen einer lebendigen Demokratie zugute. Die Regierungsparteien haben diesmal verloren, heutige (und künftige) Oppositionsparteien werden dies dem BVerfG (mindestens später) zu danken wissen, da es institutionelle, staatlichorganschaftliche, amtsmäßige Elemente „über" den Parteien anerkannte 1 3 7 . Gewonnen hat heute und i n Zukunft der Bürger als Wähler, als zu Wählender, als Gewählter — und als Steuerzahler 138 . 134

Dazu Seifert, Bundeswahlrecht, a.a.O., S. 389 ff.; Maurer, a.a.O., S. 11 ff. 135 v g l die zustimmenden Hinweise des Senats unter C. — Das neue Urteil würde aber unterlaufen, wenn auf dem Umweg über diese vom BVerfG gedeckte Teilfinanzierung die Parteien sich jetzt noch größere Beträge nähmen. Auch darf die Regierung nicht das in der Wahlphase Verbotene in die Zeit davor zu verlagern suchen u. damit das U. umgehen. ' 136 Man denke an das Problem des „Pairing" (dazu Röttger, JuS 1977, 7 ff.). ,:î 7 Geiger (A 1) erinnert mit Recht an das (nicht nur „schwäbische", sondern verfassungsrechtlich begründbare: vgl. bes. Art. 64 Abs. 2, 56, 114 Abs. 2 GG!) „Gebot des sparsamen Umgangs mit Steuermitteln". 138 Gegen ein einseitig parteipolitisches Ausschlachten des U. spricht der (insoweit glücklichc) Umstand, daß alle Parteien („in" Regierungen) in Gegen-

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Der Senat hat auch insofern vorbildlich judiziert, als er sich weder der Form noch der Sache nach auf eine Theorie einseitig festlegte 139 . Diese Gefahr bestand ζ. B. i m Blick auf den Staats- und Amtsbegriff, das Gemeinwohl- und Parteienverständnis. Statt dessen kam er zu „mittleren" Ergebnissen, fand er einen vernünftigen pragmatischen Weg zwischen manchen (Selbst-)Stilisierungen der Theorien. Offenkundig m i t dem theoretisch-wissenschaftlichen Diskussionsstand vertraut, bahnte er seinen Weg zwischen den Fronten hindurch. Dieses „undogmatische" Judizieren entspricht der Funktion des BVerfG. Legte es sich auf die „zweite" oder „dritte" Öffentlichkeit von staatsund verfassungstheoretischen Lehrmeinungen und Schulen einseitig fest, so brächte dies seine spezifische Funktion i n Gefahr: als Verfassungsgericht der ganzen res publica zu judizieren — und zu integrieren. Ein Verfassungsgericht kann und sollte i n praktischen Kompromissen denken und arbeiten, es kann einzelne Theorieelemente verschiedener „Richtungen" miteinander flexibel („konkordant") verbinden, darf aber nicht ganze Theoriegebäude als solche rezipieren. Es kann und soll praktikable Einzelergebnisse, nicht aber die — sich meist verabsolutierenden — „Theorien" 1 4 0 selbst übernehmen 141 . Das liegt i m Sinne pluralistischer Verfassungsinterpretation, die sich der ganzen res publica des GG verpflichtet weiß und konsenstaugliche Entscheidungen f ä l l t 1 4 2 . Das Thema „Öffentlichkeitsarbeit der Regierung" hat Rechtsprechung und Wissenschaft auch später beschäftigt: vgl. BVerfGE 44, 125; 63, 230; aus der Lit.: F. Schürmann, Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung, 1992.

wart und Vergangenheit in Bund und Ländern gegen das Neutralitätsgebot verstießen und alle Anlaß zur Selbstkritik haben. Das könnte einen heilsamen Zwang zur Einigung über strittige Einzelfragen ausüben. 139 Zum Theorienstreit vgl. die oben Anm. 57 zit. Arbeiten. HO — àie insofern als bloße „Vehikel" lediglich instrumentale Bedeutung haben. 141 Beispielhaft ist insofern BVerfGE 33, 303 (329 ff.) = JZ 72, 686, mit Anm. v. Kimminich, dazu mein Beitrag in DÖV 1972, 729 ff., i. V. mit dem 2. NC-Urteil (DÖV 1977, 169, Erster Teil I I I 1). Es wäre reizvoll, die frühere Judikatur des BVerfG auf diesem Hintergrund zu überprüfen: Wo hat sich das BVerfG voreilig auf bestimmte Theorien festgelegt, wo mußte es sich (aus welchen Gründen?), wann davon freikämpfen? Geschah dies offen oder versteckt, abrupt oder allmählich? 142 Der Verfassungsrechtswissenschaft — sie ist ihrerseits (in sich) ein Stück „konzertierter Aktion" mit vielen Akteuren — bleibt ihre „Zuträger"- und Kritikfunktion ungeschmälert. Ihr arbeitsteiliges Zusammenwirken mit dem BVerfG ist ihre Art von „Öffentlichkeitsarbeit"!

24. Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht Besprechung des gleichnamigen Werkes von Michael Stolleis, Münchener Universitätsschriften, Juristische Fakultät, Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 15. Berlin: J.Schweitzer Verlag. 1974. 315 S.* 1. Politische und juristische Schlüsselbegriffe gewinnen nicht zuletzt dadurch Konturen, daß ihre Mißbrauchsgefahren wissenschaftlich namhaft gemacht werden: „Gemeinwohl", „öffentliches Interesse" und ähnliche Termini samt ihren Korrelatbegriffen wie „öffentliche Ordnung", „Öffentlichkeit" sind herausragende Beispiele dafür. Geschieht dies auf eine Weise, die einen überschaubaren Zeitabschnitt der politischen und Rechtsgeschichte methodisch mehrspurig, interdisziplinär erforscht, so handelt es sich um einen Glücksfall. Von ihm ist i n bezug auf die Münchner Habilitationsschrift von Stolleis zu berichten. I h r Thema war um so mehr Desiderat der Forschung, als nach den juristischen Arbeiten zum öffentlichen 1 und zum öffentlichen Interesse 2 detaillierte rechtsund zeitgeschichtliche Arbeit zu leisten war. Je differenzierter und gewichtiger die Gemeinwohljudikatur insbesondere des BVerfG w i r d 3 , u m so wichtiger w i r d rechtsgeschichtliche Grundlagenforschung über Möglichkeiten und Gefahren gemeinwohlorientierter Rechtsprechung, ja Gesetzesauslegung überhaupt. Rechtswissenschaft „als" Gemeinwohl Wissenschaft kann zur methodischen Absicherung der sozial- und geistesgeschichtlichen Klärung nicht entraten. Dies um so mehr, als der Zeitfaktor, thematisiert für die Verfassungsrechtswissenschaft insgesamt 4 oder * AöR 101 (1976), S. 292 - 297. Smend, in: GS für W. Jellinek, 1955, S. 17 ff.; U. K. Preuß, Zum staatsrechtlichen Begriff des öffentlichen, 1969 (dazu meine Bespr., AöR 95 [19701, S. 651 ff.); Martens, öffentlich als Rechtsbegriff, 1969; Rinken, Das Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, 1971 (dazu meine Bespr., JZ 1975, S. 38 f.); P. Häberle, Öffentlichkeit und Verfassung, ZfP 16 (1969), S. 273 ff. 2 Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 39, 1968; P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, im folgenden: öff. Interesse. — Zuletzt Steiger, in: FS für H. J. Wolff, 1973, S. 385 ff.; s. auch W. Schmidts Begriff der „latent öffentlichen Interessen", V V D S t R L 33 (1975), S. 183 (217 f.>. 3 Nachw. bis 1970: P. Häberle, AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff.; für die folgenden Jahre: ders., Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl., 1972, S. V, Anm. 1; zuletzt in AöR 99 (1974), S. 437 (444, Anm. 38); BVerfGE 37, S. 1 (18 f., 22), 67 (77), 132 (140), 217 (247, 254). 4 Dazu mein Beitrag Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff. 1

558

Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

spezieller i n seiner Rolle i m Verwaltungsrecht 5 und als „Vorwirkung von Gesetzen" 6 , über das öffentliche und die öffentlichen Interessen spezifisch w i r k t . 2. I n der Einleitung konstatiert St. das Fehlen einer umfassenden Bestandsaufnahme und Analyse der Umstrukturierung einer ganzen Rechtsordnung unter der NS-Parole „Gemeinnutz geht vor Eigennutz" (2). I n der Zeit nach 1945 erleichterte die Vorstellung, das Wort Gemeinwohl stehe für eine unzerstörbare Idee, die Distanzierung von der NSPraxis als „falsch", „mißbräuchlich" oder als Perversion (5). I n zwei Abschnitten untersucht St. Gemeinwohlidee und Rechtsgeschichte (unter den Stichworten: die Gemeinwohlidee i n der Germanistik, das germanisch-deutsche Rechtsdenken i m Schema von Aufstieg, Verfall und Wiederaufstieg, das Gegenbild des römischen Rechts) und Gemeinwohl i n rechts- und sozialphilosophischen Texten (Erik Wolf, W. Sauer, J. Binder, Larenz, „Gemeinwohl" i n der katholischen Soziallehre — die Hirtenbriefe der deutschen Bischöfe am Ende des Kirchenkampfes betonen die Untrennbarkeit des Gemeinwohls vom Sittengesetz und seine Nichtidentität m i t dem Nutzen, 65). Die folgenden Abschnitte sind dem geltenden Recht der NS-Zeit gewidmet: Nach Sach- bzw. Rechtsgebieten geordnet spürt St. der Umsetzung der „Gemeinnutz vor Eigennutz"-Parole aus Punkt 24 des Parteiprogramms nach. Dogmatisch unterscheidet er folgende methodische Möglichkeiten einer Umsetzung (79): „Gemeinnutz vor Eigennutz" als Programm für den Gesetzgeber, unter Ausdehnung auch auf das private Recht, als Richtschnur der Gesetzesauslegung, als Satz des positiven Rechts m i t derogierender Kraft, schließlich: Gemeinwohlformeln als „Generalklauseln". M i t diesem methodischen Rüstzeug befaßt sich St. m i t den Gemein wohlformeln i m Bürgerlichen und Arbeitsrecht (94 ff.), m i t dem Wohl der deutschen Wirtschaft (147 ff., Stichwort: Primat der Industrie?), dem Gemeinwohl i m Aktien-, Kartell-, Agrar-, Energie-, Wasser- und Patentrecht. Umfassende Untersuchungen des Gemeinwohls als Staatszweck (198 ff. — die NS-Staatszwecklehre brachte eine neue Rolle des Volksbegriffs, stellte das „wahre" Gemeinwohl gegen Interessenpluralismus und legitimierte Gemeinwohlkonkretisierung durch Führungsakt), des Gemeinwohls i m Verwaltungsrecht (das Ende des subjektiv-öffentlichen Rechts, Schutz der „Gemeinschaftswerte" durch die Polizei), der Strafe als Dienst am Volk und der Gemeinnützigkeit i m Steuerrecht. Die Schlußbemerkung (295 ff.) gipfelt i n den Thesen von der 5

679. 6

Dazu meine Studie öff. Interesse, a.a.O. (Anm. 2), bes. S. 166, 170, 498, 552,

Ebd., S. 396, Anm. 148; 543 Anm. 149; 486 ff.; Kloepfer, Vorwirkung von Gesetzen, 1974.

24. Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht

559

„Mehrschichtigkeit" der Rechtsordnung (geräuschlose und effektive Transformation des „neuen Geistes" i n die traditionellen Rechtsmassen m i t Gemeinwohlformeln), vom „verdeckten Pluralismus" (interne Machtkämpfe und Interessengegensätze beließen einen faktischen Pluralismus). Schließlich hebt St. hervor, daß die Gemeinwohlformel überwiegend als außer-, ja antirechtliche Kategorie zur Einengung normativer Schutzbereiche des Individuums verwendet wurde. So kam es zu K o l lisionen m i t Gewaltenteilung und normativen Schranken. Die Gemeinwohlformeln wurden als transpersonale Begriffe verstanden, abgelöst von den realen Strebungen der Individuen. Nach St. hat der Nationalsozialismus durch hypertrophe Berufung auf das „Wohl des Volkes" das Potential der Gemeinwohlformeln bis zum letzten Rest des Vertrauens in die Aussagekraft von Worten ausgebeutet. Diese Erfahrung möchte er durch Skepsis gegenüber dem „Gemeinwohl" wachhalten. 3. Zur Kritik: I n doppelter Richtung stellen sich kritische Fragen: zum einen hinsichtlich der Methode, zum anderen i n bezug auf eine allgemeine rechtstheoretische Bewertung von Gemeinwohl und öffentlichen Interessen. a) St. versteht seine Aufgabe als „rechtshistorische" (8), er verzichtet erklärtermaßen auf eine „vorgängige Definition" von Gemeinwohl und beharrt auf einer „Analyse der Wortverwendung" (9). Dieses „rein" rechtshistorische und wortorientierte Arbeiten läßt sich jedoch nicht durchhalten. Immer wieder arbeitet St. die Konturen des NS-Gemeinwohlbegriffs dadurch heraus, daß er (zum Teil aus den Quellen selbst) anderes Gemeinwohldenken anspricht, i n den Stichworten: pluralistisches Demokratie- und Gemeinwohlverständnis (219, 296 ff.), Unterscheidung von öffentlichem und privatem Interesse bzw. Recht (42 f., 80 ff., 124, 180, 223, 279, 300 f.), „Kompromiß" widerstreitender Belange (162, 241), Respektierung der Normativität, Gesetzesbindung und Gewaltenteilung sowie der Freiheitsrechte (197, 241 f., 250, 298), Ablehnung transpersonaler, metaphysischer Gemeinwohlleitbilder, die von außen an die Rechtsordnung herangetragen werden, Typisierung der Umsetzungsmöglichkeiten (79, 236). Und das ist auch gut so! Auch St. hat seine „Vorentscheidung" (s. aber 8 f.). So berechtigt seine K r i t i k an der „Technik der Abschiebung" (5) sowie an der Auffassung ist, der Nationalsozialismus habe „die wahre Gemeinwohlidee mißbraucht" (8), so wenig es ihm um eine Darstellung der „wahren Gemeinwohlidee" geht (8): auch als Rechtshistoriker kann er nicht vorverständnisfrei arbeiten, auch er hat eine Vorstellung vom „rechten Verständnis". Gerade weil er „durch Erschließung der Quellen" seine Skepsis gegenüber den Gemeinwohlformeln auf eine „rationale Basis" stellen w i l l (305), braucht er Vorentscheidung („Ideen"), die angeben, was rational ist. Und dazu gehören

560

Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

auch bewährte Gemeinwohlinhalte und -techniken, wie sie schon das PrOVG 7 erarbeitet hat. Solche wissenschaftlichen Traditionen sind seit 1949 in Gemeinwohlgesetzgebung und -rechtsprechung weitergewachsen. Sofern sie falsifizierbar und „realistisch" bleiben, sich jederzeit der K r i t i k stellen und etwaige Transformationsvorgänge offenlegen, können sie sich zu einem Bestand an „Gemeinwohlrecht" verdichten, das den Hang vernünftiger Sachstrukturen zur Lösung von Problemen i n der Zeit beanspruchen darf. Von hier aus wäre dann das Urteil „Mißbrauch", „Perversion" gegenüber den Erscheinungsformen der NS-Zeit legitim (s. aber 5), ohne daß damit der Vorwurf erkauft würde, man würde wissenschaftstheoretisch unhaltbar von einem quasinaturrechtlichen, „wahren", metaphysischen oder ontologischen Gemeinwohlbegriff aus argumentieren. Das (selbst)kritische Potential solchen Gemeinwohldenkens darf gewiß nicht überschätzt, es darf aber auch nicht unterschätzt werden! Gewiß ist der NS-Gemeinwohlmißbrauch kein bloßer Betriebsunfall — die zugehörige Vorgeschichte ist zu komplex und langwierig, wie St. eindrucksvoll belegt; aber diese NS-Epoche als eine Wirklichkeit gewordene Möglichkeit der geschichtlichen Entwicklungen sollte methodisch auch nicht den Weg zu anderen, durchaus erfolgreich gewesenen Möglichkeiten „rationaler", offener, pluralistischer Gemeinwohlgestaltung versperren. Das Gemeinwohl verwirklicht sich gewiß nicht i n einer A r t „Automat i k " i m Geschichtsverlauf „richtig", aber in freiheitlichen Ordnungen entfaltet es Möglichkeiten, Funktionen, entspricht es Sachstrukturen, die die Schaffung und Entfaltung gerechter Ordnung i m Spannungsfeld von Faktizität und Normativität in der Zeit wesentlich erleichtern. M i t dieser Maßgabe helfen auch Typenkataloge 8 weiter. A l l das ist kein Plädoyer für eine Geschichtsdeutung, die die „Sinnhaftigkeit" des historischen Geschehens voraussetzt (dagegen m i t Recht: St., 9, 27 f.) oder gar Verfalltheorien huldigt (dagegen St., 27, 97), aber ein Stück Sinngebung 9 und Lebensbewältigung, die der Jurist leisten kann; und das, was die „rationale Basis" ist, kann auch nicht ohne Blick auf Geschichtsverläufe und das Denken i n ihnen gesagt werden 1 0 . Gemeinwohltraditionen haben hier ihren Stellenwert, der über das bloße 7 Dazu St., S. 124, 126, 243 ff., 254, 257 und Ρ. Häberle, öff. Interesse, S. 245 ff. s. aber auch Hempfer, Die nationalsozialistische Staatsauffassung in der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, 1974. 8 Dazu P. Häberle, öff. Interesse, a.a.O. (Anm. 2), S. 39 ff.; dazu St., S. 297. 9 Dazu Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 2, 3. Aufl., 1973, S. 320 ff., 344 ff. 10 Zur Tradition des kritischen Denkens Popper, a.a.O. (Anm. 9), Bd. 1, 3. Aufl., 1973, bes. S. 9 ff., 90 ff., 253 ff.; Bd. 2, S. 275 ff.

24. Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht

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durch Worte Verabredete hinausgehen kann, ohne daß m i t „Wesenheiten" argumentiert würde 1 1 . Ein Wort zur rechtstheoretischen Bewertung des Gemeinwohls. M i t großem Recht arbeitet St. die „normzerstörende" Rolle des GemeinnutzSatzes heraus (z.B. 239, 251, 300 f.), die Durchbrechung der Gesetzesbindung unter Berufung auf den Nutzen für die Volksgemeinschaft (252, 256), die schleichende und offene Umstrukturierung, die über Gemeinwohlformeln i m NS-Sinne erreicht wurde (107, 249 f., 264 f., 291, 300 f., 302 f.), die Verwendung von Gemeinwohlformeln als M i t t e l zur Außerkraftsetzung rechtsstaatlicher Sicherungen (241). Dabei kommt indes die andere, „normale" Seite von Gemeinwohlformeln etwas zu kurz: Die positiven Möglichkeiten differenzierter Gemei η Wohlkonkretisierung etwa durch den Richter (ζ. B. die normdifferenzierende), die von i h m einzufangenden Tendenzen sozialen Wandels (die 'Normentwicklung über das öffentliche Interesse) bleiben, bedingt durch die Beschränkung auf das NS-Recht, unterbelichtet 12 . Immerhin: St. spricht die Chancen des Gemeinwohls verdeckt an, ohne sie freilich voll ins Positive zu wenden: So i m Wort von der „gelockerten Normstruktur" zugunsten der Gestaltungsfreiheit der Verwaltung (191 f.), i m Hinweis darauf, daß i m Wasserrecht auch die „zweite Generation" deutscher landesrechtlicher Wassergesetze durchweg an den „gleichen Punkten" Gemeinwohlformeln verwendet wie die erste (189) und i n der Beobachtung, daß i n den positivrechtlichen Konkretisierungen eines öff. Interesses i m Gewerberecht keine dieser Normen von dem unter rechtsstaatlichen Verhältnissen entwickelten Typ von Eingriffsnormen abweicht (255). Hier erfordern sachliche Strukturfragen und Funktionen das Gemeinwohl als Rechtsbegriff. Auf die Positivseite gehört auch die Beobachtung (298), daß die i n älteren Normschichten enthaltenen Gemeinwohlformeln eine „Anwendungstradition und damit Schwerkraft" entwickelt hatten 1 3 , von denen sich selbst der nationalsozialistisch überzeugte Richter oder Verwaltungsbeamte nur schwer lösen konnte. Damit ist die Möglichkeit und Wirklichkeit prätorischen Gemeinwohlmaterials (rechtsstaatlichen Gemeinwohlrechts als Ausdruck rationaler Rechtskultur) angesprochen, das dogmatisch aufzubereiten und 11

Dies zu Stolleis, VerwArch 65 (1974), S. 1 (12). Der Rezensent verdankt Stolleis' Kritik (VerwArch 65 [1974], S. 28) am „Gemeinwohloptimismus" manche Einsicht. Zwischen St.s Gemeinwohlskeptizismus und diesem Gemeinwohloptimismus läßt sich jetzt ein vernünftiger mittlerer Weg finden. 13 Hier bewährt sich H. Lübbes, Wie fortschrittlich ist der Fortschritt noch?, FAZ ν . 1. 2. 1975, Beweislastverteilungsregel: Bis zum Beweis des Gegenteils wird auf die Vernünftigkeit gegebener Zustände und geltender Normen vertraut. Sie darf aber im demokratischen Gemeinwesen nicht zu rigoros gehandhabt werden, weil sonst dessen Sensibilität und Offenheit in Gefahr geraten. 12

36 V e r f a s s u n g

5 6 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

zu verfeinern, i n Entwicklung und d.h. offen zu halten ist und i n den Gesamtrahmen einer demokratischen Verfassungstheorie zum öffentlichen Interesse gehört. „Gemeinwohl", „öffentliches Interesse" usw. sind Kontext-Begriffe par excellence! b) Positiv ist anzumerken: St. erschließt i n vorbildlicher Weise das schwer zugängliche Gemeinwohlmaterial eines totalitären Staates: Er arbeitet gleichermaßen zeit-, rechtsgeschichtlich und juristisch — i n behutsamer Synthese; so skeptisch er gegenüber „Gemeinwohlformeln" ist, so ergiebig sind die Lehren, die dank seiner scharfen Analyse der Pervertierungen i n der NS-Zeit zu ziehen sind. Sie diskreditieren nicht das Gemeinwohl als offenen unverzichtbaren Bestandteil freiheitlicher Rechtsordnungen — das hätte noch deutlicher betont werden sollen —, sondern nur irrationale, verdeckte, „terroristische" Handhabungen (dazu St., 304, 302) i n vor- und undemokratischen geschlossenen Gesellschaften und legen vor allem die Bedeutung des historischen Kontextes (ζ. B. 3, 297), des Maßstabsrechts (der Inhalte) für Gemeinwohlklauseln offen. St. falsifiziert nicht „das" Gemeinwohl, sondern nur eine bestimmte Erscheinungsform, einen konkreten historischen Anwendungsfall 1 4 , freilich einen schwerwiegenden i n der Geschichte der Gemeinwohlvorstellungen und ihren Konkretisierungen. Gewiß sind diese Gefahren latent immer vorhanden, das Bewußtsein für bzw. gegen sie kann gar nicht sensibel genug, die Kautelen können gar nicht griffig genug sein (ζ. B. normüberschreitende Tendenzen, 298), aber sie sind nur so virulent wie Recht zur W i l l k ü r , Freiheit zur Unfreiheit, Pluralismus zum Totalitarismus überhaupt werden können. M. a. W., so wichtig die Herausarbeitung der Schlüsselfunktion des Gemeinnutz-Satzes der NSZeit ist, sie ist nur ein Ausdruck, Symptom und ein Instrument für die totalitäre Umgestaltung einer demokratischen Republik 1 5 . Das ist keine Verharmlosung der unseligen Rolle nationalsozialistischer Gemeinwohlvorstellungen, sondern nur eine sachgerechte Relativierung und Einbettung eines politischen und juristischen Grundbegriffs i n das Gesamtgefüge, „Netz" einer Zeitepoche und ihrer i n juristischen Vorgängen und Inhalten nur zum Teil einzufangenden „multikausalen" Wirklichkeit (Ansätze bei St.: 9 f.). St.s Studie nützt in dreifacher Hinsicht: Sie w i r d zu einem Stück Vergangenheitsbewältigung in bezug auf die NS-Zeit 1 6 und zur Zukunfts14 Er macht insbesondere mißtrauisch gegenüber jenem Rechtsdenken, das von einem „obersten" Rechtsprinzip ausgeht. So fragwürdig „einheitliche oberste Erziehungsziele" in Schulen sind, so fragwürdig sind einheitliche oberste Rechtsprinzipien. 15 Das Strafrecht wurde ohne Einfügung von Gemeinwohlformeln großen Stils umstrukturiert, St., S. 269. 16 Ebenso wie Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968.

24. Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht

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Sicherung; sie macht auch freiheitliche, demokratische Gemeinwohltheorien (selbstkritischer, damit aber auch rationaler, wissenschaftstheoretisch überzeugender und praktisch wirksamer, und sie w i r d zu einem Beitrag zur Methodendiskussion insofern, als rechtsgeschichtliche Forschung als Möglichkeit zur Gewinnung einer „kritischen", „rationalen Basis" (305) verstanden und genutzt w i r d : Rationalität durch Rechtsgeschichte? Wie gelingt der „Sprung" von der Rechtsgeschichte zur Rationalität? Hier öffnet sich ein weites Feld für die Methodendiskussion, aus der auch die Verfassungstheorie zu lernen hätte. Bei St. ist diese Frage noch nicht grundsätzlich verfolgt 1 7 . Vorbildlich ist die Vielzahl der von St. herangezogenen Quellen; gerade weil juristische Gemeinwohlklauseln aus ihrer ambiance „erfüllt" werden, sind nicht nur juristische Gesetzestexte, sondern auch nichtjuristische wie Führer- und Parteiprogramme (76 ff., 93, 290), sind wissenschaftliche Meinungen und Lehre (40 ff.), ja die gesamte gesellschaftliche Situation (9) relevant. So entsteht ein weitgreifendes Filigran der schrecklichen Wirklichkeit einer Diktatur. M i t großer Sensibilität geht St. den Veränderungen i n der „öffentlichen Sprache" nach (ζ. B. 141, 180, 216, 225, 296). Z u den Höhepunkten des Buches gehört die differenzierte Stellungnahme i m wissenschaftlichen Streit zwischen Marxisten und Nichtmarxisten um die Machtstruktur des Nationalsozialismus (148 ff.) und die prägnante Darstellung der katholischen Soziallehre (64 ff.). Schließlich zeigt St erneut, wie unverzichtbar die Scheidung von öffentlich (öffentlichem Interesse) und Privat (privatem Interesse) ist (ζ. B. 221, 279 ff., 301): A l l e Einebnungen vom omnipotent werdenden öffentlichen her und alle Abwertungen des Privaten führen zum totalen Staat, d. h. dorthin, wo Partikularinteressen von vornherein als illegitim gelten, sich „verkleiden" müssen (180, 301). Beispiel ist die Reduzierung des Wortes „öffentlich" zu einer Chiffre für „nationalsozialistisch" (265), wo zur öffentlichen Ordnung alles gehören konnte (249), weil sie zum Moloch wurde. Insgesamt: St.s Buch ist ein herausragender Beitrag zur Rationalisierung und Entideologisierung juristischer Gemeinwohlformeln und zu ihrer Konkretisierung 1 8 . A m NS-Recht als negativem Anschauungsunterricht werden Gefahren, mittelbar aber auch die Chancen von Gemeinwohlformeln sichtbar. Vor Gemeinwohleuphorie bewahrt dieses negative NS-Lehrstück, Anlaß zu grundsätzlichem Gemeinwohlpessimismus gibt es jedoch nicht. Es hängt von der Rationalität, der Differenziertheit und dem verfassungs- und wissenschaftstheoretischen Hintergrund sowie der aufgeklärten pluralistischen Öffentlichkeit ab, wie positiv Ge17 18

3ü*

s. aber seine Hinweise VerwArch 65 (1974), S. 1 (27 ff.). Weiterführungen durch Stolleis, VerwArch 65 (1974), S. 1 ff.

5 6 4 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

meinwohlformeln i n freiheitlichen — demokratischen — Rechtsordnungen wirken können. St. zeigt unübertoffen, wie und was man aus der Geschichte des Gemeinwohls i n der NS-Zeit negativ lernen kann. Es gibt aber auch eine Geschichte von Gemeinwohlformeln, die positives Lehrmaterial bietet: Diese Geschichte ist noch nicht zu Ende, sie ist ein Stück Gegenwart. Der pluralistische demokratische Verfassungsstaat ist ein, ja das Angebot, mit wachem Blick für Gefahren unkontrollierter Gemeinwohlformeln die öffentliche und private Wirklichkeit gemeinwohlgerecht zu gestalten! Dieser Besprechungsaufsatz galt einem damals jungen Autor bzw. seiner „Gesellenarbeit", der Habilitationsschrift von 1974. M. E. muß jeder (formal) „etablierte" Staatsrechtslehrer für Bücher aller Alters- bzw. Karrierestufen sensibel bleiben und sie mit konstruktiver K r i t i k rezensierend begleiten. Die Theorievorgaben für „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft" wurden 1982 erarbeitet (vgl. die gleichnamige Schrift des Verfassers). Auch im Rückblick ist der Verf. dankbar, daß er dieses frühe Buch von Stolleis ausführlich besprechen konnte: nicht allein deshalb, weil ihm der weitere Erfolg des Autors „recht" gab — es kann ja auch Irrtümer und Unrecht geben i m oft genug durch Vermachtungsprozesse bedrohten Vorgang des Rezensionswesens bzw. der Staatsrechtswissenschaft. Vielmehr sind es zwei andere Gründe, die den Rezensenten gerne auf 1976 zurückblicken lassen. Zum einen: M. Stolleis gehört heute zu den führenden Verfassungsjuristen, und er ist der Verfassungshistoriker unserer „ Z u n f t " (vgl. nur: Geschichte des öffentlichen Rechts i n Deutschland, Erster Band 1988, Zweiter Band 1992). Zum anderen: Die Arbeit von M. Stolleis bildet das Teilstück im gesamten Panorama des Forschungsfeldes, das etwa B. Rüthers und andere unter dem Stichwort „Entartetes Recht", 2. Aufl., 1989, abgesteckt haben. Hierzu gehören auch Schuld und Verantwortung der deutschen Staatsrechtslehre (dazu M. Stolleis, RechtundUnrecht, 1994, S. 306 f.: Theodor Maunz — Ein Staatsrechtslehrerleben) . Gemeinwohlformeln kommen auch in neueren Verfassungen schon textlich nicht selten vor (vgl. Art. 12 Abs. 6, 17 Abs. 1 und 2 Verf. Griechenland von 1975; Art. 9, 18 Abs. 2, 62 Abs. 2, 205 Abs. 2, 237 Abs. 2 Verf. Portugal von 1976; Präambel und Art. 38, 51 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978; Art. 14 Abs. 1, 20 Verf. Niederlande von 1983; Art. 1 S. 2 Verf. Guatemala (1985); Art. 69 Verf. Slowenien (1991); Präambel Art. 11 Abs. 2, 88 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992; Art. 28 Abs. 2 Verf. Bern von 1993). Die vom Verf. entworfene „Gemeinwohltypologie ( < (Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 32 ff.) wäre fortzuschreiben. Der vom Verf. 1970 vorgeschlagene Begriff der „Gemeinwohljudikatur" läßt sich der Sache nach auch aus jüngeren Entscheidungen des BVerfG belegen, vgl. etwa E 81, 278 (293 f.); 82, 209 (230); 83, 130 (139); 84, 382 (385); 86, 28 (41 f.); 87, 1 (35 f.); 88, 25 (35 ff.); 90, 145 (172 ff.).

25. Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung* 1. Die Ausgangslage Erscheinungsformen und Legitimation, Voraussetzungen und Grenzen des Mehrheitsprinzips in freiheitlichen Demokratien sind als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung bislang ungewöhnlich vernachlässigt worden 1 . Weder die Demokratisierungsdebatte (etwa zum Hochschulrecht) 2 , noch die Paritätsdiskussion i m Unternehmensverfassungsrecht, noch die Forderung nach einer Zweidrittelmehrheit als Voraussetzung für die Nichtigerklärung eines Gesetzes durch das BVerfG haben eine Grundsatzdiskussion zum Mehrheitsprinzip eröffnet. Das überrascht aus mehreren Gründen: Schon i n der Weimarer Zeit gab es grundlegende staatstheoretische Aussagen zur Problematik des Mehrheitsprinzips 3 , die heutige Betonung der Minderheitsrechte (ζ. B. i m Parlament) 4 hätte ebenso wie die allgemeine Demokratiediskussion und die Relevanz der Mehrheit (der Bekenntnisse) i m Schul- 4 a und Feiertagsrecht zum Thema „Mehrheitsprinzip" führen müssen; spätestens die Schrift von Scheuner hätte das Thema „Mehrheitsprinzip" aus seinem „Dornröschenschlaf" erwecken können 5 . * JZ 1977, S. 241 - 245 mit Nachtrag (1978). * Zu: Scheuner, Ulrich: Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie. Opladen: Westdeutscher Verlag. 1973, 68 S. 1 Hinweise auf die nur spärliche Literatur bei Scheuner, S. 11, 12 f.; ferner: Dagtoglou, Kollegialorgane und Kollegialakte der Verwaltung, 1960, S. 116 ff.; Haymann, in FS für Stammler, 1926, S. 395 ff.; Hesse, AöR 77 (1951/52), S. 167 (191 ff.). 2 Dazu Hans F. Zacher, Hochschulrecht und Verfassung, 1973, S. 51 ff. 3 Vgl. C. Schmitt, jetzt in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 284 f., 294 ff.; ders., Verfassungslehre, 1928, S. 278 ff.; Smend, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 151 f., 221; zuletzt ders., in: Kirchenrechtliche Gutachten aus den Jahren 1946 - 1969, 1973, S. 111 f.; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 8 ff., 53 ff. 4 Dazu H.-P. Schneider, Parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, I 1974, S. 383 f.; Lipphardt, Die kontingentierte Debatte, 1976, S. 90 ff. 4a Vgl. jetzt BVerfGE 41, 29 (46 ff.). 5 Die Rezensionsliteratur (ζ. B. Zeh, in: Der Staat 15 [1976], S. 434 ff.; SchulzSchaeffer, DVB1. 1975, S. 114) ist spärlich und nur stellenweise „anregend" (vgl. etwa H. Huber, AöR 101 [1976], S. 282 ff.). — Einschlägige Entscheidungen des BVerfG: z . B . E 1, 13 (46 ff.), 299 (315); 5, 85 (197 ff.); 6, 84 (91 f.); 12, 319 (324); 35, 148 (160 f., 164 f., 167 f.) — abw. Meinung

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Dieser „Tiefschlaf" des Mehrheitsprinzips als Thema dürfte Anlaß sein zu fragen, was denn die Voraussetzungen für das (Wieder-)Aufgreifen wissenschaftlicher Themen sind — die Prominenz des Autors ist wohl nicht ausschlaggebend: Scheuners Vortrag datiert aus dem Frühjahr 1972, die Druckfassung von 1973. Man sollte glauben, daß „ewigen" oder doch klassischen Themen in Staatstheorie und Verfassungsrecht vor allem durch die politische Entwicklung neue Anstöße vermittelt werden. Das ist zwar häufig der Fall, offenbar blieb aber eine A n t w o r t der Wissenschaft auf politische Herausforderungen der („herrschenden" oder „schweigenden") Mehrheit etwa durch gewisse Minderheiten aus. Ein weiterer Grund für die (Re-)Naissance „großer" Themen könnte darin liegen, daß sie sich zu betont „kontroverser" wissenschaftlicher Behandlung durch die verschiedenen (auch politisch bedingten) „Richtungen" oder „Schulen" eignen — bei den Fragen „Grundrechte", „Staatskirchenrecht", „Öffentlichkeit", „Verfassungs- und Staatsverständnis", „ I n terpretationsmethoden und Verfassungsgerichtsbarkeit" zeigt sich das i n den letzten 25 Jahren besonders deutlich; auffälligerweise beim Mehrheitsprinzip indes (noch) nicht. Obwohl hier, wie Weimar lehrt, durchaus gegenseitig sich befruchtende kontroverse Themenbehandlungen möglich wären. Schweigen bedeutet hier also schwerlich Konsens, es verdeckt eher Dissens, wie die das Mehrheitsthema mitbedingende Grundsatzdiskussion um grundrechtliche Freiheit und Staat einerseits, Folgethemen (wie Sozialstaat und Demokratie) andererseits beweisen. Eine letzte Ursache für das heutige allgemeine Schweigen zur „Mehrheitsfrage" könnte i n der Komplexität dieses Themas liegen; aber sie hat gerade Scheuner i n einzigartiger Weise von den geistesgeschichtlichen Zusammenhängen her aufgehellt. Und andere schwierige Themen scheut man ja sonst keineswegs 6 . Ein Zweck der folgenden Betrachtung ist es, die wissenschaftliche Öffentlichkeit zu fragen, ob das „Liegenlassen" des Mehrheitsprinzips als Forschungsthema trotz seiner politischen Aktualität und der Grundlagenarbeit von Scheuner noch länger verantwortet werden kann. Verfassungsrechtswissenschaft, ja Rechtswissenschaft insgesamt, hat ja nicht nur die Aufgabe, Rechtsfragen des Tages auf Grundsatziragen zurückzuführen, und als „Tagesfrage" hätte das Mehrheitsthema längst entsprechend behandelt werden müssen; die Verfassungsrechtswissenschaft Dr. Simon / Rupp-v. Brünneck; s. noch unten in und bei Anm. 29 f., 39. — Bemerkenswert: Varain, Die Bedeutung des Mehrheitsprinzips im Rahmen unserer politischen Ordnung, ZfP 11 (1964), S. 239 ff.; Scholz, Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 374 ff., freilich mit einer Ausformung des Mehrheitsprinzips zur bloßen „Verfahrenstechnik" (378). 6 Bliebe der Zufall als Erklärung für die Vernachlässigung des Themas. Er hat in der Wissenschaftsgeschichte bekanntlich durchaus schon eine Rolle gespielt.

25. Das Mehrheitsprinzip

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müßte wohl auch dazu übergehen, Grundsatzfragen rechtzeitig und regelmäßig „neu" auf „Vorrat" zu erörtern, um nicht von politischen Entwicklungen unvorbereitet überrollt zu werden 7 (Verfassungslehre als „wissenschaftliche Vorratspolitik"!). Zugleich wäre zu überlegen, ob und wie sich „sterbliche" Mode- und Eintagsthemen von „unsterblichen" klassischen Themen i n der Jurisprudenz unterscheiden lassen: das Mehrheitsthema jedenfalls ist spätestens durch Schexiner als klassisches Thema ausgewiesen. Gibt es etwa eine stillschweigende herrschende Meinung darüber, wann die „Zeit reif ist", ein Thema aufzugreifen? K o m m t sie durch Mehrheitszählung oder Gewichtung zustande? Kaum! Denn unter dem GG ist der Wissenschaftsprozeß für Minderheitsvoten bzw. -themen und „Außenseiterideen" auch i n der Praxis offen genug. 2. Die Grundlegung durch Scheuner Scheuners Untersuchung gliedert sich i n die Abschnitte: Das Mehrheitsprinzip als politisches Formprinzip. Die Durchsetzung des Mehrheitsprinzips i n der älteren europäischen Verfassungsgeschichte. Die Ausbildung der modernen nationalen Repräsentation und das Mehrheitsprinzip, Voraussetzungen und Grenzen des Mehrheitsprinzips i n der Demokratie. Seine wichtigsten Ergebnisse (Zusammenfassung S. 62 f.) lauten: Das Mehrheitsprinzip kann nur dort eine legitimierende W i r kung entfalten, wo unter den Abstimmenden Gleichheit besteht (9), es steht i n erkennbarem Gegensatz zu den Formen ständisch-korporativer Willensbildung (9, Beispiel: Die Paritäten i n der modernen Hochschulgesetzgebung, 29 f.); Voraussetzung ist, daß sich die Minderheit dem Mehrheitsbeschluß i n dem Vertrauen unterwirft, daß gewisse Grundlagen gemeinsamer Rechtsetzung bzw. politischer Wertung beachtet werden und die Mehrheitsbildung eine offene ist (9 f.); zum wesentlichen politischen Formprinzip w i r d der Mehrheitsentscheid erst i n der Neuzeit i n Verbindung m i t dem Aufstieg repräsentativer Versammlungen (10, 16), obwohl die Formel der Majorität nicht an eine bestimmte Staatsform geknüpft ist (13); die Verbindung des Mehrheitsprinzips m i t der repräsentativen Demokratie ist innerlich begründet (42), das Mehrheitsprinzip bleibt auch i m Rahmen des demokratischen Gemeinwesens ein „Teilelement einer auf weiter gespannten Grundlagen beruhenden Ordnung" (45); außerhalb der politischen Sphäre kann das Mehrheitsprinzip nicht einfach übernommen werden (46), ζ. B. ergibt sich die Gleichheit der Stimmen bzw. die Mehrheitsbildung i n richterlichen Kollegien nicht aus politischer Gleichheit, sondern aus der Identität der Aufgabe der Rechtsfindung („funktionelle Ableitung", 9), bei der die Anwendung der 7 Man denke an die verborgene Sprengkraft des Satzes „Mehrheit ist Mehrheit".

5 6 8 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Mehrheitsentscheidung nur ein formales Mittel ist, um zu einem Ergebnis zu gelangen (47); bei richterlichen Urteilen, wissenschaftlichen Gremien oder Beschlußfassungen über unpolitische Sachfragen ist es das Sachgewicht der Entscheidung, nicht das Stimmgewicht, das auf die Dauer wesentlich w i r d (49), ζ. B. kann i m Bereich der wissenschaftlichen Forschung bei der Gewinnung von Erkenntnissen nicht auf das quantitative Element der Mehrheitsbildung abgestellt werden (8); neben der Gleichheit („Gleichsetzung aller Bürger") ist das Bestehen des „festen rechtlichen Bandes" (heute: die Verfassungsordnung) legitimierende Voraussetzung des Mehrheitsprinzips (54); schließlich ist die A n erkennung einer Pluralität der „Anschauungen und Parteiungen" erforderlich (57, 10). Grenzen des Mehrheitsprinzips sind die Erhaltung der gemeinsamen Grundlagen des Konsenses der politischen Gemeinschaft („nationaler Konsens", 62), die Existenz ständiger Minderheiten (60) und als „besondere Form der Behandlung sozialer Unterschiede" die Parität der Sozialpartner (Art. 9 Abs. 3 GG, 61); eine Grenze gilt auch für Fragen, die „außerhalb der politischen Entscheidungszone" liegen (61 f.). Wo es an der organisierten Gestaltung der Gemeinschaft noch fehlt (wie i n der internationalen Staatengesellschaft), kann das Mehrheitsprinzip nur begrenzt gelten (63).

3. Zur K r i t i k an Scheuner Die folgenden Zeilen können und wollen nur einige Anregungen für die künftige Diskussion auf der Basis der Scheuner sehen Arbeit geben. a) Zunächst zur methodischen Behandlung. Scheuners Aufarbeitung des Themas ist i m Ansatz geistesgeschichtlicher und geisteswissenschaftlicher A r t . Selbst konkrete Quellenarbeit w i r d geleistet, all dies auf dem neuesten Stand, unter Einbeziehung auch ausländischer Literatur: vom Mehrheitsprinzip i n der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit bei so verschiedenen Autoren wie Aristoteles, Cicero, Marsilius von Padua, Hobbes, Rousseau, Madison , Gierke , G. Jellinek und Herbert Krüger 8. Diese Aufbereitung dürfte als solche grundlegend sein. Die Frage ist, ob dem ideengeschichtlichen Nachspüren i n bezug auf das Werden des Mehrheitsprinzips jetzt nicht eine sozialgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Untersuchung zu folgen hätte, i m Sinne von Fragestellungen wie: welches waren die realen Bedingungen für die Durch8 Man vermißt allenfalls das (für den deutschen Idealismus kennzeichnende?) Wort von Friedrich Schiller aus Demetrius (1. Aufzug, 1. Szene): „Was ist Mehrheit? Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen, Bekümmert sich ums Ganze, wer nichts hat? Hat der Bettler eine Freiheit, eine Wahl?" s. auch ders., Maria Stuart, 2. Aufzug, 3. Auftritt: „Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe".

25. Das Mehrheitsprinzip

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setzung und Ausdehnung des Mehrheitsprinzips 9 , welche wirtschaftlichen und politischen Interessen standen dahinter, welches sind die „soziologischen Grenzen" des Mehrheitsprinzips heute, welche Interessenlagen und Entscheidungsprozesse fordern welche Einzelausformungen des Mehrheitsprinzips? Hier ist auch die Entscheidungstheorie angespochen 93 , wie überhaupt dank der Frage nach der Aufgabe des Mehrheitsprinzips der Blick auf die Notwendigkeit von Entscheidungen i n Staat und Gesellschaft frei wird. Neben der geistesgeschichtlichen (einschließlich der wissenschaftsgeschichtlichen!) und der sozialwissenschaftlichen „Spur" zur Behandlung des Themas „Mehrheitsprinzip" dürfte eine dritte unverzichtbar sein: die typisierende Bestandsaufnahme der i n der heutigen Rechtsordnung unter dem GG oder/und — rechts- und verfassungsvergleichend darüber hinausgreifend — i n anderen Rechtsordnungen vorkommenden Arten und Begrenzungen des Mehrheitsprinzips. Diese Typologie seiner rechtlichen Erscheinungsformen w i r d so verschiedene Rechtsgebiete umfassen wie das Privatrecht 1 0 , das Gerichtsverfassungsrecht (§§ 195 ff. GVG), das Kirchen- und Kommunalrecht, das Verfassungs- sowie das Europaund Völkerrecht. Vor diesem Hintergrund stellen sich Grundsatzfragen wie: Gibt es spezifische sach- bzw. rechtsgebietsbezogene Erscheinungsformen des Mehrheitsprinzips, etwa i n der Behandlung von Minderheitsproblemen, hängen sie m i t der unterschiedlich starken Zuordnung zur — politischen — Verfassungsordnung zusammen? Welches sind die sachlichen Gründe für Abstufungen des Mehrheitsprinzips, welches ist die juristische K r a f t von Enthaltungen (in welchen Gremien m i t welchen Folgen?) 11 , wo und wie lassen sie sich begründen (in parlamentarischen Gremien: ja, i m Verwaltungs- und Rechtsprechungsbereich aus funktionellen Gründen: nein)? Ist das Mehrheitsprinzip auch heute noch „ i m Kommen", dehnt es seinen Anwendungsbereich ständig aus oder gibt es auch gegenläufige Bewegungen (ζ. B. Konsens, Paritäten oder Proporz) bzw. sind sie, wo nicht vorhanden, zu fordern? Erst aus dieser „Trias" der geistesgeschichtlichen, der sozialwissenschaftlichen und der rechtstypologischen 9 Ansätze bei Scheuner, z. B. S. 16 Anm. 34, S. 19 Anm. 52. — Hierher gehört auch die Frage, welche Rolle bloß negative „destruktive" Mehrheiten gespielt haben und wie und mit welchen Erfahrungen ihnen die Rechtsordnung begegnen will (vgl. Art. 67 Abs. 1 GG) oder die Frage, ob die Einführung des Mehrheitsprinzips in sozialen Körpern Gleichheit nicht nur voraussetzt, sondern bis zu einem gewissen Grade herstellt. ®a Vgl. Fach, Demokratie und Mehrheitsprinzip, ARSP 61 (1975), S. 201 ff. 10 Zur Geschichte des Mehrheitsprinzips vgl. Baltzer, Der Beschluß als rechtstechnisches Mittel organschaftlicher Funktion im Privatrecht, Diss. M a r burg 1964, S. 186 ff. 11 Dazu Dagtoglou, a.a.O., S. 136 ff.

5 7 0 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Annäherung an das Problem „Mehrheitsprinzip" lassen sich die heutigen Grundsatzfragen verfassungstheoretisch stellen und (vorläufig) beantworten. b) Für die Diskussion i n der Sache gibt Scheuner vielfältige Impulse, gelegentlich auch Anlaß zu kritischen Fragen. Zuzustimmen ist seiner These, gerade die Uberprüfung der Theorie des demokratischen Staates verlange eine Einbeziehung des Mehrheitsprinzips (7) 12 . Dieser Hinweis auf die staatstheoretische Perspektive — offenbar bedarf der moderne Staat der Notwendigkeit zu Entscheidungen wegen des Mehrheitsprinzips — zeigt, daß das Mehrheitsprinzip vor allem demokratietheoretisch zu erörtern ist 1 3 . Der „Einstieg" i n die verfassungstheoretischen Probleme des Mehrheitsprinzips liegt i n der Erkenntnis, seiner Anwendung gehe die „grundsätzliche Ubereinkunft über die gemeinsame Basis der Verfassung voraus (unter Hinweis auf Lockes Sozialkontrakt) 14 . Dabei w i r d eine das Mehrheitsprinzip bedingende Grenze — der Minderheitenschutz — als soziologische und verfassungsrechtliche Grenze sichtbar. Insofern ließe sich von den „konstitutionellen" Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips sprechen: Erforderlich ist der Konsens über das Grundlegende, Gemeinsame, das eben i n der Verfassung zum Ausdruck gebracht ist. (Zugleich w i r d der theoretische Zusammenhang zwischen Sozialvertrag und Verfassung sichtbar.) Soziologisch gesehen heißt dies, daß die Anerkennung der Mehrheit stets einen „bereits geformten sozialen Körper voraussetzt" (22), eine Homogenität 15 . Das führt zu der Frage, welche Sachbereiche gerade von Verfassungs wegen keiner Abstimmung (und damit auch nicht dem Mehrheitsprinzip) zugänglich sind, ζ. B. Fragen der Wissenschaftsfreiheit, und wie sich diese Bereiche, etwa in Religionssachen, verändern 16 , und zwar aus politischen Gründen 1 7 . Die Grenzen des Mehrheitsprinzips sind offenbar variabel! 12 Siehe auch S. 34: Hinweis auf die Unentbehrlichkeit des Mehrheitsprinzips für ein neuzeitliches Staatswesen am Negativbeispiel Polens. 13 Vgl. BVerfGE 29, 154 (165): „Zu den fundamentalen Prinzipien der Demokratie gehört das Mehrheitsprinzip". 14 Vgl. Scheuner, S. 10, 55; S. 42 spricht er von einer „vorbestehenden höheren Rechtsordnung der Gesamtheit" als Voraussetzung für die Geltung des Entscheides des Majorität für alle. 15 Scheuner, S. 54: Die Anwendung des Mehrheitsgrundsatzes bleibt an eine vorgeformte und fortbestehende Einheit gebunden; S. 55: „Rückbeziehung" des Mehrheitsprinzips auf den allgemeinen Konsens; S. 62: Mehrheitsgrundsatz bleibt an den „Bestand eines nationalen Konsenses (Verfassungsordnung) gebunden". s. auch Varain, ZfP 11 (1964), S. 239 (244 f.). — Verfassung ist eine „Geschäftsordnung" für die demokratische Opposition. 18 Ist heute Demokratie eine Schranke kirchlicher Freiheit und umgekehrt (im Blick auf Art. 140 GG, 137 Abs. 3 WRV)? 17 Dazu für das Deutsche Reich: Scheuner, S. 28 Anm. 95.

25. Das Mehrheitsprinzip

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So unverzichtbar ein Mindestmaß an sozialer Homogenität und ideellem Konsens ist, das Mehrheitsprinzip setzt zugleich voraus, daß gerade verschiedene Auffassungen möglich sind (Scheuner, 14, 55), daß die Mehrheiten wechseln (können), das heißt, es setzt Pluralismus und Toleranz, die Offenheit der politischen Meinungs- und Willensbildungsprozesse voraus, die zur Entscheidung führen 1 8 (Zusammenhang zwischen Mehrheit und Pluralismus) 19 . Ergiebig ist schließlich die Betonung der Zusammengehörigkeit von Mehrheitsprinzip bzw. Demokratie und Gleichheit (18, 19 f.); auf sie w i r d auch sonst aufmerksam gemacht 20 . Damit ist auf das Problem Mehrheitsprinzip/Freiheit verwiesen 2 1 ; es zeigt sich aber auch, daß die das Mehrheitsprinzip begrenzende Minderheit grundrechtlich zu legitimieren ist 2 2 . Zugleich öffnet sich der Blick für das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit, das sich dem Mehrheitsproblem vermittelt. Dogmatisch stellt sich die Frage, ob und wie das Mehrheitsprinzip i n Anwendungsbereich und Grenzen grundrechtstheoretisch (grundrechtlich) zu begründen ist 2 3 . Zweifel bestehen hinsichtlich Scheuners These von der Nichtanwendung des Mehrheitsprinzips auf Fragen, die „außerhalb der politischen Entscheidungszone" liegen (61). Er hält es für unübertragbar auf Bereiche, i n denen sich die Beteiligten i n einem „nichtpolitischen Räume aufgrund personaler Beziehung oder geistiger oder erzieherischer Einw i r k u n g begegnen" (48). Was heißt aber „politische Entscheidungszone", ist sie nicht historisch wandelbar? Und: Welches sind die (wie begründeten?) alternativen Entscheidungsformen zum Mehrheitsprinzip: Konsens, Proporz usw.? Die letzten privaten Schutzzonen müssen gewiß dem Mehrheitsprinzip entzogen bleiben, doch liegt zwischen ihnen und der „politischen Entscheidungszone" ein weiter Bereich, der dem Mehrheitsprinzip zugänglich werden kann, ggf. i n Verbindung m i t seinen Gegenformen. Z u fragen ist auch, ob sich Wirtschaft und Erziehung sowie 18 Erkennbar am Gegenstandpunkt Rousseaus, der Gegner des Mehrheitsprinzips war, dazu Scheuner, S. 43 f. 19 Dazu Scheuner, S. 57: Anerkennung einer Pluralität der Anschauungen oder Parteiungen, Offenheit der Entscheidung. S. 61 f.: Innere Verbindung der Anwendung des Mehrheitsprinzips mit der Offenheit einer pluralistischen politischen Gesellschaft. 20 Vgl. etwa Herzog, Art. „Mehrheitsprinzip", Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1547 (1549); Schelter, Demokratisierung der Verbände? 1976, S. 113. 21 Dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 1976, S. 57 ff.; Varain, ZfP 11 (1964), S. 239 (246) unter Hinweis auf Kelsen. 22 Vgl. als Beispiel für den Zusammenhang von Freiheitsrecht und Minderheitenschutz: BVerfGE 35, 366 (376). 23 Angedeutet wohl in Scheuners Hinweis auf das Mehrheitsprinzip als „empfindliche Kompaßnadel" für „Abweichungen von der Basis der Gleichheit und Freiheit" (S. 45).

5 7 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

andere Gebiete w i r k l i c h dem Mehrheitsprinzip so entziehen und wenn ja, warum (62) 24 . Fragwürdig erscheint Scheuners These, die Mehrheitsbildung innerhalb richterlicher Kollegien stehe ohne Beziehung zur demokratischen Legitimierung (47). Kann das i m Blick auf die über das Parlament bzw. die Parteien den Bundesverfassungsrichtern vermittelte demokratische Legitimation auch für das Bundesverfassungsgericht so gesagt werden? Der politische Prozeß einerseits, der richterliche Prozeß der Entscheidungsfindung andererseits unterscheiden sich gewiß. Scheuner sjtellt jedoch die „Suche nach Erkenntnis", die „soziale und ethische Wertung" hier und die politische Willensbildung i n demokratischen Vorgängen dort einander schroff gegenüber (48 f.). Indes ergeben sich vorletzte und letzte Wahrheitsfragen sowie sozial-ethische Wertungen auch und gerade i n parlamentarischen Körperschaften, die — „unter" dem Grundgesetz — insoweit nicht dem (verfassungs-)richterlichen Handeln gegenüber gestellt werden können. Schließlich: „Sachgewicht der Entscheidung" als Merkmal richterlichen Judizierens 25 und wissenschaftlichen Arbeitens kann nicht wie bei Scheuner (49) den Vorgängen i m politischen Bereich konfrontiert werden. Hier gibt es doch wohl mannigfache Überschneidungen. Fraglich ist, ob man sich des „liberalen Glaubens an eine harmonisierende Wirkung rationaler Diskussion" entschlagen muß (so 59), um so mehr dann, wenn man m i t Scheuner (14) zu Recht die Anwendung des Mehrheitsprinzips „an eine gewisse Rationalität der Entscheidungsfindung" geknüpft sieht. Der mündige Bürger bleibt ein Leitbild des GG; dessen Öffentlichkeitsanforderungen leben aus und i m Blick auf Rationalität. Ferner: Ist das Mehrheitsprinzip i n seinen unterschiedlichen Gestalten nach alldem w i r k l i c h so formal wie Scheuner meint? 2 6 — präjudiziert es doch materiell ungewöhnlich stark und w i r d es dodi selbst materiell präjudiziert: z.B. durch den Verfassungsrahmen. Das Mehrheitsprinzip ist — „relativ" und begrenzt verstanden — eine Konsequenz der offenen Gesellschaft 27 . Es bleibt Raum für andere Entscheidungsmodi wie Konsens (Einstimmigkeit) und Proporz. 24 Darum dürfen „unpolitische" (?) Sachstrukturen nicht voreilig und kategorisch als Grenze postuliert werden (s. aber 49, 61). Auch sie sind flexibel. 25 Zustimmung verdient der Gedanke der „Gleichgewichtung der Minderheit im Richterkollegium" (48), der im Sondervotum für das BVerfG übernommen wurde (Betonung des „beweglichen, der Berichtigung offenen Charakters der Rechtsfindung", 48). 28 Zuletzt in V V D S t R L 33 (1975), S. 122. s. dagegen Scheuners eigenen Hinweis auf Lauterpacht: Diskussionsbeitrag in: V V D S t R L 16 (1958), S. 125. — Varain, ZfP 11 (1964), S. 239 (245): „nicht nur von formal-instrumentalem Charakter". 27 Siehe die Zuordnung zur gemäßigten Demokratie: Scheuner„ S. 62.

25. Das Mehrheitsprinzip

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4. Umrisse eines Forschungsprogramms Für die Zukunft bedarf es einer betont systematisierenden Behandlung des Mehrheitsprinzips, seiner Voraussetzungen und Grenzen aus dem Ganzen der Verfassung, d. h.: deren Grundprinzipien sind i n ihren — oft ambivalenten — Verknüpfungen m i t dem Mehrheitsprinzip offenzulegen: Freiheit, Gleichheit, pluralistisches (konstitutionelles) Demokratie- und Gemeinwohlverständnis. Im einzelnen: Die grundrechtliche Freiheit ist Bedingung des Pluralismus, beide verlangen das — differenziert verstandene — Mehrheitsprinzip; die Grundrechte schützen zugleich die Minderheit vor der Mehrheit. Die Gleichheit ist m i t dem Mehrheitsprinzip, wie von Scheuner nachdrücklich gezeigt, verknüpft. Dem Mehrheitsprinzip ist i n der freiheitlichen — gemäßigten — Demokratie der Minderheitenschutz i m manent. Die Mehrheit ist keine absolute Größe 28 . Weder hat die Mehrheit immer recht, noch hat sie das „richtige Bewußtsein"; sie kann (wie die Minderheit) zum Tyrann werden 2 9 . Die der Mehrheitsbildung vorausliegenden Prozesse 30 werden i n ihrer Elemente der Minderheit aufnehmenden (kompromißbegründenden) Kraft relevant. Die Mehrheit ist nur „vorläufig": eine Mehrheit auf Zeit; die heutige Mehrheit ist potentiell die Minderheit von morgen und umgekehrt 3 1 . Die Garantien für die Offenheit, für die reale Möglichkeit zum Wechsel machen das Mehrheitsprinzip erst erträglich 3 2 und den Kompromiß möglich. Die „Front" zwischen Mehrheit und Minderheit muß flexibel sein; wo sie auf Dauer erstarrt, ist das Ganze i n Gefahr. A u f diese Weise w i r d das Mehrheits^ prinzip zu einer Garantie für die Innovationsfähigkeit i m politischen Gemeinwesen. Durch i m Laufe der Zeit wechselnde Mehrheiten kann sich Neues geltend machen (Alternativenoffenheit des Gemeinwesens). 28 Vgl. Bäumlin, Art. „Demokratie", Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 362 (365) für den Mehrheitsbeschluß. 29 Zu (Mißbrauchs-)Grenzen der Mehrheit(s-Beschlüsse), z. B. BVerfGE 1, 208 (238); 10, 4 (13); 14, 263 (279, 283, 285); s. aber auch E 12, 354 (363). Zu Art. 4 GG als Grenze demokratischer Mehrheitsbeschlüsse: BVerfGE 41, 29 (48). 30 Dazu BVerfGE 5, 85 (198 f., 224); 2, 143 (161 ff.), S. 161 ebd.: „Mehrheit und Minderheit sind nur politische Kräfte innerhalb der parlamentarischen Körperschaft". 31 Das gilt auch für die verfassungsgerichtliche Interpretation (vgl. § 30 Abs. 2 BVerfGG) und das Gewicht, das die Minderheit durch die Publizität gewinnt. 32 Vgl. BVerfGE 2, 1 (13): „jeweiligen (!) Mehrheit"; E 5, 85 (199): „Da die Mehrheit immer wechseln k a n n . . . " . — Hier wird eine neue Gewaltenteilung sichtbar: die zwischen wechselnder Mehrheit und wechselnder Minderheit, ein Wechselverhältnis, das der Theorie und Praxis einer offenen pluralistischen Ordnung entspricht. Minderheiten wirken konstitutiv und sie sind konstitutionell, sie bleiben die „Möglichkeit" (dazu mein Beiti ag in AöR 102 [1977], S. 27 ff.).

5 7 4 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Alldem entspricht eine pluralistische, offene (prozessuale) Gemeinwohltheorie der Praxis 3 3 . Auf sie ist das freiheitliche Gemeinwesen und dieses ist auf das — relativierte — Mehrheitsprinzip angewiesen, weil nur so — i n langen und komplexen Prozessen — das Gemeinwohl partiell und höchst vorläufig normativ verdichtet und entschieden werden kann, wie dies die freiheitliche Rechtsordnung einer pluralistischen Gesellschaft verlangt. Das Mehrheitsprinzip ist insofern — wie die Grundrechte — für eine freiheitliche Demokratie unverzichtbar. Mehrheiten müssen wechseln können, nur dann sind sie erträglich. Quantitative (bzw. qualitative) Abstufungen des Mehrheitsprinzips 34 (ζ. B. in § 15 Abs. 2 S. 2, 3, 4 BVerfGG) müssen jeweils nach dem Gegenstand, von der Sache her gefordert sein.Verfassungs- und Gesetzgebungspolitik stehen damit vor wichtigen Aufgaben. Aber schon das geltende Recht arbeitet hier sehr bewußt, die scheinbar formalen Abstufungen sind von großem sachlichen Gewicht: Man denke an die „qualifizierte" Zweidrittelmehrheit bei Verfassungsänderungen 35 i m Blick auf den tangierten Verfassungskonsens (vgl. §§ 6 Abs. 5, 7 BVerfGG), bei der Richteranklage (Art. 98 Abs. 2 GG), i m Verteidigungsfall (Art. 115 a, e, h GG), bei der Selbstauflösung des Bundestags 36 oder beim Ausschluß der Öffentlichkeit des Bundestags (Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG) sowie i m Kommunalrecht (§ 21 Abs. 1 S. 1 Bad.-Württ. GemO). Aus der jeweiligen positivrechtlichen Regelung lassen sich bedeutsame Rückschlüsse für Rang- und Interpretationsfragen der betreffenden Grundsätze ziehen (ζ. B. für das Öffentlichkeitsprinzip i n einer demokratischen Ordnung sowie für die Qualifizierung von §§ 6 Abs. 5, 7 BVerfGG als materielles Verfassungsrecht) 37 . „Hinter" bzw. „ v o r " dem Verfassungskonsens steht die soziale Homogenität der Bürger und Gruppen i n einem Gemeinwe33 Dazu Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl. 1973, S. 197 ff.; Ρ. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, passim, bes. S. 60, 87 ff., 101 f., 708 ff., dazu Scheuner, S. 58. 34 Gleiches gilt für die (korrespondierenden) Abstufungen des Minderheitsbegriiis: z. B. Art. 41 Abs. 1 S. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen (Einfünftel-Erfordernis bei Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses), Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG verlangt ein Viertel der Mitglieder des Bundestags. Vgl. auch Art. 68 Abs. 1 Verf. Nordrhein-Westfalen : ein Fünftel-Erfordernis bei Volksbegehren, Art. 29 Abs. 2 S. 3 GG verlangt ein Zehntel, s. auch Art. 96 Verf. Saarland: Eindrittel-Erfordernis bei Ministeranklagen. — Vgl. noch §§ 24, 93 a Abs. 3 BVerfGG (Einstimmigkeit). 35 Dazu aber die Kritik von C. Schmitt, in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 294 f.; richtig Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 180 f.; weitere Beispiele ebd. S. 201, 210. — Beispiele für Dreiviertel-Mehrheiten : Art. 85 Abs. 1 Verf. Bremen; Art. 13 Abs. 2 Verf. Hamburg. 38 Vgl. auch Art. 71 Abs. 1 Verf. Saarland; s. aber auch Art. 18 Abs. 1 Verf. Bayern, s. jetzt die im Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform vorgeschlagene Zweidrittel-Mehrheit (vgl. Stern, ZRP 1977, S. 12 [14]). 37 Dazu P. Häberle, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit, 1976, S. 1 (5).

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sen. Sie kann zur „soziologischen Grenze" des Mehrheitsprinzips werden. Daher stellt sich die Frage: welches Maß an ideellem Konsens und sozialer Mobilität verlangt das Mehrheitsprinzip, welches Maß an Dissens schließt das Mehrheitsprinzip aus? Das Mehrheitsprinzip steht „zwischen" Konsens und Dissens, politischer Einheit und Pluralismus. Z u entwickeln sind rechtspolitische Maximen für eine optimale Ausgestaltung der Erscheinungsformen des Mehrheitsprinzips i n den Teilgebieten der Rechtsordnung. Hierher gehören Fragen der 5 °/o-Klausel, das sog. „mehrheitsbildende Wahlrecht", die Behandlung von Pattsituationen (z. B. § 37 Abs. 6 S. 4, 2. Halbsatz Bad.-Württ. GO) unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit eines Gremiums bzw. der Grenzen einer Funktion (vgl. § 15 Abs. 2 S. 4 BVerfGG). Es ist genau zu untersuchen, was i n welchem Ausmaß (unter welchen Quoren) mehrheitsfähig ist und wie es um beratende Stimmen steht (vgl. § 73 Abs. 5 GeschOBT). Z u überprüfen wäre auch, ob und wo das Mehrheitsprinzip ohne sinnvolle Alternativen ist, wo Möglichkeiten der Koppelung m i t (Gegen-) Formen des Konsenses und Proporzes bestehen 38 . I n einem funktionellrechtlichen Ansatz wäre zu erörtern, wo und inwieweit Vermittlungsund paritätisch besetzte Ausschüsse (sowie „beratende Stimmen") hilfreich sein können bzw. wann sie dem „scharfen Messer" einer Mehrheitsentscheidung vorgeschaltet werden sollten (als Vorverfahren des Mehrheitsentscheids). Vordringlich bleibt zu untersuchen, wann sich jemand (mit welchen Konsequenzen) w i r k l i c h freiwillig der Mehrheitsentscheidung „unterw i r f t " 3 9 , wann und i n welchen verfassungsrechtlichen Grenzen der demokratische Gesetzgeber Privaten (Gruppen) oder „großen" einzelnen das Instrument der Mehrheitsentscheidung zur Verfügung stellen darf, mit dem diese über andere Private „verfügen" 4 0 : ein Problem der D r i t t w i r k u n g von Grundrechten, das i n vielfältigen Mitbestimmungs- und Paritätenregelungen (z. B. in den Hochschulen und i n der Wirtschaft) aktuell w i r d und zu grundrechtlichen Minderheitenschutzproblemen führt, die der Gesetzgeber durch viel Phantasie für „organisatorische 38

z. B. kennt die Hessische Verfassung (Art. 50 Abs. 1) „Gesetz oder Vereinbarung" als Instrumente zur Abgrenzung der staatlichen und kirchlichen Bereiche (Hervorheb. vom Verf.). 39 Für die Mitglieder einer politischen Partei vgl. BVerfGE 7, 63 (71). 40 Vgl. das Problem der Mehrheitsumwandlung im Aktienrecht: BVerfGE 14, 263 (279, 283, 285); v. Falkenhausen, Verfassungsrechtliche Grenzen der Mehrheitsherrschaft nach dem Recht der Kapitalgesellschaften, 1967, bes. S. 103 ff., 203 ff. — s. auch die Detailregelung des § 197 GVG, durch die der Gesetzgeber weit in das Abstimmungsverfahren eingreift. — Zu grundrechtlich gebotenen Abstufungen und Differenzierungen, insbesondere aus funktionellen Gründen, vgl. BVerfGE 35, 79 (138 ff.) ; dazu Oppermann, JZ 73, 433; zu gesetzlichen Aufgaben im Blick auf Pattsituationen: BVerfG, ebd., S. 142 f.

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Vorkehrungen" (BVerfGE 35, 79 [143]) zu lösen hat. Hier drohen schwer zu schlichtende In-sich-Konflikte von Grundrechten, aber auch F r i k tionen zwischen demokratisch begründeten (öffentlichen) Positionen einerseits, (privaten) Grundrechten andererseits. Das Hochschulurteil des BVerfG (E 35, 79 ff.) ist i n dieser Hinsicht noch keineswegs voll erschlossen. Glanz und Elend, Tauglichkeit und Begrenztheit des Mehrheitsprinzips als (scheinbar) „technisches" M i t t e l zur Lösung von Grundrechts- oder Rechtskonflikten i m öffentlichen und privaten („staatsfernen") Bereich bleibt ein großes Thema. Die „latente" Grundrechtsgefährlichkeit, ja -feindlichkeit des Mehrheitsprinzips als Bestandteil von „Organisationsnormen" w i r d offenkundig, seine „Ambivalenz" i n bezug auf die grundrechtliche Freiheit greifbar. Der Mehrheitsentscheid kann sich als grundrechtswidrige Fremdbestimmung erweisen, so sehr er auch „Grundrechtserfüllung" sein kann und oft ist. Mehrheiten i m gesellschaftlichen (öffentlichen) Bereich (der Hochschulen, des Wirtschafts- und Arbeitslebens) vermögen heute so gefährlich zu werden wie Mehrheiten i m (engeren) staatlichen Bereich (z.B. des parlamentarischen Gesetzgebers). M. a. W.: Das Mehrheitsprinzip ist vor weiteren künftigen rechtspolitischen Ausformungen zunächst einmal i m Blick auf das Problemfeld von „Staat und (konstitutioneller) Gesellschaft" (bzw. Gruppenmacht und Individuum) zu untersuchen. Diese Aufgabe der Wissenschaft ist vordringlich, insbesondere muß sich die so weit verfeinerte Grundrechtsdogmatik auf das Mehrheitsthema i n der angedeuteten Weise „ein-" und „umstimmen": angesichts des Standes des Themas „Grundrechte und Organisationsnormen" eine naheliegende Aufgabe. Sie dürfte ein Paradebeispiel dafür sein, was die Wissenschaft der Gesetzgebung als Gesetzgebungslehre vermitteln könnte: denn vor allem dem demokratischen Gesetzgeber sind Lösungsmodelle für das genannte Problem (Gruppenherrschaft über bzw. gegen Grundrechts-„Träger" via Mehrheitsentscheid) vorzulegen. Oder anders formuliert: Der Staat als organisierender Sozial- und Kulturstaat sollte grundrechtskonforme Differenzierungen des Mehrheitsprinzips erfinden, um dessen optimale Anwendung als Organisationsnorm i m „gesellschaftlichen Bereich" einerseits zu ermöglichen, andererseits zu begrenzen und sich als Grundrechtsstaat zu bewähren (ζ. B. durch grundrechtliche Ma jorisierungs verböte). Schließlich bleibt als Desiderat, die versteckten Formen richterlichen Argumentierens m i t wirklichen oder vermeintlichen Mehrheiten (über Begriffe wie „Durchschnittsbürger") aufzudecken 41 . 41 Dazu Ρ. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 328, 347 f., 425 ff., 609 f. — Zur größeren Wahrscheinlichkeit, daß „ständige

25. Das Mehrheitsprinzip

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5. Das Mehrheitsprinzip als konstitutionelles Prinzip (Grund und Grenzen) Im ganzen zeigen sich vielfältige Verflechtungen der verschiedenen Ausgestaltungen des Mehrheitsprinzips, seines Sinns und seiner Funktionen, m i t den Grundsätzen der Verfassung: Abhängigkeiten und Z u sammenhänge, aber auch Spannungsverhältnisse. Es gilt, dieser Einbettung des Mehrheitsprinzips als konstitutionellem Prinzip i n der Gesamtordnung der Verfassung und ihrer Prozesse nachzuspüren 42 . Das Mehrheitsprinzip ist ein Institut der Verfassung, als solches nimmt es an ihren Zusammenhängen und Differenzierungen teil; es darf nicht zur W i l l k ü r führen und nicht i n sich willkürlich konstruiert sein. Die Mehrheit herrscht i n der Form des (Verfassungs-)Rechts, M i t dieser Maßgabe ist das Mehrheitsprinzip viel mehr als bloße „Verlegenheitstechnik". Das Mehrheitsprinzip läßt sich nicht auf ein Verfassungsprinzip, z.B. Demokratie oder grundrechtliche Freiheit fixieren; es ist beiden zuzuordnen. Es läßt sich nur konkret bestimmen: i n seinen Konnexinstituten (ζ. B. immanente Verfahrensregelungen, Grundrechte, Öffentlichkeit, Minderheitenschutz, Chancengleichheit der Opposition m i t ihrer Chance der „Werbung u m Mehrheit" [Varain])*^ und i m Blick auf den sozialen Kontext und das „soziologische Substrat". Das Mehrheitsprinzip läßt sich nicht einfach neben die verschiedenen Grundsätze der freiheitlich-demokratischen Grundordnung piazieren 44 . Es läßt sich nicht abstrakt („rein") und es läßt sich nicht isoliert bestimmen. Es hat nur „relative" Bedeutung. Bereiche des Konsenses, des (vertraglichen) Kompromisses und des Proporzes bzw. Kombinationen bleiben möglich und ggf. nötig 4 5 . Insofern ist das Mehrheitsprinzip weder i n Rechtsprechung und herrschende Ansicht vernünftiger sind als die Mindermeinung": Kriele, VVDStRL 29 (1971), S. 46 (53). 42 Vgl. Scheuner, Diskussionsbeitrag, in: V V D S t R L 33 (1975), S. 122: „Kontext" . . . , „Ideengerüst: Die Legitimation der Mehrheit im heutigen Willensbildungsprozeß ruht auf der Basis eines gemeinsamen Grundkonsenses". 43 Hierher gehören auch Selbstverwaltungsformen und die Bundesstaatlichkeit. 44 Siehe etwa die Aufzählung in BVerfGE 2,1 (12 f.). Richtig aber BVerfGE 5, 85 (198 f.). 45 Dazu H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), S. 69 (85). — s. auch die Formel von der „Einmütigkeit in der Bejahung der verfassungsrechtlichen Grundwerte" in BVerfGE 5, 85 (134). In bezug auf die politische Verfassung bedarf es eines „Minimalkonsenses", ebenso für den speziellen Sachbereich „Hochschulen" (dazu BVerfGE 35, 79 (142) und E 35, 148 (167), abw. Meinung Dr. Simon 1 Rupp-v. Brünneck, dazu Oppermann, JZ 73, 433). I m Bereich der Experimentierklauseln (dazu P. Häberle, Zeit und Verfassung, jetzt in: Dreier / Schwegmann [Hrsg.], Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976, S. 293 [319 ff.]), könnte der „Konsens der Beteiligten" eine eigene Legitimation vermitteln (dazu abw. Meinung Dr. Simon / Rupp-v. Brünneck, a.a.O., S. 170). — Ein Beispiel für Konsens ist die in Art. 85 Abs. 1 (letzter 37 V e r f a s s u n g

5 7 8 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

sich, noch an sich alternativenlos. Die Abstufungen und Differenzierungen innerhalb des Mehrheitsprinzips selbst (ζ. B. Wiederholung von Abstimmungen, Negativkataloge) sind i m Blick zu behalten (samt den entsprechenden Abstufungen i m Minderheitenprinzip bzw. -recht [ζ. B. Minderheitsvoten]) 4 8 : je nach Sachgebiet und Funktion. Über diese das Mehrheitsprinzip normativierenden Maßgaben w i r d offenkundig, daß i h m letztlich ein bestimmtes Menschenbild zugrundeliegt 47 . Die A n t w o r t auf die Frage nach dem Sinn des differenzierten Mehrheitsprinzips lautet: es verbindet ein Optimum an Freiheit und Gleichheit i n einer demokratischen Ordnung 4 8 ; es ermöglicht die notwendigen ggf. revidierbaren Entscheidungen i m Rahmen dieser Ordnung. Es ist aber bestimmten konstitutionellen, auch soziologischen, Bedingungen und Grenzen unterworfen. Sie lassen sich nur ganzheitlich aus der Verfassung als einer Rahmenordnung erschließen, die als solche dem Gesetzgeber Spielraum läßt. Das ermöglicht die notwendigen Abstufungen und Verfeinerungen und läßt das Mehrheitsprinzip als sachliches und formales Gestaltungs-, Organisations- und Entscheidungsprinzip der konkreten politischen Ordnung des Gemeinwesens und seines individuellen „Grund-Gesetzes" hervortreten. Nachtrag zu „Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" (Nr. 25) Die Thematik dieses Besprechungsaufsatzes ist während seines Erscheinens durch das Urteil des BVerfG zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung (BVerfGE 44, 125 [141 ff., 145])1 von einer neuen, sehr grundsätzlichen Seite her aktualisiert worden. A u f weitere Literatur zum Mehrheitsprinzip sei verwiesen 2 . Halbsatz) Verf. Bremen verlangte Einstimmigkeit (Ausschluß eines Abgeordneten). Konsens, nicht Mehrheitsprinzip kennzeichnet auch die Entscheidungspraxis des Rates der EG, die wegen der (noch) nicht vorhandenen „konstitutionellen" Voraussetzungen des Mehrheitsprinzips (vgl. oben bei Anm. 14 bis 17) dem „Anspruch" des EWG-Vertrages auf Übergang vom Konsens zum Mehrheitsprinzip (etwa: Art. 43 Abs. 2 S. 3; 54 Abs. 2; 56 Abs. 2; 63 Abs. 2; 69; 79 Abs. 1; 101 Abs. 2; 112 Abs. 1 S. 2; siehe aber die Differenzierungen je nach Tragweite der Entscheidungen in Art. 126 a und b bzw. Art. 235) nachhinkt. 46 Zum Problem für die Hochschulen: BVerfGE 35, 79 (144 f.). 47 Dazu Dürig, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 29 (1971), S. 126 f. 48 Ähnlich Varain, ZfP 11 (1964), S. 239 (246). 1 Dazu mein Beitrag „Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zwischen Parteien» und Bürgerdemokratie", JZ 1977, S. 361 ff. — Nr. 23 —, ferner: Seifert, D Ö V 1977, S. 288 ff.; Zuck, NJW 1977, S. 1054; Jekewitz, ZRP 1977, S. 300 ff. 2 Wildhaber, Vertrag und Gesetz — Konsensual- und Mehrheitsentscheid im schweizerischen Staatsrecht, ZSR 94 (1975), S. 113 ff.; Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 150 f., 236; Honoré, The majority rule, in: FS fürSchelsky, 1978.S. 229 ff.; Laim, in: GS f. Jellinek, 1955, S. 175 ff.

26. Die Grundrechte im demokratischen Staat* Besprechung des gleichnamigen Werkes von Hans H. Klein 1. Die allgemeine Grundrechtsdiskussion dauert an. I n i h r spielt sich ein Teil der derzeitigen Methodenkontroverse ab; die unterschiedlichen Demokratie-, Staats- und Verfassungsverständnisse wirken sich i n den einzelnen Grundrechtskonzeptionen besonders stark aus. Diese sind den politischen Strömungen und Wandlungen gegenüber nicht wenig sensibilisiert. Deshalb w i r d man K.s „Kritische Bemerkungen zur Auslegung der Grundrechte i n der deutschen Staatsrechtslehre der Gegenw a r t " dankbar begrüßen. — Angesichts des vielstimmigen Rufes nach „Demokratisierung" bemüht sich K. um eine „Erinnerung" an den Rechtsstaat; er warnt vor den Gefahren einer Relativierung der Grundrechte durch das demokratische Prinzip (ζ. B. der Privilegierung bestimmter politischer Meinungen) und wendet sich gegen das „funktionaldemokratische Verständnis" der Grundrechte („Gefahr verstärkter I n pflichtnahme des einzelnen für den Staat"), wie es u. a. von Krüger, Scheuner, Hesse und dem BVerfG (Lüth-Urteil) vertreten wird, die das „bloß negatorische" Grundrechtsverständnis ablehnen. K. sorgt sich vor der Preisgabe der „staatsfreien Sphäre" durch eine Umdeutung der Grundrechte i n soziale Teilhaberechte. Daß die Verfassung zugleich die Verbindung und Trennung von Staat und Gesellschaft etablierte , entspreche ihrer doppelten Zielsetzung: der Gewährleistung individueller Freiheit und gesellschaftlichen Fortschritts. Die Vergesellschaftung der Freiheit laufe — rechtsstaatswidrig — auf das gleiche hinaus wie ihre Verstaatlichung. Die freie Gesellschaft sei ohne den freien Menschen nicht zu haben. K. legt dem Freiheitsbegriff verschiedene Aspekte bei: nicht nur bloße Freiheit vom Staat, sondern „auch politische Selbstbestimmung (demokratische oder ,positive 4 Freiheit), soziale Teilhabe und Anspruch auf staatlichen Schutz vor gesellschaftlicher Macht" 1 . A u f eine differenzierte Auseinandersetzung m i t der These, die Grundrechte seien Gewährleistungen „realer" Freiheit, folgt die Aussage. * D Ö V 1974, S. 343 - 345 mit Nachtrag (1978). * Klein, Hans H.: Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, Res publica, Bd. 26, W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 81 S. 1 s. aber 63: „Lediglich die subjektive Freiheit individuellen Beliebens." 37·

5 8 0 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

liberal verstandene Grundrechte seien keine unüberwindlichen Verhärtungen des sozialen status quo. Das Plädoyer für die Trennung des Politischen vom Nichtpolitischen und gegen den Verlust der Freiheit „ u m der Gleichheit willen" mündet i n das Credo: ein spezifisch am demokratischen Prinzip orientiertes Verständnis der durch die Grundrechte geschützten Freiheit gehe am Sinn der rechtsstaatlichen Verfassung vorbei. 2. Zur Kritik: I n methodischer Hinsicht lebt K . nicht nach dem Motto „Zurück zum juristischen Positivismus" oder „Zurück zum liberalen Grundrechtsverständnis". Seine Methoden sind differenziert: gelegentlich finden sich „stille" oder offene Zugeständnisse an Wandlungen 2 und an die Wirklichkeit (47 f., 62, 66, 73), ohne daß freilich dieser Wandel (der Wirklichkeit) problematisiert würde. Es gibt nämlich nicht nur „Vorverständnisse", sondern auch begründbare „Nach"-Verständnisse; sie sind das zeitlich spätere, sachlich bedingte Gegenstück zum Vorverständnis. Sie sind dessen Fortentwicklung. Das Nachverständnis ist das Vorverständnis der Zukunft, die auch i m Recht immer schon begonnen hat. Bewährung der Grundrechte kommt ohne solches — gewandeltes — Nachverständnis nicht aus. Das gilt gerade dann, wenn man die l i berale Seite der Grundrechte auch i m Leistungsstaat effektiv halten w i l l 3 . Gewiß, „Reinheit der Begriffe" (76), ihre Antinomien (77, 18) werden hochgehalten, „Harmonisierungen" aber nicht schlechthin abgelehnt (77)4. Voraussetzungen, Bedingungen und Grenzen der Einbeziehung der Wirklichkeit und ihres Wandels i n den Vorgang der Verfassungsinterpretation und das Verhältnis der einzelnen Interpretationsmethoden sind von K . nicht problematisiert. M i t alldem w i r d keinem „beliebigen Umgang" m i t der Wirklichkeit das Wort geredet, wohl aber einer Reflexion ihres normierenden Stellenwerts. Die bloße Berufung auf die Tradition eines bestimmten Methodenkanons hat ihrerseits durchaus Züge der Beliebigkeit; denn „Tradition" legitimiert sich ebenso wenig aus sich selbst wie der „Fortschritt". Gelegentlich entfernen sich j u r i stische Dogmen weiter vom Verfassungs(kon)text als die sog. Wirklich2 S. 60: Verschiedenheit des Freiheitsbegriffs des GG von dem des 19. Jahrhunderts. Damit wird jedoch nur „zur Hälfte" ernst gemacht: Die konkrete Tragweite der Grundrechte im Wandel der sozialen und technischen Bedingungen ist nicht ein Problem des ihnen zugrundeliegenden Freiheitsbegriffs, sondern ein Problem ihrer „Schranken" (66). Diese Isolierung von Schranken und Inhalt ist jedoch nicht möglich! 3 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), 43 (69 ff.); jetzt auch K., 58: Daseinsvorsorge etc. als „Ausflüsse" des fortgedachten liberalen Freiheitsbegriffs, woraus jedoch für die sozialen Grundrechte („gänzlich anderer Struktur", 65) keine Konsequenzen gezogen werden. 4 S. 71: „Vernünftige Ausgewogenheit"; S. 34: „Geschiedenheit von Staat und Gesellschaft, bei gleichzeitiger Aufeinanderbezogenheit beider"; S. 52: „Verschränkung".

26. Die Grundrechte im demokratischen Staat

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keit! I m übrigen ist keine Interpretation frei von dezisionistischen Elementen, seit Esser Allgemeingut (s. aber 25): alles andere ist Selbsttäuschung. K . monopolisiert „Dezision" offenbar bei der Verfassunggebung 5 , eine bekannte These. N u r fragt sich, warum dem Verfassungsgeber (alle) Dezision, dem Verfassungsdogmatiker jedoch keine erlaubt sein soll. Fragwürdig ist die Souveränität (51), m i t der K . feststellt, dem BVerfG sei nicht eine gesellschaftswissenschaftliche Situationsanalyse, sondern eine verfassungsrechtliche Aussage abverlangt. Spätestens die Erkenntnis der Prognosefunktion des BVerfG! — ein Stück Prognose steckt fast i n jeder Verfassungsinterpretation — verlangt solche „Situationsanalysen". Ein Verständnis der Verfassung als law in public action ist eben hierdurch mitkonstituiert. K. entfaltet eine Demokratiekonzeption nicht i n der durch die Problemstellung gebotenen Tiefe und Breite, obwohl sie wesentliche Weichen für heutiges Grundrechtsverständnis stellt. Das allgemeine Bekenntnis zur Demokratie als der „Staatsform vom Volk gewählter und i h m verantwortlicher Herrschender" (42) genügt nicht, zumal die neuere sozialwissenschaftliche Demokratie-Diskussion nicht einbezogen ist. A l les hängt hier von den weiteren Konkretisierungen und Differenzierungen i m Blick auf die Grundrechte ab (in welchen Formen und Verfahren w i r d diese „Verantwortung" realisiert?). Man denke an die Frage, inwieweit die demokratische pluralismusbewirkende Seite und Funktion von Grundrechten den Dualismus von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie partiell „aufhebt", inwieweit sie sich auf die organisationsstrukturellen Konsequenzen von Grundrechtsgarantien auswirkt (Mitbestimmungsfragen), wie sich innerparteiliche (und innerfraktionelle) Demokratie auch i m Gewand von Grundrechtsfragen präsentiert: Grundrechtliche Freiheit und Demokratie sind hier denkbar eng miteinander verknüpft. Es geht um die „Gleichung": demokratische/öffentliche, nicht bloß private Freiheit; gelebte innerparteiliche Demokratie ist ein Stück realer Freiheit, Grundrechte sind hier Vehikel gruppeninterner Demokratie. Je grundrechtseffektiver die innerparteiliche Demokratie ist 6 , desto freier w i r d das „freie Mandat" (wieder) werden, desto geringer w i r d der Druck i n Richtung auf ein imperatives Mandat „von oben" oder „von unten" sein. Soweit das PartG innerparteiliche Demokratie normiert, ist es auch Ausgestaltung des Art. 5 Abs. 1 GG — innerparteiliche Demokratie als innerparteiliche öffentliche Meinung. Vielfach dürfte K. solche inneren Zusammenhänge zwischen Demokratie und Grundrechten unterschätzen (Demokratie „durch" Grundrechte, Grundrechte als 5 S. 31: Wo der Entscheidungscharakter der Verfassung geleugnet wird, denaturiert das Verfassungsgesetz zum unverbindlichen Rahmen. 6 Die Freiheit des Bürgers „zum" Parteibürger und „als" Parteibürger ergibt sich aus Art. 20, 21 und Grundrechten wie Art. 2, 3, 8 GG.

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demokratische Oppositionsrechte, s. den Begriff „freiheitlich-demokratische Grundordnung"), so berechtigt seine Warnungen vor einer „Privilegierung des politischen Freiheitsgebrauchs" sind (43)7. So dürfen gewiß nicht i m Namen einer besseren, demokratischen Legalität von morgen illegale Handlungen von heute „legitimiert" werden. Ein antizipierter „Volkswille" ist kein Titel für die Durchbrechung geltenden Rechts; die viel zitierte Offenheit des demokratischen Gemeinwesens lebt zwar von den Chancen verfassungsimmanenter Korrekturmöglichkeiten, aber eben in vorgeschriebenen Verfahren 8 . I m Ergebnis ist der These von der „Gleichrangigkeit" politischer und bürgerlicher Freiheit i m demokratischen Rechtsstaat (43 ff.) zuzustimmen. Man darf indes nicht dem Mißverständnis erliegen, bürgerliche Freiheit sei „unpolitisch". „Bürger" ist auch ein Politikum. Die Gegenüberstellung von „politisch" und „bürgerlich" erscheint als i m Ansatz verfehlt, so sehr sie geschichtlich erklärbar ist. Gewiß lebt der Mensch nicht von der Demokratie allein, doch lebt er i n unserem Gemeinwesen auch nicht ohne sie. Ein ganzheitliches Verfassungsverständnis kommt entgegen K . gar nicht daran vorbei, das demokratische Prinzip als „ I n terpretationsmaxime" für die Grundrechte anzuerkennen (12 f.) — und zwar differenziert i m grundrechtsverstärkenden, aber auch begrenzenden Sinne. Die These (78), i m GG sei die Demokratie „zugunsten der Freiheit mobilisiert, nicht umgekehrt", übersieht, daß die Wahrheit i n der Mitte liegt. Demokratie und Freiheit haben einen gemeinsamen Nenner: die Verfassung einer offenen Gesellschaft 9 . 7 Schließlich besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der Einführung des allg. Wahlrechts, der Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat, den Tendenzen zur grundrechtlichen Chancengleichheit und den heutigen Partizipationsforderungen. 8 Widersprüchlich 59, wo sich K. mit Recht auf das Paradoxon einläßt, daß die Freiheit des Menschen in einem bestimmten Grade um seiner Freiheit willen zur Disposition des Staates stehen muß, 72 : Grundrechte könnten nicht zugleich Ansprüche auf staatliche Aktion und auf deren Negation sein. 9 Rätselhaft ist die Bejahung eines „dynamischen Staatsbegriffs" (47 mit Anm. 76) bei gleichzeitiger Ablehnung eines entsprechenden Verfassungsverständnisses. Der dynamische Staat steht offenbar neben der statischen Verfassung. — Mindestens mißverständlich ist die These von der politischen Neutralität der Beamtenschaft als „politischer Gleichgültigkeit" des einzelnen Beamten (54 Anm. 12). Man denke an den Streit um das sog. Berufsverbot für Mitglieder noch nicht verbotener radikaler politischer Parteien. Er ist durch „praktische Konkordanz" zwischen Art. 21 Abs. 2 und Art. 33 Abs. 2 („Eignung") i. V. mit Abs. 4 und 5 (Treuepflicht) GG, die insofern Art. 3 Abs. 3 und 1 GG modifizieren, beizulegen. Dabei sind die unterschiedlichen Regelungsbereiche, Schutzzwecke und Funktionen beider Normenkomplexe zu berücksichtigen (vorbildlich ist die diff. Begrenzung des Art. 21 Abs. 2 GG in BVerfGE 9, 162 [164 ff.]). Der Schutz des Art. 21 Abs. 2 bezieht sich auf den Wirkungsbereich politischer Parteien im gesellschaftlichen, öffentlichen Bereich und Parlament, nicht jedoch im spezifisch „staatlichen" Bereich der Verwaltung und Judikative. Das Parteienprivileg schützt Parteifunktionäre und

26. Die Grundrechte im demokratischen Staat

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Zustimmung verdienen neben der Differenzierung von Staat und Gesellschaft die „vielseitige" Sicht der Grundrechte („Vier Dimensionen des verfassungsrechtlichen Freiheitsbegriffs", 53 ff.), die freilich nicht immer durchgehalten wird, der Abschied von der Fiktion „natürlicher Freiheit" i n Gestalt der Anerkennung der Freiheit als „rechtlich gehegter" (nicht nur „umhegter") Freiheit, als Freiheit i m Recht (69 f.), wobei freilich K . zu Unrecht Grundrechte und Recht voneinander trennt, insofern er (70) dann doch wieder n u r die Ausgestaltung der Rechtsordnung, nicht auch „durch" sie hindurch die der Grundrechte selbst anerkennt. K . w i l l Freiheit und Grundrechte voneinander trennen (61); außerhalb der Grundrechte gibt es jedoch schwerlich einen (verfassungsrechtlichen) Freiheitsbegriff. Beifall verdient das Zugeständnis, das GG wolle einen „Zustand wirklicher Freiheit" (71, s. auch 62, 73) — gleichwohl wendet sich K . gegen die Grundrechte als Garantienormen (auch) tatsächlicher Freiheit (63). Indes: erst wenn Alle Bürger sind, verlieren die Angriffe gegen die „bürgerlichen Freiheiten" ihre Berechtigung. Der französische Begriff der „liberté assistée" w i r d i m Leistungsstaat unverzichtbar 1 0 . Hervorhebung verdient der Hinweis auf den „revolutionär-emanzipatorischen Grundcharakter der (liberalen) Grundrechte" („keine status-quo-Garantie") und die Anerkennung des Raumes „ f ü r den sozialen Forschritt" (67 f.), mögen die Grundrechte auch zu wenig positiv als Vehikel i n diesem öffentlichen Prozeß gedeutet sein (gesellschaftlicher Fortschritt „durch" grundrechtliche Freiheit). Die Sorge K.s um die Sicherung des „gesellschaftlichen Pluralismus" (75, 49) kann gar nicht ernst genug genommen werden, nur ist gerade die demokratische, öffentliche Seite der Grundrechte neben der gleichrangigen p r i vaten ein wichtiges Instrument dafür (pluralistische Öffentlichkeit). M i t Recht wendet sich K . (17) gegen den ominösen § 6 Hess. U n i v G (1970): So augenfällig die „gesellschaftliche" bzw. öffentliche Relevanz von Forschung und Lehre ist, sie vermag keine öffentliche Informationspflicht zu begründen (Art. 5 Abs. 3 GG). Schillers „Sire, geben Sie GedankenMitglieder vor (strafrechtlicher) Verfolgung (BVerfGE 12, 296 [305]), nicht vor sonstigen Nachteilen (etwa der Verweigerung des Zugangs zum öff. Dienst als solchem). Das Parteienprivileg darf nicht zum trojanischen Pferd innerhalb des staatlichen Bereichs gemacht werden, Art. 33 GG würde weginterpretiert. Die freiheitliche demokratische Grundordnung, die Freiheit der politischen Willensbildung (Art. 20, 21 GG) ist nicht in Gefahr, wenn Personen, die als Beamte nicht für sie eintreten würden, vom öff. Dienst ferngehalten werden. Und dadurch werden die Parteien noch nicht „handlungsunfähig" (i. S. von BVerfGE 12, 296 [305]), die Parteiorganisation sowie die Tätigkeit der Funktionäre und Anhänger als solche werden nicht beeinträchtigt. Auch handelt es sich nicht um ein — durch das GG verbotenes — administratives Einschreiten gegen den Bestand einer politischen Partei (i. S. von E 5, 35 [140]), auch nicht um eine „Ausschaltung" der Partei i. S. von E 9, 162 (166). Wann besagte „Eignung" fehlt, ist im übrigen Frage des Einzelfalls. 10 Zur leistungsstaatlichen Teilhabeseite von Grundrechten jetzt BVerfGE 33, 303 (330 ff.), dazu P. Häberle, D Ö V 1972, 729 ff.

584 freiheit!"

Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche g i l t auch f ü r d e n hessischen Landesgesetzgeber. —

Insge-

s a m t : I m „ K o n z e r t " der wissenschaftlichen K o n t r o v e r s e ist das B u c h v o n K . eine w i c h t i g e „ S t i m m e " . Nachtrag

zu „ D i e G r u n d r e c h t e i m d e m o k r a t i s c h e n S t a a t " (Nr. 26).

D i e G r u n d r e c h t s l i t e r a t u r i s t seit A n f a n g d e r 70er J a h r e w e i t e r e x p a n d i e r t . Sie i s t h e u t e k a u m m e h r überschaubar. E i n eigener D o k u m e n t a t i o n s b a n d i. S. des W e r k e s v o n Dreier / Schwegmann z u r Verfassungsi n t e r p r e t a t i o n w ä r e w ü n s c h e n s w e r t . D i e h i e r abgedruckte Rezensionsa b h a n d l u n g zu d e r v o n H . H . Klein 1972 1 auf d e m H i n t e r g r u n d d e r R e g e n s b u r g e r S t a a t s r e c h t s l e h r e r t a g u n g (1971) e n t w o r f e n e n (Gegen-)Posit i o n u m r e i ß t d e n S t a n d o r t des Verfassers, d e r sich seit d e m M i t b e r i c h t a u f d e r Regensburger S t a a t s r e c h t s l e h r e r t a g u n g ( V V D S t R L 30 [1972], S. 43 ff.) noch i n k l e i n e r e n A r b e i t e n z u m G r u n d r e c h t s p r o b l e m geäußert h a t 2 . D a die G r u n d r e c h t e h e u t e z u n e h m e n d e i n P r o b l e m s t a a t l i c h e r K o m petenzen, O r g a n i s a t i o n e n u n d V e r f a h r e n w e r d e n 3 » 4 , b e s t e h t v o n dieser 1 s. jetzt die inzidente Ablehnung des „fundamentalen Verteilungsprinzips" (C. Schmitt) durch BVerfGE 45, 187 (227): Die grundgesetzliche Freiheit könne nicht „prinzipiell unbegrenzt" sein. 2 z.B. Das BVerfG im Leistungsstaat, D Ö V 1972, S. 729 ff.; Berufs„ständische" Satzungsautonomie und staatliche Gesetzgebung, DVB1. 1972, S. 909 (910); Besprechungen der Bücher von Brauns, AöR 97 (1972), S. 325 ff.; von Goerlich, JR 1974, S. 487 f.; von Krebs, DÖV 1976, S. 538; von Willke, JZ 1978, S. 79. — Zum Einfluß des Regensburger Staatsrechtslehrerreferates auf das 1. NC-Urteil: BVerfGE 33, 303 ff. (bes. S. 330 f.: „Teilhabe an staatlichen Leistungen"; „Teilhaberechte" . . . „aus dem Gleichheitssatz in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip"; 332: „sozialstaatliche Teilhabegewährung") vor allem Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, in: Verhandlungen des 50. DJT, 1974, Bd. I I , G I f f . (G 29 ff.); s. auch V G München BayVBl. 1974, S. 198, 226 (228) mit Anm. Mayer-Tasch, ebd., S. 230 f. sowie BayVGH BayVBl. 1976, S. 83 (84); s. auch Ossenbühl, NJW 1976, S. 2100 (2104 mit Anm. 60). — Einen Überblick über den Stand der Diskussion geben zuletzt: Denninger, JZ 1975, S. 545 ff.; E.-W. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff. und Ossenbühl, NJW 1976, S. 2100 ff., sowie H. H. Rupp, Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 161 ff. Aus dem Schrifttum jüngst Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976 sowie Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977; Kröger, Grundrechtstheorie als Verfassungsproblem, 1978; herausragend ist Dürigs Kommentierung des Art. 3 GG in Maunz / Dürig J Herzog / Scholz, K. zum GG (1973), grundlegend (nicht nur für die Schweiz): Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Aufl. 1975; J. P. Müller, Soziale Grundrechte in der Verfassung?, Referate und Mitteilungen des Schweizerischen Juristenvereins 107 (1973), S. 697 ff. 3 Und zwar auch noch bei der „Verwaltung des Mangels", d. h. leistungsstaatliche Grundrechtstheorie muß sich auch (qualitativer) Verteilungsprobleme annehmen. — Zum leistungsstaatlichen Grundrechtsverständnis (im Lichte des Richterrechts, bes. der numerus-clausus-Judikatur) : Prümm, Verfassung und Methodik, 1977, S. 211, 222, 227 ff. (229); dort auch zum sich wandelnden Selbstverständnis des BVerfG (S. 194 f., einerseits BVerfGE 1, 97 (100 f.), andererseits E 6, 257 (LS), zum Unterlassen des Gesetzgebers). 4 Vgl. H. H. Rupp, a.a.O., S. 187 ff.: „Grundrechte als Organisationsmaximen"; zuletzt Ho ff mann-Riem, in: FS für H. P. Ipsen, 1977, S. 385 (387 ff.).

26. Die Grundrechte im demokratischen Staat

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— oft vernachlässigten — organisationsrechtlichen Seite her ein großer Nachholbedarf. Der status activus processualis bietet dafür einen „Einstieg" (vgl. auch Nachtrag zu Nr. 31). Auch an Sache und Begriff der „Grundrechtspolitik" (vgl. meinen Mitbericht, a. a. O., S. 75, 104 f.) ist festzuhalten 5 . Die weitere Grundrechtsdiskussion sollte i n vier miteinander zusammenhängende Richtungen ausgreifen: 1. Es sollte der Weg zu einer stärkeren Differenzierung der „allgemeinen" Grundrechtstheorien i m Blick auf die Einzelgrundrechte gesucht werden. Diese können durchaus unterschiedlich und wechselnd den verschiedenen Theorien zuzuordnen sein: je nach dem, welche Theorie das Einzelgrundrecht am besten effektiviert (Wechselwirkung zwischen allgemeiner und spezieller Grundrechtstheorie). Dieser variierende „Einsatz" der Grundrechtstheorien hängt vom jeweiligen Verwirklichungsstand der Grundrechte ab (Wechselwirkung zwischen Grundrechtstheorie und -praxis). Der allgemeine Bezugsrahmen, der den einzelnen Theorie ihren — relativen — Stellenwert zeitabhängig zuweist, ist freilich noch zu entwickeln, auch i m Blick auf die menschenrechtliche Perspektive (Ansätze i n meinem Mitbericht, VVDStRL 30 [1972], S. 43 [69 f., 75 f. u. ö.]). Die Verklammerung der „Grundwerte-"Diskussion 6 m i t der Grundrechtsproblematik ist noch nicht voll anerkannt. Ohne Verfassungsstaat gibt es keine Freiheit, eine Erkenntnis, die die Freiheit aber nicht zur „staatlichen Veranstaltung" werden läßt. 2. Die verschiedenen Grundrechtstheorien lassen sich nicht i n der Weise eines „Kästchendenkens" säuberlich nebeneinander stellen 7 : Elemente des „liberalen" Grundrechtsdenkens stecken auch „ i n " dem sozialbzw. leistungsstaatlichen Grundrechtsverständnis; umgekehrt sind gerade heute leistungsstaatliche Potenzen aus dem liberalen Ansatz zu entwickeln: das Gemeinwesen muß für den Schutz der persönlichen Freiheit und seiner Bürger positiv etwas tun, gegenüber der „Gesellschaft" oder einzelnen ihrer Mitglieder, man denke an den vom BVerfG i m Schleyer-Beschluß 8 genannten Schutzanspruch des Bürgers. Dieses Recht auf Grundrechtsschutz bedarf noch der Entfaltung (einschließlich der korporativen Seite des status activus processualis). 5 s. zuletzt etwa Meessen, Europäische Grundrechtspolitik, in: Die Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft, 1978, S. 35 ff. 6 Zuletzt Starck, F A Z v. 11. 3. 1978, S. 7; Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, 1977. 7 So aber E.-W. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529 ff. — I m übrigen ist das Böckenfördesche Postulat, keine Theorie „an" die Verfassung „heranzutragen", selbst schon Verfassungstheorie. 8 BVerfGE 46, 160 ff.; vgl. auch BVerfGE 45, 187 (254 f., 256 f.): Pflicht des Staates, das Leben jedes einzelnen Menschen zu schützen.

5 8 6 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Oder: das „objektiv-institutionelle" Grundrechtsverständnis t r i t t zum leistungsstaatlichen ebenso hinzu wie zum liberalen. Entsprechendes gilt für den demokratiebezogenen Ansatz, der Verbindungen sowohl m i t dem „liberalen" wie m i t dem „leistungsstaatlichen" Grundrechtsverständnis eingeht, wobei es an Spannungen nicht fehlen w i r d (Ergänzungs-, statt Konkurrenzverhältnis der Grundrechtstheorien). 3. Speziell das Verhältnis der korporativen zur subjektiv-individualrechtlichen Seite bedarf dringend der Vertiefung. Beispielhaft hierfür mag — neben A r t . 9 Abs. 3 GG 9 — A r t . 21 GG stehen. So wichtig die verbandsrechtliche, „gruppenrechtliche" Aufarbeitung des A r t . 21 GG (besonders bei der Chancengleichheit) war 1 0 , zu verhindern bleibt, daß der status activus (processualis) des Partei- und Wahlbürgers hinter A r t . 21 GG „verschwindet". A r t . 21 GG kommt Doppelcharakter zu, ähnlich wie A r t . 9 Abs. 1 GG (dazu: BVerfGE 30, 227 [241]): individualrechtliche und korporative, bürgerrechtliche Seite und parteienrechtliche Grundrechtsseite, Rechte der Wahl- und Parteibürger zu, i n und ggf. auch gegen die Parteien als Teil ihrer öffentlichen Freiheit und der (Grund-)Rechte der Parteien gegen die öffentliche Gewalt. Gerade weil der Öffentlichkeitsstatus der Parteien „nicht singulär" ist — auch der A b geordnete hat einen öffentlichen Status, greifbar jetzt i m Diätenurteil des BVerfG —, ist der Zusammenhang m i t anderen öffentlichen Freiheiten herauszuarbeiten. M. a. W.: Die Grundrechtsdogmatik hat sich des A r t . 21 GG (sowie des A r t . 38 GG) und seiner Bezüge zu den Bürgerfreiheiten noch stärker anzunehmen. Gruppenrechtliche Parteienfreiheit und individualrechtliche Aspekte gehören essentiell zusammen (Parteigründungsfreiheit), entsprechend der anthropologischen Bedürfnisstruktur grundrechtlicher Freiheit. 4. Ein Wort zum Verhältnis der rechtstechnischen Grundrechtsregelung und der realen Grundrechtsgeltung. Sie ist von der juristischen Form relativ unabhängig. Das BVerfG hat sich in seiner umstrittenen Europarechtsentscheidung (E 37, 271 ff. 1 1 ) bekanntlich sehr stark auf einen ausgefeilten Grundrechtskatalog festgelegt. Vieles deutet darauf hin, daß es hier spätes Opfer des Kodifikationsdenkens geworden ist, bundesdeutsche Grundrechtsintrovertiertheit dokumentiert und die gemeineuropäischen, ja gemeinrechtlichen Grundrechtschancen eher gehemmt als gefördert hat. Es wirkte recht wenig i m Sinne seiner geglückten Formel vom „kooperati9

Vgl. zuletzt BVerfGE 44, 322 (338 ff.). Vgl. Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 89 ff., 145 ff., 331, 693. 11 Kritik ζ. B. bei Scheuner, AöR 100 (1975), S. 30 ff.; Pestalozza, DVB1. 1974, S. 716 ff. 10

26. Die Grundrechte im demokratischen Staat

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ven Grundrechtsschutz" 12 — so sehr der Staat immer nur Möglichkeiten der Freiheit (nicht diese selbst) schaffen kann. Hinter der leistungsstaatlichen Grundrechtssicht steht ein oft vergessenes aktivbürgerliches Moment. Der Staat leistet, damit der Bürger Bürger sein kann. Die Grundrechtsmöglichkeiten und die Grundrechtswirklichkeit sind nur bedingt Folge eines juristischen Grundrechtskatalogs. Dieser kann Grundrechtswirklichkeit nicht schaffen. Vielmehr bedarf es der Grundrechtskultur, des öffentlichen Grundrechtsbewußtseins als Teil des Verfassungsbewußtseins und der Verfassungskultur. Gewiß, es dient der Rechtssicherheit, wenn der Bürger seine Grundrechte am Verfassungstext katalogmäßig „ablesen" kann; über die Publizität der Verfassung und ihre Grundrechtstexte kommt es zur staatsbürgerlichen Integration. N i m m t man aber hinzu, daß unter den Bedingungen eines komplexen pluralistischen politischen Gemeinwesens vor allem die Grundrechtsdogmatik und die prätorische verfassungs- und verwaltungsrechtliche Judikatur zu den Grundrechten sagt, was diese praktisch bedeuten, so reduziert sich die Bedeutung der Texte augenfällig, steigt die der Kontexte! Möglichkeit und Wirklichkeit der Grundrechte konstituieren sich aus verschiedenen Schichten und Funktionen: neben den Texten relevant ist das allgemeine Bewußtsein für Effektivität der Grundrechte, die Sensibilität der Öffentlichkeit für Grundrechtsverletzungen sowie ein Datenkranz politischer Ethik, überhaupt die ambiance i m ganzen der Grundrechtskultur. I n dieses B i l d gehören bestimmte staatliche Funktionen, vor allem neben der grundrechtsausgestaltenden Gesetzgebung die Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, aber sie bestimmen das B i l d nicht allein: Man denke an Bürgertugenden wie Solidarität (Grundrechte als Ausdruck von Kulturverfassung). Grundrechte sind nicht nur i n den überkommenen Grundrechtstexten normiert, sie finden sich auch i n Verfahrens- und Organisationsbestimmungen, in Kompetenznormen, i m Rahmen von Staatsaufgabenbestimmungen bzw. sie werden aus ihnen gerade i n jüngster Zeit entwickelt. Auch dies ist ein Stück Grundrechtskultur und eine besondere Leistung. Das „Gewand", in dem Grundrechte normiert sind, ist von eher technischer Bedeutung für Grundrechtswirklichkeit. Die Höhe der Grundrechtskultur hängt nicht von der rechtstechnisch aktuellen Kodifikation ab, sondern von der praktizierten Grundrechtsverwirklichung (Beispiel: USA, England). Es hängt freilich von der jeweiligen historischen Situation ab, wie notwendig Grundrechtstexte sind, ob und wie sie ohne diese wirken 12

Dazu mein Beitrag für die FS Schelsky, 1978, i. E. (Nr. 17).

5 8 8 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

können. So waren 1949 die Grundrechts texte des GG i n ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. Heute, 1978, gelten die Grundrechte „so wie das BVerfG sie auslegt"; aber dieses Auslegen ist eben (nur) Teil der „Grundrechtskultur", es steht nicht für sich, sondern ist verflochten m i t den Möglichkeiten der Verfassungsgerichtsbarkeit, m i t anderen Faktoren und Funktionen, die die Texte tragen, fortentwickeln, ihnen Effektivität und „Gehör" verschaffen. Die Rechtsschutzgarantien i m engeren und weiteren Sinne gehören i n diesen Zusammenhang, ebenso verfassungsgerichtliche Kompetenzen oder doch Möglichkeiten, daß Verfassungsgerichte (und die Verwaltungsgerichte) sie sich nach und nach i n der Öffentlichkeit „aneigneten" und „die Gesellschaft" dies akzeptiert, und entsprechende Rahmenbedingungen usw. wie das „freiheitliche Lebensklima" (vgl. BVerfGE 35, 203 [225]). Grundrechte als „constitutional law i n action" können ohne Texte (als „ungeschriebenes Verfassungsrecht"), ja sogar gegen sie wirksam sein. Diese grundrechtskulturellen Zusammenhänge hatte das BVerfG zu wenig i m Auge. Vorbildlich w i r k t der EuGH: er entfaltet über „allgemeine Rechtsgrundsätze" — jenseits der Texte — gemeinrechtliche Grundrechts-Rechte 13 , er schafft damit Grundrechtskultur. 1995 eine „Ergänzung" zum obigen Thema schreiben wollen, wäre vermessen: Die deutsche Grundrechtsliteratur und -Judikatur sprengt jeden Rahmen (vgl. zum Verf.: C. Steinbeiß-Winkelmann, Grundrechtliche Freiheit ..., 1986, S. 317 ff.). Dies darf auch auf der Habenseite verbucht werden: Neben dem Föderalismus und der Verfassungsgerichtsbarkeit sind die Grundrechtslehren wohl der „ E x p o r t " - A r t i k e l Deutschlands bei den Verfassunggebungsprozessen i n Europa und Übersee. Auf eine Weise leistet die deutsche Wissenschaft und Verfassungsrechtsprechung so ein Stück „Wiedergutmachung" für die Unterdrückung der Freiheiten vieler Völker i n Europa 1933-1945. Festzuhalten ist der Vorgang allseitiger „Grundrechtsentwicklung": politisch, wissenschaftlich und prätorisch. I m europäischen Raum ist Optimismus am Platze: EuGH und EGMR, aber auch die Verfassungsgerichte i n Rom, Madrid und Lissabon, i n Osteuropa etwa i n Warschau, bauen an einer spezifisch „europäischen Grundrechtsgemeinschaft". I n Sachen Grundrechte ist sich Europa vielleicht am meisten „einig". Der Verf. hat seine Positionen rechtsvergleichend i n der Fortschreibung seiner (1993 ins Italienische übersetzten) Dissertation auszubauen versucht (Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl., 1983, bes. S. 407 ff.). 13 Vgl. E u G H Urt. v. 12. 11. 1969, Rs. 29/69 (Stauder), Slg. 1969, 419 (425); Urt. v. 17. 12. 1970, Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, 1125 (1135 ff.); Urt. v. 14. 5. 1974, Rs. 4/73 (Nold), Slg. 1974, 491 (507 f.).

27. Exzessive Glaubenewerbung in Sonderstatusverhältnissen — ΒVerwGE 30,29* I n Wunsiedel, bislang nur dem Jean Paul-Kenner ein Begriff, warb ein in bayerisch-freistaatlichen Diensten stehender Polizeimeister in den Jahren 1958 - 61 außerhalb der Dienstzeit und ohne Uniform, aber in seinem Dienstbereich u. a. durch Hausbesuche bei Andersgläubigen; er missionierte für die Zeugen Jehovas, denen er selbst angehörte. Diese Tätigkeit wurde ihm durch seine zuständige Dienststelle untersagt. Er erhob Klage gegen das Verbot des Hauswerbedienstes. Das V G Bayreuth 1 wies die Klage ab mit der Begründung, der Kl. habe durch seine Werbung „öffentlich Partei für eine Sache" ergriffen und hiermit gegen die mit seinem Beruf als Polizeivollzugsbeamter verbundene Pflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung außerhalb des Dienstes verstoßen. Der BayVGH 2 bestätigte dies Urteil; er argumentierte, nach allgemeiner Erfahrung wirkten sich Autorität und Amtsgewalt eines Polizeivollzugsbeamten von selbst faktisch derart aus, daß sich die aufgesuchten Andersgläubigen dem Kläger gegenüber nicht so frei fühlten wie gegenüber anderen „Predigern", weil sie damit rechneten, es mit ihm als Hüter der öffentlichen Ordnung und als Gehilfen der Strafverfolgungsbehörden jederzeit zu tun haben zu können. Das BVerwG hob diese Entscheidung unter Hinweis auf Art. 4 GG u. a. mit der Begründung auf, die BR Deutschland sei kein Polizeistaat, in dem man sich „ducken" müsse; es gebe keinen staatlichen Ersatz für mangelnde Zivilcourage. I . Dieser F a l l schneidet verfassungs- u n d v e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e F r a g e n an, d i e sich a u f I n h a l t u n d G r e n z e n des A r t . 4, dieses „ k o n s t i t u i e rende E l e m e n t " i m d e m o k r a t i s c h e n G e m e i n w e s e n 3 , u n d besonders die G l a u b e n s w e r b u n g beziehen — f r ü h e r h ä t t e m a n w o h l eher v o n „ M i s s i o n i e r u n g " gesprochen; e r f ü h r t z u m P r o b l e m G l a u b e n s f r e i h e i t i n S o n d e r s t a t u s v e r h ä l t n i s s e n u n d z u r v e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e n Frage, ob — ä h n l i c h w i e b e i R i c h t e r n — f ü r d e n K l ä g e r als V e r w a l t u n g s b e a m t e n w e g e n seiner „ W e r b e t ä t i g k e i t " eine Besorgnis d e r P a r t e i l i c h k e i t b e s t e h t u n d w e l c h e K o n s e q u e n z e n eine d e r a r t i g e „ B e f a n g e n h e i t " h ä t t e . Diese P r o b l e m e s i n d n u r e i n A u s s c h n i t t aus d e m G e s a m t k o m p l e x „exzessive * JuS 1969, S. 265 - 272. * Urt. v. 11. 6. 1968 = DÖV 1968, 801 = DVB1. 1968, 801 = ZBR 1968, 409 f. m. Anm. Wilhelm. — Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines im Rahmen des Habilitationsverfahrens vor der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg gehaltenen Probevortrags ; Art. ohne Gesetzesangabe sind solche des GG. 1 BayBZ 1964, 31; krit. Wilhelm, BayBZ 1964, zust. Listi , Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche (zit. Essener Gespräche) 3,1968, S. 168 f. 2 Urt. v. 3. 7. 1964, Az. 158 III/63. 3 Hesse, ZevKR 11 (1964/65), S. 337 (354).

5 9 0 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche G l a u b e n s b e t ä t i g u n g u n d G r u n d g e s e t z " , d e r auch z u s t a a t s k i r c h e n - u n d k i r c h e n r e c h t l i c h e n F r a g e n f ü h r t . A k t u a l i t ä t u n d R e i c h w e i t e dieses T h e m a s s i n d a n h a n d v o n d r e i w e i t e r e n L e i t f ä l l e n z u i l l u s t r i e r e n , ehe eine dogmatische A u f b e r e i t u n g des P r o b l e m s u n t e r n o m m e n w i r d . Zu nennen ist der vom BVerfG* entschiedene Tabak-Fall. Sein Sachverhalt: Ein Strafgefangener (hier: Anhänger des Ludendorff-Bundes e. V.) verspricht einzelnen Mitgefangenen Tabak für den Fall ihres Austritts aus der Kirche. Sein Gesuch um bedingte Entlassung aus der Strafhaft (§ 26 StGB) wird vom BGH mit der Begründung abgelehnt, angesichts dieses Verhaltens könne nicht erwartet werden, der Verurteilte werde „in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben" führen; das BVerfG wies die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde als unbegründet zurück. Ferner der Lehrlings-Fall des BVerwG 5: Ein Lehrherr wirbt minderjährige Lehrlinge für den Übertritt zu einem anderen Glauben (hier zur Lehre der Zeugen Jehovas) an; seiner Werbung verleiht er durch bevozugte Behandlung der ihr zugänglichen Lehrlinge Nachdruck. Das BVerwG sieht darin eine „gröbliche" Verletzung der Pflichten nach § 20 I 1. Alt. HandwO a. F. (jetzt § 24 I n. F.). Zuletzt ist der eben entschiedene Lumpensammler-Fall des BVerfG 6 zu erwähnen. I I . E i n B l i c k a u f diese S a c h v e r h a l t e v o n d e r P o l i z e i z u m T a b a k , v o n den L e h r l i n g e n zum L u m p e n s a m m l e r zeigt: 1. D i e F r a g e nach I n h a l t u n d G r e n z e n des A r t . 4 k a n n die verschiedenartigsten Rechtsgebiete 7 b e r ü h r e n — d a r i n l i e g t e i n besonderer R e i z — : das S t r a f r e c h t w i e i m T a b a k - F a l l 8 , das V e r w a l t u n g s r e c h t ( L e h r l i n g s u n d H a u s w e r b u n g s - F a l l ) 9 , das F a m i l i e n r e c h t ( Ü b e r t r i t t z u e i n e r ande4 5

E 12, 1.

E 15, 134. Zuvor entschieden von O V G Koblenz, KirchE 3, 395; dem BVerwG im Ergebnis zust. unter Hinweis auf das allgemeinverbindliche Toleranzprinzip: Fischer, Trennung zwischen Staat und Kirche, 1964, S. 86 ff. — Zu den Zeugen-Jehova-Fällen in der Rspr. des US Supreme Court: BVerfGE 19, 133; Murdock vs. Pennsylvania (ambulanter Verkauf von Schriften in missionarischer Tätigkeit lizenzfrei); s. auch Murdock vs. City of Jeanette, dazu Fischer, a.a.O., S. 83 ff. 6 BVerfGE 24, 236 ff. = NJW 1969, 31 = D Ö V 1968, 873 = JuS 1969, 138 f. Nr. 1 mit Darstellung des Sachverhalts. Zu den dogmatischen Besonderheiten dieses Falles, der zwar Glaubensaktivität, aber nicht Glaubens Werbung betrifft: P. Häberle, Grenzen aktiver Glaubensfreiheit, DÖV 1969, S. 385 ff. 7 Zur Zulässigkeit einer Kündigung in religiösen „Tendenzbetrieben" : L A G Düsseldorf, ZevKR 8, 216. 8 Und im Mormonen-Fall: OLG Saarbrücken, NJW 1966, 1088. Danach ist es außer im Falle des Mißbrauchs unzulässig, einem kath. Strafgefangenen im Strafvollzug den Briefwechsel mit der Kirche der Mormonen zu untersagen, s. auch BayVerf GH, JR 1966, 116: Zur Zulässigkeit der Beschränkung bzw. der Überwachung des Besuchs eines Laienpredigers der Zeugen Jehovas bei einem S icherungs verwahrten. 9 s. noch den Fall des Studienassessors Lüdde, Der Spiegel, Nr. 4 v. 20. 1. 1969, S. 57.

27. Exzessive Glaubens Werbung in Sonderstatusverhältnissen

591

ren Glaubensgemeinschaft unter besonderen Umständen als schwere Ehe Verfehlung), das Recht des unlauteren Wettbewerbs (Lumpensammlerfall). A r t . 4 entfaltet insofern eine „Ausstrahlungswirkung" i n vielerlei Rechtsgebiete. Aufgabe w i r d es sein, bei ihrer verfassungskonformen Interpretation zugleich ihrer Eigenart gerecht zu werden, u m so zu bestimmen, was „Exzess" ist. 2. Eine systematische Ordnung der Leitfälle gelangt für die Glaubenswerbung als Form aktiver Glaubensfreiheit und ihre Begrenzung zu folgender, vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigender Linie: vom „besonderen Gewaltverhältnis" etwa des Strafvollzugs und dem freieren Sonderstatus des missionierenden Polizeibeamten ( A r t 33 V) über den Lehrlings-Fall — er spielte i n einem gesetzlich begründeten besonderen Autoritäts-, Abhängigkeits- und Erziehungsverhältnis — bis zur Glaubenswerbung bzw. -aktivität i m allgemeinen Status der Bürgerfreiheit. Die Frage nach dem Maßstab für Exzesse i n dieser allgemeinen Rechtsordnung stellt sich i n zwei Formen: es kommt zu einem K o n f l i k t zwischen A r t . 4 und nicht glaubensbezogenen („religionsneutralen") Grundrechten wie i m Lumpensammler-Fall oder es kollidieren A r t . 4 und die Glaubensfreiheit Dritter — Glaubensabwerbung — Schulbeispiel: „Kesseltreiben" einer Glaubensgemeinschaft gegen eine andere 10 in strafrechtsrelevanten Formen etwa der Anwendung von Gewalt 1 1 . Sie ist gewiß „Exzeß"; ein harmloses Beispiel bildet das CarePaket 1 2 . Dies führt zu den Fragen, inwieweit auch der weltanschaulichreligiös neutrale Staat eine Verantwortung für die allgemeine öffentliche Ordnung 1 3 hat, und zwar auch bei interkirchlichen Auseinandersetzungen, ob es seine Aufgabe hier sein kann, „illegitime" Methoden der Glaubenswerbung zu verhindern 1 4 , ferner, wann er was als „Exzeß" behandeln muß, d. h. einzugreifen hat, um Mißformen der Glaubenswerbung zu verhindern und ob dabei auch das religiöse Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaften eine Rolle spielen darf. 3. Der angedeuteten systematischen Ordnung der Fälle folgt die dogmatische Untersuchung. Deren Schwerpunkte sind: die Ermittlung der (immanenten) Grenzen der Glaubenswerbüng, die Gewinnung differenzierter Maßstäbe für den Exzeß durch Einsicht i n die unterschiedlichen Sonderstatus und i n den allgemeinen Status der Freiheit und Gleichheit des Bürgers, die Relevanz der religiös-konfessionell und weltan10

Beispiel bei Zippelius, in: BK, 2. Bearb., 1966, Art. 4 Rdnr. 58. Dazu Grundmann, EvStL, 1966, Art. Toleranz als Rechtsbegriff, Sp. 2303. 12 Vgl. Scheuner, Essener Gespräche 3, 165: keine Rechtsgrundlage für staatlichen Eingriff. 13 s. die Diskussion zwischen Scheuner, Iserloh, Hollerbach, Essener Gespräche 3, 164 f. 14 Vgl. Scheuner, Essener Gespräche 3,164. 11

5 9 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

schaulichen Neutralität des Staates 15 und die staatskirchen- und k i r chenrechtlichen Dimensionen (Stichwort: Zurückhaltung des Staates bei interkirchlichen Auseinandersetzungen und gegenseitigen Abwerbungen). A u f diesem Hintergrund ist die anschließende problemorientierte Analyse und K r i t i k der drei Leitfälle zu sehen, nämlich des m. E. unrichtig entschiedenen Tabak-, des zutreffend gelösten Lehrlings- und des ζ. T. bahnbrechenden Wunsiedel-Falls. I I I . 1. Der Tabak- und Lehrlings-Fall. Der Beschluß des BVerfG 4 ist grundlegend durch sein Diktum, die Glaubensfreiheit umfasse auch die Werbung für den eigenen Glauben wie die Abwerbung vom fremden Glauben 18 . Dem Gericht ist darin zu folgen, daß der weltanschaulich neutrale Staat zwar den Inhalt der Glaubensfreiheit nicht näher bestimmen dürfe, weil er den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten dürfe 1 7 , vielmehr nur der Mißbrauch dieser Freiheit verhindert werden solle. M i t dieser Mißbrauchsformel, einer immanenten Grenze 18 , hat das BVerfG eine genügend elastische Formel zur fallweisen Konkretisierung der Glaubens(ab)Werbung: denn es läßt sich nicht nach „allgemeingültigen Maßstäben" 19 beurteilen, wo die Grenzen der Glaubensabwerbung überschritten werden. So bleibt der Weg frei, Glaubensabwerbungen, die die Würde der Person oder Einzelgrundrechte (etwa des A r t . 6 I I 2 0 ) verletzen, ebenso den Schutz des A r t . 4 zu versagen wie solchen, die unter „Ausnutzung" besonderer Verhältnisse 21 oder m i t 15

BVerfGE 12, 4; 18, 386; 19, 8, 216. s. auch BVerfG, NJW 1969, 31: Freiheit des Werbens, der Propaganda. Das Schrifttum ist dem BVerfG hierbei gefolgt: ζ. B. Wilhelm, Die freie Meinung im öffentlichen Dienst, 1968, S. 73 f.; ders., BayBZ 1964, 18 f.; ZBR 1968, 409; Hollerbach, AöR 92,105. 17 s. jedoch die Begrenzungsformel: „im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker" (NJW 1969, 31). 18 Ebenso Scholtissek, Essener Gespräche 3, 99. Sie ist dies schon deshalb, weil Art. 4 I, I I keinen speziellen Gesetzesvorbehalt enthält — was ein Aspekt seiner „kategorischen Formulierung" ist. Die Immanenz legt auch die sprachliche Formulierung nahe (BVerfGE 12, 4: jedenfalls könne sich auf die Glaubensfreiheit „nicht berufen", wer die Schranken übertritt, die die allg. Wertordnung des GG errichtet habe). Zur Bedeutung des Mißbrauchsprinzips für die immanenten Grundrechtsgrenzen : P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 I I , 1962, S. 139. Zippeixus, in: BK, Art. 4 GG Rdnr. 65, bejaht eine — nach dem Prinzip der Güterabwägung — zu bestimmende immanente Schranke. — Das BVerfG (E 12, 1 [4]) läßt dahingestellt, ob die Glaubenswerbung sich als Unterfall der freien Meinungsäußerung darstelle und damit deren Schranken unterliege, s. aber jetzt BVerfGE 24, 236 ff. 16

19

BVerwGE 15,136. Elterliche Erziehung im Rahmen des Ges. über religiöse Kindererziehung von 1921. 21 ζ. B. des Strafvollzugs, BVerfGE 12, 5. — Ansatzpunkt ist einerseits speziell Art. 4 als Garantie der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates als Heimstatt aller Bürger (BVerfGE 19, 216). Er muß die Glaubensfreiheit 20

27. Exzessive Glaubenswerbung in Sonderstatusverhältnissen

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Hilfe „unlauterer Methoden" geschehen. Damit sind „allgemeine" Gesichtspunkte für die Problematik des- Exzesses gewonnen: Die Mißbrauchsformel ist sowohl i m allgemeinen Status bürgerlicher Freiheit von „dirigierender" Kraft (Lerche), als auch i n amtsähnlichen, Autorità ts-, Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnissen; allerdings nicht i n der Weise, daß die Grenze zwischen allgemeinem und besonderem Status verwischt würde (das geschieht i m Tabak-Fall), sondern i n dem Sinne, daß je konkret gefragt werden kann, was Mißbrauch d. h. Exzeß ist. Damit w i r d deutlich, daß „exzessive Glaubenswerbung" vor allem ein Problem der Unzulässigkeit des Mittels, einer bestimmten Methode ist. Das läßt sich am Lehrlings-Fall 5 , aber auch i n den familienrechtlichen Fällen nachweisen (Mißbrauch der Personensorge i n glaubensverschiedenen Ehen durch eine bestimmte A r t der religiösen Kindererziehung u. ä.) 22 . I m einzelnen: I m Lehrlingsfall gelangt das BVerwG in sorgsamer Analyse der Handwerksordnung zur Eigenart des Lehr Verhältnisses, zumal zur besonderen Autorität des Lehrherrn gegenüber den ihm anvertrauten Lehrlingen. Es bejaht einen Mißbrauch dieses „Vertrauensund AutoritätsVerhältnisses" dann, wenn der Werbung dadurch besonderer Nachdruck verliehen wird, daß die i h r zugänglichen Lehrmädchen bevorzugt behandelt werden. Hier führt die besondere Methode zum Exzeß. Und: „Diese unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses erfolgte Glaubenswerbung erwies sich damit zugleich als ein Mißbrauch des i n A r t . 4 gewährleisteten Rechts". Über die Brücke des Mißbrauchs des Vertrauens- und Autoritätsverhältnisses gelangt das Gericht also zu einem Mißbrauch des A r t . 4, d. h.: gesetzlich begründete Vertrauens-, seiner (anderen) Bürger schützen nicht nur obwohl, sondern weil er religiös neutral ist und weil der Gleichheitssatz (gleiche religiöse Bürgerfreiheit der anderen) dies gebietet. Er hat einen positiven Schutzauftrag, der hier in die Problematik der Drittwirkung der Grundrechte hinüberführt (ähnlich Scholtissek, Essener Gespräche 3, 166). Der andere Ansatz ist der allgemeine Gemeinwohlauftrag, für die öffentliche Ordnung zu sorgen. Beides hängt eng miteinander zusammen. Wo der Staat wegen des Schutzauftrags aus Art. 4 etwa gewaltsame Formen der Glaubenswerbung verbietet, grenzt er die Glaubensfreiheit der Bürger und der Religionsgesellschaften untereinander ab und er wahrt gleichzeitig den öffentlichen konfessionellen Frieden. M. a. W.: Art. 4 selbst — in seiner Negativwirkung gegen den Staat und in seiner Positivwirkung (Ermächtigung und Auftrag an den Staat, bei mißbräuchlicher Glaubenswerbung einzugreifen) — ist ein wesentliches Stück des ordo publicus. 22 Dazu L G Lübeck, FamRZ 1964, 576; s. noch Β GHZ 21, 349 ff.: Die nur im übrigen erziehungsberechtigten Eltern dürfen ihrer Tochter die Einwilligung zur Eheschließung nicht wegen ihrer religiösen Entsch. verweigern; dazu Zippelius, in: BK, Art. 4 Rdnr. 53. — BayObLG, KirchE 5, 300: Unzulässigkeit einer religiösen Beeinflussung, die der nichtsorgeberechtigte geschiedene Ehegatte in der Zeit des ihm zugestandenen Verkehrs mit dem Kind ausübt, s. noch u. bei Fußn. 26, 28 f. 38 V e r f a s s u n g

5 9 4 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche E r z i e h u n g s - u n d A u t o r i t ä t s v e r h ä l t n i s s e nicht-staatlicher A r t 2 3 können P f l i c h t e n m i t sich b r i n g e n , d e r e n V e r l e t z u n g e i n e n M i ß b r a u c h (Exzeß) des A r t . 4 d u r c h G l a u b e n s ( a b ) w e r b u n g i n d i z i e r t 2 4 . D e r „ b e s o n d e r e " S t a t u s des L e h r h e r r n 2 5 , der z w a r n i c h t e i n besonderes „ G e w a l t v e r h ä l t n i s " begründet, w o h l aber ein Stück staatlich-ständisch gebundenen Berufs (E. R. Huber) sein d ü r f t e , h a t gegenüber d e n i h m V e r b u n d e n e n ( L e h r l i n g e n ) besondere M i ß b r a u c h s g r e n z e n z u r Folge. A l l g e m e i n e r f o r m u l i e r t : f ü r die K o n k r e t i s i e r u n g des Exzesses i s t sorgsam n a c h e i n e r e t w a besonders g e a r t e t e n gesetzlich b e g r ü n d e t e n Rechts- u n d P f l i c h t e n s t e l l u n g zu suchen. D e r A b h ä n g i g e n s c h u t z nach §§ 174, 223 b, 108 S t G B m a g h i e r A n h a l t s p u n k t e geben. So lassen sich andere V e r t r a u e n s - , E r z i e h u n g s u n d Abhängigkeitsverhältnisse denken (etwa i n freien Berufen u n d zwischen A p o t h e k e r u n d A p o t h e k e n h e l f e r i n ) , die die M i ß b r a u c h s g r e n ze des A r t . 4 verengen, anders gesagt: d i e G l a u b e n s ( a b ) w e r b u n g s t ä r k e r b e g r e n z e n als i m a l l g e m e i n e n B e r e i c h d e r B ü r g e r f r e i h e i t u n d i h r e r ö f fentlichen Ordnung. Ein kurzer Blick auf die Zeug en-Jehova-Fälle im Familienrecht: Ehe und Familie sind zwar kein „staatliches besonderes Gewaltverhältnis", wohl aber ein Vertrauens- und Pflichtenverhältnis, das verfassungsrechtlich gewährleistet ist (Art. 6). Auch handelt es sich in den bisher bekannt gewordenen Fällen nicht um Exzesse in Formen der Glaubenswerbung, sondern um eine Glaubensbetätigung durch Glaubenswechsel2«. Gleichwohl steht der Staat vor der Aufgabe, eine Sonderform exzessiver Glaubensbetätigung gegebenenfalls mit einer staatlichen Sanktion — der Gewährung der Ehescheidung — zu belegen. Er bestimmt die Mißbrauchsgrenze; er bewertet, was infolge der Umstände schwere Eheverfehlung durch eine bestimmte Ausübung des Art. 4 ist. Er greift ein — im Interesse von Ehe und Familie und der Glau23 Diese Autorität wird mißbrauchsrelevant, während die Scheinautorität eines Polizeibeamten ohne Uniform als Zeuge Jehovas nicht relevant ist. — Jurina, Essener Gespräche 3, 169, spricht in bezug auf den Lehrlings-Fall von „vom Staat verliehenen Ausbildungsbefugnissen". 24 Scheuner, D Ö V 1967, 586: Die religiöse Werbung überschreitet dort die Grenze des Erlaubten, wo sie sich hierbei amtlicher oder amtlich bestätigter Macht bedient. 25 Die Eigenart dieses Status des ausbildenden Lehrherrn (§§21 ff. HandwO n. F.) ist wenig untersucht. Der betroffene Handwerker dürfte weniger dem „staatlich gebundenen" Beruf (Triepel) oder dem „ständisch gebundenen" als vielmehr der Mischform des „staatlich-ständisch gebundenen Berufs" wie der Arzt und Apotheker zugehören (dazu E. R. Huber, WirtschaftsVerwR I, 2. Aufl. [1953], S. 769). Denn die Überwachung seiner öffentlichen Berufspflichten bei der Lehrlingsausbildung ist dem Staat im Zusammenwirken mit den öffentlich-rechtlichen Körperschaften, der Handwerkskammer und der Innung, anvertraut (§§ 24, 90, 91 I Nr. 4, 53, 54 I Nr. 3 HandwO). Die Lit. zur HandwO bejaht ein „Berufsausbildungs- und Erziehungsverhältnis" (z.B. Eyermann / Fröhler, HandwO, 2. Aufl. [1967], § 21 Rdnr. 6; Hartmann 1 Philipp, HandwO, 1954, S. 147; Steffens, HandwO, 1956, Vorb. § 21 [a. F.]: Lehrverhältnis als Ausbildungs- und arbeitsrechtliches Verhältnis). 26 Aus der Rspr.: OLG Nürnberg, FamRZ 1962, 524; OLG Celle, FamRZ 1963, 183; BGHZ 33, 145; 38, 317. Aus der Lit.: Müller-Freienfels, JZ 1964, 305, 344.

27. Exzessive Glaubenswerbung in Sonderstatusverhältnissen

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bensfreiheit des anderen Ehegatten; und diese Grundrechte haben ihre Bedeutung auch in der öffentlichen Ordnung. Auch hier zeigt sich, daß unbeschadet der staatlichen religiösen Neutralität die Glaubensfreiheit begrenzt ist und daß das Gemeinwesen Exzesse mit Sanktionen belegen kann — eben auf Grund seiner Verantwortung für die öffentliche Ordnung 27 . Das läßt sich auch so formulieren: Trotz und wegen Art. 4 und seiner religiösen Neutralität greift der Staat begrenzend in die Glaubensfreiheit ein — erst dieses Paradoxon holt juristisch die Wahrheit ein. Staatliches Hecht wird kompetent. Exzessive Glaubenswerbung ist vor allem eine Frage der Unzulässigkeit des Mittels. I n der Problematik „zur Scheidung wegen Glaubenswechsel" kommt die Relevanz des Mittels, der „Begleitumstände", in der Wendung zum Ausdruck 28 , der Ubertritt eines Ehegatten zu einer anderen Glaubensgemeinschaft als solcher stelle grundsätzlich noch keine schwere Eheverfehlung dar 2 9 . Vielmehr wird die Art und Weise des Kirchenaustritts als äußeres Verhalten bewertet, „das nicht in den von Art. 4 I, I I geschützten Bereich fällt" — so das BVerfG 29. Es unterläßt leider eine Bezugnahme auf den TabakFall. Sie hätte um so näher gelegen, als es auch hier um die Konkretisierung — immanenter — „modaler" 3** Grenzen der Glaubensfreiheit geht und ein dogmatischer Zusammenhang zwischen dem Tabak- und diesem Fall besteht 31 .

Zurück zum TabaJc-Fall, und zwar zu den Partien, in denen er m. E. unrichtig entschieden ist. Die These lautet: Das BVerfG hat aus einem 27 I. S. einer Begrenzung des Art. 4 durch den ordo publicus: Scholtissek, Essener Gespräche 3, 164; Scheuner, DÖV 1967, 589: „Gewissen Begrenzungen immanenter Art unterliegende und in Randzonen in die öffentliche Ordnung einzufügende Betätigung des Glaubens" (s. auch S. 590). Nach ihm (S. 586) sind Art und Formen der religiösen Werbung eine Sache der. Religionsgesellschaften und sind auch hierbei angewandte unlautere, d. h. sachfremde Methoden zwar vom Standpunkt religiösen Zusammenlebens und Friedens aus zu verurteilen, sie können aber nur in den „Grenzfällen" (Tabak-, Lehrlings-Fall und der Fall BayObLG, KirchE 5, 300) ein staatliches Eingreifen hervorrufen. Gesichtspunkte öffentlicher Ordnung als Momente der Begrenzung des Art. 4 I, I I liefert Scheuner (S. 593) zu Recht auch in der Art, daß er die Religionsfreiheit ergänzt sehen will durch die grundlegenden institutionellen Gewährleistungen der Kirchen im öffentlichen Recht und in ihrer im GG und in den Landesverfassungen erfolgten Anerkennung als wichtige Bestandteile des öffentlichen Lebens (s. auch S. 588ff.). Speziell für das Schulwesen: E.-W.Böckenförde,DÖV 1966, 35. — Hollerbach, Essener Gespräche 3, 165, will dem Staat von der Konzilserklärung her die Aufgabe zuerkennen, zur Wahrung des ordo publicus i. S. von öffentlicher Sicherheit, konfessionellem Frieden, die illegitime Form des Proselytismus mit den „normalen Mitteln" des Ordnungsrechts und ggf. sogar des Strafrechts zu unterbinden. 28 s. OLG Nürnberg, FamRZ 1962, 526; BGHZ 33, 149; BVerfGE 17, 305. Zust. Scholtissek, Essener Gespräche 3, 100 f. 29 BVerfGE 17, 305: Zurückweisung der Ansicht der Beschwerdeführerin, das OLG Nürnberg habe ihre Mitschuld „allein" auf den Kirchenaustritt gestützt. s. auch BVerfGE 19, 238. 30 Begriff bei Bernhard Wilhelm, Die freie Meinung im öffentlichen Dienst, 1968, S. 74. 31 Daß mit der immanenten Begrenzung des Art. 4 I, I I durch den Staat dieser punktuell ausgestaltet wird, zeigt BGHZ 38, 319 f.: Das Grundrecht des Art. 4 GG soll vielmehr diese Freiheit dem Staatsbürger auch im Verhältnis zu seinen Mitbürgern und damit grundsätzlich auch den Ehegatten in ihrem Verhältnis zueinander garantieren. — Diese Ausgestaltung bedeutet praktisch eine Drittwirkung des Art. 4.

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5 9 6 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

durchaus zu bejahenden Exzeß im „besonderen Gewaltverhältnis" 3 2 unzutreffende Konsequenzen für das allgemeine staatsbürgerliche Verhältnis gezogen, i n das der Antragsteller durch bedingte Entlassung aus der Strafhaft zurückkehren wollte. Der BGH hat Verfassungsrecht verletzt: den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und A r t . 4. Die Besonderheit des Falles besteht darin, daß sich die Glaubçnswerbung und der Exzeß zwar in einem Sonderstatus abspielt, das Problem sich indes darin nicht erschöpft. Der BGH hatte zu entscheiden, ob der Gefangene in Zukunft und damit i m allgemeinen Freiheitsstatus einen gesetzmäßigen Lebenswandel führen würde. Was „gesetzmäßig" ist, bestimmt sich nach den Maßstäben außerhalb des Gefängnisses im Sinne einer Prognose. I n diesem Bereich der allgemeinen Rechtsordnung ist eine Werbung m i t Tabak nicht gesetzwidrig und nicht „exzessiv". A m Fehlen dieser scharfen Unterscheidung zwischen dem Außen- und dem Innenverhältnis krankt die Behandlung dieses Falles. Denn für das Verhalten innerhalb des Gefängnisses gelten andere Maßstäbe. Hier sind dessen „besondere Verhältnisse" zu berücksichtigen. Strafgefangene befinden sich i n einer spezifischen „Zwangs"situation; es bedeutet eine Störung der inneren Ordnung des Sonderstatus, wenn der Staat die Glaubenswerbung m i t Tabak hier zulassen würde. Der Staat muß die Glaubensfreiheit der M i t gefangenen schützen, die sich i n dieser besonderen Lage befinden. Der Antragsteller machte sich eines Exzesses m i t „BinnenWirkung" schuldig. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 3 3 hätte indes eine Unterbindung von Tabak-Lieferungen genügt; ja allein sie war zulässig. So sehr also der Staat in einem solchen Gewaltverhältnis einem Mißbrauch der Glaubensfreiheit zum Schutz der Personenwürde und der Glaubensfreiheit der Mitgefangenen entgegenwirken und damit auf der Drittwirkung dieses Grundrechts bestehen muß, für die Frage des § 26 StGB, ob der „Glaubenswerber" außerhalb des Gefängnisses in Zukunft ein gesetzmäßiges Leben führen werde, war sein Verhalten irrelevant. Was im „besonderen Gewaltverhältnis" Mißbrauch der Glaubensfreiheit (d. h. Exzeß) ist, braucht es im allgemeinen Freiheitsstatus noch lange nicht zu sein. Aus der allein relevanten Sicht des allgemeinen Freiheitsstatus ist es nicht mißbräuchlich, mit Tabak für den Kirchenaustritt zu werben. Nur was gesetzmäßiges und geordnetes Verhalten im allgemeinen staatsbürgerlichen Verhältnis ist, kann insoweit Grundlage der Entscheidung nach § 26 StGB sein 34 . Der Exzeß in der Vergangenheit, d. h. in der Strafanstalt, läßt keinen Schluß auf die Zukunft des 32 Krit. zu diesem Begriff: P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 20; Hesse, Grundzüge . . . , 3. Aufl. (1969), S. 128; Spanner, DÖV 1963, 29 ff., 497 f. 33 Allg. zum Übermaß verbot: Lerche, Übermaß und VerfR, 1961; zuletzt Wittig, DÖV 1968, 817 m. Nachw. aus der Rspr. des BVerfG. 34 So stellen Schönke J Schröder, StGB, 14. Aufl. (1969), § 26 Rdnr. 13, entscheidend auf die Prognose (!) ab. Nach Jagusch, in: L K , 8. Aufl. (1957), § 26 Anm. 5 b, ist zu prüfen, ob die bedingte Entlassung das öffentliche Interesse am vollen Strafvollzug, ob sie die „allgemeine Rechtstreue und Achtung vor der Rechtsordnung" schädigen würde.

27. Exzessive Glaubenserbung in Sonderstatusverhältnissen

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Beschwerdeführers zu 3 5 . Es ist nicht Sache des weltanschaulich-religiös-konfessionell neutralere Staates, über § 26 StGB die Methoden der Glaubenswerbung in der allgemeinen Hechtsordnung zu „läutern". Es besteht kein sachlicher Zusammenhang zwischen dem Exzeß im Gefängnis und der Verweigerung der vorzeitigen Entlassung. M. a. W.: der BGH hat spezifisches Verfassungsrecht verletzt: den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Ordnung in der Strafanstalt und die Würde und Glaubensfreiheit der Mitgefangenen konnten durch Entziehung der Tabakrationen wiederhergestellt bzw. gewahrt werden 3 7 . I m übrigen durfte der BGH aus dem Verhalten des Beschwerdeführers keine negativen Folgerungen über sein richterliches Ermessen nach § 26 StGB ziehen 38 . Denn Glaubenswerbung mit Tabak ist im allgemeinen Freiheitsstatus ebenso zulässig wie das Care-Paket. Insofern ist auch Art. 4 verletzt — gleichsam antizipiert —, denn dem Antragsteller wurde über einen Negativbescheid zu § 26 StGB versagt, in den allgemeinen Freiheitsstatus zurückzukehren und hier mit Tabak für seinen Glauben zu werben. I n der Verweigerung der vorzeitigen Entlassung aus dem genannten Grund liegt also zugleich eine Verletzung des Art. 4. Der innere Grund, weshalb innerhalb staatlicher „Gewaltverhältnisse" oder n i c h t s t a a t l i c h e r a m t s ä h n l i c h e r oder sonstiger V e r t r a u e n s - u n d A u t o r i t ä t s v e r h ä l t n i s s e d i e Grenze des U n z u l ä s s i g e n ( M i t t e l s ) f r ü h e r e i n setzt als sonst — b e i G l a u b e n s w e r b u n g i m R a h m e n d e r a l l g e m e i n e n öffentlichen O r d n u n g — ist folgender: Die öffentliche V e r a n t w o r t u n g des Staates f ü r die G a r a n t i e des A r t . 4 i s t u m so größer, j e „ n ä h e r " die u m s t r i t t e n e H a n d l u n g b e i m S t a a t l i e g t b z w . b e i gesetzlich e r m ä c h t i g t e n V e r t r a u e n s - , E r z i e h u n g s - u n d ä h n l i c h e n V e r h ä l t n i s s e n u n d j e größer die A b h ä n g i g k e i t u n d d a m i t die M ö g l i c h k e i t d e r B e e i n t r ä c h t i g u n g f r e i e r E n t s c h e i d u n g ist. D a s i s t eine F o l g e des P r i n z i p s d e r N i c h t i d e n t i f k a t i o n (Herb. Krüger) u n d d e r religiösen, w e l t a n s c h a u l i c h e n „ N e u t r a l i t ä t " des 35 Typisch ist insofern der unvermittelte Ubergang der auf das allg. Staatsbürgerverhältnis bezogenen Aussage zum Mißbrauch der Freiheit aus Art. 4 (E 12, 4 unten) zu dem Satz (S. 5 oben): Wer demjenigen, der sich von seinem Glauben lösen soll, unter Ausnutzung der bes. Verhältnisse des Strafvollzugs hierfür Genußmittel verspricht und gewährt, genießt nicht den Schutz des Art. 4 I. 36 Vgl. o. Fußn. 15; ferner BVerfGE 24, 236 ff. — Die für jeden Einzelfall sorgfältig normativ u. vor allem vom betroffenen einzelnen her abzusichernde Mißbrauchsklausel aus BVerfGE 12, 1 (4) bedarf nicht des Begriffs der „grundrechtlichen Wertordnung" (a.a.O.). 37 Vgl. Scheuner, Essener Gespräche 3, 167. Krit. auch Jurina, ebd., S. 166, mit dem Argument, das Mittel der Verweigerung der vorzeitigen Entlassung aus der Strafhaft stehe mit dem Anliegen der Anstaltsordnung nur in einem „sehr losen Zusammenhang". 38 Die h. L. im Straf recht qualifiziert § 26 als „Institut des Straf rechts, nicht des Gnadenrechts": Kohlrausch J Lange, StGB, 43. Aufl. (1961), Vorb. §§ 23 ff. Anm. I I I ; s. auch Dalcke / Fuhrmann / Schäfer, 37. Aufl. (1961), § 26; Schwarz ! Dreher, StGB, 31. Aufl. (1969), § 26 StGB Anm. 3. Die Entsch. liegt im richterlichen Ermessen (Schönke / Schröder, § 26 Rdnr. 21). Auch hier muß sich der Staat jeder Bewertung des Glaubens enthalten. Hamel und Scholtissek, Essener Gespräche 3, 166 f., sprechen von einem Gnadengesuch bzw. -erweis. Auch diese Ansicht führt jedoch zu keiner anderen Beurteilung.

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Staates. Anders formuliert: Je stärker die (exzessive) Glaubenswerbung i n den Bereich der allgemeinen Verhältnisse der gleichen Staatsbürger untereinander fällt, desto mehr kann und muß sich der Staat der Sanktion i n Gestalt eines Eingriffs enthalten, desto mehr w i r d die Glaubens(ab)werbung ein interkirchliches und interkonfessionelles Problem. Staatsrecht wie staatliches Recht hören hier auf — das Kirchenrecht mag beginnen; zumal der kirchliche Unterschied zwischen Mission und Proselytismus 39 ist verfassungsrechtlich ohne Bedeutung. Dies ist freilich nur eine grobe Direktive. 2. Der Wunsiedel-Fall. Stichworte zur Lösung sind: Die Unterscheidung und Zusammenordnung des allgemeinen Freiheits- und des Sonderstatus, die Notwendigkeit differenzierender Ermittlung der Grenzen der Glaubens(ab)werbung i n der allgemeinen Rechtsordnung und i n den besonderen Ordnungen. Hinzu kommen die Relevanz der beamtenrechtlichen Gemeinwohlklausel für Exzesse und das Problem eines verwaltungsrechtlichen Befangenheitsgrundes für den „beamteten" Glaubenswerber. Bestehen besondere Grenzen für Glaubenswerbung kraft des Sonderstatus? — Der Konflikt zwischen Art. 33 V und Art. 4. Der Reiz des Falles liegt darin, daß das BVerwG es bei einer — gegebenenfalls stärkeren — Begrenzung des Rechts zur Glaubenswerbung im Sonderstatus nicht belassen und seine Kriterien nicht allein von diesem aus gewinnen konnte. Denn das Verhalten des Klägers strahlte in die allgemeine — öffentliche — Rechtsordnung aus. Deshalb wurden Aussagen über sie unentbehrlich. Sie sind in inhaltlicher Hinsicht ebenso wegweisend wie in ihrer juristisch-technischen Einkleidung in die Gemeinwohlklausel. Die große Bedeutung des Urteils liegt darin, daß es bei aller Unterscheidung der Glaubenswerbung im besonderen und allgemeinen Status die Verklammerung beider — konstitutioneller — Sachbereiche angemessen zu berücksichtigen weiß — in Konsequenz ihrer Konkretisierung in und durch die eine Verfassung des Grundgesetzes 40 .

a) Erstes Problem: Gibt es Beschränkungen des A r t . 4 auf Grund des „Wesens" des Beamtenverhältnisses und kann die Glaubenswerbung des Klägers dienstliche Interessen schädigen und damit (?) das Wohl der Allgemeinheit gefährden? Das BVemuG bejaht dies und folgert, 39

Dazu ζ. B. Iserloh, Essener Gespräche 3, 164. Die Kontroverse um das „besondere Gewaltverhältnis" kann hier nicht in ihrer ganzen Breite aufgerollt werden (aus der Lit.: Herb. Krüger, Ule, V V D S t R L 15, 109 ff. bzw. 133 ff.; Brohm, DÖV 1964, 238 ff.; Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und GG, 1968; zuletzt Selmer, JuS 1968, 496 ff.). Zu folgen ist der differenzierenden, auf die jeweiligen sachlichen Besonderheiten der einzelnen Lebensverhältnisse abstellenden verfassungsrechtlichen (konstitutionellen) Sicht von Hesse (Grundzüge . . . , S. 126 f.), der die „klassischen" formalen Elemente der Gewaltunterworfenheit zu Recht eliminiert. Diesen Ordnungen sind die jeweiligen Grundrechte zuzuweisen. 40

27. Exzessive Glaubenserbung in Sonderstatusverhältnissen

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daß d e r B e a m t e auch i n d e r A u s ü b u n g seines Rechts, f ü r seinen G l a u b e n zu w e r b e n , b e s c h r ä n k t w e r d e n k ö n n e , w e n n seine W e r b u n g dienstliche Interessen schädigen u n d d a m i t das W o h l d e r A l l g e m e i n h e i t g e f ä h r d e n könnte. Die Frage der Glaubensfreiheit im Sonderstatus ist sonst vor allem im hessischen Schulgebetsfall 41 , in der Bundeswehr 42 und in Strafanstalten aktuell geworden. Dem BVerwG stellt sich jetzt das Problem Glaubensfreiheit speziell im Beamtenverhältnis 43 und hier wohl erstmals in bezug auf Glaubenswerbung in voller Schärfe. Das BVerwG bezieht sich dabei auf seine eigene Judikatur 4 4 — Entscheidungen, in denen es um die Grenzen von Art. 6, 14, 3 und 5 im besonderen Gewaltverhältnis ging. Es führt im Blick auf Art. 33 V aus 45 , es ergebe sich „aus dem Wesen" des Beamtenverhältnisses die Pflicht des Beamten, im Dienst und auch außerhalb des amtlichen Pflichtenkreises alles zu vermeiden, „was die dienstlichen Interessen schädigen und damit das Wohl der Allgemeinheit gefährden könnte". Diese Pflicht könne — „vorbehaltlich des Art. 19 I I GG" — bei einem Beamten zu einer Beschränkung auch verfassungsrechtlich besonders geschützter Grundrechte führen. Daraus folge, daß der Beamte auch in der Ausübung seines Rechts, für seinen Glauben zu werben, beschränkt werden könne, wenn seine Werbung dienstliche Interessen schädigen und damit das Wohl der Allgemeinheit gefährden könnte. Diese Rechtsprechung h a t i h r e verschiedenen „ S t a t i o n e n " . Sie i n t e r essieren h i e r v o r a l l e m i m B l i c k a u f die (unzureichende) verfassungsrechtliche B e g r ü n d u n g u n d die symptomatische schrittweise n o r m a t i v i e rende „ V e r d i c h t u n g " d e r G e m e i n w o h l k l a u s e l , die h i e r g r u n d r e c h t s b e g r e n z e n d w i r k t . D a b e i i s t auch das V e r h ä l t n i s d e r „ d i e n s t l i c h e n I n t e r e s sen" z u m W o h l der A l l g e m e i n h e i t zu k l ä r e n . S c h l i e ß l i c h i s t a u f d e n V e r b a l ( ? ) v o r b e h ä l t des A r t . 19 I I k u r z einzugehen. Schon in BVerwGE 1, 59 fehlt es an einer spezifisch verfassungsrechtlichen Begründung des Gemeinwohlvorbehalts. Das BVerwG judiziert: Diese Pflichten (sc. zur Mäßigung und Zurückhaltung) verwehren es dem Beamten, von dem Recht der freien Meinungsäußerung und der politischen Betätigung einen gleich weiten Gebrauch zu machen, wie er jedem anderen Staatsbürger 41 HessStaatsGH, D Ö V 1966, 51 ff.; dazu krit. E.-W. Böckenförde, D Ö V 1966, 30 ff. (z. B. S. 35: Bedeutung des hergebrachten „ordre public" des Schulwesens für die Grenzziehung zwischen negativer und positiver Bekenntnisfreiheit und ihre Schranken); Hamel, NJW 1966, 18; Scheuner, D Ö V 1966, 151 ff.; zust. v. Zezschwitz, JZ 1966, 337. 42 s. Der Spiegel, Nr. 44 v. 28. 10. 1968, S. 38: „Kirchgang, Entfernung zum Altar." 43 s. schon BVerwGE 19, 260, 262 (kein Verstoß gegen Art. 4 I, I I , wenn die Nichtzulassung zu einem konfessionell gebundenen Amt mit fehlender konfessioneller Eignung begründet wird); 10, 139 (Pflicht zur Zulassung zum Studium an einer der Lehrerausbildung dienenden Pädagogischen Akademie trotz andersartigen Bekenntnisses des Bewerbers). — Zur Problematik der Verknüpfung kirchenrechtlicher Wertungen mit beamtenrechtlichen Eignungsbeurteilungen: BVerwGE 17, 267, bes. 276 ff. 14, 24 f. u. damit auch auf 1, 59; 12, 273. 15 Zu den „hergebrachten Grundsätzen": BVerfGE 8, 343: 22. 420 f.: 15, 195 f.

6 0 0 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche gestattet ist, der „nicht unter dem Zwang der im öffentlichen Interesse unerläßlichen Disziplin steht". Dieses Prinzip 4 6 hält das BVerwG dem Beamtenverhältnis für wesentlich. Es gehöre zu den hergebrachten Grundsätzen. Das öffentliche Interesse ist also nur im Vergleich zum Staatsbürger erwähnt und auf „Disziplin" verengt. I n BVerwGE 12, 273 ist dieser Ansatz erweitert. Zwar wird wiederum ohne Hinweis auf die sich aus dem Grundgesetz ergebende normative öffentliche Gemeinwohlfunktion der Verwaltung und der Beamten argumentiert. Doch verweist das BVerwG wenigstens allgemein auf die §§ 52 ff. BBG (und damit auch auf den Gemeinwohlauftrag des § 52 I) zur Kennzeichnung der besonderen Rechtsnatur des Beamtenverhältnisses. Aus ihr folgert es die Pflicht, „auch außerhalb seines (sc. des Beamten) amtlichen Pflichtenkreises alles zu vermeiden, was die dienstlichen Interessen schädigen und damit das Wohl der Allgemeinheit gefährden könnte". Das ergebe sich „sozusagen von selbst" (S. 275). „Angehängt" ist daran die Formel von der „im öffentlichen Interesse unerläßlichen Disziplin" (S. 276). Erst in BVerwGE 14, 24 f. wird die Gemeinwohlverpflichtung direkt und von vornherein aus der Verfassung begründet: in Gestalt des hergebrachten Grundsatzes i. S. des Art. 33 V GG, daß sich aus dem Wesen des Beamtenverhältnisses u. a. die Pflicht ergibt, — auch außerhalb des amtlichen Pflichtenkreises — alles zu vermeiden, was die dienstlichen Interessen schädigen und damit das Wohl der Allgemeinheit gefährden könnte. Allerdings ist diese Negativpflicht nicht positiv aus der Pflicht des Beamten zum Dienst am Gemeinwohl hergeleitet, deren Konsequenz sie doch ist 4 7 .

Diese sdirittweise Normativierung des Gemeinwohlauftrags in der Negativform der Pflicht, Schaden für das Gemeinwohl zu vermeiden, ist paradigmatisch für den richterlichen Umgang m i t dem „öffentlichen Interesse" 48 . Auch die Verknüpfung der dienstlichen Interessen mit dem Wohl der A l l gemeinheit hat beim BVerwG ihre besondere Geschichte. I n dem hier rezensierten Urteil fällt auf, daß die stereotype Wendung „Schädigung dienstlicher Interessen" und damit Gefährdung des Wohls der Allgemeinheit an nicht weniger als fünf Stellen gebraucht wird. Das erweckt mindestens den Schein einer unkritischen Identifizierung beider Begriffe. I n Wahrheit ist nicht jedes dienstliche Interesse per se Wohl der Allgemeinheit. Eine Differenzierung ist unentbehrlich 49 . Dienstliche Interessen können Aspekte des umfassenden komplexen Begriffs „Gemeinwohl" sein; andere Gesichtspunkte öffentlichen Interesses können sich in jenem vielseitigen „offenen" Interpreta46 Zu seiner Begründung ist u. a. auf eine D V O zum DBG und auf § 53 BBG verwiesen, also nicht auf die Gemeinwohlverpflichtung in § 52 BBG. 47 I m folgenden Abschn. (S. 25) wird zwar zutr. gesagt, die Grundrechte seien „auch im öffentlichen Interesse" eingeräumt, doch ist diese Einsicht mit dem Vordersatz erkauft, sie seien dem Staatsbürger nicht zur freien Verfügung eingeräumt. 48 Dazu meine Freiburger Habilitationsschrift: „öffentliches Interesse" als juristisches Problem, 1968, MS. 49 s. z.B. die differenzierende Verwendung der Begriffe in: § 1 I I Nr. 1, 3 VO über Nebentätigkeit der Beamten v. 6. 7. 1937 (RGBl. I, 353); § 5 I I , I I I , I V BNebentätigkeitsVO ; § 77 I I 1 BadWürttLBG.

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tionsvorgang geltend machen, der zur Konkretisierung des Gemeinwohls führt 5 0 . Insofern bestätigt sich einmal mehr die Notwendigkeit, das rechtstheoretische Niemandsland des Begriffs „Gemeinwohl", „öffentliches Interesse" u. ä., das bislang weithin einer terra incognita gleicht, juristisch zu erschließen 51 . Das G e m e i n w o h l b z w . ö f f e n t l i c h e Interesse h a t teils g r u n d r e c h t s s t ä r kende, t e i l s w i e h i e r grundrechtsbegrenzende F u n k t i o n , insgesamt eine g r u n d r e c h t s p r ä z i s i e r e n d e R o l l e — i m a l l g e m e i n e n w i e i m Sonderstatus u n d selbst i n b e z u g a u f die G l a u b e n s f r e i h e i t . Es k o m m t entscheidend d a r a u f an, d i e n o r m a t i v i e r e n d e n G e s i c h t s p u n k t e h e r a u s z u p r ä p a r i e r e n , die eine B e g r e n z u n g a k t i v e r G l a u b e n s f r e i h e i t i n d e r F o r m d e r G l a u b e n s w e r b u n g i n E x z e ß f ä l l e n b e g r ü n d e n k ö n n e n . Sie lassen sich aus V e r f a s sungs· u n d Gesetzesrecht k o n k r e t i s i e r e n . Dadurch, daß das BVerwG die Glaubensfreiheit des Beamten unter den Gemeinwohlvorbehalt stellt, gewinnt es eine tragfähige dogmatische Basis für die Entscheidung des Falles. Es verneint eine Verletzung der dienstlichen Interessen und damit eine Gefährdung des allgemeinen Wohls selbst dann, wenn der Kläger bei Hausbesuchen innerhalb seines Dienstbereichs (ohne Uniform und ohne Hinweis auf seine Dienststellung) 52 als „der zuständige Polizeivollzugsbeamte" anerkannt wird und wenn sich seine „Autorität und Amtsgewalt" objektiv derart auswirken, daß sich die Aufgesuchten ihm gegenüber weniger frei und ungebunden fühlen als gegenüber anderen „Predigern", weil sie damit rechnen, mit ihm als Hüter der öffentlichen Ordnung und als Gehilfe der Strafverfolgungsbehörden jederzeit zu tun haben zu können. Die Begründung ist ein Stück staatsbürgerlicher Erziehung i m guten S i n n e des W o r t e s , e i n A p p e l l a n die E i g e n v e r a n t w o r t u n g , die als e r wünschtes N e b e n p r o d u k t e i n e r ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e n Entscheidung durchaus m i t „ a b f a l l e n " d a r f — w e n n sie j u r i s t i s c h k o n t r o l l i e r b a r b e g r ü n d e t ist. Das BVerwG stellt nämlich auf die Reaktion der vom Kläger aufgesuchten „Staatsbürger", auf ihr subjektives Gefühl der Unfreiheit ab. Sie war Anstoß und Grund für das Verbot gewesen. Daß die von dem Beamten Aufgesuchten sich gehemmt fühlten, wäre nach Ansicht des BVerwG nicht in erster Linie dem „von der Verfassung grundrechtlich geschützten Verhalten des Klägers zuzuschreiben, sondern vor allem einem überholten Obrigkeitsden50 Dazu Beispiele bei Ρ. Häberle, DVB1. 1967, 220 ff.; ders., in der o. Fußn. 48 zit. Studie. Gute Ansätze in der Entsch. zur Zölibatsklausel für Beamte: BVerwGE 14, 28 f., 30. — Insofern ist BVerwGE 12, 276 differenzierter und behutsamer: Es spricht vom Wohl der Allgemeinheit, „nach welchem sich auch die Interessen des Dienstes bestimmen", obwohl es zuvor die gleiche hier kritisierte, einen zwingenden Schluß vom dienstlichen Interesse auf das Gemeinwohl behauptende Formel („und damit") gebraucht (S. 275; ebenso BVerwGE 14, 24). 51 Dazu einstweilen P. Häberle, DÖV 1969, 150 f.; Zeitschr. f. Pol. 1969, S. 273 ff. Jüngst: Wohl der Allgemeinheit und öffentliche Interessen, 1968, Schriftenreihe Speyer, mit den Beiträgen von Schnur, Becker, Rupp und Ule. 52 Hausbesuche in Uniform innerhalb und außerhalb des Dienstbereichs sind jedoch unzulässig.

6 0 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche ken der Aufgesuchten'^. Diese Aktualisierung „guten" staatsbürgerlichen freiheitlichen Denkens als Leitbild und Anspruch für die öffentliche Ordnung und das Gemeinwohl ist denkbar glücklich. Ungeachtet aller zu befürchtenden Reaktion aus „Untertanenmentalität" heraus sollte der Staat einen „guten" Typus des demokratischen Bürgers voraussetzen, der nicht Objekt sondern Subjekt ist, und ihn über Rechtsprechung und Verwaltung mitprägen helfen 54 .

b) Das zweite Problem spiegelt sich in dem Satz: „Ein jedenfalls den Verhältnissen in der Bundesrepublik nicht entsprechendes, also falsches Obrigkeitsdenken zu berücksichtigen und ihm sogar dadurch Rechnung zu tragen, daß Beamte in der Ausübung der auch ihnen zustehenden Grundrechte beschränkt werden, läge nicht, einmal im wohlverstandenen Interesse des öffentlichen Dienstes und damit des allgemeinen Wohls."

Dieser Passus führt auf den sachlichen Zusammenhang zwischen Grundrechtsausübung, öffentlichen Interessen und öffentlicher Ordnung. Das dienstliche Interesse bzw. allgemeine Wohl verliert seine übliche einseitige grundrechtsbeschränkende Funktion. Es w i r k t posi53 Eine Parallele zur Hirtenbrief-Entsch. des OVG Münster, JZ 1962, 767, besteht insofern, als auch hier ein Bild des freien Bürgers vorausgesetzt werden muß, so daß m. E. Wahlnötigung (§ 108 StGB) auch dann nicht vorläge, wenn die Kirche mit Mitteln der Kirchenzucht und „ewigem Höllenfeuer" drohen würde. Der „neutrale" Staat darf zu den theologischen Fragen keine Position beziehen (dazu Ridder, JZ 1962, 774). Das OVG Münster, S. 770, hielte es jedoch für bedenklich, wenn die Kirche die Spendung ihrer Sakramente von der Befolgung ihres Rats abhängig machte, s. noch BVerwGE 18, 16 f. 54 Beiläufig, eher „verbal" und gegenüber seiner bisherigen Judikatur neuartig, meint das BVerwG von der besagten (Negativ-)Pflicht (nicht das Wohl der Allgemeinheit zu gefährden), sie könne — „vorbehaltlich der Berücksichtigung des Art. 19 I I GG" — bei einem Beamten zu einer Beschränkung auch von Grundrechtsnormen führen. Das führt zu zwei Fragen: einmal der nach der Bedeutung des Art. 19 I I für Sonderstatus, zum anderen nach dem Verhältnis zwischen dem Gemeinwohlvorbehalt und Art. 19 I I . — I n der Rspr. des BVerfG deutet vieles auf eine glückliche Verbindung von Gesichtspunkten der „absoluten" und der sog. relativen Wesensgehaltstheorie (Ubermaßverbot). I. S. einer vermitt. Theorie P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 42 ff., 64 ff., 67 ff., 124 f.; Hesse, Grundzüge . . . , S. 132 f.; s. zuletzt BVerfGE 19, 348 f.: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich „im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst". — Für das bes. „Gewalt"Verhältnis gilt nichts anderes. I. S. „praktischer Konkordanz" (Hesse, Grundzüge . . . , S. 130) ist dem Grundrecht und dem Sonderstatus optimal Rechnung zu tragen. Das bedeutet, daß in der wechselseitigen Abgrenzung und Zuordnung zugleich das Wesen des Grundrechts konkretisiert wird und Art. 19 I I insofern keine konstitutive Bedeutung hat (vgl. P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 234 ff.; Hesse, a.a.O., S. 132). Ohne Art. 19 I I arbeitet BVerfGE 22, 219 mit dem unverletzlichen Wesensgehalt, der „für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte" ermittelt werden müsse. Daher kann sich auch das BVerwG die Verbalformel „leisten". — Der Stellenwert des Gemeinwohls in diesem Interpretationsvorgang besteht darin, für Glaubensfreiheit wie für den Sonderstatus Gesichtspunkte zu liefern. Denn nicht nur das Beamtenverhältnis, sondern auch die Freiheit ist ein Gemeinwohlgut. Anders formuliert: Wo eine Berufung auf Art. 19 I I im besagten Verständnis notwendig erscheint, geschieht dies auch um des öffentlichen Interesses willen!

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tiv, grundrechtsverstärkend. Diese „Umkehrung" der Gemeinwohlklausel präsentiert sich zwar noch i n der Technik doppelter Negation. Dennoch ist in nuce erkennbar, daß Grundrechtsausübung (auch) i m öffentlichen Interesse liegt. Zugleich zeichnet sich eine Interpretation des Verhältnisses von Grundrechten und öffentlicher Ordnung ab, die die Grundrechte zu integrierenden Bestandteilen der öffentlichen Ordnung macht 55 . Dieses Verständnis der öffentlichen Ordnung w i r k t über die hier als „Scharnier" dienende Gemeinwohlklausel 56 gleichsam in das Grundrecht (und den Sonderstatus) hinein und verstärkt es. Das, wenn auch nur negativ umschriebene Staatsbild („kein Polizeistaat", „falsches Obrigkeitsdenken") führt zu einer weiteren großherzigen Grundrechtsinterpretation: Der Polizeibeamte darf als „Staatsbürger ohne Uniform" für seinen Glauben werben. Dem Argument 5 7 , es sei Sache des Aufgesuchten, einem lästigen Missionar die Tür zu weisen und es gebe „keinen staatlichen Ersatz für mangelnde Zivilcourage", ist im Interesse eines optimalen Freiheitsbereichs zuzustimmen. Der Bürger sollte nicht voreilig nach dem Staat rufen; das liegt im Sinne der aktivbürgerlichen Grundrechtssicht.

Das BVerwG ist so auf dem besten Wege zu der Gleichung: (öffentliche) Freiheit, öffentliches Interesse, öffentliche Ordnung zu finden. Zugleich macht es A r t . 4 innerhalb des Beamtenverhältnisses effektiv. Die grundrechtliche Freiheit hat damit einen doppelten Gewinn. Der vom BVerwG dem Bürger abverlangte M u t zur eigeninitiativen Freiheitsausübung w i r d sich besonders dort auswirken, wo es i n der allgemeinen Rechtsordnung zwischen den Konfessionen untereinander zu Glaubensabwerbungen kommt — eine Situation, die, wie gesagt, erst relativ „spät" den staatlichen Eingriff zuläßt. c) Das dritte Problem: Besteht Besorgnis der „Parteilichkeit" des werbenden Polizeibeamten bei der künftigen Erledigung dienstlicher A u f gaben? Nach Ansicht des BVerwG könnte eine das angefochtene Verbot rechtfertigende Besorgnis der Parteilichkeit als begründet nur dann anerkannt werden, wenn „ähnlich wie bei der Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit objektive Gründe vorlägen, die aus der Sicht eines vernünftigen Betrachters geeignet sind, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Klägers zu erregen". Darin allein, daß der Kläger bei seinen Hausbesuchen — ohne Uniform und ohne Hinweis auf seine Dienststellung — für seine Glaubensgemeinschaft werbe, könne ein vernünftiger Betrachter noch nicht 5:> Dazu E.-W. Böckenförde, JuS 1966, 361; P. Häberle, Zeitschr. f. Pol. 1969, S. 273 ff.; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1968, S. 19: Wechselwirkung zwischen den Grundrechten und der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. 56 Selbst das prima facie so „selbstbezogene" Interesse des öffentlichen Dienstes wird von außen her bestimmt, von der dem Bürger abverlangten, das Leitbild der öffentlichen Gesamtordnung mitprägenden Freiheitsaktivität. 57 So Wilhelm, BayBZ 1964, 20; ders., Die freie Meinung . . . , S. 75, und jetzt das BVerwG, DÖV 1968, 801 f.

6 0 4 I .

Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

die Gefahr erkennen, daß der Kläger die sich gegen seine Glaubenslehre ablehnend Verhaltenden künftig bei der Erledigung dienstlicher Aufgaben nachteiliger als seiner Glaubenslehre Aufgeschlossene behandeln werde. Die sachgerechte und objektive Wahrnehmung der Dienstgeschäfte erscheine bei dem Kläger nicht mehr gefährdet als ζ. B. bei einem Beamten, der überzeugtes Mitglied einer politischen Partei ist.

Dem ist i m Ergebnis zuzustimmen; die Begründung fordert jedoch ζ. T. K r i t i k heraus. Das BVerwG unterläßt eine verfassungsrechtliche oder direkt gesetzliche Begründung der Pflicht eines Verwaltungsbeamten zur Unparteilichkeit, die die Konsequenz des Gemeinwohlauftrags ist. Es behilft sich statt dessen mit einer „Gemeinwohlanalogie" 58 zur Ablehnung eines Richters wegen Befangenheit 59 . Näher hätte ein anderer Weg gelegen: Aus dem normativen Gemeinwohlauftrag der Verwaltung 6 0 (Art. 33 V, 20), der ζ. B. in § 52 1 1 , 2 BBG, 35 I BRRG (s. auch §§ 64 I BadWürttLBG, 61 I NdsBG, 55 I NRWLBG) seine verfassungsausführende Konkretisierung gefunden hat und dessen Kehrseite die Pflicht zu „unparteiischem" Verhalten ist, impliziert unmittelbar die Unzulässigkeit einer Glaubenswerbung, falls daraus die Besorgnis der Parteilichkeit entstehen könnte. Nur zur Unterstützung des Gedankens, daß schon die Besorgnis ausreicht, hätte es eines Hinweises auf Ablehnungsgründe gegenüber dem Richter bedurft bzw. das BVerwG hätte sich auch hier zunächst einmal an „näherliegende" verfahrensrechtliche Vorschriften halten sollen. Der Weg über den Richter 61 ist insofern ein Umweg; er bedürfte sorgfältigerer Begründung, weil Rechtsprechungs- und Verwaltungsfunktion verschieden sind. Das BBG hat in § 65 I I 1 (genehmigungspflichtige Nebentätigkeit) die „Unbefangenheit" des Beamten ausdrücklich als Anforderung seines normativen Gemeinwohlauftrags qualifiziert 62 . Das Urteil sollte Anlaß für die Gesetzgebung sein, zu dem vom BVerwG materiellrechtlich entwickelten Befangenheitsgrund als prozessuales Korrelat 58

Dazu allg. meine o. Fußn. 48 zit. Studie. Dazu für die Verfassungsgerichtsbarkeit: BVerfGE 20, 5 ff., 14 ff.; dazu krit. Sarstedt, JZ 1966, 314; Friesenhahn, JZ 1966, 704; s. auch Zwirner, AöR 93, 84 ff. — Das BVerwG hätte auch an seine eigene Judikatur in E 12, 276 anknüpfen können, wo die Pflicht eines bei dem Patentamt tätigen Beamten bejaht wird, „alles zu vermeiden, was geeignet wäre, in der gewerblichen Rechtsschutz suchenden Bevölkerung auch nur den Anschein zu erwecken, daß das Patentamt nicht nach objektiven Maßstäben" entscheidet. — Das PrOVG entwickelte einen allg. Verfahrensgrundsatz, daß sich die Person der Beteiligung an einer Amtshandlung zu enthalten hätte, deren persönliche Interessen durch sie wesentlich betroffen sind, wenn zu besorgen ist, ihre Entsch. werde infolgedessen nicht objektiv sein (E 23, 211 f.; 38, 226; 59, 466; 78, 381; 84, 306; dazu Wimmer, M D R 1962,12). 60 Dazu einstweilen P. Häberle, AöR 90, 385 ff. — Hesse, Grundzüge..., S. 201, spricht vom Dienst, vom sachlichen Zweck und vom Amtsauftrag des Beamten, der nicht Diener einer Partei ist. Zur Sachlichkeit und Uberparteilichkeit der Verwaltungsfunktion ebd. S. 199. 61 Vgl. §§ 42 I, I I ZPO; 24 StPO; 16 BNotO; 54 VwGO; 12 Bad.-Württ.StaatsGHG. 02 s. auch § 77 I I 1 BadWürttLBG; § 5 I I I BNebentätigkeitsVO; § 70 I N R W L B G ; § 29 I I BerlLBG; Art. 74 I I BayLBG. 59

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Ablehnungsmöglichkeiten und Ansprüche zugunsten des Bürgers zu schaffen 6 3 . Das BVerwG hilft sich einstweilen auf glückliche Weise materiellrechtlich im Wege der „Selbstkontrolle" der Verwaltung 8 4 . Abgesehen davon enthält die Argumentation sachlich geglückte Wendungen : so den Rückgriff auf die Figur des vernünftigen Betrachters, die in dieser oder ähnlicher Gestalt in der Judikatur auch sonst in gemeinwohlhaltigen Fragen auftaucht 65 , und die Parallele zum Beamten, der überzeugtes Mitglied einer Partei sei und im Vergleich zu dem beim Kläger die sachliche und objektive Wahrnehmung der Dienstgeschäfte nicht mehr gefährdet sei.

63 H. J. Wolff , VerwR I I I , 2. Aufl. (1967), § 156 I I I e 1 (S. 236), bejaht ein Handlungsverbot bei Befangenheit auch bei Fehlen bes. Bestimmungen als einen „aus dem Gerechtigkeitspostulat der Sachgemäßheit herzuleitenden Rechtsgrundsatz". Danach darf der in einem Verwaltungsverfahren nicht mitwirken, bei dem Umstände vorliegen, die objektiv geeignet sind, Mißtrauen gegen sein sachgemäßes, unparteiisches Verhalten zu rechtfertigen. Ein subjektives öffentliches Recht auf Ablehnung des befangenen Amtswalters bestehe aber nur dann, wenn es gesetzlich ausdrücklich vorgesehen sei (S. 238). s. auch ders., VerwR I I , 2. Aufl. (1967), § 73 I I I c 2. (S. 36): Befangenheit bei Verdacht parteilicher Verwaltungsführung — unter Hinweis auf BVerfGE 20, 1 ff. — s. noch Wimmer, M D R 1962, 13, der eine Analogie zum gerichtlichen Ausschließungs- und Befangenheitsrecht nur dann zulassen will, wenn das von der Verwaltung einzuhaltende Verfahren kraft Gesetz justizförmig ausgestaltet worden ist. 84 s. schon BVerwGE 16, 150 ff. speziell für Fragen der Befangenheit eines Prüfers, wobei es „ebenso wie bei § 42 I I ZPO" lediglich darauf ankommen könne, ob objektiv ein Grund vorliege, der geeignet sei, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit des Prüfers zu rechtfertigen („vernünftiger Grund vom Standpunkt des Prüflings aus", S. 153). Da das BVerwG diesen Satz im Rahmen des von ihm auf Mängel nachgeprüften Prüfungsverfahrens ausgesprochen hat und der Betroffene hier die Einhaltung der Verfahrensgrundsätze überprüfen lassen kann, läuft diese Rspr. praktisch auf eine „Vorform" eines prozessualen Ablehnungsanspruchs des einzelnen hinaus. — Ein Blick auf Befangenheitsvorschriften im dt. Verwaltungsverfahrensrecht ergibt: § 57 I I I MusterE eines VerwVerfG (1963, 2. Aufl. 1968), sieht die Möglichkeit einer Ablehnung wegen Befangenheit im förmlichen Verfahren vor Ausschüssen vor (s. auch § 138 I I I 1 SchlHLVwVfG). I m übrigen wird ein Ablehnungsrecht nicht eingeräumt, „weil sonst eine mißbräuchliche Ausnutzung und eine dem schnellen Abschluß des Verwaltungsverfahrens abträgliche Verschleppung befürchtet werden müßte" (Einzelbegründung, a.a.O., S. 117). — § 15 I Nr. 2 dürfte im vorl. Polizeibeamtenfall schon wegen S. 2 ausscheiden. — Krit. Ule / Becker, Verwaltungsverfahren im Rechtsstaat, 1964, S. 31, die § 15 für ergänzungsbedürftig halten unter dem Gesichtspunkt des Befangenheitsverbots, daß schon die „Spur eines Verdachts" ausgeräumt und jedes subjektive Interesse ausgeschaltet werde. — Weit ergiebiger sind ausländische Regelungen, s. die Verwaltungsverfahrensges. und Entwürfe, zit. bei Ule, Verwaltungsverfahrensges. des Auslands, 1967. z.B. Österreich: § 7 I Nr. 4 A V G (Ule I, S. 448); Norwegen: §§ 6 ff. des E. eines Ges. (Ule I, S. 397 ff.); Schweiz: Art. 9 E (Ule I I , S. 622); Jugoslawien: Art. 44 I Ges. über allg. Verwaltungsverfahren (Ule I, S. 228); Ungarn: Art. 16 (Ule I I , S. 871); Polen, Art. 21 § 2 (Ule I, S. 513). 65 Dazu meine o. Fußn. 48 zit. Studie; BVerfGE 20, 359; BVerwGE 2, 176. — BVerfGE 20, 5,14 spricht von einer „vernünftigen Würdigung aller Umstände", s. auch BayVerfGH, DÖV 1965, 639: Unzulässigkeit der Beteiligung eines Prüfers, wenn bei vernünftiger Würdigung Mißtrauen gegen dessen Unparteilichkeit gerechtfertigt ist.

6 0 6 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

IV. Zusammenfassend ergibt sich: 1. Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung (Missionsfreiheit) sind integrierende Bestandteile des A r t . 4 I, I I als privater und öffentlicher Freiheit 6 0 . 2. Grenzen der Glaubens(ab)werbung ergeben sich als immanente Grenzen aus A r t . 1, der Glaubensfreiheit Dritter, anderen Grundrechten Dritter (z. B. A r t . 6 I, II, Glaube des anderen Ehegatten), dem Toleranzgebot als Rechtsprinzip (Grundmann), aus verfassungskonform interpretierten Sonderstatus und — zum Teil sich damit überschneidend — aus anderen Rechtsgebieten sowie aus der Verantwortung auch des religiös-weltanschaulich neutralen Staates als „Heimstatt aller Staatsbürger" (BVerfGE 19, 206 [2161) für die öffentliche Gesamtordnung 07 . Dabei ist i m Sinne „praktischer Konkordanz" ein differenzierter, „verhältnismäßiger" Ausgleich zwischen A r t . 4 I, I I und den kollidierenden (Grund)Rechten (und Rechtsbereichen) zu suchen. 3. Je weniger intensiv (und staatlich: A r t . 6 GG!) verfassungsrechtlich begründete Sonderstatus oder gesetzliche Vertrauens-, Abhängigkeitsund Erziehungsverhältnisse sind, je freier, „offener" und dem allgemeinen Freiheitsstatus näher sie sind, desto weniger geht den Staat die Glaubens(ab)werbung etwas an und desto „später" beginnen die Grenzen des durch A r t . 4 nicht mehr gedeckten Exzesses und damit Recht und Pflicht des Staates zum „verhältnismäßigen" Eingriff. Dabei ist sowohl nach der A r t des Sonderstatus als auch nach der Besonderheit des jeweiligen Rechtsgebiets zu differenzieren. So klar der allgemeine Bürgerstatus vom Sonderverhältnis zu unterscheiden ist, i h r Zusammenhang darf nicht außer acht bleiben. Das zeigt der Wunsiedelfall. Ihm kommt bahnbrechende Bedeutung für die Auslegung des A r t . 4, seine Effektivität i m allgemeinen und i m Sonderstatus und für den normativen Zusammenhang von öffentlicher Ordnung und Gemeinwohl zu 6 8 . ββ

s. auch Art. 9 M R K : Recht auf Wechsel der Religion oder Weltanschauung. — Zur öffentlichen Freiheit P. Häberle, JZ 1966, 388 Fußn. 49; JuS 1967, 71, 73 f., und zu „Öffentlichkeit und Verfassung" ders., Zeitschr. f. Pol. 1969, S. 273 ff. 67 Zur Art. 4 I, I I verstärkenden Rolle des „Selbstverständnisses" der Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften (im Anschluß an BVerfG, NJW 1969, 31) im allg. Bürgerstatus P. Häberle, in DÖV (vgl. o. Fußn. 6). Dieses Selbstverständnis ist jedoch nicht zu berücksichtigen im Sonderstatus u. ä. sowie beim Konflikt zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften untereinander. 68 Bes. Behandlung verdiente die Problematik der (Grenzen der) Werbung für Kriegsdienstverweigerung. Sie ist aktuell angesichts des sprunghaften Anstiegs der Wehrdienstverweigerer im Jahre 1968 (Der Spiegel, Nr. 3 v. 13. 1. 1969, S. 50 ff.) und der Tätigkeit organisierter Verbände. Einer Meldung der F A Z vom 29. 1. 1969 zufolge hält der Generalinspekteur der Bundeswehr die

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Auch i m größeren zeitlichen Abstand ist BVerwGE 30, 29 eine Grundsatzentscheidung geblieben (aus der Lit.: H. Weber, Das Staatskirchenrecht i n der Rechtsprechung des BVerwG, FS Sendler, 1991, S. 553 (556)). Sie konturierte Art. 4 GG zusammen mit der Rechtsprechung des BVerfG, ζ. Β. E 83, 341 (354 ff.), (vgl. aus der Handbuch-Literatur etwa: A. von Campenhausen,, Religionsfreiheit, HdBStR Bd. V I (1989), S. 369 (422); zuletzt als Aufsatz J. Müller-Volbehr, Das Grundrecht der Religionsfreiheit und seine Schranken, DÖV 1995, S. 301 ff.). Die Glaubensfreiheit steht heute an anderen „Fronten" auf der Probe, vor allem i m Blick auf „neue" Religionen und Weltanschauungen (dazu etwa P. Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989). In einen noch größeren grundsätzlichen Zusammenhang rückt dieses Thema angesichts der Herausforderung des Verfassungsstaates durch den Fundamentalismus (dazu P. Häberle, Liber amicorum für J. Esser, 1995, S. 49 ff.). Verfassungsrechtliche Grundsatzfragen können dadurch am besten erarbeitet werden, daß möglichst alle Literaturgattungen sich ihrer annehmen: vom Aufsatz über die Rechtsprechungsrezension, die Monographie bzw. das Lehrbuch bis zum Handbuch- und Lexikonartikel. Speziell für Art. 4 GG kann auch insoweit nur Positives vermerkt werden (vgl. zuletzt: J. Listi, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdBStKirchR Bd. I, 1994, S. 439 ff.). In Europa arbeitet auch die ausländische Literatur an dem GrundRecht der Glaubensfreiheit (vgl. für Italien etwa J. Luther, Die Rechte der Gewissen i n der multikulturellen Verfassung, in: I. Fleiner (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, 1995. Vermutlich ist auch wegen Art. 9 EMRK die Glaubensfreiheit nur in „gemeineuropäischer Hermeneutik" und dies immer wieder neu zu erschließen. Sie bildet eine der drei kulturellen Grundfreiheiten, die Goethe in seinem Dictum gültig umschrieben hat: „Wer Kunst und Wissenschaft besitzt, hat auch Religion; wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion". „Umsetzungen" unternimmt mein Beitrag: Die Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht, in: Berka / Häberle / Heuer / Lerche, Kunst und Recht im In- und Ausland, 1994, S. 37 ff.

Häufung der Anträge nicht für ein Argument gegen das Grundrecht, sondern für einen „häufig organisierten Mißbrauch dieses Grundrechts"; s. jetzt auch den Jahresbericht des Wehrbeauftragten Hoogen (1968), FAZ v. 8. 3. 1969. — Problem ist, ob dem einzelnen Kriegsdienstverweigerer bei seiner Werbetätigkeit Art. 4 I I I oder (nur) die Meinungsfreiheit zugute kommt. Dogmatisch stellt sich ferner die Frage einmal nach den Grenzen der Werbung durch den Einzelnen (innerhalb oder außerhalb der Bundeswehr, Art. 17 a I); zum anderen nach den Mißbrauchsgrenzen „organisierter" Werbung. Für sie gelten wohl Art. 5, 8 und 9 I GG, ggf. i. V. m. Art. 19 I I I , wobei die Frage ist, ob sich Art. 4 I I I im Wege einer „Ausstrahlungswirkung" zugunsten der Verbände u. ä. auswirkt — das hätte Konsequenzen für die Ermittlung der Mißbrauchsgrenzen.

28. Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht* Besprechung des gleichnamigen Werkes von Klaus Schiaich, Tübingen: Mohr (Siebeck). 1972. 298 S. 1. Schlüsselbegriffe der gesamten Staatswissenschaften bzw. ihrer Nachfolgedisziplinen wie „Souveränität", „Öffentlichkeit", „Staat und Gesellschaft", „Demokratie" und „Neutralität" bedürfen immer neu der Staats- bzw. verfassungstheoretischen und -praktischen Aufarbeitung, da ihre „ambiance" wechselt und i h r „Substrat", die politische Praxis m i t ihren Konflikten, ihnen neue Inhalte und Funktionen vermittelt. Das gilt nicht nur für verschiedene verfassungsgeschichtliche Perioden, sondern selbst innerhalb eines bestimmten Verfassungstypus: Auch eine konkrete Verfassung wie das Grundgesetz hat „ihre" Verfassungsgeschichte (speziell durch „Verfassungswandel" und -änderungen 1 , durch die Entfaltung der Wirklichkeit der Verfassung insgesamt). Darum kann die verfassungstheoretische Aufarbeitung eines Problems (im Rahmen einer bestimmten Verfassung) nie „endgültig" sein: Die Verfassungspraxis der Verfassung als „ l a w i n public action" schließt dies aus. Umgekehrt ist Verfassung bzw. die sie tragende Dogmengeschichte nie „ n u r " Geschichte: Dazu steht die Verfassung viel zu sehr i m Kontinuum ihrer und der allgemeinen Entwicklung, der Prozesse von „ t r i a l and error". Auch dort, wo „neue" Verfassungen „Reaktionen" auf vorangehende Verfassungszustände sind, geht ein Stück der negierten „Gegenstruktur" in die neue Verfassung und ihre Problemhorizonte ein. Diese — wenn man w i l l — Dialektik zwischen gelebter, heutiger Verfassung und „überholter" Verfassung, zwischen Gegenwart und Vergangenheit • ZevKR 18 (1973), S. 420 - 429. 1 Exemplarisch die US-Bundesverfassung! — Das Institut „Verfassungswandel" ist freilich in Frage zu stellen. (Offene) Verfassungsinterpretation kennt entsprechend ihrer Eigenart keine besonderes Institut „Verfassungswandel". Es gibt für sie keine Vorgegebenheiten außer dem Verfassungstext. Da dieser aber meist unbestimmt ist und von der Interpretation lebt, kann er sich auch nicht eigentlich „wandeln". Verfassungswandel hat also gar nicht den bestimmten, fixierten Gegenstand, den er begrifflich voraussetzen würde. Es gibt „nur" Verfassungs interpretation, keinen Verfassungstuandel/ Auch Radbruchs Wort von der Interpretation als „zu Ende Denken der Norm" ist fragwürdig. I m Bereich der Verfassungsinterpretation gibt es keinen Fixpunkt, demgegenüber in diesem Sinne von „Anfang" oder „Ende" gesprochen werden könnte.

28. Neutralität als verf assungsrechtliches Prinzip

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muß die Verfassungsdogmatik i n die A r t und Weise der Problembehandlung einbeziehen. Verfassungsgeschichte kann und soll insofern gar nicht „an und für sich" getrieben werden. „Verfassungsinterpretation" kann ihrerseits ohne das Hereinholen verfassungsgeschichtlicher Fragestellungen nicht geleistet werden. Die Wirklichkeit der Verfassung hat ihre Perspektiven nicht nur „nach vorn", sondern auch nach „zurück". Überspitzt: Die Gegenwart der Verfassung lebt aus der Zukunft, die „schon begonnen hat", und der Vergangenheit, die „noch nicht vollendet ist". 2. Bei dieser Sachlage darf ein Buch besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, das wie die Tübinger Habilitationsschrift von S. durch die souveräne A r t der Einbeziehung der Tiefe verfassungsgeschichtlicher, besonders staatskirchenrechtlicher Fragestellungen i n die heutige Problemanalyse besticht. Das i m GG normierte Staatskirchenrecht ist nicht nur aus der Geschichte zu erklären, sondern auf durchgehaltene und auch heute durchzuhaltende „exemplarische" Fragestellungen und Strukturen zu untersuchen, es ist angesichts der Besonderheiten dieser Materie eine spezifische Chance für Verfassungsinterpretation „aus der Geschichte und i n die Zukunft". Wenn es gelingt, das einschlägige Stichwort für diesen Vorgang zu finden, so ist viel gewonnen: S. ist es durch die Vokabel der „Hereinnahme" des Staatskirchenrechts i n das K u l t u r verfassungsrecht weithin geglückt. Die Monographie lebt von zwei Schwerpunkten: von der A r t der Problemaufbereitung eines proteusartigen Begriffs wie „Neutralität" einerseits, von ihrem wichtigsten sachlichen Ergebnis — Staatskirchenrecht als Stück Kulturverfassungsrecht — andererseits. Das Buch gliedert sich i n die vier Teile „Problemanalysen", „die verschiedenen Funktionen der Neutralitätsargumente", „Neutralität als Rechtsbegriff" sowie „Neutralität und Staatsverständnis". Ausgehend von der These, N. frage nach dem Maßstab, nach dem Ob und Wie des Handelns (1), weist 5. nach, wie relativ und ambivalent eine Neutralitätsbehauptung oder -forderung ist (7): N. als „Begriff der Relation". Hier w i r d m i t großem Recht der Systematisierungsversuch von C. Schmitt herausgestellt: die negative, d. h. von der politischen Entscheidung wegführende Bedeutung der N., z. B. i. S. der Nichtintervention, der gleichen Chance bei der staatlichen Willensbildung und die positive, d. h. zur Entscheidung hinführende Bedeutung: Objektivität und Sachlichkeit, i. S. einer alle Gegensätzlichkeiten relativierenden Einheit und Ganzheit; also: sowohl Neutralisierung und Entpolitisierung als auch Aufruf zur Politik, zur Entscheidung und Stärke des Staates (8 ff.). Die Funktion der N. zur Geltendmachung der Staatlichkeit des Staates auch gegenüber den K i r chen in Verbindung m i t ihrer Aufwertung zum Rechtsbegriff verschaffe erf

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ihr i m Staatskirchenrecht ihr „gegenwärtiges Aufsehen" (22). Als geläufige Umschreibung der unpolemischen staatskirchenrechtlichen Neutralität nennt S. (24) das Verständnis von N. a) als Verbot staatskirchlicher Formen (N. i. S. der Unabhängigkeit des Staates), b) als Verbot des staatlichen Eingriffs in den kirchlichen Bereich (Freiheit der Kirche), als Gebot der Gleichbehandlung (Parität) sowie als Gebot der Offenheit des Staates (Pluralismus). Auch außerhalb des weltanschaulichen Bereichs findet S. jene Ambivalenz der N. zwischen Indifferenz und paritätischer Berücksichtigung, Teilhabe und M i t w i r k u n g (ζ. B. i m Arbeitsund Wirtschaftsrecht [25]). Dem folgt ein Exkurs zu den verfassungsgeschichtlichen Wurzeln der religiös-konfessionellen Neutralität (26 ff.): politisch-neutrale Friedensordnung zur verfassungsrechtlichen Bewältigung der Reformation: „N. setzt Stärke voraus" (Wechselverhältnis zwischen Souveränität und Pluralismus, Verfassung der Parität i m Religionsfrieden). Dem zweiten Teil schickt S. einige „Hypothesen" voraus: N. w i l l i n der Regel ausgewogene Normallagen beschreiben, doch taucht ein kämpferischer Ruf nach N. häufig i n verfassungskritischen Zuständen auf (Neutralität als Therapie gegen desintegrierende Kräfte, N. als Abwehr eines fremden Handlungs- und Entscheidungsmaßstabes und Beschränkung auf den jeweils vom Sachgebiet und dessen Eigenart gebotenen eigenen Maßstab). S. geht es um die jeweilige Funktion der „Neutralitätsargumente". Sein Ergebnis lautet: N. ist ein Relationsbegriff, bei dem alles auf den jeweiligen Gegenstand, Standort und Maßstab ankommt und der sich der einheitlichen juristischen Definition entzieht (44). M i t diesen Hypothesen geht S. an die einzelnen Sachgebiete heran: unter der Uberschrift „Neutralität als Hervorkehrung der Staatlichkeit und deren Einheit" an die schillernde Vieldeutigkeit der N. des Berufsbeamtentums, an die Neutralität in der Bindung an das Gesetz bei der Rechtsprechung, an die N. i n der Bindung an einen besonderen Sachauftrag (Rechnungshof, Bundesbank, Regierung, Bundespräsident). Unter dem Stichwort „Erweiterung des Staatlichen um der Neutralität willen" (81 ff.) behandelt S. die Neutralität als Pluralität (Rundfunk), die N. der Schulen in (zwischen) Staat und Gesellschaft, wobei sich die „gerade staatliche Schule" wie die „gerade gesellschaftliche Schule" auf ein Neutralitätsargument berufen kann (102). Unter der Devise „Neutralität gegenüber einem gesellschaftlichen Bereich" (104 ff.) untersucht S. die sog. w i r t schaftspolitische Neutralität des GG sowie die staatliche Neutralität und Parität i m Arbeitskampf recht (N. fordert hier „aktive Sozialgestaltung zur Herstellung der Parität"). Hinsichtlich der Neutralität im Staatskirchenrecht (129 ff.) erarbeitet S. zunächst die „Ambivalenz" der Neutralitätsformen: N. i. S. der Trennung, Toleranz und Parität, Prinzipien, die alle teils auf Freiheit des Staates, teils der Kirchen zielen, wobei N. als

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Begrenzung des Staates sich bis zu einem antistaatlichen, desintegrierenden Affekt steigern kann (134), N. aber auch i. S. der Begrenzung der gesellschaftlichen, pluralistischen Mächte (etatistischer Affekt), die den Staat i n seiner Staatlichkeit und Ordnungskompetenz zu bedrohen scheinen. I n beiden unterschiedlichen Auffassungen zeigt sich eine „Verweisungsfunktion" der N., beide repräsentieren die zwei „Lager", i n die sich die staatskirchenrechtliche Verfassungsinterpretation gespalten hat (138). Man fürchte heute einerseits, das Staatskirchenrecht wandere aus dem Ganzen der Verfassung ab, andererseits, seine Konturen würden durch ein Abschwimmen seiner Probleme i n die allgemeinen Grundrechte und in die Verfassung i m ganzen verflüchtigt und verwässert. Zwischen beiden Gefahren sucht S. seinen Weg: Er leugnet nicht die historische Besonderheit und Eigenart des Staatskirchenrechts, aber er w i l l zeigen, daß manche dieser historischen Besonderheiten heute unter dem Grundgesetz Allgemeingut des freiheitlichen Kulturverfassungsrechts geworden sind. Das Staatskirchenrecht soll durch die Hereinnahme i n das allgemeine Verfassungsrecht nicht beseitigt, sondern aufgewertet werden, womit manche Errungenschaft des Staatskirchenrechts i n das allgemeine Verfassungsrecht eingebracht werden kann. I n einem Exkurs (Nonestablishment und State Neutrality in den USA [139 ff.]) widerlegt S. die gängige These vom amerikanischen „Staatskirchenrecht" als modischem Repräsentanten eines Trennungssystems bzw. einer bestimmten Konzeption von der religiösen Neutralität des Staates (Fälle der aid to religion). Nach einem Hinweis auf die eigenartige „Segmentierung" und „ I n t r o vertiertheit" des Staatskirchenrechts innerhalb des Staatsrechts (156) formuliert S. sein Anliegen, das Staatskirchenrecht einem freiheitlichen Kulturverfassungsrecht zuzuführen (157). Die Offenheit und Neutralität des Staates biete heute diese Chance (159). Beide erwähnten Neutralitätsverständnisse w i l l S. i n einer „gestaffelten verfassungsrechtlichen Sicht" vereinbaren (164). Er untermauert seinen Ansatz m i t Hilfe eines „Katalogs exemplarischer staatskirchenrechtlicher Figuren", die der demokratische Staat in sein Kulturverfassungsrecht zu übernehmen beginnt: den öffentlichen Status, die kooperative Rechtsform, die Autonomie. Das Staatsrecht könne eines seiner Grundprobleme i m Staatskirchenrecht studieren (168): wie Freiheit vom Staat und staatliche Förderung zusammengehen können. S. redet auch einer Einbringung der Kirchen i n das Verbandswesen das Wort (offene Konzeption des Verbandsbegriffs, „die Kirchen vertreten im Ergebnis und pluralistischen Kontext ein Interesse" [1811). Die Erosion des Trennungssystems (H. Maier) i m demokratischen Staat belegt S. m i t dem Hinweis, der Staat dulde heute den Pluralismus nicht nur, durch Subventionierung ent29·

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scheide er sich ständig zu ihm (184). „Die pluralistische Situation w i l l bewältigt und verwaltet, nicht ausgegrenzt und ignoriert sein" (187). Differenziert bringt S. das Kirchenrecht ins Spiel (188 f.): Zwar bleibt er bei seiner Ausgangsthese, das Kirchenrecht habe staatsrechtliche (staatskirchenrechtliche) Relevanz nur soweit, als das staatliche Recht dies verfüge. Aber das Kirchenrecht und seirr eigengeartetes Denken sei für das weltliche Recht auch ein Teil der (Vefrassungs-)Wirklichkeit 2 . Differenziert sind auch die „Konkretisierungen" i n „Neutralitätsringen" (198): N. fordere den Ausgleich zwischen dem auch säkularen A r t . 4 GG m i t seiner Garantie der Religions- und Weltanschauungsfreiheit und den staatskirchenrechtlichen Normen, die Garantie der Kirchenfreiheit bedeute nicht nur Ausgrenzung aus dem staatlichen Bereich (Zulässigkeit der Anknüpfung des staatlichen Rechts an kirchliche Normen und der „hörenden Kenntnis- und Hereinnahme des Selbstverständnisses der Kirchen i n das Verfassungsrecht"). „Das verwirklichte Selbstverständnis zählt zum Normbereich des Staatskirchenrechts" (207); schließlich: Zusammenhang von Neutralität und Parität (208), wobei heute auch die Parität „eingespannt" ist in das Gefüge der rechtlichen Pluralität und der freiheitliche Staat darauf achten wird, daß „Neutralität nicht zur i m Ergebnis wertlosen Neutralisierung w i r d " (211). I n der Formel vom „Staat als der Heimstatt aller Bürger" kommt nach S. der weltanschauliche Grundstatus des Staates nach A r t . 4 GG zum Ausdruck (215). I m Teil „Neutralität als Rechtsbegriff" (218 ff.) ist die N. als „Hervorkehrung des eigenen Maßstabes" genannt, auf die N. w i r d häufig dort zurückgegriffen, wo die Einbindung eines politischen Machtfaktors i n das demokratische Verfassungsgefüge nicht oder nicht voll gelungen ist. Die Vielzahl der Funktionen der Neutralitätsargumente verbietet eine übergreifende Definition. Auch besteht die Gefahr, daß solche Pauschalbegriffe Konflikte m i t einer beschwörenden Formel lösen wollen, statt gerade die Offenheit des verfassungsrechtlichen Machtkonflikts signalisieren zu lassen. Trotz dieser Gefahren rät S. nicht von der Verwendung des Begriffs N. i m ganzen ab: wegen seiner integrierenden Kraft, wegen seiner Qualität als Sachprinzip in allen Bereichen, als Maßstab für Parität und wegen seiner „generellen heuristischen Funktion" (Entscheidungshilfe i n der Offenlegung der Maßstäbe, Ausgleich und Vermittlung, N. als Komplementärbegriff zur Freiheitssicherung). I m 4. Teil (Neutralität und Staatsverständnis) behandelt S. kritisch das Prinzip der Nichtidentifikation i. S. H. Krügers (keine Begrenzung des Staates, K r i t i k an der Gleichsetzung von Betätigung und Identifikation) 2 Ein Beispiel dafür, wie über die „Wirklichkeit" das Verfassungsrecht angereichert wird!

28. Neutralität als verf assungsrechtliches Prinzip

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sowie das Thema Neutralität und freiheitlich-pluralistische Verfassung. Wesentlich ist hier die These von der „Neutralität i n der Anerkennung und Förderung der pluralistischen Kräfte" (250 ff.). Staatliche Förderung der Kunst und K u l t u r w i l l diese nicht „neutralisieren", aber sie muß neutral sein (Freiheit trotz und durch staatliche Förderung). Neutralität vermittelt zwischen der Staatlichkeit und der K u l t u r . So durchgängig S. die Aufgabe des Ausgleichs betont, von „neutraler Offenheit" (M. Hefckel) spricht, so deutlich betont er Hechtsstaatlichkeit und Demokratie als wertgebundene Grundlage des weltanschaulich-neutralen Staates des GG: Hier verwehre die Verfassung eine Neutralität und verlange Parteilichkeit und A k t i v i t ä t (264). 3. Zur Kritik: Die Gesamtkonzeption der gedankenreichen A r b e i t verdient volle Zustimmung; gleichwohl bleiben einige Fragen, a) Zunächst i n methodischer Hinsicht: S. hat den Neutralitätsbegriff m i t Erfolg „entmythologisiert", man darf auch sagen „entideologisiert" ; er hat dessen Ambivalenz(en) aufgedeckt und i h n i n einzelne Problemzusammenhänge so „eingebunden", daß er normalisiert und normativiert worden ist?; er hat diesem Begriff einiges von seinen „Kanten" und „Schärfen" und damit auch von seiner Dramatik genommen. Er hat i h n „brav" gemacht, zum Teil „entspannt" 4 . Man w i r d sich freilich darüber i m klaren sein müssen, daß dies wissenschaftlich wohl n u r auf Zeit gelingen kann. Mindestens muß man darauf gefaßt sein, daß die politischen Kräfte den Begriff „Neutralität" jederzeit wieder an einer alten oder neuen unerwarteten Stelle (auch getarnt unter anderen „Titeln") „an die Front" tragen, ihn m i t politischer Sprengkraft und Spannungen erfüllen und aufladen können, so daß er neu zu „domestizieren" ist. Auch die Verschiebung der Akzente auf der einen oder anderen Seite der eindrucksvoll herausgearbeiteten Ambivalenz des Begriffs oder die Veränderung der Relationen kann i h n wieder „ w i l d " machen, i h n aufbrechen lassen 5 . M. a. W.: wirkliche oder vermeintliche Verfassungsprinzipien i n ihrer komplexen Struktur aufzudecken, sie i n den Gesamtzusammenhang der Verfassung einzuordnen sowie sie vor Eigendynamik und Hochstilisierung zu bewahren, wie ζ. B. die Effizienz 6 , ist zwar eine dauernde Aufgabe, man muß nur i m Auge behalten, daß diese Aufgabe nie v o l l „erledigt" sein wird, vielleicht auch nicht gelöst sein darf, w e i l sonst die Entwicklung der Wirklichkeit der Verfassung u m ihre Offen5

Ebenso wie etwa die Souveränität, dazu P. Häberle, AöR 92 (1967), S. 257 ff. Trotz des Hinweises auf die „Grundspannung der Extreme" : N. als distanzierende Trennung und als neutrale Parität. 5 Speziell die von S. mit Recht nicht als Verfassungsgrundsatz bewertete parteipolitische Neutralität der Gewerkschaften (128 f.) kann von heute auf morgen der umkämpfte Begriff werden. 6 Dazu meine Besprechung von Leisner, in AöR 98 (1973), S. 625 ff. 4

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heit gebracht wird. M. a. W.: das spezifische Risiko, der Preis, aber auch die Chance einer offenen Verfassung liegen darin, daß sie schillernde Begriffe wie Neutralität diszipliniert, aber auch die Herausbildung solcher Konfliktsbegriffe und die Veränderung ihrer Stoßrichtung ermöglicht. Dadurch bleibt die Wissenschaft selbst lebendig, anders gewendet: „verfassungskritische Zustände", die ein Begriff wie Neutralität (und auch Souveränität) nach S. bezeichnet, werden bleiben, solange es freiheitliche Verfassungen gibt. Teil dieser Verfassungen und ihrer Dogmat i k sind alle Unternehmen der K r i t i k . Und ihre Offenheit rechnet m i t Krisen: Verfahren zu ihrer Beilegung sind institutionalisiert. Keine realistische Verfassungstheorie kann indes alle Konflikte aus der Welt schaffen. Sie soll sie jedoch offenlegen 7 . Die Verfassungstheorie kann also politische Kampfbegriffe wie die Neutralität oder Souveränität nur sachlich und zeitlich begrenzt „disziplinieren" oder „stillegen". Hier werden Grenzen dessen sichtbar, was Verfassungstheorie wissenschaftlich gegenüber sich wandelnden Konflikten und i m Kontext des gesamtgesellschaftlichen Prozesses leisten kann. Man darf sich hier keinen Illusionen hingeben: „Neutralität" und „Souveränität" (aber auch „Gemeinwohl") sind so sehr Bestandteil der politischen Ideengeschichte und der Allgemeinheit insgesamt, gerade dank ihrer Ambivalenz, daß Verfassungsinterpretation, die sich an konkreten Verfassungen der Individualität „politisches Gemeinwesen" orientiert, sie nur entsprechend konkret und i n bezug auf bestimmte Inhalte begrenzen kann. Die „Zähmung" klassischer Begriffe der politischen und Sozialgeschichte w i r d schwerlich auf Dauer gelingen können. Hier zeigt sich eine crux der Verfassungsinterpretation überhaupt 8 . I n dieser H i n sicht hätte man sich noch eine stärkere Problematisierung gewünscht 9 . Gewiß: Das differenzierte Sowohl als Auch-Denken, das S. bewußt w ä h l t (z.B. 58, 168, 220 f., 222 f., 242, 260), kann den Gefahren der 7 Zu fragen wäre auch, welchen Umstand der Neutralitätsbegriff seine anhaltende Faszination verdankt: Der vermeintlich übergeordnete, jenseits der Konflikte, Interessen und Besonderheiten liegende Standpunkt entspricht offenbar einer Sehnsucht des Menschen, die anthropologische Dimensionen hat. Hier bestehen Verbindungslinien zur Utopie. „Neutralität" gelangt in die Nähe von Heilslehren. 8 Das ist kein verstecktes Plädoyer für das Fortbestehen der Allgemeinen Staatslehre (dazu kritisch: Ρ. Häberle, ZfP 12 [1965], S. 381 ff.; ders., ZHR 136 [1972], S. 425 ff.; AöR 98 [1973], S. 119 ff.), sondern ein Eingeständnis der Grenzen zeitlich und sachlich eingebundener Verfassungstheorie. 9 Man wird gespannt sein dürfen, welche Würdigung das Buch durch jenes Denken finden wird, das den Pluralismus zugunsten des Staates zurückgedrängt sehen will, da es in den „staatlichen" Kategorien der Allgemeinen Staatslehre arbeitet. Der Vorwurf der Harmonisierung dürfte von ihm erhoben werden. Die Frage ist: Besitzt Neutralität eine „interdisziplinäre Eignung", oder werden die Sozialwissenschaften sie nicht sehr viel stärker „entschleiern" können? Neutralität als Selbstbetrug, als Gegenteil des von ihr Behaupteten.

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Mehrdeutigkeit nicht immer entgehen; doch kommt es der komplexen Wirklichkeit näher als das scharfkantige Entweder-Oder. Überdies ist es jederzeit zur Korrektur bereit durch Verlagerung der Akzente: Es ist beweglicher und offener. M i t der erforderlichen Deutlichkeit ist die Dimension des dritten Standpunktes herausgearbeitet, den N. schon dem Wortlaut nach meint (40, neuter: keiner von beiden). Damit ist allen Verschleierungstaktiken der Garaus gemacht: Verhüllungen dezidierter Parteinahme durch angeblich unparteiliche Neutralität, Verschleierungen aber auch i n Gestalt der „Entpolitisierung", die durchweg ein politischer Vorgang ist (42) 10 . Überzeugend arbeitet S. heraus, daß N. ein Relationsbegriîî ist (ζ. B. 222). Die Frage ist nur, ob i n einer freiheitlichen Verfassung nicht viele oder sogar alle Grundbegriffe Relationsbegriffe insofern sind, als sie erst i n der Relation m i t den anderen Grund- (oder Gegen-)Begriffen inhaltlich konkretisiert werden können. Begriffe wie „Staat", „Freiheit", „Offenheit" — auch die Menschenwürde ist kein ontologischer, absoluter Dingbegriff, der der „Relation" entraten könnte — gewinnen erst i m Zusammenhang m i t anderen Grund- und Nachbar- sowie Gegenbegriffen ihren Inhalt. Die Interpretationsmaxime der „praktischen Konkordanz" (Hesse) setzt diese Zusammenhänge gerade voraus, mag ihre schöpferische K r a f t auch an ihrer Schaffung mitbeteiligt sein. Dieser Verweisungs-, Zusammenhangs- oder Relationscharakter aller Grundbegriffe einer konkreten Verfassung bedürfte besonderer Untersuchung. I n der Veränderung der Relationen bzw. des Blickwinkels, i n denen die verschiedenen Bezugsgrößen untereinander stehen, liegt ein wesentlicher Grund der „Entwicklung" der Verfassung und ein Test für ihre Offenheit. Gewiß kommen auch neue Begriffe und Relationen i n diesem Vorgang des „Wachstumsprozesses" hinzu — „Kulturverfassung" ist eine solche neue Perspektive wie sie der Sozialstaatsbegriff seit 1949 seinerseits eröffnet. Doch „erwachsen" auch sie nicht an und für sich, sondern i m K o n f l i k t und Ausgleich m i t den „vorhandenen". Ein wesentlicher Grund für die anhaltende Methodenkontroverse i m deutschen Staatsrecht dürfte in der unterschiedlichen Bereitschaft zur Anerkennung solcher (sinn-)variabler Begriffe, Bezugsgrößen und Bezugsfelder •liegen — zumal gerade dann, wenn die Wirklichkeit (unter Stichworten wie: „soziale Funktion", „Effektivität", „gesellschaftlicher Bezug", „Geschichtlichkeit") von Instituten und Normenkomplexen von vornherein in Norminhalt und Normgrenze hereingenommen w i r d 1 1 . Man wende nicht ein, damit würde einer „Auflösung von allem in allem und durch 10

Wichtig ist. die Problematisierung der Neutralität des Berufsbeamtentums; nur hätte man sich eine stärkere Herausarbeitung der Relevanz auch des Parteipolitischen gewünscht (dies zu 56 f., 58). 11 Dazu meine Bespr. in D Ö V 1966, 660 ff.

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alles" das Wort geredet. Das Ganze der Verfassung w i r d nur als das ausgewiesen, als was es die Geschichte bezeugt: als „bewegtes Gleichgewicht" (M. Hauriou). M i t Recht problematisiert S. das Modelldenken i m Staatskirchenrecht (192 ff.). Das GG vermenge „ein ganzes Bündel von möglichen Zuordnungsmodellen von Staat und Kirche". Eine solche differenzierte, komplexe und konkrete Sicht des Staat-Kirchenverhältnisses müßte für die Zukunft verhindern, daß dieses Verhältnis auf einen Nenner und einen Grundsatz gebracht wird. Modelle sind lediglich Denk- und Orientierungshilfen i m „Geschäft" der Verfassungsinterpretation. Nur müssen es Modelle sein, die das Theorie-/Praxisproblem von vornherein verarbeiten (Absage an rein „theoretische Modelle") 1 2 . Angesichts der Ergebnisse von S. und der reduzierten sowie differenzierten durchaus sinnvariablen Bedeutungsgehalte der Neutralität erscheint es gerade von S. aus fraglich, ob der Titel „Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip" v o l l t r i f f t 1 3 . Wäre der Titel „als verfassungsrechtliches Problem" nicht konsequenter? „Prinzip" legt N. bei aller Offenheit des „Prinzips" doch allzusehr fest. Auch muß sich S. fragen lassen, welche Zukunft sein bescheiden gewordener Begriff Neutralität von seinen eigenen Denkvoraussetzungen aus hat 1 4 . b) Ungewöhnlich ertragreich ist das Buch i n sachlicher Hinsicht: Dies gilt vor allem für die These zum Staatskirchenrecht als Kulturverfassungsrecht. Freilich arbeitet 5. hier, ohne zuvor das GG insgesamt auf die Kulturverfassungsproblematik befragt zu haben. Eine Annäherung an den Begriff des Kulturstaates und der Kulturverfassung hat auszu12 Schwierigkeiten ergeben sich freilich daraus, daß Verfassungslehre sie auf „Vorrat" erarbeiten muß, so daß praktische Erfahrung oft noch fehlt. Die crux besteht darin, Abstraktionshöhe und Praxisbezug miteinander zu verbinden, wobei der Begriff Praxis-Nähe oder -Bezug als unzureichend zu gelten hat. Es geht nicht um einen bloß (gedanklich) nachgetragenen Bezug zur Wirklichkeit, sondern um die Gleichzeitigkeit von Norm und Wirklichkeit. 13 s. auch seine Warnung vor einer globalen Verwendung eines „Prinzips der Neutralität" (228), jedoch auch die Anwendung der N. als in verschiedenen Einzelbereichen konkretisiertes Sachprinzip. 14 Problematisch ist der Begriff „neutrale Grundrechtsinterpretation" (120^ 205 f., 245). Soweit damit Freiheit als Gegenstand „staatlicher" Interpretation, ihre gesellschaftliche Wirklichkeit und Offenheit gemeint sind, sollte besser von „offener" Grundrechtsinterpretation die Rede sein (zur „offenen" Verfassungsinterpretation: P. Häberle, JZ 1971, 145 ff.). Interpretation grundrechtlicher Freiheit muß in spezifischem Sinne offen sein. Die „Organisation" des Interpretationsvorgangs durch den (einen Aspekt der res publica bildenden) Staat in bestimmten Verfahren und durch eine bestimmte Funktion (status des Richters!) wirkt auf die sachlichen Ergebnisse zurück. Soweit S. mit Neutralität das Gebot der für alle Staatsbürger einheitlichen Interpretation meint, ist der Gleichheitssatz angesprochen, der hier Element der Offenheit ist (soziale Grundrechtsinterpretation !).

28. Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip

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gehen vom Text des GG und von dessen gelebter Wirklichkeit. „ K u l turverfassung" ist ein wesentliches Stück heutiger Leistungsstaatlichkeit. A n kulturverfassungsrechtlichen Normen sind i m GG ohne weiteres erkennbar: A r t . 5 I I I ; 6; 7; 73 Ziff. 9; 74 Ziff. 5, 13; 75 Ziff. 1 a; 91 a I Ziff. 1; 91 b 1 5 . Kulturverfassungsrecht ist heute mindestens in Teilen i n besonderem Maß Konfliktsrecht 16 ; man denke an die Kontroversen um die Gestaltung der Schule i m Spannungsfeld der Begriffe Emanzipation, Partizipation, Demokratisierung, soziale Öffnung etc. 17 . Und es ist in Teilen typisches Kompromißrecht (vgl. auch 196), das Konflikte bewältigt, aber auch latent fortleben läßt. Kulturstaatliche Züge wachsen unserem Gemeinwesen auch nach „außen" zu: Entwicklungspolitik gewinnt k u l turstaatliche Züge (Entwicklung i m Bereich der [Aus-1 Bildung): Auch die klassische Kulturpolitik im Ausland zwingt zu neuen Fragestellungen 18 . I n entsprechendem Maße gilt es, die einseitig nationalstaatlichen Aspekte des Kulturstaatsbegriffs abzustoßen (257). Diese Befreiung von historischem Ballast kann der Begriff der „Kulturverfassung" ermöglichen. K a u m i n Angriff genommen ist eine Kooperation m i t den Sozialwissenschaften: Sie müßten einen spezifischen Beitrag zur Problematisierung und Konkretisierung des Kulturstaatsbegriffs leisten (können). Die Schwierigkeit des kulturverfassungsrechtlichen Verständnisses des Staatskirchenrechts besteht u. a. darin, wie man i n i h m die Begriffe Staat und Gesellschaft und ihr Verhältnis zueinander faßt (dazu 244 ff., bes. 252), wie man den Kulturstaat zur Sozialstaatsklausel i n Beziehung setzt (sind heute nicht soziale Bedingungen meist auch kulturelle Bedingungen? — man denke an die Bereiche staatlicher [Aus-]Bildung!). Die „Aufhebung" des Staatskirchenrechts i m Kulturverfassungsrecht erlaubt eine Gesamtsicht der in A r t . 4 und 140 GG angelegten individualrechtlichen und korporativ-institutionellen Seite grundrechtlicher Freiheit der Kirchen und Religionsgesellschaften 19 . Sie verhindert eine Fixierung der K u l t u r auf den Staat — gerade auch nicht-staatliche Grup15

Erwähnenswert ist § 96 B V F G v. 19. M a i 1953 (BGBl. I, 201 ff.): Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge und Förderung der wissenschaftlichen Forschung, s. dort die Formel von der „Weiterentwicklung der Kulturleistungen der Vertriebenen und Flüchtlinge". 16 s. S. 195: „Ein Stück Kulturkampf bleibt jeder Kulturverfassung". 17 Vgl. den Streit um die hessischen Rahmenrichtlinien von 1973. 18 Vgl. F A Z v. 23. 3. 1973, S. 3: „Die deutschen Schulen im Ausland, pädagogische Dienstleistung oder kulturpolitisches Instrument?" 19 Dazu in Auseinandersetzung mit Listi: meine Besprechung in: ZevKR 19 (1974), S. 206 ff. s. auch 139: Interpretation des Art. 140 im Verfassungsganzen.

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

pierungen sind i n die freiheitliche Kulturverfassung hineingenommen, sie könnte auf lange Sicht dazu führen, daß man den mißverständlichen Begriff „Staatskirchenrecht" aufgibt 2 0 , was um so angemessener wäre, als eben nicht nur „Kirchen" i n diesem Kulturverfassungsrecht leben. S. legt großes Gewicht auf die „Besonderheiten" des Staatskirchenrechts. Lebt nicht das Kulturverfassungsrecht insgesamt von zahlreichen derartigen Besonderheiten? Man denke an die eigengesetzlichen Bereiche von Kunst und Wissenschaft. I m Verhältnis zwischen Demokratie und K u l t u r gibt es nicht nur Zusammenhänge, sondern auch harte Friktionen. Es ist zu erwarten, daß gegen den Begriff „Kulturstaat" und „ K u l t u r verfassung" i m übrigen dieselben Einwände kommen, die auch gegen ein verfassungsrechtliches Verständnis der Sozialstaatsklausel vorgebracht wurden. Die Kontroverse muß hier methodisch und sachlich entsprechend „analog" ausgetragen werden. S. setzt sich für eine Erweiterung des Begriffs und Verständnisses der Subvention ein (217 Anm. 344): i n Richtung auf die „Kulturförderung" und in ihrem Rahmen für eine „Förderung der Kirchen" (s. auch 242 f.). Fraglich ist nur, ob man den vorbelasteten Subventionsbegriff überhaupt noch verwenden soll, da er doch den Blick auf viel allgemeinere, nicht nur i m Kulturverfassungsrecht aktuelle Probleme verstellen könnte: die leistungsstaatliche Effektivierung grundrechtlicher Freiheit einzelner und der Gruppen 2 1 . Steht nicht hinter dem traditionellen Subventions Verständnis noch das alte Trennungsmodell Staat/Gesellschaft, wie dies für den Interventionsbegriff kennzeichnend ist und wie es gerade ihn fragwürdig macht 22 ? Der Begriff „Subvention" muß in die allgemeine leistungsstaatliche Problematik eingebracht werden; richtiger: er muß i m Verständnis des Leistungsstaats als „Grundrechtsstaat" aufgehen. Problematisch ist die These, staatliche Neutralität gegenüber Lebensordnungen könne oder müsse einen ganz anderen Sinn und Inhalt haben als staatliche Neutralität i n „eigenen", staatlichen Angelegenheiten (105). Damit kehrt das Trennungsmodell i m Verhältnis Staat/Gesellschaft wieder („Gegenüber zu einem dritten, zu einem fremden System"), das S. sonst gerade zu relativieren und zu differenzieren bemüht ist (247 ff.). Denn: Gesellschaft ist nicht einfach „Dritter" oder das „fremde System"; die eigenen staatlichen Angelegenheiten nehmen auf die Gesellschaft vielfältig Bezug, ja sie holen sie zu sich herein, wie das Beispiel des nicht nur sachkundigen, sondern „interessierten" Arbeitsrichters zeigt 20 s. Schlaichs besseren Vorschlag: Staatsrecht in bezug auf die Kirchen, 136 Anm. 35. 21 Dazu Ρ. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 ff.; AöR 97 (1972), S. 325 (326 ff.) im Blick auf die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgesellschaften. 22 Dazu Ehmke, in: Festgabe für Smend, 1962, S. 23 (25).

28. Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip

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(65 ff.). Hier gilt es, den Weg der Alternative „zwischen" dem Denken i m Sinne des Gegenüber und der Identität zu suchen. Die von S. m i t großem Recht herausgestellte „offene", neutrale, nicht neutralisierende juristische Begriffsbildung und -interpretation (120) ist eine Aufgabe auch i n sog. eigenen, staatlichen Angelegenheiten! Diese K r i t i k zeigt ein Dilemma der Verfassungslehre überhaupt, der es bis heute nicht gelingen will, Staat und Gesellschaft einander adäquat zu vermitteln 2 3 . Insgesamt: eine methodisch und sachlich wegweisende Studie — nicht zuletzt durch die Behutsamkeit ihrer Argumentation, die „Feinheit" ihrer Komposition, ihr „Ethos des Ausgleichs" und ihre sachlichen Ergebnisse insbesondere zum Staatskirchenrecht, für das sie i n der demokratischen res publica mehr als nur einen Weg der „Rettung" zeigt: Es werden Möglichkeiten der sachlichen Legitimierung des Staatskirchenrechts aus der freiheitlichen Kulturverfassung unseres Gemeinwesens sichtbar, die wissenschaftliche Argumente liefern i n einem vielleicht noch vor uns liegenden politischen Kampf um das Staatskirchenrecht, gegen eine unfruchtbare „Modellideologie", die ein Trennungsprinzip aufs Panier hebt, das die Freiheit des Bürgers und die Aufgaben seines Gemeinwesens, die Kulturpolitik, i m Kern treffen würde. Daß i n diesem Kampf „Neutralität" nicht neutral sein kann, sondern zum Kampfargument werden muß, ist nicht der einzige Reiz desBuches. Diese Rezension galt einem Autor, der seitdem auf vielen Feldern Grundsätzliches beigetragen hat (vgl. Der Öffentlichkeitsauftrag der K i r chen, HdStKiR, 2. Bd. 1. Aufl., 1975, S. 231). Es wäre von eigenem Reiz zu untersuchen, ob und wie wissenschaftliche „Erstlinge" erkennen lassen, daß sie durch spätere Arbeiten bestätigt werden. Wachstums- und Reifeprozesse wissenschaftlicher Autoren sind gewisse komplexe Vorgänge mit oft rational nicht voll erklärbaren „Bedingungen". Schiaich wurde i n kürzeren Rezensionen auch von anderer Seite besprochen (z. B. H. F. Zacher, in: Der Staat 1975, S. 443 ff.). Das Thema selbst ist aktuell geblieben (vgl. BVerfGE 88, 203 (252)). Daß „Religionsverfassung srecht", vgl. auch Nr. 13) spezielles „Kulturverfassungsrecht" ist (dazu Kulturverfassungsrecht i m Bundesstaat, 1980, S. 20 f.), ist heute selbstverständlicher. Die Neutralitätsthesen müßten jetzt am Religionsverfassungsrecht der neuen Bundesländer überprüft werden (dazu JöR 42 (1994), S. 149 (171 ff.); 43, 355 (382 f.)). Einer speziellen Herausforderung hat sich das Thema auf der europäischen Ebene zu stellen (dazu A. Hollerbach, Europa und das Staatskirchenrecht, ZevKR 35 (1990), S. 250 ff.). 23 Wichtig S. 247 f.: „In differenzierten sozialen Gestalten teilen sich Staat und Gesellschaft in die verschiedenen Funktionen des einen politischen Gemeinwesens."

29. Die Koalitionevereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts* Zum gleichnamigen Buch von Adolf Schüle I. Der Titel der Monographie des Tübinger Staatsrechtslehrers 1 bringt i h r Programm plastisch zum Ausdruck: sie w i l l die KoalitionsVereinbarungen „ i m Lichte" des Verfassungsrechts sehen, die, von der Staatsrechtswissenschaft lange vernachlässigt, i n der politischen Wirklichkeit — Nachtschattengewächsen gleich — seit geraumer Zeit eine bedeutsame Rolle spielen. Daß die Koalitionsvereinbarungen (KV) so lange i m Schatten des Interesses der Lehre blieben und gediehen, beruht einmal auf wissenschaftsgeschichtlichen Gründen. Der staatsrechtliche Positivismus war für die Erforschung ihrer Wirklichkeit methodisch nicht gerüstet, und der deutsche Spät-Konstitutionalismus hatte für das „Parteileben" und seine Kräfte und Gestaltungsformen ohnedies kein offenes Herz. Vor allem aber: Diejenigen, die für das Gedeihen der „Nachtschattengewächse" i n der politischen Wirklichkeit besorgt waren, die Politiker, taten das Ihre, die Koalitionsvereinbarungen i m Hintergrund (und damit i m Zwielicht) zu lassen: sie hielten sie geheim. Sie entzogen sie der Öffentlichkeit als dem Signum moderner Staatlichkeit, als dem Forum der Demokratie und einem Element des Rechtsstaats. Schüles Arbeit ist die erste grundlegende Monographie auf diesem Gebiete; nur einige Aufsätze, Dissertationsliteratur und obiter dicta i m staatsrechtlichen, historischen und politologischen allgemeinen Schrifttum sind i h r vorangegangen. Ihre Aktualität und ihren Impuls bezieht sie aus der Tatsache, daß die deutsche Öffentlichkeit i m Jahre 1961 gegen den Willen der „Verantwortlichen" von jenem ominösen „Koalitionspapier" Kenntnis erlangte, das eine Diskussion um dessen Inhalt und verfassungsrechtliche Legitimation provozieren mußte: das Bonner Koalitionsabkommen vom 20. Oktober 1961 (abgedruckt bei Schüle S. 137 ff.). Umfang und Inhalt waren gleichermaßen eine Herausforde* ZfP 12 (1965), S. 293 - 298 mit Nachtrag (1978). A. Schüle, Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts. Tübinger Rechtswissenschaftl. Abh. Bd. 11, 1964, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 165 S. 1

29. Die Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts

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rung der „Öffentlichkeit". Das Abkommen enthielt Bestimmungen, die i n das Organisationsgefüge, i n die Kompetenz- und Ämterordnung des GG tief eingriffen: Erinnert sei an den abgesprochenen Kanzlerrückt r i t t („Kanzler auf Zeit"; A I), die Klausel, daß die Grundgedanken der Regierungs- und Initiativgesetzesentwürfe von Gruppen der Koalitionsfraktionen einem „Koalitionsausschuß" zur Beratung zugeleitet werden sollen (A I I Ziff. 5 und 7), ferner an den detaillierten Katalog der „Grundsätze der Politik der neuen Bundesregierung" (B). Angesichts eines solchen Abkommens mußte das Wort von der damit geschaffenen „NebenVerfassung" aufhorchen lassen. Und man mußte sich der i m Blick auf Österreich geforderten Interpretation der Verfassung „anhand ihrer Grundnorm, der Parteiübereinkunft" (Kafka) erneut stellen. Schiiles A r beit ist von der Aktualität ihres speziellen Gegenstandes indes unabhängig: Die A r t und Weise, wie sie methodisch und sachlich Neuland der Staatsrechtswissenschaft erschließt, w i r d auch dann noch Schule machen, wenn sich i n Deutschland, etwa aufgrund veränderter politischer Bedingungen, ein Zwei-Parteien-System nicht österreichischer, sondern „englischer" A r t durchgesetzt haben sollte. Denn sie ist beispielhaft für jedes Arbeiten auf neuen Gebieten des Staatsrechts. Das sei schon hier gesagt; es w i r d unter I I I . näher belegt. II. Schüle entwickelt seine Darstellung i n drei Hauptabschnitten, denen eine Einführung vorausgeht und die beschlossen w i r d durch einen Dokumentenanhang, der eine umfangreiche und i n dieser Weise bisher nicht gebotene Zusammenstellung deutscher und österreichischer K V i m Wortlaut enthält. Die Einführung umreißt die Aufgabe des Buches. Schüle erblickt sie darin, die K V als eine „doch wohl grundsätzliche" Erscheinung des heutigen politischen Lebens zu sehen und ihre Problematik de constitutione lata zu klären (S. 10). Er klammert dabei die Rechtsschutzfragen (Rechtsweg, gerichtliche Kontrolle, Verfahrensart) bewußt aus, da ihm die materiellrechtliche Seite des Themas vordringlicher Behandlung nötig erscheint (S. 11). Das volle Gewicht der K V , das für jede „realistische" Betrachtung unverkennbar sei, besteht für Schüle i n der Tatsache, daß sich in jeder K V „ein Stück Machtverteilung und Machtausübung i m Staat manifestiert". I h r Wesen ist: politische Macht zu festigen, sie zu behaupten und abzuschirmen (S. 15). Der erste Abschnitt bringt einen kurzen, eindringlichen Rückblick i n die Geschichte (S. 16 ff.). Interessant ist hier besonders der Hinweis auf den 1917 gebildeten sog. interfraktionellen Ausschuß, ein Gebilde, das zu Recht i n die Nähe des heutigen Koalitionsausschusses gerückt w i r d (S. 21 f.). Für die Weimarer Zeit verzeichnet Schüle Einhelligkeit über

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

das Vorkommen von K V , doch fühlt er sich auf „unsicherem" Boden, da Verfassungsgeschichte und Politologie an konkreten Befunden bisher zu wenig Material aufbereitet hätten (S. 25). Daß der Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee (1948) i m Zusammenhang m i t der Ablehnung des Einparteien- und Blocksystems den Satz enthält: „Die üblichen Koalitionsabreden sollen dadurch nicht verboten werden" (S. 27), ist eine besonders glückliche Ausgrabung. Schüle deutet sie zu Recht als eine A r t „posthume Bestätigung" der Weimarer Gepflogenheiten (S. 28). Das Schwergewicht der Arbeit liegt i n ihrem zweiten Abschnitt über die Grundfragen (S. 29 ff.). Hier w i r d m i t großer systematischer Konsequenz die Problematik entfaltet. Zunächst werden die Parteien, nicht die Fraktionen als die „wirklichen" Partner der K V ausgewiesen; dies deshalb, weil die Partei der „politische Nährboden" für die Fraktion sei, sie i n der Regel die stärkere politische Potenz besitze (S. 33) und weil der Partei trotz fehlender Rechtsfähigkeit auf Grund der unmittelbar aus der Verfassung fließenden Kompetenzen und Obliegenheiten die „facultas agendi i n rebus politicis" zukomme (S. 34). Damit ist bereits der Standort, die normative Grundlage und die Zulässigkeit der K V vorentschieden: K V sind keine bloßen Erscheinungen des Parlamentslebens (mögen sie auch teilweise dem Parlamentsbereich zugehören und seinem Recht unterstehen); sie sind grundsätzliche Erscheinungen des Verfassungslebens. Um sie juristisch zu erfassen, muß der „Verfassungsraum i n seiner Gänze" (S. 37) i n den Blick kommen. Als Standort der K V bestimmte Schüle den „Vorhof", der vom „Staatshaus", d. h. dem Bereich „organisierter Staatlichkeit" (Hesse), trotz des Artikels 21 GG gesondert und unterschieden bleibt (S. 39). Dieser A r t . 21 GG — als Kompetenz und Auftrag für die Parteien gedeutet — ist als Generalklausel i n „unmittelbarer Funktionszuweisung" normative Grundlage der K V . I h r A b schluß ist die praktisch unerläßliche Voraussetzung für die Bildung einer parlamentarischen Koalitionsregierung. Hinzu treten die besonderen Vorschriften der A r t . 63 f. GG. Damit hat Schüle die Frage der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der K V positiv entschieden — eben von einem verfassungstheoretischen, i n der Auslegung ganzheitlich argumentierenden Denken her, das von den Aufgaben ausgeht. Schüle folgert weiter, daß der Bereich der K V verfassungsrechtlich „rechtserfüllt" sei (S. 43) — ohne indes i. S. einer Reglementierung durchnormiert zu sein —, daß die Partner mit ihrer K V „unter" dem Verfassungsrecht stehen (S. 44, 80) und sie bei ihrem Abschluß verfassungsrechtliche Verantwortung tragen und verfassungsrechtliche Kompetenz wahrnehmen (S. 44). Dieser verfassungstheoretische Gedankengang — er bleibt bei Schüle stets in engem Zusammenhang m i t der politischen Praxis und ihrer

29. Die Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts

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Wirklichkeit — stößt fast unmittelbar zu einem Kernproblem vor, nachdem die Frage der Formfreiheit der K V kurz bejaht, die Figur einer „stillschweigenden" K V indes abgelehnt wurde (S. 46): Zur Frage der Veröffentlichung bzw. Geheimhaltung der K V (S. 46 ff.). Unter dem Aspekt des „Demokratiegebots zur Öffentlichkeit" und dem Gedanken der „Verfassungstransparenz" (Art. 79 I 1 GG) bestehen für Schüle gegenüber der deutschen Geheimhaltungspraxis erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken (S. 50 ff.), wolle man sie „nicht gar als verfassungswidrig ansehen". Schüle möchte damit wenigstens eine Tendenz i. S. eines „ i n dubio pro publico" herbeiführen, nicht zuletzt, um das Mißtrauen des Bürgers gegenüber den Parteien und ihrer „Geheimniskrämerei" abzubauen. Die Frage des Bindungswillens der Parteien als Partner einer K V beantwortete Schüle negativ (S. 52 f., 65 f.). Ihre Abmachungen unterwirft er dem „politischen Vorbehalt" (S. 54, 56, 58, 65), der bald als dem Bindungswillen „immanente Einschränkungen", bald als „stillschweigend" oder „aus der Natur der Sache" sich ergebend gekennzeichnet wird. Der politische Vorbehalt besagt, daß sich die Parteien — politisch — binden, sich zugleich aber auch wieder Handlungsfreiheit bewahren. Dem Problem der Qualifizierung der K V geht Schüle i n negativer und positiver Hinsicht nach (S. 58 ff.) : I n negativer, insofern er i n der K V weder die Erzeugung objektiven Rechts sieht, noch sie als rechtlich bindende Verträge deutet. I n positiver Hinsicht gelangt Schüle zu der Auffassung, die K V seien keine bloßen, aus dem Raum des Rechtlichen verbannte „Tatsächlichkeiten", „reine Politica"; sie seien vielmehr von „verfassungsrechtlicher Relevanz" (S. 70 ff.) und damit der Prüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit unterworfen (S. 71, Zusammenfassung S. 80). A u f der Suche nach einem „Vorbild" für die K V als Figur „eigener A r t " gelangt Schüle (S. 74 ff.) zu einer „Modellfigur" m i t gewisser Parallelität zu den K V . Er findet sie in den „verabredeten" oder „vereinbarten" Praktiken auf dem Gebiete des deutschen und supranationalen Rechts gegen Wettbewerbsbeschränkungen und sieht sich dabei u. a. durch die von den politischen Wissenschaften vereinzelt verwandten Termini „politische Kartellabsprachen", „Parteikartelle" bestätigt (S. 75). Sind die K V nach all dem ein grundsätzlich erlaubtes Mittel, so haben sie doch ihre rechtlichen Grenzen (S. 81 ff.). Schüle nennt bestimmte „verfassungsimmanente Schranken" (S. 86 ff.), ferner Grenzen, die sich aus der Rechtsordnung „ganz allgemein" ergeben (S. 90). Auch der Geschäftsordnung des Parlaments darf die K V nicht widersprechen (S. 91). Der dritte Abschnitt bringt ausgewählte Einzelprobleme (S. 93 ff.): Das Verhältnis von Richtlinienbestimmung und Koalitionsprogramm — dabei w i r d die Möglichkeit (verfassungswidriger) programmatischer Festlegungen der Richtlinienkompetenz grundsätzlich bejaht, ihre Feststel-

6 2 4 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

lung i m Einzelfall indes als schwierig beurteilt 2 . A l s weiteres Einzelproblem behandelt Schüle den abgesprochenen Kanzlerrücktritt (S. 98 ff.; Ergebnis: verfassungswidrig), das Problem der Zulassung der Fraktionsführer zum Kabinett (S. 103 ff.; Ergebnis: unzulässig nach § 23 GO BReg. und wegen des Prinzips der Gewaltenteilung), die Frage der E i n w i r k u n g der K V auf das parlamentarische Verhalten der Abgeordneten (S. 107 ff.), die „Ausschließlichkeitsverpflichtungen" (S. 117 ff.; Ergebnis: Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der politischen Parteien), schließlich die Koalitionsausschüsse und Proporzklauseln, deren Zulässigkeit ganz vom Einzelfall aus und differenzierend ermittelt w i r d (S. 119 ff. bzw. S. 126 ff.). III. 1. Erste kritische Überlegungen müssen i n der methodischen Behandlung des Themas einsetzen. Hier erscheint die von Schüle gewählte Methode ihrem Gegenstand weitgehend angemessen. Schlagwortartig läßt sie sich als integrierende Methode kennzeichnen, wobei zugleich deutlich wird, daß der Gegenstand die Methode und diese den Gegenstand bestimmt. Das bedarf näherer Erläuterung: Schüle arbeitet an seinem Gegenstand, indem er dessen (politische) Eigengesetzlichkeit (S. 11 f.), die politische Praxis (S. 66), ebenso i m Auge hat wie verfassungstheoretische Zusammenhänge (z. B. S. 116, 39 f., 50 ff.). Was zunächst einem „Wandern zwischen zwei Welten" gleichen mag — zwischen der politischen W i r k lichkeit u n d der normativen Ordnung der Verfassung m i t ihren traditionell verfestigten, oft zu roh gezimmerten juristischen Kategorien — erweist sich als der gelungene Versuch, beide „Welten" von vornherein zusammenzusehen, sie i n ihren Übergängen und Wechselbezügen zu erschließen. Das zeigt sich an vielen Stellen des Buches: Etwa, wenn zunächst einmal die politische Praxis der Koalitionsvereinbarung „beschreibend" zusammengefaßt w i r d (S. 2), wenn die Frage der Partnerschaft (Parteien und [oder] Fraktionen?) rechtlich und politisch richtig beantwortet w i r d (S. 32 f.), wenn der „ O r t " der K V einerseits als verfassungsrechtlich „ e r f ü l l t " gesehen (S. 43) und i m gleichen Atemzug (S. 43 f.) auf die Notwendigkeit hingewiesen wird, dem politischen Leben von seiten des Rechts nicht geringen Spielraum zu lassen; schließlich i n der A r t und Weise der Begründung des politischen Vorbehalts (S. 54 f., 65 f.), dem offen erklärten Rückgriff auf die „Gesetzlichkeiten des Koalitionslebens" (S. 57) und i n der A r t , wie die Endigungsmöglichkeiten einer K V von der allgemeinen Erfahrung aus, als aus der „Empirie geschöpfte 2

Angesichts der Forderung der Verfassung, daß es überhaupt zu einer Regierungsbildung kommt, wird man hier zurückhaltend sein müssen, vgl. W. Hennis , Richtlinienkompetenz u. Regierungstechnik, 1964, S. 42.

29. Die Koalitionsvereinbarungen i m Lichte des Verfassungsrechts

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Regel", i n juristische Münze umgesetzt werden (S. 56 ff.). Wenn Schüle den Vertragscharakter der K V wegen der Inadäquanz der angezogenen juristischen Kategorien gegenüber dem zu klärenden empirischen Sachverhalt ablehnt (S. 66), wenn er die faktisch politische Effizienz der Absprachen „zugleich i n das juristische K a l k ü l " miteinbezieht (S. 69) und damit zu ihrer „verfassungsrechtlichen Relevanz" gelangt (S. 70 ff.) sowie „verfassungsimmanente Schranken" der K V (S. 86 ff.) bejaht, so liegt all dies auf derselben Linie. Gleiches gilt für seine stark vom konkreten Einzelfall ausgehenden Lösungen (z. B. S. 124). Die „offene", lokkere A r t des Argumentierens, aber auch das sichere Gefühl für die Machtverhältnisse (S. 15), das der Gegenstand erfordert und Verharmlosungen oder utopische Höhenflüge i n die Verf assungstheorie verhindert, bedarf besonderer Hervorhebung. — Damit ist die Arbeit pragmatisch und dogmatisch. Sie ist Staatsrecht, als Norm- und Wirklichkeitswissenschaft betrieben 3 . Es ist gewiß kein Zufall, daß der Verfasser zugleich Völkerrechtler ist. Denn das Völkerrecht erfordert i n besonderem Maße Hellhörigkeit und hohe Sensibilität für „werdende" Institute und die Kunst „integrierenden" Denkens. Gerade die K V ist ja auch oft i n die Nähe des Völkerrechts gerückt worden. 2. Von den Sachproblemen können hier nur einige und diese nicht einmal i n der erforderlichen Vertiefung diskutiert werden: Die Frage nach dem (Rechts?)Charakter der K V , insbes. Schüles Begriff der „verfassungsrechtlichen Relevanz", die Problematik der Geheimhaltung und Veröffentlichung von K V und schließlich die Frage der verfassungsrechtlichen Grenzen der K V , insbesondere die Kompetenzproblematik. a) Schüle verneint das Vorhandensein eines rechtlichen Bindungswillens der Partner einer K V ; er lehnt die vielfach vertretene Auffassung, die K V sei verfassungsrechtlicher Vertrag, ab und bekennt sich statt dessen zu einer bloß politischen, nicht rechtlichen Gebundenheit der Partner, deren Abmachung unter dem beschriebenen politischen Vorbehalt steht. A l l dem ist v o l l zuzustimmen: die Eigengesetzlichkeiten des Politischen hätten nicht überzeugender für die Begründung dieser Sicht herangezogen werden können. U m so überraschender erscheint dann Schüles Rückgriff auf die Figur der „verfassungsrechtlichen Relevanz" der K V , die durch deren „durch und durch politische Natur" nicht ausgeschlossen werde (S. 70). Ihrer bedarf es nach Meinung des Rezensenten nicht, ja sie stellt vielleicht sogar eine gewisse Inkonsequenz i n dem sonst so folgerichtig entwickelten Grundfragen-Kapitel dar .Schüle führt die Frage der verfassungsrechtlichen Relevanz ein, um den Fehlern jener 3 Von den politischen Wissenschaften aus hat H. Maier mit Recht an der Gegenüberstellung von „Wirklichkeits"- und „Norm"-wissenschaften Kritik geübt: Vierteljahreshefte f. Zeitgeschichte, 1962, S. 225 ff. (245).

40 V e r f a s s u n g

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echtsbereiche

Autoren zu entgehen, welche die K V i n einem rechtsfreien Raum lassen. M. a. W.: Schüle w i l l auf diese Weise den Weg frei machen, i m konkreten Fall eine K V als verfassungsmäßig oder verfassungswidrig zu beurteilen (bes. S. 71). U m zu Schüles zutreffendem Ergebnis zu gelangen, die K V stünden „unter Verfassungsrecht", von diesem seien bestimmte rechtliche Grenzen gezogen, bedarf es indessen nicht des Umwegs über den Begriff der verfassungsrechtlichen Relevanz. Für kaum einen anderen Bereich wie gerade die K V gilt so sehr das Wort R. Smends, die Verfassung sei „Anregung und Schranke": Anregung ist sie, insofern sie über den Auftrag und die Kompetenz der A r t . 21 und 65 f. politischen Raum gibt, sich politischer Figuren wie der K V zu bedienen: Schranke ist sie, indem sie durch ihre Organisations- und Kompetenzbestimmungen dem Politikum „Koalitionsvereinbarung" Grenzen zieht, deren Mißachtung ihre Verfassungswidrigkeit zur Folge hat (Beispiele: Kanzler auf Zeit, Vereinbarung politischer Programme, die gegen das Wiedervereinigungsgebot verstoßen). Zugespitzt formuliert: Verfassungsrechtlich und damit auch rechtlich relevant w i r d die K V nur und insofern sie Grenzen der Verfassung überschreitet. Die Frage der rechtlichen Relevanz der K V ist allein die nach ihren verfassungsrechtlichen Grenzen. A l l dies bedeutet keine Abwertung der K V als bedeutsamer Erscheinung der parlamentarischen Politik. Sie hat ihren Standort i n einem ihr von der Verfassung eröffneten politischen Raum, i m Bereich der Öffentlichkeit. Nur ist der Begriff der verfassungsrechtlichen Relevanz geeignet, das Recht gleichsam zu „früh" an ein Politikum heranzutragen. Sie ist ein ungewolltes teilweises Zugeständnis an jene von Schüle selbst so überzeugend widerlegte Auffassung, die K V sei rechtlich verbindlicher verfassungsrechtlicherVertrag (Sasse, Friauf, Maunz). Ein Teil dieser Lehre, welche die rechtliche Erzwingbarkeit der K V dann doch verneint, muß sich die Frage gefallen lassen, was für einen praktischen Grund ihre Bejahung rechtlicher Gebundenheit haben soll. Dies um so mehr, wenn man etwa m i t Maunz (Maunz / Dürig, Rdnr. 17 zu A r t . 65 GG), die rechtliche Bindungswirkung beschränkt „auf die Zeit der politischen Harmonie" der Vertragspartner. Wieso soll man hier das Recht und seine Figuren, d. h. den Vertrag, bemühen, wo letztlich doch das Politische „durchschlägt"? Dem Recht leistet man damit keinen guten Dienst und dem Politischen keinen besseren. Denn gerade am Beispiel der K V läßt sich Eigenwert und Eigengesetzlichkeit des Politischen und des öffentlichen deutlich machen, die vom GG gerade in diesem Sinne m i t konstituiert sind. Steckt hinter all diesen Rechtskonstruktionen vielleicht ein gut Stück überkommenen deutschen Mißtrauens gegenüber dem Politischen? Die politische, vor dem Forum der Öffentlichkeit eingegangene Bindung kennt Ethos und Ernst des „Versprechens", der Verbindlichkeit des Wortes und Verdikts ihres Bruchs — jedenfalls solange man den M u t hat, für das politische Handeln so et-

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was wie Tugendlehre zu fordern, und den Bereich der Öffentlichkeit durch das Element Verantwortung gekennzeichnet sieht. Die empfindliche Reaktion der Öffentlichkeit auf das böse Wort vom „Fetzen Papier" darf doch wohl zu einem vorsichtigen „Öffentlichkeitsoptimismus" ermutigen. b) Das leitet bereits zu einer Zentralfrage, der Geheimhaltungspraxis und ihrer verfassungsrechtlichen Zulässigkeit, über. Der den Parteien zuzusprechende „Status der Öffentlichkeit" (Hesse, V V D S t R L 17, 11 ff. [39 ff., 52]) ist zugleich der Ort der K V als eines politischen Instituts. Die Zugehörigkeit der K V zum Bereich der Öffentlichkeit w i r d i h r durch die Parteien (Art. 21 GG) und deren Teilhabe an der Legitimität der öffentlichen Gesamtordnung vermittelt. Diese Zugehörigkeit zur Sphäre des öffentlichen bedeutet zugleich Verantwortlichkeit: Verantwortlichkeit vor der Allgemeinheit. Sie realisiert sich durch Veröffentlichung der K V . Dadurch entsteht „faktische Öffentlichkeit". Diese ist Voraussetzung für die Behauptung der Verfassung als normativer öffentlicher Ordnung. Als solche ist sie bedroht, wenn ihre die K V treffenden Grenzziehungen nicht realisiert würden. Die Verfassung als öffentliches Recht fordert Öffentlichkeit der K V ! Die so verstandene Öffentlichkeit ist freilich nicht der Staat, und auch deshalb ist Schüle zu folgen, wenn er die Rechtsverbindlichkeit der K V für die m i t ihrer Durchführung beauftragten „Amts- oder Funktionsträger des Staates" (S. 80, s. auch S. 62 f.) — man denke an den Bundeskanzler, der gleichzeitig als Parteivorsitzender das „Koalitionspapier" ausgehandelt hat — ablehnt. Angesichts dieser Zusammenhänge erweist sich Schüles, nach eigenem Bekenntnis nur „ m i t Zögern" (S. 74) entwickelte, „gewisse" Parallelität zu den konzertierten Praktiken der Wirtschaft zum Zwecke der Wettbewerbsbeschränkungen unter freien Marktverhältnissen (S. 80) als nicht ganz glücklich. Der Bereich, in dem K V abgeschlossen werden, ist kein „politischer Markt", mögen auch manche Gemeinsamkeiten zum w i r t schaftlichen M a r k t bestehen: Konkurrenz, Formlosigkeit, fehlende Rechtsbindung, Kampf um Machtpositionen. Die Sphäre des öffentlichen, i n der sich Entstehen und Vergehen, Bruch und Sanktion von K V vollziehen, und wo sich ihre Partner zu verantworten haben, läßt solche „Gemeinsamkeiten" gänzlich i n den Hintergrund treten. Für die Geheimhaltungspraxis der K V gibt sich damit folgendes: Sie ist verfassungswidrig. Das Demokratiegebot zur Öffentlichkeit, der Gedanke der „Verfassungstransparenz" (Schüle) und „Verfassungsklarheit" (Lerche) sowie das aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Gebot nach Offenlegung und Einsichtigmachung der den Bürger angehenden Vorgänge der res publica fordern die Veröffentlichung der K V . Nur so w i r d die aus dem Öffentlichkeitsstatus der Parteien sich ergebende 40*

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Verantwortlichkeit für „ihre" K V realisiert. Die K V geht i n einer rechtsstaatlichen Demokratie alle an. Es handelt sich u m ein verfassungsrechtliches Gebot, nicht (nur) u m ein verfassungspolitisches Postulat, das i m Falle der Ablehnung als verfassungspolitisches freilich um so stärker durchgreifen müßte. Möglichen praktisch-politischen Einwendungen soll indes nicht aus dem Wege gegangen werdei). Ein denkbares Gegenargument wäre: das Verbot der Geheimhaltung vereitele gerade seinen Zweck, nämlich zu verhindern, daß vor der Öffentlichkeit nicht zu verantwortende Bindungen eingegangen werden; die Parteien könnten sich ja geheim verpflichten. Anders ausgedrückt: die Forderung nach Öffentlichkeit der K V würde gerade das Gegenteil, ihre Geheimhaltung, bewirken. Indessen ist dem entgegenzuhalten: A u f solche geheime Zusatzabmachungen könnte sich keiner der Partner berufen. Die Sanktionen, die eine wache Öffentlichkeit m i t gutem Gedächtnis bis zu den nächsten Wahlen für Illoyalität und Wortbruch besitzt, blieben aus. Die Frage nach dem Warum der Geheimhaltungspraxis freilich bleibt. Ist sie wenigstens von einem „schlechten Gewissen" der „Verantwortlichen" begleitet? Oder bestehen sachliche Gründe für sie — etwa derart, daß gewisse politische Ziele für eine öffentliche Diskussion noch nicht „reif" sind (Eschenburg)? c) Die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen für K V läßt sich weitgehend von der Kompetenzproblematik her lösen. Schüle geht von ihr nicht zentral (angedeutet auf S. 50 unten), sondern nur vereinzelt aus, insbes. für den Koalitionsausschuß (S. 122 f., 125 f.). Von i h m befürchtet er zu Recht von der Verfassung nicht gewollte „Kompetenzverlagerungen" (vgl. schon Sasse JZ 61, 719 ff. [725]). Der Koalitionsausschuß modifiziert das rechtlich erschöpfend geregelte Gesetzgebungsverfahren. Sieht man indessen i n der Verfassung auch wesentlich eine Ordnung der Verteilung und (ausschließlichen) Zuteilung von Kompetenzen zur Wahrnehmung qualitativ bestimmter Aufgaben, eine „Ämterordnung" m i t ganz bestimmten Verantwortungsverhältnissen 4 und Verfahrensregelungen, die als solche schon optimale Richtigkeit verbürgen sollen, so lassen sich viele der den K V verfassungsrechtlich gezogenen Grenzen von diesem Verfassungsverständnis aus konkretisieren: Das gilt etwa für Schüles aus A r t . 21 GG hergeleitete „verfassungsimmanente" Grenze, wonach Absprachen über Rechtspflege und Verwaltung unzulässig sind (S. 86 f., 132): Rechtspflege und Verwaltung sind von der Verfassung bestimmten Amtsträgern zur Wahrnehmung „ihrer" Kompetenzen aus4 Smend, Z. ev. Ethik, 1962, S. 65 ff. (70); W. Hennis, zuletzt in: Richtlinienkompetenz . . . , a.a.O., S. 42.

29. Die Koalitionsvereinbarungen im Lichte des Verfassungsrechts

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schließlich zugewiesen. Auch die „verfassungsimmanente Schranke" der Zeit, wonach eine K V nicht über die Wahlperiode hinaus geschlossen werden kann (S. 89), w i r d von solchem grundsätzlichen Kompetenz- und Amtsverständnis aus prägnanter: Bundestag und Parteien haben nur ein von vornherein zeitlich begrenztes Mandat. I n gleicher Weise w i r d man Schüles Auffassung begründen können, Absprachen über künftige Gesetzgebungsvorhaben, die eine Änderung des bestehenden Rechts bedeuten, seien zulässig (S. 90): Der parlamentarische Gesetzgeber und die i h n tragenden politischen Parteien haben von Verfassungs wegen die Kompetenz zur Setzung neuen Rechts. A u f demselben Hintergrund ist m i t Schüle der „abgesprochene Kanzlerrücktritt" zu beurteilen und zu verurteilen (S. 98 ff., 103): Die Kompetenz zum Mißtrauensvotum (Art. 67 GG) ist dem Bundestag ebenso eindeutig erteilt wie dem Bundeskanzler die Kompetenz, nach seinem Willen aus dem A m t zu scheiden. Speziell i n dieser Frage argumentiert Schüle auch deutlich von einem verfassungsrechtlich geprägten Amtsbegriff aus (S. 102; siehe auch die Ansätze zu solchem Amtsdenken auf S. 62 f.). Solches Amts- und Kompetenzverständnis liefert selbst ein Argument für das Gebot der Veröffentlichung von K V : Das Vertrauen zwischen Wähler und Mandatar, dem Abgeordneten, kann nur bei Offenlegung der K V bestehen. Die Beispiele zeigen, daß der Rezensent den Ergebnissen Schüles weitgehend zustimmt; nur i n der Begründung liegt ein gewisser Unterschied: es w i r d grundsätzlich und von vornherein von einem Verständnis der Verfassung als Ämter- und Kompetenzordnung ausgegangen5. Nach alldem ist die K V nicht eine Figur „werdenden Rechts", sie ist kein Rechtsinstitut, sondern ein von der Verfassung zugelassenes, „angeregtes", von ihren Kompetenzen und Ä m t e r n rechtlich begrenztes politisches Institut eigener A r t — den Partei- und Wahlprogrammen ähnlich. Ihren Ort hat sie i m Bereich des öffentlichen; von dort bezieht sie Legitimität und Dignität, solange man dem Begriff des öffentlichen wieder materielle Bedeutung (Smend) beizulegen gewillt ist. — Schüles Monographie ist der geglückte Vorstoß i n zentrale verfassungstheoretische Fragen und politikwissenschaftliche Probleme. I n seiner Methode und seinen Ergebnissen bewirkt Schüle einen „Brückenschlag" zwischen oft entfremdeten Wissenschaftsgebieten. Er ist gerade i n dieser Zeitschrift gebührender Anzeige wert.

5 Herb. Krüger legt dem Amts- und Kompetenzbegriff jetzt in seiner Allg. Staatslehre (1964) zentrale Bedeutung bei. Nach ihm ist „der Staat als Repräsentation in erster Linie ein System von Ämtern", die sich in Aufgabe u. Auftrag aus dem Gemeinwesen herleiten (S. 253 ff., bes. 254, 256, 264 f.), wobei die Amtsaufgaben durch die Einrichtung von Zuständigkeiten (S. 256, 103 ff.) verteilt werden.

630

I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

Nachtrag zu „Die Koalitionsvereinbarungen i m Lichte des Verfassungsrechts" (Nr. 29) Das Problem der Koalitionsvereinbarungen bleibt auf der politischen und wissenschaftlichen Tagesordnung. Das zeigt ein Blick ins Schriftt u m (ζ. B. Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I I (1973), S. 79 ff. (Fall 17); Stern, Das Staatsrecht der BR Deutschland, Bd. I, 1977, S. 340 f., 772). Der i n dem — wiederabgedruckten — Aufsatz vorgeschlagenen Qualifizierung der Koalitionsvereinbarungen nicht als (verfassungsrechtliche Verträge, sondern als politische Absprachen, für die sich nur das Kompetenzproblem stellt, hat sich ζ. B. Hesse angeschlossen (Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 1. Aufl. 1967, 10. Aufl. 1977, S. 74). Das Problem der Koalitionsvereinbarungen wurde in der Folgezeit immer wieder behandelt: ζ. Β. H.-P. Schneider / W. Zeh, Koalitionen, Kanzlerwahl und Kabinettsbildung, in: dies. (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, S. 1311; M. Schröder, Bildung, Bestand und parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung, HdBStR Bd. I I (1987), S. 603 (604); W.-R. Schenke, in: BK (Zweitbearbeitung), Art. 63 GG, Rn. 20 ff. Der Verfasser hält auch heute an seiner frühen These fest.

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht im Spiegel der Judikatur des BVerfG* I. Einleitung, Problemstand Trotz 25 Jahren BVerfG ist das Verfassungsprozeßrecht*, wie es das BVerfG auslegt und praktiziert, zu wenig untersucht. Manche Grundsatzentscheidungen sind verfassungstheoretisch kaum gewürdigt worden: ζ. B. zu den unterschiedlichen Beteiligungsformen (E 31, 87 [90 ff.]), zur „Ausweitung des verfahrensrechtlichen Parteibegriffs" zugunsten der politischen Parteien i m Organstreit i n der Heimatbündeentscheidung 1 , zu „Sachverhaltsbeteiligten" i m Rahmen des § 32 Abs. 1 BVerfGG (E 23, 33 [40 f.]), zu A r t . 100 Abs. 2 GG und seiner Auslegung von A r t . 25 GG und von § 83 Abs. 2 BVerfGG her (E 23, 288 [316 ff.]), zur Kompetenz des BVerfG, mangels gesetzlicher Regelung „selbst diejenigen Rechtsgrundsätze zu finden, die für eine rechts- und ordnungsmäßige Prozeßführung notwendig sind" (E 4, 31 [37]), zur Geltung allgemeiner Verfahrensgrundsätze i m Verfassungsrechtsstreit (E 33, 247 [261 ff.]), zum grundgesetzlichen Begriff „Verfassungsstreitigkeit" (E 27, 240 [245 ff.]), zur Auslegung der Befangenheitsvorschriften (E 35, 171, 172 ff.) 2 , zur Verbindung von verschiedenen Verfahrensarten (vgl. E 12, 205 [222 f.]) und zur nicht für das BVerfG selbst bestehenden Bindungswirkung (E 4, 31 [38]) 3 . U m so wichtiger ist die Systematisierung der Praxis zum BVerfGG, die sich i m Laufe der Jahre so verdichtet hat 4 , daß eine differenzierte * JZ 1976, S. 377 - 384 mit Nachtrag (1978). * §§ ohne nähere Angabe sind solche des BVerfGG. 1 E 13, 54 (81 ff.); s. auch E 27, 10 (17) und (viel diskutiert): E 4, 27 (30f.). I n E 13, 54 (94) findet sich das stolze Wort vom BVerfG als „Herr des Verfahrens". 2 Dazu Ρ. Häberle, JZ 1973, 451 ff. einerseits, Ekk. Schumann, JZ 1973, 484 ff. andererseits; s. auch Zwirner, AöR 93 (1968), 81 (133 ff.). 3 Dazu Hoffmann-Riem, in: Der Staat 13 (1974), S. 335 ff.; Ρ. Häberle, ZfP 21 (1974), 111 (120 Anm. 69). 4 Gelegentlich erfolgt eine Anknüpfung an die Weimarer Zeit: insbes. in den frühen Bänden des BVerfG: E 4, 250 (268); 3, 267 (279); 2, 143 (155); 1, 115 (116), 208 (221, 229 f.), 351 (371). Die Entfaltung des Verfassungsprozeßrechts wurde in der „Gründerzeit", auch nach außen erkennbar, stark von der Kommentierung des BVerfGG durch Geiger (1952) beeinflußt, vgl. ζ. Β. E 2, 79 (84), 143 (147), 295 (298), 307 (312); 3, 19 (34); 11, 263 (269) ; 13, 54 (95), auch dort, wo das BVerfG Geiger nicht folgt (vgl. E 2, 300 [306]).

6 3 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle

echtsbereiche

Rechtsprechungstradition vorliegt, deren Reichtum und Tiefe erst i m Rückblick voll greifbar wird 5 . I n der Literatur ist sie unter Einzelgesichtspunkten untersucht worden, etwa bezüglich der „Tatsachenfeststellungen" 6 . Eine Aufbereitung der Judikatur zum Verfassungsprozeßrecht ist u m so wichtiger, als die „Phantasie des Gesetzgebers" angesichts des Umfangs der Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem GG, die ohne „Vorbild" ist, nicht alle Möglichkeiten auf diesem Gebiet voraussehen kann (E 2, 79 [84]). Darum müssen auch die das Verfahren betreffenden Regeln des GG und BVerfGG „notwendig lückenhaft" sein, und das BVerfG ist berufen, Rechtsgrundsätze für sein Verfahren aus den i m GG und i m BVerfGG vorgezeichneten Grundlinien zu entwickeln 7 . Entsprechend häufig sind teleologische, „sinngemäße" und „entsprechende" Interpretationen des BVerfGG. Aus der „Pionierzeit" des BVerfG stammen einige grundsätzliche, gelegentlich zu allgemeine Äußerungen über Aufgaben und Funktion des Verfassungsgerichts, die das BVerfG 8 so kaum wiederholt hat. Sie sind psychologisch erklärlich, da das BVerfG zunächst u m sein Selbstverständnis ringen mußte und sein (Selbst)Bildnis i n der Öffentlichkeit gelegentlich al fresco zu malen hatte 9 . I n dieser frühen Zeit war das Gericht mehrfach gezwungen, das BVerfGG m i t den Verfassungsprozeßnormen des GG zu harmonisieren. Die Praxis des BVerfG hat den Gesetzgeber beeinflußt, insofern er i n den Novellen von 1956, 1963 und 1970 einzelne BVerfGG-Institute i n einem Sinne reformierte, der vom BVerfG ausgehende „Entwicklungen" positiv „auffing" 1 0 . Das Forschungsdefizit überrascht. Denn die Rolle des 5

s. etwa E 12, 205 (223) i. V. m. E 10, 185. Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971. Primär verfassungsprozessuale Rezensions-Aufsätze gibt es relativ wenige, vgl. aber Sarstedt, JZ 1966, 314 ff.; Friesenhahn, JZ 1966, 704 ff.; ders., ZRP 1973, 188 ff.; neuere Aufsätze zu Einzelfragen: Maassen, NJW 1975, 1343 ff.; Zuck, JZ 1974, 361 ff., NJW 1975, 907 ff., NJW 1976, 285. — Zur verfassungsprozessualen Behandlung der Parteien: Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S. 474 ff. Weitere Monographien: Zeitler, Verfassungsgericht und völkerrechtlicher Vertrag, 1974; Schuppert, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 1973, S. 87 ff.; Zembsch, Verfahrensautonomie des BVerfG, 1971, bes. 110 ff. 7 BVerfGE 2, 79 (84) mit Hinweis auf E 1, 109, 415, 208. — Zur richterlichen Rechtsschöpfung von Verfahrensrecht: Heusinger, Rechtsfindung und Rechtsfortbildung . . . , 1975, S. 92. 8 Vgl. E 2, 79 (84 ff.), 143 (150 ff.). 9 Vgl. etwa das große Wort vom „Hüter der Verfassung": E 1, 184 (196 f.), wiederholt in E 40, 88 (93); s. auch E 1, 351 (359): „Es entspricht der besonderen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit, ohne Rückgriff auf die mehr oder weniger große Aktualität des Falles, das Verfassungsrecht durch Entscheidungen zu entwickeln und den Rechtsfrieden für die Zukunft zu sichern." 10 So beim Sondervotum (§ 30 Abs. 2 BVerfGG), praktisch hatten die E zu § 15 Abs. 2 S. 4 (ζ. Β. E 20, 162) und die Angabe der Mehrheitsverhältnisse in 6

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht BVerfG

633

f ü r A u s l e g u n g u n d F o r t e n t w i c k l u n g des G G i s t so u n b e s t r i t t e n ,

daß es nahe lag, das Verfassungsprozeßrecht, das als „ l a w i n a c t i o n " das G G a u f d e n W e g b r i n g t , i m L i c h t e d e r Rechtsprechung des BVerfG

auf-

zuarbeiten. U n t e r s u c h t w e r d e n i m f o l g e n d e n n i c h t n u r die Entscheidungen, die sich a u s d r ü c k l i c h m i t d e n verfassungsprozessualen N o r m e n des G G u n d des B V e r f G G befassen; einbezogen s i n d auch solche, die ohne a u s d r ü c k liche A u s l e g u n g d i e P r a x i s des Gerichts (gelegentlich o h n e B e g r ü n d u n g ) o f f e n k u n d i g w e r d e n lassen, e t w a z u r M i n i m a l i s i e r u n g d e r m ü n d l i c h e n V e r h a n d l u n g nach §§ 25 A b s . 1, 94 A b s . 5 S. 2 1 1 B V e r f G G .

I I . Die Rechtsprechung des B V e r f G i m Lichte von sieben verfassungstheoretischen Fragestellungen 1. Spezifisch

verfassungsrechtliche

prozeßnormen

— Auslegung

Auslegung des BVerfGG

der „vom

VerfassungsGG her"

Das Verfassungsprozeßrecht i s t i n d o p p e l t e r H i n s i c h t K o n k r e t i s i e r u n g des G G : es ist selbst k o n k r e t i s i e r t e s Verfassungsrecht u n d es d i e n t d e m BVerfG dazu, das G G zu k o n k r e t i s i e r e n . D i e hohe „ K o n k r e t i s i e r u n g s diese Richtung gewiesen; ferner bei der Versagung der Geltendmachung der Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung als Ablehnungsgrund, vgl. E 1, 66 (68 f.); 2, 295 (298) bzw. § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG (4. ÄndG v. 21. 12. 1970, BGBl. I, S. 1765); für § 93 Abs. 1 BVerfGG (1. ÄndG v. 21. 7. 1956, BGBl. I, S. 662), vgl. E 9, 109 (112): „in Anlehnung" an die Rechtspr. des BVerfG, s. auch S. 117 ebd.; für §§ 31 Abs. 2 S. 2 (3. ÄndG v. 3. 8. 1963, BGBl. I, S. 589), 13 Nr. 8 a (4. ÄndG 1970): E 3, 19 (34). s. noch E 2, 124 (132 f.) mit dem Rückgriff auf einen Weimarer Gesetzentw. — Auch die Modifizierung von § 79 Abs. 1 durch das 4. ÄndG (mit dem GG „für unvereinbar erklärte Norm") ist auf dem Hintergrund der Rechtspr. zu sehen. Zur Änderung des Informations- und Partizipationsinstruments des § 80 (Abs. 4) bzw. 82 Abs. 4 sowie 94 Abs. 3 s. das 2. u. 3. ÄndG BVerfGG bzw. E 31, 87 (92). Die Frage, inwieweit die GeschOBVerfG v. 3. 7. 1975, Bek. v. 2. 9. 1975 (BGBl. I, S. 2515) „in Form" gebrachte Praxis ist, kann hier nur gestellt werden. 11 Vgl. E 25, 158 (163): „Mündliche Verhandlung ist nicht erforderlich" (ohne Begründung!); s. auch E 24, 112 (116). s. noch E 18, 288 (296), 19, 76 (82): „Eine mündliche Verhandlung war nicht geboten"; in E 19, 166 (171) wird nur gesagt, daß eine weitere Förderung des Verfahrens nicht zu erwarten ist (ebenso 40, 141 [156]. Paradigmatisch E 11, 77 (83): „Da dem Verfahren niemand beigetreten ist, konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden" ; s. auch E 8, 28 (32); 9, 20 (26); 10, 1 (2), 55 (58), 234 (238), 332 (335); 11, 89 (93), 126 (129), 245 (249), 283 (286), 310 (316). — So sagt E 8, 71 (75): „Da die Antragsteller auf mündliche Verhandlung verzichtet haben, kann durch Beschluß entschieden werden (vgl. BVerfGE 2, 307 [312])". Begründet ist dies nicht. § 25 Abs. 1 BVerfGG ist eine Kannvorschrift. Es gibt keine Automatik zwischen dem Verzicht der Beteiligten auf mündliche Verhandlung und Entscheidung durch Beschluß. Nach E 2, 213 (218) ergibt eine „sinngemäße Auslegung des § 25 Abs. 1 BVerfGG, daß es in einem Verfahren, an dem niemand beteiligt ist, im Ermessen des BVerfG steht, ob es aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden will". Das BVerfG nennt auch die relevanten Gesichtspunkte: „weitere Klä-

6 3 4 I .

Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

leistung" des BVerfG verlangt jetzt eine verfassungstheoretische Fundierung des Verfassungsprozeßrechts. Das Gericht ist sich des Problems der „Umsetzung" allgemeiner GGNormen i n besondere Verfahrensnormen des BVerfGG durchaus bew u ß t 1 2 ; es war vor allem i n den ersten Jahren m i t der Aufgabe befaßt, einzelne Bestimmungen des BVerfGG i m Blick auf A r t i k e l des GG verfassungskonform auszulegen, Adaptionen und Harmonisierungen vorzunehmen. Dabei blieb es nicht bei einer einseitigen „Unterwerfung" des BVerfGG unter den Wortlaut der GG-Bestimmungen. Das BVerfG geht behutsamer vor. Es kommt zu Rückwirkungen des Verfassungsprozeßrechts auf die A r t i k e l des GG und zu Wechselwirkungen bzw. konkordanten Auslegungen von GG und BVerfGG. Sie wurden allgemein i m Einerseits von verfassungskonformer Auslegung von Gesetzen und i m Andererseits von gesetzeskonformer Auslegung der Verfassung beobachtet 13 . Und sie bestätigen die These von der gebotenen materiellen Auslegung des Verfassungsprozeßrechts 14 . Ein Beispiel für Entscheidungen, i n denen eine bestimmte Ausgestaltung des Verfassungsprozeßrechts bewußt oder unbewußt, versteckt oder offen das Gericht zu bestimmten Interpretationsmethoden veranlaßt hat, ist die Auslegung des § 79 Abs. 1 a. F. BVerfGG: dort, wo das BVerfG vor einer Nichtigerklärung von Gesetzen zurückschreckte und entsprechend interpretierte 1 5 . Diese Rückwirkungen des Verfassungsprozeßrechts auf die Verfassungsinterpretation sind das Gegenstück zu den zuvor genannten Fällen 1 6 . Z u unterscheiden ist zwischen Auslegung bzw. „Umsetzung" von materiellen und von prozessualen GG-Bestimmungen ins Verfassungsprozeßrecht. Beispiele für materielle sind: „Ausstrahlungswirkungen" des rung der Rechtsfragen". Nur kann sie m. E. auch für Verfahren ohne Beteiligte möglich sein. Sinn der gerichtlichen Öffentlichkeitsgarantie ist es ja, Nichtbeteiligten das Verfahren zu „eröffnen". I n der Regel ist eine mündliche (öffentliche) Verhandlung vor dem BVerfG (!) per se eine „Förderung des Verfahrens". — E 2, 213 (217 f.) ist aber Leitfall geworden: vgl. etwa E 2, 266 (272); 6, 55 (62); 7, 29 (36), 45 (49), 89 (92), 183 (185); 8, 28 (32), 155 (163), 210 (213), 274 (289 f.), 332 (338). 12 Vgl. E 13, 54 (72). 13 Dazu Hesse, Grundzüge, 8. Aufl. 1975, S. 31 ff., 34; P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl., 1962, S. 210 ff.; ders., Rezension, in: AöR 90 (1965), S. 117 (120 ff.). 14 Dazu P. Häberle, JZ 1973, 451 ff. 15 ζ. Β. E 16, 130 (Wahlkreiseinteilung), dazu Ch. Böckenförde, Die sog. Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, 19·66, S. 81 f., meine Bespr. D Ö V 1966, 660 ff.; E 21,12 bes. 39 ff. (Umsatzsteuerurteil): vgl. Ch. Böckenförde, DÖV 1967, 157 ff., P. Häberle, AöR 95 (1970), 260 (277 f.). 16 Die „Verfahrensbedingtheit" der materiellrechtlichen Argumentation hat für einen Teilbereich jetzt Lipphardt näher (kritisch) untersucht, a.a.O., S. 169, 227 f., 465, 503.

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

635

G G i n s B V e r f G G i n Gestalt der G r u n d r e c h t e 1 7 , P a r t e i e n ( A r t . 21 G G ) 1 8 , A b g e o r d n e t e n ( A r t . 38 G G ) 1 9 , F r a k t i o n e n 2 0 ; sie f i n d e n sich auch i n e i n e r Reihe w e i t e r e r E n t s c h e i d u n g e n 2 1 . Beispiele f ü r die A u s l e g u n g des Verfassungsprozeßrechts v o n ( f o r m e l len) Prozeßrechtsbestimmungen des G G h e r l i e f e r n E n t s c h e i d u n g e n z u m grundgesetzlichen, m a t e r i e l l r e c h t l i c h v e r s t a n d e n e n B e g r i f f „ Verfassungss t r e i t i g k e i t " 2 2 , z u A r t . 100 A b s . 2 2 3 , 100 A b s . 1 G G 2 4 , z u r A b l e h n u n g e i n e r E r w e i t e r u n g des Kreises der nach A r t . 93 A b s . 1 N r . 2 A n t r a g s b e r e c h t i g t e n (E 21, 52 [53]) 2 δ , zu A r t . 44 G G 2 6 , z u r B e s t i m m u n g d e r B e i t r i t t s 17

Nach E 1, 87 (89) wird die „Fähigkeit zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde von der Ausgestaltung der einzelnen Grundrechte mitbeeinflußt" ; s. auch E 19, 93 (100 f.); 28, 243 (254) mit dem Hinweis auf die „Beziehung der Grundrechte auf das im Ausgangsverfahren streitige Rechtsverhältnis". Für den Begriff „grundrechtsähnlich" (§ 90 BVerfGG): E 6, 445 (448); 8, 1 (11); für Art. 19 Abs. 3 GG: E 4, 7 (12). E 31, 87 (91): Argumentation von „System und Funktion der Verfassungsbeschwerde im Rechtsschutzsystem des GG" her, für die Beteiligtenfrage im Rahmen eines Nebenverfahrens gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG. — E 9, 89 (93 f.): Bejahung eines Rechtsschutzbedürfnisses angesichts der „Bedeutung des Schutzes der persönlichen Freiheit". 18 Hier bestimmt die „besondere Funktion der Parteien im Verfassungsleben" auch die Form ihrer Teilnahme am verfassungsgerichtlichen Verfahren : E 27, 10 (17); s. schon E 1, 208 (226, 227 f.); 4, 375 (378); 13, 54 (81 f.); 20, 134 (143 f.); 24, 260 (263), 300 (331). 1β E 2, 144 (164); 4, 144 (148 f.); 10, 4 (10 f.). 20 E 27, 44 (51 f.); 20, 56 (104). 21 Vgl. etwa E 9, 268 (277): Verpflichtung auf die Bundesverfassung legitimiert auch die Landesregierung, Verstöße des Landesgesetzgebers nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG geltend zu machen; E 25, 88 (97): Auslegung des § 39 Abs. 1 S. 3 BVerfGG „auch" von Art. 18 GG her; für die Aktivlegitimation einer Universität: E 15, 256 (261 f.); s. für Art. 9 Abs. 1 GG: E 13, 174 (175 f.); für die Konkretisierung der „allgemeinen Bedeutung" i. S. von § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG: E 27, 88 (97 f.). I. S. von Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht meint das BVerfG in E 6, 300 (303), das BVerfGG habe, „indem es dem Rang dieses Gerichts und seiner besonderen Stellung als eines der obersten Verfassungsorgane innerhalb der Verfassungsordnung Rechnung getragen" habe, dem BVerfG alle zur Durchsetzung seiner Entscheidungen nötige Kompetenz eingeräumt: in § 35 BVerfGG. — Das BVerfG handhabt ihn durchaus selbstbewußt: E 2, 1 (77 f.); 2, 139 (142); 5, 85 (393); 12, 36 (45); 29, 312 (317 f.); 35, 382 (408); 38, 52 (60); 39, 1 (68). E 6, 300 (304) verweist auf den „umfassenden Gehalt der Vorschrift, die das Gericht recht eigentlich zum Herren der Vollstreckung" mache. 22 E 27, 240 (246f.): Der grundgesetzliche Begriff „Verfassungsstreitigkeit" bleibt maßgebend auch für Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG; dem entspreche § 73 BVerfGG. Zu Art. 93 Abs. 1 bzw. §§ 63, 67 BVerfGG: E 2, 79 (86). 23 E 23, 288 (316 ff.), wo eine Auslegung von Art. 25 GG und zugleich von § 83 Abs. 2 BVerfGG her erfolgt: ein klassisches Beispiel für die Verbindung von materiellem Verfassungsrecht und Verfassungsprozeßrecht ! 24 I. V. m. §§ 77, 82 BVerfGG: E 11, 330 (335). 25 S. 53 : „Die Bestimmung des Kreises der Antragsberechtigten hat nicht nur technische Bedeutung, sie hängt eng mit dem verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Gehalt der Rechtsstreitigkeiten zusammen, die dem BVerfG zugewiesen sind." 26 Vgl. E 2, 143 (165 f.).

6 3 6 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche b e r e c h t i g t e n i m Verfassungsbeschwerde v e r f a h r e n m i t

der

„Funktion

e i n e r N o r m e n k o n t r o l l e " (E 24, 33 [45]) s o w i e zu w e i t e r e n P r o b l e m k r e i s e n 2 7 . D a b e i k o m m t es zu R ü c k w i r k u n g e n a u f das G G 2 8 . Das „Rechtsschutzinteresse" I n d e r J u d i k a t u r des BVerfG

i s t b e t o n t v o m G G h e r zu b e s t i m m e n . l ä ß t sich i n T e i l b e r e i c h e n eine „ O b j e k t i -

v i e r u n g " des Rechtsschutzbedürfnisses n a c h w e i s e n 2 9 ; i n E 1, 351 (359) h a t das BVerfG

die „besondere F u n k t i o n d e r

Verfassungsgerichtsbarkeit"

u n d d a m i t e i n e n grundgesetzlichen A s p e k t als A r g u m e n t b e i d e r B e j a h u n g des Rechtsschutzinteresses der s o z i a l d e m o k r a t i s c h e n Bundestagsfraktion verwendet30. N a c h d e r Rechtsprechung z u § 32 B V e r f G G k a n n die W i r k u n g einer e i n s t w e i l i g e n A n o r d n u n g ü b e r d e n K r e i s der V e r f a h r e n s b e t e i l i g t e n h i n aus auch a u f „ D r i t t e " , d i e sog. „ S a c h v e r h a l t s - B e t e i l i g t e n " erstreckt w e r d e n 3 1 . D i e D i f f e r e n z i e r u n g zwischen V e r f a h r e n s - u n d S a c h v e r h a l t s b e t e i l i g t e n u n d die A u s d e h n u n g d e r R e g e l u n g s k o m p e t e n z des BVerfG i s t m a t e r i e l l r e c h t l i c h z u b e g r ü n d e n : i m Verfassungsrecht w ä r e eine b l o ß p u n k t u e l l e B e t r a c h t u n g u n g e n ü g e n d . D e r S a c h v e r h a l t , der die verfassungs27

Zu § 64 Abs. 1 BVerfGG als Auslegung und Umschreibung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1: E 2, 347 (366), 143 (157 f.); für die Anwendung des § 24 BVerfGG im Rahmen des Art. 100: E 9, 334 (336); für § 73 BVerfGG im Blick auf Art. 99, 93 Abs. 1 Nr. 1 GG: E 1, 208 (222); für eine Präzisierung der Vorlagefrage (§ 80 BVerfGG, Art. 100 Abs. 1 GG): E 24, 220 (225). 28 Vgl. E 22, 277 (281) im Blick auf § 48 BVerfGG und Art. 41 Abs. 2, 19 Abs. 4 GG; E 3, 45 (49): Heranziehung von § 91 BVerfGG für die Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG. E 1, 208 (219): § 14 Abs. 2 BVerfGG als ein Argument für die Auslegung des Begriffs „Verfassungsstreitigkeiten" (Art. 99 GG) in einem weiteren Sinne, s. die Rolle des § 91 BVerfGG in E 21, 362 (371): Grundrechte und Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nicht für juristische Personen des öff. Rechts. E 28, 119 (134 ff.): verfassungskonforme Auslegung des § 86 Abs. 2 BVerfGG, einer „Ausführungsvorschrift" zu Art. 126 GG. E 10, 118 (122): „§ 39 Abs. 1 BVerfGG präzisiert diese grundgesetzliche Norm" (des Art. 18 GG). — E 2, 79 (95): „Für das Verfassungsgericht steht die zu klärende Frage des Verfassungsrechts im Vordergrund, nicht die verfahrensrechtliche Position eines Verfassungsorgans". — Zum Problem der Zuordnung des § 86 Abs. 2 BVerfGG zu Art. 126 oder 93 Abs. 2 GG: E 4, 358 (368 f.). E 2, 79 (86) im Blick auf Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG: Eigenart der Verfassungsgerichtsbarkeit kommt darin zum Ausdruck, daß die Urteile im Streitverfahren in der Regel als Feststellungsurteile ergehen, s. auch S. 89 ebd., im Normenkontrollverfahren „rechtssatzähnliche Kraft" (86 f.). — E 1, 351 (359): § 64 BVerfGG als Ausgestaltung des Verfahrens (Art. 94 Abs. 2 GG). s. noch E 2, 372 (378). E 1, 208 (231 f.): zum Verhältnis von §§ 67, 72 Abs. 2, 74 BVerfGG zu Art. 93 Abs. 1 Nr. 1, 94 Abs. 2 GG. 29 Vgl. Lipphardt, a.a.O., S. 476, 484 ff. 30 Es entspreche der „besonderen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit", „ohne Rücksicht auf die mehr oder weniger große Aktualität des Falles, das Verfassungsrecht durch Entscheidungen zu entwickeln und den Rechtsfrieden für die Zukunft zu sichern". 31 E 8, 42 (46), 122 (129 f.); 12, 36 (44 f.); 23, 42 (49). Zur Anhörung sachverhaltsbeteiligter Parteien in den Parteifinanzierungsentscheidungen: E 20, 56 (74 ff.), 119 (128), 134 (139).

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

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rechtliche Kontroverse ausgelöst hat, ist weitreichender. I n sein K r a f t feld geraten „ D r i t t e " 3 2 : angesichts der (Ausstrahlungs-)Wirkungen von Verfassungsprozessen als solchen. Die Elastizität, m i t der das BVerfG dem Rechnung trägt, ist vorbildlich. Die Enge eines prozessualen Instituts w i r d durch sachlich-gegenständliche Überlegungen gesprengt. Solche vorsichtigen Erweiterungen prozessualer Institute basieren auf der sachlichen Verklammerung von GG und Verfassungsprozeßrecht. Wie stark das BVerfG „durch" die Auslegung verfassungsprozessualer Vorschriften hindurch materielles Verfassungsrecht interpretiert bzw. wirksam werden lassen kann 3 3 , bestätigt die Gegenüberstellung des Plenarbeschlusses E 4, 27, i n dem das BVerfG den politischen Parteien den Weg zum Organstreit öffnet, m i t E 13, 54 (81 ff.), i n der es den Heimatbünden den Organstreit versagt. Das BVerfG (E 4, 30 f.) qualifiziert die Parteien wegen A r t . 21 GG als „notwendige Bestandteile des Verf assungsaufbaus". Wenn sie u m die Rechte kämpften, die sich aus ihrer „besonderen Funktion i m Verfassungsleben" ergeben, dann müsse ihre organschaftliche Qualität auch die Form ihrer Teilnahme am verfassungsgerichtlichen Verfahren bestimmen: die Verfassungsbeschwerde wäre für sie „nach der Struktur des BVerfGG"(!) nicht das adäquate prozessuale M i t t e l 3 4 . Diese „Ausweitung" des verfahrensrechtlichen Parteibegriffs 35 zugunsten der politischen Parteien begründet das Gericht i n E 13, 54 (81 f.) i m Blick auf A r t . 21 GG noch einmal, und zwar i m Kontrast zu den „Heimatbünden": diese sind anders als die politischen Parteien „keine verfassungsrechtlich notwendigen Institutionen". Die Argumente, die gegen den Vergleich m i t der Stellung der politischen Parteien herangezogen werden, sind ungeachtet ihrer Fragwürdigkeit materiell-verfassungsrechtlicher Natur 3 6 . Entsprechend argumentiert das BVerfG bei der Begründung der Voraussetzungen, unter denen ein Abgeordneter einen Organstreit führen kann, i m Blick auf A r t . 38 Abs. 1 GG 3 7 . 32 Zu „Auswirkungen", die zu einer Teilentscheidung führen (§ 25 Abs. 3 BVerfGG): E 38, 326 (336). 33 Ein vorbildlich entschiedener Spezialfall ist E 13, 132 (141), insofern das BVerfG die durch Art. 98 S. 4 BV zur Wahrung der Verfassung im allgemeinen und öffentlichen Interesse jedem Bürger eingeräumte Position der einer „Partei" gleichstellt, die vor dem Gericht eigene Rechte verfolgt. 34 Das BVerfG will in diesem Sinne die Anführung des Art. 33 GG in § 90 BVerfGG einschränkend auslegen (E 4, 31). 35 Zu Anerkennung der Parteifähigkeit der politischen Parteien in Weimar — sie geschah ebenfalls vom materiellen Verfassungsrecht her: E 20, 56 (108). 38 Heimatbünde als „freie gesellschaftliche Gebilde" (S. 83), eine Formel, die an Passagen in E 20, 56 (101, 110 f.) für die Parteien erinnert und das Urteil insofern fragwürdig macht; dazu P. Häberle, in: JuS 1967, 64 (73). Besonders klar LS 5 : „Die Heimatbünde sind . . . nicht notwendige Institutionen des Verfassungslebens ; sie besitzen daher (!) keine Parteifähigkeit im Organstreit". Problematisch sind freilich die Passagen zum Volk und die Unterschätzung der Notwendigkeit von „besonderen Vereinigungen" (S. 82 ff.). 37 E 2, 143 (164); 4, 144 (148 f.); 6, 446 (447 f.); 10, 4 (10 f.).

6 3 8 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Erst die Einbeziehung der folgenden sechs Problemkreise und Fallgruppen ergibt eine umfassende Vorstellung davon, wie weit das BVerfG i n den 40 Bänden seiner Entscheidungen schon i. S. einer Konkretisierung des GG „ i n " und über das Verfassungsprozeßrecht gekommen ist 3 8 . 2. Die Eigenständigkeit

des Verfassungsprozeßrechts

Eigenständigkeit des Verf assungsprozeßrechts — hier i m weiteren Sinne verstanden — ist Konsequenz der spezifisch verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des BVerfGG bzw. seiner Auslegung „vom GG her". Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht bedeutet notwendig eine gewisse Distanzierung zu den sonstigen Verfahrensordnungen. Sie sind nicht i n der dem BVerfGG vergleichbaren Intensität „ U m setzung" des GG ins Verfahrensrecht, so sehr auch sie i m Dienste des GG stehen wie etwa das SGG i n dem des Sozialstaatsprinzips 39 . Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts (und die damit zusammenhängende ganzheitliche Interpretation) ist vom BVerfG besonders bei der Auslegung der Befangenheitsvorschriften i m 1. Rottmann-Beschluß (E 35, 171) praktiziert worden. Sie kann jedoch auf eine längere vielfältige Tradition zurückblicken. Erkennbar w i r d sie dort, wo das BVerfG die „Eigenart", das „Besondere" der verfassungsgerichtlichen Verfahren argumentativ verwendet und insofern eine Distanzierung zu den anderen Verfahrensordnungen vornimmt 4 0 . 38 Vereinzelt gibt es Anlaß zur Kritik. U m verfassungsrechtliche Fragen handelt es sich bei §§ 65, 63 BVerfGG; dazu E 1, 14 (30 f.), 66 (68), 351 (359 f.); 6, 309 (325 f.). Hatte das BVerfG eine großzügige Auslegung vertreten, so argumentierte es in E 20, 18 (22 ff.) engherzig. Friesenhahn, JZ 1966, 522, hat dagegen mit Recht gefordert, daß die im Bundestag vertretenen Parteien durch Zulassung des Beitritts als vollberechtigte Verfahrensbeteiligte hätten eingeführt werden müssen. Der Hinweis des BVerfG (E 20, 26), es könne Dritten Gelegenheit zur Äußerung geben, was auch geschehen sei, ist zuwenig. Hier war die Wirkung des Art. 21 GG und des Parlamentsrechts (Fraktionen) ins Verfassungsprozeßrecht hinein zu verstärken. Das Problem ist auch ein Beispiel dafür, wie eine Auslegung vom G G her Auswirkungen für eine Erweiterung bzw. Stärkung der Partizipationsberechtigten hat. — Verfassungsprozeßnormen mit ausdrücklichen Gemeinwohlbezügen: §§ 32 Abs. 1, 90 Abs. 2 S. 2, 93 a Abs. 4 BVerfGG. Zum öff. Interesse als verfassungsprozessualem Topos in der Hand des BVerfG: E 1, 396 (414f.); 8, 183 (184); 24, 299 (300); 25, 308 (309). Das Armenrecht in Verfassungsbeschwerdeverfahren (E 1, 109 [110 ff.], 430 [438]) ist unter dem Aspekt „Grundrechte als Gemeinwohlgut" und im Blick auf das Sozialstaatsprinzip (dazu BVerfGE 9, 124 [131]) zu sehen. Zu den strengen Voraussetzungen: E 27, 57. 39 Vgl. E 9,124 (133 f., 136). 40 s. den besonderen, von anderen Prozeßordnungen abweichenden Maßstab in E 35, 171 (172 ff.), im Gegensatz zur abw. Meinung von Wand, ebd. S. 175 f.; E 33, 247 (261): Zwar schließt die Besonderheit des verfassungsgerichtlichen Verfahrens aus, Regelungen anderer Verfahrensgesetze ohne weiteres und allgemein zu übernehmen (vgl. E 1, 87 [88 f.]); 19, 93 (100); 28, 243 (254) — jedoch ggf. Rückgriff auf allgemeine verfahrensrechtliche Grundsätze: E 1, 4 (4f.),

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

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Diese Verselbständigung ist jedoch weder Selbstzweck noch Dogma. Das BVerfG geht behutsam vor, es treibt auch innerdeutsche Prozeßrechtsvergleichung, verweist auf allgemeine Grundsätze des Prozeßrechts usw. Angesichts des fragmentarischen Charakters der Verfassungsprozeßnormen liegt dies nahe; und diese Rechtsvergleichung ist zu begrüßen, wenn sie dem BVerfGG den Erfahrungsschatz des sog. „allgemeinen Prozeßrechts" vermittelt — sofern nur die spezifisch grundgesetzliche Fundierung des BVerfGG nicht Schaden leidet. Verfassungsprozeßrecht „nach Maßgabe" des GG und der „aus i h m " zu entfaltenden Verfassungstheorie schließt behutsame „Anleihen" beim übrigen Prozeßrecht nicht aus. 3. Die ganzheitliche — integrierende — Auslegung von Verfassungsprozeß-Normen Die judizielle Ausgestaltungsbedürftigkeit des Verfassungsprozeßrechts — sie ist dem BVerfG bewußt 4 1 — und die Zusammengehörigkeit der Sache „Verfassungsprozeßrecht", so vielgestaltig dessen Verfahren sind, führen das Gericht zur ganzheitlichen Auslegung der einzelnen Verfassungsprozeßnormen 42 . Sie ist Teil der Praxis, die noch „leeren" oder freien Felder des Prozeßrechts auszufüllen. Diese die einzelnen Prozeßrechtsnormen aufeinander abstimmende, „aus dem Zusammenhang" interpretierende Judikatur des BVerfG ist Konsequenz des spezifisch verfassungsrechtlichen Verständnisses des Verfassungsprozeßrechts und Teil seiner schrittweisen Verselbständigung gegenüber den anderen Verfahrensordnungen. Das Gericht bedient sich der Kunst innerprozessualer Rechtsvergleichung 43 ; sie w i r d nahegelegt durch häufig ausdrücklich verlangte sinn5 (6), 109 (110 ff.). E 33, 247 (265): Gegenüber anderen Verfahrensordnungen „besonderer Charakter der Verfassungsbeschwerde" ; E 32, 288 (290 f.) : „Eigenart des verfassungsgerichtlichen Verfahrens"; s. auch E 19, 93 (100). E 24, 236 (243): „Die Eigenart der Verfassungsbeschwerde als eines außerordentlichen . . . Rechtsbehelfs . . . verbietet es auch, die für den Zivilprozeß und andere Verfahrensarten geltenden Vorschriften . . . analog anzuwenden". E 20, 18 (26) : Das prozessuale Institut der Beiladung (vgl. §§ 65 f. VwGO) ist dem Verfahrensrecht des BVerfGG unbekannt, s. noch E 1, 108 (109); 18, 133 (135). 41 Vgl. E 2, 79 (84); 33, 247 (261); s. auch E 37, 271 (284 f.). 42 E 32, 288 (290 f.) für Ausschlußgründe (§ 18 Abs. 2 und 3) und die Auslegung des § 19 ; E 24, 33 (45) : Begründung des Beitrittsrechts von Verfassungsorganen aus dem „Zusammenhang" von § 94 Abs. 5 mit 94 Abs. 4; E 23, 288 (316 f., 318 f.); 1, 415 (416 f.) für die Auslegung des § 93 Abs. 2 und 1 BVerfGG. 43 Belege: s. die §§ 94 Abs. 3 und 32 Abs. 3 S. 1 aufeinander abstimmende Auslegung in E 31, 38 (93); s. auch E 21, 359 (361) für §§ 48, 23 Abs. 1 BVerfGG; s. die Rolle des § 94 im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung einer Verfassungsbeschwerde: E 9, 89 (93 f.). s. den für das BVerfGG untersuchten „Sprachgebrauch" in E 28, 119 (133) in bezug auf den Begriff „Gesetz" (§§ 78 S. 2, 89, 91 S. 1, 95 Abs. 3). E 27, 57: Begründung aus §§ 34 Abs. 1, 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG, daß Armenrecht in Verfassungsbeschwerdeverfahren nur unter sehr strengen

6 4 0 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche gemäße (entsprechende) A n w e n d u n g (vgl. §§ 88, 86 A b s . 2 4 4 , 47, 69, 71 A b s . 2, 72 A b s . 2 Satz 2, 73 A b s . 2, 75, 82, 84, 94, 95 A b s . 3 Satz 3, 96 B V e r f GG). Es a r b e i t e t d e n G r u n d g e d a n k e n der e i n z e l n e n N o r m e n oder d e n „ a l l g e m e i n e n G r u n d s a t z " eines I n s t i t u t s , ζ. B . der S u b s i d i a r i t ä t d e r V e r f a s sosungsbeschwerde, h e r a u s 4 5 . G e l e g e n t l i c h gestattet sich das BVerfG g a r e i n e n u n m i t t e l b a r e n D u r c h g r i f f a u f das „ W e s e n " des Verfassungss t r e i t s ^ . E s n i m m t „ P a r a l l e l i s i e r u n g e n " zwischen d e n verfassungsgerichtl i c h e n V e r f a h r e n v o r ; auch das d i e n t d e r A u s f ü l l u n g d e r N o r m e n des B V e r f G G , so sehr das G e r i c h t i h r e Unterschiede i m m e r w i e d e r b e t o n t 4 7 . Voraussetzungen gegeben wird. Ferner E 4, 144 (147 f.); 12, 205 (223): §§ 66, 69 als Ausdruck eines „allgemeinen Grundsatzes"; E 2, 79 (89): Argumentation mit § 16 Abs. 1 BVerfGG. E 24, 34 (44f.): kein allgemeiner Verfahrensgrundsatz, daß Verfassungsorgane jeglichem Verfahren vor dem BVerfG bei treten können, aber Aufzählung der Beitrittsnormen für die einzelnen Verfahren des BVerfGG; E 23, 191 (206 f.): Heranziehung des § 31 Abs. 1 für § 16 Abs. 1; E 20, 56 (88 f.) : Suche nach allg. verfahrensrechtlichem Grundsatz des Verfassungsprozeßrechts mit negativem Erfolg; ferner E 20, 18 (23 f.) u. die ganzheitliche Sicht des § 79 Abs. 2 S. 1, 2 und 4 in: E 20, 230 (236) zur Gewinnung eines „Rechtsgedankens". E 1,14 (31): „Grundgedanke" des § 63 BVerfGG. 44 Dazu E 4, 358 (360 f.) : Anhörung auch der nur mittelbar berührten Landesparlamente. 45 Vgl. E 31, 364 (368): „allgemeiner Grundsatz der Subsidiarität", der nicht nur § 90 Abs. 2 BVerfGG zu entnehmen ist, sondern vom BVerfG auch im Zusammenhang mit der Anfechtung von Gesetzen ständig hervorgehoben worden ist (E 22, 287 [290]; 15, 126 [131]). Bemerkenswert ist die Entfaltung des Subsidiaritätsprinzips: E 8, 222 (225f.); 14, 260 (263); 22, 287 (290f.), 349 (355 f.); 24, 362 (365); 27, 71 (78), 253 (269); 29, 221 (232), 277 (282). s. auch E 2, 295 (297): entsprechende Anwendung des § 18 Abs. 2 auf § 19 BVerfGG, ebs. E 11,1 (3). 48 So in E 1, 208 (229) für die Voraussetzung der Aktivlegitimation. E 1, 184 (195): Bedeutung der gesamten Normenkontrolle im Rahmen des GG und der dem BVerfG zugewiesenen Aufgaben. 47 s. die Eröffnung der Möglichkeit, bei Beachtung der je eigenen Verfahrensvorschriften verschiedene Verfahren miteinander zu verbinden: E 12, 205 (222 f.) ; E 1, 15 (30) als Beispiel für sich überschneidende gleichzeitige Anwendung verschiedener Verfahrensvorschriften (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 3 bzw. § 13 Nr. 6 und 7 BVerfGG). — Betonung der Unterschiede in E 4, 144 (152), Parteifähigkeit im Organstreit („Verletzung von Statusrechten"); E 28, 119 (135 f.) in bezug auf Normenkontrolle und Normenqualifizierung; E 21, 52 (54) für Antragsberechtigung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 und abstrakte Normenkontrolle; 1, 396 (414 f.) für Normenkontrollverfahren und ausschließlichen Gesichtspunkt des öff. Interesses; 2, 213 (217): am Normenkontrollverfahren ist begrifflich notwendig niemand „beteiligt", so daß als Beteiligte nur die Verfassungsorgane gelten können, die durch Ausübung des ihnen in § 82 Abs. 2 gewährten Beitrittsrechts eine besondere Rechtsstellung im Verfahren gewonnen haben, s. auch E 20, 350 (351); 36, 101. — Das Gericht wendet sich gegen eine zu weitgehende „Parallelisierung" in E 28, 119 (136); 3, 225 (228) für Art. 100 Abs. 1 GG; 14, 154 f. für Art. 41 Abs. 2 GG; 15, 25 (30): Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG, §§ 83 f. BVerfGG als „objektives" Verfahren. — E 35, 12 (13): Der im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach § 94 Abs. 3 BVerfGG Äußerungsberechtigte hat kein Widerspruchsrecht im Verfahren über eine einstw. Anordnung; ebenso E 31, 87 ff.; 8,122 (130); 32, 345 (346). E 24, 300 (351) : I m Organstreit ist die Entscheidung über die Gültigkeit einer Norm nicht möglich (20, 134 [140]; 20, 119 [129]; 1, 351 [371]). s. auch E 20, 56 (86f.): Besonderheiten des Normenkontrollverfahrens.

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Wenn das BVerfG auf allgemeine Grundsätze des deutschen Prozeßrechts zurückgreift 4 8 , so widerspricht das nicht der geforderten ganzheitlichen Auslegung, solange nur die Eigenheiten des Verfassungsprozeßrechts gewahrt bleiben. Die Überschneidungen zur anderwärts belegten Analogiebildung liegen auf der Hand.

4. Verfassungsprozeßrecht im Spannungsfeld zwischen judicial self-restraint und activism — Arbeits- und Gewaltenteilung Die Literatur zum Problem „self-restraint des BVerfG" ist fast unübersehbar 49 . Gleiches kann von i m Zusammenhang erarbeiteten Rechtsprechungsanalysen für das Verfassungsprozeßrecht nicht gesagt werden. Das überrascht, denn i n der Auslegung und Praxis der Prozeßrechtsnormen zeigt sich, ob und wie stark sich das BVerfG des self-restraint befleißigt oder sich „judicial activism" leistet. Es geht nicht nur u m die bekannte Frage der Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle (außen-)politischer Fragen 50 . Das Problem stellt sich allgemeiner: in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zeigt sich, wie durch einzelne Prozeßrechtsnormen „hindurch" sich das BVerfG zur Zurückhaltung selbst-diszipliniert. Beispiele finden sich i n der Rechtsprechung, wonach das BVerfG nur die Verletzung „spezifischen Verfassungsrechts" 51 zu rügen hat, es kein 48 Beispiel für innerdeutsche Rechtsv er gleichung im Blick auf andere Verfahrensordnungen: E 33, 247 (261 ff., 264). s. auch E 32, 305 (308 f.) i . V . mit 4, 31 (37 f.); E 8, 222 (224 f.) für den Begriff der „Beschwer"; 20, 9 (14) für § 19 BVerfGG; s. auch 20, 26 (29 f.), 336 (343); 9, 89 (97 f.); 8, 92 (94). E 1, 109 (111): „Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht". E 32, 345 (346) verbindet die Auslegung nach Sinn und Zusammenhang mit dem Hinweis auf einen allg. Grundsatz des Prozeßrechts, daß über einen unzulässigen Rechtsbehelf ohne mündliche Verhandlung entschieden werden darf (mit Hinweis auf ZPO, VwGO, FGG, SGG). E 2, 300 (305): „deutsche Verfahrensgrundsätze"; s. auch den seltenen Fall, daß eine besondere Norm des Verfassungsprozeßrechts (hier § 79 Abs. 1 BVerfGG) für ein anderes Verfahren als „Rechtsgedanke" angewandt wird: E 12, 338 (340 f.). Ferner E 6, 389 (442 f.). Zur Entsprechung zwischen § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG und dem späteren § 26 Abs. 5 ESTG 1957: E 7, 194 (195 f.). Innerdeutsche Rechtsvergleichung in bezug auf die Verfassungsgerichtsbarkeit in Bund und Ländern: E 2, 143 (152, 156 f., 158, 175, 177). E 24, 289 (297): Vergleich zwischen Hess. StGHG und BVerfGG (§ 31 Abs. 2). — Vgl. § 1 GeschO Hamburg Verf GH: allg. Regeln des deutschen Verfahrensrechts als Ergänzung; ähnl. § 1 Abs. 2 NWGeschO Verf GH. — § 6 Abs. 1 BremStGHG: . . . in Anlehnung an die deutschen Prozeßordnungen. § 14 Abs. 1 5. 1 Hess. StGHG: Verweis auf GVG, StPO. § 16 Ns StGHG: Verweis auf allg. Verfahrensvorschriften des BVerfGG. 40 Zuletzt etwa Schuppert, a.a.O., S. 159 ff.; Zeitler, a.a.O., S. 176 ff.; Delbrück in: FS für Menzel, 1975, S. 83 ff.; Kriele, NJW 1976, 777 ff. 50 Zuletzt in: E 40,141 (178 f.). 51 E 18, 85 (92 f.); 1,418 (420).

41 V e r f a s s u n g

6 4 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

„Superrevisionsgericht" ist 5 2 , in der Praxis zum self-restraint i n bezug auf andere Staatsfunktionen, insbesondere die Gerichte 53 , i n der Doktrin, wonach die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts nur auf „offensichtliche Unhaltbarkeit" vom BVerfG geprüft w i r d 5 4 , und bei der Bestimmung der dem BVerfG i n § 32 BVerfGG gezogenen Grenzen 55 . Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde und die Bestimmung des Kreises der nach A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG Antragsberechtigten liefern weitere Belege für praktizierten restraint i m Verständnis des Verfassungsprozeßrechts, sei es gegenüber anderen „Verfassungsorganen", insbesondere dem Gesetzgeber, oder anderen Gerichten 56 . Freilich zeigen sich auch gegenläufige Bestrebungen, etwa bei Objektivierungstechniken und certiorari-Tendenzen. Der innere Zusammenhang zur Erweiterung und Verfeinerung der Informations· und Partizipationsinstrumente besteht darin, daß das Gericht m i t ihrer Hilfe die Grundlage schafft, sich zurückzuhalten oder akt i v zu werden. So schwankend das BVerfG i m restraint i n außenpolitischen Fragen gerade i n jüngster Zeit ist, so konsequent verfolgt es seine Linie in politisch weniger brisanten Fragen. „Restraint" oder „activism" darf kein Dogma sein. Das BVerfG kann sich flexibel verhalten: i m Wachstumsprozeß des GG und seines Verfassungsprozeßrechts. Seine einzelfallbezogene Rechtsprechung öffnet ihm reiche Möglichkeiten. 52 E 35, 311 (316). Zurückhaltung steht hinter der Rechtspr., wonach § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG nicht anwendbar ist, wenn die Verfassungsbeschwerde sich unmittelbar gegen ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung richtet: E 2, 292 (295). 53 E 19, 345 (347); 28, 151 (160), mit Hinweis auf die „besonderen Funktionen" des BVerfG; s. auch E 22, 93 (97 f.); 24, 367 (424) ; 23, 321 (324), 85 (92); 21, 209 (216) : „verfassungsmäßige Aufgabenteilung"; 1, 97 (100f.: „Verschiebung der staatlichen Zuständigkeiten"). E 4, 190 (198): „eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes". 54 E 32, 333 (336 f.); 29, 11 (15); 23, 146 (149), 276 (284 f.); 22, 134 (147); 10, 1 (3); 7, 171 (175). 55 E 23, 33 (40 f.), 42 (49); 3, 52 (55, 57); 1, 281 (282); s. aber auch E 12, 36 (40 ff.). 56 s. den Hinweis auf die „verfassungsmäßige Aufgabenteilung" in: E 21, 209 (216); s. aber auch die weite Auslegung des § 31 Abs. 1: E 19, 377 (391 f.). — E 2, 143 (178) : keine antizipierte Normenkontrolle. — Self-restraint wird sichtbar in der Weigerung „vorzeitig" zu entscheiden (E 8, 222 [226 f.]; 14, 192 [194], bei der nicht möglichen Nichtigkeitserklärung nach § 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG (E 35, 79 [148]), beim Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 S. 1: E 33, 192 [194], 247 [258]; s. auch E 31, 364 [368]), bei der Bestimmung des Kreises der Antragsberechtigten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG): E 21, 52 (53 f.). — Richtig aber das Beharren auf der „Verantwortung" des BVerfG im Rahmen des Art. 100 GG: E 34, 320 (323). — s. noch 4, 193 (198): „eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes". Bei Aussetzung nach Art. 100: E 18, 186 (192); 17, 135 (138 f.): Aufklärungspflicht des vorlegenden Gerichts für die Tatsachen, Klärung der verfassungsrechtlichen Frage als Pflicht des BVerfG.

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

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Judicial self-restraint oder activism ist eine Frage der Arbeits- und Gewaltenteilung zwischen dem BVerfG und anderen Gerichten sowie den Verfassungsorganen und darüber hinaus auch zwischen den pluralistischen Kräften, Gruppen und den Bürgern des Gemeinwesens insgesamt. Die Einordnung des BVerfG i n das System der staatlichen Gewaltenteilung ist viel erörtert; jetzt interessiert die Tatsache, daß diese Einordnung sich wesentlich über das „Medium" des Verfassungsprozeßrechts vollzieht; ferner zeigt sich i m self-restraint ebenso wie beim Verständnis der Praxis der Partizipationsnormen, daß und wie Gewaltenteilung i m weiteren, nichtstaatlichen, pluralistischen Sinne 5 7 i n den Formen des Verfassungsprozeßrechts effektiv w i r d und werden kann. Das BVerfGG ist gewaltenteilendes Recht! Da das Verfassungsprozeßrecht Recht für die Arbeit des BVerfG 58 ist, w i r d evident, wie sehr es u m Fragen der Arbeitsteilung zwischen BVerfG, den anderen staatlichen Funktionen, den Bürgern und Gruppen, der Wissenschaft und Öffentlichkeit geht. 5. Auslegungsmethoden

und Topoi im Verfassungsprozeßrecht

Ein Ausschnitt aus den vom BVerfG praktizierten Methoden wurde schon bisher sichtbar. I m folgenden sollen sie stärker systematisiert werden. Angesichts des fragmentarischen Charakters der Prozeßrechtsnormen und der Dynamik der Sache Verfassungsgerichtsbarkeit kommt den Auslegungsmethoden besondere Bedeutung zu. Das BVerfG pflegt oft und der Sache angemessen eine teleologische Auslegung 5 9 , und zwar bei den unterschiedlichsten Normen; es argumentiert „sinngemäß" 6 0 ; eine Fortsetzung dieser Linie ist ein Ziehen von Analogien 61, die wohl überlegt sind, wie Gegenbeispiele zeigen 62 . Das BVerfG nähert die ein57

Dazu P. Häberle, AöR 100 (1975), 645 (647 f.). s. noch E 6, 257 (266): „Im verfassungsgerichtlichen Verfahren, das ohnehin wegen der beschränkten Vollstreckungsmöglichkeiten die loyale Zusammenarbeit der verschiedenen staatlichen Gewalten geradezu voraussetzt, . . . " s. auch den Grundsatz (E 12, 36 [40]), bei Meinungsverschiedenheiten zwischen Ländern und dem Bund, die zum Verfassungsstreit führten, sei davon auszugehen, daß weder die Auffassung der einen noch die der anderen Seite als unhaltbar bezeichnet werden kann (E 8, 42 [44]). Entsprechendes gelte für ein auf Antrag einer Landesregierung anhängiges Normenkontrollverfahren. 59 E 1, 69 (70), 97 (103), 415 (416); 3, 261 (265); 4, 193 (198), 250 (267), 309 (311), 358 (364); 6, 104 (110), 257 (264), 386 (389); 9, 120 (121), 334 (336); 10, 302 (309); 11, 244 f., 263 (265); 12, 308 (310); 13, 284 (287); 15, 288 (292), 309 (311); 18, 192 (194), 440 (441); 21, 132 (136), 359 (361); 23, 153 (164); 24, 33 (45); 25, 30 (33); 29, 33 (94); 30, 112 (126); 35, 12 (14). 80 E 17, 135 (138): sinnvolle und ökonomische Handhabung des § 26 Abs. 1 BVerfGG in Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG; „sinngemäß": E 4, 144 (147 f.); 2, 79 (90), 213 (218); 27, 44 (51); 8, 186 (191). Erst-Recht-Schluß in E 1, 66 (67). 61 E 10, 302 (330); 28, 324 (363); 37, 217 (262 f.). 62 E 21, 52 (53 f.); 2, 341 (346). 58

-π *

6 4 4 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche z e l n e n V e r f a h r e n ü b e r die A n a l o g i e t e c h n i k e i n a n d e r an. Es sucht nach G r u n d g e d a n k e n e i n e r Prozeßrechtsnorm, nach a l l g e m e i n e n G r u n d s ä t zen des Verfassungsprozeßrechts,

noch weiter

ausgreifend

des P r o -

zeßrechts i n s g e s a m t 6 3 . V o r b i l d l i c h ist die Einzelfallorientierung, die der Praxis Elastizität64 u n d O f f e n h e i t l ä ß t u n d Sachnähe ermöglicht.· Das BVerfG argumentiert aber keineswegs p r i n z i p i e n l o s . B e a c h t e n s w e r t ( u n d g r u n d g e s e t z l i c h be.gründbar) sind wiederkehrende Topoi wie „Aufgabe" u n d „ A u t o r i t ä t " des BVerfG, sein A n s e h e n , d e r W u n s c h n a c h seiner E n t l a s t u n g , Arbeits- u n d Prozeßökonomie u n d ähnliches65. Diese A u s l e g u n g s m e t h o d e n u n d T o p o i r u n d e n das B i l d ab: Das BVerfG e n t w i c k e l t das Verfassungsprozeßrecht aus G G und B V e r f G G . Es d e n k t sie w e i t e r , f ü l l t „ L ü c k e n " a u s 6 6 u n d b e w e g t sich i m f r u c h t b a r e n S p a n n u n g s f e l d v o n „ G r u n d s a t z u n d N o r m " . D i e Ü b e r g ä n g e z u r ganzheitlichen A u s l e g u n g 6 7 liegen auf der Hand. B e i d e n T o p o i , i n d e n e n es auf sich selbst B e z u g n i m m t , i n s o f e r n es seine F u n k t i o n s f ä h i g k e i t g e w a h r t w i s s e n w i l l , b r i c h t n i c h t n u r l e g i t i m e s S e l b s t v e r s t ä n d n i s durch. Es k a n n sich auf das G G b e r u f e n , a u f seine 63 E 33, 199 (204): Gewinnung eines „allgemeinen Grundsatzes des Prozeßrechts" aus verschiedenen Vorschriften des BVerfGG (hier §§ 41, 47, 96) und aus dem Verwaltungs- und Zivilprozeßrecht; s. auch E 32, 345 (346). E 10, 302 (306): Berufung auf einen „allgemeinen Grundsatz" (für die Prozeßfähigkeit eines entmündigten Beschwerdeführers). E 38, 175 (184): § 79 Abs. 2 BVerfGG soll ein Problem lösen, das auf der besonderen Gestaltung der verfassungsgerichtlichen Normenprüfung und ihren Auswirkungen beruht. E 32, 387 (389) : „allgemeiner Rechtsgrundsatz" (aus § 79 BVerfGG); ähnlich E 37, 217 (263). 04 Das zeigt sich in unterschiedlichen Zusammenhängen: E 24, 119 (133 f.); 24, 75 (88 f.); 22, 349 (355, 361); 8, 38 (40), 222 (224 ff.); 14, 192 (194); 12, 319 (321) sub Β, 2. Abs.: Ausnahmevorbehalt; 6, 389 (442). 65 Es betont sie immer wieder: die „Funktionsfähigkeit" in E 33, 247 (258); s. auch E 22, 287 (291 f.), bei der Begründung der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde: das BVerfG dürfe „nicht seinen sonstigen Aufgaben entzogen werden", s. auch die Rechtspr. zu § 93 a („Entlastung") : 18, 440 (440 f.) ; 19, 88 (91 f.). s. aber auch die Zurückweisung des Überlastungsarguments in: E 24, 119 (134). — E 26, 172 (180): „Gesamtstruktur der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit", bes. E 1, 167 (173). Es betont seine Aufgabe, „verfassungsrechtliche Zweifelsfragen mit bindender Wirkung inter omnes zu klären" (E 33, 247 [265]) und zieht dann konkrete Folgerungen aus diesem Argument für das Verfassungsprozeßrecht. s. auch E 4, 193 (198): „eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes". Oder es argumentiert mit der „Rechtsschutzfunktion" in Verfassungsprozeßnormen, so für § 91: E 26, 228 (236); zu § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG als Zumutbarkeitsklausel: E 18,1 (16); 9, 3 (7 f.); 16, 1 (2); 22, 349 (355). 86 Der Gedanke „lückenlosen Rechtsschutzes" wird verwandt z. B. bei der Bestimmung der Klagebefugnis für ein untergegangenes Land in E 22, 221 (231) — Art. 93 Abs. 1 Nr. 4; angesichts Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 u. 4 GG: E 11, 6 (13 f.). 87 ζ. Β. E 33, 247 (259) als eine Einzelnormen des BVerfGG integrierende Auslegung der §§ 31 Abs. 1, 2, 90 Abs. 2 S. 2, 93 a Abs. 4, 95 Abs. 3 zur Begründung der Funktion der Verfassungsbeschwerde, „das objektive Verfassungsrecht zu wahren und seiner Auslegung und Fortenwicklung zu dienen".

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

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beispiellose Institutionalisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit, und es leistet wieder ein Stück Konkretisierung der Verfassung „ i m " Verfassungsprozeßrecht. Daß es behutsam vorgeht und die Gewalten- bzw. Arbeitsteilung nicht außer acht läßt, ist besonders zu würdigen. 6. Ausbau von Objektivierungstechniken Objektivierungstechniken, d. h. Techniken, sich i m jeweiligen Verfassungsprozeß von den konkreten Antrags- bzw. Beschwerdeberechtigten, ihren Anträgen, ihrem Rechtsschutzinteresse zwar nicht zu lösen, aber doch i m Interesse der „objektiven" Aufgabe der verfassungsgerichtlichen Interpretation 6 8 etwas unabhängiger zu machen, finden sich i n großer Zahl und i n vielerlei Formen: etwa bei der Auslegung 6 9 und Umdeutung von Anträgen 7 0 , i n der antragsfreundlichen Auslegung 71 , durch positive Entgegennahme von sog. „Anregungen", die Verfassungsmäßigkeit insgesamt zu prüfen 7 2 . Sie zeigen sich vor allem i m Verfassungsbeschwerdeverfahren, etwa dort, wo allgemein die objektive Rechtsschutzfunktion betont w i r d 7 3 , aber auch bei der Rechtsprechung zu A r t . 2 Abs. 1 GG 7 4 . Objektivierungstendenzen sind i n weiteren Problembereichen 75 erkennbar. A u f sonstige „fündige" Problemkreise sei verwiesen, ζ. B. auf die (gelegentlich zu großzügige) Festlegung des Streitgegenstands (Diätenurteil: BVerfGE 40, 296 [309 f.]) 76 , den es hier stark „ausgreifen" läßt, und auf das Gebrauchmachen von § 78 S. 2 BVerfGG 7 7 . 68 Vgl. E 33, 247 (257) für die Verfassungsbeschwerde; 2, 79 (86): objektive Bewahrung des Verfassungsrechts; E 1, 372 (379, 414) u. 24, 299 (300), für den Organstreit; s. aber auch E 13, 54 (96). Zu ObjektivierungsVorgängen (des Rechtschutzinteresses) noch Lipphardt, a.a.O., S. 474 ff., bes. Anm. 92. 89 E 1,14 (39). 70 Beispiele bei Lipphardt, a.a.O., S. 394 Anm. 131. 71 Vgl. E 32, 157 (163); 22, 349 (360 f.); 24, 68 (73); 23, 265 (269); 21, 191 (194); 16, 236 (237 f.); 4, 115 (123). — Umdeutung erwogen, aber dahingestellt: in E 34, 325 (331) für § 32 BVerfGG; s. auch E 27, 44 (52); erwogen in E 13, 1 (10), abgelehnt in E 23, 146 (150 f.); 8, 28 (35) für eine Vorlagefrage. 72 Vgl. E 3, 383 (391); 3, 58 (74); 1, 264 (271); 1, 372 (380); 7, 305 (311); 19, 354 (361). Ein Gegenbeispiel: E 23, 242 (251). 73 Vgl. E 33 (257, 259 f.). E 26, 79 (91): Nachprüfung unter „jedem verfassungsrechtlichen Gesichtspunkt"; s. noch 14, 121 (131); 1, 14 (41), für Verfahren nach § 13 Nr. 6 und 7 BVerfGG. 74 Seit E 6, 32 (41); 7, 111 (119); 9, 3 (11), vgl. E 23, 288 (300). 75 s. für die Kommunalverfassungsbeschwerde (§91 BVerfGG): Willkürverbot als objektives Gerechtigkeitsprinzip, E 26, 228 (244); bei der Interessenabwägung nach § 32 Abs. 1: E 12, 276 (280). 76 Dazu P. Häberle, NJW 1976, 537 (543 Anm. 90). 77 E 10, 118 (124); 20, 379 (382); 8, 186 (195); 18, 288 (300); 29, 1 (10 f.), 283 (303 f.); 26, 281 (301); 24, 75 (103). Zu diesem Problem auch Hirsch , E 37, 186 (190) — abw. Meinung.

6 4 6 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Bei all dem besteht das BVerfG auf dem Satz, daß es für das BVerfG keine verfassungsgerichtliche Generalklausel gibt 7 9 und daß eine Ausdehnung seiner Kompetenzen i n analoger Anwendung der Zuständigkeitsregelungen nicht zulässig ist 7 9 . Das BVerfG nimmt das Enumerationsprinzip ernst 8 0 : es verhindert zu Recht, daß auf dem Weg über die verspätete Begründung einer Verfassungsbeschwerde ein „neuer Sachverhalt" zu ihrem Gegenstand gemacht w i r d (E 34, 384 [394 f.]; 18, 85 [891; 27, 71 [77]; 27,104 [108]). Das weite Feld differenzierter Annäherung der verschiedenen verfassungsgerichtlichen Verfahren 8 1 gehört (auch) i n diesen Zusammenhang — nicht nur i n den der Interpretationsmethoden. So sehr das BVerfG sich davor hütet, die Unterschiede zwischen den Verfahrensarten zu überzeichnen, und gelegentlich Parallelisierungen vornimmt: es stellt doch auch Unterschiede zwischen den einzelnen Verfahrensarten heraus. Das BVerfG ist großzügig i n der Bejahung des Rechtsschutzinteresses — eine versteckte Form der Objektivierung und ein Schritt i n Richtung auf die vom US-Supreme-Court her bekannte certiorari-Methode 82 , wobei der Spielraum des Gerichts bei der Frage, ob es einen Fall zur Klärung einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Frage annimmt, unterschiedlich groß ist. Dieser Gedanke stand wohl Pate bei §§ 93 a Abs. 4 8 3 , 90 Abs. 2 Satz 2 8 4 , 24 Satz 1 BVerfGG. 78 E 1, 396 (408); 13, 174 (176 f.); 3, 368 (376 f.). E 13, 54 (96): Das GG hat zwar die Verfassungsgerichtsbarkeit stark ausgebaut, daraus ist aber nicht zu folgern, daß jede verfassungsrechtliche Streitfrage von einem an ihrer Entscheidung Interessierten dem BVerfG unterbreitet werden kann. 79 E 2, 341 (346) ; vgl. auch die abw. Meinung Dr. Rupp / Hirsch / Wand, E 37, 291 (305). 60 Vgl. E 38, 121 (127): „kann ein rechtspolitisches Bedürfnis allein eine Zuständigkeit des BVerfG nicht begründen (BVerfGE 22, 293 [298]". s. auch E 13, 54 (96) u. abw. Meinung Dr. Rupp / Hirsch / Wand , E 37, 291 (303). 81 E 24, 252 (258): § 23 Abs. 1 BVerfGG gilt als allgemeine Verfahrensvorschrift für alle Verfahren vor dem BVerfG, auch für Organstreitverfahren; Annäherung für Beitrittsrechte: 24, 33 (45); entsprechende Anwendung der §§ 78 S. 2, 82 Abs. 1 BVerfGG auf Verfahren der Verfassungsbeschwerde : E 18, 288 (300); s. noch E 12, 36 (40); 20, 18 (23 f.) für Organ- und Bund/Länderstreit. Zur Annäherung der verschiedenen Verfahrensarten durch Eröffnung der Möglichkeit, bei Beachtung der je eigenen Verfahrensvorschriften verschiedene Verfahren miteinander zu verbinden: E 12, 205 (222 f.). — Die Wahl zwischen den verschiedenen Verfahren ist den Antragstellern überlassen: E 7, 305 (310 ff.). 82 Zu diesem Begriff Haller, a.a.O., S. 106 ff., 186 f. 83 Dazu z.B. E 38, 206 ff.; 37, 305 (309 ff.); 36, 89 (91); 34, 138 (138 f.). Beisp. für Nichtannahme, da bereits Klärung durch ständ. Rspr. des BVerfG: E 20, 276 (279); 19, 148 (149). Q4 Zum „Zweck" des § 90 Abs. 2 S. 1 (Entlastung des BVerfG, um es für seine „eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes freizumachen"): E 4, 193 (198); s. auch E 9, 1 (2), 120 (121) für § 91 a a. F. Eine certiorari-Technik ist es, wenn nach E 9, 120 „auch offensichtlich begründete Vcrfassungsbcschwerden nach § 91 a BVerfGG verworfen werden" können.

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Certiorari-Parallelen finden sich i n der einzelfallbezogenen Bejahung eines Rechtsschutzinteresses, aber auch dort, wo das BVerfG das Verfassungsprozeßrecht so interpretiert, daß es möglichst zur sachlichen Verfassungsinterpretation vordringt, die (Grundsatz-)Frage also „ k l ä r t " , sich nicht an Zulässigkeitsfragen aufhält 8 5 . I n der Begründung der „offensichtlichen Unbegründetheit" entwickelt es insofern, so paradox dies erscheint, wichtige Sachfragen, ζ. B. Grundrechts- und Rechtsschutzfragen der Verfassung 86 ; der Begründungszwang muß gerade hier ernst genommen werden. A u f weitere Entscheidungen sei verwiesen 87 . 7. Verstärkung und Verfeinerung von Informationsund Partizipationsinstrumenten Die 25jährige Auslegungspraxis des BVerfG zu den Informations- und Partizipationsnormen bzw. -Instrumenten des Verfassungsprozeßrechts ist besonders ergiebig. Das BVerfGG stellt, zum Teil novelliert (vgl. §§ 24 Satz 2, 32 Abs. 2 Satz 1, 82 Abs. 4 n. F.), ein abgestuftes System von Partizipationsnormen zur Verfügung, auch i. S. des amerikanischen amicus curiae briefs Instituts 8 8 . Das hat ζ. T. Niederschlag i n der GeschOBVerfG vom 3. 7.1975 (BGBl. I, S. 2515) gefunden (z. B. §§ 22 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4, 40 Abs. 1). Ein Überblick über die 40 Bände ergibt, daß sich das BVerfG dieser Instrumente zu bedienen weiß 8 9 . 85 So die st. Rechtspr. zu § 24 BVerfGG: E 40, 52 (55); 6, 7 (11 f.); 36, 66 (69 f.); 39, 238 (241); 35, 185 (188); 30, 103 (105); 27, 231 (235); mit einem funktionellen Argument: E 6, 7 (11): „umfassendes Aufgabengebiet" des BVerfG. 86 ζ. Β.: E 39, 238 (241), i. V. mit 242 ff.; 6, 7 (11 f.); 37, 84 (89 ff.), 150 (151 ff.); 36, 41 (45 f.), 139 (141 ff.); 35, 179 (182 ff.), 300 (301 f.); 31, 137 (139 ff.); 32, 305 (308 ff.); 19, 64 (68 ff.), 93 (95 ff.), 323 (326 ff.). Für § 91 a Abs. 2 a. F.: E 13, 127 (128 f.); 7, 327 (328 ff.). 87 s. für die Klageberechtigung, die nicht von einem Klageberechtigten abhängig gemacht wird, so daß der „Prozeß an dieser prozessualen Frage scheitern würde": E 34, 216 (227); 22, 221 (233), oder die Rspr., wonach sich das BVerfG die „Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung" auch nicht durch Erledigung der Verfassungsbeschwerde nehmen läßt: E 33, 247 (257). s. aber auch die Verwerfung der Verfassungsbeschwerde aus „verfahrensrechtlichen Gründen" in E 28, 1 (9); ferner E 11, 336 (338 f.). 88 Dazu Haller, a.a.O., S. 108 f., 342 f.; R Häberle, JZ 1975, 297 (299, 305), DÖV 1976, 73 (78 Anm. 64), NJW 1976, 537 (Anm. 3). 89 Beispiele aus der Praxis: E 21, 160 (167): „Umfrage" bei Verbänden, 166: Äußerung von Verbänden. — Zum Beteiligtenbegriff nach § 25 Abs. 1: E 2, 213 (217); nach E 1, 66 (68) können nur Beitretende, nicht bloß Äußerungsberechtigte Antrag nach § 19 BVerfGG stellen. — In E 22, 387 (407) will das BVerfG durch eine Verbindung von Verfahren die prozessuale Position der Verfahrensbeteiligten nicht beeinträchtigt sehen. Praxis zu § 27: E 11, 105 (110). — Zu § 65 Abs. 2: E 24, 260 (263), auch für die Landesregierungen und die Parteien, die sich an der Bundestagswahl 1965 beteiligt haben. — Zu §§ 69, 65 Abs. 1: E 12, 308 (309 f.). — Zu § 77: E 2, 307 (310: Rechtsanwaltskammer); 8, 51 (58) ; 10, 20 (32) ; 39,1 (23 ff.) ; s. auch 4, 358 (361) : Anhörung der mittelbar berührten Landesparlamente; allgemein wegen der „Auswirkungen": E 38, 326 (336).

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Mehrfach legt das BVerfG diese Normen ausdrücklich aus (wendet sie also nicht einfach ohne Begründung an), indem es ζ. B. bestimmten Organen „Kenntnis" gibt, Gelegenheit zur Stellungnahme einräumt, Anhörungen und Umfragen vornimmt und „Dritte" als Beitrittsberechtigte akzeptiert oder Sachverhaltsbeteiligte benennt. Es grenzt scharf zwischen Prozeßbeteiligten und Äußerungsberechtigten ab 90 . Vorbildlich ist die Praxis, wonach sogar Beteiligte des Ausgangsverfahrens (§ 6 Abs. 4 WahlprüfungsG) als solche Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten 9 1 : eine vortreffliche Erweiterung der Partizipationsinstrumente, die auch für das Parlamentsrecht wichtig wäre — nahegelegt durch §§ 82 Abs. 3, 94 Abs. 3 BVerfGG. Das BVerfG bleibt sich jedoch seiner prätorischen Grenzen bewußt 9 2 . Konsequent wäre es, wenn auch § 25 Abs. 1 BVerfGG — mündliche Verhandlung — w i r k l i c h als „Regel" 9 3 praktiziert würde und von der Möglichkeit nach § 94 Abs. 5 Satz 2 nur restriktiv Gebrauch gemacht würde 9 4 , weil mündliche Verhandlungen auch und selbst für das BVerfG eine noch nicht übersehbare Förderung des Verfahrens bringen könnten. Insgesamt sollten i m Interesse einer umfassenden Information die Befugten von ihren abgestuften Beteiligungsrechten voll Gebrauch machen. — Zu §§ 77, 94 Abs. 4: E 35, 79 (93 ff.); 34, 81 (90 ff.). — Zu § 80 Abs. 4: E 10, 59 (65), 372 (375). — Zu §§ 82 Abs. 1 u. 3, 77: E 7, 89 (91). — Zu § 82 Abs. 3: E 11, 339 (342); 12, 67 (70); 16, 254 (262), 306 (313); 17, 155 (161 f.). — Zu §§ 82, 77: E 29, 51 (54f.); 16, 306 (313); 11, 23 (26), 139 (142). — Z u § 82 Abs.4: E 36, 281 (289); 34,71 (76); 32, 279 (283); 22, 311 (315 f.); 16, 305 (306). Beispiele für eine Bündelung von §§ 82 Abs. 1, 77, 82 Abs. 3, 80 Abs. 4: E 8, 274 (287); 7, 282 (287). — Zu § 83 Abs. 2: E 23, 288 (318 f.) mit Rückwirkung auf die Auslegung des Art. 100 Abs. 2 GG und eine Einbeziehung auch der Gerichte und anerkannter Autoren der Völkerrechtswissenschaft (LS 2 b, S. 319 ff.). — Zu § 84: E 15, 25 (29); 16, 27 (31). — Zu § 94: E 9. 174 (178); 7, 63 (66); 11, 192 (197), 266 (268), 351 (355); 14, 121 (126); 12, 6 (7), 73 (75); 36, 137 (138). — Zu § 94 Abs. 2: E 7, 99 (106). — Zu § 94 Abs. 3: E 15, 126 (130); 28, 1 (6). 90 Vgl. E 31, 87 (90 ff.). Zur Abgrenzung der Verfahrensbeteiligten von „Sachverhalts-Beteiligten": E 8, 42 (46), 122 (129 f.); 23, 33 (40 f.), 42 (49). 91 E 21, 200 (203). s. schon E 4, 370 (372): Gelegenheit zur Äußerung für den Abgeordneten Gienke. 92 s. etwa E 20, 350 (351) für § 82 Abs. 3. E 35, 12 (13); 32, 345 (346): Ein Beitritt ist für sie (die Beteiligten des Ausgangsverfahrens) nicht vorgesehen (BVerfGE 2, 213 [217]). E 31, 87 (90ff.): „Der im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nach § 94 Abs. 3 BVerfGG Äußerungsberechtigte hat kein Widerspruchsrecht im Verfahren über eine einstw. Anordnung". Ebenso E 35, 12 (13); 32, 345 (346). s. auch den Hinweis, die Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG lasse erkennen, daß der Kreis der Beteiligten im Verfassungsprozeßrecht möglichst eingeschränkt werden sollte: E 13, 54 (95); 27 (240, 246); E 36, 101: „Die gemäß § 82 Abs. 3 BVerfGG äußerungsberechtigten Beteiligten des Ausgangsverfahrens sind nicht Beteiligte des konkreten Normenkontrollverfahrens (E 2, 213 [217]; 20, 350 [351])." 93 E 35, 34 (35). Zur Mündlichkeit als Regel etwa § 82 Abs. 3 BVerfGG s. aber die Praxis: ζ. Β. E 23, 353 (364). 94 Aus der Praxis aber ζ. Β. E 34. 81 (92); 19, 166 (171).

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

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Die meist vorbildliche Handhabung 9 5 der Informations- und Partizipationsinstrumente dient der Wahrheitsermittlung i. S. von §§ 26 9β , 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Sie ist selbst-informierende Tätigkeit des BVerfG — Information durch Partizipation! Dieser Informationsgesichtspunkt findet sich auch dort, wo man i h n nicht ohne weiteres sucht, ζ. B. bei der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde 97 und bei den Anforderungen des BVerfG an das vorlegende Gericht 9 8 . Dieses Rechtsprechungsmaterial harrt der verfassungstheoretischen Einordnung: Soweit über Partizipationsnormen des Verfassungsprozeßrechts politische Parteien, Gruppen und Bürger „zu W o r t " kommen, ist dies sachgerechter Ausdruck der pluralistischen freiheitlich-demokratischen Struktur des politischen Gemeinwesens des GG: sie werden i n den Auslegungsvorgang der Verfassung als Interpreten i m weiteren oder engeren Sinne einbezogen 99 . Das Verfassungsprozeßrecht fängt ein Stück pluralistischer Öffentlichkeit ein. Verfassungsrechtsprechung, die auf weiten Strecken Gemeinwohljudikatur ist 1 0 0 , darf gar nicht von solchen sich artikulierenden Interessen absehen. Die pluralistische Interessenvielfalt des freiheitlichen Gemeinwesens vermag über diese Partizipationsinstrumente zur Sprache zu kommen und damit auch ein Stück Öffentlichkeit: jene Öffentlichkeit, die das BVerfG leider i n Auslegung und Praxis der §§ 25 Abs. 1, 94 Abs. 5 BVerfGG so gering schätzt, obwohl sie vor einem so hohen Gericht weder formal ist noch i n der Sache bloß passiv wäre! Soweit andere Organe wie Parlamente des Bundes und der Länder, Bundes- und Landesregierung(en), also sog. „Verfassungsorgane", aber auch vorlegende Gerichte und obere Bundesgerichte zu W o r t kommen (können), ist dem offenen Prozeß der Verfassungsinterpretation gedient. Der Informations- und Argumentationshorizont des BVerfG erweitert sich. Zugleich zeigt sich ein Stück Partnerschaft und arbeitsteiliges Zusammenwirken: Gewaltenteilung über Partizipationsnormen! 1 0 1 95 Freilich gibt es auch gelegentlich Anlaß zur Kritik: s. oben in Anm. 38, ζ. Β. E 20,18 (22 ff.). 96 Zu § 26 BVerfGG: E 7, 188 (213). 97 Nach E 9, 3 (7) soll dem BVerfG vor seiner Entscheidung Gelegenheit gegeben werden, „die Fallanschauung und die Rechtsauffassung der Gerichte, insbesondere des jeweiligen oberen Bundesgerichts, kennenzulernen" (vgl. 8, 222 [225, 227]). E 8, 222 (227): Mit dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist auch bezweckt, daß dem BVerfG vor seiner Entscheidung ein in der Regel in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm Gelegenheit gegeben werden soll, die Auffassung der Instanzgerichte kennenzulernen. 98 Vgl. E 25, 213 (214); 22, 175 (177). 99 Dazu Ρ. Häberle, JZ 1975, 297 ff. 100 Meine Nachw. in: AöR 95 (1970), 86 ff., 260 ff., AöR 99 (1974), 437 (444 Anm. 38); zuletzt E 40, 196 (218, 222, 227 f.}; 37, 1 (18 f., 22), 132 (140), 217 (247). 101 Auch das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), von dem nur ausnahmsweise abgegangen werden kann (vgl. § 32 Abs. 2 S. 2 BVerfGG), ist verfassungsprozessual ein Partizipationsinstrument.

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I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Aus dieser Sicht ist es konsequent, daß das BVerfG i n seinen Entscheidungen ausdrücklich sagt, wem konkret Gelegenheit zur Stellungnahme usw. gegeben wurde und wer sie im betreffenden Prozeß (nicht) 1 0 2 wahrgenommen hat. Vor allem ist zu fordern, daß die Berechtigten, insbesondere die Verfassungsorgane, von den ihnen gebotenen Möglichkeiten der Teilnahme am Verfassungsprozeß tatsächlich Gebrauch machen. Sie gewinnen so „Zugang" zur verfassungsrichterlichen Interpretation. Ein Überblick über die 40 Bände des BVerfG ergibt, daß hier keineswegs alle Organe (ζ. B. Länder) gleichermaßen eifrig, genauer: „verfassungsbewußt" sind. Verfassungsprozessuale Passivität ist kein Beitrag zur GG-Aktualisierung; das Gegenteil ist der Fall. Damit schließt sich der Kreis: die spezifischen, den US-amicus curiae briefs verwandten Informations- und pluralistischen Partizipationsinstrumente (Information durch Partizipation) führen i n ihrer theoretischen Fundierung auf Prinzipien des GG zurück; sie stehen i m Dienste des BVerfG-Auftrags, das GG, ζ. B. über ganzheitliche und arbeitsteilige Auslegung des BVerfGG, zu konkretisieren. Möglichkeiten zur verfassungsrichterlichen Strategie und Taktik gibt es bei Trennung und Verbindung von Verfahren 1 0 3 , beim Erlaß von Teilentscheidungen sowie bei der Anwendung der §§ 95 Abs. 1 Satz 2 1 0 4 , 78 Satz 2 BVerfGG. Die verfassungsprozessualen, bislang verschieden stark normativierten Ermessenskompetenzen wären zu untersuchen i m Blick auf die Frage, inwieweit das BVerfG sich bei ihrer Ausschöpfung und Begrenzung an die Regeln hält, die es sonst für das Ermessen ford e r t 1 0 4 0 ! Durch Kannvorschriften ist 1 0 5 dem BVerfG ein freierer Umgang m i t dem Prozeßrecht ermöglicht, er muß jedoch — durch begründete Praxis — kontrollierbar bleiben. 102 Vgl. ζ. Β. E 4, 370 (372); 7, 89 (91 f.); 8, 104 (110); 10, 177 (181); 40, 11 (28 f.), 42 (43), 182 (184). 103 ζ. Β. E 10, 59 (65), 185 (186); 11, 150 (158); 12, 151 (158), 180 (183), 144 (146), 281 (287); 13, 56; 15, 303 (305); 19, 166 (171); 20, 271 (275), 283 (290); 22, 387 (407); 23, 208 (222); 40, 196 (197). Die verfassungsgerichtliche Kompetenz zu Verbindung bzw. Trennung von Verfahren z. B. ist (wie vieles) gemeindeutsches Verfassungsprozeßrecht: § 27 Bad.-Württ. StGHG, § 22 Saarl. Verf GH. Die Aufbereitung des gemeindeutschen Verfassungsprozeßrechts zu allg. Verfahrensvorschriften, z.B. bei Fragen der Befangenheit (§ 16 Hess.StGHG, § 12 Bad.-Württ.StGHG), der Verbindung von Verfahren, der einstw. Anordnung, Teilentsch. (§ 21 Abs. 3 N W GeschOVerfGH), Rechtskraft und Beweiserhebung (z. B. § 20 Abs. 4 Hess.StGHG), aber auch der besonderen Verfahren ist ein Desiderat der Forschung. 104 z.B. E 7, 99 (108 f.): „wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles". — Zur Zulassung von Antragsänderungen: E 13, 54 (94). 104a Zuletzt: E 38, 348 (359, 369); 35, 65 (77); 29, 57 (68 ff.); 27, 297 (306 ff.). 105 V g L §§ 21, 24 S. 1, 26 Abs. 1 S. 2, 30 Abs. 1 S. 4, Abs. 2 S. 1, 2, 33 Abs. 1, 2, 34 Abs. 3, 5, 38 Abs. 1, 39, 46 Abs. 2, 53, 56 Abs. 2, 66, 69, 72 Abs. 1, 78 S. 2, 82 Abs. 4, 90 Abs. 2 S. 2, 93 a Abs. 2, 94 Abs. 5 S. 2, 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG.

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So hat das BVerfG seine Möglichkeiten zur mündlichen Verhandlung bislang zu wenig ausgeschöpft. Die Praxis zu §§ 25 Abs. 1, 94 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG weist ein schwer erträgliches Öffentlichkeitsdefizit aus. Mündliche Verhandlungen vor dem BVerfG sind per se „Förderung des Verfahrens", entgegen dem Wortlaut des § 94 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG. Bei aller materiellen Sicht des Verfassungsprozeßrechts: es muß auch self-restraint geben 106 . Verfassungsprozeßrecht behält in (scheinbar) „technischen" Ausformungen wie Rechtsschutzbedürfnis, Parteifähigkeit 1 0 7 , Beschwerdebefugnis, Streitgegenstand, Beteiligtenfähigkeit usw. seinen guten Sinn: als Mittel der Selbstdisziplin]erung, die den anderen Staatsfunktionen, aber auch dem Bürger und der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit entsprechend mehr Raum zur eigenen Verfassungsinterpretation läßt. M. a. W. es geht um den self-restraint i m Verfassungsrecht und seiner Auslegung durch das BVerfG i m Verhältnis zu den anderen Verfassungsinterpreten 108 . Der self-restraint, der sich spezifisch über und „durch" das Verfassungsprozeßrecht geltend macht 1 0 9 , hat sein Gegenstück in dessen „großzügiger" Anwendung, um zur materiellen Seite, zur Sache selbst zu kommen wie i m (insoweit problematischen) Diätenurteil 1 1 0 . I I I . Gesamtwürdigung, Ausblick: Verfassungstheorie des Verfassungsprozeßrechts I m ganzen ergab sich eine eindrucksvolle Rechtsprechungstradition des BVerfG zu seinem Prozeßrecht i m GG und BVerfGG 1 1 1 . Sie läßt sich verfassungstheoretisch auf die Formel bringen: „Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" 112 und — zunehmend — BVerfGG 108

Er fehlt verfassungsprozessual im Diätenurteil, dazu mein Beitrag in NJW 1976, 537 (543 Anm. 90). 107 ζ. Β. E 2, 143 (164) für die Parteifähigkeit des Abgeordneten mit materieller Argumentation aus Art. 38 Abs. 1 GG. 108 s. noch E 6, 257 (266) zum Erfordernis der „loyalen Zusammenarbeit" der verschiedenen staatlichen Gewalten im verfassungsgerichtlichen Verfahren. Nach E 2, 79 (89) „beruht jede Verfassungsgerichtsbarkeit auf der Voraussetzung, daß der Spruch des Gerichts beachtet wird". 109 z. B. im Verhältnis zu den anderen Gerichten (etwa E 30, 171 [196 f.]). 110 E 40, 296 ff. — Richtig aber das Beharren auf der „Verantwortung" des BVerfG gegenüber dem vorlegenden Gericht im Rahmen des Art. 100 Abs. 1 GG: E 34, 320 (323). Bei Anwendung des Art. 100: E 18, 186 (192); 17, 135 (138 f.): Aufklärungspflicht des vorlegenden Gerichts, „Klärung der verfassungsrechtlichen Frage" als Pflicht des BVerfG. Diese Arbeitsteilung als Pflichtenteilung wirkt über das Verfassungsprozeßrecht. 1,1 Mitunter „wandert" der Streit um die Auslegung des Verfassungsprozeßrechts. In älteren Entscheidungsbänden des BVerfG standen z. B. §§ 32, 80, 90 BVerfGG stärker im Vordergrund. n - P. Häberle, AöR 98 (1973), 119 (128 Anm. 43).

6 5 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

als „Pluralismus- und Partizipationsgesetz": die partizipationsberechtigten Verfassungsorgane sollten die Möglichkeiten ihrer Beteiligung an Verfassungsprozessen voll nutzen 1 1 3 . Die Verselbständigung des Verfassungsprozeßrechts gegenüber anderen Verfahrensordnungen hat das Maß erlangt, das angesichts der verfassungsrichterlichen Aufgaben nach GG und BVerfGG unverzichtbar erscheint. Das Verfassungsprozeßrecht läßt sich nicht nur technisch verstehen 114 . Das BVerfG hat in der Verfeinerung von Informations- und Partizipationsinstrumenten Vorbildliches geleistet: i m Sinne von „ I n formation durch Pluralismus". Auch die Anwendung der Interpretationsmethoden ist angesichts der Fallbezogenheit, der Flexibilität, des fehlenden Doktrinarismus und ihrer Adaption an die „Sache Verfassungsprozeßrecht" vorbildlich — ohne daß die „Grundsätze" und wiederkehrenden Topoi darunter leiden und „Aufweichungstendenzen" der Preis sind 1 1 5 . Gleiches gilt für die „innerprozessuale", ganzheitliche Interpretation der Einzelnormen des BVerfGG. Die Rückwirkungen der BVerfGG-Normen auf die Auslegung des GG sind besonders beachtenswert 116 . Kritik verdient die Praxis zum Verzicht auf mündliche Verhandlungen wegen des damit verknüpften öffentlichkeits- 1 1 7 , Informations- und Pluralismusdefizits. Öffentlichkeit der Verfassung ist i m Verfassungsprozeßrecht noch nicht optimal realisiert. Besser steht es sonst um Pluralismus und um Gewaltenteilung 1 1 8 . Seiner Möglichkeiten zu prätorischer Strategie und Taktik ist sich das BVerfG durchaus bewußt 1 1 9 . 113

Ansätze dazu, daß das BVerfG Stellungnahmen „oberster Verfassungsorgane" als Förderung der Sachentscheidung ernst nimmt, ergeben sich mittelbar ζ. B. aus E 10, 262 (263). 114 Vgl. etwa E 21, 52 (53), für den Kreis der Antragsberechtigten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. s. auch E 5, 85 (378). 115 ζ. Β. werden Fristvorschriften streng eingehalten: E 4, 31 (37), 309 (310 ff.); 1, 12 (13) ; 13, 284 (289); 24, 252 (257); 11, 255 (260). Formvorschriften sind nicht Selbstzweck, sondern von der verfahrensspezifischen Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bestimmen, auch sie stehen im Dienst der Verwirklichung des materiellen Verfassungsrechts! Richtig aber E 8, 92 (94 f.). 116 E 22, 277 (281) im Blick auf § 48 BVerfGG und Art. 41 Abs. 2, 19 Abs. 4 GG; E 3, 45 (49): § 91 BVerfGG im Blick auf Art. 100 Abs. 1 GG. s. auch die Begründung des Erfordernisses der Grundrechtsähnlichkeit in E 8, 1 (11), die jetzt über die Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG Verfassungsrang hat; ferner E 6, 445 (448). 117 118

Zur Kritik: Ridder, NJW 1972, 1689 ff.

I m Verhältnis zu den „sachnäheren Fachgerichten": E 40, 88 (94); für die Außenpolitik jetzt: E 40,141 (178 f.). 119 Das zeigt sich etwa beim Erlaß einer Teilentscheidung nach § 25 Abs. 3 BVerfGG in E 38, 326 (336) im Blick auf das spätere Diätenurteil (E 40, 296), in der Judikatur zu § 78 S. 2 BVerfGG und in der Verbindung von verschiedenen Verfahren (E 12, 205 [223] ; 10, 185). Auch das Offenlassen von Fragen, ζ. Β. E 40, 65 (84), kann ebenso wie das gezielte obiter dictum hierhergehören; ferner das Gebrauchmachen von prozessualen Kannbestimmungen, z. B. § 30 Abs. 1 S. 4, 38 Abs. 2 BVerfGG.

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E i n e G e s a m t b i l a n z f ä l l t d e n k b a r p o s i t i v aus. Sache der Wissenschaft ist es, die P r a x i s z u m B V e r f G G j e t z t verfassungstheoretisch „ u m z u s e t zen", u m v o n dieser Ebene aus die P r a x i s des BVerfG zu „ s e i n e m " P r o zeßrecht als G a r a n t i e f ü r f r e i h e i t l i c h e n g e w a l t e n t e i l i g e n P l u r a l i s m u s beeinflussen zu k ö n n e n . Das e r ö f f n e t die M ö g l i c h k e i t , R e f o r m e n seitens des Gesetzgebers anzuregen, d e r i n d e r E i n f ü h r u n g des S o n d e r v o t u m s 1 2 0 u n d d u r c h die D i f f e r e n z i e r u n g des § 79 A b s . 1 B V e r f G G i n d e r 4. B V e r f G G - N o v e l l e v o n 1970 b i s h e r das Seine z u e i n e r o p t i m a l e n G e s t a l t u n g des Verfassungsprozeßrechts als l a w i n p u b l i c a c t i o n geleistet h a t 1 2 1 . E i n e Verfassungstheorie des Verfassungsprozeßrechts 1 2 2 k ö n n t e z u m K r i t i k e r u n d P a r t n e r des BVerfG „ i n Sachen" Verfassungsprozeßrecht w e r d e n . Nachtrag

z u „Verfassungsprozeßrecht als k o n k r e t i s i e r t e s Verfassungs-

r e c h t " ( N r . 30) D i e G r u n d t h e s e n dieser A b h a n d l u n g h a b e n i n d e r L i t e r a t u r t e i l s Z u s t i m m u n g 1 , teils K r i t i k e r f a h r e n 2 . D i e i h r z u g r u n d e l i e g e n d e n F r a g e n s o l l t e n u m so d r i n g e n d e r g e k l ä r t w e r d e n , als i n d e r sonst i n v i e l e m r i c h t u n g s w e i s e n d e n Festgabe f ü r das B V e r f G (1976) P r o b l e m e des V e r f a s sungsprozeßrechts n u r u n t e r speziellen G e s i c h t s p u n k t e n e r ö r t e r t w e r d e n 8 . 120 Bemerkenswert ist der Hinweis (wenn auch nur im Konjunktiv) auf das abw. Votum von Rupp-von Brünneck (E 32, 129 [142] in E 40, 65 [83 f.]), das so normierende Kraft zu entfalten beginnt. 121 Kritik verdient aber der durch das 1. ÄndG zum BVerfGG 1956 eingefügte Abs. 4 zu § 6 (Verschwiegenheitspflicht des Wahlmännerausschusses), s. meinen Diskussiònsbeitrag in: Frowein u. a. (Hrsg.), Das BVerfG im Dritten Jahrzehnt, 1973, S. 79 f. 122 Über die Konstitutionalisierung von Verfahrensprinzipien wie Öffentlichkeit, Mündlichkeit, pluralistische Partizipation, Offizialprinzip kommt es zu „konstitutionellen Verfahrensprinzipien". Dazu mein Beitrag im Band „Verfassungsgerichtsbarkeit", der 1976 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt erscheinen wird. Er ist wie dieser Aufsatz als Gabe zum 25jährigen Bestehen des BVerfG gedacht, da der Verfasser sich an der von Starck, Roellecke, Zacher u. a. geplanten Jubiläumsschrift für das BVerfG aus zeitlichen und arbeitstechnischen Gründen nicht beteiligen konnte. 1 Vgl. Engelmann, Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht, 1977, bes. S. 122 ff. (m. Nachw. des Diskussionsstandes S. 122 F N 1, S. 139 ff.); von Mutius, in: VerwArch 67 (1976), S. 403 (407 Anm. 31); Krasney, in: FS für Brackmann, 1977, S. 311 (319 mit Anm. 39); zu dem Aufsatz des Verfassers in JZ 1973, S. 451 ff. s. auch Zuck, NJW 1975, S. 907 (910); Vogel, in: BVerfG-Festgabe I 1976, S. 568 (576); F. C. Zeitler, JöR 25 (1976), S. 621 (637); vermittelnd Stern, BVerfG-Festg., S. 194 (199 Anm. 18); Schenke, Verfassungsorgantreue, 1977, S. 123 Anm. 181. 2 Achterberg, DÖV 1977, S. 649 (658 ff.). 3 Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 2 Bde. 1976, hrsg. von Starck, z.B. Bd. 1: S. 104 ff. (Sattler), 142 ff. (Knöpfle), 170 ff. (Erichsen), 194 ff. (Stern), 225 ff. (Lorenz), 260 ff. (Leisner), 292 ff. (Söhn), 323 ff. (Bettermann), 374 ff. (Spanner); Bd. 2: S. 364 ff. (385 ff., H. H. Rupp). Rezensionen dieser Festgabe unternehmen H. Weber, in: NJW 1976, S. 2108 ff. und H. P. Ipsen, in: Der Staat 17 (1978), S. 96 ff.

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Das A n l i e g e n dieses Aufsatzes w i r d d u r c h die P a r a l l e l t h e s e „ Strafprozeßrecht als k o n k r e t i s i e r t e s V e r f a s s u n g s r e c h t " 4 u n t e r s t ü t z t . I n der j ü n g s t e n Z e i t n i m m t das Interesse an verfassungsprozessualen F r a g e n d e u t l i c h z u 5 , die a l l g e m e i n e L i t e r a t u r z u r F u n k t i o n des B V e r f G wächst weiter 6. D e r v o m Verfasser vorgeschlagene A n s a t z w i r d auch i n n e u e r e n E n t scheidungen des B V e r f G b e s t ä t i g t : ζ. B . h i n s i c h t l i c h umfassender p l u r a l i stischer I n f o r m a t i o n s t ä t i g k e i t des B V e r f G 7 oder b e z ü g l i c h des „ Ü b e r s p r i n g e n s " prozessualer H ü r d e n 8 . Das j ü n g s t e herausragende B e i s p i e l f ü r die flexible H a n d h a b u n g des Verfassungsprozeßrechts g i b t der Beschluß des B V e r f G v o m 31.1. 1978 — E 47,146 (157 ff.) — ( Z u l a s s u n g des Vorlagebeschlusses des O V G M ü n s t e r i n Sachen § 7 A t o m G ) . Das B V e r f G spricht h i e r a u s d r ü c k l i c h v o n „ r i c h t e r l i c h e r R e c h t s f o r t b i l d u n g des V e r f a h r e n s r e c h t s " , w o b e i es d e n „ v o r z e i t i 4 Walter Sax , in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, 1959, 3. Bd., 2. Halbbd., S. 909 ff. (966 ff., 967: „Strafprozeßrecht ist letztlich angewandtes Verfassungsrecht"); s. auch Kern / Roxin, Strafverfahrensrecht, 14. Aufl. 1976, S. 8 ff.: „Strafverfahrensrecht als Seismograph der Staatsverfassung". 5 Pestalozza, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, 1976; Menger, Zur Kontrollbefugnis des BVerfG bei Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsnormen — zum Diäten-Urteil des BVerfG, VerwArch 67 (1976), S. 303 ff.; Vollkommer, Anm., in: Der Deutsche Rechtspfleger 84 (1976), S. 393 ff. (zu BVerfGE 42, 64 ff.); Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977; Starck, JuS 1977, S. 732 ff.; K. Lange, Bindungswirkungen und Gesetzeskraft der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, JuS 1978, S. I f f . ; Moench, Verfassungswidriges Gesetz und Normenkontrolle, 1977 (dazu meine Besprechung in DVB1. 1978, S. 653); Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht", 1976 (dazu meine Besprechung in DÖV 1977, S. 454 f.); Hans H. Klein, Probleme der Bindung des „einfachen Richters" an Entscheidungen des BVerfG, NJW 1977, S. 697 ff.; Renck, Zur Bindung der Gerichte an verfassungsgerichtliche Entscheidungen, BayVBl. 1977, S. 368; Zuck, Anm. zum Zeidler-Beschluß, NJW 1976, S. 285; Fiedler, Anm. zum B. des BVerfG v. 7. 7. 1975, JZ 1976, S. 175 ff.; Schenke, Verfassungsorgantreue, 1977, S. 115 ff., 130 ff.; Kalkbrenner und Maunz, Anm. in: BayVBl. 1978, S. 80 ff. und 145 ff.; Bettermann, NJW 1978, S. 823 ff. 6 Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen System, JZ 1976, S. 697 ff.; Starck, Das BVerfG im politischen Prozeß der Bundesrepublik, 1976; Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Redit und Politik, ZRP 1977, S. I f f . ; M. Hirsch, Zum Problem der „Grenzüberschreitungen des Bundesverfassungsgerichts", DRiZ 1977, S. 225 ff.; Goerlich, Erfordernisse rationaler Gesetzgebung nach Maßstäben des BVerfG, JR 1977, S. 89 ff.; W. Rupp-von Brünneck, AöR 102 (1977), S. I f f . ; Ossenbühl, in: FS Ipsen, 1977, S. 129 ff. 7 BVerfGE 42, 312 (318 f., 320 f.), 133 (136 f.); 43, 79 (85 ff.), 213 (220 ff.: „Fragebogen"!), 242 (264 f.); 44, 37 (47 ff.), 216 (222 f.), 322 (331 ff.); 45, 1 (28), 187 (203 ff. — Fragebogen —), 272 (280 ff.), 400 (409 ff.); 47, 1 (13 ff.), 191 (195 f.). 8 Schleyer-Entscheidung, BVerfGE 46, 160 ff. (weitgehende Vorwegnahme der Hauptsache).

30. Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht

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gen Zugang" zum BVerfG im Verfahren nach A r t . 100 Abs. 1 GG erreicht auf dem Weg über eine Gemeinwohlanalogie zu § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG 9 . Zu dieser Interpretation hat nicht zuletzt der brisante Öffentlichkeitsbezug der zu entscheidenden Fragen geführt (§ 7 Atomgesetz!). Diese relative Autonomie in prozessualen Grundentscheidungen birgt naturgemäß auch materielle Probleme 10 . Die „Eigenart des verfassungsgerichtlichen Verfahrens" ist zuletzt betont in BVerfGE 47, 105 (107); zu seinen „Besonderheiten": ebd., S. 107 f., s. auch E 46, 321 (323 f.). I n dem Maße, wie das BVerfG seine Rechtsprechung zum Verfassungsprozeßrecht weiter auf- und ausbaut, kommt es (wegen der erwähnten Rückwirkungen auf das GG) zu „rechtsprechungskonformer Auslegung der Verfassung" (dazu meine Bespr. in DVB1. 1978, S. 653). Als der Verfasser 1976 diesen Aufsatz wagte, war das Feld der Literaturgattungen denkbar dürftig besetzt. Erst später wurden die aufgeworfenen Grundsatzfragen i n großen Rechtsprechungsberichten (vgl. E. Klein, Verfassungsprozeßrecht . . ., AöR 108 (1983), S. 410 ff., 561 ff.) und i n Lehrbüchern behandelt (C. Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Aufl., 1991; E. Benda/ E. Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozeßrechts, 1991; K. Schiaich, Das BVerfG, 3. Aufl., 1994). Der Verf. hält auch heute an seiner These fest; durch das BVerfG fühlt er sich eher bestätigt als widerlegt (ζ. Β. E 32, 288 (291); 50, 254 (255) „Eigenständigkeit"; 51, 405 (407); 52, 63 (80); 64, 301 (317 f.); 67, 26 (34 f.); 70, 35 (51); 71, 305 (335); 87, 270 (272); 89, 313 (314): „Eigenständigkeit"; 90, 40 (43); 90, 43 (45 f.)). Die Meinung von Klein (in: Bendai Klein, a.a.O., S. 62 ff., s. schon Klein i n AöR, a.a.O., S. 621 ff.; s. aber auch ebd. S. 561 f.), basiert auf einem anderen Verfassungs Verständnis, um das im Rahmen der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten weiterhin zu diskutieren bleibt. Mitunter handhabt das BVerfG „sein" Verfassungsprozeßrecht sogar zu „souverän" (ζ. Β. E 90, 268 (338 ff.)).

9 Zur Technik prätorischer „Gemeinwohlanalogien" vgl. mein öffentliches Interesse, 1970, S. 316 ff., 353 ff., zu Ausnahme-Gemeinwohltatbeständen (wie § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG) vgl. mein Öffentliches Interesse, S. 172 ff., 316 ff. sowie „Gemeinwohljudikatur" und Bundesverfassungsgericht, in: AöR 95 (1970), S. 86, 260 (263 ff.), mit Beispielen für Kontextargumentation. 10 Zu neuen Grundsatzentscheidungen gehört etwa BVerfGE 45, 63 (74), zur doppelten Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde („in gleicher Weise ein spezifisches Rechtsschutzmittel und Schutz des objektiven Verfassungsrechts" (wie E 33, 247 [259]) sowie — zu Besonderheiten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens —: BVerfGE 43, 126 (128): Bekräftigung von BVerfGE 32, 288 (290 f.); 35, 171 (173). — Der Streit zwischen Regierungsmehrheit und Oppositionsminderheit im dt. Bundestag um dessen Beitritt zum Verfahren in Sachen Mitbestimmung sollte im Sinne meines Vorschlags (JZ 1975, S. 297 [304 Anm. 84]) gelöst werden. — Zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde: BVerfGE 47, 144 (145). 146 (154, 167), 198 (224).

31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht* I. Einleitung: Die „konzertierte Aktion" eines Oktetts Das — eben i n 2. Auflage erscheinende — Gemeinschafts werk von acht Verfassungs- und Verwaltungsrechtlern erzeugt Spannung: Kann es seinen Gegenstand überzeugend darbieten, obwohl die klassischen Werke entweder noch keine Weiterführung gefunden haben (so etwa Forsthoff 1) oder (wie Wolff/Bachof) um eine Neufundierung ringen? 2 Wie lassen sich Arbeiten von i n Temperament, Vorverständnis und Methodenwahl sowie pädagogischem Impetus unterschiedlichen Autoren so integrieren, daß ein Ganzes entsteht? Die A n t w o r t ist positiv. Den Herausgebern ist es geglückt, die Autoren an der gemeinsamen Sache so zusammenzuführen, daß ein „vorläufiges" Werk von Format entstanden ist. Für den Studenten kann es sogar ein Gewinn sein, zu vergleichen, wie unterschiedlich die einzelnen Beiträge — auf hohem Niveau allesamt — gearbeitet sind. Pluralismus ist hier praktiziert, ohne daß der Gesamtrahmen verblaßt oder zerbrochen ist. Auch Momente „interner Konkurrenz" sind erkennbar. Kurz: Das Buch dürfte für die Zukunft Elemente für die fällige Gesamtkonzeption eines sowohl genuin grundgesetzkonformen als auch (spezial-)stoffgerechten „allgemeinen" Verwaltungsrechts aus einer Hand liefern. II. Grobgliederung und Autoren Dieses „allgemeine" Verwaltungsrecht ist gegliedert i n die Abschnitte „Verwaltung und Verwaltungsrecht i m demokratischen und sozialen Rechtsstaat" (von Münch, S. 1 ff., m i t dem aktuellen Abschnitt „öffentliche Verwaltung i m technischen Zeitalter", S. 48 ff), „Die Quellen des Verwaltungsrechts" (Ossenbühl, S. 51 ff., m i t Passagen zum „Wandel der * BayVBl. 1977, S. 745 - 752. Nachtrag: Die Aktualität des status activus processualis (1978). * Zugleich Besprechung von P. Badura, H . - ü . Erichsen, W. Martens, I. v. Münch, F. Ossenbühl, W. Rudolf, W. Rüfner, J. Salzwedel: Allgemeines Verwaltungsrecht, hrsg. v. H . - ü . Erichsen und W. Martens, 2. Aufl. 1977, Walter de Gruyter, Berlin - New York, 507 S. 1 Dazu P. Häberle, Lebende Verwaltung trotz überlebter Verfassung?, JZ 1975, 685 ff. 2 Gewisse Vorbehalte gegen H. J. Wolff bei Bachof, V V D S t R L 30 (1972), S. 359 (Diskussion).

31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht

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Verfassungsstrukturen" [S. 54 f., 73, 92, 101], und der beifallswürdigen These, es gebe weder eine Einheitsrechtsquelle noch einen Einheitsrechtssatz, S. 61), „Das Verwaltungshandeln" (Erichsen / Martens, S. 115 ff., m i t geschickter Einarbeitung von Fällen und Entscheidungen, die der systematischen K r a f t nichts nimmt), „Das Verwaltungsverfahren" (Badura, S. 243 ff., m i t klärenden Bemerkungen zum „Kodifikationsproblem", S. 245 ff.), „Anstaltsnutzung und Nutzung öffentlicher Sachen" (Salzwedel, S. 313 ff.), „Das Recht der öffentlich-rechtlichen Schadensersatz- und Entschädigungsleistungen" (Rüfner, S. 369 ff., unter vorbildlicher Einbeziehung der geschichtlichen Hintergründe) sowie „Verwaltungsorganisation" (Rudolf, S. 433 ff.). I I I . Fünf Fragestellungen für ein „Allgemeines Verwaltungsrecht" Folgende Schlüsselfragen zu einem „Allgemeinen Verwaltungsrecht" lassen sich vor die Klammer ziehen: 1. Inwieweit muß es i m Verfassungsrecht „verwurzelt" werden und inwieweit kommt es zu Rückwirkungen vom Verwaltungsrecht auf das Verfassungsrecht? 2. Kann es sich auf eine moderne „Desideratenliste" einstellen? 3. Vermag es die Verfahren der Rechtsbildung realistisch zu thematisieren? 4. Hat es sich die Sachgebiete des „besonderen" Verwaltungsrechts exemplarisch so „einverleibt", daß es nicht abstrakt bleibt, sondern das Allgemeine i m Besonderen erkennbar werden läßt? 5. Ist es für die Einbeziehung von Disziplinen wie der Verwaltungslehre offen genug? 1. Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts und „Verwaltungsabhängigkeit" des Verfassungsrechts a) Die Verfassungsabhängigkeit des Verwaltungsrechts Die Verfassungsabhängigkeit des (allgemeinen) Verwaltungsrechts 3 , besser: seine „Verfassungsdurchdringung" w i r d durchweg greifbar, allgemein bei v. Münch, S. 28 ff., und Ossenbühl, S. 62 f., speziell etwa bei der Begründung der Zulässigkeit des subordinationsrechtlichen Vertrages (Erichsen / Martens, S. 218 f.) und des Schutzes gegen unverhältnismäßige Immissionen (ebd. S. 242), sowie bei der Lehre von der Aufhebung von Verwaltungsakten durch die Verwaltung (Erichsen / Martens, S. 179, speziell für den Widerruf: S. 188). Mitunter könnte diese „Verfassungsabhängigkeit" noch stärker thematisiert werden: ζ. B. ist das öffentlichkeitsiprmzip des GG auch für das Verwaltungsrecht so deter3 Bachof, VDDStRL 30 (1972), S. 193 (204). — Für die französische Kontroverse zwischen Vedel und Eisenmann aufschlußreich: Ch. Eisenmann, La théorie des „Bases constitutionelles du Droit Administratif", RDP 1972, 1345 ff.

42 V e r f a s s u n g

6 5 8 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

minierend, daß es neben Gewaltenteilung, Rechts- und Sozialstaats- sowie Demokratieprinzip selbständig behandelt werden sollte. Entsprechendes gilt für die Kulturstaatlichkeit (Art. 3 Bay. Verf.) und für das Gemeinwohlprinzip i n Gestalt der „Unparteilichkeit" der öffentlichen Verwaltung 4 . Die Verabschiedung des Fiskusbegriffs (dazu v. Münch, S. 25 f., Erichsen / Martens, S. 237 f. zurückhaltender Salzwedel, S. 317 f.) sollte auch i n terminologischer Hinsicht kompromißlos erfolgen 5 . Ausmaß und Bedeutung der grundgesetzlichen Konkretisierungsleistung durch die (Verwaltungs-)Gerichte seit 1949 sollten einmal gesondert gewürdigt werden 6 — die Grundgesetzgeschichte ist insofern Geschichte des (prätorischen) Verwaltungsrechts! Man denke an die Pionierarbeit des OVG Berlin (dazu Erichsen / Martens, S. 183 ff.), an die von BVerwG und B G H entwickelte Auskunfts- und Beratungspflicht der Behörden, die theoretische Konturierung des „Verwaltungsrechtsverhältnisses" (Badura, S. 269) oder die Begründung negatorischen Rechtsschutzes gegen hoheitliche Realakte (dazu Erichsen / Martens, S. 240). Die dritte Gewalt war oft als Schrittmacher aktiv, sie wurde i m Verwaltungsrecht ζ. T. als „erste Gewalt" tätig! Hier ist i n der Tat auch das Richterrecht „Rechtsquelle" (vgl. Ossenbühl, S. 98, 101). Ja man fragt sich, ob nicht die Forschung noch stärker i n „Parallelaktionen" wirksam werden müßte: i. S. wissenschaftlicher Vorratspolitik. Die „Modernisierung" des Verwaltungsrechts i m Lichte des GG gehört jedenfalls zu den Glanzleistungen deutscher Rechtsprechung. Die oft als „langsam" und innovationsfeindlich bezeichnete Justitia war i n manchem rascher und erfindungsreicher als die viel zitierte „Eule der Minerva"! A n Beispielen für verfassungsbezogene Zukunftsaufgaben der Wissenschaft vom allgemeinen Verwaltungsrecht 7 seien genannt: die angesichts des GG gebotene konsequente Verabschiedung des Begriffs der „gesetzesfreien Verwaltung" (vgl. Ossenbühl, S. 57, Erichsen / Martens, 4

Dazu Badura, S. 257 ff. Dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 1976, S. 146 f.; P. Häberle, „Fiskalische" Interessen als öffentliche Interessen i. S. des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO?, DVB1. 1967, 220 ff. — Anders Dürig, VVDStRL 19 (1961), S. 263 f. Zuletzt Burmeister, D Ö V 1975, S. 695 ff. Kritik verdient die These Ossenbühls, S. 76, mit am geltenden Recht orientierten dogmatischen Begriffen ließen sich keine rechtstheoretischen Aussagen machen, umgekehrt gelte dasselbe. Rechts- bzw. Verfassungstheorie läßt sich indes nur durch das „geltende Recht" hindurch, nicht jenseits von oder „über" ihm machen. Zutreffend ist im übrigen sein Anliegen, die Verwaltungsrechtslehre aus dem „Schatten der eigenen Vergangenheit zu befreien" (ebd.). 6 Ein Lob der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Scholz, VVDStRL 34 (1976), S. 145 (148). 7 Allgemein dazu Bachof / Br ohm, V V D S t R L 30 (1972), S. 193 ff. bzw. 245 ff. 5

31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht

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S. 161)8, die Determinierung der Widerrufslehre vom Grundgesetz her (Erichsen / Martens, S. 186 ff.) 9 , die grundsätzliche Einführung des Begriffs „Leistungsgesetz" 10 (dazu punktuell Erichsen / Martens, S. 173), die theoretische Konturierung des „Verwaltungsrechtsverhältnisses" (Badura, S. 260; Erichsen/ Martens, S. 116 ff.), die Typisierung der normativen Bindungen des Ermessens„bereichs" bzw. seine rechtliche Strukturierung 1 1 (Ansätze bei Erichsen / Martens, S. 158 f.), die grundgesetzlich bestimmte K r i t i k an § 59 V w V f G 1 2 (Erichsen / Martens, S. 224 ff., 227) sowie die Durchsetzung des rechtsstaatlich und demokratisch gebotenen „Primats des Parlamentsgesetzes" (Erichsen / Martens, S. 160). Die i n Neuauflagen noch intensiver mögliche Einarbeitung des V w V f G dürfte zu neuen Bereichen der Grundgesetzverlebendigung „ i m " Verwaltungsrecht führen 1 3 . Die Aktualisierung der Grundrechte „ i m " Verwaltungsrecht ist ein herausragendes Kennzeichen für die „Modernisierung" seines allgemeinen Teils. Sie zeigt sich ζ. B. bei der Grundrechtseffektivierung i n und durch öffentliche Einrichtungen 1 4 (vgl. Salzwedel, S. 314: öffentliches Sachenrecht erweitert den Freiheitsspielraum des Bürgers, s. auch S. 319) sowie i n der (zu bejahenden) Frage, ob und wie A r t . 2 Abs. 1, 5 Abs. 1 und 12 GG den Gemeingebrauch an öffentlichen Straßen erweitern („kommunikatives" Verständnis des Wegerechts, ζ. B. bei Flugblattaktionen) 15 . Konkretisierung von Grundrechten i m Verwaltungsrecht ist es, wenn der B G H den enteignungsgleichen Eingriff aus einer Analogie zu A r t . 14 GG ableitet (Rüfner, S. 392 f.), oder wenn das BVerwG den Folgenbeseitigungsanspruch als ein bundesverfassungsrechtliches Insti8 Dazu Knemeyer, VVDStRL 35 (1977), S. 221 (231 Note 29); Ρ. Häberle, VVDStRL 34 (1976), S. 307 (Diskussion). 9 Vgl. die Diskussion in VVDStRL 32 (1974), S. 228 ff. 10 Dazu mein Beitrag in FS Küchenhoff, 1972, S. 453 ff. 11 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S.631 - 707. 12 Dazu Schenke, JuS 1977, 281 ff. Zuletzt H. Meyer, NJW 1977, 1705 ff. 13 Dazu mein Beitrag, Verfassungsprinzipien „im" Verwaltungsverfahrensgesetz, in: FS Boorberg Verlag 1977, S. 47 ff., der freilich die eine Seite des Verhältnisses Verfassungs-/Verwaltungsrecht betont. Hier stellt sich die Frage einer stärkeren Einbeziehung der „Verfahrensgrundsätze" (Badura, S. 265 ff.) in die materielle Verwaltungsfunktion: administrativer due process (dazu P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 505, 627, 657 f., 662, 727) als integrierender Teil der Gemeinwohlfunktion „öffentliche Verwaltung". Einschlägig wird hier Baduras Doppelcharakter des Verwaltungsakts (Verfahrens- und materiell-rechtliche Funktion: S. 276, s. auch S. 300). 14 Dazu P. Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (99 f., 119 f.). 15 Ein differenzierter Ansatz bei Salzwedel, S. 340 f., 344; s. auch seinen „leistungsstaatlichen" Ansatz (S. 343), insofern er mit Recht eine „institutionelle Garantie" der in Art. 2 Abs. 1 GG liegenden Verkehrsfreiheit bejaht, die den Staat verpflichtet, ein umfassendes Netz öffentlicher Straßen bereitzustellen.

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6 6 0 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

t u t anerkennt und dazu neigt, seine Grundlage i n den Freiheitsrechten oder dem Vorbehalt des Gesetzes zu sehen (Rüfner, S. 422), und Erichsen / Martens den Dispens als Mittel zur Aktualisierung der Grundrechte qualifizieren (S. 187). b) Die „Verwaltungsabhängigkeit" de's Verfassungsrechts Sie 1 6 ist das unverzichtbare Gegenstück zu F. Werners berühmter Devise. So bahnbrechend Smends Besinnung auf das „spezifisch Verfassungsrechtliche" geworden und geblieben ist, so notwendig erscheint die Erarbeitung des „spezifisch Verwaltungsrechtlichen". Erst die Einsicht i n das je Eigene von Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie die Aufdeckung ihrer Verschränkungen umspannen die ganze Wirklichkeit. So sind die Rückwirkungen zu beobachten und bewußt zu steuern, die sich aus dem „Heranwachsen" (und den Differenzierungsprozessen) des Verwaltungsrechts für das Verfassungsrecht und sogar das Verfassungsverständnis ergeben. Denkbar ist verwaltungsrechtskonîorme Auslegung der Verfassung (nicht nur verfassungskonforme Auslegung des Verwaltungsrechts!): analog den Wechselvorgängen, die zum Institut der gesetzeskonformen Auslegung der Verfassung führen 1 7 . Manche I n stitute der Leistungsverwaltung, viele „Materialien" dessen, was zunächst „unter" der Verfassung den sozialen Rechtsstaat ausmachte (Daseinsvorsorge usw.), haben ihrerseits später das Verfassungsrecht konturiert 1 8 . Diese (durchaus grundgesetzbezogene) „Aufwertung" von Verwaltungsrecht und -Wirklichkeit ist die gebotene Ergänzung der These vom „Verwaltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht" (F. Werner) 19. Verwaltungsrecht und -Wirklichkeit sind i m Rahmen der rechts- und sozialstaatlichen Verwaltungsfunktion mehr als bloßer „Unterbau" der Verfassung 19a . Die Verwaltung hat eine ver18 Anders (und ebenso folgenreich wie fragwürdig) die Abschichtung des (richtig gesehenen) Verfassungsrechts vom unrichtig als „technisch" degradierten Verwaltungsrecht und von der Verwaltung: Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, S. 130 ff.; dazu die Kritik von Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 93 ff. 17 Dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 9. Aufl. 1976, S. 34. 18 Darin liegt die Essenz der Kontroverse um Forsthoffs bekannte Thesen, vgl. meinen Mitbericht, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (100 Anm. 244, S. 99). 19 Vgl. ζ. Β. v. Münch, S. 29. 19a Entsprechendes gilt für das Privatrecht. Die stürmische Entwicklung des Verfassungsrechts seit 1949 hat hier manche vorgeformten Strukturen so „überrannt", daß die (Wieder-)Besinnung auf das Proprium jedenfalls i. S. der genannten Wechselwirkungen (dazu meine Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 210 ff.) einzuleiten ist. Das spezifisch Privatrechtliche ist im

31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht

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fassungskräftige Chance 20 . Bestimmte Sachstrukturen von Verwaltung und Verwaltungsrecht sind i m GG „aufgehoben". Verwaltung und Verwaltungsrecht dürfen insofern nicht nur von „oben" gesehen werden 2 1 . Die Verwaltungsfunktion kann zur Entwicklung von „Verfassungsrecht von unten" führen, das i n Innovationskraft, „Stofflichkeit" und Sachnähe, Dynamik und Originalität dank der Bürgernähe und „schöpferischen Mobilität" (Ausdruck bei Rudolf, S. 439) für die Wachstumsprozesse der Verfassung unverzichtbar ist. Insofern kann die Verwaltung zum Vehikel für Entwicklungen der Verfassung werden, eine Einsicht, die die Verantwortung der Verwaltungsrechtswissenschaft erhöht und eine besondere Herausforderung für die Verwaltungslehre ist (Verwaltungsreform als Verfassungsentwicklung!). Solche Zusammenhänge stehen letztlich hinter der(Wieder-)Besinnung auf die „Eigenständigkeit der Verwaltung" 2 2 , ihre Gestaltungsräume, ihre Sachverantwortung. Ihre Relevanz für die prätorischen Kompetenzen der Verwaltungsrechtsprechung kann hier nur vermerkt werden 2 3 . Verwaltung und Verwaltungsrecht haben insofern Eigenwert und sind eben darum von Wert für die Verfassung. Das gilt auch für die kommunale Selbstverwaltung. Was ist nun das „Eigene" von Verwaltung und Verwaltungsrecht, das als solches i n Verfassung und Verfassungsrecht (in des Wortes Doppelsinn) „aufgehoben" ist und dadurch der Verfassungslehre Gewinn verspricht? Was ist das „spezifisch Verwaltungsrechtliche", das sich ζ. B. für das „Verwaltungsrecht vor Verfassungsgerichten" funktionellrechtlich zugunsten der Verwaltungsrichter auswirken kann (vgl. unter 3 b)? GG „aufgehoben"; Privatrechtstheorie hat auch ihren eigenen Gegenstand und Auftrag (mit Rückwirkungen) in bezug auf freiheitliche Verfassungstheorie: Einerseits erhalten z.B. die alten privatrechtlichen Figuren, mit denen sich wirtschaftliche oder gesellschaftliche Machtausübung verbindet, im sozialen Rechtsstaat einen „neuen Stellenwert", indem sie gesamtgesellschaftliche, öffentliche Dimensionen erlangen. „Sie bleiben zwar immer noch eigenständige Freiheitsräume (wie vor allem ihre Deckung durch individuelle Grundrechte zeigt), aber diese Freiheit ist nicht nur begrenzt durch die Freiheit anderer Einzelner, sondern auch durch die Reflexe der sozialen Solidarität in die intersubjektiven Beziehungen zwischen den Rechtssubjekten" (Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 623). — Andererseits wird sich die Privatrechtstheorie, auch der freiheitlichen Verfassung wegen, der „offenen Flanken" von Privatheit zunehmend bewußt (ζ. B. beim Daten-, Persönlichkeits- und Verbraucherschutz, im A G B - und Arbeitsrecht). 20

Vgl. die Formulierung von Röttgen, VVDStRL 16 (1958), S. 190 (LS I I I 2) für die gesetzesfreie Verwaltung. 21 Vgl. das Wort von Peters, V V D S t R L 19 (1961), S. 257 (Diskussion). 22 Ein durchgängiger Zug des Buches ist der Sinn für Gestaltungsräume der Verwaltung, ζ. B. im Sinne ihres Ermessens (ν . Münch, S. 10, Ossenbiihl, S. 51 f.). Zu den Glanzpunkten gehört das Planungskapitel (S. 206 ff.). 23 ζ. B. im Umgang mit dem „öffentlichen Interesse", dazu P. Häberle, fentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, bes. S. 240 ff.

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6 6 2 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

Die Partikularität des Rechtsstoffs 24 , die besonderen Sachstrukturen, die unmittelbare Sachnähe und der Sachverstand der „Verwaltenden", woraus die Verantwortung zum ersten Zugriff erwächst nach oft nur kurzer Beobachtungsphase, ferner Gesichtspunkte der Praktikabilität und Effizienz, die Funktion des „Erstinterpreten" Verwaltung, der gegenüber die Verwaltungsgerichtsbarkeit, jedenfalls i n Teilen, erst „Ζweitinterpret" ist, sind vielfältig als „Vorhand" der Verwaltung bei der Gemeinwohlformulierung und -bestimmung greifbar 25 . Der Faktor Zeit spielt eine eigene Rolle. Oft wächst der Rechtsstoff i m besonderen Verwaltungsrecht sehr rasch heran 26 . Diese i n Teilbereichen gesamthänderischen, arbeitsteiligen, i n Teilbereichen auch „konkurrierenden", kumulativen Interpretationsaufgaben i m Verwaltungsrecht und die Vorschaltung der „vorläufigen" Verwaltungsverfahren machen die Interpretations- und Rechtsbildungsvorgänge i m Verwaltungsrecht einzigartig. Verwaltungsrecht und Verwaltung i n dieser Weise „von unten" zu sehen, insbesondere auch i m Selbstverwaltungsbereich „vor Ort", kann dem Verfassungsrecht neue Einsichten über sein „Subsystem" Verwaltung „nach oben" vermitteln, sofern man nicht sogar die Gefahr hierarchischer Mißverständnisse schon terminologisch ganz vermeiden w i l l . Das Verwaltungsrecht als Teil unterverfassungsrechtlicher Rechtsstrukturen strahlt „nach oben" aus 2 7 ! Der Verwaltungs(rechts)lehre sind diese Faszination durch das GG als höchstrangige gegangen; punktuell hat sie immer wieder waltung 2 8 und Verwaltungsrecht erinnert 2 9 24

Zusammenhänge bei aller Ordnung nie ganz verloren an das Proprium von Veroder es unausgesprochen m i t -

Vgl. Badura, VVDStRL 30 (1972), S. 327 f. (Diskussion). Dazu meine Nachweise in: öffentliches Interesse, a.a.O., S. 224, 233, 345 ff., 476 ff., 678 ff. 26 Vgl. Peters, VVDStRL 16 (1958), S. 247 (Diskussion): Es wächst unendlich viel jeden Augenblick der Verwaltung zu. — Das Problem der Mischverwaltung (Rudolf, S. 442 f.) wäre von neueren Ansätzen her aufzuarbeiten: Blümel, VVDStRL 30 (1972), S. 347 (Diskussion); Ronellenfitsch, Die Mischverwaltung im Bundesstaat, 1975, vgl. meine Besprechung in DVB1. 1977, 869 f. 27 Wie sehr das allgemeine (und besondere) Verwaltungsrecht für das Verfassungsrecht fruchtbar werden kann, zeigt sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: er ist vom Verwaltungsrecht (Polizeirecht) in das Verfassungsrecht hineingewachsen (dazu H. Hub er, Über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Verwaltungsrecht, ZSR 96 (1977), S. 1 ff., mit Differenzierungen S. 17 f., 19). 28 Aus diesem Ansatz ergibt sich auch, daß ein Numerus clausus staatlicher Handlungsformen im Bereich der Verwaltung nicht besteht. 29 Vgl. — bei allen Akzentunterschieden im einzelnen — die Beiträge von E. Kaufmann, VVDStRL 24 (1966), S. 219-221 (Diskussion); Peters, VVDStRL 16 (1958), S. 247 - 250; Bachof, unter anderem in: V V D S t R L 30 (1972), S. 193 ff. — Das Eigene von Verwaltung und Verwaltungsrecht betonen: Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, 10. Aufl. 1973, S. 1 ff., bes. S. 9, 13 ff., 163 f., 440, 448 f., z. B. S. 6: Eigeninitiatives Handeln der Verwaltung; S. 56: „stärkere Ver25

31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht

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gedacht. N u r eine grundsätzliche A u f a r b e i t u n g l i e g t b i s l a n g n i c h t v o r . Sie m u ß v o m a l l g e m e i n e n V e r w a l t u n g s r e c h t auch d o r t geleistet w e r d e n , w o das spezifisch V e r w a l t u n g s r e c h t l i c h e erst „ i m " besonderen V e r w a l tungsrecht v o l l g r e i f b a r w i r d . F r e i l i c h s i n d a u c h d i e F ä l l e e i n e r m e h r oder w e n i g e r a u f f ä l l i g e n „ I n k o n g r u e n z " v o n Verfassungsrecht u n d V e r w a l t u n g s w i r k l i c h k e i t 3 0 i m Auge zu behalten, w i e überhaupt die V e r w a l t u n g s w i r k l i c h k e i t i n i h r e r n o r m i e r e n d e n K r a f t , aber auch i n i h r e n d e f i z i t ä r e n A s p e k t e n zu sehen ist. 2. Eine

„Desideratenliste"

Folgende Fragen d ü r f t e n i n jedem „ A l l g e m e i n e n Verwaltungsrecht" zu d i s k u t i e r e n sein: d e r S t r e i t u m d e n V o r b e h a l t d e r V e r w a l t u n g 3 1 , dessen theoretische B e g r ü n d u n g aus d e m „ E i g e n e n " d e r V e r w a l t u n g z u r eigenständigen R e c h t s f i n d u n g 3 2 u n d z u r A n e r k e n n u n g v o n R e g e l u n g s befugnissen d e r V e r w a l t u n g z u f ü h r e n v e r m a g 3 3 . Dieses E i g e n s t ä n d i g e u n d Spezifische d e r V e r w a l t u n g 3 4 i s t m i t H i l f e d e r V e r w a l t u n g s w i s s e n schaften z u b e o b a c h t e n 3 5 u n d d e r Verfassungslehre „ m i t z u t e i l e n " . W e i t e r e i n diesem S i n n e offene F r a g e n s i n d : die L e h r e v o n d e n V e r w a l wiesenheit der Verwaltungsrechtswissenschaft auf die Verwaltungswirklichkeit"; Scheuner, V V D S t R L 17 (1959), S. 238 f.; 19 (1961), S. 264 f.; 35 (1977), S. 312 f. (Diskussion); Ehmke, V V D S t R L 19 (1961), S. 258, 259; Badura, V V D S t R L 30 (1972), S. 327 (Diskussion): „Ökonomie der öffentlich-rechtlichen Rechtsordnung", S. 328: „die Fortsetzung der Staatsaufgaben im Verwaltungsrecht"; Bullinger, VVDStRL 31 (1973), S. 267 f.; Schmitt Glaeser, ebd. S. 278 (Diskussion); J. H. Kaiser, V V D S t R L 34 (1975), S. 287; Ipsen, V V D S t R L 17 (1959), S. 230 (Diskussion); 24 (1966), S. 221 ff.; ders., AöR 97 (1972), S. 375 (376 ff., 413 ff.); Scholz / Schmidt-Aßmann, V V D S t R L 34 (1976), S. 145 ff.; Dürig, V V D S t R L 19 (1961), S. 264: „Weisheiten des Verwaltungsrechts". — Ein Beispiel für bewußtes Denken vom Verwaltungsrecht her (in Sachen Vertrauensschutz bei rückwirkender Änderung der Rechtsprechung): Götz, in: Starck (Hrsg.), BVerfG und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 421 (448 ff.), mit Kritik an Dürig. Weiteres Material in dem Beitrag von H. H. Klein, ebd. S. 277 ff. 30 Vgl. das Beispiel von Ossenbühl, V V D S t R L 29 (1971), S. 137 (161 f.); Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), S. 221 (225): „Rückstand der Verfassungsentwicklung" — die hier von der Verwaltung lernen muß ! 31 Dazu Vogel, V V D S t R L 24 (1966), S. 125 (168 ff., 175); bejahend (mit weit. Nachw.) P. Häberle, öffentliches Interesse, a.a.O., S. 187, 235, 470, 495, 498, 715 u. ö. 32 Jetzt Kirchhof, in: BVerfG und Grundgesetz, Bd. 2, 1976, S. 50 (103): Die Verwaltung hat die Aufgabe eigenständiger Rechtsfindung. 33 Vgl. die Fragestellung von Ehmke, V V D S t R L 24 (1966), S. 231 f. (Diskussion); s. auch Hans F. Zacher, ebd. S. 236: Rechtsetzungskompetenz der Verwaltung. 34 Dazu E. Kaufmann, V V D S t R L 24 (1966), S. 219 - 221; Ipsen, ebd., S. 221 ff. (Diskussion). 35 Siehe E. Kaufmanns Hinweis auf die wachende, beobachtende Verwaltung, a.a.O.

6 6 4 I I I . Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

tungsaufgaben 36 , vom Verwaltungsrechtsverhältnis und vom status activus processualis. A u f sie sei gesondert eingegangen: a) Das Verwaltungsrechtsverhältnis ist verfassungs- und verwaltungstheoretisch nach wie vor „unterbelichtet". Zwar hat W. Henke schon 196937 die Problematik aufgegriffen; auch war Hans F. Zacher i m Subventionsrecht darum bemüht 3 8 ; doch ist die allgemeine Grundlegung bis heute nicht erfolgt. Vielleicht gibt die Kodifizierung des Sozialrechts neue Impulse. Hier ist strukturelle und typologische Arbeit an hartem Beispielsmaterial aus dem besonderen Verwaltungsrecht erforderlich. Man w i r d Dauer- 3 9 und ad hoc-Verwaltungsrechtsverhältnisse zu unterscheiden haben, also den Zeitfaktor berücksichtigen müssen, die materiellen und formellen (verfahrensrechtlichen: due process-)Elemente i m Sinne des status activus processualis 40 , zweiseitige oder polygonale 41 („plurale"), ihre unterschiedlichen Begründungsformen (Gesetz, Vertrag, Verwaltungs-, Realakte, Garantenstellung) und ihre Beendigungsmodalitäten. Auch die Normdichte, das „Geflecht" 4 2 der Verwaltungsrechtsverhältnisse ist unterschiedlich. Vor allem aber ist die grundrechtliche Sonderstatuslehre 43 i m Horizont der Verwaltungsaufgaben ins Verwaltungsrecht fortzuführen, ferner die Frage der Heranziehung von zivilrechtlichen Grundsätzen zu untersuchen, etwa bei „Leistungsstörungen". Das allgemeine Verwaltungsrecht als Inbegriff der „ungeschriebenen Normen", die Rechtsprechung und Wissenschaft entwickelt haben 44 , ist hier i m Verzug. 38 Dazu F. Mayer, V V D S t R L 29 (1971), S. 260 f. (Diskussion). — Ein Forschungsdefizit besteht hinsichtlich der Berücksichtigung der Verwaltungsorganisation (z. B. im Blick auf pluralistisch zusammengesetzte Gremien), vgl. Bachof, V V D S t R L 30 (1972), S. 362. 37 V V D S t R L 28 (1970), S. 149 (159 ff. und LS I I 4, S. 184); vgl. auch Obermayer, Grundzüge des Verwaltungsrechts und des Verwaltungsprozeßrechts, 2. Aufl. 1975, S. 43 f.; jetzt Kirchhof, Verwalten durch mittelbares Einwirken, 1977, S. 313 ff. 38 V V D S t R L 25 (1967), S. 308 (325 ff.). — I. S. einer Aufwertung des Rechtsverhältnisses: Bachof, V V D S t R L 30 (1972), S. 243 (LS 25 f.). 39 Dazu Rüfner, V V D S t R L 28 (1970), S. 187 (215 f.). Zu „Dauerkontakten" z. B. im StBFG: Denninger, V V D S t R L 31 (1973), S. 269 (Diskussion). 40 Dazu mein Mitbericht, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (86 ff.). 41 Dazu Schmidt-Aßmann, V V D S t R L 34 (1976), S. 236; Ρ. Häberle, a.a.O., S. 87. — Mehrseitige Interessengeflechte, die sich nicht in eindimensionaler Konfrontation auflösen lassen, zeigt besonders die jüngste (Kern-)Energiediskussion. Man denke nur an Bürgerinitiativen für den Kraftwerksbau (Bericht des Z D F v. 17. 5. 1977 über eine Bürgerinitiative gegen die geplante Stillegung eines Thyssen-Zweigwerks in Oberhausen), s. auch die Bürgerinitiative „Recht auf Energie" (FAZ v. 25. 8.1977). 42 Vgl. Scheuner, V V D S t R L 28 (1970), S. 233 (Diskussion). 43 Dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BR Deutschland, 9. Aufl., 1976, S. 136 ff. 44 Ipsen, VVDStRL 28 (1970), S. 244 (Diskussion).

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Verfassungsprinzipien wie sozialer Hechtsstaat und Demokratie sowie die Grundrechte wirken von beiden Seiten rechtsbegründend bzw. pflichtenstatuierend i n das jeweilige Verwaltungsrechtsverhältnis hinein: genauer, sie strukturieren es. Diese innere Architektur w i r d geprägt von Amtspflichten, Ermessenbindungen 45 , Grundrechten und Grundpflichten i. V. m i t den Verwaltungsaufgaben. b) Der status activus processuali s46 ist ein verwaltungsrechtsgestaltendes Strukturprinzip. Er ist differenzierter Ausformung durch Verwaltungsgesetzgebung, -rechtsprechung und -Wissenschaft je nach den Besonderheiten der jeweiligen Sach- bzw. Rechtsgebiete, Problemlagen sowie Verwaltungsaufgaben fähig und bedürftig. So w i r k t er als „formelle" Seite i m Verwaltungsrechtsverhältnis. Er prägt den ex anteRechtsschutz i m Verwaltungsverfahren 47, sollte aber auch i m verwaltungsgerichtlichen Verfahren und — aufeinander abgestimmt — sowohl in diesem wie i n jenem wirken 4 8 . Verwaltungsprozessual ist der status activus processualis ausgestaltet i n §§ 40 ff. VwGO, auch i n Formen der Popularklage (z. B. verfassungsrechtlich i n Art. 98 Satz 4 Bay .Verf.). Die Entwicklungen i m allgemeinen Verwaltungsverfahren (§§ 28 - 30 VwVfG) und speziell i n atomrechtlichen sowie i n Planfeststellungsverfahren lassen sich dogmatisch u m den status activus processualis gruppieren, der insofern eine dirigierende Funktion hat. Er besitzt je nach Sachgebiet bzw. Verwaltungsaufgaben eine primär grundrechtliche und primär demokratische Komponente und vermittelt dadurch der Verwaltung und dem Verwaltungsrecht den von W. Schmidt gesuchten Kontakt zum Politischen 49 : insofern er eine Öffnung gegenüber der pluralistischen öffentlichkeit ermöglicht. Der status activus processualis w i r k t hier in die Dimension der bürgerdemokratischen Kommunikation Öffentlichkeit/Verwaltungsrecht. U m „organisierte" (und „nichtorganisierte"!) Einwirkungen auf die Verwaltung aufzufangen, zu kanalisieren und ins Positive zu wenden, 45 Dazu W. Henke, V V D S t R L 28 (1970), S. 149 (160). — Zum Verwaltungsverhältnis: Ehmke, „Ermessen" und „unbestimmter Rechtsbegriff" im Verwaltungsrecht, 1960, S. 35 ff. (i. S. eines betonten Aufgabendenkens). 46 P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (86 ff., 191 ff.). Differenzierte Kritik bei Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31 (1973), S. 179 (222 f.); Battis , Partizipation im Städtebaurecht, 1976, S. 118 ff.; Bartlsperger, V V D S t R L 33 (1975), S. 216 (238); H. H. Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (183 ff.). — Zu seiner Effektivierung im Parteienrecht: H. Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 185 ff. 47 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 30 (1972), S. 43 (88, 121 ff.). 48 So etwa, wenn W. Schmidt, V V D S t R L 33 (1975), S. 183 (209) und LS 8 b, ein gerichtlich durchsetzbares Recht auf „Zugang zum Verfahren" bejaht, und zwar als „Jedermann-Recht" (vgl. aus der Diskussion: Bullinger, ebd. S. 283 f.; Blümel, S. 311). 49 W. Schmidt, V V D S t R L 33 (1975), S. 183 (215).

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

müssen A r t und Ausmaß dieser Einwirkungen auf die Verwaltung von dieser aus organisiert werden! Das geschieht durch differenzierten A u f bau eines status activus processualis 50 , wie er etwa hinter den Planfeststellungsverfahren der §§ 72 ff. V w V f G erkennbar w i r d 5 1 . Der status activus processualis könnte dann auch i n der Legitimationsfrage weiterführen 5 2 : i m Sinne der Bürgerdemokratie 53 . 3. Rechtsbildung im Verwaltungsrecht a) Die Problematik i m allgemeinen Die Konkretisierungsleistung der Verwaltungsrechtsprechung i n bezug auf das GG, der hohe Anteil der wissenschaftlichen Dogmatik, aber auch die (relative) Verselbständigung von Sonderbereichen von Verwaltung und Verwaltungsrecht auf Kosten des allgemeinen Verwaltungsrechts und des Verfassungsrahmens 54 , führen zu einer Frage, der sich jedes „allgemeine Verwaltungsrecht" zu stellen hat, sei es bei der einführenden Kennzeichnung des Gegenstandes (etwa i m Anschluß an die „Verfassungsabhängigkeit") 55 , i m Unterschied (aber doch i n enger Wechselwirkung) zum „besonderen Verwaltungsrecht" oder bei der Rechtsquellenlehre: zur Frage nach der Rechtsbildung im Verwaltungsrecht, die vom „Rechtsquellen"-Begriff eher verdeckt als erhellt wird. Dabei entstehen drei (sich vielfältig überschneidende) realistisch zu lösende Schlüsselprobleme an und aus A r t . 20 Abs. 3 GG: 1. — i n welchen materiellen Rechtsgebieten des allgemeinen und besonderen Verwaltungsrechts erfolgt die Rechtsbildung i n welcher „Dichte" und i n welchen zeitlichen Dimensionen, 2. — i n welchen komplexen Verfahren der Gesetzgebung, der Verwaltung sowie der Verwaltungs- (und Verfassungs-)Rechtsprechung er50 Ganz i. S. der Differenzierungen von W. Schmidt, a.a.O., S. 207 ff. sowie Diskussion, S. 238 f. 51 Dazu mein Beitrag in FS Boorberg Verlag, 1977, S. 89 ff. — s. auch die in der Schweiz geplante Novelle zum Atomenergiegesetz von 1959, wonach eine Stärkung des Mitspracherechts betroffener und interessierter Kreise erreicht werden soll und jeder Einspruch gegen Errichtung und Betrieb eines Kraftwerks erheben kann (FAZ v. 26. 8.1977). 52 Zu ihr W. Schmidt, a.a.O., S. 210 ff.; aus der Diskussion J. H. Kaiser, ebd. S. 286. 53 Dazu P. Häberle, V V D S t R L 33 (1975), S. 307 (Diskussion); ders., JZ 1977, S. 361 ff. 54 Dazu für das Polizei- und Ordnungsrecht: Erichsen, VVDStRL 35 (1977), S. 171 (176) sowie ders., S. 322, 354 f. (Diskussion). 53 Zu ihr zuletzt Stern, VVDStRL 33 (1975), S. 280 (Diskussion).

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folgt sie funktionell-rechtlich (auch hinsichtlich Ermessens- und unbestimmter Hechtsbegriffe), 3. — durch wen (welche Personen und Gruppen) geschieht sie? I m Kraftfeld der Bindung an und Entwicklung von „Gesetz und Recht" i m Verwaltungsrecht (vgl. A r t . 20 Abs. 3 GG) wirken Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltungspraxis sowie wissenschaftliche Dogmatik und Öffentlichkeit. Konkrete Verwaltungsrechtsausleger i n „ihren" jeweiligen Verfahren sind die „Faktoren" der Gesetzgebung, die Richter (auch anderer, nicht speziell der Verwaltungsgerichte!), die Verwaltungspraxis (mit oder ohne Verwaltungsverfahren), die Wissenschaftler und nicht zu vergessen: die Rechtsschutz suchenden Bürger und Gruppen 5 8 , nicht nur i m Verwaltungsprozeß, sondern auch i m Verwaltungsverfahren. Die hier, i n Verwaltungsverfahren ablaufenden Prozesse der Rechtsbildung (im „ersten Zugriff" und aus „erster Hand") 5 7 bedürfen genauer (empirischer) Untersuchung. (Das vielzitierte verwaltungsrechtliche Richterrecht ist insofern von besonderer A r t , als — anders als i m Zivilrecht — i n weiten Bereichen „vorläufige" Verwaltungsverfahren abgelaufen sind, ehe der Richter zu interpretieren hat.) Man denke an die Vorgänge i n atomenergierechtlichen Verwaltungsverfahren und ihre Verzahnungen m i t der öffentlichen Meinung, die Rückwirkung auf die Gesetzgebung 58 u n d zuletzt auf die wissenschaftliche Dogmatik. Die öffentliche Meinung ist allgemein, nicht nur bei anerkannten gemein56 Ihre Entscheidung zur Klageerhebung beeinflußt die Rechtsprechung in Verwaltungssachen, man denke auch an die Massen verf ahren ! Die Verwaltungsrechtsdogmatik zur Klagebefugnis bewegt sich weg von der „Schutznormtheorie" zur „Repräsentation" fremder Belange durch Geltendmachung eigener Belange, vgl. Scholz, V V D S t R L 34 (1976), S. 144 (203 ff.) und Weyreuther, DÖV 1977, 419 (424 ff.) unter Verweis auf das „B-42-Urteil" des BVerwG (E 48, 56 ff.). 57 Vgl. Bachof, VVDStRL 34 (1976), S. 107, 108 (Diskussion), insofern er davon spricht, daß Verfassungs- und Verwaltungsrichter (im Gegensatz zum Zivilrichter) „die schon getätigte Interpretation" nach vollziehen ; diesen kompetenzrechtlichen Gedanken wertet Ossenbühl (Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, I, 1976, hrsg. v. Starck u. a., S. 458 ff., 497) für die judizielle Prognosekontrolle aus: „Funktionelle Konkurrenz", wenn der Richter über Prognosen anderer Instanzen zu befinden hat. 58 Instruktiv die Vor- und Nachgeschichte des „Voerde-Urteils" des OVG Münster, NJW 1976, 2361 ff. Als Antwort auf den Baustopp durch die erste Instanz (VG Düsseldorf) beschloß der BT die erste Novelle zum BImSchG („Lex StEAG"). I n der zweiten Instanz (OVG Münster) wurde das Urteil dennoch nicht aufgehoben (zu den Reaktionen in der Öffentlichkeit vgl. Battis, JuS 1977, 162). — Vgl. auch, unter dem Aspekt richterlicher Selbsteinschätzung, das Spiegel-Gespräch mit dem Präsidenten des OVG Münster (zur Vorlage des § 7 AtomG bei dem BVerfG), „Der Spiegel" v. 1. 8. 1977, S. 42 ff. (45: Richter wirkten immer auch politisch. Dies trete jetzt nur deswegen stärker in Erscheinung, weil die Tätigkeit der Exekutive gewichtiger geworden sei. Sie plane die Zukunft, was sie früher nicht in diesem Ausmaß getan habe. Damit habe auch die richterliche Kontrolle mehr Gewicht erhalten).

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

wohl- und öffentlichkeitsbezogenen verwaltungsrechtlichen Begriffen 5 9 stärker eingeschaltet als gemeinhin vermutet: Ausdruck der betont personal zu sehenden offenen Gesellschaft der Verwaltungsrechtsausleger 60 . Nachzuspüren ist den „konzertierten Aktionen", aber auch Um- oder Seitenwegen, dem Gegen- und Miteinander 6 1 , i n dem die Institute des Verwaltungsrechts entstanden sind und entstehen. Vor allem ist die Verwaltung selbst Teil der Verfassungsinterpretation im engeren und weiteren Sinne 62 . Das hier obwaltende funktionell-rechtliche Zusammenspiel (mit Experimentierphasen und -räumen, „Probeläufen" und Korrekturen) 6 3 ist verfassungs- und verwaltungstheoretisch noch nicht voll erfaßt. Beispielsmaterial liefert das „System" öffentlich-rechtlicher Schadensersatz- und Entschädigungsleistungen (dazu Rüfner, S. 369 ff.), etwa die Frage der „Reaktion" des Gesetzgebers auf BGHZ 46, 37 i n Gestalt der Neufassung der Nr. 14 von § 539 Abs. 1 RVO (Rüfner, S. 417), auch „Appellentscheidungen" der Gerichte, ζ. B. des B G H (Z 54, 322 ff., von Münch, S. 49), insofern der B G H für Ampelunfälle die Einführung einer öffentlich-rechtlichen Gefährdungshaftung befürwortet. Daß immer wieder Defizite der Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber einer sich nur kasuistisch vorantastenden Rechtsprechung entstehen, zeigt ζ. B. das verwaltungsrechtliche Schuldverhältnis (dazu Rüfner, S. 419). Die — verfassungskonformen — Möglichkeiten des Gesetzgebers und seine Grenzen (aktuell bei der Frage, welche Teile der Lehre vom enteignungsgleichen Eingriff Verfassungsrang haben, dazu Rüfner, S. 392), werden bei den vieldiskutierten Reformen des Staatshaftungsrechts relevant (dazu Rüfner, S. 428 ff.) 64 . Den „schubweisen Stoffwechsel zwischen den Neuerfahrungen der Fallpraxis und den Formkräften der Schule" i. S. Essers zu ermitteln und zu steuern (!), 59 Dazu P. Häberle, in: Würtenberger (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtspraxis, 1971, S. 36 (39 ff.). 60 Dazu Hans F. Zacher, V V D S t R L 34 (1976), S. 284 (Diskussion); Ρ. Häberle, JZ 1975, S. 297 ff. — Material in P. Häberle, öffentliches Interesse, a.a.O., ζ. B. unter dem Stichwort „normierende Kraft der Verwaltungspraxis" (S. 475 ff.), „versteckter Vorbehalt der Verwaltung" (S. 329, 468, 663), richterliche Anlehnungstechniken an vorformuliertes Gemeinwohlmaterial (ζ. B. Verwaltungspraxis und Pläne), S. 396 ff., „normierende Kraft der Öffentlichkeit" (S. 558 ff.). 61 Die Voraussetzungen und Bedingungen, Verfahren und Beteiligten einer „lebenden Dogmatik" im Verwaltungsrecht wären noch im einzelnen zu klären. 62 I. S. meines Ansatzes: JZ 1975, 297 ff. 63 Aktuell auch bei der Frage, inwieweit die höchstrichterliche Rechtsprechung den Beamten i.S. des Amtshaftungsrechts bindet, Badura, S. 271. 04 Vgl. dazu die Abwendung von der Rspr. des B G H zum „enteignenden Eingriff" in § 15 Abs. 3 des Referentenentwurfs für ein Staatshaftungsgesetz, in: Reform des Staatshaftungsrechts, Referentenentwürfe 1976 (hrsg. v. B M J und BMI), S. 34 und Auseinandersetzung mit der Rspr. des BGH, S. 115 ff.

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wäre gewiß lohnend, sofern Rationalität (und Irrationalität) aller Beteiligten, auch des Gesetzgebers, miteinbezogen würden. Bei solchen Frageansätzen werden Detailprobleme greifbar: ζ. B. die Vorwirkung der Entwürfe zum Verwaltungsverfahrensgesetz vor dem Inkrafttreten der jetzigen Fassung 65 , die normierende K r a f t der Verwaltungspraxis, das Problem obiter dicta und Grundsatzrechtsprechung der Verwaltungsgerichte, Rechtsprechungsänderungen und ihre Hintergründe, der Anteil der Wissenschaft, Fragen der Bindung des Gesetzgebers an ihre Ergebnisse 66 und das Problem gesetzgeberischer Abweichungen des „besonderen" vom „allgemeinen Verwaltungsrecht". So viel bislang über das Verhältnis von „Gesetz und Recht" i m Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit erforscht ist 6 7 , so wenig sind die Parallelfragen i m Verwaltungsrecht geklärt. Dabei müßten auch die anderen Gerichte, insbesondere die Verfassungsgerichte, i n ihrer Wirksamkeit für die verwaltungsrichterliche Rechtsbildung bewußter gemacht werden: die verwaltungsrechtliche „Nachwirkung" und Nachgeschichte etwa der Entscheidungen der Verfassungsgerichte „als" funktionelle Verwaltungsgerichte und umgekehrt. Hier kann es Parallel- und gegenläufige Bewegungen geben: die Gewinnung von Gestaltungsfreiheit samt Rechtskonkretisierungskompetenzen i m Bereich von Ermessen und unbestimmten Rechtsbegriffen 68 , die Setzung von Administrativrecht (Ossenbühl, S. 63, 77, 80 f.), die Ausdehnung der Klagebefugnis i n Richtung auf Verbands- und Popularklage, wie überhaupt die „Rechtsschutzformen" den Verwaltungsverfahren fortlaufend anzupassen sind 6 0 . Gerade bei diesen Entwicklungen 65 Dazu Nachw. für das BVerwG bei Maurer, JuS 1976, 485 (496 Anm. 101); speziell zur Sonderfrage der normierenden Kraft, die WüEVRO 1931 entfaltet hat: Dürig, Bachof, VVDStRL 17 (1959), S. 228 (Diskussion). — Zum ambivalenten Verhältnis von Dogmatik und Gesetz: Bachof, V V D S t R L 30 (1972), S. 193 (202 f.). — Allgemein zur Vorwirkung mein öffentliches Interesse, a.a.O., S. 396 Anm. 148, 473, 486 ff., 543 Anm. 149 sowie Kloepfer, Die Vorwirkung von Gesetzen, 1974. 66 Zu unterscheiden sind faktische Bindungen: praktisch empfiehlt sich, daß der Gesetzgeber an dogmatische Figuren anknüpft, zumal oft dieselben Personen beteiligt sind. Rechtliche Bindungen sind differenziert zu sehen: grundsätzlich darf Dogmatik nicht Über-Gesetzgeber werden. Zum Teil vermittelt der Gleichheitssatz Bindungen: der Gesetzgeber darf nicht willkürlich dogmatische Formen und Inhalte vertauschen, er unterliegt Determinierungen durch die Sprache, vor allem unterliegt er (flexiblen) Bindungen aus dem „System", dazu Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, S. 43 ff., 124 f. 67 Zuletzt Roellecke l Starck, VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff. bzw. 43 ff. 68 Zu diesen „Wellenbewegungen": Bachof, Vie, VVDStRL 34 (1976), S. 276 ff. bzw. 304 f., 310 f. 69 Vgl. Dürig, V V D S t R L 34 (1976), S. 286 (Diskussion): Thieme, ebd. S. 296, insofern er für die Einfügung von Instrumenten des Planungsrechtsschutzes in die V w G O plädiert, nachdem das V w V f G die Planungsverfahren eingeführt hat.

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

darf die (normierende) K r a f t der Öffentlichkeit nicht gering geachtet werden 7 0 — sie w i r k t auch über das Medium der Verwaltungsgerichte als „Zweitinterpreten" (nach den Verwaltungsbehörden). Sie ist es, die Veränderungen i m Verwaltungsverfahren des Atom- und Immissionsschutzrechts etc. erzwungen hat, welche sich i m verwaltungsgerichtlichen Verfahren „fortpflanzen" 7 1 . Überdies w i r d die Grundsatzfrage erkennbar, was Verwaltungsgerichtsbarkeit leistet, was sie (noch) verantworten kann 7 2 , wo sie anderen, dem Gesetzgeber und der Exekutive, die „Vorhand" lassen muß 7 3 . Solche „großen" Zusammenhänge werden um so greifbarer, als heute die makroadministrative Dimension zunimmt 7 4 ; i h r Ausdruck sind die* mehrdimensionalen Rechtsgütergefüge 75 . Diese Entwicklungen vermitteln den Verfahren der Rechtsbildung i n der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine entsprechend neue, nicht problemlose Dimension. Im ganzen gewinnt der Gesamtzusammenhang Konturen: Die „offene Gesellschaft der Verwaltungsrechtsausleger" ist eine Teilgesellschaft der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. Als solche hat sie, haben ihre Beteiligten (etwa die Verwaltungsgerichtsbarkeit) ihre Funktion und Grenzen i m Gesamtsystem dieser Gesellschaft. Die Verwaltungsrechtsausleger entwickeln „Gesetz und Recht" i n arbeitsteiliger Kooperation zur gesamten Hand 7 6 . Die zeitlich und sachlich (nach Rechtsgebieten) variablen Beiträge (und Grenzverschiebungen) der einzelnen Beteiligten und die funktionell-rechtlichen Grenzen sind ein 70 Zur „Funktion und Ausgestaltung der Öffentlichkeitsbeteiligung im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren" vgl. die Referate in: Lukes (Hrsg.), Fünftes Deutsches Atomrechts-Symposium, 1977, S. 223 ff. 71 Vgl. die Formulierung von Knemeyer, VVDStRL 35 (1977), S. 221 (288). 72 Knemeyer, a.a.O., S. 288, fragt mit Recht, ob sich die Immissionsrechtsprechung nicht zuviel Verantwortung aufbürdet. 73 Dazu mit Material mein öffentliches Interesse (oben Anm. 25). — Vgl. auch die, unter funktionell-rechtlichem Aspekt „salomonische" Formulierung des O V G Lüneburg, DVB1. 1970, 190 ff. (Atomkraftwerk Stade), 195: „Diese Bedenken (sc. : Schädlichkeit kleinerer Strahlendosen) bedürfen indessen . . . noch der vertiefenden wissenschaftlichen Erörterung. Hierfür die erforderlichen I m pulse zu geben, ist Aufgabe der Verwaltung . . . Das Gericht . . . kann einen so weitgehenden Forschungsauftrag, an dessen Durchführung ein Interesse der Allgemeinheit besteht, schon mit Rücksicht auf die gesetzliche Regelung des Kostenrisikos . . . ζ. Z. nicht vergeben." 74 Dazu Schmidt-Aßmann, V V D S t R L 34 (1976), S. 221 (226 f.), s. auch S. 224: „administrative Gestaltungs- und Verteilungsaufgaben"; zu den mehrseitigen Verwaltungsrechtsverhältnissen ebd. S. 223 f., 236, 263 f.; zuletzt Weyreuther, DÖV 1977, 419 (420): „Planerische Gestaltung von Interessengeflechten". 75 Erichsen, V V D S t R L 35 (1977), S. 171 (208 f.); s. auch Scholz, VVDStRL 34 (1976), S. 145 (157): mehrseitige Verwaltungsmaßnahmen! 76 Treffend Zacher, V V D S t R L 25 (1967), S. 308 (396): „Aber das Gesetz kann im dialektischen Prozeß der Rechtsbildung ebensowenig auf Dauer entbehrt werden wie etwa die Doktrin und die Rechtsprechung."

31. Auf dem Weg zum Allgemeinen Verwaltungsrecht

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Sonderproblem; etwa i n Gestalt der Frage, wo sich wann der Gesetzgeber stärker einzuschalten hat, wann er (noch) abwarten muß 7 7 , ob er zu lange abgewartet hat, wo er zu spät kam (etwa i m atomrechtlichen Bereich!), i n welchem Rechtsgebiet die normierende K r a f t der Verwaltungspraxis „an der Front steht" usw 7 8 . Z u erinnern ist an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und Verantwortung der Verwaltungsgerichtsbarkeit: es gibt Bereiche, i n denen nur der demokratisch legitimierte Gesetzgeber entscheiden kann. Nach ihnen bemessen sich „judicial restraint" und „activism" von Gerichten 79 „ i n Verwaltungssachen" mit. b) „Verwaltungsrecht vor Verfassungsgerichten" Die angedeutete materielle Eigenwertigkeit des Verwaltungsrechts hat praktische funktionelle Konsequenzen. So wären Tätigkeit und W i r kung ζ. B. des BVerfG „als inzidentes Verwaltungsgericht" i n materiellund funktionell-rechtlicher Hinsicht etwa wie folgt zu untersuchen: Wo hat das BVerfG Erkenntnisse der Verwaltungsrechtsprechung und -Wissenschaft „ n u r " bestätigt, wo hat es gestaltend oder auch nur „anregend" i n verwaltungsrechtliche Kontroversen eingegriffen? Wie hat seine „Verwaltungsrechtsprechung" gewirkt usw.? A u f dem Hintergrund des Wechsel Verhältnisses des je Spezifischen von Verfassungsund Verwaltungsrecht sollte die Arbeitsteilung zwischen Verfassungsund Verwaltungsgerichten gesehen werden und aus funktionell-rechtlichen Gründen auch zugunsten der Verwaltungsgerichte durchschlagen und insoweit das Verfassungsgericht zum „restraint" zwingen 8 0 . Die These von der funktionell-rechtlich bedingten „fachgerichtlichen" Arbeitsteilung zwischen Verfassungsgerichten bzw. dem BVerfG und Verwaltungsgerichten w i r d freilich kompliziert: durch die beschriebene Wechselwirkung zwischen Verfassungs- und Verwaltungsrecht. Wenn 77 Vgl. Ipsen, AöR 97 (1972), S. 349 (415): eine allgemeine Kodifikation könne allenfalls Abschluß werden, nachdem in einer Fülle von Einzelfragen besonderer Verwaltungsgebiete dogmatische Anregungen der Theorie und der gerichtlichen Praxis erprobt worden seien. 78 Zum Problem „Modellgesetze" und „Verwaltung" bemerkenswert: Röttgen, V V D S t R L 16 (1958), S. 154 (S. 171 f.). 79 Dazu für das BVerfG: P. Häberle, NJW 1976, 537 (542 f.). 80 Unter diesem Gesichtspunkt sind aufschlußreich z.B.: BVerfGE 2, 380 (393 f.); 9, 63 (68), 137 (149 f.); 11, 245 (252); 12, 264 (269 f.); 26, 338 (396); 31, 364 (368 ff.); 35, 65 (77); 36, 230 (235); 37, 363 (392); 39, 238 (244); 41, 378 (391 f.); 42, 345 (360). — Ein Beispiel für funktionell-rechtlich richtige Arbeitsteilung zwischen dem BVerfG und der verwaltungsrechtlichen Judikatur: BVerfGE 35, 263 (269 f. bzw. 271 ff.). Naturgemäß finden sich auch deutliche Verzahnungen von verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Fragen in der Rechtsprechung des BVerfG, ζ. B. BVerfGE 6, 32 (44); 8, 155 (169 ff.); 10, 20 (48); 13, 153 (160 ff.); 15, 235 (239 ff.), 275 (281 f.); 20, 150 (158 ff.), 365 (372 f.), 238 (248 ff.); 26, 100 (110 f.); 40, 237 (248 ff.); 42, 103 (116 f.); 43, 34 (44 f.). — Richtig: Sondervotum Wand/ Niebier: E 43, 150 f.

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Ausgewählte Einzelfragen und spezielle Rechtsbereiche

die Verwaltungsgerichte als solche auch dem Verfassungsgericht Einsichten i n das Verfassungsrecht „nach oben" vermitteln können, dann muß ihnen hier (mindestens zunächst) auch die „Vorhand" gelassen werden: Verwaltungsrechtsjudikatur als Faktor bei der Entwicklung von Verfassungsrecht, die Verwaltungsrechtsausleger als „Verfassungsinterpreten i m engeren und weiteren Sinne" — das zeigt die Verzahnung von Verfassungs- und Verwaltungsrecht und belegt, daß die Verwaltungsgerichte partiell „Fachgerichte" von und für Verfassungsrecht, nämlich das „verwaltungsrechtliche Verfassungsrecht" sind! 8 1

c) Inkurs: Europarecht „ i m " deutschen Verwaltungsrecht Neue Dimensionen für den Rechtsbildungsprozeß i m Verwaltungsrecht erwachsen aus dem Hinzutreten des unmittelbar anwendbaren europäischen Gemeinschaftsrechts und der dazu gehörigen, über A r t . 177 EWGV wirkenden Dogmatik zum herkömmlichen Material des deutschen Richters 52 . Als „Schaltstelle" und Kristallisationspunkt den innerstaatlichen Rechtsordnungen entnommener Grundsätze 83 setzt der EuGH hinsichtlich der Auslegung des Gemeinschaftsrechts verbindliche Maßstäbe 84 ; für die innerstaatliche Rechtsbildung bietet er damit Anregungen und Alternativen. Relevante Themenbereiche sind etwa: die Grenzen der Ermessenskontrolle 85 , Grundsätze zur Anhörung 8 6 und Begrün81 Zu untersuchen wären die Bereiche des Verwaltungsrechts bzw. der Verwaltungsgerichte, in bezug auf die das BVerfG bisher seine Abgrenzungsformel vom „spezifischen Verfassungsrecht" angewandt hat (dazu Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht", 1976; meine Besprechung in DÖV 1977, 454 f.). Soweit ersichtlich, gibt es solche Entscheidungen selten. Ob die Verwaltungsgerichte verfassungskonformer judizieren als die ordentlichen Gerichte, mit denen sich Steinwedel vor allem befaßt? — Aufschlußreich die Forderung des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter: „Mehr Verwaltungsrichter an das Bundesverfassungsgericht", F A Z vom 25. 10. 1977, S. 4. 82 Zu Art. 177 E W G V Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964; Bleckmann, Europarecht, 1976, S. 139 ff. 83 Vgl. Lecheler, Der europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, 1971; Zieger, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Eine Untersuchung der Allgemeinen Rechtsgrundsätze, JöR n. F. 22 (1973), 299 ff. 84 Zum Problem der Bindungswirkung von Urteilen nach Art. 177 EWGV (erga omnes?) vgl. Lecourt, L'Europe des Juges, 1976, S. 269 ff. s. auch Urt. v. 9. 3. 1977, RS 41, 43 u. 44773, Sl