Freiheit, Gleichheit und Intoleranz: Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas [1. Aufl.] 9783839422922

Der Umgang mit dem Islam stellt die fundamentale Bewährungsprobe für die liberale Verfasstheit der westlichen Gesellscha

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Freiheit, Gleichheit und Intoleranz: Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas [1. Aufl.]
 9783839422922

Table of contents :
Inhalt
Einleitung – Die liberale Gesellschaft: Dr. Jekyll und Mr. Hyde?
Die liberale Demokratie erneuern
Das Buch
I. Politik/Recht
1. Recht – Muslime im säkularen Rechtsstaat und das Problem der effektiven Gleichberechtigung
2. Staat – Die Ambivalenzen der staatlichen Islampolitik
3. Parlamente, Parteien, Bewegungen – »Repräsentation ohne Partizipation« oder das Problem der Hegemonie in der Demokratie
4. Politische Kultur – Die Systemloyalität der Muslime
II. Gesellschaft
1. Bürgerliche Mehrheit – Von der Salon-Islamophobie zum System-Gesellschafts-Bruch
2. Muslimische Minderheit – Erforderliche Integration und anerkennungsfähige Segregation
3. Exkurs: »Ende der Gemütlichkeit« – Mittelschichtkrise und kultur-differenter Sozialdarwinismus
III. Medien
1. Massenmedien – Aufgeklärte Islamophobie und gesellschaftliche Kommunikationsethik
2. Social Media – Virtuelle Kreuzritter der neuen Öffentlichkeit
IV. Wissenschaft/Bildung
1. Wissenschaft und Intellektualismus – Die De-Liberalisierung der inszenierten Wissensgesellschaft
2. Schule – Die Pädagogik der (zögerlichen) Anerkennung des Islams
V. Kirche
Vermittlerin wider Willen
Zusammenfassung und Fazit – Verbindung durch Dialog
Kommunikative Solidarität und die Neuerfindung der liberalen Gesellschaft in Europa
Anmerkungen
Literatur

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Kai Hafez Freiheit, Gleichheit und Intoleranz

X T E X T E

X T E X T E Das vermeintliche »Ende der Geschichte« hat sich längst vielmehr als ein Ende der Gewissheiten entpuppt. Mehr denn je stellt sich nicht nur die Frage nach der jeweiligen »Generation X«. Jenseits solcher populären Figuren ist auch die Wissenschaft gefordert, ihren Beitrag zu einer anspruchsvollen Zeitdiagnose zu leisten. Die Reihe X-TEXTE widmet sich dieser Aufgabe und bietet ein Forum für ein Denken ›für und wider die Zeit‹. Die hier versammelten Essays dechiffrieren unsere Gegenwart jenseits vereinfachender Formeln und Orakel. Sie verbinden sensible Beobachtungen mit scharfer Analyse und präsentieren beides in einer angenehm lesbaren Form.

Denken für und wider die Zeit

Kai Hafez (Prof. Dr. phil. habil.), Politikwissenschaftler, lehrt internationale Kommunikation an der Universität Erfurt. Sein Forschungsschwerpunkt sind die islamisch-westlichen Beziehungen. Er war Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut und Fellow der Universität Oxford.

Kai Hafez

Freiheit, Gleichheit und Intoleranz Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Carolin Bierschenk, Bielefeld Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel ISBN 978-3-8376-2292-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung – Die liberale Gesellschaft: Dr. Jekyll und Mr. Hyde? | 7 Die liberale Demokratie erneuern | 12 Das Buch | 14

I. Politik/Recht | 19 1. Recht – Muslime im säkularen Rechtsstaat und das Problem der effektiven Gleichberechtigung | 22 2. Staat – Die Ambivalenzen der staatlichen Islampolitik | 54 3. Parlamente, Parteien, Bewegungen – »Repräsentation ohne Partizipation« oder das Problem der Hegemonie in der Demokratie | 72 4. Politische Kultur – Die Systemloyalität der Muslime | 93 II. Gesellschaft | 103 1. Bürgerliche Mehrheit – Von der Salon-Islamophobie zum SystemGesellschafts-Bruch | 106 2. Muslimische Minderheit – Erforderliche Integration und anerkennungsfähige Segregation | 163 3. Exkurs: »Ende der Gemütlichkeit« – Mittelschichtkrise und kultur-differenter Sozialdarwinismus | 194 III. Medien | 205 1. Massenmedien – Aufgeklärte Islamophobie und gesellschaftliche Kommunikationsethik | 207 2. Social Media – Virtuelle Kreuzritter der neuen Öffentlichkeit | 233

IV. Wissenschaft/Bildung | 247 1. Wissenschaft und Intellektualismus – Die De-Liberalisierung der inszenierten Wissensgesellschaft | 249 2. Schule – Die Pädagogik der (zögerlichen) Anerkennung des Islams | 263

V. Kirche | 285 Vermittlerin wider Willen | 285

Zusammenfassung und Fazit – Verbindung durch Dialog Kommunikative Solidarität und die Neuerfindung der liberalen Gesellschaft in Europa | 297

Anmerkungen | 323 Literatur | 333

Einleitung – Die liberale Gesellschaft: Dr. Jekyll und Mr. Hyde?

Nach dem Ende des Kalten Krieges glaubten viele Zeitgenossen an einen Siegeszug der liberalen Demokratie. Das System, in dem die individuelle Freiheit mit dem demokratischen Prinzip eine historisch einzigartige Verbindung eingegangen war, hatte sich durchgesetzt und galt weltweit als Vorbild für die politische und gesellschaftliche Entwicklung. Sogar über ein »Ende der Geschichte« im besten aller politischen Systeme wurde spekuliert (Fukuyama 1992). Tatsächlich konnte man nach den fürchterlichen Erfahrungen mit Kriegen und Vernichtung im 20. Jahrhundert den Eindruck gewinnen, dass es nunmehr echten zivilisatorischen Fortschritt in Richtung einer besseren menschlichen Gesellschaft geben würde. Auch heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem Berliner Mauerfall, haben Demokratie und liberale Gesellschaft keine ernst zu nehmenden Konkurrenten auf dem Markt der politischen Ideale – die arabischen Revolutionen waren nur die letzten weithin sichtbaren Zeichen für die universelle Ausstrahlung europäischer Konzepte. Zugleich allerdings mehren sich die Krisen des liberalen Politik- und Gesellschaftsmodells. Nicht nur, dass die Mutterländer der Demokratie in Nordamerika und Europa mit wirtschaftlichen Rückschlägen und schwindender Weltgeltung zu kämpfen haben, sondern es erwachsen auch Zweifel an der Substanz der liberalen Gesellschaft. Außenpolitisch hat die Demokratie nach den kriegerischen Reaktionen der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten auf die Terrorattentate von 2001 an Glaubwürdigkeit verloren. Hunderttausende Kriegsopfer in Afghanistan und Irak wegen einiger tausender Terroropfer, Vergeltung statt Gerechtigkeit: Das demokratische politische System agierte nach außen martialisch, und die Kriegslügen der Regierung George W. Bush bewiesen, wie manipulierbar und wenig partizipatorisch scheinbar demokratische politische Systeme in Wirklichkeit oft sind (K. Hafez 2009, S. 193ff.). Weitaus weniger beachtet wurde die Tatsache, dass auch im Inneren der Vereinigten Staaten und Europas Grundwerte der liberalen Verfassungsidee in Gefahr gerieten. »Guantánamo« ist nur das bekannteste Symbol für eine tief

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in amerikanische Rechtstraditionen eingreifende Infragestellung der liberalen Grundrechte im Zuge der Terrorismusbekämpfung. Mehr noch, nach dem Abtritt des Weltkommunismus wurde ein neuer Feind entdeckt, ein innerer Feind: die Einwanderer und ganz besonders der Islam und die Muslime. Während Migration generell auf die üblichen kulturell und sozial bedingten Abwehrreaktionen trifft, sind die Muslime eine ganz spezifische Gruppe, denn sie gelten nicht nur als sozial schwer zu integrieren, sondern auch als »5. Kolonne« des äußeren Feindes des islamistischen Terrorismus. Die Lage des Islams in Europa ist dabei besonders schwierig. In Europa stellen etwa 50 Millionen Muslime bei einer Gesamtbevölkerung von 700 Millionen Menschen eine immer sichtbarer werdende Minderheit von etwa 7 Prozent der Bevölkerung dar. Die Irritationen zwischen Mehrheit und Minderheit wachsen: die Rushdie-Affäre, Konflikte um Moscheebauten, Kopftuchdebatten, Karikaturenstreit, eine demoskopisch messbare Islamfeindlichkeit bei großen Teilen der Europäer und zunehmende Gewalt gegenüber Muslimen mit den Höhepunkten islamfeindlicher Morde in Deutschland und Norwegen. Rechtspopulistische Parteien, die sich in ganz Europa ausbreiten, haben die Potenziale des »Feindbildes Islam« rasch erkannt. Paradox, aber wahr: Während das Bekenntnis zu allgemeinen rassistischen Weltbildern und zu spezifischen Formen der Fremdenfeindlichkeit wie dem Antisemitismus in Europa einen historischen Tiefstand erreicht hat, ist Islamophobie salonfähiger denn je geworden. Der Westen mag die besten politischen Systeme überhaupt geschaffen haben – das Problem des gesellschaftlichen Rassismus’ hat er nicht gelöst. Unter dem Firnis von Menschenrechten und rechtlicher Gleichheit toben Kulturkämpfe, Territorialkonflikte und kulturelle wie religiöse Intoleranz. Wird die Angst vor dem Islam zum »Testfall für die abendländische Toleranz«, wie die deutsche linke Zeitschrift »Der Freitag« 2009 titelte?1 Ist die liberale Gesellschaft wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde: auf den ersten Blick honorig, im Grunde aber barbarisch? Die liberale Demokratie und die liberale Gesellschaft haben ihre Ursprünge ebenso in Nordamerika und sie haben Ableger in zahlreichen Weltregionen, in Lateinamerika, Asien und Afrika. Dennoch lässt sich die Konzentration des vorliegenden Buches auf Europa begründen. Eine Studie des World Economic Forums hat beispielsweise gezeigt, dass europäische Vorstellungen von einer kulturellen Unverträglichkeit, einem »Clash of Civilizations«, am stärksten und das Interesse an verbesserten islamisch-westlichen Beziehungen am geringsten ausgeprägt sind, geringer jedenfalls als in den Vereinigten Staaten oder in der islamischen Welt. Verbesserte Beziehungen werden von klaren Mehrheiten der europäischen Völker geradezu als Gefahr betrachtet, als Bedrohung der kulturellen Identität und der wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Integrität Europas (World Economic Forum 2008, S. 24f.). Obwohl die geopolitische Hauptkonfliktlinie in den letzten Jahrzehnten zwischen Staaten des Nahen

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und Mittleren Ostens und den USA verlaufen ist, muss man also offensichtlich streng zwischen kurzfristigen politischen Interessenkonflikten und langfristigen Entwicklungen politischer und gesellschaftlicher Systeme unterscheiden. Es wird sich im Verlauf der Darstellung zeigen, dass das europäische liberal-demokratische politische System bei der Integration und Anerkennung von Muslimen vielleicht sogar besser funktioniert als das US-amerikanische. Dennoch hat sich in der dortigen dezidierten »Einwanderungsgesellschaft« zumindest in Bezug auf Religionsfreiheit ein liberaleres multikulturelles Wertegefüge als in Europa etabliert. Wird die nationalkulturell geprägte Gesellschaft Europas den alten Orient-Okzident-Gegensatz jemals überwinden können? Die negativen Entwicklungen der Islamfeindlichkeit werden zwar nur selten in der breiten Öffentlichkeit diskutiert, sie sind aber keineswegs unbeachtet geblieben. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan, Amnesty International, mehrere deutsche Bundespräsidenten und andere Politiker in Europa haben vor der sich ausbreitenden Islamophobie gewarnt (v.a. Kap. I.2). Selbst der frühere Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, zog an der Wende zum 21. Jahrhundert Parallelen zwischen dem heutigen Islambild und historischen Bildern der Juden in Europa (Kap. II.1). Doch die besorgniserregenden Mahnungen des führenden jüdischen Vertreters in dem Land, das die Juden nahezu ausgerottet hat, verhallten zumindest in der Öffentlichkeit weitgehend ungehört. Islamfeindlichkeit hat seitdem in Europa nicht ab-, sondern eher zugenommen. Fundamentale Islamkritiker und Islamhasser erfreuen sich großer Publikumsgunst. Sie produzieren Bestseller auf den Buchmärkten und sind weithin präsent in den Massenmedien. Mit dem Internet hat sich gerade der Islamophobie eine ganz neue Welt erschlossen, in der die in anderen Medien immerhin noch sprachlich camouflierte Islamfeindlichkeit und pauschale Ablehnung des Islams und der Muslime nun auch öffentlich zum Ausdruck kommt, was früher nur am Stammtisch möglich war. Die Vorurteile gegen den Islam verlassen die »Salons« und machen sich auf dem digitalen Highway der Informationsgesellschaft breit. Reaktionen aus der Wissenschaft haben nicht lange auf sich warten lassen. Bereits in den 1990er Jahren begann man mit der Aufarbeitung des Islambildes westlicher Medien, nach den Attentaten von 2001 wurde zunehmend auch in teure demoskopische Studien zur »öffentlichen Meinung« investiert. Trotz definitorischer Schwierigkeiten haben sich die Begriffe »Islamfeindlichkeit« und »Islamophobie« mittlerweile etabliert (vgl. u.a. Esposito/Kalin 2011; Geissler 2003; F. Hafez 2010; Bühl 2010; Schneider 2010b; Sokolowsky 2009; Hippler/ Lueg 1993; Deltombe 2005; K. Hafez 1997a; Benz 2009; Bunzl/Hafez 2009). Allerdings sind die Gründe für Islamfeindlichkeit in Europa vielfältig, was auffällt, wenn man sich neben den negativen Erscheinungen auch die positiven Entwicklungen vor Augen hält. In Europa werden Moscheen gebaut, Islamunterricht wird an Schulen eingeführt, europäische Gerichte streiten um die

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Gleichberechtigung religiöser Symbole im staatlichen Raum, Parteien fordern Repräsentanzquoten für Migranten und selbst der Konservatismus hat sich von seiner früheren Blut-und-Boden-Ideologie getrennt und erkennt zähneknirschend die Realitäten der multikulturellen Gesellschaft an. In den Medien sind trotz aller Hypes und »moralischen Panik« (Schiffauer 2006, S. 95) auch kritische Stimmen zu hören, die Wissenschaft führt eine »Orientalismusdebatte« und Schulen bemühen sich um eine Pädagogik der kulturellen Vielfalt. Wir haben es also bei der Islamfeindlichkeit nicht mit einem allumfassenden Phänomen zu tun, sondern mit einer Ideologie der Intoleranz, der liberale Einflüsse gegenüberstehen. Der »Mythos der liberalen Gesellschaft« (Nielsen 2004a) entwickelt sich teilweise zur Realität fort – in anderen Bereichen besteht er aber weiterhin. Zu den Problemzonen des Liberalismus gehören die nur sehr langsam fortschreitende rechtliche Gleichstellung des Islams, die noch immer unzureichende politische Vertretung von Muslimen, rassistische Netzwerke, pseudoliberale öffentliche Meinungsführer und Intellektuelle, die sich dem reaktionären Zeitgeist andienen, und beharrende Traditionen eines eurozentrischen Weltbildes in Wissenschaft und Schule, von den theologischen Wahrheitsansprüchen christlicher Kirchen ganz zu schweigen. Die Bilanz ist schwierig. Manches weist darauf hin, dass europäische Rechtssysteme und auch Teile des politischen Systems, also der Staat, eher zu einer liberalen Anerkennung des Islams fähig zu sein scheinen als die nichtstaatlichen Sphären der Öffentlichkeit und der Gesellschaft. Der Staat kann bei der Anerkennung des Islams immerhin einige Erfolge vorweisen, in den europäischen Gesellschaften aber verhärtet sich das Problem der Islamfeindlichkeit. Die Realität Europas wäre dann kein »Mythos«, sondern eine sehr durchmischte Bilanz, eben »Freiheit, Gleichheit und Intoleranz«. Damit wächst auch die Gefahr einer Krise im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in Europa. Die paradoxe Verbindung aus »liberalen« Werten, die gleiche Rechte für jedes einzelne Individuum fordern, und der »Demokratie«, die der Mehrheit die Macht zubilligt, droht auseinanderzubrechen. Während die Rechtssysteme und Teile der Politik »Freiheit« und »Gleichheit« vor dem Gesetz auch für Muslime durchzusetzen versuchen, verweigert ein großer Teil der Gesellschaft der größten religiösen Minderheit Europas die »Brüderlichkeit«. Wie lange kann ein politisches System bestehen, das nicht von der politischen Kultur und den Werten einer Gesellschaft insgesamt mitgetragen wird? Wie krisenfest, wie anfällig ist es? Auf der Basis der freiheitlichen Ordnung des Westens hat man die marxistisch-leninistischen Versuche, einen »neuen Menschen« zu erziehen, stets als totalitär und Ausdruck maximaler Unfreiheit verworfen. Heute steht der Westen vielleicht selbst vor der Herausforderung, dass sich seine Systeme schneller entwickeln als seine Bürger und Kulturen. Lieber heute als morgen würden rechtspopulistische Parteien in Europa den liberalen Verfassungskonsens

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aufkündigen und radikale plebiszitäre Demokratien etablieren, in denen sich die kulturelle Hegemonie der Mehrheit dann frei entfalten könnte (F. Decker 2006, S.  24ff.). Würde sie sich durchsetzen, käme dies einem Selbstvernichtungsprogramm der politischen Ordnungen gleich. Um dieser Gefahr zu begegnen, muss sich die liberale Gesellschaft zu einer wirklich pluralistischen Gesellschaft weiterentwickeln, in der die liberalen Werte der Verfassung durch eine breite Anerkennung kultureller und religiöser Vielfalt gestützt werden. Probleme dieser Art existieren überall auf der Welt in ähnlicher Weise. Einige arabische Staaten haben mit der Demokratisierung begonnen, sind deswegen aber noch lange nicht als tolerant zu bezeichnen. Ganz im Gegenteil: Jeder Schritt der Liberalisierung politischer Systeme führt in den Gesellschaften zu wertekonservativen Gegenreaktionen (K. Hafez 2012). Dass Politik und Gesellschaft sich mit unterschiedlichem Tempo entwickeln, ist eine universelle historische Erfahrung. Muslime bringen denn auch konservative und bisweilen reaktionär anmutende Einstellungen mit nach Europa – dennoch muss man sich fragen, ob die Muslime Europas wirklich das eigentliche Problem darstellen. Nicht nur, dass eine genaue Analyse der »Defizite der Integration« an der Unklarheit des Begriffs der Integration scheitert, der verfassungsrechtlich nur insofern definiert ist, als von jedem Bürger Loyalität gegenüber dem Rechtsstaat verlangt wird. Eine komplette Assimilation von Einwanderern kann in einer »liberalen Gesellschaft« ja auch gar nicht gefordert werden. Man muss sich fragen, ob von einer religiösen Minderheit, deren Bevölkerungsanteil in Europa bei 7 Prozent liegt, tatsächlich eine systemgefährdende Kraft ausgehen kann. Viel wahrscheinlicher ist es doch, dass es allein der Mehrheit selbst gelingen kann, das System der liberalen Demokratie zu unterwandern. Sie müsste dazu lediglich ihre hegemoniale Macht einsetzen, um die Kernidee des Säkularismus – die Gleichheit vor dem Gesetz – abzuschaffen oder zumindest Minderheiten wie den Muslimen Toleranz und Anerkennung zu verweigern, um auf diesem Weg den sozialen Frieden zu gefährden. Der innere Feind Europas wäre dann nicht der europäische Muslim – es wäre Europa selbst. Für die Muslime, gleich ob sie religiös, hochreligiös oder atheistisch orientiert sind, stellt sich die Frage, wie sie mit der gegenwärtigen Lage umgehen sollen. Welchen Weg sollen sie wählen: Anpassung, Abschottung oder sollen sie für politische, gesellschaftliche und kulturelle Anerkennung durch die Mehrheitsgesellschaft werben? Assimilation und Segregation, das lehrt die Geschichte, schützen religiöse Minderheiten nicht vor Diskriminierung und gewaltsamen Übergriffen in Krisenzeiten, sie sind also keine probaten Strategien für das 21. Jahrhundert. Was bleibt, ist die Suche nach »Anerkennung«, nach »Verbindung durch Konflikt«. So seltsam es klingen mag, da man sich daran gewöhnt hat, die Rückständigkeit der Muslime Europas zu betonen: Durch eine gelungene Form der gesellschaftlichen Partizipation könnten sie sogar zur Avantgarde einer neuen globalen Emanzipationsbewegung werden, in der, ganz wie es den

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Forderungen der Vereinten Nationen entspricht, kulturelle Vielfalt nicht mehr als Störfaktor gilt, sondern als kreatives Entwicklungspotenzial der Nationalstaaten anerkannt wird (Modood 2006, S. 46).

D IE LIBER ALE D EMOKR ATIE ERNEUERN Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Wissenschaft muss die gegenwärtige Stellung der Muslime und des Islams in Europa nüchtern bilanzieren. Reformvorschläge sind erforderlich. Integrationspolitische Gipfeltreffen, Antidiskriminierungsgesetze und Schulreformen: All dies gibt es schon – aber reicht das aus? Debatten über die Zukunft des multikulturellen Liberalismus wurden in den letzten Jahrzehnten von politischen Philosophen beherrscht. Neben Jürgen Habermas haben sich etwa Michael Walzer, Charles Taylor, Bhikhu Parekh, Will Kymlicka und Seyla Benhabib mit dem Problem beschäftigt, wie man das klassische liberale Denken, das zwar rechtliche Freiheiten schuf, aber auch eine »kalte Toleranz« und mangelnden Gemeinschaftssinn in westlichen Gesellschaften erzeugt hat, zur Multikulturalität weiterentwickeln kann. Auf der Suche nach einem neuen Konsens spielen Appelle an kulturelle »Anerkennung« (recognition) eine ebenso große Rolle wie ein Nachdenken über spezielle Minderheitenrechte oder auch kommunitaristische Identitätsentwürfe eines »multikulturellen Nationalismus«. Die Frage steht im Raum: Braucht Europa einen neuen liberalen Konsens, und wenn ja, wer sind alte und neue Liberale? Interessant ist auch eine Gruppe von radikaleren Denkern, die einen grundsätzlichen zivilgesellschaftlichen Umbau westlicher Politiksysteme befürworten. Chantal Mouffe wendet sich gegen die Idee, die westliche Gesellschaft befinde sich bereits am »Ende der Geschichte« ihrer eigenen Entwicklung. Sie hält im Gegenteil die emanzipatorische Kraft westlicher Politiksysteme für begrenzt, weil Menschen in ihnen nur begrenzt partizipieren können (Mouffe 1993). Gerade die (Habermas’sche) Verpflichtung zum Konsens zwinge die Bürger dazu, etwa marxistische Gerechtigkeitsentwürfe aufzugeben, was unter anderem das Problem der Radikalisierung rechtspopulistischer Parteien erst schaffe (Mouffe 2005, S.  69ff.). Bei Mouffe bleibt aber nicht nur unklar, wie sie die repräsentative Demokratie umbauen will. Das Problem ist auch, dass basisdemokratische Ansätze zwar eine probate Lösung für viele Zukunftsfragen sein mögen, mit Blick auf das Verhältnis zwischen ethnischen oder religiösen Mehrheiten und Minderheiten den Rassismus allerdings geradezu verstärken können. Es ist nicht klar, wie die neue zivilgesellschaftliche Gruppenmacht sich zum Verfassungskonsens stellen und wie sie mit kulturellen Hegemonien umgehen würde. Ähnliches gilt auch für Colin Crouchs populäre These von der »Postdemokratie« (Crouch 2004). Einerseits sind hier fortschrittliche Plädoyers für eine Weiterentwicklung der westlichen Demokratie durch soziale Bewegun-

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gen und mehr direkte Bürgerbeteiligung zu erkennen. Andererseits sind Gefahren für Minderheiten gerade in der radikalen Basisdemokratie nicht von der Hand zu weisen. Das europäische Land, das Vorstellungen der direkten Demokratie am nächsten kommt – die Schweiz –, hat bislang als einziges ein Verbot für den Bau von islamischen Minaretten auf Moscheen verhängt. Dieses Gesetz wäre in Systemen mit einer stärkeren Stellung des liberalen Rechtsstaates und einer effektiveren Gewaltenteilung wahrscheinlich als Eingriff in die Religionsfreiheit abgelehnt worden. Letztlich ist eben auch der Rechtspopulismus eine plebiszitäre Bewegung. Sowohl die Reformideen des Mainstream-Liberalismus als auch radikale Gegenentwürfe leiden unter einem gemeinsamen theoretischen Bias: Leistung und Versagen der Demokratie werden stets am politischen System festgemacht, an den Funktionshebeln der Macht, seinen Ideologien und Institutionen. Der Mensch, die Gesellschaft, unsere Kultur und unsere Fähigkeit zum Dialog werden selten thematisiert. Näher an der Realität ist daher Iris Marion Young, feministische Autorin, aber auch Vordenkerin einer neuen Politik der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, wenn sie die fünf Gesichter der Unterdrückung und der versteckten Hegemonie in der liberalen Demokratie benennt: soziale Ausbeutung, wobei gerade Minderheiten oft Opfer einer »Hyperausbeutung« als Illegale und Rechtlose werden; Marginalisierung durch Arbeitslosigkeit; Machtlosigkeit durch mangelnde Repräsentanz im politischen System; kultureller Imperialismus durch die Mehrheit in Institutionen, Öffentlichkeit, Medien und Kultur; sowie Gewalt, nicht zuletzt rassistische Gewalt (Young 1990, S. 39ff., 51). Selbst wenn es also der Fall sein sollte, dass sich die politischen Systeme bei der Islamfrage schneller entwickeln als ihre Bürger, bedeutet dies noch lange keine Stabilität für die liberale Gesellschaft. Gerade ein Land wie die Niederlande mit seiner einstmals vorbildlichen Toleranzpolitik, die aber weder vor verbreiteter Islamfeindlichkeit noch vor dem Aufschwung rechtspopulistischer Kräfte schützte, zeigt: Integrations- und Anerkennungspolitik allein führen noch nicht zu Integration und Anerkennung.2 Es geht also nicht um eine Ehrenrettung oder begrenzte Reformen der elitären repräsentativen Demokratie, die bei den Vordenkern wie Kymlicka, Taylor oder Walzer ohnehin stets interne Widersprüche erzeugt haben. Es geht aber auch nicht um radikale theoretische Bilderstürmerei von Systemen, deren fortschrittliche Kraft noch nicht vollständig erschöpft ist und die erst dann durch zivilgesellschaftliche Modelle ersetzt werden sollten, wenn deren kulturhegemonialen Nebenwirkungen hinreichend durchdacht sind. Auf eine einfache Formel gebracht, wird es in der Zukunft um eine gesamtgesellschaftliche Neuerfindung der Demokratie gehen: mehr politische Partizipation für den Bürger, aber auch mehr gesellschaftliche Anerkennung von Pluralität durch den Bürger.

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D AS B UCH Das vorliegende Buch bietet keine einheitliche Utopie, wie die Grundwidersprüche zwischen liberalen und demokratischen Reformideen aufgelöst werden können. Vielmehr wird der Versuch unternommen, Youngs Problemaufriss durch eine vielfältige theoretische Betrachtung im Hinblick auf die Stellung des Islams in Europa zu unterfüttern. Alle zentralen Paradigmen sollen beteiligt werden: Macht und System, Handeln und Gesellschaft, Kommunikation und Medien, Wissen und Wissenschaft/Bildung sowie Transzendenz und religiöse Institutionen. Es ist hier und jetzt nicht die Zeit, klassische Streitfragen zwischen System- und Handlungstheorie wieder aufleben zu lassen, sondern es bedarf eines pragmatischen Umgangs mit Theorie. Viele epochemachende Theoretiker waren durchaus zu Synthesen bereit, etwa Jürgen Habermas, der sich nicht nur vom marxistischen Menschheitsbegriff löste und zum Individuum als Träger gesellschaftlichen Handelns vordrang, sondern auch ungeachtet seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« Funktionslogiken politischer und medialer Systeme nie aus dem Blick verlor (Joas/Knöbl 2011, S. 321). Bereits ein kurzer Blick in die Forschungsliteratur genügt, um zu erkennen, dass gerade die Untersuchung der Ursachen von Rassismus in allen denkbaren Theoriebereichen angesiedelt ist. Ideologie, Macht, Medien, soziale Kontakte und die Rolle von Bildung: Eine komplexe Analyse der Stellung des Islams in Europas liberaler Demokratie und in der liberalen Gesellschaft kann es sich nicht leisten, Perspektiven auszulassen. Integrierte Analysen sind erforderlich, die das Thema aus den Fängen isolierter staatsrechtlicher, integrationstheoretischer oder kulturwissenschaftlicher Betrachtungen herauslösen und es in größere Zusammenhänge der Demokratie- und Gesellschaftsreform einbetten. In diesem Buch werden die einzelnen Kapitel zu den Bereichen »Politik/ Recht«, »Gesellschaft«, »Medien« und »Wissenschaft/Bildung« jeweils durch theoretische Vorüberlegungen eingeleitet. Diese bewegen sich grundsätzlich auf zwei Ebenen. Aus der Perspektive der eher normativ orientierten Liberalismus- und Demokratietheorie wird die Frage gestellt, welche Funktionen individuelle und kollektive Akteure in Politik und Gesellschaft jeweils übernehmen sollten. Bei »Politik und Recht« (Kap. I) werden alle Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative abgedeckt. Es geht um die Rolle von Rechtsnormen und -praxis, um die Interessen des parlamentarischen Raumes, der Parteien, Interessenverbände und sozialen Netzwerke sowie um die Mittlerstellung, die gerade Regierungen zwischen liberaler Verfassung und hegemonialer Politik einnehmen. Ergänzt wird das Kapitel durch einen Einblick in die politischen Einstellungen und die politische Kultur von Minderheiten und Mehrheiten. Mit Blick auf die »Gesellschaft« (Kap. II) stehen verschiedene Elemente der Sozialtheorie im Vordergrund. Im Zentrum der Aufmerksamkeit liegt die Toleranzund Anerkennungstheorie, da gerade diese in liberaler Tradition die Freiheit

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von Individuen und Gruppen betont. Auch die heute bei der Diskussion von Minderheiten sehr präsente Integrationstheorie wird berücksichtigt, ebenso konflikttheoretische Ansätze. In einem Exkurs wird zudem die neomarxistisch orientierte Kritik des Neoliberalismus aufgegriffen. Bei der Analyse von »Medien« (Kap. III) liegt der Schwerpunkt im Bereich der Öffentlichkeitstheorie, allerdings erweitert um spezifische Bezüge zu multikulturellen Öffentlichkeiten und Gedanken über Kommunikationsethik. Anders als bei Massenmedien verlagert sich der theoretische Blickwinkel bei der Diskussion des Internets zu anderen Theorierichtungen, etwa zur Diskursanalyse von Michel Foucault, zur Feldtheorie von Pierre Bourdieu oder zum Symbolischen Interaktionismus von George Herbert Mead. Institutionentheoretische Verortungen in den Bereichen »Wissenschaft/Bildung« (Kap. IV) und »Kirche« (Kap. V) erfolgen im Rückbezug auf die Ausführungen zu Recht, Politik, Gesellschaft und Medien. Im Vordergrund steht die Frage, welchen Beitrag die Institutionen zu den liberalen Grundfragen von »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« leisten: Inwieweit vermitteln sie Wissen und Werte der multikulturellen Gesellschaft – Stichworte: »globales Wissen«, »Wissensgesellschaft« – und welche Hilfestellung geben sie beim Dialog zwischen Mehrheit und Minderheit? Wenn die Gliederung des Buches eine Orientierung an einzelnen Subsystemen der Gesellschaft aufweist, so sind systemtheoretische Bezüge durchaus beabsichtigt. Denn als zweites Element neben der normativen liberalen Theorie fließen funktionalistische Paradigmen in die Theoriebildung ein. Hier betrachten wir die Dinge nicht mehr nur aus dem idealisierenden Blickwinkel der Demokratietheorie und der freiheitlichen Werteordnung, sondern wir reflektieren utilitaristische Interessen der Akteure. Es geht um autonome Bestrebungen der Subsysteme, aber auch um den Zwang zur Anpassung an gesellschaftliche Umwelten oder gar um Expansionsbestrebungen von Teilsystemen, die sich in die Funktionsbereiche anderer Akteure ausdehnen, kurz: Es geht hier nicht mehr um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern um Überleben, Anpassung und Hegemonie. Die Politik kann den idealen Tugendpfad von Liberalismus und Demokratie verlassen und zum Populismus neigen; aus der Toleranzkultur kann eine Unkultur werden, beherrscht von Territorial- und Behauptungskämpfen zwischen Alteingesessenen und Einwanderern; Medien können sich populären Stereotypen verschreiben; Kirchen können um ihre in der liberalen Theorie ohnehin umstrittenen Rechts- und Gesellschaftsprivilegien fürchten; Wissenschaft und Schule können statt das vorurteilsfreie Lernen zu fördern zur eurozentrischen Besitzstandswahrung neigen: Wissen als Macht. Es wird sich zeigen, dass die reale Situation der Muslime in Europa am besten durch eine Mischung aus normativen und funktionalistischen Interpretationen erklärbar ist. Das Theorieverständnis dieses Buches ähnelt wohl am ehesten dem von Denkern wie Talcott Parsons oder Jürgen Habermas. Anders als der etwa in Deutschland bekanntere Niklas Luhmann war Parsons zumindest

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in der Anlage seiner Theorie bemüht, unterschiedlichen Einflüssen Raum zu verschaffen, dem individuell-utilitaristischen Handeln (»ich will«), dem gesellschaftlich-normativen Wertehandeln (»ich sollte«), der gesellschaftlichen Systemperspektive (»ich muss«) und auch dem interaktiven Handeln (»Was will, soll, muss ich?«) (Parsons 1964, 1968). Luhmanns spätere Radikalisierung des Systemaspekts, bei dem Wertebezüge ebenso entfielen wie System- und Interaktionseinflüsse außerhalb des vom Individuum selbst konstruierten Gefüges (Autopoiesis), wird in diesem Buch nicht nachvollzogen. In der Anlage kommt das Parsons’sche Denken einem multipolaren Verständnis, wonach menschliches Handeln wie in einem »Fließgleichgewicht« sowohl Eigen- als auch Fremdlogiken, egoistischen wie auch altruistischen Bezügen, Freiheiten und Strukturen folgt, am nächsten. Diese Grundanlage hat Parsons weitgehend in seinem berühmten AGIL-Schema (Anpassungsverhalten, persönliche Zielverfolgung, Integration, kulturelle Wertestruktur) zum Ausdruck gebracht. Allerdings ist der Interaktions- und Kommunikationsbegriff in anderen Theorierichtungen wie dem Symbolischen Interaktionismus, die er als seinem eigenen Konzept verwandt erachtete, stärker entwickelt worden. Jürgen Habermas schließlich ist nicht nur als einer der Wegbereiter der Öffentlichkeitstheorie bekannt geworden, sondern er hat sich in seiner späteren »Theorie des kommunikativen Handelns« und seinem Konzept der »Lebenswelt« intensiv mit Parsons auseinandersetzt und sein eigenes Werk auf ihn bezogen (Habermas 1990, 1995). Das vorliegende Buch beschäftigt sich im Schwerpunkt damit, die Forschung zum Islam in Europa auszuwerten und sie in Bezug zu den theoretischen Vorüberlegungen zu setzen. Inwieweit erfüllen Staat und Gesellschaft, Mehrheit und Minderheit, Medien3 und Institutionen die in sie gesetzten Erwartungen und wie lassen sich systemische Abweichungen erklären? Das Buch bemüht sich überwiegend um eine Aufarbeitung des existierenden Forschungsstandes mit Schwergewicht auf Ergebnissen der empirischen Sozialforschung aus unterschiedlichen Fächern wie Politikwissenschaft, Soziologie, Medienund Kommunikationswissenschaft, Kulturwissenschaft, Religionswissenschaft und Pädagogik. Gerade im Bereich der Medienforschung hat der Autor selbst über lange Jahre empirische Arbeiten beigesteuert (K. Hafez 2002a, 2002b; K. Hafez/Richter 2007). Wo sich bei der Beschreibung der Lage der Muslime in Europa empirische Lücken auftaten, etwa bei der schulischen Lehrplanevaluation, wurden diese so gut es ging gefüllt, um Tendenzen aufzeigen zu können. Die Analyse dieses Buches konzentriert sich vor allem auf Zentral-, Nordund Westeuropa, mit gelegentlichen Abstechern nach Südeuropa. Der Fokus auf Deutschland erfolgt überwiegend aus forschungspragmatischen Gründen. West-, Nord- und Zentraleuropa bilden insofern einen homogenen Raum, als hier seit dem Zweiten Weltkrieg durchgehend demokratische Ordnungen existiert haben. Aus diesem Grund werden auch Süd- und Osteuropa kaum in die Analyse einbezogen, denn die demokratische Entwicklung verlief in diesen Tei-

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len des Kontinents verzögert. Die schier unübersichtliche Forschungslage zum Islam in Europa macht zudem eine Konzentration auf ein Land erforderlich: Von einer dichten Analyse Deutschlands ausgehend werden in diesem Buch systematisch Vergleiche zu anderen europäischen Ländern gezogen. Die Auswahl Deutschlands als Kernland der Analyse ist dabei zufällig und den Kompetenzen des Autors geschuldet. Trotz der überaus problematischen deutschen Vergangenheit, die mit dem Begriff des »Holocaust« verbunden ist, geht der Autor nicht davon aus, dass Deutschland mit dem Islam ein besonderes Problem hat, das erheblich von dem anderer Länder abweicht. Deutschlands Politik und sein Gesellschaftssystem haben vielfach Synthesen insbesondere aus britischen und französischen Modellen gebildet. Deutschland liegt also schlicht mitten in Europa.

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I. Politik/Recht

Die »liberale Demokratie« ist durch zwei Ziele gekennzeichnet: den liberalen Rechtsstaat und demokratische Souveränität. Beide Prinzipien gehören eng zusammen, sind aber keineswegs konfliktfrei und entspringen verschiedenen Quellen und Überlegungen. Für den Rechtsstaat gilt der naturrechtliche Grundgedanke, dass erst die Gründung von Staaten einen Ordnungsrahmen schafft, der jedes einzelne Individuum schützt. Vordenker wie John Locke (»Two Treatises of Government«, 1689) oder Immanuel Kant (»Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«, 1784) waren der Auffassung, dass es keine Freiheit ohne Ordnung geben könne: Menschen vereinbaren Verfassungen, und Gemeinschaften begründen Rechtsstaaten, die prinzipiell jedem einzelnen Mitglied ein Existenzrecht sichern. Dies findet seinen Ausdruck in den Grund- und Menschenrechten, wobei erstere im modernen Völkerrecht Vorrang vor nationalem Recht genießen. In der liberalen Demokratie gibt es kein von den Interessen des Bürgerschutzes abgehobenes Staatsziel und der Staat ist nur dann legitim, wenn er dies begreift und umsetzt. Versagt die Schutzfunktion des Staates, zum Beispiel in rechtlosen Diktaturen, gilt es, das Individuum vor dem Staat zu schützen (Schönherr-Mann 2000, S. 12ff.). Der Liberalismus ist diejenige geistige und politische Bewegung, die die Grundrechte und im Zweifel auch den Schutz des Individuums vor dem Staat erkämpft hat. Die liberale Idee bildet die grundsätzliche Gerechtigkeitsstruktur nahezu aller westlichen Demokratien in Europa und Nordamerika. Dem Staat wird das Gewaltmonopol übertragen, damit er die Rechte des Individuums schützt, und zwar ohne Ansehen von Geschlecht, Hautfarbe und Religionszugehörigkeit. Der liberale Staat ist daher im Kern anti-fundamentalistisch, was auch erklärt, warum sich der Westen von der Spielart eines islamischen Fundamentalismus herausgefordert fühlen muss. Die europäische historische Grundlegung des modernen Staatsgedankens fand in direktem zeitlichem und intellektuellem Zusammenhang mit der Beendigung fundamentalistischer Kämpfe im Dreißigjährigen Krieg statt. An der Wiege der westlichen Moderne standen sehr wohl radikale Fundamentalismen, die sich gerade im Zuge der Reformation Bahn brachen (K. Hafez 2009), aber solche Ansätze wurden im Rechtsstaat

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überwunden, der sich dann im Laufe der Jahrhunderte zur Idee der liberalen Gleichheit der Grundrechte und der Gleichheit vor dem Gesetz entwickelte. Eine verbreitete Begriffsverwirrung besteht darin, »Liberalismus« etwa mit »Neoliberalismus« als einer bestimmten Idee der Verteilungsgerechtigkeit gleichzusetzen, was aber hier nicht gemeint ist. Der Liberalismus wird nicht als die Ideologie einer bestimmten Partei oder Gruppe, sondern als Grundidee des heutigen westlichen Staates verstanden, dessen Institutionen und politische Kultur liberal geprägt sind (Langewiesche 1988, S. 287; Kymlicka 1997, S. 96). In dem Sinne, dass wir alle die Grund- und Menschenrechte und die Rolle des Staates und des Gesetzes zu deren Verwirklichung anerkennen müssen, macht es sogar Sinn, wie Ralf Dahrendorf dies formulierte, von einer »liberalen Gesellschaft« überhaupt zu sprechen (Dahrendorf 1987, S. 237) – eine Überlegung, die auch im Zentrum des vorliegenden Buches steht. Die wesentlichen politischen Parteien, die heute in Europa und den USA den Ton angeben, tragen diesen liberalen Grundkonsens, der nach dem Zweiten Weltkrieg etwa in Deutschland zur verbindlichen Verfassungsgrundlage wurde. Zwar sind unterschiedliche philosophische Herleitungen von Politik möglich – christlich, atheistisch, sozialistisch oder konservativ –, den liberalen Grundkonsens aber teilen sie alle. Autoritär-romantische, religiöse oder sozialistisch-kommunistische Ideologien wurden im liberalen Rechtsstaat transformiert. Rainer Koch hat davon gesprochen, dass mit der Liberalisierung der politischen Systeme insgesamt ein Bedeutungsverlust des parteipolitischen Liberalismus einherging (Koch 1986, S. 280). Die liberalen Parteien in Europa sind heute weitgehend Vertreter einer libertinistischen oder neoliberalen Wählerklientel, sie haben aber längst kein Monopol mehr auf die liberale Staats- und Gesellschaftsidee, die, abgesehen von radikalen Gruppen, von allen politischen Kräften getragen wird. Die Idee der »liberalen Demokratie« erschöpft sich allerdings nicht im liberalen Rechtsstaat, sondern sie wird ergänzt durch die Prinzipien der Demokratie: Volkssouveränität, Wahldemokratie, in der Regel als repräsentative Demokratie angelegt, gelegentlich aber auch als Mischform mit Elementen der direkten Demokratie. Was oft in einem Atemzug genannt wird – liberaler Rechtsstaat und Demokratie –, ist in Wirklichkeit ein sehr fragiles und konfliktreiches Gebilde. Das Prinzip gleicher Grundrechte und die Neutralität des Staates stehen dem Konzept der demokratischen Mehrheitsfindung gegenüber. In der Gewaltenteilung sind die unterschiedlichen Maximen verschiedenen Gewalten zugeordnet: Der Rechtsstaat geht in der Judikative auf, die Demokratie wird von Legislative und Exekutive gestaltet. Zudem bestehen Wechselwirkungen. So werden etwa die Gesetze, welche die nähere Ausführung von Grundrechten betreffen, von Parlamenten gemacht und von Regierungen umgesetzt. Entscheidungen werden insofern von Mehrheiten beschlossen, die in Extremfällen 49 Prozent einer Gesellschaft ausschließen: ein Zustand, den Alexis de Tocqueville in seinem Werk »Über die Demokratie in Amerika« bereits Mitte des 19. Jahrhunderts

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als »Tyrannei der Mehrheit« kennzeichnete (de Tocqueville 1985, S. 160ff.). Natürlich werden in den meisten Staaten Gesetze von den Verfassungsgerichten auf ihre Verfassungstreue geprüft, aber die Gerichte selbst werden nach politischem Proporz besetzt, und Gesetzestexte wie auch die Rechtspraxis – dies betrifft alle Ebenen der Gerichtsbarkeit – sind daher nicht frei von Prägungen der Mehrheitsgesellschaft. Ähnliches gilt auch für den Staat selbst, also für die Institutionen der Exekutive. Zwar hat der Staat im Prinzip die Rolle eines Verwirklichers des Grundrechtsanspruchs des Menschen, aber die Gesetze und Institutionen werden von Mehrheiten beeinflusst, die »Grundrechte« wie das Recht auf Religionsfreiheit häufig auf ihre eigene Art interpretieren. Es ist daher nicht auszuschließen, dass es strukturelle Diskriminierungen gegenüber bestimmten Minderheiten im Bereich des staatlichen Handelns gibt, dessen Einzugsbereich ja gerade in den etatistischen Systemen Europas recht groß ist. Die staatliche Bürokratie ist, mehr als etwa in den Vereinigten Staaten, in nahezu allen Gesellschaftssektoren aktiv tätig. Im Bereich der Legislative und des Parteiwesens setzt sich die Problematik fort. Was nützt Minderheiten aller Art ihr fundamentaler rechtlicher Gleichheitsanspruch, wenn sie in den willensbildenden Organisationen der Demokratie zu wenig repräsentiert werden? Es mag mithilfe der Gerichte gelingen, ein bestimmtes Recht geltend zu machen, aber politisches Handeln in modernen liberalen Demokratien lässt sich nicht vollständig und nur zu einem geringen Teil durch das Rechtswesen bestimmen, das im Grunde nur die »Spitze des Eisbergs« gesellschaftlicher Konflikte regeln kann. Die liberale Demokratie ist daher nicht automatisch ein politisches System der gleichberechtigten Teilhabe von ethnischen oder religiösen Minderheiten. Ganz im Gegenteil, es eröffnen sich weite Räume ethnozentrischer Hegemonie, ein Problem, das von Theoretikern des Liberalismus bis vor einigen Jahrzehnten zu sehr vernachlässigt wurde. Da letztlich die institutionelle Politik der repräsentativen Demokratie nur eine beschränkte Reichweite hat und gesellschaftliches Handeln weit darüber hinausgeht, sind auch »politische Kulturen« in den letzten Jahren immer mehr beachtet worden. Sie repräsentieren die – in den einzelnen demokratischen Staaten durchaus unterschiedlichen – Normen, Werte und Einstellungen, mit denen der Politik begegnet wird. »Verfassungspatriotische« Grundhaltungen sind extrem wichtig, damit die Menschen in einer Gesellschaft nicht nur den liberalen, anti-fundamentalistischen Konsens aller politischen Richtungen hinsichtlich der Grundrechte und des Rechtswesens teilen, sondern auch im demokratischen Raum nach Verfahrensweisen suchen, die eine größtmögliche Partizipation auch von Minderheiten ermöglichen. Gerade die politische Kultur eines Landes knüpft ein notwendiges Band zwischen Mehrheiten und Minderheiten, das – bei aller liberalen gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber unter-

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schiedlichen Lebensarten – bestehen muss, damit die liberale Demokratie überlebensfähig bleibt. Im folgenden Kapitel werden die einzelnen Sektoren der liberalen Demokratie erörtert, das Rechtssystem, der Staat, der Raum der Repräsentation und demokratischen Partizipation (Parlamentarismus, Parteien, politische Vertretungen und Bewegungen). Untersucht wird die Stellung des Islams und der Muslime in diesen Sphären. In einem kurzen Schlusskapitel sollen Errungenschaften und Widersprüchlichkeiten der liberalen Demokratie bilanziert werden. Dabei kann bereits jetzt festgestellt werden, dass der Forschungsstand zu Muslimen in Europa in den einzelnen Sektoren völlig disparat ist. Neben enorm vielen Abhandlungen zur Rechtssituation und zur Rechtsphilosophie und einer immerhin nennenswerten Zahl von Beiträgen im Bereich der politischen Kultur klafft eine große Lücke bei der Forschung zu Staat, staatlicher Diskriminierung und demokratischer Partizipation von Muslimen. Es besteht eine geisteswissenschaftliche Schieflage des Forschungsstandes mit deutlichen Mängeln im Bereich der politikorientierten Sozialwissenschaft. Nicht nur fehlen institutionen- und systemtheoretische Studien, sondern auch empirische Untersuchungen. Die Politikwissenschaft, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg einmal aufmachte, die neue Königsdisziplin der Sozialwissenschaften zu sein, hat das wichtige Thema der Stellung von Minderheiten und insbesondere der Muslime in Europa weitgehend verschlafen.

1. R ECHT – M USLIME IM SÄKUL AREN R ECHTSSTA AT UND DAS P ROBLEM DER EFFEK TIVEN G LEICHBERECHTIGUNG Die rechtliche Gleichbehandlung jedes Menschen ist das zentrale Leitbild des Liberalismus. Der liberale Rechtsstaat ist säkular und verzichtet auf fundamentale Festlegungen, die bestimmte Gruppen einer Gesellschaft bevorzugen oder benachteiligen könnten. Menschen verschiedenen Geschlechts, unterschiedlicher Religionen, Überzeugungen und Abstammungen sollen vor dem Recht gleichberechtigt sein. Der Staat schützt die freie Artikulation jeglicher Überzeugung in Politik und Gesellschaft, solange diese sich an die Grundrechte hält, dem Staat das Gewaltmonopol überlässt, die Prinzipien der Demokratie (vor allem Wahl-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit) anerkennt und auf Extremismus verzichtet (vgl. a. Rohe 2008, S. 65). In diesem Sinne ist der liberale Staat zur Neutralität angehalten, im Gegensatz zu allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft, die sich frei und auch einseitig äußern dürfen. Der Staat ist der Moderator des gesellschaftlichen Friedens und das Rechtssystem seine oberste Regelungsinstanz für Konfliktfälle. Das deutsche Grundgesetz lässt an verschiedenen Stellen Hinweise zum Thema Religion erkennen (Oebbecke 2000, S. 289ff.). Die Verfassung garan-

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tiert Religionsfreiheit für Individuen und Vereinigungen, sie enthält ein Verbot, Menschen aufgrund ihrer Religion ungleichzubehandeln und beinhaltet Bestimmungen zur Anerkennung von Religionsgemeinschaften und zum Schutz kultureller Freiheiten. Zumindest die grundlegenden und sich aus den Menschenrechten ableitenden Rechte der Religionsfreiheit sind vorstaatlichen Charakters und können durch keine noch so demokratisch legitimierte Gewalt beseitigt werden. Einschränkungen dieser Rechte sind allenfalls möglich in Fällen, wo zentrale Verfassungsgüter, also letztlich Grundrechte, kollidieren. Dann muss abgewogen werden, welches Grundrecht höher wiegt oder wo die Freiheit des einen Individuums endet und die des anderen beginnt. Das liberale Rechtsideal könnte man in diesem Sinne als kultursensitiv aber nicht kulturrelativistisch bezeichnen, da es unterschiedlichen religiösen Bekenntnissen und anderen Weltanschauungen größtmöglichen Raum gibt, diese aber nicht verabsolutiert. Allerdings auch in Fällen der Einschränkung bedürfen Eingriffe einer gesetzlichen Grundlage, sie müssen dem »Übermaßverbot« entsprechen und angemessen sein (Oebbecke 2000, S. 291f.). Und eines wird hier deutlich: Wer Religionen und kulturelle Ausdrucksformen stärker beschränken will, als es Grund- und Menschenrechte insgesamt gebieten, muss im Sinne des säkularen Rechtsideals selbst als »intolerant« gelten. Die Neutralität des Staates und die Gleichberechtigung des Individuums vor dem Gesetz sind die wichtigsten Elemente der Säkularität, die wiederum ein zentraler Ankerpunkt der Liberalität westlicher Demokratien ist. Vergleichsweise nebensächlich ist hingegen die oft mit Säkularismus gleichgesetzte »Trennung von Staat und Kirche« oder von »Staat und Religion«, denn Neutralität kann auch ohne eine laizistische Separation durch eine bestimmte Nähe des Staates zu allen Religionen zum Ausdruck gebracht werden. Letztlich gar nichts zu tun hat die Idee des Liberalismus mit der – oft mit Thomas Luckmann identifizierten – Zurückdrängung der Religion in die Privatsphäre, also mit einer Trennung von Öffentlichkeit und Religion, denn solange Menschen die Grundrechte anderer respektieren, haben sie im liberalen Staat sehr wohl das Recht, auch öffentlich religiös aufzutreten (Bielefeldt 2003, S.  41f.). Im Laufe dieses Kapitels wird auf die einzelnen Aspekte der Säkularismusdebatte eingegangen werden, im Vordergrund steht aber eindeutig die Frage nach der Neutralität des Staates und der rechtlichen Gleichberechtigung, die hier als zentral angesehen wird und die – mehr als alles andere – die Substanz der liberalen Rechtsstaatsidee beschreibt. Eine wachsende Zahl von Autoren hat in den letzten Jahren kritisiert, wie Per Mouritsen es ausgedrückt hat, dass das »farbenblinde Ideal« des klassischen Liberalismus, etwa in der Prägung des vielleicht einflussreichsten zeitgenössischen liberalen Denkers John Rawls, im Grunde nie verwirklicht worden ist (Mouritsen 2006, S. 72, 84). Abdullahi Ahmed An-Na’im argumentiert, der Westfälische Friede habe zwar die religiöse Freiheit gesichert, aber die europäi-

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schen Staaten hätten bis in die Gegenwart dem Christentum und den Kirchen erhebliche gesetzliche Privilegien eingeräumt: Großbritannien beispielsweise der Anglikanischen Kirche, Schweden bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der protestantischen Staatskirche (Carl Heinrich Becker Lecture 2009, S.  39ff.). Tuula Sakaranaho weist darauf hin, dass religiöse Rechte im Menschenrechtsdiskurs zu lange fast ignoriert wurden und dass erst eine Deklaration der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1981 sich klar gegen jede Form der religiösen Diskriminierung aussprach (Sakaranaho 2006, S. 89, 96). Dies mag dazu beigetragen haben, dass westliche Rechtssysteme teilweise bis heute eine gewisse Kluft zwischen dem grundrechtlichen Anspruch der religiösen Gleichbehandlung und einer bisweilen diskriminierenden praktischen Gesetzeslage aufweisen. Sakaranaho geht davon aus, dass einige Gruppen von jeher besseren Zugang zur »public domain« gehabt haben als andere (Sakaranaho 2006, S. 67ff.). Parallelen zu dieser Situation gab es auch bei der Frage der »Geschlechtsblindheit« des Rechts, die lange Zeit nicht in idealer Weise realisiert war. Die Geschlechtsvormundschaft, wonach der Ehemann der Vormund seiner Ehefrau war, wurde in Europa erst im 19. Jahrhundert, wesentliche Aspekte der materiellen Verfügungsgewalt sogar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, abgeschafft (Duncker 2003). Wie beim Geschlecht aber handelt es sich bei der Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft, die nicht selten ererbt wird, nicht um eine persönliche Präferenz eines Menschen, sondern um eine, wie Will Kymlicka dies unter Bezugnahme auf Ronald Dworkin nennt, »ungewählte Ungleichheit« (unchosen inequality) (Kymlicka 1995, S. 109; Dworkin 2011, S. 81ff.), bei der Diskriminierung nicht statthaft ist. Die Frage, was genau »Diskriminierung« ist, ist sogar noch komplizierter als die bisher genannten Fälle vermuten lassen. Dienlich zum Verständnis ist hier eine Unterscheidung zwischen privater, öffentlicher und staatlicher Sphäre des staatlichen Handelns. In der Privatsphäre hat der westliche Staat religiöse Freiheit heute weitgehend gesichert, sie ist am wenigsten problematisch, auch wenn es natürlich noch genügend Fälle gibt, wo der Staat eingreifen muss, etwa weil er die Menschenwürde durch religiöse Handhabungen verletzt sieht (z.B. »Ehrenmorde«, Frauenbeschneidung, die jedoch in der Regel nicht religiös begründet werden) und wo der Staat besonders in Erziehungssituationen Grundrechte abwägen muss. Ganz anders geartet sind aber öffentliche und staatliche Handlungssphären, die regelmäßig Streitthemen hervorbringen. Hier haben sich zahlreiche Privilegien gerade von Kirchen in Europa angesiedelt (z.B. Körperschaftsrecht, Blasphemiegesetz, schulischer Religionsunterricht oder die Förderung kirchlicher Aktivitäten durch staatliche Subventionen). Insbesondere im staatlichen Handlungsraum geht es nicht nur um offensichtliche Privilegien, sondern auch um scheinbar alle Bürger betreffende Verbote, zum Beispiel das Tragen religiöser Symbole oder das Beten in Schulen. Zwar könnte

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man hier argumentieren, dass alle Bürger den selben Regeln unterliegen, zugleich aber sind diese gesetzlichen Regeln des »öffentlichen Interesses«, nach denen dann auch vor den Gerichten in europäischen Ländern geurteilt wird, von den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften definiert worden und sie werden nun Minderheiten im Bereich der »unchosen inequalities« übergestülpt. Die Ungerechtigkeit von Verboten ist ein besonderes Problem in laizistischen Säkularsystemen (s.u.), aber es besteht letztlich in jedem westlichen Rechtsstaat. Liberale Freiräume mögen in vielen nicht streng laizistischen Staaten auch im staatlichen Raum gelockert sein und dennoch ergeben sich zahlreiche Probleme überall dort, wo der Staat aktiv wird, denn stets ist es eine Gesellschaftsmehrheit, die über Wahlen das öffentliche Interesse definiert. Daraus folgt logisch, dass die größte Freiheit dort herrschen müsste, wo der Staat nicht nur die private Religionsausübung sichert und sie gegen andere Grundrechte abwägt, sondern auch für sich selbst einen möglichst geringen Raum in Anspruch nimmt und innerhalb dieses Raumes weitgehende Freiheit walten lässt. Diese allerdings löst nach Ansicht einiger Autoren nicht das Grundproblem. Zwar wird der Staat von einem Übermaß an Freiheitseingriffen abgehalten, aber gerade im Bereich der staatlichen Institutionen bleibt das öffentliche Interesse eine hegemoniale Anspruchszone. Dieses Problem ist möglicherweise in Europa noch größer als in den USA, denn hier ist der Staat in manchen Bereichen aktiver als in den USA, wo der private Sektor viele Lebensbereiche dominiert, etwa durch private Wohlfahrt, private Schulen oder private Universitäten. Die Liberalismus-Literatur der letzten Jahrzehnte lässt sich Richtungen zuordnen, die sich dadurch unterscheiden, ob sie entweder weiterhin ein gemeinsames öffentliches Interesse in den Vordergrund stellen und lediglich an die Mehrheit appellieren, größtmögliche Freiheiten zu gewähren (z.B. Habermas, Walzer, Bhargava), oder aber ob sie das Konzept eines einheitlichen Gesetzes und eines integrativen Staates grundsätzlich infrage stellen (z.B. Kymlicka, Taylor). Eher universelle oder eher partikularistische Konzepte stehen sich gegenüber oder deuten sich zumindest an, wobei die konzeptionelle Abgrenzung nicht immer ganz klar ist und auch einzelne Autoren in sich widersprüchlich argumentieren. Will Kymlicka beschäftigte sich 1995 in seinem Werk »Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights« mit der Stellung ethnischer und religiöser Minderheiten im liberalen Verfassungsstaat und setzte sich hier bereits vom Mainstream des Liberalismus eines Vordenkers wie John Rawls ab. Dieser, so erklärt Kymlicka, habe zum Beispiel die Religion zur Privatsache erklärt und darauf beharrt, dass der Liberalismus sich nicht in die freie Artikulation und Assoziation von Menschen zum Zwecke der Religionsausübung einzumischen habe (Kymlicka 1995, S. 3f.). Der klassisch geprägte Liberalismus eines Rawls proklamiert damit nicht nur das Prinzip der Gleichberechtigung vor dem

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Gesetz und das der Neutralität des Staates, sondern er verlangt zugleich eine Trennung von Staat und Religion, das heißt, er ist seiner Anlage nach laizistisch. Linksliberale machten hier, so Kymlicka, gewisse Ausnahmen, etwa bei Förderprogrammen wie dem der amerikanischen affirmative action (s.u.), aber dies sei im liberalen Lager eine Außenseiterposition (Kymlicka 1995, S.  6). Berühmt geworden ist Kymlicka vor allem deshalb, weil er es als einer der ersten Denker überhaupt wagte, Sonderrechte für Einwanderer in Erwägung zu ziehen. Aus seiner Sicht hatte zwar die Idee der Integrität eines für alle gleich geltenden, universellen Rechts eine historische Bedeutsamkeit. In Nordamerika etwa war es die Antwort auf vorhergehende Rassentrennung, gleiches Recht galt folgerichtig als emanzipatorisch (Kymlicka 1995, S. 59). In der Gegenwart aber schafft gleiches Recht aus Kymlickas Sicht nicht nur Gleichberechtigung, sondern es verhindert sie auch und schafft seinerseits neue Formen der Diskriminierung. Feiertage, offizielle Sprachen, nationale Symbole, das Erziehungssystem und vieles mehr werden von der Majorität gesetzlich geprägt und dann als für alle verbindlich erklärt, was gemäß Kymlicka nichts anderes als eine Form der subtilen Diskriminierung ist (Kymlicka 1995, S. 107ff.). Politische Ideologien wie die »Farbenblindheit« (colour blindness) oder der »Schmelztiegel« (melting pot), zu dem die Vereinigten Staaten sich beispielsweise gerne selbst erklären, verbergen die kulturelle Vorherrschaft der WASPs (White Anglo-Saxon Protestants). Selbst Ausnahmen, die gemacht werden, betreffen in der Regel alte weiße christliche Gemeinschaften wie die Amish-People (Kymlicka 1995, S. 41f.). Kymlicka sieht daher, ähnlich wie bei Homosexuellen, Frauen und anderen diskriminierten Gruppen, einen Nachhol- und Schutzbedarf von ethnischen und religiösen Minderheiten und er plädiert für einen Ausgleich der Dworkin’schen »ungewählten Ungleichheiten« im staatlichen Raum durch »Sonderrechte« – die streng genommen keine Sonderrechte sind, da sie lediglich darauf zielen, Chancengleichheit zu realisieren. Kymlicka unterscheidet drei Formen von »Sonderrechten«, die er im Konzept der »multikulturellen Staatsbürgerschaft« (multicultural citizenship) zusammenfasst (Kymlicka 1995, S. 6f.): • Selbstverwaltungsrechte sind Minoritäten vorbehalten, die in einer Region dominant auftreten (z.B. Quebec in Kanada); • polyethnische Rechte können von allen Einwanderern geltend gemacht werden und beinhalten den finanziellen und rechtlichen Schutz »bestimmter Praktiken, die mit einer speziellen ethnischen oder religiösen Gruppe verbunden werden«; • spezielle Repräsentationsrechte sehen eine Repräsentationsgarantie von Minderheitengruppen in zentralen Einrichtungen des Staates vor, also Gruppenquoten.

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Diese Unterscheidung weist darauf hin, dass aus Kymlickas Sicht nicht jeder religiösen Gruppe ein komplettes Autonomierecht zugesprochen werden kann, dass aber ein Mittelweg zwischen dem herkömmlichen liberalen Rechtsuniversalismus einerseits und der separatistischen Autonomie andererseits gefunden werden muss. Dieser Kompromiss ist bei Kymlicka durch die zwei Ebenen der Gruppenrechte gekennzeichnet und lässt sich mit den Stichworten »finanzielle Förderung«, »Absicherung religiöser Praktiken« und »spezielle Repräsentation« zusammenfassen. In Kymlickas Vision muss der Staat eine begrenzte Schutzfunktion durch offizielle Anerkennung und Förderung von Religionen, Kulturen und Sprachen ausüben, indem er etwa differenzierte Feiertagsregelungen für Migranten schafft, um nur ein Beispiel zu nennen. Solche multikulturellen Rechte müssen allerdings festgeschrieben werden, eine beliebige und im Ermessen jeder einzelnen Majoritätsregierung liegende Förderungspolitik reicht demnach nicht aus. Man kann sich vorstellen, wie weit entfernt Gruppenrechte vom klassischen Liberalismus sind, wenn dieser schon Förderprogramme als Eingriff in das freie Spiel der Kräfte betrachtet – von den Ressentiments, die eine solche Politik gerade bei Konservativen auslöst, die die kulturelle Hegemonie der Mehrheitsgruppe ja geradezu zum Programm erklären, ganz zu schweigen (vgl. Kap. I.3). Kymlicka bezeichnet sich dennoch nach wie vor als »Liberalen«, denn ihm geht es nicht um Gleichheit, sondern um Chancengleichheit, das heißt, die Kernidee besteht darin, einem Individuum, das einer Minoritätengruppe angehört, zu ermöglichen, sich der rechtlichen Hegemonie der Mehrheit zu entziehen – es muss diese Rechte aber keineswegs wahrnehmen. Auch andere Denker des Multikulturalismus haben darauf hingewiesen, dass es bei der Minderheitenförderung letztlich nicht um Sonderrechte gehe, sondern um eine anti-hegemoniale Korrektur bislang de facto nicht wahrnehmbarer Rechte hin zu effektiver Gleichberechtigung (Parekh 2000, S. 211, 243ff.). Die gerade von konservativen Kritikern häufig geäußerte Angst vor der Schaffung von »Parallelgesellschaften«, die ja in voller Ausprägung durch parallele Rechtssysteme gekennzeichnet sind (vgl. Kap. II.2), teilt Kymlicka nicht. Im Gegenteil erhofft er sich durch eine bessere Förderung, Rechtsstellung und Repräsentation durch den Staat und im Staat eine größere Identifikation der Einwanderer mit dem Staat (Kymlicka 1999, S. 80). Vor allem liberalen und linken Kritikern einer solchen Konzeption hält er entgegen, dass Menschenrechte in jedem Fall einen klaren Vorrang vor Gruppenrechten genießen sollen. Gerade in seinen neueren Werken bezieht er sich auf die Vereinten Nationen, aus deren Sicht die Normen des Multikulturalismus gegenüber den Menschenrechten nachrangig sind (Kymlicka 2007, S. 6). Der Schutz menschenrechtsfeindlicher Praktiken (z.B. Frauenbeschneidung) durch den westlichen Staat kommt also im Konzept Kymlickas überhaupt nicht in Betracht, da das effektiv ausgeübte Recht auf Religionsfreiheit dem Recht auf physische und psychische Unver-

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sehrtheit des Individuums eindeutig nachgeordnet und die Rechte des Individuums dem der Gruppe stets übergeordnet sind. Die innere Gruppenfreiheit des Menschen wird durch Kymlickas Gruppenrechtskonzeption der multikulturellen Staatsbürgerschaft nicht beeinträchtigt (Kymlicka 1995, S. 45). Gelegentlich ist Kymlicka fälschlich unterstellt worden, er befürworte eine Rückkehr zum vorliberalen Despotismus von ethnischen oder religiösen Fundamentalismen (Bruckner 2007, S. 62; Wolfe 2009, S. 204), was offensichtlich falsch ist. Jesco Delorme hat denn auch zu Recht festgestellt, dass der Multikulturalismus tatsächlich nicht in Opposition zum Liberalismus steht und keineswegs eine Rückkehr zum Lessing’schen Kulturrelativismus plant, da es sich nur um einige Gruppenrechte als Ergänzung der bisherigen Ordnung, nicht aber um gänzlich neue Rechtssysteme handelt und das ethische Prinzip des Vorrangs individueller Rechte bestehen bleibt (Delorme 2007, S. 148f.). Kritiker des Multikulturalismus wie die deutsche Feministin Alice Schwarzer behaupten zwar, Muslime genössen Sonderrechte und sie sprechen zum Teil sogar von einer »Unterwanderung« des Rechtsstaates (Kap. IV.1; vgl. a. Wagner 2011). Bei genauer Betrachtung hält allerdings dieser Vorwurf nicht stand. Wenn europäische Gerichte bestimmte Ausnahmeregelungen in Einzelfällen zulassen, so geschieht dies als reguläre Übernahme gewisser Privatrechtsstandards. So genießt etwa ein Polygamist in Deutschland Rechtsschutz, solange die Ehe rechtsgültig ist und bereits vor dem Zeitpunkt der Einwanderung im Ausland geschlossen wurde. Allerdings gilt das Nachzugsrecht nur für die erste Frau, und sämtliche rechtlichen Positionen der Frauen gegenüber dem Mann sind an das deutsche Recht angepasst, so dass es zum Beispiel kein Züchtigungsrecht gibt, weil dies ein Verstoß gegen die Menschenrechte wäre (Rohe 2008, S. 68, 72). In solchen Fällen geht es nicht um Sonderrechte, sondern um eine notwendige Anerkennung von Rechtstatbeständen, wie sie international üblich ist: Menschen, die unter bestimmten Rechtsbedingungen Beziehungen eingegangen sind, dürfen diese Güter nicht deswegen verlieren, weil sie migrieren. Es hat zwar einzelne Fälle in Deutschland wie andernorts in Europa gegeben, bei denen Gerichte in übertriebenem Kulturrelativismus geurteilt und dabei bestehende Menschenrechte missachtet haben. Aber dies waren Fehler, die in der Regel von höheren Gerichten korrigiert wurden. Legale Sonderrechte für eine Religionsgruppe gibt es innerhalb europäischer Rechtssysteme sonst fast nicht. Gewichtiger aber sind andere Kritikpunkte an Kymlickas Konzeption, und sie gliedern sich in Probleme eher theoretischer und in Probleme eher praktischer Natur. Von praktischem Belang bei dem Versuch einer politischen Umsetzung der Gedanken Kymlickas sind etwa Fragen wie: Wer gehört zur Gruppe der Bevorrechteten, was genau sollen die Gruppenrechte beinhalten und wer soll die Minderheitengruppe repräsentieren? Agathe Bienfait wendet zu Recht ein, dass weder Sprache noch Territorium immer klare Abgrenzungskriterien für Minderheitenzugehörigkeit sein müssen (Bienfait 2006, S. 56). Ähnliches

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gilt sogar für Religion, denn auch die Zugehörigkeit zu ihr ist in vielen Religionsgemeinschaften sehr offen und unklar geregelt. Hinsichtlich der Frage der genauen Bestimmung der Gruppenrechte ist zu fragen, ob man sich auf einige symbolische Facetten beschränken kann oder ob man nicht, um Hegemonie zu vermeiden, den Geltungsbereich des Kulturellen sehr weit ausdehnen muss, so dass letztlich viele staatliche Institutionen und Handlungen infrage gestellt werden, etwa der gemeinsame Schulunterricht. Wenn man eine solche Ausweitung vornimmt, wird der Raum der staatlichen Gemeinsamkeiten immer kleiner und damit entwickelt man sich doch zu einer vollständigen kulturellen Autonomie. Die Frage, wer die Gruppe repräsentieren soll, ließe sich prinzipiell demokratisch lösen, in den meisten kulturellen oder religiösen Minderheiten finden allerdings keine Repräsentationswahlen statt, diese sind autonomen Regionen vorbehalten. Scheitert Kymlicka also an der praktischen Undurchführbarkeit? Wahrscheinlich wären die vorstehenden Fragen, wenn auch aufwendig, lösbar, aber es gibt eine einflussreiche Gruppe von liberalen Theoretikern, die dies gar nicht für erforderlich hält, weil sie die Grundidee Kymlickas – die inhärente Hegemonieneigung des universellen Rechts und des Rechtsstaates – für falsch hält. Viele dieser Autoren, zum Beispiel Jürgen Habermas oder Michael Walzer, räumen zwar ein, dass der westliche Rechtsstaat historisch zu wenig Sensibilität gegenüber Minderheitenkulturen gezeigt und daher rechtliche Diskriminierungen erzeugt hat. Sie halten dies jedoch für ein Problem der nicht korrekten Ausführung einer im Prinzip korrekten Idee; das Konstrukt der liberalen Demokratie machen sie also nicht dafür verantwortlich. Sie fordern Bereinigungen und Nachjustierungen in den bestehenden Rechtssystemen westlicher Demokratien und würden wohl auch Förderpolitiken gutheißen, keinesfalls aber Gruppenrechte (Habermas 1997, S. 154). Die Einwände hiergegen sind unterschiedlich und reichen von der Angst vor einer Zerklüftung des Rechtsstaates bis zu der Annahme, Gruppenrechte seien praktisch nicht umsetzbar; Argumente wie diese wurden oben bereits erörtert und werden zum Beispiel vom bekannten liberalen Theoretiker Michael Walzer gegen den nicht minder prominenten Vertreter der Gruppenrechte Charles Taylor angeführt (Walzer 1997, S.  114). Zwar wird nicht hinreichend erklärt, wie ein auf Mehrheiten und Hegemonien beruhendes System der Interpretation von Grund- und Menschenrechten tatsächlich zu Gleichberechtigung führen soll, aber die Gegner der Gruppenrechte halten an der Notwendigkeit fest, Verbesserungen der rechtlichen Stellung von Minderheiten nur innerhalb des universellen Rechtssystems vorzunehmen. Ihr Ansatz ist letztlich appellativ und basiert, wenn man so will, auf der Vision einer solidarischen, altruistischen Mehrheit, die sich der Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten bewusst wird und sie abstellt. Das typische Handlungsmittel dieser Gruppe von Denkern ist es, den Staat zu einer gezielten Förderung von Minderheiten innerhalb des Rahmens gleicher

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Rechte und Institutionen aufzufordern. Man könnte hier von einer Politik der Chancengleichheit sprechen, die Minderheiten Vorteile zuweist, um bestehende Nachteile auszugleichen, etwa im Rahmen der affirmative action-Programme in den USA, die unter anderem Afro-Amerikanern und anderen Minderheiten Quoten im Universitätsbereich zusichern und sich mit den Gender Mainstreaming-Programmen vergleichen lassen.4 Rajeev Bhargava: [F]airness requires that there be state support and subsidy for cultures that fail their deserving place in the media or in educational institutions. It follows that a policy of strict government neutrality, say a line of abstinence towards the education of children in an overall environment where the dominant culture controls the media and the educational curricula, only end up permitting disrespect for marginal cultures. (Bhargava 1999, S. 15)

Universalistische und partikularistische Ansätze haben sicherlich jeweils Vorund Nachteile. Das Konzept der Gruppenrechte mag Gleichheit vor dem Recht theoretisch klarer definieren und Rechte besser sichern, ist aber tatsächlich nicht einfach zu praktizieren. Walzers Sichtweise mag theoretisch unbefriedigend sein, Kymlickas hingegen ist es in praktischer Hinsicht. Für die Universalisten spricht auch, dass Krisenfestigkeit in einer Gesellschaft nicht allein durch Rechte und Systeme gesichert wird, sondern durch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die sind nun einmal klar auf der Seite religiöser Mehrheiten, so dass Lösungen, die ihnen Gruppenrechte abverlangen, ohne dass hierfür Verständnis vorhanden sein muss, nicht zwangsläufig kulturellen Tiefgang, Nachhaltigkeit und Krisensicherheit erzeugen müssen. Der »Appell« an einen Lernprozess des Rechtsstaates unter Einschluss demokratischer Mehrheiten mag hier der erfolgversprechendere und realistischere Weg sein. Er unterliegt allerdings einer Zeitgeistvariable: Multikulturelle Lösungen müssen in einer Gesellschaft tatsächlich breite Akzeptanz finden, was sicher nicht zu allen Zeiten der Fall ist. Das Dilemma, das in der Debatte zwischen Partikularisten und Universalisten letztlich nicht gelöst worden ist, formuliert Jonathan Chaplin in seiner Reflexion des Ansatzes von Kymlicka sehr treffend: Kymlicka suggests that the question of cultural rights is not whether we should accord more respect to individuals or to groups, but rather how we should balance two kinds of respect for individuals. Respecting individuals as members of a particular cultural community may involve according them special rights, while respecting individuals as citizens, members of the same political community, requires according them equal rights. We are faced here with ›a genuine conflict of intuitions‹: ›the demands of citizenship and cultural membership pull in different directions‹. Both matter and ›neither [is] reducible to the other‹. The consequence of recognising only equal political rights would be the

I. P OLITIK /R ECHT reluctant assimilation of cultural minorities into a culturally uniform political community. (Chaplin 1993, S. 43)

Ungeachtet dieser Unterschiede steht allerdings für beide Lager fest, dass der klassische Liberalismus ein Projekt war und ist, das Gruppendifferenzen zu stark einebnet und bestehende Ungerechtigkeiten leugnet. Liberale Multikulturalisten befürworten daher weder eine einfache Fortführung der existierenden Verhältnisse, noch beabsichtigen sie eine kulturrelativistische Rückkehr zu Gruppenzwängen und alten Hierarchien, wie dies zum Teil im modernen Kommunitarismus anklingt (Dallmayr 1996, S. 283, 291), sondern sie suchen nach einer Weiterentwicklung des Liberalismus, die, je nach Richtung, verschieden gedacht wird: hier die evolutionäre Anpassung des universellen und ungeteilten Rechts und staatliche Förderungen von Minderheiten im staatlichen und öffentlichen Raum; dort zusätzliche Gruppenrechte. Dabei entsteht allerdings zunächst der Eindruck, dass der neue multikulturelle Liberalismus in Konflikt mit einem anderen Prinzip des säkularen Rechtsstaates gerät, über das wir noch nicht gesprochen haben: der Trennung von Staat und Religion. Tatsächlich räumen die neuen liberalen Denker auch mit diesem Mythos auf. Bislang konnte etwa der französische Laizismus von sich behaupten, eben gerade keine Privilegien an christliche Religionen zu vergeben, da der Staat, im Unterschied zu anderen westlichen Demokratien, religiöse Einflüsse strikt vom Staat fernhielt (Audard 1999, S. 120ff.). Frankreich kennt keine Blasphemiegesetze, keinen Religionsunterricht an Schulen und selbstverständlich auch kein Körperschaftsrecht wie beispielsweise in Deutschland, das Kirchenmitarbeiter zu Staatsbeamten macht. Aber ist der Laizismus deswegen gerechter, gibt es dort keine Hegemonien der Mehrheit, keine ungerechten Eingriffe in die Religionsfreiheit von Minderheiten? Bei näherer Betrachtung ist der französische Laizismus das Resultat einer sehr spezifischen französischen historischen Erfahrung. Der Ursprung liegt in der langjährigen Verbrüderung der Monarchie mit der Kirche, der die republikanischen Kräfte ein strikt anti-religiöses Credo entgegensetzten. Kircheneinflüsse wurden systematisch aus dem Staatsapparat verdrängt und eine rigide Verbotspolitik entwickelt, etwa was die Zurschaustellung religiöser Symbole (Kruzifixe, Kopftücher, Turbane usw.) in öffentlichen Einrichtungen betrifft, wobei innerhalb der staatlichen Sphäre sehr weitgehend in die individuelle Religionsfreiheit eingegriffen wird. Eine hypernationalistische Ideologie wurde entwickelt, derzufolge im Angesicht des Staates alle Unterschiede verschwinden müssen. Auch diese Maßnahmen allerdings wurden, so könnte man im Sinne Kymlickas argumentieren, historisch immer von einer Mehrheit beschlossen, die selbst christlich war, sich gleichwohl für den Laizismus entschied. Für den Rest der Gesellschaft bedeutet dies bis heute also, dass er sich »ungewählten Ungleichheiten« (im Sinne Dworkins) ausgesetzt sieht, die als diskriminierend

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verstanden werden können. Ungerechtigkeit entsteht schließlich, wie oben ausgeführt, dort, wo Rechtsprinzipien kulturellen Einflüssen von Mehrheiten unterliegen, der Staat zu weitgehende Eingriffe in Freiheitsrechte vornimmt und sich nicht an das Übermaßverbot hält. Der französische Staat verhält sich übermäßig nicht nur gegenüber religiösen Minderheiten, sondern auch gegenüber »Minderheiten innerhalb der Mehrheit«, also jener unterlegenen Minderheit von Christen, die die Verbotspolitik des französischen Staates gar nicht gutheißt und etwa für die Einführung von Religionsunterricht an Schulen plädiert. Der moderne Staat, der die Menschen, wie in Frankreich, immer stärker einbindet, sie in verpflichtende Vorschulen und durch die Verlängerung von Lernzeiten in vielen Staaten auch in Ganztagsschulen schickt, ist kein »schlanker Staat«, sondern er regelt in erheblichem Umfang das Leben der Menschen. Aber darf ein raumgreifender Staat für die Dauer seiner »Obhut« Rechte wie die Religionsfreiheit gänzlich außer Kraft setzen? Ein solcher Staat bringt die Menschen ohne Not in eine Zwangslage, nur entweder staatliche oder religiöse Gewissenspflichten erfüllen zu können. Der laizistische Säkularismus ist in diesem Sinne keineswegs neutral und liberal, sondern ungerecht gegenüber religiösen Minderheiten aller Art. Der liberale Intellektuelle Abdullahi Ahmed An-Na’im betrachtet den Laizismus denn auch als eine staatlich verordnete Form des Aufklärungsfundamentalismus: Bei allem gebotenen Respekt, ich habe keine besonders hohe Meinung von der französischen laïcité. Ich finde sie autoritär und beleidigend. [Ich] sehe moralisch wie politisch – dies mag Sie schockieren – keinen Unterschied zwischen dem, was der Iran macht und dem, was Frankreich macht. Wie Frauen sich kleiden wollen, das ist ihre Sache, nicht Sache des Staates. Und man sollte Frauen keine grundlegenden staatlichen Leistungen verweigern, nur weil sie etwas Bestimmtes anziehen oder nicht anziehen wollen. (Carl Heinrich Becker Lecture 2009, S. 84)

In der neueren Literatur wird der Säkularismus als schillernder Begriff bezeichnet, der in unterschiedlichen Definitionen Verschiedenes bedeuten kann. Es scheint daher notwendig zu sein, die Hierarchie der Bedeutungsebenen des Säkularismus noch einmal zu klären. Beim säkularen Staat geht es um die Gleichheit unterschiedlicher Religionen, Weltanschauungen, Ethnien usw. vor dem Gesetz und den staatlichen Institutionen. Wenn ein Prinzip wie die Trennung von Staat und Religion diesem Gleichheitsanspruch zuwiderläuft, kann es nicht beanspruchen, die Idee der Gleichheit zu repräsentieren und ist daher eindeutig untergeordnet oder steht sogar im Widerspruch zum säkularen Kerngedanken. Heiner Bielefeldt spricht denn auch davon, dass nicht eigentlich die »Trennung von Staat und Religion«, sondern die »Nicht-Identifikation des Staates« ein säkulares Kerngebot sei (Bielefeldt 2003, S. 15ff.). Nicht-Identifikation aber

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kann durch verschiedenartige Politiken vollzogen werden, wozu neben dem »harten Säkularismus« des Laizismus ein »weicher Säkularismus« zu zählen ist, der im Grunde die meisten westlichen liberalen Demokratien heute prägt. Statt der ostentativen Ferne des Laizismus von der Religion pflegt der Staat hier Kooperationsverhältnisse mit Kirchen und Religionsgemeinschaften, er erlaubt in begrenztem Maße religiöse Symbole im staatlichen Raum, vermeidet aber einseitige Identifikationen mit einer Gruppe. Dies zumindest ist die Theorie des weichen Säkularismus, die dem Einzelnen auch in der staatlichen Sphäre maximale Religionsfreiheit gewähren und Minderheiten von hegemonialen Ungerechtigkeiten befreien will, indem sie Raum für deren Religiosität zu schaffen versucht. Der Staat verbannt nicht Religion und andere Weltanschauungen, sondern er schützt ihre Entfaltung, ohne dabei selbst fundamentalistisch zu werden. Interessant ist an dieser Stelle, dass Bielefeldt zu Recht darauf hinweist, dass dieser Mittelweg eigentlich ebenso den zentralen Traditionen in der islamischen Welt entspricht, wo die völlige Verbannung aus der staatlichen Sphäre eine Seltenheit ist (Türkei), aber auch fundamentalistische Identifikationen erst in den letzten Jahrzehnten im Zuge des aufkommenden politischen Islams gefordert werden (Bielefeldt 2004, S. 157ff.; vgl. a. K. Hafez 2009, S. 27ff.). Wie in der islamischen Welt besteht allerdings im Westen ein Bruch zwischen Theorie und Praxis des Säkularismus. Im Vorderen Orient sind vielfach muslimische Mehrheiten mit Privilegien ausgestattet. Zum Beispiel können koptische Priester in Ägypten, anders als muslimische Rechtsgelehrte und Imame, keine Staatsbeamte werden, das Scheidungsrecht ist islamisch beeinflusst, es gibt uneinheitliche Baurechtsvorschriften für Muslime und Christen usw. In Europa und Nordamerika existiert oft eine geradezu spiegelverkehrte Hegemonialstellung der christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften, die historisch gewachsen ist. Die liberale Antwort auf diese Privilegien ist allerdings nicht ein – gleichfalls ungerechter – Laizismus, sondern ein korrigierter und multikulturalisierter weicher Säkularismus. In diesem Befund sind sich die meisten liberalen Theoretiker des Multikulturalismus heute einig. Auch wenn es nach wie vor die oben beschriebenen unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich Universalismus oder Partikularismus des Rechts gibt, sind die Aufwertung von Minderheitenkulturen und -religionen durch eine Revision der Rechtssysteme, verbesserte Repräsentation und eine kultursensible Politik des Staates, die auch finanzielle Förderung mit einschließt, konsensfähig. Hier nun gelangen wir zum letzten Definitionsfeld säkularer Rechtsstaatlichkeit, dem öffentlichen Raum. Bislang ist nur von Recht, Gesetz oder staatlichen Institutionen, einleitend auch von der Schutzfunktion die Rede gewesen, die der Staat für die private Religionsfreiheit ausübt. Darüber hinaus aber existiert ein öffentlicher Raum. Die Öffentlichkeit ist sicherlich nicht völlig staatsfrei, etwa im Fall der exekutiven Förderung von gesellschaftlichen Organisationen oder wenn der Staat in den Medien auftritt. Der Staat ist allerdings in

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der Öffentlichkeit nur ein Akteur unter vielen, denn diese ist eine Sphäre sui generis, für die nach liberaler Theorie nicht unbedingt die gleichen Neutralitätsregeln gelten müssen wie für den Rechtsstaat. Während nämlich die staatliche Neutralität unumstritten den Kern des Säkularismus ausmacht, sind Ideen wie die »Trennung von Staat und Religion« (Laizismus) oder die »Privatisierung der Religion« lediglich Nebenthesen, die lange nicht von allen Autoren vertreten werden (Pollack 2003). Thomas Luckmann ist einer der bedeutendsten Vertreter der Privatisierungsthese (Luckmann 1991). Er beschreibt einen Prozess der westlichen Moderne, in dessen Verlauf die Religion sich nicht nur vom Staat abgespalten, sondern sich das religiöse Individuum auch von kirchlichen Institutionen immer mehr distanziert hat. Infolgedessen haben gemäß Luckmann westliche Gesellschaften einen erheblichen religiösen Pluralismus entwickelt und Religionen sind geradezu »unsichtbar« geworden. Gegen diese und vergleichbare Thesen aber ist schnell Widerspruch entstanden, etwa von José Casanova, der, konträr zu Luckmann, von einer Art Rückkehr der Religionen im Westen spricht und von einer De-Privatisierung der Religion, die er vor allem am neo-christlichen Protestantismus in den Vereinigten Staaten festmacht (Casanova 1994; vgl. a. Berger 1999). Menschen sind demnach im Privaten nach wie vor religiös und es manifestiert sich in der westlichen Moderne zunehmend eine Rückkehr des Religiösen in die Öffentlichkeit. Auch in den Vereinigten Staaten ist zwar das Hauptmerkmal des Säkularismus, die gesetzlich abgesicherte staatliche Neutralität, fest verankert. Aber es gibt dort auch immer mehr fundamentalistische Gruppen, die, etwa durch gesetzliche Verordnungen des biblischen Kreationismus in Schulen, den säkularen Staat infrage stellen (Casanova 1994, S. 158ff.). Das Kernanliegen des christlichen Fundamentalismus in den Vereinigten Staaten ist, so Casanova, eine neo-calvinistische Renaissance von religiösen Werten, die Öffentlichkeit anstrebt, um wirksam zu werden. Dass solche öffentlichen Zelebrationen von Religion durchaus mit dem liberalen Staat vereinbar sein können, zeigte ja nicht zuletzt die ebenfalls religiös fundierte Emanzipationsbewegung von Martin Luther King in den 1960er Jahren. Es gelingt Casanova nicht, die Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit für Europa in ähnlicher Weise wie für die Vereinigten Staaten nachzuweisen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass, anders als in den Vereinigten Staaten, dem historischen Land der religiös Verfolgten, die dort ihre Religion endlich frei leben konnten, in Europa geradezu gegensätzliche Geschichtsmotive nachwirken, nämlich die Angst vor religiösen Kriegen und Konflikten. Dennoch war, wie Casanova zu Recht sagt, auch in Europa Religion bei liberalen Vordenkern wie Voltaire oder Rousseau ein akzeptierter Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens und es war linken Atheisten vorbehalten, eine völlige Verdrängung der Religion aus der Öffentlichkeit zu betreiben (Casanova 1994, S. 55).

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Insgesamt ist also die Bilanz der tatsächlich erfolgten Privatisierung oder De-Privatisierung in westlichen Gesellschaften noch zwiespältig. Aber es erscheint aus Sicht der liberalen Theorie keineswegs zwingend, dass zur Aufrechterhaltung der liberalen Demokratie die Religion aus der Öffentlichkeit verschwinden muss. Es gehört sogar zu den Grundlagen der liberalen Idee, dass Menschen sich nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Raum frei auch im religiösen Sinne äußern dürfen. Auf Fragen der Öffentlichkeit soll im Laufe des Buches noch eingegangen werden. Zunächst aber wird erörtert, inwieweit der nunmehr herausgearbeitete Kernaspekt des liberalen Rechtsstaates – die Gleichheit des Individuums und religiöser Gruppen vor dem Gesetz und in staatlichen Institutionen – im Fall des Islams in Europa auch wirklich gegeben ist. *** Bestimmte Probleme der Stellung von Muslimen im europäischen Rechtsstaat werden immer wieder benannt. Sie sind der Testfall für die effektive rechtliche Gleichbehandlung der größten nicht-christlichen religiösen Minderheit in Europa. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, nach einer Diskussion der Einzelfragen, die bereits in zahlreichen Studien behandelt worden sind, eine Zwischenbilanz hinsichtlich der Umsetzung liberaler Rechtsideen zu ziehen, was bislang nur selten versucht worden ist. Im Vordergrund stehen Fallbeispiele aus den bevölkerungsreichsten Staaten Europas, Frankreich, Großbritannien und Deutschland, die zusammengenommen immerhin fast die Hälfte der Bevölkerung der Europäischen Union bilden. Natürlich ist diese Bilanz bei immerhin 46 Staaten und Rechtssystemen in Europa letztlich nicht repräsentativ. Wo immer möglich wurden daher Beispiele aus anderen europäischen Ländern hinzugefügt, um das Bild abzurunden. Dabei wird rasch deutlich, dass die grundlegenden Rechtsfragen sich im europäischen Kontext vielfach ähneln. Über allen Fällen schwebt die Frage: Ist die rechtliche Anpassung des universellen Rechts erfolgreich verlaufen oder steht sie noch aus? Garantieren also die den Verfassungen, Grund- und Menschenrechten nachfolgenden Rechtsregelungen und die auf Gesetzen fußenden staatlichen Institutionen Muslimen wirklich einen gleichberechtigten Zugang oder ist der heutige Rechtsstaat nach wie vor hegemonial und diskriminierend, macht er Versprechungen, die er in Wahrheit gar nicht hält? Dabei wird sich zeigen, dass es überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, um die von den universalistisch ausgerichteten Denkern des multikulturellen Liberalismus geforderte Anpassung des Rechtsstaates innerhalb eines identischen Rechtsrahmens geht. Zwar anerkennt England zum Beispiel einige Gruppenrechte, etwa wenn es um das Tragen von Turbanen der Sikhs oder des Kopftuches im Staatsdienst geht (Triandafyllidou et al. 2006, S. 2). Bestehende

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Gesetze in anderen Ländern aber reichen in den allermeisten Fällen aus, um erhebliche Flexibilität und maximale Religionsfreiheit auch für Minderheiten wie Muslime zu erzielen. Anders als vielfach behauptet, sind Fortschritte bei langjährigen rechtlichen Problemen (z.B. rituelle Schächtung) nicht muslimischen Sondergesetzen, sondern einer Klärung auf der Basis des existierenden Rechts zu verdanken. So ist es nicht verwunderlich, dass Forderungen nach Sonderrechten bei Muslimen selbst sehr selten sind. In der Regel wird die Gleichberechtigung vor dem Gesetz, nicht aber die Abänderung von Gesetzen oder gar die Einführung des islamischen Rechts (Scharia) verlangt (Nonneman 1996, S. 8). Zwar werden wir sehen, dass die Lösung mancher rechtlicher Probleme an der Inflexibilität bestehender Gesetze scheitert und es daher einzelne Situationen gibt, in denen die Anwendung gleicher Gesetze ungerechter erscheint als die Gewährung von Sonderrechten (z.B. bei Körperschaften). Dennoch ist dies die absolute Ausnahme. Die folgenden Fragen sollen erörtert werden: der Status muslimischer Religionsgemeinschaften, Blasphemiegesetze, die Repräsentation des Islams in öffentlichen Institutionen, der Umgang mit religiösen Symbolen, islamischer Religionsunterricht in öffentlichen Schulen, Moscheebauten und rituelle Tierschlachtung. Auffällig ist dabei, dass es sich um klassische Probleme der rechtlichen Stellung des religiösen Individuums und der Religionsgemeinschaft in Ausübung ihrer Religionsfreiheit handelt: Natürlich ist die Frage der rechtlichen Gleichberechtigung der Muslime durch diese Fragen nicht erschöpfend behandelt und muss weiter gefasst werden. Auch die Diskriminierung im Alltag und am Arbeitsplatz oder die Förderpolitik des Staates gehören zu diesem Themenfeld, werden aber, da sie nur begrenzt unter dem Thema »Rechtsstaat« verhandelt werden können und eher mit dem politischen Handeln der Regierung, im weiteren Sinne sogar mit gesellschaftlichem Handeln insgesamt verbunden sind, zu einem späteren Zeitpunkt diskutiert werden (Kap. I.2 und II.1). Um die Situation europäischer Blasphemiegesetze richtig einordnen zu können, muss man auf 1989 zurückgehen, als der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini ein islamisches Gutachten (fatwa) gegen den britischindischen Dichter Salman Rushdie verhängte, das einem Todesurteil gleichkam. Rushdie wurde vorgeworfen, in seinem Roman »Satanische Verse« den muslimischen Propheten Mohammed beleidigt zu haben. Der Skandal, der die Weltpresse jahrelang beschäftigte und dazu führte, dass Rushdie bis heute unter Personenschutz steht, zeigte das reaktionäre und auf ein mittelalterliches Scharia-Rechtsverständnis zurückgehende Blasphemiedenken der iranischen Revolutionsführung, auch wenn der damalige Fall komplexer war und weitere islamrechtliche Tatbestände wie Apostasie, das heißt Abfall vom Glauben, in die Fatwa verwoben waren (K. Hafez 1996a). In dem Fall zeigte sich bald, dass die Gegenüberstellung »westliche Meinungsfreiheit« vs. »islamisches Blasphemie-Verbot« zu vereinfachend war,

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denn England selbst besaß damals noch ein Blasphemiegesetz, das letztlich erst 2008 abgeschafft wurde. An diesem Gesetz waren zwei Dinge bemerkenswert: Erstens, dass es überhaupt existierte, ließ erkennen, dass die Säkularisierung in westlichen Rechtssystemen sich nie vollständig durchgesetzt hatte, denn in solchen Systemen wäre ein religiöses Sonderschutzrecht, das Religion einseitig gegenüber der Meinungsfreiheit schützt, im Grunde nicht zu rechtfertigen gewesen. Zweitens – und für unseren Kontext noch entscheidender: Das Gesetz schützte ausschließlich das Christentum und keine andere Religion, war demnach ein eindeutiger Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Obwohl in der jüngeren Geschichte Englands immer wieder einmal Blasphemieurteile gesprochen wurden, hatten Muslime also keinerlei rechtliche Handhabe, gegen Salman Rushdie vorzugehen. Versuche der muslimischen Gemeinschaft in Großbritannien, das Gesetz auf den Schutz nicht-christlicher Religionen erweitern zu lassen, scheiterten wiederholt (Fetzer/Soper 2005, S. 37). 2008 wurde das Gesetz in Gänze abgeschafft, der liberale Säkularismus hatte sich durchgesetzt und auch Gleichberechtigungserfordernissen schien zumindest aus der Sicht liberaler Multikulturalisten Genüge getan. Allerdings gilt diese Sicht nicht für alle europäischen Staaten, denn verschiedene Länder – unter ihnen Deutschland und Irland – besitzen noch immer Blasphemiegesetze. Sie sind gerade bei konservativen Kräften in diesen Ländern beliebt. Die rechtskonservative bayerische Christlich-Soziale Union (CSU) etwa forderte noch 2006 anlässlich der Karikatur-Sendung »Popetown« des Musiksenders MTV, die sich über den Papst lustig machte, das deutsche Blasphemierecht zu verschärfen. Deutschland hat bereits ein entsprechendes Gesetz, denn § 166 des Strafgesetzbuches stellt die Beleidigung von Religionen und Weltanschauungen unter Strafe, wenn diese geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Ein ähnliches Gesetz existiert auch in Österreich (§ 188, 189 StGB). Der Schutz der individuellen Rechte wie der Meinungsfreiheit scheint hier in konservativer Lesart einem Sonderrecht des Religionsschutzes untergeordnet zu sein. Allerdings sind diese in den letzten Jahrzehnten bereits reformierten Gesetze offensichtlich insofern verfassungskonform und gelten nicht als unbotmäßige Einschränkung von Individualrechten, als sie geschickt den »sozialen Frieden« als schützenswertes Rechtsgut einführen. Nicht die Religion oder ein bestimmtes Bekenntnis an sich wird hier geschützt, sondern der Gesellschaftsfrieden, der wiederum die Voraussetzung für die Wahrung aller anderen Rechte ist und die Schutzfunktion des Staates berührt. Ob vage Begrifflichkeiten wie »sozialer Frieden«, ein dehnbarer Begriff, auf Dauer Bestand haben werden, ist fraglich. Geht es den Regierungen um die Bestrafung von Gewalt, hätten sie andere gesetzliche Grundlagen und bräuchten keine religiösen Sondergesetze. Geht es allerdings darum, vehemente Debatten in einer Gesellschaft zu unterbinden, so bliebe die Frage der Vereinbarkeit mit der Meinungsfreiheit, denn was eine »Beleidigung« darstellt, ist letztlich subjektiv, und kein Gesetz

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in einem westlichen Verfassungsstaat darf hier Grundrechte beschneiden, um die Meinungen gesellschaftlicher Mehrheiten oder willkürliche Begriffsdefinitionen bestimmter Rechtsinstanzen zum gültigen Maßstab zu erheben. Problematisch allerdings ist es, Gewaltausbrüchen, die durch »geistige Brandstifter« angezettelt wird, vorzubeugen: man denke nur an die islamfeindlichen Attentate von Norwegen, die auch auf Internetdiskurse zurückzuführen sind (Kap. III.2). Um gegen überbordenden Rassismus in einer Gesellschaft gewappnet zu sein, scheint es sinnvoll, ein »Blaspehmiegesetz« nach Art des deutschen Strafrechts in der Hinterhand zu haben. In einem weiteren Punkt unterscheidet sich die Gesetzeslage in Deutschland und Österreich erheblich von dem bis 2008 in Großbritannien gültigen Gesetz: Alle Religionen und auch nicht-religiöse Weltanschauungen werden geschützt. Schaut man sich die historische Entwicklung des deutschen Gesetzes vom preußischen Recht über das Deutsche Reich bis in die Gegenwart an, so wird erkennbar, dass zunächst nur die christlichen Kirchen, dann alle als öffentliche Körperschaften (s.u.) anerkannten Religionsgemeinschaften und schließlich (seit 1969) alle Religionen und Weltanschauungen anerkannt worden sind. Hier hat sich eine evolutionäre Entwicklung des Rechtssystems hin zu effektiver Gleichberechtigung durchgesetzt. Wenn überhaupt noch Kritik an Gesetzen dieser Art geübt werden kann, dann nicht mehr aus multikultureller, sondern allenfalls aus liberaler Sicht. Ähnliches gilt auch für Irland, wo Anfang 2010 ein neues Blasphemiegesetz in Kraft getreten ist. Das Gesetz ist im Grunde analog der deutschen Rechtslage konzipiert: Es beinhaltet die Figur der Störung des »sozialen Friedens« und ist für alle Religionen gültig. Die Situation in Irland unterscheidet sich jedoch von Österreich und Deutschland insofern, als das Gesetz hier eine Erfüllung eines Verfassungsparagraphen ist, der sich explizit auf Religion bezieht, nicht aber auf andere Weltanschauungen. Erneut ist hier, allerdings in verschärfter Form, Kritik an dem Gesetz weniger aus multikultureller als vielmehr aus liberaler Sicht angebracht, denn die irische Gesetzeslage schützt primär die Religion und nur zweitrangig den sozialen Frieden und sie privilegiert religiöse gegenüber atheistischen Überzeugungen. Haben also Staaten wie Deutschland und Österreich bereits verstanden, dass sie die Integrität von Gottheiten nicht zu kümmern braucht, weil dies nicht ihr Verfassungsauftrag ist, so dass man hier nur noch die Unklarheit des Begriffs des »sozialen Friedens« kritisieren kann, so fordert die irische Verfassung von der Regierung tatsächlich einen Gottesschutz und steht damit im Sinne liberaler Prinzipien selbst zur Disposition. Insgesamt lässt sich bei Durchsicht europäischer Rechtssysteme erkennen, dass eine Reihe von Staaten – wie Frankreich – längst keine solchen Regelungen mehr haben, und dass dort, wo diese fortexistieren, die Gleichberechtigung der Religionen gesetzlich geregelt ist. Die Gesetze sind damit zwar aus liberaler Sicht vielfältig angreifbar, da unklar bleibt, was genau der »soziale Frieden« ist

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oder weil Religion, wie in Irland, als bevorrechtetes Rechtsgut in Erscheinung tritt: allesamt Regelungen, die von einem konservativen, möglicherweise kommunitaristischen, aber sicher nicht von einem konsequent liberalen Rechtsbegriff zeugen. Für die Zukunft ist absehbar, dass weitere Reformen notwendig werden. Modifizierte »Blasphemiegesetze« könnten sich allerdings eines Tages noch als nützlich zur Bekämpfung von Intoleranz erweisen. Der liberale westliche Rechtsstaat hat sich in einem längeren historischen Prozess fortgesetzt selbst erneuert und in Richtung Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen entwickelt. Die Gleichberechtigung der Religionen hat sich in den bestehenden »Blasphemiegesetzen« heute bereits durchgesetzt. Weitaus komplexer ist die Lage bei einem weiteren Problem, das in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Debatten gewesen ist, wenn es um die Gleichberechtigung der Religionen im europäischen Verfassungsstaat ging: die Anerkennung von Religionsgemeinschaften und öffentlichen Körperschaften. Legale Formen der Anerkennung können wichtig sein, wenn der Staat im sogenannten »weichen Säkularismus« (s.o.) Partner für die Gestaltung gemeinsamer öffentlicher Aufgaben sucht, etwa für die Durchführung des Religionsunterrichts in Schulen oder die Besetzung von Repräsentationsstellen in öffentlichen Institutionen. Aus laizistischer Sicht sind solche Kooperationen undenkbar, religiöse Vertretungen haben in staatlichen Institutionen nichts zu suchen, und umgekehrt hat der Staat der privaten Religionsausübung nicht hineinzuregieren. Dies sind klassisch liberale Positionen, die allerdings eine Reihe weitreichender Fragen eröffnen, über die schon gesprochen worden ist. Im Kern: Kann der Staat, der sich in der modernen Gesellschaft in vielen Bereichen allein zeitlich immer mehr in die Privatsphäre ausdehnt und etwa Kindern vorschreibt, einen großen Teil ihrer Zeit in Schulen zu verbringen, Religion in der staatlichen Sphäre überhaupt völlig verbieten, ohne gegen Grundrechte zu verstoßen? Und wenn er dies nicht kann (Stichwort: »Übermaßverbot«), wie gelangt man dann zu Regelungen des Umgangs mit Religion in staatlichen Institutionen? Was den letzten Punkt betrifft, so ist die Antwort: nur durch gesetzlich geregelte Kooperationsformen mit klar definierten Religionsgemeinschaften. Natürlich gibt es auch andere Kooperationsarten, etwa informelle religiöse Beratungsgremien der Politik, die übrigens selbst im scheinbar so laizistischen Frankreich existieren. Da diese Gremien jedoch in der Regel keinen gesetzlichen Anspruch besitzen, werden sie später im Zusammenhang mit Regierungshandeln erörtert (Kap. I.2) und wir konzentrieren uns hier auf die gesetzlichen Grundlagen der Definition und Kooperation von und mit Religionsgemeinschaften. Geht man von der prinzipiellen Notwendigkeit einer Kooperation aus, so wird man schnell zu der Erkenntnis gelangen, dass es hierfür keine »sauberen« Lösungen gibt. Regelungen darüber, welche Religionsgemeinschaften staatlich anerkannt werden, welche Privilegien ihnen in staatlichen Institutionen zukommen und ob sie gar als Körperschaften eigene Institutionen bilden und

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öffentliche Aufgaben übernehmen können, bergen immer ein gewisses Maß an definitorischer Willkür. Allerdings ist fraglich, ob man eine gerechtere Gesellschaft erzielt, wenn man, wie es Laizisten tun, solche Regelungen generell zu vermeiden versucht. An der Nahtstelle zwischen Staat und Gesellschaft herrscht auch in anderen Bereichen erhebliche Unklarheit, etwa wenn der Staat mit Umweltverbänden, Gesellschaften und Lobbyisten kooperiert. Fraglich aber ist, ob der zentralistische Einheitsstaat, der alle Aufgaben elitär an sich reißt und jegliche Berührung mit ungewählten Repräsentanten der Gesellschaft meidet, tatsächlich gerechter ist. Auch der französische Laizismus hat in den vergangenen Jahrzehnten erfahren müssen, wie sich religiös-ethnisches Proporzdenken in seinen republikanischen Institutionen ausbreitet, und zwar ohne dass es hierfür gesetzliche Grundlagen gäbe. Beim ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy etwa repräsentierten von ihm selbst ausgewählte muslimische Minister(innen) eine religiöse und kulturelle Gesellschaftskomponente und fungierten als Sprachrohre der entsprechenden Gemeinschaften in sozialen Konflikten, auch wenn sie von diesen Gemeinschaften in keiner Weise dazu auserkoren worden waren und es im Grunde keine Möglichkeit gab, solche Repräsentanten demokratisch zu wählen. Großbritannien gehört zu denjenigen Staaten, die einen Säkularismus pflegen, der viele institutionelle Verflechtungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zulässt. Zahlreiche Bischöfe und Erzbischöfe sind automatisch Mitglieder im House of Lords. Momentan ist jedoch nicht absehbar, dass sich die Forderung radikaler Säkularisten nach Abschaffung dieser Privilegien durchsetzen wird, ganz im Gegenteil (Modood 2001, S.  83). Nach dem Sieg der Labour Partei 1997 ernannte diese drei muslimische Peers für das House of Lords (Vertovec 2002, S.  29). Damit reagierte die Partei auf Kritik an der mangelnden Gleichstellung nicht-christlicher Religionsgemeinschaften in englischen Institutionen. Mit der genannten Maßnahme ist Gleichberechtigung allerdings noch lange nicht erreicht, man denke nur daran, dass das englische Staatsoberhaupt, die Königin, zugleich auch das Oberhaupt der Anglikanischen Kirche ist und somit im religiösen Sinne gar nicht alle Staatsbürger, sondern lediglich die christliche Mehrheitsgesellschaft repräsentiert. Die Symbolkraft dieser Form der Identifikation des Staates mit einer bestimmten Religion ist keineswegs zu unterschätzen. Allerdings besitzt das englische politische System hier im europäischen Vergleich eine Sonderstellung. Für Europa sicherlich bedeutsamer, weil für eine Gruppe nord- und zentraleuropäischer Staaten mit ähnlichen Kooperationsformen zwischen Staat und Religion repräsentativer, ist der Fall Deutschlands. Die rechtliche Grundlage bildet das Staatskirchenrecht als Bereich des öffentlichen Rechts. Teile dieses Rechts gehen auf die Weimarer Reichsverfassung zurück, die zwar die Neutralität des Staates gegenüber Religionsgemeinschaften bestätigte, den öffentlich-rechtlichen Status der Kirchen und ihre gesellschaftlichen Partizi-

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pationsmöglichkeiten jedoch unangetastet ließ. Die grundlegende Rechtsfähigkeit von Religionsgemeinschaften entsteht durch deren Gründung auf der Basis des Vereinsrechts. Darüber hinaus aber können Religionsgemeinschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts werden, was nach Janbernd Oebbecke bedeutet, dass eine »positive organisatorische Berücksichtigung der Belange des Einzelnen und der Religionsgemeinschaften« durch den Staat stattfindet (Oebbecke 2000, S. 292). Nach Artikel 140 des deutschen Grundgesetzes beinhaltet der Status einer Körperschaft, dass der betreffenden Religionsgemeinschaft eine Reihe von Privilegien eingeräumt werden, weil sie im Gegenzug öffentliche Aufgaben übernimmt, die im Gesamtwohl des Staates liegen. Zu den Privilegien zählt der Steuereinzug, den es außerhalb Deutschlands nur selten gibt, das Beamtentum bzw. öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse und ein ganzes »Privilegienbündel« (Oebbecke), zu dem vor allem die Repräsentation in bestimmten öffentlichen oder staatlichen Gremien gehört. All dies bedeutet aber nicht, dass Religionsgemeinschaften zu einem Teil des Staates werden. Als öffentlich-rechtliche Organisationen bekommen sie zwar Hilfestellungen vom Staat, sind aber autonom. Sie sind allerdings auch nicht »grundrechtsverpflichtend«. Dies heißt, dass sie von der Verfassung profitieren, die ihnen eine Stellung garantiert, in deren Rahmen sie eine Funktion ausüben sollen. Das bestehende Recht ist jedoch jederzeit veränderbar, denn abgesehen von den Grundrechten lassen sich alle Verfassungsteile per Parlamentsbeschluss modifizieren oder abschaffen. Interessant ist nun, dass zwar historisch religiöse Körperschaftsrechte im Hinblick auf die großen christlichen Kirchen entstanden sind. Schon in der Weimarer Zeit allerdings war die Anwendbarkeit dieses Rechts auch auf nichtchristliche Religionsgemeinschaften unbestritten – jüdische Organisationen werden bereits seit Langem anerkannt (Oebbecke 2000, S.  293). Auch die liberalen modernen Theoretiker wie Walzer oder Kymlicka würden sicher zustimmen, dass nicht unbedingt der Steuereinzug und das Beamtentum, jedoch eine mit dem Körperschaftsstatus verbundene verbesserte Repräsentation und Mitbestimmung der Religionsgemeinschaften wünschenswert ist. Die deutsche Verfassung bietet damit die Gelegenheit, ohne die Schaffung von Sonder- oder Gruppenrechten, die ja theoretisch umstritten sind, die Stellung nicht-christlicher Minderheiten im Staat auf der Basis gleicher Rechte aufzuwerten. Zwar sind bestimmte Aktivitäten wie die Mitwirkung am Schulunterricht auch ohne Körperschaften und nur bereits durch die Anerkennung von Religionsgemeinschaften möglich, aber eben nicht die weiter gehende Repräsentation in den Institutionen des Staates und der öffentlichen Sphäre, etwa im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die schon deswegen wichtig ist, weil damit das oft von Klischees geprägte Medienbild von Minderheiten positiv korrigiert werden könnte (Kap. III.1). Nicht zuletzt aus diesem Grund hat etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland eine Körperschaft des öffentlichen Rechts gebildet.

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In Deutschland wird allerdings schnell erkennbar, dass den Muslimen – wie übrigens auch manchen christlichen Minderheiten wie den Zeugen Jehovas – die staatliche Anerkennung als Körperschaft in der Rechtsprechung wie in der rechtlichen Praxis ungeachtet der bestehenden verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen verweigert wird. Bisher sind entsprechende Anträge muslimischer Organisationen stets abgelehnt worden. Deutsche Gerichte haben geltend gemacht, dass es den jeweiligen Vereinen in der einen oder anderen Hinsicht an Eigenschaften mangelt, die der deutsche Gesetzgeber bei Religionsgemeinschaften, die Körperschaften werden wollen, für grundlegend hält. Sie hätten, wie die Gerichte argumentieren, zu wenige Mitglieder oder sie bestünden noch nicht lange genug, so dass die Gewähr der Dauer, die ja etwa auch die Politikwissenschaft für Institutionen für wesentlich hält (vgl. Schülein 1987; Göhler 1987), nicht gegeben sei. Janbernd Oebbecke argumentiert, dass die Mitgliederzahl der wichtigsten Islamorganisationen in Deutschland, vor allem der Dachverbände (Kap. I.3), groß genug sei (Oebbecke 2000, S. 324). Thomas Lemmen allerdings weist darauf hin, dass bei manchen Organisationen der Status der Mitglieder unklar sei (Lemmen 2002). Mathias Rohe geht von einer notwendigen Lebensdauer von mindestens dreißig Jahren aus (Rohe 2008, S. 57). Christian Walter hingegen plädiert dafür, solche Fristen zu überdenken und sie nicht zu schematisch anzuwenden, denn die Situation der Einwanderung sei eine besondere (Walter 2005, S. 39). Es ist leicht ersichtlich, auf welch unsicheren Beinen die Nicht-Anerkennung muslimischer Körperschaften steht. Neben dem zusätzlichen Einwand der vielfach fehlenden hinreichenden rechtlichen Organisation und Finanzierung ist vor allem ein weiterer Aspekt umstritten, nämlich das Vorhandensein einer Instanz, die als Autorität in Religionsfragen angesehen werden kann. Hinsichtlich des Islams finden sich auch hierzu sehr unterschiedliche Positionen. Mathias Rohe etwa argumentiert, die Vergabe weitgehender Privilegien wie dem des Steuereinzugs setze logisch klare Organisationsstrukturen und eine religiöse Autorität voraus, die es aber im Islam traditionell nie gegeben habe (Rohe 2008, S.  58). Oebbecke hingegen meint, dass die Frage, wie eine Religionsgemeinschaft in theologischer Hinsicht organisiert sei, nicht Teil der Verleihungsvoraussetzungen, sondern Teil des Bekenntnisses selbst sei (Oebbecke 2000, S. 325). Deutsche Gerichte neigten lange der Sicht Rohes zu und lehnten die Körperschaftsbildung für muslimische Organisationen ab (Oebbecke 2000, S. 321). Hans Maier fragte allerdings schon 1999 bei einer Anhörung der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion: »Muss der Islam Kirche werden, um in den Genuss der Privilegien zu kommen, die der Artikel 7 Grundgesetz den christlichen Kirchen und dem Judentum zumittelt?« (CDU/CSU-Bundestagsfraktion 1999, S. 44) Gritt Klinkhammer ist in ähnlicher Weise der Meinung, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von 2000 (Urteil über die

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Zeugen Jehovas) der Autoritätsvorbehalt nicht mehr gelte, denn Religionsgemeinschaften, die vom Staat Privilegien erhalten wollten, müssten ihr Wirken nicht an den Interessen und Zielen des Staates ausrichten (Klinkhammer 2002, S. 183f.) – mit Ausnahme der Grund- und Menschenrechte, könnte man hinzufügen, die von jedem, vom Staat ebenso wie von Religionsgemeinschaften, eingehalten werden müssen und insofern sicher Staatsziele darstellen. Die deutsche Rechtsprechung scheint in diesem Bereich noch nicht abgeschlossen zu sein, und was mit dem Kriterium der religiösen Autorität in Zukunft geschieht, bleibt unklar. Mindestens drei Szenarien sind denkbar: Entweder beharren die Gerichte auf der Bildung von religiösen »Hochämtern«, dann müssten sich die Vereine danach ausrichten, und die Muslime müssten, wären sie an Körperschaften interessiert, Mitglieder werden und würden per Eintritt diese Autorität anerkennen (Klinkhammer 2002, S. 191f.). Oder die Gerichte überlassen solche Fragen den Gläubigen selbst. Eine Religionsgemeinschaft und förderungswürdige Körperschaft wäre dann jede Gruppe, die sich vereinsrechtlich zusammenschließt und sich dabei auf ein heiliges Buch oder bestimmte Traditionen beruft. Als dritte Lösung bietet sich theoretisch an, dass sich nicht die Rechtsprechung im Hinblick auf die Muslime, sondern die gesetzlichen Grundlagen selbst ändern, das heißt, das deutsche Staatskirchenrecht wäre von Grund auf neu zu definieren und an die Erfordernisse der Einwanderungsgesellschaft anzupassen. Man könnte die Privilegien umgestalten, überlegen, ob das Beamtentum hier noch zeitgemäß ist, ebenso der Steuereinzug, und man könnte flexible Regelungen für die notwendige Größe und Dauerhaftigkeit einer Religionsgemeinschaft finden, die Repräsentationsrechte in großen Institutionen sucht. Diese letzte Lösung wäre sicher die rechtlich und im Sinne liberaler Theorie eleganteste, aber sie hat wohl politisch keine Chance auf Durchsetzung, denn dann müssten die Kirchen mit einem Entzug von Privilegien rechnen, wogegen sie sich mit allen Mitteln wehren (EKD 2006, S. 79). Vielleicht auch vor diesem Hintergrund hat sich die Deutsche Islam Konferenz, ein von der Politik seit 2006 gebildetes Beratungsgremium (Kap. I.2), eindeutig zugunsten der mittleren Option einer Flexibilisierung der Rechtsprechung auf dem Boden vorhandener Gesetze ausgesprochen und zieht dafür die derzeitigen Verhältnisse als Maßstab heran: »Die innere Ordnung einer Religionsgemeinschaft« unterliege deren »Selbstbestimmungsrecht« und könne mehr oder weniger demokratisch oder hierarchisch organisiert sein, wie dies auch bei bestehenden Kirchen der Fall sei (Deutsche Islam Konferenz 2009, S. 56). Demnach würde die Gleichberechtigung der Religionsgemeinschaften vor dem Gesetz nicht dadurch gewährt, dass alle Religionsgemeinschaften gleich – gleich alt, gleich konstruiert – sein müssten, sondern dass sie als Gemeinschaften auf ihre Art die gleichen Funktionen für die Gesellschaft erfüllen. Dies würde aber bedeuten, dass die Interpretation der Kriterien, die darüber

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entscheiden, wer und was eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft und Körperschaft sein kann, flexibilisiert werden müsste. Die derzeitige Praxis in Deutschland, die fehlende rechtliche Sicherheit durch politische »Übergangsformate« (Busch/Goltz 2011; vgl. a. Silvestri 2010, S. 49) wie die Deutsche Islam Konferenz oder die »Schura« in Hamburg, ebenfalls eine beratende Einrichtung, auszugleichen, ist fraglich. Dies sind solange improvisierte Lösungen, wie es ein von anderen Religionsgemeinschaften genutztes Körperschaftsrecht gibt. Margrete Søvik spricht hier sehr offen von einer diskriminierenden Situation: »It appears indeed that restrictive interpretations of the term Religionsgemeinschaft have been a deliberate means of regulating access to the public domain and excluding agents not trusted to be sufficiently mature and socially responsible.« (Søvik 2008, S. 244) Tobias Frick und Gritt Klinkhammer fragen, wie lange »eine Zweiteilung der Privilegien zur Entfaltung religiösen Lebens mithilfe des Körperschaftsstatus’ in einem religiösneutralen Staat überhaupt noch rational begründbar« sei (Flick/Klinkhammer 2002, S.  10). Auch Joel S. Fetzer und J. Christopher Soper gehen davon aus, dass aus rechtlicher Sicht eine Gleichstellung in absehbarer Zeit erfolgen müsse (Fetzer/Soper 2005, S. 108f.). Natürlich ließe sich darüber nachdenken, diese Körperschaften insgesamt – also auch für die christlichen Kirchen usw. – abzuschaffen und die staatliche Kooperation ganz auf laizistische Beine zu stellen oder allenfalls auf Beratungskonstrukte zu verlagern. Der Vorteil wäre sicherlich eine größere Offenheit und Dynamik der Zusammensetzung öffentlicher Gremien: Vereine würden keinen Monopolanspruch mehr für die Muslime entwickeln können. Der Nachteil wäre jedoch ganz klar die gewachsene Abhängigkeit vom Staat, in dessen Einflussbereich diese Gremien lägen (Kap. I.2). Der Staat ist organisiert, die Zivilgesellschaft als Ganzes ist es aber nicht. Organisationen und Institutionen bilden daher das Rückgrat einer pluralistischen Demokratie. Von einer »Zwangskonfessionalisierung« des Islams in Deutschland zu sprechen, wie dies etwa Jamal Malik tut, der fürchtet, der deutsche Staat würde den Islam durch falsche rechtliche Grundlagen quasi in »Kirchen« verwandeln,5 ist gleichwohl allenfalls teilweise berechtigt. Zutreffend ist, dass es in einem korporatistischen System Schieflagen der Repräsentation gibt, aber diese Probleme gibt es überall in repräsentativen Demokratien und sie treten auch in der Mehrheitsgesellschaft auf, wo ebenfalls die Kirchen als Konfessionen eine Vielzahl von Christen vertreten, die zum Teil längst aus ihren Organisationen ausgetreten sind oder nie in ihnen Mitglieder waren. Soll man deswegen die kooperativen Umgangsformen ganz laizisieren und auf jegliche Repräsentation verzichten? Bleibt man aber innerhalb des korporatistisch-pluralistischen Modells des »weichen Säkularismus«, so könnte eine Zwangskonfessionalisierung nur erfolgen, wenn die Gerichte weiter auf der Bildung künstlicher Autoritäten beharrten oder wenn sogar, im Extremfall, Zwangsmitgliedschaften verhängt würden, was jedoch für

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niemanden diskutabel ist, da es gegen das Grundrecht der Religionsfreiheit verstoßen würde. Für die Zukunft ist eine Situation absehbar, wonach muslimische Laienorganisationen ohne theologische Ausstrahlungskraft, ganz ähnlich dem Zentralrat der Juden in Deutschland, eine mehr oder weniger gelungene Repräsentationsrolle in staatlichen Gremien übernehmen werden. Muslime wären damit in jeder Hinsicht in der Realität eines europäischen Verfassungsstaates angekommen. Das österreichische Rechtssystem hat sich als wesentlich flexibler bei der Anerkennung des Islams als Körperschaft erwiesen als das deutsche. Österreich ist noch immer das einzige Land in Europa, in dem muslimische Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts akzeptiert werden. Dort waren einheitliche Bundesgesetze möglich und die Definition der Eignungskriterien erfolgte zum Teil durch Sondergesetze (Friese 2007). Obwohl sich die Gesetzeslage wegen der unterschiedlichen historischen Entwicklungen und aktuellen Voraussetzungen nicht ohne weiteres auf Deutschland oder andere Länder übertragen lässt, lohnt sich das Studium der österreichen Verhältnisse. Als ebenso problematisch wie die Fragen der Religionsgemeinschaften und Körperschaften erweisen sich sowohl die Gesetze als auch Rechtspraktiken im Bereich des Umgangs mit religiösen Symbolen in staatlichen Einrichtungen europäischer Länder. In westeuropäischen Staaten lassen sich, je nach Tradition, unterschiedliche Formen der Diskriminierung erkennen, die gleichwohl einer genauen Beschreibung bedürfen. Weder die Zurschaustellung noch das Verbot religiöser Symbole ist in allen Fällen als Verstoß gegen den liberalen rechtlichen Gleichheitsgrundsatz zu interpretieren. Allerdings sind Kernkriterien wie das Gleichbehandlungsgebot religiöser Minderheiten und das Übermaßverbot einzuhalten. Europäische Rechtsordnungen und ihre institutionelle Praxis haben sich in den letzten Jahrzehnten zum Teil zwar entwickelt. Je nach Spielart des Säkularismus jedoch zeigen sich noch immer Züge der Ungleichheit oder der weitreichenden Restriktion. England etwa ist der Typ Staat, der einerseits die geringste Neigung zu übermäßigen Eingriffen in diesem Bereich aufweist, was ihm den Ruf eingebracht hat, die Frage der religiösen Symbole am liberalsten von allen Ländern zu handhaben. Andererseits erzeugt gerade die starke Beharrungskraft mancher Traditionen eine Ungleichheit der symbolischen Repräsentation, die das glatte Gegenteil von liberaler Gleichbehandlung ist. So wird beispielsweise das muslimische Kopftuch in Schulen und anderen staatlichen Räumen akzeptiert, und zwar auch bei Lehrerinnen. Das Kopftuch bei Schulmädchen ist erlaubt, solange es farblich zur Schuluniform passt. Anders als in zahlreichen europäischen Ländern, in denen das Tragen des Kopftuches in Schulen zu oft vehementen öffentlichen Debatten führte, hat diese Frage die britische Öffentlichkeit kaum beschäftigt und bislang kaum Beschwerden hervorgerufen (Fetzer/Soper 2005,

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S. 41). Die Kopftuchregeln in öffentlichen Einrichtungen sind liberaler als anderswo in Europa. In der freien Wirtschaft allerdings herrscht die auch andernorts übliche Regelung, dass Arbeitgeber die Bekleidungsregeln selbstständig definieren können, solange diese für alle gelten. Während der Staat sich also bemüht, lediglich in die Farbgestaltung des Kopftuches einzugreifen und so einen gemäßigten Kompromiss zwischen Religionsfreiheit und seinen eigenen Neutralitätsanforderungen geschaffen hat, können private Arbeitgeber das Kopftuch und andere Religionssymbole gänzlich verbieten, was wiederholt zu Protesten von Muslimen und zum Vorwurf der Diskriminierung geführt hat.6 Dass das keineswegs übermäßig restriktive und auf seine kosmopolitische Toleranz stolze Großbritannien auch im staatlichen Raum nach wie vor Ungerechtigkeiten erzeugt, zeigt sich in anderen Bereichen des Umgangs mit religiösen Symbolen. Beispielsweise wurde Schülern in der Vergangenheit zum Teil nicht erlaubt, einen Bart zu tragen, und der Race Relations Act erkennt zwar Gemeinschaften wie Juden und Sikhs als ethnische Minderheiten an, nicht aber Muslime als religiöse Minderheit. Monarchie und Kirche sind zudem aufs engste symbolisch verbunden. Britische Erzbischöfe sind Teil des hoheitlichen Zeremoniells, das die Anglikanische Kirche und die christliche Religion eindeutig bevorteilt (Fetzer/Soper 2005, S. 34). Frankreich hat hier eine ganz andere Tradition vorzuweisen. Es ist wesentlich restriktiver, Regelungen wie das Übermaßverbot gelten hier nicht. Dafür aber ist das laizistische System auch widerspruchsfreier – zumindest auf den ersten Blick. Der französische Staat untersagt die Zurschaustellung religiöser Symbole in allen staatlichen Einrichtungen. Weder Lehrer noch Schüler, Staatsbeamte oder staatliche Würdenträger zeigen irgendeine Verbindung zur Religion oder einer Religionsgemeinschaft. Religionsfreiheit wird als private Freiheit betrachtet, man kann sie öffentlich ausleben, aber der Staat hat die Religion völlig verbannt. Als Folge des Kopftuchverbots schätzt man, dass hunderte muslimischer Mädchen von französischen Schulen verwiesen wurden (Fetzer/Soper 2005, S. 5). Allerdings wird, was außerhalb Frankreichs kaum bekannt ist, das Verbot sehr unterschiedlich praktiziert. In vielen Fällen haben Schuldirektoren das Kopftuch erlaubt, solange die Mädchen sonst ihren Schulpflichten nachkommen. Gelegentlich haben auch französische Gerichte Schülerinnen wieder zugelassen (Fetzer/Soper 2005, S. 80f.; vgl. a. Cesari 2006, S. 218). Selbst der französische Laizismus ist also – de facto – widersprüchlich und erzeugt Ungleichbehandlungen, die erst dadurch zustande kommen, dass ein gesetzlicher Anspruch auf religiöse Repräsentanz nicht besteht und tolerierte Gesetzesverstöße in Einzelfällen eine Art Zweiklassenrecht schaffen.7 Man kann den rigiden französischen Verbotsanspruch, der vordergründig »gerecht« zu sein scheint, weil er für alle gleichermaßen zu gelten vorgibt, aber nicht nur aus der Perspektive seiner fehlerhaften Rechtspraxis, sondern auch rechtstheoretisch und grundsätzlich hinterfragen. Abdullahi Ahmed An-Na’ims

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Hinweis auf den »fundamentalistischen« und übermäßigen Charakter des französischen Laizismus kommt hier zum Tragen (s.o.). Das englische System schützt sogar die Lehrerinnen staatlicher Schulen in ihrer symbolischen Religionsfreiheit. Das französische hingegen schränkt die Lehrerinnen ein und, was noch schwerwiegender ist, es schränkt auch die Schülerinnen ein. Denn zwischen Lehrerin und Schülerin besteht ein kategorialer Unterschied, insofern als letztere der Schulpflicht unterliegt, das heißt vom Staat gezwungen wird, in die Schule zu gehen, was bei der Lehrerin, die ihren Beruf gewählt hat, nicht der Fall ist. Wenn aber die Freiheit der Berufswahl mit der Freiheit des Staates, seine Sphäre zu regeln, auf eine Stufe gestellt wird, lässt sich ein Verbot für Lehrerinnen immerhin noch bedenken, denn sie sollen ein möglichst neutrales Vorbild für die Schülerinnen sein, dürfen nicht für einzelne Weltanschauungen Partei ergreifen. Dies ist Teil ihrer Berufsrolle. Der »aufklärungsfundamentalistische« Charakter des französischen Systems entfaltet sich so richtig aber erst im Fall der Schülerinnen, denn diese unterliegen dem Zwang, in die Schule zu gehen. Eine Befreiung von der Schulpflicht, Privatunterricht, wie er in den USA und auch in Europa verbreitet war, ist nicht möglich. Der Einzelne übt also durch den Schulbesuch keineswegs eine Freiheit aus, die mit der Berufswahl vergleichbar wäre, und er – besser sie – hat nicht einmal die Chance, sich zwischen Religion und Schule zu entscheiden, sondern die Entscheidung wird vom Staat oktroyiert, der damit das Grundrecht der Religionsfreiheit in übermäßiger Weise und ohne zwingende Notwendigkeit außer Kraft setzt. Dies gilt mit Blick auf religiöse Minderheiten ebenso wie im Hinblick auf diejenigen Mitglieder der christlichen Mehrheit in Frankreich, die religiöse Symbole tragen wollen. Das deutsche Rechtssystem bewegt sich gewissermaßen zwischen den französischen und englischen Vorbildern. Es erlaubt Schülerinnen das Tragen von Kopftüchern. Ein Berliner Gericht entschied sogar, dass ein muslimischer Gymnasiast in der Schule seine Gebete verrichten können muss.8 Das Bundesverwaltungsgericht nahm das Urteil zwar später wieder zurück, da in dem speziellen Fall Streitigkeiten entstanden und dadurch der Schulfrieden gestört worden sei; es stellte allerdings klar, dass die Schulen prüfen sollten, ob es in anderen Fällen »wirklich zur Wahrung des Schulfriedens nötig [sei], die Glaubensfreiheit einzuschränken.«9 Deutsche Gerichte haben mehrfach für eine positive Deutung der Religionsfreiheit auch in staatlichen Einrichtungen votiert. Zudem besteht nicht in allen Bundesländern ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen, so dass es eine Reihe von Fällen gibt, wo Lehrerinnen in Deutschland ein Kopftuch tragen – Beschwerden gegen die Neutralität dieser Personen hat es bislang kaum gegeben. Dennoch haben deutsche Gerichte geurteilt, dass ein Verbot nicht prinzipiell gesetzwidrig sei, solange es sich gegen die Symbole aller Religionen richte, also gerecht durchgesetzt werde. Auch hier stellte ein Gericht in Baden-Württemberg 2006 fest, dass ein spezielles Kopftuchverbot ungültig

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sei, solange der christliche Nonnen-Habit in Schulen noch erlaubt sei (Cesari 2006, S. 38). Auch europäische Gerichte haben sich um die Verbesserung der Situation der Gleichberechtigung bemüht, vor allem mit dem berühmten »Kruzifix-Urteil« des Bundesverfassungsgerichts von 1995. Darin wurde festgehalten, dass es keine Bevorzugung von christlichen Religionssymbolen in staatlichen Schulen geben dürfe, wie dies bei den etwa in Bayern verbreiteten Kruzifixen und anderen Religionssymbolen in Schulklassen der Fall sei. In einer Reihe europäischer Staaten behaupten konservative Politiker und Kräfte seitdem, das Kruzifix sei gar kein religiöses Symbol mehr, sondern Ausweis einer christlichjüdischen Tradition, unterliege somit nicht dem religiösen Gleichbehandlungsgrundsatz. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) urteilte in einem Fall gegen Italien ähnlich wie das deutsche Bundesverfassungsgericht. Allerdings wurde der Urteilsspruch von der Großen Kammer des EGMR 2011 überraschend wieder rückgängig gemacht, da diese das Kruzifix als ein »passives Symbol« einstufte, das auch in seiner christlichen Dominanz Kinder nicht indoktriniere. Das Urteil war auf Initiative von zehn katholisch geprägten europäischen Regierungen und 33 Europaabgeordneten zustande gekommen.10 Es wird von Verfassungsrechtlern kritisiert (Fremuth 2011) und kann eigentlich nur in der Weise interpretiert werden, dass nun auch nicht-christliche religiöse und andere weltanschauliche Symbole in Klassenräumen ihren Platz finden können müssen. Die wenigen Beispiele zeigen bereits, dass sich europäische und eine Reihe staatlicher Gerichte in den letzten Jahrzehnten um mehr rechtliche Neutralität bemühen. Allerdings fechten vor allem konservativ-katholische politische Kräfte liberale Rechtsauffassungen der Gerichte in vielen Fällen an. In einer Art Kampf um die Vormacht der religiösen Symbole betreiben sie eine Rückentwicklung zur christlich-abendländischen Hegemonie. Außerhalb des französischen (und des türkischen) Laizismus zweifelt heute in Europa kaum noch jemand an der prinzipiellen Rechtsverträglichkeit von muslimischen Kopftüchern von Bürgerinnen im staatlichen Raum. Bei Staatsdienern hingegen wird das Kopftuch in der Regel allenfalls ohne rechtliche Absicherung toleriert. Kruzifixe in Klassenräumen und die christlichen Repräsentanten der englischen Monarchie sind nur zwei Beispiele für hegemoniale Restbestände in einer insgesamt aber dynamischen Rechtsentwicklung in Europa. Die deutlichsten Unterschiede zwischen dem Laizismus und den anderen Varianten des europäischen Säkularismus zeigen sich bei der Frage des Religionsunterrichts in Schulen. Frankreich erlaubt keine religiöse Unterweisung in staatlichen Schulen und fördert keine privaten muslimischen Schulen (Fetzer/ Soper 2005, S.  63). Von diesen Regeln gibt es nur sehr wenige Ausnahmen, etwa in der Region Elsass (Akgönül 2009). Ganz anders in Großbritannien, das sich bereits wesentlich länger als etwa Deutschland um eine Integration

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des Islamunterrichts in das Schulwesen bemüht. Allerdings gibt es in öffentlichen Schulen keinen eigenständigen Islamunterricht und es ist gesetzlich festgelegt, dass ein mehrheitlicher Anteil des gemeinsamen Religionsunterrichts christlich geprägt zu sein hat und gemeinsame Gebete ganz oder überwiegend christlichen Charakter haben müssen, während der Rest für andere Religionen offensteht (Halstead 2009). Die Unterstützer dieser im Education Act von 1988 festgeschriebenen Regelung sahen Großbritannien auf dem Weg zu »übertriebener« Liberalität und wollten dem entgegensteuern. In der Praxis jedoch genießen die Schulen viele Freiräume, wie sie diese Regelungen handhaben, Schulen verhalten sich in der Regel kooperativ, so dass es kaum muslimische Opposition gegen dieses Gesetz gibt (Fetzer/Soper 2005, S. 39f.). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ähnliche Regelungen nach einer Klage aus Norwegen, wo die Gesetzeslage vergleichbar war, verurteilt (Leirvik 2009). Norwegen gehört zwar nicht zur Europäischen Union, unterliegt aber der europäischen Menschenrechtsgerichtsbarkeit und ist Mitglied im Europarat. Probleme ergeben sich nicht nur, weil christliche Mehrheiten in Schulklassen nicht ohne Weiteres vorausgesetzt werden können, sondern auch, weil die Ausübung religiöser Praktiken unter die individuelle Religionsfreiheit fällt. Erneut also setzt die europäische Rechtsprechung das nationale hegemoniale Recht unter Druck und zwingt es zu Anpassungen. Großbritannien ist aber, trotz aller rechtlichen Grauzonen, ein Pionier bei der Frage des Islams in Schulen, da es frühzeitig islamische Lehrinhalte in staatlichen Schulen einführte und sich zur staatlichen Förderung von privaten muslimischen Schulen entschloss. Dies allerdings war erst nach einer größeren Debatte in den 1990er Jahren möglich. Muslime hatten die Gleichstellung mit christlichen und jüdischen Privatschulen gefordert, und Tony Blair entsprach diesem Anliegen trotz eines Hinterbänkleraufstandes im Parlament und Widerständen der Lehrergewerkschaft (Fetzer/Soper 2005, S. 1, 43ff.). Private muslimische Schulen spielen in Deutschland kaum eine Rolle, aber zum islamischen Religionsunterricht in Schulen gibt es verschiedene Ansätze in den deutschen Bundesländern. Bereits Ende der 1970er Jahre wurden Stimmen laut, die einen Islamunterricht verlangten. Seitdem wird in der Bundesrepublik, wie Michael Kiefer sagt, »diskutiert, experimentiert und prozessiert« (Kiefer 2007, S. 48). In keinem Bundesland ist bislang ordentlicher islamischer Religionsunterricht eingeführt worden, vielerorts werden jedoch Schulversuche durchgeführt. Der Staat macht für die Verzögerung vor allem die schwierige Situation verantwortlich, die dadurch entsteht, dass die islamischen Verbände nicht hinreichend als Religionsgemeinschaften anerkannt werden können (s.o.). Er sieht sich daher gezwungen, die Frage hoheitlich zu lösen, also die Gestaltung des Religionsunterrichts selbst in die Hand zu nehmen. Dies wirft neue grundsätzliche Rechtsfragen auf. Das deutsche Grundgesetz nämlich erwähnt zwar ausdrücklich das Recht von Religionsgemeinschaften, bekenntnis-

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orientierten Religionsunterricht zu gestalten – von den Kirchen ist dies durch Pastoren und Nonnen an Schulen immer wieder praktiziert worden. Der Staat soll aber für Unterricht, den er durch staatlich ausgebildete Religionslehrer selbstständig anbietet, lediglich Rahmenbedingungen organisieren, hingegen nicht in die inhaltliche Gestaltung eingreifen. Viele der deutschen Schulversuche nehmen sich wie trickreiche Umgehungen des Kooperationsproblems aus, denn der Staat regelt die Ausbildung von muslimischen Theologen selbst oder aber – was geradezu absurd erscheint – in Zusammenarbeit mit den nicht als Religionsgemeinschaften anerkannten deutschen Islamverbänden, etwa bei der Besetzung von Lehrstühlen für islamische Theologie an deutschen Hochschulen, oder anderen Ad-hoc-Gremien, zum Beispiel der »Schura«, dem Rat islamischer Gemeinschaften in Hamburg. Wozu ein solcher Eingriff des Staates führen kann, zeigt sich an der konfessionellen Ausrichtung des in Schulversuchen herausgebildeten Islamunterrichts. Obwohl es bei den Muslimen in Deutschland erhebliche Konfessionsunterschiede gibt (Sunna, Schia, Aleviten, Ahmadiyya usw.), wird der Islam, wie Kiefer argumentiert, »im Prozess der curricularen Formierung weitgehend auf einen angenommenen sunnitischen Grundkonsens reduziert und damit dekulturiert« (Kiefer 2009, S. 23). Österreich betreibt schon seit Langem einen landesweiten Religionsunterricht, in dem schiitische und alevitische Elemente fehlen. Ähnliche Probleme existieren auch in anderen europäischen Ländern, wo der Staat die inhaltliche Gestaltung des Religionsunterrichts selbst übernommen hat, etwa in Finnland (Sakaranaho 2006, S. 363f.). Man muss bezweifeln, ob die »pragmatische Wende« (Malik) des deutschen Staates beim islamischen Religionsunterricht zu der gesetzlich geforderten Gleichberechtigung führen wird und ob die intrinsischen Widersprüche der laufenden Schulversuche ausgeräumt werden können (Malik 2009; vgl. a. Ucar/Sarıkaya 2009). Die weitreichende Einmischung des Staates ist problematisch (Søvik 2008, S. 263). Das politische Bestreben nach einer Verbesserung der Situation ist erkennbar, aber auch und erneut eine letztlich politische Weigerung, alte Bastionen der kulturellen Hegemonie im Sinne einer liberalen Ausrichtung der staatlichen Sphäre zu räumen. Ähnliches lässt sich über den Bau von Moscheen sagen. Während es in Großbritannien nur wenige öffentliche Debatten über Moscheebauten gegeben hat, werden solche Projekte in Staaten wie Deutschland, Frankreich, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern regelmäßig kontrovers diskutiert, und staatliche Behörden haben vielfach Bauprojekte verhindert oder gebremst (Fetzer/Soper 2005, z.B. S. 46ff., 63, 87, 118). Die französische Innenpolitik hat allerdings ebenso wie deutsche Gerichte bereits warnend die Neutralitätspflicht des Städtebaus angemahnt (de Galembert 2003; Rohe 2008, S. 54). Ähnlich ist auch die Lage in Deutschland, wo viele Neubauten von Moscheen zu Gegenreaktionen der Bevölkerung, der Medien und des Staates geführt haben. In der

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Regel haben jedoch all diese Klagen nicht verhindern können, dass die Zahl der Moscheen in diesen Ländern in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. In Deutschland werden trotz zahlreicher Klagen derzeit die meisten Moscheen gebaut (Beinhauer-Köhler/Leggewie 2009, S. 118). Wenn die dritte Einwanderergeneration nicht mehr mit den Provisorien der Vergangenheit – Moscheen in Garagen und Fabriken usw. – zufrieden ist, sondern ihre dauerhafte Verwurzelung in einer neuen Heimat auch durch den Bau von Sakralgebäuden zum Ausdruck zu bringen versucht, so ist dies mit legalen Mitteln nicht zu stoppen, da Moscheen ein anerkannter Teil der Religionsfreiheit sind. Lärmschutzordnungen und städtebauliche Verordnungen können diesen Prozess verzögern, aber letztlich nicht verhindern, und viele Gegenmaßnahmen der Politik müssen eher als taktisches Zugeständnis an deren teilweise konservatives Wählerklientel denn als echter Versuch gesehen werden, Moscheebauten zu verhindern. Das ist deutlich anders in Ländern, die Ideen des liberalen Verfassungsstaates rechtlich nicht fest genug verankert haben, was allerdings in Europa eine Ausnahme darstellt. Das berühmteste Beispiel hierfür ist das 2009 erfolgte Minarettverbot in der Schweiz. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) und andere Kräfte setzten dieses Verbot mithilfe eines Bürgerentscheides durch. Eine Mehrheit des Wahlvolkes (»Volksmehr«) und der Kantone (»Ständemehr«) kam zustande, was nach der Schweizer Verfassung die Annahme des Referendums als Gesetz zwingend erforderlich machte. Dieses Beispiel ist weniger ein Beleg gegen das Funktionieren der europäischen Rechtsstaatlichkeit als vielmehr ein Hinweis auf den Sonderfall der Schweizer direkten Demokratie, die dem Mehrheitswillen und damit jeder Form kultureller Hegemonie freien Lauf lässt. Selbst konservative Politiker in Europa haben die Schweizer Entscheidung daher kritisiert.11 Die Vereinten Nationen mischen sich in der Regel nicht in innere Angelegenheiten europäischer Staaten ein. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Navi Pillay, verurteilte die Entscheidung allerdings als diskriminierend.12 Wahrscheinlich verstößt das Verbot gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, denn Artikel 9 regelt das Recht von Menschen, sich öffentlich und gemeinsam mit anderen zu ihrer Religion zu bekennen, und zu diesem Recht gehört auch die Integrität traditioneller Gotteshäuser. Ein europäischer Entscheid hätte jedoch nicht automatisch zur Folge, dass die Schweizer Verfassung geändert würde, aber im Extremfall könnte das Land aus dem Europarat ausgeschlossen werden. Die Schweiz hat mittlerweile selbst mit einer Reform begonnen: 2011 beschloss die große Kammer des Nationalrats die Abschaffung des Artikels der Verfassung, der die Einführung eines Verfassungsgerichts verbietet.13 Die rituelle Tierschächtung ist ein weiteres Beispiel für religiös-symbolische Handlungen des Islams und dessen Gleichstellung in Europa. Nach zahlreichen Klagen der nicht-muslimischen Bevölkerung urteilte ein deutsches Ge-

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richt 2002, dass das Schächten dann erlaubt sei, wenn es professionell durchgeführt werde. Das Gericht verhinderte damit einerseits die ausufernde Praxis der Selbstschlachtung, andererseits erteilte sie Schlachtern eine Genehmigung zum rituellen Schlachten, wenn diese nachweisen können, dass Tiere ohne Qual getötet werden (Rohe 2008, S. 55f.). Man kann den Hinweis, das Gericht habe die Rechte der Muslime und Tierrechte abgewogen und ein salomonisches Urteil gefällt, als zynisch empfinden – denn am Ende stirbt das Tier. Das Gericht macht aber im Prinzip berechtigt geltend, dass das rituelle Schlachten bei korrekter Durchführung nicht grausamer ist als andere Formen des in Europa üblichen Schlachtens. Dass das Urteil dennoch enorme Irritationen in der deutschen Bevölkerung auslöste, ist insofern nicht verständlich, denn ein ethischer Verstoß ist unter den gerichtlich geregelten Bedingungen nicht zu erkennen und um ein Sonderrecht handelt es sich nicht, lediglich um eine gerichtliche Klärung auf der Basis bestehender Rechte (Schiffauer 2006, S. 103). Wie lässt sich aber zusammenfassend die Frage nach der effektiven Gleichberechtigung von Muslimen in europäischen Rechtssystemen beantworten? Auch wenn die ausgewählten Probleme und Länderbeispiele sicherlich keinen vollständigen Überblick gewähren, so scheint die Antwort dennoch ebenso kompliziert wie deutlich zu sein: Die rechtliche Systemanpassung ist in vollem Gange. Der Raum für institutionelle Diskriminierung in europäischen Rechtssystemen wird insgesamt kleiner, auch wenn die rechtliche Gleichstellung der Muslime als ein generationenübergreifendes Projekt bezeichnet werden muss, dessen Prozess oft quälend langsam und widersprüchlich verläuft, und es nicht immer einfach erscheint, sich aus den Sackgassen mancher rechtlicher Vorgaben zu befreien. Dennoch ist ein langsamer Emanzipationsprozess zu beobachten, der wohl auch erklärt, warum Umfragen zeigen, dass Muslime in Europa oft mehr Vertrauen in das System der liberalen Demokratie als in die europäischen Völker haben (vgl. Kap. I.4). Der Rechtsstaat reagiert langsam, aber er schützt Grundrechte, wo immer sie infrage gestellt werden, relativ effektiv. Dass auch hochrangige Richter hier gelegentlich noch undifferenziert urteilen, zeigte sich etwa im Fall des Präsidenten des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts für das Land NRW, Michael Bertrams, der argumentierte, der Islam stehe im Widerspruch zum Grundgesetz, und öffentlich vor muslimischen Pädagogen warnte.14 Nach Protesten verschiedener Ministerien und Verbände hat er diese Position jedoch nicht mehr geäußert. Man darf zudem annehmen, dass solche persönlichen Meinungen eines Richters, sollten sie zu Lehrverboten für Muslime führen, nicht lange Bestand haben würden. Gerade die abweichende Interpretation des Richters zeigt also die normgebende Stärke von Grund- und Menschenrechten wie des gesamten Rechtssystems. Die persönliche Meinung ist von der Rolle, die ein Richter im System der Rechtsinterpretation einnimmt, prinzipiell zu trennen.

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Allerdings sollte man die Rechtsentwicklung in Europa nicht zu pauschal loben. Eine genauere Beschreibung ihrer »Bewegungsregeln« ist erforderlich: • In den Staaten des sogenannten »weichen Säkularismus«, in denen Staat und Religion nicht strikt getrennt sind und die die Mehrheit europäischer Staaten ausmachen, hat ein Zusammenspiel von nationalen Verfassungsgerichten und nachgeordneten nationalen Gerichten in jüngerer Vergangenheit vielfach Klärung zugunsten einer fortschreitenden Gleichberechtigung von Muslimen gebracht. • Die Rechtsentwicklung ist ein langsamer und keineswegs linearer oder evolutionärer Prozess einer garantierten vollständigen Reform, da in vielen Bereichen trotz vorhandener Diskriminierungen noch keine Kläger in Erscheinung getreten, Klagen noch bei den Gerichten anhängig sind oder Regierungen auch langfristig mit provisorischen Lösungen in rechtlichen Grauzonen operieren. • Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach zur Klärung von Grundrechtsfragen beigetragen. Da viele Fragen aus den Bereichen Bildung, Kultur und Religion aber nach den europäischen Verträgen in den Aufgabenbereich der Nationalstaaten oder sogar, wie etwa in Deutschland, in den der einzelnen Länder fallen, sind supranationale europäische Gremien nicht in der Lage, rechtliche Normen vorzugeben und deren Einhaltung europaweit zu überwachen. • Das europäische Recht ist überfordert mit der Aufgabe, laizistische Politikvorstellungen und Rechtssysteme als »übermäßigen« Eingriff in die Religionsfreiheit zu brandmarken, obwohl in der Sache vieles dafür spräche, dies zu tun. Staaten wie England oder sogar Deutschland kommen dem modernen multikulturellen Liberalismus sicherlich näher als ein Staat wie Frankreich, der zwar »Gleichberechtigung« (in der Restriktion) suggeriert, damit aber letztlich lediglich eine Mehrheit nicht-muslimischer Franzosen hinter sich wissen kann. Die versteckte Hegemonie des Laizismus wird auf lokaler Ebene durch eine zum Teil weniger restriktive Rechtspraxis relativiert, von einer Emanzipation des Rechts lässt sich in Frankreich jedoch nicht sprechen. Hier setzte daher Mitte der 2000er Jahre auch eine Diskussion über Staat, Religion und Islam ein, in der die »Glaubwürdigkeit der demokratischen Werte und des Rechtsstaates« (de Galembert 2003, S. 60) hinterfragt wurde. Sogar der konservative Nicolas Sarkozy plädierte in seiner Zeit als potenzieller Präsidentschaftskandidat für eine Auflockerung der Gesetze (Cesari 2006, S. 222), blieb allerdings ohne Durchschlagskraft. Joel S. Fetzer und J. Christopher Soper loben das britische Modell als überaus modellhaft, da es mehr Gleichberechtigung als insbesondere das französische, aber auch als das deutsche Recht ermögliche. Solche Aussagen sind als Gesamt-

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bilanz jedoch problematisch, da die Vor- und Nachteile weicher Säkularsysteme nicht einfach gegeneinander aufgewogen werden können. Es existieren unterschiedliche Zonen einer jeweils restriktiveren oder liberaleren Rechtsinterpretation. Der größeren britischen Liberalität bei Fragen des Kopftuches steht die rechtlich unbeanstandete Verwobenheit der Symbole des Staates bzw. der Monarchie und des Christentums gegenüber, die es in dieser Form in republikanischen Staaten wie Deutschland nicht gibt. Auch die Initiativen eines – wie immer umstrittenen – spezifischen islamischen Schulunterrichts weisen zum Teil über das britische Beispiel hinaus. Die Ungleichbehandlungen in den Beziehungen zwischen Staat und religiösen Institutionen fallen in Deutschland deshalb stark ins Auge, weil das deutsche Körperschaftsrecht besondere Privilegien einräumt, die es in dieser Form in Großbritannien nicht kennt, was den Prozess der Gleichstellung in Deutschland verlangsamt. Es ist insgesamt sinnvoller, von einer langsamen progressiven Rechtsentwicklung als einem breiten europäischen und nicht nur englischen oder britischen Phänomen auszugehen. Selbst radikale muslimische Kritiker haben dem europäischen Rechtsstaat zum Teil gute Noten ausgestellt. Der Intellektuelle Tariq Ramadan, ein kommunitaristischer Grenzgänger zwischen Fundamentalismus und liberaler Reform des Islams (K. Hafez 2009, S. 42-50), gesteht zu, dass ein großer Teil der rechtlichen Voraussetzungen für eine freie Existenz der Muslime in Europa bereits erfüllt sei (Ramadan 2001, S. 171). Der liberale Abdullahi Ahmed An-Na’im konzediert, dass etwa in der deutschen Rechtsprechung den Bedürfnissen der Muslime immer stärker Rechnung getragen werde (Carl Heinrich Becker Lecture 2009, S. 50). Der Zentralrat der Muslime in Deutschland, einer der großen islamischen Verbände, bewertet dies ähnlich, wenn er das deutsche Grundgesetz und das bestehende Recht anerkennt.15 Der dänische Islamwissenschaftler Jørgen Nielsen spricht 2004 noch von einem »Mythos der liberalen Gesellschaft« (Nielsen 2004a) und dieses Urteil ist, wie sich im Fortgang der Diskussion zeigen wird, auch in vielen Fällen gerechtfertigt. Dennoch sind in den europäischen Rechtssystemen noch am eindeutigsten Fortschritte erkennbar, die auf eine effektive Verwirklichung des »Mythos« zielen.

2. S TAAT – D IE A MBIVALENZEN DER STA ATLICHEN I SL AMPOLITIK Die theoretische Debatte über Liberalismus und Multikulturalismus, die oben ansatzweise skizziert wurde, hat sich wesentlich auf die Rechtsfrage konzentriert. Sie ist geprägt von der politischen Philosophie und es gibt nur sehr wenige Konzeptionen, die ein genaueres Bild der Aufgaben zeichnen, die die politischen Gewalten und Institutionen in diesem Kontext übernehmen oder übernehmen sollten. Aus den mittlerweile klassischen Debatten über die Rolle des Staates, wie sie insbesondere zwischen dem 18. Jahrhundert und dem Zweiten

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Weltkrieg geführt wurden, hat sich eine Funktionsbeschreibung des Staates herausgebildet, in der die exekutive Gewalt zentrale Ordnungsfunktionen einer Gesellschaft innehat, wie sie schon bei Immanuel Kant angelegt waren. Die innere Freiheit des Bürgers konnte demnach nur bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der inneren und äußeren Ordnung des Gemeinwesens gewährleistet werden. Nicht unähnlich den Vorstellungen eines »Leviathan« als Urzustand bei Thomas Hobbes, ging auch Kant in seinem Werk »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784) von einem Naturzustand der »ungeselligen Geselligkeit« des Menschen aus, der nicht anarchische Freiheit ermöglichte, sondern staatliche Ordnung erforderte. Die liberale Idee der Politik ist daher allenfalls bei sehr radikalen Denkern mit Anarchie verbunden gewesen. In der Regel soll der Staat die Rahmenbedingungen einer freien wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entfaltung des Menschen sichern. Für die liberale Staatsidee ist wichtig, dass der Staat keine mythisch aufgeladene Größe wie etwa in Georg Wilhelm Friedrich Hegels 1821 publiziertem Werk »Grundlinien der Philosophie des Rechts« ist, wo dieser den Staat als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« bezeichnete, und dass der Staat erst recht nichts mit Carl Schmitts »totalem Staat« (1932) zu tun hat (Schmitt 2002) – eine Formel, die von den Nationalsozialisten aufgegriffen wurde. Die Funktionen des Staates sind hingegen stets eine Frage des demokratischen Übereinkommens und die Grund- und Menschenrechte müssen gesichert sein und dürfen nicht angetastet werden. Dieser Gedanke bildet spätestens seit 1945 auch den Konsens aller politischen Richtungen in Europa, einmal abgesehen von extremen rechten und linken Politikkräften. Unterhalb der Ebene dieses Konsenses allerdings kann das Verständnis von Art und Umfang staatlicher Aufgaben in den verschiedenen politischen Strömungen stark variieren. Zwar ist der liberale Kerngedanke einer menschenrechtlich-demokratischen Politikgestaltung gegenwärtig auch in allen konservativen oder linken Richtungen anerkannt, diese unterscheiden sich aber dadurch, wie weit aus ihrer Sicht die Regelungskompetenz des Staates gehen soll. Explizit liberale Ideologien der Gegenwart sind heute meistens von der Vorstellung einer relativen Staatsferne geprägt, was bis zum libertären (oder auch neoliberalen) »Minimalstaat« bei Robert Nozick führen kann, in dem der Staat im Wesentlichen die Rahmenbedingungen des gesellschaftsbeherrschenden Marktes regelt, sich aber ansonsten zurückhält (Nozick 1974). Konzepte einer stärkeren Staatsintervention finden sich hingegen bereits bei dem liberalen Vordenker John Rawls, der unter anderem staatliche Eingriffe zugunsten einer sozial korrigierenden Chancengleichheit rechtfertigt, solange diese auf der freien Entscheidung der Bürger eines Landes beruhten.16 Einen noch aktiveren Staat wünscht man sich in konservativen, sozialdemokratischen oder linken politischen Strömungen. Allerdings sind auch diese Ideen heute oft lediglich noch Varianten eines schwachen »neoliberalen« Staates, der gerade im Zuge

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der »Globalisierung« immer mehr unter Zugzwang gerät. Dennoch sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass auf der Basis eines grundrechtlich-demokratischen Konsenses der »liberalen Demokratie« verschiedene Varianten eines mehr oder weniger starken Staates möglich sind und dem Staat unterschiedliche Funktionen zugesprochen werden können (Leibfried/Zürn 2006). Zum einvernehmlichen Staatsverständnis gehört in jedem Fall, dass der Staat in der liberalen Demokratie ein Mittler zwischen den festgeschriebenen Rechten und den im demokratischen Prozess herausgebildeten Mehrheitsmeinungen sein soll. Die Exekutive ist also keineswegs nur ausführendes Organ des Volkssouveräns und des Parlaments, sondern sie erfüllt eine Doppelfunktion im Spannungsverhältnis von Verfassungsauftrag und demokratischem Mehrheitswillen, die Dieter Grimm wie folgt beschrieben hat: Kann es einer konfessionellen Partei, die in demokratischen Wahlen die Mehrheit erlangt hat, verwehrt werden, ihre religiös motivierten Moralvorstellungen in allgemeine Gesetze umzuwandeln? Hier dürfte […] die Differenz zwischen Staat und Politik [relevant werden], in unsere verfassungsrechtliche Terminologie übersetzt: die Differenz zwischen Staat und Parteien. Der demokratische Staat empfängt zwar sein Handlungsprogramm von den politischen Parteien, die in der Wahl siegreich waren. Aber wenn diese aufgrund des Wahlsieges die Möglichkeit erhalten, allgemein verbindliche Entscheidungen zu fällen, dann treffen sie auf die Schranken, welche die Verfassung der Mehrheit im Interesse des Gemeinwohls zieht. (Carl Heinrich Becker Lecture 2009, S. 67)

Während es also klar ist, dass die Durchsetzungsfähigkeit von religiösen oder anderen Parteiprogrammen an den Grenzen der religiösen und weltanschaulichen Freiheit des Menschen haltmachen muss, ist bislang noch völlig unklar, welche weiter gehende Rolle der Staat in der multikulturellen Einwanderungsgesellschaft einnehmen soll. Reicht es aus, wenn der Staat als exekutiver Hüter der von den Gerichten festgelegten Freiräume religiöser und ethnischer Minderheiten fungiert, sozusagen als letzter Garant individueller Freiheitsrechte und der effektiven Gleichberechtigung im staatlichen Raum? Wir haben bereits gesehen, dass viele rechtliche Fragen sich nur weiterentwickeln, wenn der Staat die Initiative ergreift und entsprechende Gesetze auflegt, novelliert und exekutiert. In der Art, wie der Staat zudem mit Interimslösungen umgeht – etwa beim Religionsunterricht –, gewinnt er einen zeitlichen Gestaltungsfreiraum. Entscheidend aber ist, dass der Staat jenseits des durch Recht und Gerichte geregelten Handelns das Leben von Minderheiten durch seine Tagespolitik nachhaltig beeinflusst. Dies beginnt mit dem Einwanderungsrecht und reicht über Maßnahmen der Integrations- und Antidiskriminierungspolitik bis zur gezielten Förderung von Minderheiten. Neben der »verordneten« Politik spielt in allen Bereichen zunehmend der informelle Aspekt der politischen Rheto-

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rik, des Dialogs mit Minderheiten und der symbolischen Ansprache eine Rolle. Ungeachtet der in den verschiedenen politischen Ideologien und Parteien vorhandenen unterschiedlichen Vorstellungen von »Integration«, »Anerkennung« oder Toleranz«, die uns noch beschäftigen werden (vgl. Kap. I.3 und I.4), ist der Staat nach wie vor der Dreh- und Angelpunkt zur Moderation gesellschaftlicher Konflikte, sei es beim Bau von Moscheen, in der Schulpolitik oder anderswo. Die dialogische Funktion des Staates wird paradoxerweise dadurch verstärkt, dass heute eigentlich niemand mehr rein elitäre Demokratiekonzepte befürwortet, sondern es dominieren pluralistische oder zivilgesellschaftliche Demokratietheorien, die großen Parteien und Organisationen oder gar der Gesellschaft insgesamt eine größere Lösungskompetenz für Probleme der Gesellschaft zuweisen (Meyer 2001, S. 15-23). Dadurch aber verliert der Staat nicht nur Kompetenzen, wie man intuitiv meinen könnte, sondern er gewinnt auch neue hinzu, indem er sich in vielen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft von einer demokratischen Elite zu einem Moderator für gesellschaftliche Gruppen und Bevölkerungsinteressen entwickelt. Kein städtischer Bebauungsplan mehr heute ohne öffentliche Anhörung oder eine Bürgerinitiative. Aber auch kein Bahnhof mehr ohne eine staatliche Schlichtung der Interessen von Bürgern und Unternehmern. Es wäre also die These zu verfolgen, ob nicht die informelle Dialogkompetenz des Staates gerade in Zeiten seines scheinbaren Bedeutungsverlustes wächst und ob sich der moderne Staat nicht auch im Bereich der religiösen Minderheitenpolitik anders artikulieren muss als der eher traditionelle Ordnungs- und Verordnungsstaat der europäischen Nachkriegszeit, als man meinte, mit politischen Willenserklärungen zur Forcierung der Einwanderung oder – je nach Konjunktur – der Einwanderungsstopps allein schon regieren zu können. Die Frage ist heute wohl nicht mehr, ob, sondern wie ein staatlicher oder staatlich vermittelter Gesellschaftsdialog stattfinden soll. Will man diese Dialogleistungen verstehen, muss man berücksichtigen, dass der Staat keineswegs einheitlich ist. Nicht nur, dass auf horizontaler Ebene verschiedene Ministerien oft mit unterschiedlichen Politikansätzen agieren und dass in vertikaler Richtung der Staat aus verschiedenen nationalen, regionalen und lokalen Gliederungen besteht. Westliche Demokratien haben zudem eine Dualität herausgebildet, wobei ein Teil der staatlichen Politik die Macht in Händen hält und Politik effektiv gestaltet, während ein anderer Teil sich eher repräsentativen Verpflichtungen widmet. In Deutschland ist dieser Dualismus in den Ämtern des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten ausgedrückt, in anderen Ländern sind es Premierminister, Ministerpräsidenten und Präsidenten oder Könige. Auf lokaler Ebene findet diese Aufteilung vielfach etwa in der Unterscheidung zwischen eher repräsentativen Bürgermeistern und einer eigenständigen Stadtverwaltung ihre Entsprechung. Allen Ebenen ist gemeinsam, dass die repräsentativen Kräfte den Raum des Symbolischen und der emotionalen Gemeinschaftlichkeit verwalten, während die effektiven »Machthaber«

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die Lösung politischer Probleme vorantreiben. Diese strukturelle Duplizität hat Vor- und Nachteile. Sie ermöglicht den repräsentativen Gliederungen des Staates eine gesteigerte zeremonielle und dialogische Freiheit. Sie kann aber auch zu einem Bruch zwischen politischer Rhetorik und konkreter Politik beitragen. Selbst Grundsatzkritiker des Liberalismus wie Will Kymlicka konzedieren, dass der westliche Staat sich in den letzten Jahrzehnten schon erheblich in Richtung Multikulturalismus entwickelt hat (Kymlicka 2007, S.  72ff.). Migrationsgipfel, Integrationspläne und Programme für Minderheitenförderung von der Subventionierung von Minderheiten bis hin zu Projekten eines »diversity mainstreaming« sind unterwegs. Schaut man sich allerdings die Liste der Belege an, die Kymlicka anführt, so stellt man fest, dass er primär die ehemaligen Kolonialsphären Englands und Frankreichs inklusive der kolonialen Mutterländer selbst in sein Urteil einschließt, während er weite Teile Nord- und Zentraleuropas für widerständig erachtet. Prozesse einer multikulturellen Politik des Staates entwickeln sich aber längst auch in diesen Staaten, wenn auch vielfach verspätet. In den meisten europäischen Ländern wird die Frage, ob man Politik auch für religiöse Minderheiten betreiben muss, heute weitgehend richtungsübergreifend bejaht, auch wenn sich die politischen Philosophien der jeweiligen Regierungen im Verständnis der Art und Weise, wie diese Politik betrieben werden soll, durchaus unterscheiden. In Europa kommen aber noch zwei weitere bedeutsame Tendenzen hinzu. Das eine ist ein Trend zu Transnationalisierung der Politik durch Einrichtungen wie den Europarat oder die Europäische Union, die heute eine zweite Ebene zentralstaatlicher Politik darstellen. Das andere ist die weitreichende Wirkung der Attentate des 11. September 2001 in New York, die eine ganz neue Form der Sicherheitspolitik und der Extremismusbekämpfung hervorgebracht haben. Zynisch könnte man vermerken, dass die Betonung der zentralen Sicherheitsaufgaben des Staates ein Weg ist, wie der Staat seinen zunehmenden Machtverlust in der komplexen Zivilgesellschaft kompensieren kann. Wenn der Staat sich als Garant der inneren und äußeren Sicherheit profiliert, wenn er in Krisenzeiten sogar Ausnahmekompetenzen erlangt, dann stehen viele Grundrechte nicht nur von Minderheiten zur Disposition. *** Orientiert man sich an den verschiedenen Funktionen der Exekutive mit Bezug auf religiöse Minderheiten – Schutz der verfassungsmäßigen Rechte, symbolische Anerkennung, Dialogfunktion –, so ist auffällig, dass die Europäische Union sich in den letzten Jahrzehnten trotz ihrer begrenzten Handlungskompetenzen beim Thema »Islam« immer wieder für die Sicherung der Rechte von Muslimen eingesetzt hat. Die EU akzeptiert zwar, dass Religion weitgehend eine Angelegenheit der Mitgliedsstaaten ist. Zugleich anerkennt sie jedoch die

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Existenz religiöser Gruppen und versucht, deren Partizipation in der europäischen Zivilgesellschaft zu fördern. Damit unterscheidet sich die EU-Kommission zum Teil vom EU-Parlament in Straßburg, das beim Thema Islam eher das Sprachrohr einer mit Ressentiments geladenen europäischen Bevölkerung ist (Kap. I.3). In Brüssel aber finden die Stimmen von Muslimen zunehmend Gehör und auch wenn es keine regulären Konsultationen gibt, so werden dennoch zahlreiche Konferenzen und Expertentreffen im Umfeld der EU-Kommission durchgeführt. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 traf sich EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso selbst mit muslimischen Religionsführern. Sara Silvestri: What emerges […] is an intermittent and fragmented, but constant, focus on Islam. This does not point to any holistic EU approach to Islam and Muslims within or outside the borders of the EU. Yet, if one combines together all these deliberate and unintentional practices, it might be possible to trace a broad overarching EU design, an embryonic model of multi-level EU relations with Islam. This pattern could tentatively, and only very cautiously, be called ›policy towards Islam‹. In fact, the term ›policy‹ implies a carefully planned project, with a specific objective and procedures to achieve it, whilst the initiatives towards Islam mentioned above seem to lack coherence and, occasionally, also intentionality or reflexivity. In general, the EU appears to have developed separate pragmatic responses to each situation that happens to involve Muslims. (Silvestri 2007, S. 173)

Artikel 13 des Amsterdamer Vertrags der EU von 1999 schließt religiöse Diskriminierung aus und erwartet von den Mitgliedsstaaten entsprechende Maßnahmen. Anders als in vielen anderen Bereichen des politischen Umgangs mit Minderheiten kann die EU hier tätig werden – und ist es auch geworden. Die britische Regierung setzte mit Wirkung vom Dezember 2003 eine EU-Direktive in einem Antidiskriminierungsgesetz um (Modood 2006, S. 43). Während sich noch 2003 der deutsche Politiker der Grünen, Cem Özdemir, darüber beklagte, dass Menschen, die in Deutschland gegen Diskriminierung vorgehen wollten, sich an das Verfassungsgericht wenden müssten,17 wurde auch in Deutschland 2006 die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) auf Basis des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) eingeführt, wonach jeder Bürger das Recht hat, sich an die ADS zu wenden, sofern er oder sie sich aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, Behinderung usw. diskriminiert fühlt. Die ADS erteilt Rechtsberatung und kann auch vermitteln. Sie registriert jedes Jahr tausende von Anfragen, davon einen beträchtlichen Anteil wegen Diskriminierung vor dem Hintergrund von Migration oder Religion.18 Das Gesetz ist zwar fortschrittlich, wird aber dennoch teilweise als unzureichend kritisiert, da zum Beispiel Ausnahmeklauseln existieren, die individuel-

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le Diskriminierung ermöglichen, öffentliche Verwaltungen nicht hinreichend einbezogen werden und eine Austragung von Konflikten vor Gericht nicht möglich ist, da die Richtlinien nicht Teil des allgemeinen Gesetzeskorpus sind. Frankreich und Belgien etwa haben die Antidiskriminierungsregeln bereits an verschiedenen Stellen im Zivil- und im Strafrecht integriert, statt Sonderregelungen zu schaffen. Die Kompetenzen der Antidiskriminierungsstellen sind darüber hinaus weitreichender, zum Beispiel indem diese Mandanten auch direkt vor Gericht vertreten können.19 Die Europäische Union übt daher auf Deutschland wie auf eine Reihe anderer europäischer Staaten mit ähnlichen Problemen Druck aus, hier konsequenter zu handeln,20 wenngleich Amnesty International in ihrer Studie über die Diskriminierung von Muslimen in Europa kritisiert, dass die Kommission hier noch konsequenter sein müsste (Amnesty International 2012, S. 105ff.). Erkennbar ist insgesamt, dass europäische Regierungen zunehmend bereit sind, eine Art Wächterfunktion für gesellschaftliche Diskriminierung zu übernehmen. Es steht außer Frage, dass gesetzliche und institutionelle Lösungen allein noch keine Abhilfe schaffen, um Diskriminierung in der Gesellschaft effektiv zu verhindern. Wichtiger als Gesetze ist das gesellschaftliche Bewusstsein und hier dominieren vielfach islamophobe Einstellungen (Kap. II.1). Dennoch hat die Geschichte der Emanzipation vieler Gruppen und »Randgruppen« gezeigt, dass auch staatliche Vorgaben eine Sensibilisierung in der Bevölkerung begünstigen können, wie sich am Beispiel der Frauenemanzipation zeigt, wo gezielte Antidiskriminierungsmaßnahmen einen erheblichen Beitrag zum Ausgleich gesellschaftlicher Ungleichbehandlung geleistet haben und noch leisten. Begibt man sich auf die Ebene der nationalen Regierungen, so sind die Äußerungen, die europäische Regierungschefs über den Islam getätigt haben, auf den ersten Blick widersprüchlich. Die positivsten Einschätzungen des Islams stammen von den relativ machtlosen repräsentativen Staatsoberhäuptern, die es in Europa fast in jedem Land gibt und die immerhin so etwas wie die moralische Stimme eines Landes sein sollen. Prince Charles, der britische Thronfolger, hat sich im Laufe der Jahre immer wieder positiv über den Islam geäußert. In Deutschland lässt sich eine gewisse Tradition pro-islamischer Reden deutscher Bundespräsidenten seit Roman Herzogs Unterstützung der in der deutschen Öffentlichkeit Mitte der 1990er Jahre wegen angeblicher Gegnerschaft zu Salman Rushdie stark kritisierten Orientalistin Annemarie Schimmel zurückverfolgen (Herzog 1997). Auch Herzogs Nachfolger Johannes Rau pflegte den Dialog mit dem Islam (Rau 2003) und der spätere Amtsinhaber Christian Wulff bezeichnete 2010 nach der heftigen Debatte über den Islamkritiker Thilo Sarrazin (Kap. II.1) den Islam explizit als einen Teil Deutschlands. Während die Haltung repräsentativer Staatsoberhäupter positiv und inkludierend ist, ist die Meinungslage bei den amtierenden Regierungschefs, die nicht nur über effektive Gestaltungsmacht verfügen, sondern aus dem demo-

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kratischen Kräftespiel hervorgehen und von demokratischen Stimmungen abhängig sind, sehr viel ambivalenter. Berühmt geworden sind die Tiraden des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi über die Überlegenheit der westlichen Zivilisation und die Rückständigkeit des Islams oder die Polemiken des niederländischen Spitzenpolitikers und ehemaligen EUKommissars Frits Bolkestein, der den Islam als Bedrohung der Grundwerte der europäischen Zivilisation darstellte und die Politik aufforderte, sich mehr auf die kulturelle Assimilation zu konzentrieren (Cesari 2006, S. 32f., 126f.). Eine Reihe früherer Regierungschefs von Maggie Thatcher bis zu Helmut Schmidt und Helmut Kohl haben in ähnlicher Weise klargemacht, dass sie den Islam nicht als Teil der christlich-jüdisch geprägten Kultur und Tradition Europas betrachten. Allerdings wäre es zu einfach, von einem Nebeneinander von multikultureller Repräsentations- und kulturalistisch-rassistischer Machtrhetorik in europäischen Regierungen zu sprechen, denn die Einstellungen von Regierenden sind zu keinem Zeitpunkt einheitlich gewesen. Ein Beleg hierfür war der britische Premierminister Tony Blair. Schon in seiner protestantischen Erziehung erlernte er einen Grundrespekt vor anderen Religionen, so auch vor dem Islam. Zu einem Treffen mit der Arabischen Liga brachte er als Parteivorsitzender schon mal den Koran mit und konnte auch aus ihm zitieren (Mischler 2005, S. 68). Blair ist befreundet mit dem deutschen Theologen Hans Küng, der unter anderem als Vordenker eines Dialogs zwischen Christentum und Islam bekannt geworden ist (Kap. V). Blair war dem Islam gegenüber nie kritiklos eingestellt, er differenzierte jedoch, inkludierte den fortschrittlichen Teil in eine gemeinsame Wertegemeinschaft und – dies ist ebenso eigentümlich für Blair – war bereit, den gewaltsamen Rest zu bekämpfen. Hier zeichnete sich eine protestantische Moralphilosophie ab, die durchaus gewaltbereit und radikal sein konnte. Blair war ein »Glaubenskrieger« (Mischler 2005, S.  177ff.), aber er war eben kein rassistischer, sondern ein ökumenischer Glaubenskrieger, der alle Religionen unter dem Dach einer befreienden Idee der Moderne versammeln wollte. Sieht man einmal von der Gewaltfrage ab, die ihn letztlich in den Irakkrieg führte und Blair später das Amt als Premierminister kostete, so war bei ihm mit Blick auf den Islam ein integrativer Kurs erkennbar, den er konsequent verfolgte, auch gegen Kritiker. Zum Beispiel nahm er nach dem Londoner Bombenattentat von 2005 den in der Öffentlichkeit oft als Radikalen bezeichneten, aber in den muslimischen Mittelschichten Europas angesehenen und einflussreichen Tariq Ramadan in seinen Beraterkreis auf. Die neue islamisch-westliche Gemeinschaftsidee, die hier bei Blair entstand, trug in der Tat Züge des »New We«, das Ramadan bis heute als fehlendes Glied in den Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa einklagt.21 Zu Blairs Politik der symbolischen Inklusion gibt es in Europa zahlreiche Parallelen, etwa in Frankreich, wo Präsident Nicolas Sarkozy seinerzeit mehrere muslimische Ministerinnen

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in sein Kabinett berief, ebenso wie bei dem Nachfolger Blairs, dem konservativen David Cameron, dessen muslimische Minister sich bisweilen sehr offen und kritisch über Islamophobie in der Gesellschaft und im Bürgertum geäußert haben.22 Interessant ist auch die Haltung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Islam, denn anders als bei Blair ließ sich bei Merkel nach der Amtsübernahme 2005 ein positiver Wandel erkennen, der zeigt, dass sich auf der Ebene der exekutiven Politik zumindest in den großen Staaten Westeuropas – Frankreich, Deutschland, Großbritannien – langsam eine islamfreundliche Rhetorik durchsetzt. Merkel geht von einem christlichen Menschenbild aus, sie ist aber keine Prinzipalin in Glaubensfragen (Boysen 2005, S. 198). Noch 1999 ließ sie sich als Generalsekretärin vor den populistischen und ausländerfeindlichen Karren des Hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch spannen (Boysen 2005, S.  202). Trotz Kritik etwa seitens des Zentralrats der Juden in Deutschland stützte sie sich in ihrer Zeit als Partei- und Oppositionsführerin der CDU auf das Konzept der »Leitkultur«, wonach die Führungsrolle der jüdischchristlichen Kultur von anderen Gruppen, also auch von Muslimen, anerkannt werden sollte, und sie verband dieses assimilatorische Grundverständnis mit einer nationalistischen Grundhaltung, derzufolge alle anderen liberalen Positionen einen Mangel an »Vaterlandsverständnis« offenbarten (Boysen 2005, S. 226f.). Relevant waren auch Äußerungen gegen die Religionsneutralität, wobei sie etwa das islamische Kopftuch, anders als das christliche Kreuz, als »mit unserem christlich-jüdischen Erbe sowie der Aufklärung schwer vereinbar« bezeichnete.23 An anderer Stelle tat sie kund, dass »der Islam die Aufklärung nicht erlebt« habe.24 Geradezu legendär ist Merkels Feststellung von 2004, also ein Jahr vor Übernahme der Kanzlerschaft, die Ermordung des holländischen Islamkritikers Theo van Gogh durch einen Muslim beweise, dass die multikulturelle Gesellschaft »grandios gescheitert« sei.25 Bezeichnend war hier die Bedenkenlosigkeit, mit der sie von der Tat eines Einzelnen auf die schuldhafte Verantwortung einer ganzen Gruppe der muslimischen Einwanderer schloss. Geradezu reflexartig stellte sich die Parteivorsitzende auf die Seite einer empörten und unaufgeklärten Islamophobie, die berechtigte Kritik nicht von kulturkämpferischer Kollektivverurteilung zu trennen vermochte. Seit Merkels Regierungsübernahme hört man derartige Töne allerdings kaum noch, im Gegenteil. Ostentativ befürwortete sie die Initiative ihres Innenministers Wolfgang Schäuble, als dieser 2006 die Deutsche Islam Konferenz gründete und den Islam als Teil Deutschlands bezeichnete.26 Merkel selbst empfing die Deutsche Islam Konferenz 2009 im Bundeskanzleramt. Als ein Jahr später das Mitglied der Bundesbank, Thilo Sarrazin, junge Musliminnen als »Kopftuchmädchen« beschimpfte und von einer angeborenen Unfähigkeit türkischer Einwanderer sprach, war Merkel eine der ersten, die seinen Rücktritt forderten. Zwar wiederholte sie zur gleichen Zeit ihre Behauptung, die multi-

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kulturelle Gesellschaft sei gescheitert, pflichtete aber in derselben Rede Bundespräsident Wulffs Satz »Der Islam gehört zu Deutschland« bei.27 Und während der Nachfolger Schäubles als Innenminister, Hans-Peter Friedrich, von der bayerischen CSU 2011 bei seinem Amtsantritt die Politik seines Vorgängers zu korrigieren versuchte und bestritt, dass der Islam Teil Deutschlands sei,28 sprang ihm Merkel nicht zur Seite, sondern sah zu, wie der damalige Bundespräsident Christian Wulff und viele andere den misslungenen Fehlstart eines Kabinettsmitglieds kommentierten und der Minister immer mehr unter Druck geriet, seine harte Linie zu relativieren. Man kann bei Angela Merkel von einer opportunistischen Anpassungsfähigkeit sprechen, die es schwer macht auszuloten, was sie wirklich über den Islam denkt. Interessanter als diese persönliche Ebene aber ist die Tatsache, dass sie sich offensichtlich genötigt sieht, die recht harte Haltung gegenüber dem Islam, die sie als Oppositionspolitikerin vertrat, als Regierungschefin und Amtsinhaberin zumindest teilweise zu revidieren. Bei Angela Merkel kann man geradezu von einer Verwandlung im Amt sprechen, die mehr als vieles andere zeigt, dass der Verfassungsauftrag der Gleichberechtigung religiöser Minderheiten einen starken Einfluss auf das institutionelle Handeln der Exekutive ausübt. Regierungen vertreten eben nicht nur parteipolitische Interessen, sondern sie repräsentieren das System der liberalen Demokratie, wobei neben der jeweiligen Mehrheitsmeinung im Parlament auch der Schutz von Grundrechten zu berücksichtigen ist. Diese Erkenntnis bricht sich in Europa mit Blick auf den Islam langsam Bahn, wenn auch nicht in allen Ländern in gleichem Maße – man denke an die rechtskonservative Regierung Viktor Orbán (seit 2010) in Ungarn –, so doch in einflussreichen Staaten wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Diskriminierende Äußerungen von Regierungschefs und Regierungsmitgliedern werden nicht nur auf der transnationalen Ebene der EU-Kommissionspolitik bekämpft, sondern sie werden auch im nationalen Raum zunehmend seltener. Zur Neutralitäts- und Gleichbehandlungspflicht des Staates gehört es eben auch, dass Politiker in Staatsämtern keine wertenden Äußerungen über Religionen abgeben. Der Staat und seine Vertreter müssen die Religionsfreiheit ebenso schützen, wie sie den religiösen Extremismus bekämpfen (s.u.), und hierbei ist neben der Einrichtung von Antidiskriminierungsstellen eine symbolisch inkludierende Rhetorik des Staates wichtig, die die Zugehörigkeit des Islams zu Europa anerkennt – welche Ideologie der einzelne Politiker sonst auch vertreten mag. Ein Beispiel für die neue Dialogfähigkeit des Staates, aber auch für die Grenzen einer konservativen hoheitlichen Toleranzpolitik, ist die Deutsche Islam Konferenz. Die konservative Regierung Merkel hat auf Initiative des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble seit 2006 in regelmäßigen Abständen Muslime versammelt, um mit ihnen einen Dialog über Kernfragen wie Werte, Bildung, Medien und Sicherheit zu führen. Die ursprünglich kolportierte Ziel-

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setzung, einen »Staatsvertrag« zu etablieren, wurde schon bald zugunsten einer eher informellen und beratenden Versammlung fallen gelassen. Die erste Beratungsperiode 2006 bis 2009 endete mit Empfehlungen des Gremiums (Deutsche Islam Konferenz 2009); die Konferenz besteht seitdem aber weiter. Neben den rechtlich noch immer nicht vollständig anerkannten muslimischen Verbänden wurden auch zahlreiche unabhängige muslimische Persönlichkeiten, Intellektuelle, Künstler usw. mit dem Ziel eingeladen, ein breites Strömungsund Ideenspektrum des Islams abzudecken. Da der Islam, anders als das Christentum, nicht zentralistisch in Kirchen organisiert ist, schuf sich der deutsche Staat in der Deutschen Islam Konferenz eigenständig einen Ansprechpartner. Auch in anderen europäischen Staaten sind in den letzten Jahren ähnliche Trends zu verzeichnen. Die niederländische Regierung etwa zeigt Interesse an einer besseren Kooperation mit muslimischen Organisationen und anderen Repräsentanten (Open Society Institute 2007, S. 36f.). Auch Frankreich hat, ungeachtet seines prinzipiell laizistischen Anspruchs der völligen Trennung zwischen Staat und Religion, bereits 1990 ein muslimisches Beratungsgremium des Innenministeriums gebildet, dessen Zusammensetzung allerdings so stark kritisiert wurde, dass es rasch an Bedeutung verlor (Shadid/van Koningsveld 2005). 2003 wurde dann vom Innenministerium und unterstützt durch die größten Islamorganisationen des Landes der Conseil Français du Culte Musulman de France gegründet, in Spanien die Comisión Islámica de España und in Italien die Consulta per l’Islam italiano. In Großbritannien entstanden zahlreiche Beratungsgremien, etwa der Moscheerat in Bradford (Bradford Council for Mosques; Lewis 1997, S. 104). Jocelyne Cesari hat derartige Entwicklungen als Anzeichen für einen latenten Prozess in Richtung eines »institutionellen Pluralismus« (Cesari 2006, S. 200) in Frankreich bezeichnet, der in den rhetorischen Selbstdarstellungen der Republik in der Regel ausgeblendet wird, de facto aber ein langsames Abrücken vom Laizismus kennzeichnet. Interessant ist auch, dass der deutsche Innenminister Schäuble als Parteipolitiker, wie andere Konservative, bislang oft von »Integration« der Muslime gesprochen hatte, während der Deutschen Islam Konferenz jedoch ein anerkennungspolitisches Credo in den Vordergrund rückte. Als er in der Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 28. September 2006 die Islam Konferenz vorstellte, fiel der Begriff der Integration überhaupt nicht mehr. Stattdessen sagte Schäuble: »Ich hoffe, dass es mit der Deutschen Islam Konferenz gelingt, nicht nur praktische Lösungen zu finden, sondern auch mehr Verständnis, Sympathie, Friedlichkeit, Toleranz und vor allen Dingen mehr Kommunikation und Vielfalt zu schaffen und damit zur Bereicherung in unserem Land beizutragen.« (Deutsche Islam Konferenz 2009, S.  19) »Verständnis«, »Sympathie«: Hier ging es erstmals einer konservativen deutschen Regierung nicht nur um Integration, womit in der Regel Anpassung und Assimilation der Muslime gemeint war, denn eine Anpassungsleistung der Mehrheitsbevölkerung

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war bis dahin nie Bestandteil des konservativen Programms gewesen, das stets von einer kulturellen Hegemonie der Alteingesessenen ausgegangen war (vgl. Kap. I.3). In Schäubles Worten sollte aber nunmehr um Akzeptanz für muslimische Lebensformen und sogar um eine emotionale Anerkennung geworben werden. Bei anderer Gelegenheit bemerkte der Minister, Muslime müssten zwar »die Lebensbedingungen des Landes schon akzeptieren«, zugleich müssten »wir selber uns natürlich ein Stück weit verändern« (Deutsche Islam Konferenz 2009, S. 317). Über die genaue Unterscheidung zwischen einer traditionellen »Integrations-« und einer modernen »Anerkennungspolitik« wird noch zu reden sein (vgl. Kap. II.2). Hier aber wird bereits deutlich, dass die Deutsche Islam Konferenz den Dialog und die wechselseitigen Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit in den Vordergrund rückte. Die Rhetorik der politischen Anerkennung war bei Schäuble noch diffus und versteckt, aber sie bahnte sich ihren Weg ins konservative Denken. Zu Recht ist die Deutsche Islam Konferenz denn auch als Zeichen einer fortschreitenden Toleranzpolitik des Staates gedeutet worden (Peter 2010, S. 128). Das Echo auf die Deutsche Islam Konferenz war in den Medien zunächst sehr positiv. Die Politik hatte mit dem Gremium die Gesetze der Medienbeachtung und der medialen Nachrichtenwerte für einen symbolischen Schulterschluss mit Muslimen genutzt. Die regelmäßigen Treffen der Konferenz wurden und werden als Ereignisse inszeniert, auf die die Medien prinzipiell positiv reagieren. Die Agenda eines »Dialogs des Staates mit den Muslimen« war auch dann noch formatierend, als zunehmend Kritik an Zusammensetzung und Effizienz des Gremiums laut wurde – Kritik, die auch in Kreisen der Konferenzteilnehmer selbst offen geäußert wurde.29 Dass das Innenministerium weitgehend allein über die Zusammensetzung der Konferenzteilnehmer, der Arbeitsgruppen, über die Auswahl der Referenten und die Gesprächsagenda bestimmte, zeigt, dass der nach außen kommunizierte Dialogcharakter der Veranstaltung nicht immer mit der internen Organisation korrespondierte. Bald schon bemerkte man, dass der Dialog asymmetrisch geführt wurde. Hier kommunizierte der gewählte, mandatierte und mit Machtbefugnissen ausgestattete Staat mit Individuen oder begrenzt legitimierten Verbänden. Die Veranstaltung war und ist ein echter »Dialog« letztlich nur in einem engen, vom Staat vorgegebenen Rahmen. Dennoch ist die Konferenz mehr als nur eine Versammlung der Muslime zum Zwecke einer künstlichen Legitimation des Staates. Wenn es zu den Funktionen einer modernen Exekutive zählt, sich intensiver mit der Zivilgesellschaft auszutauschen und sie intensiver zu konsultieren, um den elitären Charakter früherer Politik hinter sich zu lassen, und wenn es zudem zu ihren Aufgaben gehört, die Zugehörigkeit von religiösen Minderheiten zur Vertragsgemeinschaft des Staates symbolisch zu kommunizieren, dann kann man Veranstaltungen wie die Deutsche Islam Konferenz durchaus als moderne

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und zeitgemäße Politikformen begrüßen, die neue Kommunikationskanäle eröffnen. Von Beginn an gab es allerdings auch fundamentale Kritik an der Deutschen Islam Konferenz, die sich nicht nur an der Asymmetrie des Dialogs, sondern an der Einrichtung an sich entzündete, wobei interessant ist, dass Kritik aus zwei völlig konträren Richtungen geäußert wurde. Es wurde moniert, dass solchen Dialogformen ein unklarer Partizipationsbegriff zugrunde liegen würde (Halm 2008, S. 83ff.). Die Deutsche Islam Konferenz darf sicher nicht eine echte rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften und Körperschaften ersetzen, die ja etwa in Deutschland noch aussteht. Richtig ist zweifellos, dass Dialogund Symbolpolitik nicht die Balance zwischen Recht und Politik, Judikative und Exekutive, verändern darf. Symbolpolitik ist kein Ersatz für rechtliche Gleichstellung. Dass der zeitgenössische europäische Staat jedoch durch Maßnahmen einer fortschreitenden politischen Anerkennung die rechtliche Anerkennung unterlaufen will oder kann, ist unwahrscheinlich, denn die Ebenen sind trotz aller Wechselwirkungen zwischen den Gewalten weitgehend getrennt. Prozesse und Entscheidungen über Rechtsfragen gehen unabhängig von der Existenz von Politikgremien, die ja in der Verfassung gar nicht vorgesehen sind, weiter. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die gegenteilige Kritik geäußert wurde. Der westliche Staat versuche durch Veranstaltungen wie die Deutsche Islam Konferenz einen ordnungspolitischen Eingriff vorzunehmen, in dem es nicht um die Schwächung, sondern im Gegenteil um die Stärkung der Islamverbände gehe – der Staat verhelfe den bei Muslimen selbst umstrittenen Organisationen zur Hegemonie innerhalb der Religionsgruppe (Tezcan 2007). Der Staat gilt hier als Agent einer politisch gewollten, rechtlich aber noch nicht möglichen Konfessionalisierung des Islams. Der Staat braucht Ansprechpartner, also schafft er sie sich und er verpflichtet sie nebenbei auf Prinzipien eines an westliche Werte und Normen angepassten »Euro-Islams«. Auch diese These ist bedenkenswert, letztlich aber nicht tragfähig, denn Differenzierungsprozesse schreiten trotz nationaler Islamkonferenzen in den Gesellschaften weiter fort. Während man bei der rechtlichen Enge des deutschen Körperschaftsrechts, das zum Beispiel theologische Hochämter vorschreibt, berechtigte Angst vor einer Zwangskonfessionalisierung hegen kann (Kap. I.1), sind mit der Deutschen Islam Konferenz kaum nennenswerte Ressourcen verbunden, so dass ein hegemonialer Effekt auf die Religionsgruppe nicht zu befürchten ist, sondern, im Gegenteil, ein verbesserter Austausch nicht nur zwischen Staat und Muslimen, sondern auch zwischen Individuen und Gruppen des Islams, möglicherweise sogar eine Vertiefung theologischer und anderer Differenzierungen erfolgen kann. Auch die Gefahr einer künstlichen Kulturalisierung und »Religionisierung« der Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft ist gering, da der Staat Einwanderer nie nur als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft anspricht. An-

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erkennung im Religionsbereich ist lediglich eine mögliche Variante moderner öffentlicher Identitätsbildung, was für den »weichen« säkularen Staat auch angemessen, gar modern erscheint. In Deutschland zum Beispiel organisierte die konservative Regierung Merkel neben der Deutschen Islam Konferenz die parallele Einrichtung eines »Nationalen Integrationsgipfels«, auf dem Religion nur eine untergeordnete Rolle spielte (Der Nationale Integrationsplan 2007). Der moderne liberale Staat sorgt also nicht nur für den Schutz verfassungsmäßiger Rechte, sondern er streckt seine Fühler in alle Richtungen aus und kooperiert und kommuniziert mit klassischen Großorganisationen ebenso wie mit sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen – warum also nicht mit dispersen Kräften im religiösen Feld? Dabei wird ein Raum des Politischen gestaltet, der mit rechtlichen Mitteln allein gar nicht ausgefüllt werden kann. Die Vorstellung eines »Minimalstaats«, der den Staat vollkommen aus der Pflicht nimmt und alle Fragen der Religion komplett privatisieren möchte, ist ein mögliches Leitbild einer liberalen Gesellschaft, aber keineswegs das Idealbild des Liberalismus. Eine Gesellschaft kann den Staat mit unterschiedlichen Aufgaben versehen, die dieser im Sinne der Gesamtbevölkerung zu bewältigen hat. Die Islampolitik ist hier ein Feld unter vielen, das mit der traditionellen Gremien- und Parteiendemokratie allein nicht mehr sinnvoll gestaltet werden kann. Ein ganz anderes Handlungsfeld des Staates stellt die innere Sicherheit dar. Die Fortschritte der Dialogbereitschaft und der Symbolpolitik des Staates gingen in den letzten Jahrzehnten Hand in Hand mit einer Extremismuspolitik, die sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa immer wieder drohte, neue Formen einer institutionellen Diskriminierung gegenüber Muslimen zu entwickeln. Rasterfahndung und verdachtsunabhängige Kontrollen in Wohnungen, an Flughäfen und in Moscheen, in den USA sogar Verhaftungen und Freiheitsberaubung außerhalb des legalen Rahmens (Stichwort: »Guantánamo«) zeigten, dass insbesondere nach den Attentaten von 2001, auf niedrigerem Niveau aber auch bereits vorher,30 Muslime Gefahr liefen, in verfassungsrechtswidriger, gar rassistischer Weise in Kollektivhaft für die Taten einer Minderheit genommen zu werden. Der Terrorismus im Namen des Islams hat sich daher nicht nur als Gefahr für den westlichen Staat, sondern indirekt auch für individuelle Freiheitsrechte von Muslimen im westlichen Staatswesen erwiesen (Sakaranaho 2006, S. 110f.). Der europäische Staat, eben noch gelobt für seine langsam wachsende Sensibilisierung gegenüber dem Islam, geriet gerade seit 2001 selbst in Verdacht, islamophob zu sein und dieser Vorwurf ist bis in die Gegenwart nicht gänzlich ausgeräumt. Doch wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Gefahrenabwehr als einer regulären Funktion des Staates und institutioneller Diskriminierung? Zunächst einmal wird man anerkennen müssen, dass es notwendig ist, zwischen Extremismus, Fundamentalismus und Islam zu unterscheiden. Die meisten Muslime Europas sind keine Fundamentalisten in dem Sinne, dass

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sie den westlichen Verfassungsstaat ablehnen würden. Im Gegenteil, staatlich finanzierte Untersuchungen haben gezeigt, dass sich der Verbreitungsgrad solcher fundamentalistischen Einstellungen absolut im Rahmen des »Normalen« bewegt und vergleichbar ist mit ähnlichen politischen Haltungen beim nichtmuslimischen Teil der europäischen Bevölkerungen (Kap. I.4). Die meisten islamischen Fundamentalisten sind zudem keine Extremisten, die zur Gewalt aufrufen oder mit Terroristen kooperieren (Meyer 2003, S. 167ff.). Thomas Meyer argumentiert in diesem Zusammenhang, es sei vernünftig, »jedem Individuum die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Integration zunächst auch dann zu unterstellen, wenn die von ihm gegenwärtig befolgte fundamentalistische Orientierung sich als solche der Integration prinzipiell entgegenstellt« (Meyer 2003, S. 169). Wer andere links- oder rechtsextremistische Organisationen nicht verbietet, kann dies auch beispielsweise bei Organisationen wie der türkischfundamentalistischen Millî Görüş nicht tun (Schiffauer 2003). Es bleibt ein verschwindend kleiner Rest an aktiven Terroristen, die vom Staat mit allen Mitteln des Rechtsstaates verfolgt werden müssen – aber der Staat hält sich vielfach nicht an solche Differenzierungen. Es beginnt mit dem Problem, dass die Unterscheidung zwischen gewaltfreiem und gewalttätigem Fundamentalismus, die sich in maßgeblichen Organen wie der International Crisis Group längst durchgesetzt hat, von europäischen Staaten nicht immer eingehalten wird (K. Hafez 2003a, 2009, S. 216ff.). In einer Broschüre des Landesamtes für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg von 2006 mit dem Titel »Islamistischer Extremismus und Terrorismus« beispielsweise wird zwar einleitend klargestellt, dass nur 2 Prozent aller in Deutschland lebenden Muslime zu islamistischen Organisationen zu zählen sind, von denen die allermeisten gemäß den Kategorien der International Crisis Group als gewaltfreie »politische Islamisten« oder »missionarische Islamisten«, nicht aber als gewaltbereite »Jihadisten« bezeichnet werden müssen. Im weiteren Text führt die Broschüre alle fundamentalistischen Gruppen auf und rückt sie somit in die Nähe des Terrorismus, wogegen Millî Görüş dann auch umgehend protestierte (Landesamt für Verfassungsschutz 2006; Islamische Gemeinschaft Millî Görüş 2007). Ein zweiter Sündenfall des Staates wiegt viel schwerer, denn nach den Attentaten von 2001 gerieten nicht nur religiös-politische Organisationen aller Art, sondern die Muslime insgesamt auf den Radarschirm des Staates. Die Entwicklung begann in den Vereinigten Staaten und nahm rasch auch in Europa ihren Lauf. In den USA wurden nach den Attentaten durch Sondergesetze wie den Patriot Act nicht nur die Definition einer »terroristischen Organisation« derartig ausgeweitet, dass buchstäblich jede muslimische Organisation darunterfallen konnte (Murray 2004, S. 41f.). Es wurden auch mehr als tausend Muslime verhaftet, was an die massenhaften Inhaftierungen von Japanern im Zweiten Weltkrieg erinnerte, als mehr als hunderttausend Japano-Amerikaner in Inter-

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nierungslager gesteckt wurden. Letztlich konnte keinem der Verhafteten eine Verbindung zum Terrorismus nachgewiesen werden (Murray 2004, S. 29ff.). Nicht eingebürgerte Orientalen wurden nach dem 11. September in den Vereinigten Staaten beim kleinsten Vergehen deportiert, was einer willkürlichen Auslegung der Einwanderungsgesetze gleichkam, zumal auch nicht-gewaltsame Vergehen dazu beitragen konnten, dass man des Landes verwiesen wurde. Für Verhaftungen und Deportationen reichten und reichen vielfach »plausible Annahmen« (reasonable grounds to believe), ein Individuum könne die nationale Sicherheit gefährden (Murray 2004, S. 53). Das international bekannte Gefängnis von Guantánamo ist also insgesamt nur die Spitze eines Eisbergs von Notstandsgesetzen und -maßnahmen, die Grund- und Menschenrechte der liberalen Demokratie gefährden oder aushebeln. Nancy Murray: Violating rights in times of perceived danger is an old American tradition that we have usually come to regret. Today, as in the period immediately following the First World War, immigrants are feeling the brunt of government repression, but they are not alone. ›Guilt by association‹ casts a wider net, which potentially can trap any Muslim citizen who makes a donation to the ›wrong‹ charity, any Arab American who speaks out on US Middle East foreign policy, anyone whose appearance might attract the scrutiny of a citizen snoop, or anyone whose electronic profile might raise flags. (Murray 2004, S. 61)

Auch in Europa kam es infolge der Attentate zu Freiheitsbeschränkungen, die Grundrechte verletzten. Ein Drittel aller befragten Muslime berichten zum Beispiel über Diskriminierungen an Flughäfen (Open Society Justice Initiative 2009, S.  7). In Großbritannien fanden Massenkontrollen in Moscheen statt, und Daten von Millionen von Muslimen wurden in europäischen Staaten überprüft (ethnic profiling). Ethnizität, nationale Herkunft und Religion gehören zu den Rasterkriterien der Polizei in Europa. In den Jahren nach dem 11. September kam es zu Verhaftungen und Überprüfungen: Maßnahmen, die die gesetzliche Gleichbehandlung insofern unterminierten, als diesen Überprüfungen keine konkreten Hinweise auf Personen vorausgingen, sondern sie allein aufgrund der genannten Merkmale durchgeführt wurden. Diese »Stigmatisierung ganzer Gemeinschaften« (Open Society Justice Initiative 2009, S. 8f.) ist diskriminierend, ineffektiv und dient eher der propagandistischen Beruhigung der Bevölkerung als der kriminalistischen Arbeit. Dabei nehmen Regierungen billigend in Kauf, dass Minderheiten in den Augen der Bevölkerung unter Kollektivverdacht gestellt werden. Die Europäische Menschenrechtscharta verbietet administrative Diskriminierungen, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ethnic profiling für weitgehend illegal erklärt (Open Society Justice Initiative 2009, S. 10). Er hat zwar anerkannt, dass im Zuge der Terrorismusbekämpfung die Freiräume des Staates wachsen müssen und nicht mit denen in anderen Be-

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reichen der Kriminalität verglichen werden können. Allerdings ist ethnic profiling nur in bestimmten Fällen und nach dem Gebot der Verhältnismäßigkeit erlaubt, und zwar dann, wenn ein ganz konkreter Sachverhalt vorliegt (Open Society Justice Initiative 2009, S. 27ff.). »Verhältnismäßigkeit« wird am größtmöglichen Schutz liberaler Rechte gemessen und darf nicht so weitgehend ausgelegt werden, dass die Essenz dessen, was geschützt werden soll – die freiheitliche Gesellschaft –, infrage gestellt wird (vgl. a. Dalgaard-Nielsen 2009; Cole 2009). Die meisten europäischen Staaten aber argumentieren, dass wegen der bestehenden Verträge das europäische Recht nur bei Amtshilfefragen zwischen Staaten kompetent ist, nicht aber bei nationalen Polizeiangelegenheiten (Open Society Justice Initiative 2009, S. 10). Bleibt zu hoffen, dass die Praxis des ethnic profiling wegen ihrer Ineffizienz abnimmt. Statt auf ethnic profiling setzen europäische Staaten zunehmend auf eine verbesserte Kommunikation mit Gemeinden und Moscheen, wobei auch diese Kooperation nicht verdachtsunabhängig durchgeführt werden sollte. Antiterrorpolitik, wenn sie sich gegen Muslime wendet, ist nicht per se diskriminierend oder islamophob, wie sich am Beispiel Frankreichs erörtern lässt. In Frankreich wurden so unterschiedliche staatliche Handlungen wie die Ausweisung von dreißig radikalen Islamisten, die Absage von Konferenzen (mit Tariq Ramadan) oder das Einfrieren von Moscheeprojekten als Anzeichen für eine institutionelle Diskriminierung durch den französischen Staat bezeichnet (Cesari 2006, S.  206f.). Dass das französische politische System durch den Laizismus gegen das Übermaßverbot verstößt und daher etwa bei der Frage des Kopftuchtragens diskriminierende Züge aufweist, ist bereits oben erörtert worden. Eine andere Frage ist, ob der Staat auch bei den genannten Aktivitäten Muslime diskriminiert. Man kann solche Fragen nicht prinzipiell beantworten, denn es handelt sich in allen Fällen nicht um abstrakte Gesellschaftsfragen, sondern um konkrete Begebenheiten. Sofern Verdachtsmomente oder gar Beweise für eine Verstrickung in terroristische Aktivitäten vorliegen, können auch die Maßnahmen als legal und mit dem liberalen Rechtsstaat vereinbar sein, andernfalls aber sind sie als diskriminierend einzustufen. Der Staat hat nicht nur die Aufgabe, durch Antidiskriminierungsmaßnahmen die Stellung von Minderheiten zu schützen, sondern er muss im selben Maße auch die verfassungsmäßigen Rechte aller anderen Staatsbürger absichern. Diskriminierung und institutionelle Islamophobie beginnen erst dort, wo verdachtsunabhängige »Kollektivstrafen« für eine ganze religiöse Gruppe verhängt werden, was nach den Attentaten in den Vereinigten Staaten vermehrt, in geringerem Maße aber auch in Europa der Fall war. Zusammenfassend lässt sich sagen: Antidiskriminierungsmaßnahmen und -gesetze, Islamkonferenzen und muslimische Beratungsgremien oder islamfreundliche Aussagen von Staatsoberhäuptern sowie europäischen Regierungen sind Phänomene, die zeigen, dass der europäische Staat langsam den

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Weg einer symbolischen Inklusion der Muslime und einer Dialogpolitik mit ihnen einschlägt. Sicher sind solche Prozesse nicht überall gleichermaßen zu konzedieren, aber zumindest in den genannten Ländern ist Diskriminierung gegenüber Muslimen offiziell unerwünscht. Man kann die Effektivität des staatlichen Schutzes vor Diskriminierung anzweifeln. Die entsprechenden Gesetze sind oft noch lückenhaft und die behördlichen Kompetenzen verbesserungsbedürftig. Der Staat selbst hat gerade bei der Frage der inneren Sicherheit und in der Antiterrorpolitik einen erheblichen Rechtfertigungsbedarf, und nicht selten diskriminiert er selbst. Raum zur Verbesserung sieht etwa die Schweizerische Eidgenössische Kommission gegen Rassismus in verschiedenen Bereichen: das Nichtdiskriminierungsgebot der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Verfassung(en) muss eingehalten werden; auftretende Diskriminierungen müssen besser bekämpft werden; der Kampf gegen den Extremismus darf nicht zur Aushöhlung von Menschenrechten führen; adäquate Rechtsgrundlagen für die Anerkennung muslimischer Gemeinschaften sind zu finden (Eidgenössische Kommission 2006, S. 41). Diese Analyse lässt sich durchaus auf ganz Europa übertragen. Insgesamt kann man aber bereits jetzt von einem ambivalenten Prozess der Systemanpassung sprechen, der neben der Judikative auch die Exekutive langsam einbezieht, wobei die Exekutive mehr noch als die Judikative in einem Spannungsverhältnis zwischen Verpflichtungen gegenüber den Verfassungen und Menschenrechten einerseits und dem Wunsch nach Befriedigung einer bestimmten mehrheitlichen Wählerklientel andererseits agiert. Exekutive Politik wird so lange anfällig für die Versuchungen der Diskriminierung einer Minderheit bleiben, wie auf der Ebene der Parteipolitik und der Ideologien noch kein richtungsübergreifender Konsens der politischen Kultur für die gleichberechtigte rechtliche, politische und gesellschaftliche Anerkennung der Muslime erzielt worden ist. Ebenso bedeutsam wie die Beziehungen zwischen Exekutive und Judikative (Kap. I.1) sind also die Wechselwirkungen zwischen Exekutive und Legislative oder Parteien. Die Exekutive genießt als ausführendes Organ des Rechtsstaates nur teilweise das Recht auf eine unabhängige Normenkontrolle; zum Teil ist sie schlicht das ausführende Organ des legislativen Mehrheitswillens und insofern anfällig für populistische Stimmungen und Maßnahmen. Die beiden Enden der »liberalen Demokratie« – die Sicherung von Grundrechten und die demokratische Mehrheitsherrschaft – gehen gerade auf der Ebene der exekutiven Politik ein instabiles Verhältnis ein. Die Staatsvertreter Europas, nationale wie regionale Regierungen und lokale Akteure operieren an einer Schnittstelle, die das politische System zwischen Recht und Gesellschaft gebildet hat. Die symbolischen Repräsentanten der staatlichen Grundwerte – Präsidenten und Monarchen – können daher heute bereits sehr viel konsequenter den Weg in eine auch Muslime einbeziehende inklusive liberale Gesellschaft weisen. Je weiter wir aber in unserer Analyse fortschreiten, umso

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deutlicher wird sich zeigen, dass diese multikulturelle Staatsidee vor allem im legislativen Raum immer mehr an Bedeutung verliert und Partikularinteressen – seien es auch die der Mehrheit – immer einflussreicher werden. Es wäre zu früh, von einer heimlichen europäischen Staatsagenda des Multikulturalismus zu sprechen. Eher schon trifft Frank Peters Formel von »wiederholten Akten gleichzeitiger Anerkennung und Verleugnung« (Peter 2010, S. 133) die aktuelle Situation der exekutiven Islampolitik. In einer Zeit allerdings, in der Rechtspopulisten überall in Europa an der Begrenzung der Religionsfreiheit arbeiten und – nicht nur in der Schweiz – dem Mehrheitswillen zu einem unkontrollierten Durchbruch verhelfen wollen, wobei Muslime zu Sündenböcken ökonomischer und anderer Krisen gemacht werden (Kap. I.3), muss man den bestehenden staatlichen Systemen und seinen Regierungen zugutehalten, dass die Ambivalenzen ihrer Islampolitik zumindest anzeigen, dass der Staat dem Druck auf die Verfassungs- und Menschenrechte nicht ohne Weiteres nachgibt. Viele europäische Regierungen tragen dazu bei, die Grenzen zwischen einem funktionierenden politischen System und zunehmender Islamophobie in der Gesellschaft (Kap. II.1) zu markieren. Während sich in den politischen Kulturen Europas die öffentlichen Debatten zuspitzen und die Grenzen zum Rassismus vielfach überschritten werden, ist das Regierungssystem immerhin ambivalent und zeigt eine gewisse Bereitschaft, dem wachsenden Druck der Mehrheitsgesellschaft standzuhalten. Man kann das politische System – zumal vor dem Hintergrund dessen, was noch über Legislative und Parteien zu sagen sein wird – nicht pauschal als »funktional« im Sinne der liberalen Demokratie einstufen. Aber die Rechtsbindung des Systems hat zumindest der Exekutive und der Judikative im Laufe der Zeit islampolitische Anpassungsreaktionen abgenötigt, die im Hinblick auf die Stabilität der Systeme bedingt hoffnungsvoll stimmen können (vgl. a. Vertovec 2002, S. 19).

3. PARLAMENTE , PARTEIEN , B EWEGUNGEN – »R EPR ÄSENTATION OHNE P ARTIZIPATION « ODER DAS P ROBLEM DER H EGEMONIE IN DER D EMOKR ATIE Gegen außerordentliche Gruppenrechte religiöser und anderer Minderheiten in der demokratischen Gesellschaft wenden sich vor allem die Vertreter einer universellen Demokratievorstellung. Vor dem Gesetz sind demnach alle Menschen gleichzubehandeln und alle verbleibenden Probleme und Interessenkonflikte in einer Gesellschaft sind, sofern sie in den Raum des Politischen gehören, nach den Spielregeln des demokratischen Willensbildungsprozesses zu lösen, was selbst in Systemen mit einem Verhältniswahlrecht (wie in den Niederlanden) letztlich bedeutet: nach den Spielregeln der Mehrheit, die sich in jedem Entscheidungsprozess durchsetzt. Der Verweis auf die demokratische

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Willensbildung scheint umso wichtiger, als viele der mit Religion verbundenen Fragen ohnehin von dem die Religionsfreiheit schützenden Rechtssystem nur unzureichend abgedeckt werden können. Die Frage der Stellung der muslimischen Minderheit in westlichen Gesellschaften geht allerdings weit darüber hinaus und beinhaltet auch Aspekte der politischen Repräsentanz in Vereinen und Verbänden, sozialen Bewegungen, Parteien und Parlamenten, kurz: in der Legislative und im intermediären System der Politik. Eine Schwäche des bisherigen wissenschaftlichen Diskurses über Muslime im Westen besteht darin, dass zwar viel über Rechte oder über gesellschaftliche Fragen der »Integration« nachgedacht worden ist, aber nur sehr wenig über die Stellung von Muslimen im politischen Prozess der Demokratie in Europa. Mit dieser Frage sind wir auf der anderen Seite der Gleichung der »liberalen Demokratie« angelangt. Hier geht es nicht mehr um Grundrechte, die durch das Rechtssystem und die Exekutive zu schützen sind, sondern um das freie Spiel der politischen Kräfte und da sieht es für Muslime generell erst einmal ungünstig aus. Sie sind mit durchschnittlich etwa 7 Prozent Anteil an den europäischen Bevölkerungen in einer deutlichen Minderheitenposition. Natürlich muss berücksichtigt werden – und dies wird auch noch zu diskutieren sein (Kap. II.2) –, dass viele Muslime sich entweder gar nicht als Muslime betrachten oder ihre Interessen nicht als Muslime in der Politik artikulieren wollen. Dennoch bleibt als Grundproblem bestehen, dass Muslime zwar die größte religiöse Minderheit in Europa bilden, im politischen Prozess der Demokratie aber einer strukturellen Übermacht von Nicht-Muslimen ausgesetzt sind. Die Demokratie weist also eine intrinsische Hegemonie auf. Während Grund- und Menschenrechte Muslimen bestimmte Freiheiten gewähren, die prinzipiell über Gerichte durchsetzbar sind, ist die Demokratie zunächst einmal unattraktiv für religiöse Minderheiten, denn sie sind auf religiöse oder andere Mehrheiten als Mehrheitsbeschaffer angewiesen und dadurch ungewöhnlich abhängig. Historische Schieflagen im vorgeblich neutralen Recht, die wir in vielen Fällen feststellen konnten – etwa die latente Ungerechtigkeitsstruktur des Laizismus oder Probleme der Gleichstellung in anderen Formen des Säkularismus –, rühren ursächlich vom Problem der Hegemonie in der Demokratie. Das Mehrheitsprinzip ist die treibende Kraft hinter den Ungerechtigkeitsstrukturen. Religiöse Minderheiten im Allgemeinen und Muslime im Speziellen sind schlimmstenfalls eine machtlose Randgruppe, bestenfalls erlangen sie Macht im »Huckepackverfahren«, nämlich auf dem Ticket mächtigerer politischer Kräfte, mit denen sie Allianzen bilden. Das rechtliche Fortkommen ist damit zumindest teilweise abhängig vom politischen Prozess und dieser ist in seiner Gesamtheit abhängig von einer recht willkürlichen Anerkennung von Minderheiteninteressen durch die Mehrheit. Über das Grundproblem der »Diktatur der Mehrheit« schrieb schon Alexis de Tocqueville 1835 in seinem Werk »Über die Demokratie in Amerika«:

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ Ich halte den Grundsatz, dass im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich […]. Wenn ich daher einem ungerechten Gesetz den Gehorsam verweigere, spreche ich keineswegs der Mehrheit das Recht ab, zu befehlen; ich appelliere lediglich von der Souveränität des Volkes an die Souveränität der Menschheit. Es gibt Leute, die sich nicht scheuen zu erklären, ein Volk könne in Dingen, die nur es selbst angehen, die Grenzen der Gerechtigkeit und der Vernunft gar nicht gänzlich überschreiten, und man brauche sich daher nicht zu bedenken, der Mehrheit, die es repräsentiert, jede Gewalt einzuräumen. Aber das ist die Sprache des Sklaven. […] Niemals werde ich die Befugnis, schlechthin alles zu tun, die ich einem Einzelnen unter meinesgleichen versage, einer Mehrheit zugestehen. (de Tocqueville 1985, S. 145f.)

Während de Tocquevilles Kritik noch als allgemeine Kritik der Demokratie und als Appell an Mehrheiten zu verstehen war, eine Art Gemeinschaftsverpflichtung anzuerkennen, haben einige moderne Denker diese Analyse auf die spezifische Situation von ethnischen und religiösen Minderheiten übertragen. Carol C. Gould etwa argumentiert, das Hauptproblem der Demokratie sei, dass sie zwar eine vielfältige Repräsentation von Meinungen und Interessen vorspiegele, die Vielfalt aber dort verloren gehe, wo im politischen Raum oder Prozess Entscheidungen getroffen würden: »Diversity may be the original condition of a polyvocal discourse but univocality is its normative principle.« (Gould 1996, S. 172) Damit ist gemeint, dass es letztlich in der Politik nicht um Vielfalt, sondern um Konsens oder Mehrheitsentscheidungen geht, wobei die im öffentlichen Diskurs angedeutete Vielfalt dann wieder beschnitten wird. Gould und andere kritisieren, dass Pluralismus in der Demokratie schnell zu einem rein prozeduralen Element verkommt. Ethnische und religiöse Diversität werden vorgetäuscht, die Entscheidungsprozesse aber werden von hegemonialen Machtverhältnissen und Interessenkonstellationen gesteuert. Man könnte hier von einem Problem der »Repräsentation ohne Partizipation« sprechen, denn es geht bei der Frage von Minderheiten in der Demokratie nicht nur um deren Sichtbarkeit im intermediären System und in Parlamenten, sondern darum, ob diese Repräsentanz auch geeignet ist, Entscheidungen zu beeinflussen. Ebenso wenig wie der Rückzug auf Rechtspositionen und Grundrechte reicht ein multikulturelles Lob der Vielfalt als Wegweiser der Demokratie aus. Ist es allerdings realistisch und sinnvoll, für Minderheiten einen autarken politischen Gestaltungsraum errichten zu wollen, der ihnen beim Rest der Gesellschaft den Ruf einbringt, die »Diktatur der Mehrheit« in eine »Diktatur der Minderheiten« (Mönninger)31 verwandeln zu wollen, weil hier Rechte und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die andere Menschen nicht ohne Weiteres beanspruchen können? Man muss sich vor Augen führen, dass es sich bei religiösen Interessen ja nur zum Teil um Fragen des religiösen Ritus und Kultus handelt (Gebet, Moscheebau usw.). Schon beim islamischen Religions-

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unterricht in öffentlichen Schulen, der nicht von den Religionsgemeinschaften geleistet wird, vermischen sich Minderheits- und Mehrheitsinteressen, so dass ein Streit um außerordentliche Gruppenrechte fast unvermeidlich ist. Enden wir also bei der Frage der politischen Beteiligung in der Demokratie in einem ultimativen Dilemma zwischen ungerechter Hegemonie (der Mehrheit) oder nicht funktionierender Autarkie (der Minderheiten)? Einen Ausweg aus dieser schwierigen Lage könnte unter Umständen eine moderne Quotenpolitik bieten. Quoten könnten den Einfluss von Minderheiten über deren numerische Präsenz hinaus anwachsen lassen, die Minderheiten aber zugleich im allgemeinen politischen Raum belassen und Entscheidungen würden durch Mehrheiten und Minderheiten gemeinsam gefällt. Politische Quoten, die beispielsweise Will Kymlicka als »spezielle Repräsentationsrechte« (special representation rights) von Minderheiten vorsieht (Kap. I.1), können dafür Sorge tragen, dass Anliegen einer Minderheit effektiv in den politischen Entscheidungsprozess hineingetragen werden – es entscheidet aber letztlich der demokratische Souverän als Ganzes. Die in den USA lange vorhandene Minderheitenförderungspolitik der »affirmative action« oder moderne europäische Ansätze des »diversity mainstreaming« haben die Grundproblematik erkannt, gehen aber insofern über spezielle Repräsentationsrechte hinaus, weil sie allgemeine Quotierungen (in Wirtschaft, Bildung usw.) anstreben, die sich nicht auf die politische Stellung einer Minderheit, sondern auf jedes einzelne Mitglied dieser Gruppe beziehen – eine Politik, die leicht als individuelle Bevorrechtung ausgelegt werden kann. »Spezielle Repräsentationsrechte« sind also der Versuch eines gangbaren Kompromisses und Auswegs aus dem Dilemma zwischen Hegemonie und Autarkie. Wie Will Kymlicka geht auch Iris Marion Young davon aus, dass die Repräsentation von Minderheitengruppen im herkömmlichen institutionellen Gefüge der Demokratie zu systematischer Diskriminierung führt (Young 2000, S. 141ff.). Man kann sich allerdings auch auf den Standpunkt stellen, dass in der modernen Demokratie Minderheiten ein attraktives Wählerpotenzial sind und daher eine strukturelle Inferiorität nicht gegeben und Quoten oder ähnliche Ausgleichsregelungen gar nicht nötig sind. Aus dieser Sicht besteht zwischen den Parteien geradezu eine Rivalität im Kampf um die Zuwendung der Lobbygruppen von Minderheiten, man denke nur an die einflussreiche Stellung jüdischer Organisationen in der US-Nahostpolitik (Marr 2000, S. 282f.). Warum sollten also Minderheiten prinzipiell chancenlos sein, auf regulärem Wege politische Ziele zu erreichen? Der Ankerpunkt eines solchen Denkens ist häufig die These von der abnehmenden Parteienidentifikation vieler Wähler (dealignment), gemäß der sich der Umfang der Stammwählerschaften von Parteien verringert, da westliche Industriegesellschaften sich fortwährend sozial verändern, Mittelschichten sich verbreitern, aber auch schrumpfen können, so dass politische Interessenpräferenzen der Bürger ständig in Bewegung sind (Dalton

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et al. 2000). Parteien sind demnach mehr denn je gehalten, nicht nur geschickte Öffentlichkeitsarbeit und Werbung zu betreiben, sondern sie sind permanent auf der Suche nach der »neuesten Mitte« mit dem größten Wählerpotenzial. Ob diese Situation allerdings für religiöse Minderheiten eine hoffnungsvolle Ausgangsposition schafft, als Mehrheitsbeschaffer »hofiert« zu werden, ist zweifelhaft. Dies würde voraussetzen, dass Minderheiten homogen einer bestimmten politischen Richtung zuneigen, was kaum gegeben sein dürfte, da sie in der Regel selbst sozial und ideologisch differenziert sind, so dass ihr Attraktivitätspotenzial aus Sicht der Parteien immer mehr schrumpft. Durch geschicktes Lobbying Statusvorteile zu erzielen, ist theoretisch denkbar, aber Minderheiten müssen nicht nur sich selbst, sondern auch den Status politischer Parteien realistisch einschätzen. Parteien sind Bindeglieder zwischen Staat und Gesellschaft, sie entwickeln die Programme und rekrutieren das Personal für Parlament und Staat. Anders als spezielle Interessenorganisationen (z.B. Islamverbände) setzen sie sich nicht für konkrete Belange einer begrenzten Gruppe ein, sondern sie repräsentieren breitere Gruppen-, Schichten- und Milieuinteressen. Dadurch werden nicht nur die Parlamente zu Orten der Mehrheitsdemokratie, sondern Parteien selbst sind »Konsensmaschinen« des Politischen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich kleine Gruppen wie Teile einer religiösen Minderheit dort durchsetzen, ist gering. Dies bedeutet jedoch, dass die Frage, wie sich die Parteien zum Multikulturalismus verhalten, unter normalen Umständen von den kulturell dominanten Mehrheiten in Parteien und Gesellschaften beantwortet wird. Wo aber ist der moderne Liberalismus à la Kymlicka, Walzer, Young oder Gould heute im ideologischen Spektrum europäischer Parteien beheimatet? Die europäische Sozialdemokratie ist seit mehr als einem Jahrhundert keine Bewegung sozialistischer Klassenparteien mehr. Sie hat sich von Ideen eines revolutionären Umbruchs abgewendet und hat die Demokratie verinnerlicht. Sie sucht bei Arbeitern wie im Bürgertum nach Wählern, wobei Schichten- und Milieuinteressen hier längst überlappen. Die Sozialdemokratie steht prinzipiell für eine breite Verteilung gesellschaftlicher Güter, ist dabei aber – wie man etwa an der Privatisierungspolitik durch Tony Blairs »New Labour« in Großbritannien erkennen konnte – längst nicht mehr so staatsorientiert und unternehmerfeindlich wie in Teilen des 20. Jahrhunderts. Die Frage, wie die Sozialdemokratie die Stellung von Religion, Multikultur und Einwanderung in der modernen Gesellschaft einschätzt, ist dabei schwer zu beantworten. Tony Blairs Haltung zum Islam (Kap. I.2) ist ein Beispiel dafür, dass kein zwingender Widerspruch zwischen Sozialdemokratie und den Interessen religiöser Minderheiten besteht. Möglicherweise aber gibt es in Teilen der Bewegung noch eine stärkere Distanz zu Kirchen und vielleicht sogar eine gewisse Religionsfeindlichkeit, zumal die Institutionen der Religion bis heute vielfach Weggefährten des politischen Konservatismus sind, was jedoch bei eingewanderten Minderheitsreligionen deutlich

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weniger der Fall sein dürfte (s.u.). Problematischer ist die Tatsache, dass gerade alteingesessene Arbeiter und untere Schichten Einwanderer oft als Konkurrenz um Arbeitsplätze betrachten. Die Linke hat insgesamt eine sehr schwierige Geschichte des Rassismus und Antisemitismus zu bewältigen, deren Ursprünge vielfältig sind. Vordenker der Linken wie Karl Marx sahen Religion grundsätzlich als Wegbereiter des Feudalismus an, vor allem aber formulierten sie eine eigene Form des »Orientalismus« und eine spezifische Abneigung gegenüber dem Islam (Turner 1978, K. Hafez 1995). Da Einwanderer aber oft in Niedriglohnsektoren arbeiten, hat sich, bei aller Konkurrenz, dennoch eine gewisse Nähe zwischen Einwanderern und Sozialdemokratie herausgebildet. Hier dürfte wohl der größte Gegensatz zu den heutigen liberalen Parteien bestehen. Sie haben nach dem Zweiten Weltkrieg ihr Monopol auf Zentralideen der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verloren, die nun in allen großen politischen Richtungen beheimatet sind. Dadurch haben sie sich zu relativ eng begrenzten Klientel- bzw. Milieuparteien entwickelt, die oft »neoliberale« und stark unternehmerfreundliche Interessen repräsentieren. Dies ist kein Widerspruch zur Idee eines modernen multikulturellen Liberalismus, erzeugt aber leicht einen ausgeprägten Sozialdarwinismus in den Reihen der liberalen Parteien. Häufig vertreten diese auch einen klassischen Liberalismus, wonach Religion Privatsache ist, durch Grundrechte gesichert; eine Haltung, die, wie gesehen, viele Probleme in Recht, Staat und Gesellschaft ungelöst lässt, welche nach rechtlichen und politischen Lösungen verlangen. Es entsteht die paradoxe Situation, dass diejenigen Parteien, die das Siegel »liberal« im Namen tragen, oft mit dem multikulturellen Liberalismus der neuen Generation wenig anzufangen wissen, da sie entweder neoliberal, sozialdarwinistisch oder sogar rechtsliberal eingestellt sind, wobei in diesen Strömungen die fehlende gesellschaftliche Bindungskraft der Ideologie des »Minimalstaats« und die wirtschaftselitäre Orientierung der Parteien durch einen überhöhten Nationalismus ausgeglichen werden. Kein Wunder also, dass der multikulturelle Liberalismus heute eigentlich keinen festen Ort im Richtungsspektrum europäischer Parteien hat. Entsprechende Ideen bis hin zum »diversity mainstreaming« können bei Linken, Sozialdemokraten oder bei (Neo-)Liberalen auftauchen. Die vergleichsweise junge Bewegung der »Grünen« hat noch am ehesten eine genuine multikulturelle Ideologie hervorgebracht, wofür die Gründe vielfältig gewesen sind. Zu ihnen zählen antirassistische Ursprünge der »68er-Bewegung« und der etwas geringere Rassismus in den relativ gebildeten Milieus der Grünen (Kap. II.1), aber auch die simple Tatsache, dass der Multikulturalismus eine ideologische und machtpolitische Leerstelle war, die andere Parteien nicht besetzt hatten und die sich zur politischen Profilierung eignete. Einer der Hauptgründe war zudem, dass sich grüne Parteien – vor allem die Grünen im »grünen Pionierland« Deutschland – von einer reinen Umwelt- zu einer Volkspartei mit mehrdimensionaler Ideologie weiterentwickelt haben (Raschke 1993). Auch die Grünen allerdings

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stehen vor dem Dilemma, dass eine Profilierung mit neuen Themen Gewinne ebenso wie Verluste einbringen kann. Durch die schwindenden Parteibindungen der Bürger sind die Grünen ständig auf der Suche nach der »neuen Mitte«, machen neuerdings in einigen Ländern eine Entwicklung zur Volkspartei durch und müssen dadurch Kompromisse mit bürgerlichen Kreisen eingehen, die zwar in der Umweltpolitik fortschrittlich sind, aber zu Einwanderern und zum Islam nicht notgedrungen eine ähnlich liberale Haltung aufweisen müssen, wie dies in der Gründergeneration der Grünen der Fall war. Interessanterweise hat sich das dealignment bei konservativen Parteien Europas vielfach liberalisierend ausgewirkt. Der moderne Konservatismus ist keineswegs mehr der natürliche Feind der Einwanderung und schon gar nicht religiöser Minderheiten. Die rassistischen Ideologien, die noch bis zum Zweiten Weltkrieg salonfähig waren, sind weitgehend tabu und blitzen nur noch am rechten Rand der Parteien gelegentlich auf. An die Stelle der alten Blut-undBoden-Ideologien sind allerdings neue Gemeinschaftsideen getreten, denn für moderne Konservative gilt eine Dichotomie: Auf der einen Seite sind Konservative heute insoweit liberal, als sie einer begrenzten Einwanderung und der rechtlichen Gleichbehandlung von Minderheiten im Prinzip zustimmen. Zugleich leitet sich ihr Weltbild aber aus alten konservativen Werten ab, die Karl Mannheim bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Begriffen wie »Innerlichkeit«, »Ordnung« und »prästabilisierter Harmonie« beschrieben hat und die entweder mit Gott, der Nation oder dem Volk begründet wurden (Mannheim 1984, S. 117ff.). Der einzelne Mensch ist demnach nur ein Zufall, die tieferliegende Ordnung entsteht durch die organisch – heute vor allem kulturell – verbundene Gemeinschaft. Sie ist der »Träger des Geschichtlichen« (Mannheim 1984, S. 76).32 Begriffe wie der der »Leitkultur«, den die deutschen Konservativen für ihre Haltung zur Einwanderung und zu ethnischen und religiösen Minderheiten geprägt haben, zeigen, dass Konservative mittlerweile zur Aufnahme »Fremder« in die Gemeinschaft bereit sind, zugleich aber die mehrheitliche Hegemonie der angestammten tradierten Gemeinschaftlichkeit nicht aus der Hand geben wollen. Gesellschaftliche Harmonie entsteht demnach nicht mehr durch Segregation oder die unbedingte Verhinderung der Zuwanderung, sondern durch Assimilation, die als »Integration« bezeichnet wird. Der Fremde wird nicht mehr abgelehnt – aber das Fremde soll quasi herausgefiltert werden. Mit diesem »Trick« ist es dem modernen Konservatismus gelungen, sich einerseits an die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft und an deren Realitäten anzupassen, zugleich aber dem konservativen Ideal der Gemeinschaft treu zu bleiben. Ob der Konservatismus den Rassismus dadurch allerdings besiegt hat, bezweifeln seine Kritiker (Elm 2007). Allerdings muss man zugestehen, dass der Aufstieg von rechtspopulistischen Parteien ein Hinweis dafür ist, dass der Rassismus eine neue politische Heimat sucht (Kap. II.1).

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Insgesamt ist es nicht verwunderlich, dass Konservative zwar moderne Einwanderungsgesetze dem Grunde nach mittragen, hingegen immer noch die größten Widerstände in diesem Bereich entwickeln. Einwanderungsgesetze und die weiterführende Staatsangehörigkeit stellen quasi das Eingangstor zu politischer Partizipation dar. Da die meisten Muslime »neue Minderheiten« in europäischen Gesellschaften sind, die erst im Zuge der letzten Jahrzehnte in größerer Zahl zugewandert sind, sind entsprechende Gesetze zentral für die Stellung dieser religiösen Minderheit (sieht man von der Tatsache ab, dass einige europäische Staaten auf lokaler Ebene auch Nicht-Staatsbürgern das Wahlrecht einräumen).33 Noch immer gilt die Regel, dass Partizipationsrechte wie das direkte oder das indirekte Wahlrecht an die staatsbürgerliche Mitgliedschaft gebunden sind. Hier ergeben sich gleich mehrere Probleme. Zum einen zeigt sich, dass der Liberalismus auch am Staat orientiert war. Kosmopolitische Werte mögen zwar im Inneren des Staates herrschen, aber so manch ein liberaler Denker ist ein Verteidiger von Grenzen und regulierter Einwanderung.34 Zum anderen haben gerade Konservative Einwanderungsgesetzen zugestimmt, jedoch dafür gesorgt, dass Kultur- und Sprachtests als Vorbedingungen von Einwanderung oder Staatsbürgerschaft eingeführt wurden. Da die liberale Demokratie aber im Prinzip keine kulturellen Voraussetzungen kennt, ist dies ein echtes Liberalitätsdefizit der entsprechenden europäischen Staaten (Laborde 2002, S. 608). Während man die Sprache noch als Medium betrachten könnte, dessen Vorhandensein eine Art Grundlage für die Befolgung der Gesetze sowie die politische Information und Orientierung in der Demokratie ist (vgl. Kap. II.2; wie sieht es allerdings mit dem politischen Vokabular manch eines Alteingesessenen aus?), geht der Konservatismus hier deutlich weiter, indem er bestimmte kulturelle Interpretationen als für die (Staats-)Gemeinschaft verbindlich erklären möchte, um sich so seine eigene kulturelle Hegemonie zu sichern. *** Deutschland wurde noch in den 1990er Jahren vielfach als das europäische Land mit den wohl restriktivsten Einwanderungsbedingungen kritisiert. Es besaß kein Einwanderungsgesetz und das Erlangen der Staatsbürgerschaft war in Deutschland ungleich komplizierter als in den ehemaligen Kolonialstaaten Großbritannien und Frankreich. Die Tatsache, dass Deutschland damals relativ vielen politischen Flüchtlingen Asyl gewährte, wurde selten in Rechnung gestellt. Dass europäische Staaten insgesamt eine strenge Zuwanderungspolitik betrieben, zeigte sich spätestens bei der in der Europäischen Union erarbeiteten Einschränkung des Asylrechts in den 1990er Jahren. Mittlerweile besitzt Deutschland ein von der rot-grünen Regierung Gerhard Schröder (1998-2005) verabschiedetes Einwanderungsgesetz, aber am Umgang mit der Frage der Staatsbürgerschaft scheiden sich nach wie vor die Geister in den politischen

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Parteien. Aus Sicht der konservativen CDU/CSU ist die deutsche Staatsbürgerschaft quasi eine Belohnung für gelungene Integration, während sie bei Parteien des Mitte-Links-Spektrums eher als Voraussetzung und notwendige Vorleistung der Mehrheitsgesellschaft betrachtet wird (F. Mirbach 2008, S. 27, 105). Bedenkt man, dass vollständig am politischen Leben in der Demokratie nur derjenige teilhaben kann, der die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes besitzt, so wird die Problematik dieser Meinungsverschiedenheit deutlich. Konservative Politik verlangt von den Einwanderern mit Nachdruck, sich zu »integrieren« – sie verweigert diesen Menschen aber über einen langen Zeitraum bis zu einer möglichen Einbürgerung die politische Teilhabe. Das bis heute restriktive rot-grüne Einwanderungsgesetz in Deutschland, das in Absprache mit CDU/ CSU beschlossen wurde, war keine Erfolgsgeschichte:35 Noch immer verfügt die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Muslime (etwa 55 Prozent) nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft (Haug et al. 2009, S.  322). Wesentlich mehr englische als deutsche Muslime besitzen die britische Staatsbürgerschaft (Fetzer/Soper 2005, S. 12). Ungeachtet der oft schwierigen Einbürgerungsbedingungen für Muslime sind diese in den Parlamenten und politischen Parteien vieler europäischer Länder doch in zunehmendem Maße repräsentiert. 2003 hatten im niederländischen Parlament 10 von 150 Parlamentariern einen muslimischen Hintergrund (Open Society Institute 2007, S. 33). 2006 wiesen Belgien und England die meisten muslimischen Parlamentarier auf, gefolgt von den Niederlanden, Frankreich und Deutschland (Sinno 2009, S. 76). In all diesen Ländern kann man heute davon sprechen, dass gemessen am Bevölkerungsproporz ausreichend Muslime in den Parlamenten vertreten sind. Zwar sagt die schiere Zahl von Angehörigen einer religiösen Minderheit noch nichts über deren Politik aus – ist diese überhaupt islamorientiert und sollte sie es sein? (s.u.) – und es zeigt sich leider auch, dass höhere Repräsentation allein noch nicht zu einer Verringerung von Islamophobie in der Bevölkerung führt (Kap. II.1). Dennoch erweist sich, dass sich nach Judikative und Exekutive nun auch die Legislative europäischer Staaten insofern an die Bedingungen muslimischer Einwanderung anpasst, als sie Angehörigen dieser Minderheit keine strukturellen Hürden in den Weg stellt. Muslime können heute Karriere in europäischen Parlamenten machen. Dies gilt auch für die Parteien in Europa, denn hier gibt es eine Reihe von Erfolgsgeschichten von Muslimen zu vermelden. In Deutschland stehen Namen von Bundestagsabgeordneten wie Lale Akgün, Cem Özdemir, Tarek AlWazir oder Omid Nouripour für erfolgreiche Karrieren in Parteien und Parlamenten. Zwar hat es in Deutschland, wie andernorts in Europa, gelegentlich Situationen gegeben, in denen eigentlich sichere Mandatsplätze wegen »Anfeindungen« verloren gingen (F. Mirbach 2008, S. 167). Dennoch schreitet die Repräsentation von Muslimen in europäischen Parteien langsam voran. Un-

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abhängig von deren inhaltlichen Positionen gibt es eine Reihe von Gründen, warum sich diese Tatsache positiv auf die liberale Demokratie und Gesellschaft auswirken kann: Hilfestellungen für diskriminierte Teile der Bevölkerung werden erleichtert; Rassismus im Parteiensystem kann abgebaut werden; vor allem aber entwickeln sich im politischen System Vorbilder und Rollenidole für die Mitglieder religiöser Minderheiten (Sinno/Tatari 2009, S. 128). Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es am Ende der 2000er Jahre im US-Kongress nur einen einzigen muslimischen Abgeordneten gegeben hat (Keith Ellison), keinen muslimischen Gouverneur und nur eine Handvoll muslimischer Repräsentanten in den höheren Gerichten und oberen Etagen der Administration (Sinno 2009, S. 69). In einem typischen Einwanderungsland wie den Vereinigten Staaten, das sich in der ideologischen Selbstdarstellung der Einwanderungspolitik gerne als multikultureller Schmelztiegel (melting pot) darstellt und sich systematisch vom Erbe des europäischen Rassismus abgrenzt, ist die Integration von Muslimen in das politische System offensichtlich weitaus schlechter gelungen als im in Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftsfragen vielfach sehr viel restriktiveren Europa. Dabei ist die Unterrepräsentation von Muslimen nur eines von vielen Defiziten der Gruppenrepräsentation im USParlamentarismus (Williams 1998). Europäische Länder bauen gerade gegenüber der Einwanderung aus muslimisch-orientalischen Ländern häufig hohe Hürden auf. Sie ermöglichen aber denjenigen, die sich erfolgreich in die Staatsbürgerschaft »vorarbeiten«, bessere politische Aufstiegschancen als ein Musterland der Demokratie und der globalen Einwanderung wie die USA. Wie kommt das? Aus Sicht von Abdulkader H. Sinno gibt es keinen vernünftigen Grund, warum die Minderheit selbst dafür verantwortlich zu machen wäre, etwa wegen einer zu starken ethnischen Zersplitterung, generellem Desinteresse am politischen Prozess oder Unkenntnis des Wahl- und politischen Systems in den Vereinigten Staaten. All diese Einflüsse können zwar eine Rolle spielen. Die Repräsentanzdefizite entstehen aber vor allem durch die starke Lobbyarbeit von evangelikalen und pro-israelischen Interessengruppen in den Parteien, die nachweislich mehrfach die Aufstellung oder Wahl von muslimischen Kandidaten verhindert haben (Sinno 2009, S. 85ff.). An dieser Stelle tut sich erstmals ein interessanter Zusammenhang auf, der noch zu diskutieren sein wird (Kap. II.1): Könnte es sein, dass in den USA zwar gesellschaftliche Freiheitswerte stärker ausgeprägt sind als in Europa und daher viele vehemente Debatten über das Kopftuch oder Moscheen, die in Europa die Islamophobie befeuern, dort nur auf geringem Niveau zu finden sind, dass aber das europäische politische System besser und sensibler auf Islamfragen und auf die Muslime selbst reagiert als das der Vereinigten Staaten? Allerdings bezieht sich die Vorstellung von der Funktionalität europäischer politischer Systeme zunächst einmal nur auf die personelle Durchlässigkeit und auf »Repräsentation« von Mitgliedern der religiösen Minderheit der Mus-

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lime im engeren Sinne. Es muss sich erst noch erweisen, inwieweit Muslime in europäischen Legislativen und Parteien nicht doch in inhaltlicher Hinsicht an der Hegemonie der jeweiligen nicht-muslimischen Mehrheit scheitern. Aus theoretischer Perspektive geht es bei der politischen Repräsentation ja nicht um einen Selbstzweck und auch nicht nur um Identifikationsprozesse und positive Rollenmodelle, sondern es geht um Partizipation im Sinne echter politischer Steuerungsmöglichkeiten. Die Frage ist daher, inwieweit die gesteigerte Präsenz von Muslimen in Parlamenten und Parteien mit entsprechenden inhaltlichen Fortschritten in Parteiprogrammen und im politischen Handeln einhergeht. Wichtig ist es hier vor allem, die in den letzten Kapiteln erörterten Fragen der muslimischen Gleichstellung und ihrer Defizite im Rechtswesen ebenso wie im symbolischen Raum staatlichen Handelns im Auge zu behalten. Als Beispiel sollen hier die deutschen politischen Parteien eingehender vorgestellt werden. Bei Durchsicht der politischen Programme wird sehr schnell deutlich, dass sich die konservative Ideologie der Christlich Demokratischen Union (CDU) zwar langsam in Richtung einer Akzeptanz der kulturellen Mitgliedschaft von Angehörigen nicht-westlicher Kulturen und Religionen entwickelt, zugleich aber kulturelle Unterschiede und eine kulturelle Hegemonie der Mehrheit unterstrichen werden. Aufnahme und Spielregeln der Mitgliedschaft sollen also von der Mehrheit bestimmt werden. Unter dem programmatischen Begriff der »Leitkultur« wird ein Konzept von »Fördern und Fordern« verstanden, was bedeutet, dass der Staat Angebote machen soll, damit sich Migranten aktiv integrieren und assimilieren können, die deutsche Sprache erlernen und Staatsbürgerschaftsunterricht nehmen können (F. Mirbach 2008, S. 84). Der moderne Konservatismus ist zwar durchaus komplex und zu Überraschungen in der Lage, etwa im Zusammenhang mit der von der CDU-Regierung Merkel begonnenen Deutschen Islam Konferenz (Kap. I.2) oder als sich die CDU/ CSU-Bundestagsfraktion 1999 sogar kurzfristig für die Einführung von muttersprachlichem Sprachunterricht in deutschen Schulen aussprach – was allerdings nicht von langer Dauer war (CDU/CSU-Bundestagsfraktion 1999). Wie keine andere Partei betonen CDU/CSU auch das Recht auf Religionsfreiheit, was vor allem mit den eigenen christlichen Wurzeln zu tun hat (F. Mirbach 2008, S.  109). Zugleich hebt die CDU nach wie vor den christlich-jüdischen Prägungscharakter der europäischen Tradition hervor. Bei der konservativen Anerkennung anderer Kulturen handelt es sich also um eine Anerkennung ohne inhaltliches Entgegenkommen: Staat und Institutionen sollen weiterhin christlich-westlich geprägt bleiben. Dass einzelne CDU-Mitglieder wie Alt-Bundespräsident Wulff oder Innenminister Schäuble als Repräsentanten des Staates dem Islam die kulturelle Mitgliedschaft angeboten haben (Kap. I.2), geht weit über das CDU-Programm hinaus und hat folgerichtig zu erheblicher Kritik in Parteikreisen geführt. Der deutsche politische Konservatismus anerkennt im Prinzip Gleichstellungsrechte als private Rechte von Individuen und Gruppen;

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aber dort, wo die Mehrheitsgesellschaft in Staat und Institutionen betroffen ist, gilt der Vorrang der eigenen Traditionen. Die rechtliche Gleichstellung des Islams wird denn auch von der CDU nicht explizit gefordert, was allerdings nicht bedeutet, dass sich die Partei jeglicher Form der Gleichstellung verweigern würde: Die Einführung von islamischem Religionsunterricht etwa ist für sie akzeptabel; weniger aber die Präsenz von Moscheen im innerstädtischen Raum, die als »Orientalisierung« der städtebaulich westlichen Prägung betrachtet wird. Die CDU steckt hier in einem Dilemma zwischen den rechtlichen Erfordernissen der Religionsfreiheit und ihrer unterschwellig hegemonialen Position. Es kann daher nicht verwundern, dass »Stigmatisierungen und verbale Angriffe gegen Muslime […] in vielen Äußerungen einzelner CDU/CSU-Vertreter zum Ausdruck« kommen (Shakush 2010, S. 388; vgl. a. Kap. II.1). Zudem macht zwar eine langsam wachsende Zahl von Muslimen Karriere in der CDU, aber deren inhaltliche Bewegungsfreiheit ist äußerst begrenzt. Aygül Özkan etwa, türkischstämmige Sozialministerin des Landes Niedersachsen, musste dies erfahren, als sie die Entfernung von Kruzifixen aus öffentlichen Schulen forderte, um die Neutralität der Schule zu wahren – eine Position, die damals im Einklang mit dem »Kruzifix-Urteil« des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stand (Kap. I.1), die aber gegen die von der CDU betriebene Bevorrechtung des Christentums verstieß. Aus Sicht der CDU ist das Kruzifix eine deutsche Tradition, eine Gleichstellung mit anderen Religionen sei daher nicht möglich. Parteikollegen forderten, was ungewöhnlich ist, öffentlich den Rücktritt Özkans.36 Ein weiteres Beispiel für den begrenzten Spielraum von Migranten ist Younes Ouaqasse, bis 2010 Bundesvorsitzender der Schüler Union Deutschlands und seit 2012 Landesvorsitzender des Thüringer RCDS (Ring Christlich-Demokratischer Studenten). Er ist ein Sohn marokkanischer Einwanderer, spricht von Deutschland als einem »christlich geprägten Land« und lehnt islamischen Religionsunterricht ab.37 Diese Beispiele weisen auf die oben theoretisch dargelegte Grundproblematik der »Repräsentation ohne Partizipation« hin, die bei den deutschen Konservativen deutlicher als andernorts besteht. Im Gegensatz dazu vertreten Sozialdemokraten (SPD), Grüne (Die Grünen) und Linke (Die Linke) tendenziell eine multikulturelle Ideologie (F. Mirbach 2008, S. 85). Nur diese Parteien definieren neben Pflichten von Migranten kulturelle »Vielfalt« als Ressource für die deutsche Entwicklung. Offensichtlich sind die Milieus dieser Parteien relativ eng mit Migranten verzahnt (F. Mirbach 2008, S. 173), was erklärt, warum man heute von einem linksliberalen Konsens für einen egalitären Multikulturalismus sprechen kann, der sich vom konservativen hegemonialen Begriff der »Leitkultur« abgrenzen lässt. Man sollte dabei aber nicht übersehen, dass innerhalb dieses Spektrums durchaus kleinere Unterschiede bestehen. Grüne beschwören zwar in ihren Programmen und Positionspapieren die Notwendigkeit, dass »Anstrengung auf beiden Seiten« – also bei Mehrheit und Minderheiten – erfolgen müsse, sagen zugleich aber,

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dass »Migranten als Neuankömmlinge« stärker gefordert seien. Die Linke hingegen beschreibt die multikulturelle Gesellschaft klar als »zweiseitige(n) Prozess, der die aufnehmende Gesellschaft genauso fordert wie die eingewanderten neuen Gesellschaftsmitglieder« (F. Mirbach 2008, S. 88). Obwohl Die Linke sich hier deutlicher zur kulturellen Gleichberechtigung bekennt als Die Grünen, ist sie rigoros laizistisch, was dazu führen könnte, dass sie, anders als Die Grünen, die Forderung von Muslimen nach einer Verbesserung ihrer Stellung in Staat und Institutionen nur bedingt unterstützt. So ist Die Linke für Vielfalt, bei Themen wie dem des Kopftuchtragens in Schulen unter Umständen aber wenig liberal, während Die Grünen sich in den letzten Jahren zu einer Position bewegt haben, wonach sie das Tragen des Kopftuches nur dort ablehnen, wo es unter Zwang geschieht (F. Mirbach 2008, S. 114). Es nimmt wenig wunder, dass SPD und Grüne heute diejenigen Parteien sind, bei denen die Forderung nach rechtlicher Gleichstellung von Muslimen zwar nicht in der Programmatik der Parteien verankert ist, aber von Parteimitgliedern immer wieder erhoben wird.38 Muslime wie Cem Özdemir und Omid Nouripour spielen heute in den oberen Hierarchieebenen der Partei der Grünen eine bedeutsame Rolle. Auch wenn sie Islampolitik nur am Rande betreiben, nennen sie Probleme der Diskriminierung deutlich beim Namen.39 Bekannte Grüne wie Christian Ströbele haben sogar die Einführung eines islamischen Feiertags gefordert. Allerdings muss man auch beachten, dass die Weiterentwicklung der deutschen Grünen zu einer Volkspartei, die sich seit der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 wachsender Wählergunst erfreut, die Partei unter Umständen zur politischen Mitte orientieren wird, was den linksliberalen Konsens herausfordern könnte. Im Fortgang der Argumentation wird noch zu zeigen sein, dass auch grüne Wähler nicht immun gegen islamophobe Parolen sind (Kap. II.1). Sami Zemni und Christopher Parker haben also teilweise recht, wenn sie argumentieren, dass auch Konservative gegenwärtig den Multikulturalismus adaptieren und auch Linke den Islam domestizieren wollen (Zemni/Parker 2002, S. 241). Konservative haben sich von völkischen Ideologien weitgehend abgewendet, sie halten Integration mittlerweile für möglich und machbar und fördern gerade die Frage der Religion etwa in der Öffentlichkeit stärker als linke Kräfte, plädieren dabei allerdings für eine einseitige kulturelle Anpassung und halten an der westlich-christlichen Hegemonie fest, was sicher noch nicht als ausgereifte »multikulturelle« Politik bezeichnet werden kann. Linke und Grüne prangern Diskriminierungen von Minderheiten, die sich aus hegemonialen Positionen in Politik und Gesellschaft ergeben, deutlicher an, sind jedoch vor laizistischen oder islamfeindlichen Positionen nicht gänzlich gefeit. Auch für die Linke besteht ein Unterschied zwischen der allgemeinen Bejahung des Multikulturalismus und der spezifischen Bejahung des Islams als gleichberechtigtem Partner.

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Insgesamt aber hat sich die Parteienlandschaft in Deutschland in den letzten Jahren in Richtung einer »liberalen Mitte« bewegt. Vor allem Die Grünen stehen weitgehend auf dem Boden dessen, was wir als rechtliches Terrain der Gleichberechtigung und Gleichstellung in der liberalen Gesellschaft beschrieben haben (Kap. I.1) und sie haben allen anderen Parteien eine Orientierung vorgegeben, indem sie sowohl Linke als auch Konservative dazu stimuliert haben, sich programmatisch zu entwickeln – dies ist durchaus eine Parallele zu ihren Erfolgen im Umweltbereich, wo ihre Themen heute von allen anderen Parteien adaptiert werden. Bewegung ist selbst an den Rändern des etablierten politischen Spektrums, bei der Linken und der CDU, zu erkennen, auch wenn beide Parteien sicher noch weiter von einer konsequenten Gleichstellungspolitik entfernt sind als die SPD, die weniger laizistisch ist als Die Linke, aber auch weniger religiös-hegemonial als die CDU. Die SPD war zudem die erste Partei in Deutschland, die eine Minderheitenquote für alle höheren Parteigremien ernsthaft diskutierte und damit erstmals einer Forderung wie der von Will Kymlicka nach speziellen Repräsentationsrechten von Minderheiten entsprach – was allerdings umgehend Entrüstung in Teilen der Partei nach sich zog.40 Diese generell eher positiven Tendenzen aber dürfen nicht den Blick davor verschließen, dass die Programmatik aller Parteien beim Thema Islam noch äußerst undifferenziert ist und insofern vielfach Stimmen aus den Reihen der Parteien laut werden, die an einem innerparteilichen Konsens zweifeln lassen. Als die SPD beispielsweise 2011 den Buchautor Thilo Sarrazin, der unter anderem gegen »Kopftuchmädchen« polemisiert hatte, aus der Partei ausschließen wollte, scheiterte sie nicht zuletzt an den in Umfragen immer wieder nachgewiesenen Sympathien vieler Sozialdemokraten für die rechten Thesen des Autors. Gerade an den großen Volksparteien wie CDU und SPD wird deutlich, dass Parteien eben ein Schnittfeld zwischen Staat und Gesellschaft bilden: Eine Partei wie die CDU repräsentiert nicht nur die verfassungsmäßig geforderte Gleichstellung der Religionen, sondern auch einen islamkritischen oder gar islamophoben Tenor der Mehrzahl ihrer Mitglieder und der deutschen Gesellschaft (Kap. II.1). Auch für ein Land wie Österreich ist festgestellt worden, dass jenseits der offiziellen Ideologien der Parteiprogramme gerade bei den Konservativen, aber auch in anderen Parteien immer wieder islamfeindliche Äußerungen laut werden (F. Hafez 2010). Die Akzentverschiebung der Parteien zur »liberalen Mitte« und zu einem multikulturellen Konsens ist eine Korrektur, die das politische System den Parteiideologien abgerungen hat, die gleichwohl im politisch-kulturellen Gefüge gerade des konservativen Lagers noch nicht vollständig verarbeitet worden ist. Die langsame Verschiebung der Ideologien aller Parteien zum Multikulturalismus hat aber immerhin bewirkt, dass im rechten Politikspektrum in ganz Europa zunehmend ein Vakuum entstanden ist, das nun allerdings von neopopulistischen Parteien gefüllt wird (Kap. II.1). Während also für die Judikative eine gedämpft positive Bilanz in Bezug auf die Grunder-

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fordernisse des liberalen Rechtsstaates und der symbolischen Anerkennung gezogen werden kann, ist das Verhältnis von Legislative und Parteien zum Islam ähnlich ambivalent wie das der staatlichen Exekutive. Dass Fortschritte im Bereich der Legislative oft von Rückschlägen begleitet werden, zeigt sich am Beispiel der deutschen Parteien ebenso wie im Europäischen Parlament in Straßburg. Nicht nur, dass dort kaum Muslime vertreten sind (Cameron 2002, S. 264), auch die Islampolitik des Parlaments ist widersprüchlich. Einerseits wurde bereits 1997 auf das Problem der Stereotypisierung des Islambildes in Europa, auf die begrenzte Anerkennung des Islams und dessen unvollendete rechtliche Gleichstellung hingewiesen (Committee on Civil Liberties 1997). Vor allem grüne Parteien im Parlament haben viele gemeinsame Aktivitäten etwa mit dem Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO) durchgeführt. Andererseits hat das Europäische Parlament sich nach den Attentaten von New York und auf das Pentagon 2001 mehr mit Problemen des Terrors und des Fundamentalismus in Europa als mit Fragen der Diskriminierung beschäftigt. Sara Silvestri attestiert dem Europäischen Parlament daher, eher die Stimme der (vielfach islamophoben) europäischen Bevölkerungen als der auf Gleichberechtigung zielenden Europäischen Kommission zu sein (Silvestri 2009). Vielfach geringe Staatsbürgerschaftsraten, eine zwar langsam voranschreitende Repräsentanz in Parlamenten und höheren Parteiämtern, aber lediglich vereinzelte Debatten über Quotierungen und vor allem ein in der Regel fehlendes klares Bekenntnis von politischen Parteien in Europa zu einer rechtlichen Gleichstellung des Islams: Alle diese Entwicklungen zeigen, dass der Gang der Muslime durch die parlamentarischen Institutionen europäischer Nationalstaaten und der Europäischen Union bislang nur begrenzt erfolgreich war. Aus Sicht vieler Muslime dürfte also die Schlussfolgerung naheliegen, dass vielfältige politische Repräsentanzformen nötig sind, um in der Demokratie politische Ziele zu erreichen. Gesellschaftliche Interessen organisieren sich hier ohnehin im parlamentarischen ebenso wie im außerparlamentarischen Raum. Aus dieser Perspektive wäre es fraglich, wollte man Muslime davon abhalten, ihre eigenen Verbände und Interessenvertretungen zu gründen. Das in der Islamwissenschaft verbreitete Theorem eines typischerweise geringen Organisationsgrades im Islam, der keine theologischen Mittler kennt und daher zumindest keine Zentralorganisationen etabliert hat, sondern allenfalls Sonderformen der Organisationen wie mystische Orden (P. Heine 1997, S. 114f.), ist zwar nicht falsch, aber sicherlich stark vereinfachend. Auch im sunnitischen Mehrheitsislam gibt es zahlreiche Einrichtungen, die vielfältige Aufgaben im Leben der Muslime in islamischen Ländern übernehmen: Stiftungen im Bereich des Moscheebaus, des religiösen Bildungs- und Wohlfahrtswesens ebenso wie die Organisationen eines politischen Islams. Das wesentliche Merkmal der islamischen Entwicklung ist daher nicht die Abwesenheit der religiös-politischen Selbstorganisatio-

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nen, sondern die Dezentralität von Strukturen, die in der Regel keine mit den christlichen Großkirchen vergleichbare Zentralisierung durchlebt haben, es sei denn eine von autoritären Staaten erzwungene. In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war zu beobachten, dass zwar vor allem im Zuge der Arbeitsmigration immer mehr Muslime in europäische Staaten einwanderten, die öffentliche Sichtbarkeit ihrer Organisationen aber äußerst begrenzt blieb. Mittlerweile allerdings ist die Szenerie der in Europa tätigen Islamorganisationen kaum noch überschaubar (Kreienbrink/ Bodenstein 2010). Selbst in Frankreich schreitet die Organisation von Muslimen voran, auch wenn das laizistische politische System wenig Spielraum für politische Aktivitäten lässt. Eine von Steven Vertovec und Ceri Peach in den 1990er Jahren erstellte Typologie dürfte trotz aller Veränderungen noch ihre Gültigkeit besitzen. Die Autoren unterscheiden Grassroots-Organisationen, in den Heimatländern gegründete private Organisationen, dort ins Leben gerufene staatliche Organisationen, Organisationen mit enger Bindung zu internationalen Islamorganisationen und von den Regierungen in den Einwanderungsländern gegründete Organisationen (Vertovec/Peach 1997, S. 29). Werner Schiffauer hat darauf hingewiesen, dass die Wahrnehmung der Organisationen selbst ein Diskursfeld ist: Es gibt zahlreiche öffentliche Fremd-Dramatisierungen, angemaßte Selbst-Repräsentanzen, aber auch ein echtes Bedürfnis nach Repräsentation unter den Muslimen (Schiffauer 2003), das jedoch, dies kann man hinzufügen, im Angesicht der nicht organisierten »schweigenden Mehrheit« der Muslime in Europa nur schwer zu bestimmen ist. Neben den Problemen der staatlichen, rechtlichen und öffentlichen Anerkennung (Kap. I.1) besteht daher ein Problem der »inneren Anerkennung« der Organisationen bei den Muslimen Europas selbst. Thomas Lemmen hat 2002 bei seiner Übersicht über Islamorganisationen in Deutschland nicht nur die Ziele der einzelnen Organisationen herausgearbeitet, sondern auch bestimmte Grundprobleme benannt. Demnach folgt die politische Zielsetzung der Verbände oft noch immer der inhaltlichen Ausrichtung des Islams in den Herkunftsländern. Die Vereine werden von Laien geleitet, nicht durch theologisches Fachpersonal, und die Mitgliederstruktur ist vielfach unüberschaubar und mit Sicherheit wenig repräsentativ für die muslimische Minderheit (Chbib 2011). Lemmen geht davon aus, dass weniger als 20 Prozent der Muslime in Vereinen organisiert sind, so dass Islamorganisationen einen Vertretungsanspruch nur für ihre jeweilige Klientel, nicht aber für die Muslime insgesamt geltend machen können (Lemmen 2002, S. 9f., 93). Diese Analyse ist zweifellos zutreffend, die Frage allerdings ist, welche Konsequenzen daraus erwachsen. Selbst die christlichen Kirchen repräsentieren einen immer kleineren Teil der nominell als »christlich« geltenden Bevölkerungen, in vielen Staaten gibt es hierzu gar kein haltbares statistisches Material. Auch wenn man annimmt, dass die christlichen Großkirchen einen wesentlich ausgeprägteren

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Repräsentanzcharakter besitzen als islamische Organisationen, lässt sich in den letzten Jahren eine verstärkte Tendenz zur Bildung von islamischen Spitzenbzw. Dachverbänden erkennen, die sich etwa in Deutschland um die rechtliche Gleichstellung mit den Kirchen bemühen. Der Vergleich mit einem Land wie England zeigt, dass die islamischen Basisorganisationen durchaus auf die Erfordernisse des jeweiligen Staates und des politischen Systems zu reagieren scheinen, was darauf hinweist, dass es den Vereinen nicht nur um die inneren Belange, sondern auch um die Verankerung im Rechts- und Politiksystem und daher letztlich um politischen Lobbyismus geht. Britische Muslime zum Beispiel sind lokal besser organisiert als Muslime in Deutschland, sie bilden aber kaum nationale Vertretungen aus. Die Ursache hierfür dürfte im kommunal geprägten britischen Politiksystem liegen, wobei die Stadt- und Gemeinderäte besonders viele Kompetenzen besitzen (Fetzer/ Soper 2005, S. 48-52). Demgegenüber fordert das deutsche System durch die rechtlichen Konstrukte der »Religionsgemeinschaft« und der »Körperschaften« eine möglichst starke Zentralisierung, die sich wegen der inneren Pluralität der muslimischen Gemeinde aber nur über Sammlungsverbände und Dachorganisationen bewerkstelligen lässt – ebenso wie bei den Juden in Deutschland, deren Zentralrat als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt ist. Hier lässt sich eine Interaktion zwischen dem Typus eines politischen Systems und der Form der außerparlamentarischen muslimischen Interessenorganisation erkennen, die deutlich anzeigt, dass viele Muslime politisch partizipieren wollen. Auch die Stellung des politischen Lobbyismus scheint von Land zu Land und in Abhängigkeit vom jeweiligen nationalen politischen System zu variieren. Verschiedene Beobachter aus der angelsächsischen Welt haben zum Beispiel festgestellt, dass Muslim-Organisationen in Großbritannien und in den USA ein aktives Lobbying betreiben (Vertovec 2002, S. 29; Nimer 2002, S. 172). Jocelyne Cesari von der Harvard Universität war noch 2003 der Ansicht, dass Muslime in Europa generell weniger aktiv im Bereich des politischen Lobbying seien als ihre Pendants in den Vereinigten Staaten, die etwa für Arbeitsrechte und gegen Islamophobie und Diskriminierung kämpfen.41 Allerdings haben die Aktivitäten muslimischer Organisationen in Europa in den letzten Jahren deutlich zugenommen, und Lobbyismus erfolgt nicht immer öffentlich und ist daher für die Wissenschaft nur schwer untersuchbar. Zudem bestehen Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und den meisten europäischen politischen Systemen. Politischer Lobbyismus ist in Europa strukturell weniger verankert, da etwa Wahlkämpfe in der Regel in geringerem Maße durch private Spenden finanziert werden als in den USA. Lobbyismus ist weniger gut angesehen, da ihm in Europa der Ruch anhaftet, die legitimen Interessen der Bevölkerungen, die durch Wahlen und unabhängige Gremien der Legislative und der Exekutive zum Ausdruck gebracht werden, durch Privatinteressen zu unterlaufen.

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Gelegentlich entsteht der Eindruck, dass Minderheitenvertretungen, die aber nicht Islamorganisationen sind, von den Parteien eher als Partner in der Politik akzeptiert werden und im Bereich des Lobbying deswegen erfolgreicher sind. Nicht verkannt werden darf nämlich, dass Islamorganisationen kein Monopol für die Interessenvertretung von Muslimen besitzen. Neben den regulären Parteien, in denen Muslime tätig werden können, existieren auch Verbände auf ethnischer Basis, wie die in der Regel dem Laizismus zuneigenden türkischen Verbände in Deutschland. Sie vertreten oft abweichende Positionen von den Islamorganisationen, beispielsweise plädieren sie zwar für Islamunterricht an Schulen, ziehen es aber vor, wenn dieser Unterricht vom deutschen Staat betrieben wird. Auch in der Kopftuchfrage verfolgen sie einen weniger liberalen Kurs. Valentin Rauer: Mit einer derartigen inhaltlichen Schwerpunktsetzung gelang es den [türkisch-deutschen] Verbänden, das in der Forschung vielfach beschriebene öffentliche Bild der ›passiven Ausländer‹ zu konterkarieren. Die ›armen Ausländer‹, die, wenn nicht als ›Kriminelle‹, dann stets als ›Opfer‹ ihrer sozialen Lage in den Medien skizziert werden, wandeln sich medial zu einem kollektiven Akteur. Verabschiedet eine neue Regierungskoalition einwanderungs- und integrationspolitische Beschlüsse, so werden die Stellungnahmen der Verbände ausführlich zitiert. Auch wenn die tatsächliche Gestaltungsmacht gering sein mag, in der ›Integrationspolitik‹ gehören die Verbände als konstitutiver Bestandteil zum öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik. […] Inhaltlich sind die migrationspolitischen Forderungen und kritischen Kommentare der Verbände eindeutig: Es dominiert das Ziel, die ethnischen und identitären Grenzen nicht im Sinne einer Assimilation einzuschmelzen, sondern diese zu verdoppeln. Doppelte Staatsbürgerschaft, Bilingualität und partielle Integrationsformen markieren aus Sicht der Verbände die Lösung des Ethnisierungsproblems. Damit ist keineswegs eine multikulturelle Differenz gemeint, sondern eine Multiplikation von Vergemeinschaftungserfahrungen. (Rauer 2008, S. 187ff.)

Wenn es zutrifft, dass etwa in Deutschland die säkularen Verbände eher die integrativen Kernaufgaben des Staates in Bildung und Ökonomie sowie multiple Identitäten im Auge haben, während die Islamverbände sich religiösen Fragen im engeren Sinne (Religionsunterricht, Moscheen usw.) von der konservativen Position der identitären Eigenständigkeit nähern, so ergibt dieses Bild insgesamt schon einen interessanten Pluralismus der Interessenvertretungen der Muslime, die sich wahlweise dem linken oder konservativen deutschen Parteien- und Ideologiespektrum zuordnen lassen. Ob es sich dabei eher um innere Vertretungen oder politische Lobby-Organisationen handelt, dürfte je nach politischem System und Organisationstyp variieren. Aber gerade wegen der noch immer sehr fraglichen Repräsentativität und Legitimität der Organisationen für die Muslime insgesamt gibt es wohl keine Alternative zu der Forderung, dass

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Muslime im etablierten Parteiensystem noch besser repräsentiert und ihre Anliegen effektiver zur Geltung gebracht werden müssen, wenn die Ungerechtigkeitsstrukturen der hegemonialen Demokratie, in der es zwar rechtliche Grundsicherungen gibt, die Mehrheit aber über viele ureigene Fragen der Minderheiten entscheidet oder diese sogar diskriminiert, vermieden werden sollen. Interessant ist auch die Frage, ob und inwieweit Muslime nicht nur in speziellen Islamorganisationen, sondern in weiteren Zusammenhängen der Zivilgesellschaften – in sozialen Bewegungen oder Bürgerinitiativen – tätig werden. In einigen europäischen Ländern ist ein Trend zu beobachten, dass muslimische Gruppen – Vereine oder lose Netzwerke, die nicht mit den Islamorganisationen identisch sein müssen und es in der Regel auch nicht sind – zunehmend in der Friedensbewegung, der Antiglobalisierungsbewegung bzw. Global Justice Movement aktiv werden. In Großbritannien etwa ist eine enorme Steigerung der muslimischen Präsenz in der Friedensbewegung zu beobachten. Ein islamisch begründeter Pazifismus (K. Hafez 2009, S. 233-242) ergänzt hier christlich-religiöse Friedenspolitiken wie die der Quäker oder ihrer Nachfolgeorganisationen (Pickerill 2006). Während die politische Linke in Europa in der Vergangenheit kaum in der Lage war, Minoritäten in ihre Organisationen zu integrieren, ist dies in den loseren Netzwerkstrukturen der neuen sozialen Bewegungen oft problemloser möglich. Dass es dabei in Frankreich, wo ähnliche Prozesse zu beobachten sind (Peace 2008), auch zu Konflikten kommt, die sich vor allem um die Frage der Sichtbarkeit religiöser Symbole und um den Laizismus ranken, der in der französischen Linken besonders stark ausgeprägt ist, ist eher von untergeordneter Bedeutung. Weitaus wichtiger erscheint, dass Muslime im Kontext sozialer Bewegungen ganz neue politische Betätigungsfelder gefunden haben, die sie zunehmend nutzen. Anti-Kriegs- und Anti-Neoliberalismus-Themen werden von den etablierten Parteien in Europa kaum noch abgedeckt, nachdem auch die Grünen, dies lässt sich zumindest für die starke grüne Partei in Deutschland sagen, mit ihrer wachsenden Regierungsfähigkeit in das Lager der Kriegsbefürworter eingetreten sind und ihre neue Tendenz zur Wählermitte die soziale Frage immer mehr zugunsten eines bürgerlichen Primats in den Hintergrund drängt. Islamorganisationen wiederum sind auf enge Interessenpolitik konzentriert, sie wollen bestimmte Rechte im Zusammenhang mit der Religionsfreiheit durchsetzen, sind oft konservativ ausgerichtet und suchen dieses Ziel durch mehr oder weniger enge Kontakte zum Staat, zu Parlamenten und Parteien zu realisieren, was intensive Verbindungen zu sozialen Bewegungen in der Regel erschwert. Aus all diesen Gründen sind die sozialen Bewegungen ein wichtiges politisches Betätigungsfeld für die sich zunehmend sozial und ideologisch differenzierende Minderheit der Muslime, die aus Einwanderern unterschiedlicher Generationen, Länder und aus Konvertiten besteht.

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Zugleich werden Muslime in wachsendem Maße bei lokalpolitischen Themen tätig, wobei es teils um spezifische Probleme der muslimischen Religiosität geht, teils aber auch um allgemeine Gesellschaftsfragen. Gerade im ersten Bereich kreuzen sich ihre Wege mit den Islamorganisationen, etwa wenn Probleme bei Moscheebauten bestehen, die in vielen europäischen Ländern spätestens seit den 1990er Jahren immer wieder vehemente öffentliche Debatten und politischen Streit ausgelöst und vielfach zu einer Mobilisierung der lokalen Zivilgesellschaft beigetragen haben. Moscheebaukonflikte sind insofern interessante lokale Konflikte, die politische Einstellungen auch außerhalb der politischen Parteien und etablierten Verbände verdeutlichen und sichtbar machen. Bärbel Beinhauer-Köhler und Claus Leggewie unterscheiden dabei folgende typischerweise beteiligte Kräfte: Moscheebauvereine, lokale Exekutiven und Legislativen (Stadträte, Stadtverwaltungen), politische Parteien und Bürgerinitiativen (Beinhauer-Köhler/Leggewie 2009, S. 192ff.; vgl. a. Sommerfeld 2008). Während wir die Haltung weiter Teile dieser Konstellation zum Islam bereits näher betrachtet haben, besteht das Novum dieses Gefüges in den Bürgerinitiativen sowie den durch diese erzeugten politischen Mobilisierungseffekten. Man kann die Analyse des Kräftefeldes sicher noch erweitern, zum Beispiel auf Medien und soziale Meinungsführer, aber dies soll späteren Kapiteln vorbehalten bleiben, so dass wir uns hier auf die vernetzte Bürgergesellschaft konzentrieren wollen. Es zeigt sich rasch, dass öffentliche Konflikte um das Thema »Islam« nicht einfach die Bevölkerungsmeinung abbilden, sondern dass diese oft stark von letztlich schwach demokratisch legitimierten Interessen und Akteuren geprägt werden, die Partikularinteressen vertreten. Hyperaktive Einzelpersonen oder Kleinstgruppen schmieden dabei, mithilfe der Medien, Bündnisse, die sie durch plebiszitäre Formen des Protests (Unterschriftenaktionen usw.) zu legitimieren suchen. Erst die treibende Kraft dieser Bürgerinitiativen mobilisiert weitere Teile der Bürgerschaft zum Protest gegen Moscheen, ein wirkliches Mandat aber besitzt diese Politikstrategie in der Regel nicht, es sei denn, ein Land verfügt über eine Tradition gesetzlich geregelter lokalpolitischer Referenden. Auch die demokratische Legitimität von Moscheevereinen ist zweifelhaft, da sie keineswegs zwingend die Muslime vor Ort repräsentieren müssen, ebenso wenig wie die Islamorganisationen (s.o.). Dennoch muss man zwischen den Organisationen und den lokalen muslimischen Gemeinden insofern unterscheiden, als letztere eines demokratischen Mandats zum Bau einer Moschee auch gar nicht bedürfen, sondern sich dabei auf das sowohl für Individuen wie für Religionsgruppen unterschiedlicher Größe existierende Grund- und Menschenrecht der freien Religionsausübung berufen können. Bei Moscheebaukonflikten handelt es sich also im Kern um einen Streit zwischen privaten Initiativen, wobei insbesondere die Moscheebaugegner eine Politisierung und Ausweitung der Konflikte anstreben, da sie sich dadurch eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu ihren Gunsten versprechen.

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Die Minderheit würde in diesen Konflikten ohne rechtsstaatliche Sicherungen aufgrund der natürlichen Hegemonie der Mehrheit und deren in jeder Hinsicht größeren Ressourcen den Kürzeren ziehen. Beinhauer-Köhler und Leggewie weisen zu Recht darauf hin, dass es daher besonders wichtig ist, dass der Bürgermeister und die lokalen Parteien als die eigentlich gewählten Organe standhaft bleiben, die Einhaltung von Gesetzen überwachen und den Konflikt moderieren. Es wird an dieser Stelle auch deutlich, dass neue Tendenzen einer postdemokratischen Bürgermobilisierung, die den elitären Schulterschluss der etablierten Parteien bekämpft und die Zivilgesellschaft stärker in Stellung bringen will (Crouch 2004), zwar für die Demokratie als ganze eine positive Entwicklung, aber für religiöse Minderheiten durchaus auch eine Bedrohung sein können. In der Formel der »liberalen Demokratie« ist es nicht selten der erste Teil der Gleichung, also der Rechtsstaat und die für ihn verantwortlichen Gewalten der Exekutive und der Legislative, die auf der Seite der Religionsfreiheit von Minderheiten stehen. In der plebiszitären Demokratie aber können sich diese Gewichte zur »Diktatur der Mehrheit« verschieben und gerade im lokalen Kontext eine bedrohliche Übermacht erzeugen. Umso wichtiger scheint es, dass Muslime und ihre Positionen in etablierten Parteien mehr Gehör finden, so dass die lokale Konfliktasymmetrie, die zwischen privaten Moscheeinitiativen und politisierten Bürgerbewegungen besteht, durchbrochen wird, indem auch muslimische Interessen sich mit den Lokalparlamenten und Zivilgesellschaften vernetzen und gegenmobilisieren. Erste Ansätze dafür sind bereits erkennbar. Die »Pro Köln«-Initiative demonstrierte im Raum Köln seit den späten 2000er Jahren immer wieder gegen Moscheen, sie besaß eine anti-islamische Stoßrichtung, wendete sich nicht nur gegen die »Islamisierung« Deutschlands, sondern auch gegen den Beitritt der Türkei in die Europäische Union. Gegen diese Initiative bildete sich jedoch 2009 ein Bündnis »Köln stellt sich quer«, bei dem es zu einer breiten gesellschaftlichen Aktivierung gegen Fremdenfeindlichkeit und für Rechte von Muslimen kam. Muslime, muslimische Plattformen von Parteien und diverse Gesellschaftsgruppen waren Teil dieser progressiven Bündnisse. Allerdings sind solche Allianzen in den Bürgergesellschaften Europas noch seltene Erscheinungen. Sie entstanden auch in Köln erst, nachdem »Pro Köln« den strategischen Fehler begangen hatte, bundesweit zu Demonstrationen aufzurufen, was die antifaschistischen Kräfte auf breiter Front aktivierte. Insgesamt sind die Partizipationsmöglichkeiten von Muslimen in Parlamenten, Parteien, durch Interessenorganisationen und soziale Bewegungen in europäischen Ländern zwar noch immer begrenzt, jedoch im Wachstum begriffen. Ob sich gerade die Parteien, die einerseits Ausdruck von Interessen der Mehrheitsgesellschaft sind, andererseits in ihrer Rolle als »Personallieferanten« des Staates aber auch Verfassung, Rechte und den sozialen Frieden im Blick haben müssen, letztlich für die Interessen der Muslime einsetzen und sie gegen

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Diskriminierung in Schutz nehmen, bleibt unklar, zumal sich im rechten Politikspektrum in ganz Europa durch neue populistische Parteien eine ernsthafte Konkurrenz herausbildet (Kap. II.1).

4. P OLITISCHE K ULTUR – D IE S YSTEMLOYALITÄT DER M USLIME Bislang haben wir viele Begriffe recht leichtfertig benutzt. Die Vorstellung von der »Repräsentation« zum Beispiel begrenzt den Raum des Politischen auf nur wenige Akteure, die in Parteien und Parlamenten oder informell in sozialen Bewegungen andere vertreten. Auch »Partizipation« ist ein solch unklarer Begriff. Er suggeriert, dass Menschen grundsätzlich politisch aktiv werden wollen. Wir wissen aber aus Geschichte und Gegenwart, dass dem nicht so ist. In Parteien und selbst in sozialen Bewegungen engagiert sich stets nur eine sehr begrenzte Zahl der Bürger eines Landes und daran hat auch das »Internetzeitalter« nur wenig geändert (Margolis/Moreno-Riaño 2009; vgl. a. Kap. III.2). Frühe Hoffnungen, durch E-Voting und E-Democracy Fortschritte in diesem Bereich zu erzielen, haben sich kaum erfüllt, auch wenn soziale Bewegungen vielleicht am ehesten von den neuen Kommunikationstechnologien profitieren, denn sie entwickeln sich heute vielfach spontaner und wirksamer als in früheren Zeiten. Eine ebenfalls unklare Frage ist die, ob wir eigentlich genau wissen, was »Partizipation« alles umfasst. Reicht es schon aus, wenn ich mit meinem Nachbarn über Politik spreche, werde ich dann bereits zum sozialen Meinungsführer der Politik? Oder muss ich mich öffentlich artikulieren, was ja im Internetzeitalter leichter denn je ist, auch wenn die Publika politischer Botschaften immer begrenzter werden, je mehr Menschen ihre politischen Meinungen kundtun. Immerhin aber tragen Bürger auf diese Art zur Pluralisierung von Meinungslandschaften bei – ist das Alltagsgespräch also eine Form der politischen Partizipation? Friedhelm Neidhardt jedenfalls hat Alltagskommunikation als »Encounter-Öffentlichkeit« in sein Modell von Öffentlichkeit einbezogen (Neidhardt 1994). Man wird daher keine der vorgenannten Formen der Meinungsäußerung gänzlich aus dem Partizipationsbegriff ausschließen können, dessen Einzugsbereich sogar noch darüber hinausgeht. Einstellungen, Meinungen und Werte von Menschen können ein ebenso wichtiger Beitrag sein – demoskopisch messbar sind sie allemal –, denn sie verkörpern eine oft schwer fassbare, aber wirksame »öffentliche Meinung«. Vor allem die langfristigen Konstellationen dieser Meinungslagen – politische Einstellungen und Kernwerte des Menschen – sind der zentrale Gegenstand der politischen Kulturforschung (Pickel/Pickel 2006). Dass Werte wichtig sind, wusste etwa schon der Systemtheoretiker Talcott Parsons. Menschen sind aus seiner Sicht nicht nur fähig, über ihren unmittelbaren utilitaristischen Horizont hinauszudenken und ihrem Handeln eine gemeinschaftliche Dimension zu verleihen. Sie agieren zudem in einem Span-

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nungsfeld zwischen eigenen Werten, Werten der Gesellschaft und Systemerfordernissen der Politik, der Wirtschaft usw. Werte schaffen hier die besonders wichtigen Bindungen an das politische System, die solange gelten, wie das System selbst als effizient im Sinne der ihm zugewiesenen Funktionen gilt, solange also Staat und Recht die Ordnung stabilisieren, die Politik anstehende Probleme löst und die Wirtschaft für ausreichenden Wohlstand sorgt.42 Werte und Normen sind gleichsam die Programme, die den Einzelnen an das System binden und damit dessen Funktionieren erst ermöglichen, denn selbst der autoritärste Staat könnte die anarchischen Aktivitäten seiner Bürger nicht in Schach halten, wenn diese nicht in hohem Maße intrinsisch motiviert wären, sich an Regeln zu halten. Für die vielfach eher normativ als funktionalistisch argumentierenden Theoretiker der liberalen Demokratie ist die Bedeutung von Werten immer ebenso klar gewesen wie für die (frühe) Systemtheorie, nur dass sich hier ein entscheidender Unterschied in der Betrachtung auftut. Viele Demokratietheoretiker sind selbst insofern systemtheoretisch orientiert, als sie nicht nur selbstverständlich mit dem Begriff des »politischen Systems« operieren, sondern auch Systemwandel erkennen, der durch Krisen eines Systems entsteht. Spätestens dann muss anerkannt werden, dass das beste politische System bei näherer Betrachtung vielleicht gar nicht immer »demokratisch« oder »liberal-demokratisch« zu nennen ist, sondern sich eine gewisse systemische Spannbreite eröffnet – etwa wenn im Zuge der Extremismusbekämpfung (Kap. I.2) oder durch rechtspopulistische Parteien und Regierungen Freiheitsrechte in Gefahr geraten. Das normative Idealbild des harmonischen liberal-demokratischen politischen Systems ist jedoch sehr viel anspruchsvoller. Im Prozess der Sozialisation sollen möglichst frühzeitig staatsbürgerliche Einstellungen erlernt, internalisiert und verfestigt werden. Gefordert wird eine Art »verfassungspatriotische« Grundhaltung. Gemäß Thomas Meyer gibt es Minima einer demokratischen politischen Kultur, die alle Bürger eines Landes teilen müssen, damit das System funktioniert. Er unterscheidet grundsätzlich zwischen drei Werteebenen: 1. Metaphysik/Religion, 2. individuelle Lebensführung (way of life) und 3. soziale und politische Grundwerte des Zusammenlebens (Meyer 2003, S. 162). Nur auf der dritten Ebene ist im Rahmen der liberalen Demokratie ein auf Verfassung und Rechtsstaat basierender Konsens zwingend notwendig. Alle anderen Haltungen fallen in die Sphäre der Freiheitsrechte, sind durch den Rechtsstaat geschützt und dürfen divergieren. Weiter gehende Forderungen nach »gesellschaftlicher Integration« führen nach Meyer zu fundamentalistisch geprägten Systemen. In der liberalen Gesellschaft können Bürger allerdings über den rechtlichen Rahmen hinaus Gemeinschaftsverpflichtungen und -bindungen eingehen – sie müssen es aber nicht. Das ist auch daran zu erkennen, dass diese von Mehrheiten festgelegten zusätzlichen Wertebildungen in einer Gesellschaft ständigem Wechsel unter-

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liegen: Mal schlägt das Pendel mehr zur sozialen Solidarität aus, mal mehr zur nationalen Integration. Aber diese Ausschläge bilden nicht den harten Kern der Überzeugungen der liberalen Demokratie, sie unterliegen nicht dem Konsens, sondern sind Teil des demokratisch-pluralistischen Dissenses. Hans-Martin Schönherr-Mann fragt zu Recht, in welche Kultur denn sonst »integriert« werden solle, wenn nicht in die Kultur liberaler Grundwerte und in die Werte des liberalen Staates, die nun einmal die Schnittmenge aller legalen politischen Ideologien sind (Schönherr-Mann 2000, S. 145). Thomas Meyer: Die rechtsstaatliche Demokratie würde im Übrigen ja auch in dem Maße mit sich selbst in Widerspruch geraten, wie sie über diejenigen Normen hinaus, die die autonomen lebensweltlichen Entfaltungsspielräume der in ihr Lebenden sichern sollen, auch noch kulturelle Regeln der Lebensweise selbst verbindlich machen wollte. Ein solcher Übergriff wäre der erste Schritt in ein fundamentalistisches Kulturverständnis, das nicht nur die Regeln der Moral und des Rechts für alle verbindlich machen will, sondern darüber hinaus der spezifischen Ethik eines der miteinander lebenden Kollektive Verbindlichkeit auch für die anderen zusprechen will. […] Der Funktionssinn der rechtsstaatlichen Demokratie besteht mithin in der Festlegung desjenigen Minimums auf Ebene 3, das das Maximum an Differenz auf den Ebenen 1 und 2 gewährleisten und nachhaltig verbürgen kann. […] Sobald nun aber der Anspruch auf eine Leitkultur innerhalb der Demokratie erhoben wird, die Festlegungen auf den Ebenen 1 und 2 für alle Bürgerinnen treffen will, die über das für die gemeinsame politische Kultur Unerlässliche hinausgehen, werden die Ansprüche der rechtsstaatlichen Demokratie verletzt und damit im Kern schon der fundamentalistische Übergriff auf die Rechte und anerkennungsfähigen Identitäten anderer von Seiten der Mehrheitskultur selbst vollzogen. (Meyer 2003, S. 161, 164)

Aus Sicht der liberalen Demokratie besteht eine Verpflichtung zur Integration also nur in einem sehr begrenzten, staatsbürgerlichen Sinne. Jürgen Habermas hat die Kombination aus Zurückhaltung der Mehrheit gegenüber weiter gehenden Forderungen an die politische Kultur und Festlegung von Mehrheit und Minderheit auf eine gemeinsame politische Mindestkultur als eine Form der »differenzempfindlichen Inklusion« bezeichnet (Habermas 1999, S. 174f.). Anschauungen als gesellschaftlich verbindlich durchsetzen zu wollen, die nicht zu diesem notwendigen Konsens zählen, und seien sie noch so fortschrittlich und modern, wäre demnach »aufklärungsfundamentalistisch«. Staatsbürgerliche Integration ist für Mehrheit und Minderheit gleichermaßen gerecht, denn der Minderheit wird im zentralen Bereich der »ungewählten Ungleichheiten« (im Sinne Dworkins, Kap. I.1) nicht mehr abverlangt als nötig ist, sie wird hier nicht hegemonialisiert. Zugleich profitiert aber auch die Mehrheit von diesem Arrangement, da die Anerkennung des Rechtsstaates durch die Minderheit ja bereits ein Zugeständnis an die Mehrheit ist, jenseits bestimmter Freiheitsrechte durch Mehrheitsvoten den Rechtsstaat nachhaltig prägen zu dürfen. Mehr-

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heit und Minderheit anerkennen mit Verfassung und Rechtsstaat nicht nur die Unabänderlichkeit bestimmter Freiheitsrechte für alle Individuen und Gruppen, sondern auch den dominanten Einfluss der Mehrheit in der Demokratie. Auch wenn es über die Einzelheiten der Partizipationsrechte in der Demokratie (spezielle Repräsentationsrechte, Quoten usw.) durchaus unterschiedliche Meinungen geben kann, wie wir gesehen haben, gehören diese Fragen nicht zum Konsens, sondern unterliegen dem von der Mehrheit maßgeblich formulierten politischen Willen. Letztlich entscheidet also die Mehrheit selbst, für wie sozial wünschenswert sie es hält, Minderheiten spezielle politische Rechte zu gewähren. Die »liberale Demokratie« ist nicht ganz zu Unrecht als widersprüchliche Konstruktion bezeichnet worden, da sie gleiche Rechte aller mit dem Herrschaftsprinzip einiger (der Mehrheit) verbindet. Aber dieses Spannungsverhältnis ist dynamisch und kann »gerecht« ausgestaltet werden – wenn die politische Kultur es zulässt. Verfassungspatriotismus und Rechtsstaatstreue bleiben aus Sicht der liberalen Demokratie das »A und O«. Hinter dieser Vorstellung verbirgt sich im Grunde nicht nur eine abstrakte Verpflichtung zur Akzeptanz von Grundwerten und Menschenrechten, sondern auch zu multikultureller und -religiöser Toleranz. Denn die Anerkennung der Tatsache, dass Verfassung und Rechtsstaat den Wertekonsens definieren, bedeutet, dass jeder Bürger auch die Freiheit »des Anderen« akzeptiert, weitgehend auf seine/ihre eigene Art glücklich zu werden. Die politische Kultur der Toleranz ist also sozusagen ein Nebenprodukt der liberalen Demokratie. Diese Form der Toleranz ist keine staatliche Duldungspolitik wie etwa in der Toleranzpolitik Preußens und sie ist auch kein grenzenloser kultureller Relativismus, sondern sie ist eine durch Vertragsschluss zustande gekommene Toleranzform, bei der die Bürger im Prinzip Pflichten und Freiheiten ihrer selbst wie auch anderer anerkennen. Das Problem der liberalen Theorie aber ist, dass der zugrunde liegende Gesellschaftsvertrag eher theoretisches Konstrukt als gelebte Realität ist. Liberale Theoretiker haben sich mit dem Problem der Toleranz in der politischen Kultur kaum befasst. Im universalistisch geprägten klassischen Liberalismus galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein politische Toleranz als Privatsache. Später bekannten sich viele liberale Theoretiker zur »Differenzempfindlichkeit«, aber selbst führende Denker des multikulturellen Liberalismus wie Charles Taylor oder Will Kymlicka orientierten sich eher an Fragen von Recht und Staat als an denen der politischen Kultur.43 Und die Vordenker des Kosmopolitismus wie Nigel Dower oder Andrew Linklater konzentrierten sich auf internationale Beziehungen, weniger auf innerstaatliche Verhältnisse (Dower 2003; Linklater 1998). In modernen Einwanderungsgesellschaften mit ihren zahlreichen Spannungen aber muss über Werte der Toleranz neu nachgedacht werden. Selbst aus Sicht eines minimalistischen und möglichst freiheitlichen Ansatzes einer liberalen politischen Kultur muss die Frage gestellt werden, ob die indirekte

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multikulturelle Anerkennung, die aus der Verfassungsorientierung folgt, heute noch ausreichend ist. Möglicherweise bedarf es offensiverer Formen der direkten Anerkennung durch politische Bildungsinitiativen und gesellschaftliche Ritualisierungen, die, etwa durch Feste und Veranstaltungen, auch symbolische Dimensionen einer politischen Integration beinhalten. Aus Sicht der liberalen Demokratie benötigt die multikulturelle Gesellschaft nicht eine gesteigerte Integration durch eine übermäßige Regelung von Normen der Lebensführung, sondern eine Politikstrategie der Anerkennung der Tatsache, dass die politische Kultur selbst das Bindeglied einer Wertegemeinschaft ist. Anders ausgedrückt: Es reicht nicht aus, dass Mehrheit und Minderheit sich an die Verfassung halten, sie müssen diesen gemeinsamen Bezugspunkt auch durch Akte der reziproken Anerkennung unterstreichen. ***

Empirische Befunde von Studien, die sich mit der Haltung der in Europa und den USA lebenden Muslime zu den dortigen Verfassungen und politischen Systemen beschäftigen, sind überraschend eindeutig. Während in der Öffentlichkeit und im politischen Diskurs dieser Länder oft Zweifel an der Demokratiefähigkeit und Systemtreue gerade muslimischer Einwanderer geäußert werden (vgl. Parekh 2006, S. 180), da diese als potenzielle Anhänger islamistischer »Gottesstaaten« mit stärkerem Bezug zum islamischen Recht (Scharia) als zum säkularen Staat gelten, zeigen demoskopische Umfragen der größten Meinungsforschungsinstitute sowie einschlägige sozialwissenschaftliche Untersuchungen, vielfach von europäischen Staaten selbst in Auftrag gegeben und finanziert, ganz klar, dass der überwältigende Teil der im Westen lebenden Muslime den westlichen politischen Systemen loyal gegenübersteht, und zwar auch dann, wenn die Muslime keine Staatsbürger dieser Länder sind. Das Vertrauen in die liberale Demokratie ist zum Teil sogar größer bei der nicht-muslimischen Bevölkerung Europas. Eine Studie des Pew Research Centers von 2007 ergab, dass die überwiegende Mehrheit der in den USA lebenden Muslime terroristische Anschläge unter allen Bedingungen ablehnt: 85 Prozent derjenigen Muslime, die sich primär als Amerikaner bezeichnen, und 79 Prozent derjenigen, die sich primär als Muslime betrachten. Nur 4 Prozent der ersten Gruppe und 13 Prozent der zweiten Gruppe konnten sich vorstellen, solche Gewaltakte unter bestimmten Voraussetzungen zu rechtfertigen, wobei man dabei etwa an die Besatzungssituation in Palästina gedacht haben dürfte (Pew Research Center 2007, S. 32). Wenn in den Vereinigten Staaten höchstens 10 Prozent der Muslime Gewalttaten gutheißen und das Gewaltmonopol des Staates breit akzeptiert wird, dann zeigt sich hier eine Übereinstimmung mit Angaben, die auch die nicht-muslimische amerikanische Mehrheit bei entsprechenden Fragen macht. In einer jeden Be-

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völkerung gibt es einen kleinen Teil, der Extremismus in speziellen Situationen – sagen wir bei Fragen wie Abtreibung oder Tierschutz – befürwortet. Ein nahezu identisches Bild zeigt auch eine Studie des deutschen Innenministeriums von 2007. Hier zeichnet sich eine deutliche Zustimmung der in Deutschland lebenden muslimischen Jugendlichen zu den demokratischen Freiheitsrechten ab, nur 4,3 Prozent lehnen das Demonstrationsrecht, nur 2,2 Prozent die Meinungsfreiheit, nur 8 Prozent das Streikrecht ab, auch wenn 24,1 Prozent einer stärkeren Kontrolle von Medien zustimmen, um Moral und Ordnung aufrechtzuerhalten. Bei der Einstellung zu Freiheitsrechten, so fassen die Autoren ihre Ergebnisse zusammen, bestehen zwischen muslimischen Migranten, nicht-muslimischen Migranten und einheimischen Nicht-Muslimen aber kaum Unterschiede (Brettfeld/Wetzels 2007, z.B. S. 173, 201, 270f.). Kritik an der freiheitlichen Ordnung und der Demokratie ist ein Phänomen bei 10 bis 15 Prozent der Befragten und tritt beim Rest der Bevölkerung mit der gleichen Häufung auf.44 Die Studie des Innenministeriums demonstriert, dass dort, wo ablehnende Haltungen überhaupt auftauchen, diese mit einem niedrigen formalen Bildungsniveau und schlechten Sozialchancen korrelieren. Es erweist sich zwar, dass, wenn soziale Schieflagen zunehmen, dies zu einem Akzeptanzverlust der Werte der liberalen Demokratie beiträgt, was unter Muslimen deswegen häufiger auftreten könnte, weil ihre soziale Stellung überdurchschnittlich schlecht ist. Eine statistische Bereinigung der Ergebnisse bestätigt aber, dass die Distanz zu Demokratie und Rechtsstaat bei dem unterprivilegierten Teil der muslimischen Bevölkerung nicht höher ist als bei anderen Vergleichsgruppen. Bei hoch Integrierten und Gebildeten sind Demokratiekritik, Autoritarismusbefürwortung oder eine Tendenz zum Fundamentalismus absolute Randphänomene, die nur in Erscheinung treten, wenn schwerwiegende individuelle Diskriminierungserfahrungen vorhanden sind (Brettfeld/Wetzels 2007, S. 288). Dasselbe gilt auch für die Toleranz gegenüber anderen Gruppen, die bei Muslimen in Deutschland ebenso ausgeprägt ist wie bei Nicht-Muslimen, mit der einzigen Ausnahme eines leicht verstärkten Antisemitismus, der seine Ursache wahrscheinlich in Haltungen zum Nahostkonflikt haben dürfte (K. Hafez 2009, S. 175-181). Dafür betont die Studie allerdings ausdrücklich, dass etwa nicht-muslimische Schüler stärkere Abneigung gegenüber Muslimen und dem Islam hegen als Muslime gegenüber Christen (Brettfeld/Wetzels 2007, S. 275, 277, 308). Dies ist insofern für die politische Kultur relevant, als es sich hier nicht um theologische Aussagen handelt, die, gemäß Thomas Meyer, in den Bereich der privaten Werte fallen würden, sondern um »Muslime« und um »Christen«, also um die Frage, wie vorurteilsbeladen man gegenüber einer sozialen Gruppe, in diesem Fall einer religiösen Minderheit, ist. Es zeigt sich, dass nicht davon gesprochen werden kann, dass Muslime generell mehr Vorurteile gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen haben oder intoleranter seien als andere, ganz im Gegenteil. Für die Bevölkerungsmehrheit allerdings scheint

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Toleranz gegenüber einer religiösen Minderheit wie der der Muslime eben kein automatisches Nebenprodukt der politischen Ordnung zu sein. Während die Mehrheit sich offensichtlich eine Art Sündenbock-Minderheit ausgewählt hat, die sie aus dem Willen zur Toleranz, den sie im Allgemeinen äußert, explizit ausklammert – die Muslime –, ist es bei dieser Minderheit selbst weniger die Mehrheit als vielmehr eine andere Minderheit – die Juden –, die überdurchschnittlich stark abgelehnt wird. Man könnte geneigt sein, hierin das übliche Machtgefälle des Rassismus zu erblicken, eine Art »Fahrradfahrer-Syndrom«: nach oben buckeln, nach unten treten. Allerdings entsteht durch den Nahostkonflikt ein spezieller Zusammenhang, da es sich um einen sekundären Rassismus handelt, der in einem Kontext entsteht, in dem Juden/Israelis keineswegs grundsätzlich der schwächere Part sind. Bei den geschilderten Einstellungen gegenüber Muslimen wird aber bereits deutlich, dass es unterhalb der Existenz eines formalen Verfassungskonsenses der politischen Kultur noch vielfältige gesellschaftliche Konfliktstoffe der Anerkennung von Minderheiten gibt, die für ein politisches System gefährlich werden können. Auch wenn ein formaler Verfassungskonsens die meisten Menschen verbinden mag, bleiben zahlreiche Fragen offen. Erstens: Was genau ist mit der Zustimmung zur bestehenden politischen Ordnung gemeint? Sind es eher die verfassungsmäßigen, gleichen Rechte oder wird Demokratie als hegemoniales Mehrheitssystem verstanden? Zweitens: Reicht es aus, die Grundrechte von Minderheiten zu akzeptieren, ohne sie kulturell oder gesellschaftlich anzuerkennen? Anders formuliert: Reicht eine Form der »Duldung« heute noch aus? Gerade für die neuen rechtspopulistischen Parteien, die in ganz Europa entstanden sind, ist ja typisch, dass sie die bestehenden politischen Systeme ausdrücklich bejahen und als deren Beschützer gegen die angebliche »islamische Unterwanderung« auftreten. Dies unterscheidet sie deutlich von NeonaziGruppierungen, die das liberal-demokratische System beseitigen und durch ein autoritäres System ersetzen wollen. Selbst der Massenmörder von Norwegen 2011, der sich vielfach auf die dortige rechtspopulistische Fortschrittspartei bezog, betrachtete sich als Retter des Systems. Dies ist auch der Grund, warum sich etwa der deutsche Verfassungsschutz nach den norwegischen Attentaten außerstande sah, ein rechtsradikales Internetportal voller Hetztiraden gegen Muslime, das von dem norwegischen Massenmörder oft beachtet und zitiert worden war, schließen zu lassen – die Betreiber des Portals bekennen sich ausdrücklich zum deutschen politischen System.45 Hier wird unmittelbar erkennbar, dass eine Analyse aus der Sicht der politischen Kultur und der Werte der Verfassungs- und Systemtreue allein nicht mehr ausreicht. Rechtspopulisten interpretieren den Systemkonsens als radikale Demokratie, in der die Mehrheit den staatlichen Zugang und die öffentliche Präsenz einer Minderheit nach Kräften verhindern muss, und sie propagieren unterhalb der Schwelle einer

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formalen politischen Duldung gesellschaftliche Intoleranz. Die Anerkennung von Minderheiten ist daher heute eine gesamtgesellschaftliche Frage – ein Sachverhalt, der uns bei der Analyse von gesellschaftlichen Einstellungen noch beschäftigen wird (Kap. II.1). Was die Haltung von Muslimen betrifft, so haben viele andere Studien die positive Grundtendenz eines hohen Vertrauens der in Deutschland lebenden Muslime gegenüber dem politischen System ein ums andere Mal erhärtet. Eine Untersuchung der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung fand bereits 2001 heraus, dass das Vertrauen der türkischen Bevölkerung in den deutschen Staat besonders stark ausgeprägt ist, jedenfalls stärker als das deutlich geringere Vertrauen in die deutsche Bevölkerung (Türken in Deutschland 2001) – nicht ganz zu Unrecht, zieht man die verbreitete Intoleranz der Mehrheit gegenüber Muslimen in Betracht. Der Koexistenzindex des großen amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup ergab 2009, dass Muslime Deutschland loyaler gegenüberstehen, als dies viele Beobachter glauben, wobei auch diese Studie zeigte, dass Muslime mehr Vertrauen in deutsche Institutionen als in die Gesellschaft haben.46 Der »Religionsmonitor« der Bertelsmann Stiftung wies 2008 aus, dass Muslime in Deutschland sich im Allgemeinen durch hohe Toleranz auszeichnen, 86 Prozent zum Beispiel glauben, man müsse anderen Religionen gegenüber offen sein, und religiöser Fundamentalismus ist demnach nur ein Randphänomen (Religionsmonitor 2008, S. 10, 75). Die »Sinus Sociovision«-Studie stellte im selben Jahr ebenfalls fest, dass religiöser Fundamentalismus nicht charakteristisch für die Muslime in Deutschland ist, 84 Prozent der Befragten vertraten die Ansicht, Religion sei Privatsache, und noch mehr waren der Meinung, man müsse den Gesetzen des Landes gehorchen (Sinus-Institut 2008, S. 2). Schließlich hat auch keiner der auf der Deutschen Islam Konferenz auftretenden Muslime (Kap. I.2) auch nur den geringsten Vorbehalt gegen die Gültigkeit von Verfassungs- und Rechtsordnung geäußert, in diesem Bereich herrschte ein durchgängiger Wertekonsens gegenüber der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« (Deutsche Islam Konferenz 2009, S. 16, 34ff.). In europäischen Gefängnissen sitzen derzeit geschätzte 2400 radikal-terroristische Extremisten, was anzeigt, dass der islamistische Extremismus tatsächlich ein Problem der inneren Sicherheit darstellt (Khosrokhavar 2010, S. 243). Dennoch muss man sich vor Augen halten, dass diese Zahl nur einen verschwindend geringen Bruchteil der allein in der Europäischen Union lebenden mehr als 16 Millionen Muslime ausmacht. Gewaltphänomene dieser Menschen sind in der Regel nicht politisch motiviert, sondern sie sind Formen einer alltäglichen Gewalt oder Zeichen für Bandentum, »Ehrenmorde« und dergleichen. Auch diese Gewalttaten zeugen nur sehr begrenzt von muslimischer »Parallelgesellschaft« im Sinne eines »Staates im Staate« und betreffen allenfalls Teilgemeinschaften unter den Muslimen (Familien, Clans, Sekten usw.; Schiffauer 2008, S. 45ff.; vgl. a. Kap. II.2). Selbst der etwas größere Kreis poli-

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tisch organisierter Muslime – vielleicht 1 bis 3 Prozent im Durchschnitt –, die als »fundamentalistisch« eingeordnet werden können, ist ganz überwiegend nicht gewaltorientiert. Auch radikale Muslime kultivieren ihre Systemabneigung also weitgehend in einer verfassungskonformen Weise, ähnlich wie andere rechts- oder linksradikale Gruppen in Europa. Politisch radikale Muslime teilen allerdings nicht die politische Kultur, die zur Aufrechterhaltung der liberalen Demokratie notwendig ist, da sie etwa den Säkularismus ablehnen. Der Sympathisantenkreis solcher Anschauungen liegt aber nicht höher als bei etwa 10 Prozent der Muslime, was nach allen Vergleichswerten für Demokratien vertretbar ist. Solange der Konsens einer politischen Kultur bei der Frage der Gewalt und des Gewaltmonopols des Staates nahezu bei 100 Prozent zu veranschlagen ist und das Systemvertrauen bei mehr als vier Fünfteln einer Bevölkerungsminderheit vorhanden ist, kann man von einem stabilen politischen Konsens sprechen. Der vielfach geäußerte Vorwurf, Muslime in Europa und im Westen seien nicht integrationsbereit, sie seien intolerant und illiberal, ist für den überwältigenden Teil der Muslime in einem staatsbürgerlichen Sinne unzutreffend. Muslime mögen in vielen anderen Wertebereichen durchschnittlich konservativer sein, was noch zu erörtern sein wird (Kap. II.2). Sie stimmen aber in hohem Maße dem Wertekonsens der liberalen Demokratie zu. Heiner Bielefeldt sagt zu Recht, dass eine Fundamentalopposition zum politischen System der europäischen Länder kleinen Gruppen vorbehalten bleibt, während sich der Großteil der Muslime Europas mit dem säkularen System arrangiert hat (Bielefeldt 2004, S. 156). Sami Zemni und Christopher Parker haben darauf hingewiesen, dass in diesem Bereich vielfach mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen würde, wenn man die vorhandene Systemtreue weiter Teile der nicht-muslimischen Bevölkerungen in Europas Staaten vergäße und allzu hart über entsprechende Einstellungen bei einem kleinen Teil der muslimischen Minderheit zu Gerichte säße (Zemni/Parker 2002, S. 237f.). Man darf die Lage nicht verkennen: Migration, die in der Regel innerhalb der letzten Generationen erfolgt ist, erfordert von Menschen einen hohen Einsatz, da die wenigsten leichten Herzens ihre Heimatländer verlassen. Insbesondere der europäische Rechtsstaat, aber auch das politische System als Ganzes zählen trotz aller möglichen Kritik unzweifelhaft zu den Attraktivitätsmerkmalen Europas. Einwanderer mögen versuchen, so viel wie möglich von ihrem way of life in die neue Situation hinüberzuretten, sie mögen sogar einen »Kulturschock« erleiden, aber all dies ist von der liberalen Demokratie gedeckt und gehört zu den Freiheiten des Menschen im politischen System der liberalen Gesellschaft. Insgesamt gibt es überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass die Muslime Deutschlands oder Europas einen gesteigerten staatsbürgerlichen Integrationsbedarf besitzen.

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II. Gesellschaft

Nach der Diskussion von Problemen der liberalen Demokratie wenden wir uns nun dem Feld der Gesellschaft zu. Während sich die politische Theorie im Bereich der westlichen Demokratie recht übersichtlich Fächern wie der Politikwissenschaft, dem Staatsrecht und der Politischen Philosophie zuordnen lässt, ist die Sozialtheorie nicht nur in der Soziologie beheimatet, sondern in sehr vielen Disziplinen, in der Philosophie ebenso wie in Kulturwissenschaft, in Ethnologie, Sprach- und Kommunikationswissenschaften sowie in Pädagogik, Geschichte oder Religionswissenschaft. In der Tat ist es gar nicht möglich, eine Geistes- oder Sozialwissenschaft zu finden, die nicht an der Sozialtheorie beteiligt wäre. Im weiteren Verlauf des Buches werden in den Kapiteln zu Medien, Bildung und Religion drei Bereiche der Sozialtheorie gesondert behandelt, die im folgenden Kapitel zunächst weitgehend ausgespart werden. Die nunmehr im Vordergrund stehenden Konzepte wie »Toleranz«, »Anerkennung«, »Rassismus«, »Integration« oder »Identität« entstammen überwiegend der Disziplin der Soziologie und dem interdisziplinären Wissenschaftsfeld der Kulturwissenschaften, das in hohem Maße philosophische Konzepte verarbeitet. Soziologie und Kulturwissenschaften sind zudem zahlreiche Symbiosen eingegangen, etwa in der Kultursoziologie von Georg Simmel, Pierre Bourdieu, Nobert Elias oder in den Cultural Studies eines Stuart Hall: allesamt Autoren, die an der Nahtstelle von Basis-Überbau-Phänomenen der Gesellschaft operieren, sich also mit den Wechselbeziehungen zwischen kultureller Symbolik und dem Alltagsverhalten von Individuen, Gemeinschaften und Gruppen beschäftigen. Es wird die Aufgabe dieses Kapitels sein, zu definieren, was mit dem Begriff der »liberalen Gesellschaft« gemeint sein könnte. Gesucht wird nach der Verbindung zwischen den im Ansatz der »liberalen Demokratie« angelegten Möglichkeiten sowohl zu individueller Freiheit als auch zu kollektiver Orientierung, die weit über den politischen Kulturbegriff hinaus das Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten in der Gesellschaft beeinflussen können. Gegliedert ist das Kapitel in Abschnitte, die sich zunächst mit den Denk- und Verhaltensweisen von Mehrheiten in europäischen Ländern beschäftigen, dann mit denen der muslimischen Minderheiten, um schließlich mit einem Exkurs

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zu einer alternativen – strukturalistisch-marxistischen – Interpretation der Beziehungen zwischen Mehrheit und Minderheit zu enden, die deutlich über Kultursoziologie oder Cultural Studies hinausgeht. Sucht man nach einer Definition dessen, was in der liberalen Gesellschaft als wünschenswertes oder abweichendes Verhalten von Mehrheiten gegenüber religiösen Minderheiten zu bezeichnen sein könnte, stößt man auf zahlreiche Probleme. Erinnern wir uns an die von Iris Marion Young skizzierten »fünf Gesichter der Ausbeutung« von Minderheiten und Einwanderern (vgl. Einleitung), so gesellen sich zur politischen Machtlosigkeit und ökonomischen Ausbeutung auch noch kultureller Imperialismus und Rassismus bzw. rassistische Gewalt. Während wir den ersten Punkt bereits erörtert haben und die nächsten beiden Fragen in späteren Teilen des Buches diskutieren werden, steht hier zunächst die Frage des »Rassismus« im Vordergrund. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und ähnliche Begriffe sind in ihrer Definition vielfach umstritten gewesen und sind es noch, denn es muss nicht nur zwischen mehr oder weniger geschlossenen rassistischen Weltbildern und Diskursen unterschieden werden, sondern auch zwischen Fremdbildern, Einstellungen und Verhaltensweisen. Zudem ist eine Herangehensweise wie die von Young automatisch der Kritik einer gewissen theoretischen »Betriebsblindheit« ausgesetzt, denn möglicherweise tendiert ein Ansatz, der das Mehrheitsverhalten ausschließlich aus der Perspektive negativer Haltungen wie Rassismus thematisiert, dazu, zu einer Art »selbsterfüllender Prophezeiung« zu werden. Da man fast unweigerlich in jeder Gesellschaft rassistische Muster findet, ist die Versuchung groß, Gesellschaften per se als rassistisch zu betrachten. In der nachfolgenden Analyse wird daher bewusst ein Theoriefeld eröffnet, das von Rassismus auf der einen Seite bis zu diversen Formen der Anerkennung, Toleranz oder kulturellen Mitgliedschaft auf der anderen Seite reicht. Denk- und Verhaltensformen des Mainstreams wie auch kleinerer Subsysteme europäischer Gesellschaften lassen sich nur in einer solchen theoretischen Dialektik verstehen. Ebenso verhält es sich mit der Minderheit. Deren Beurteilung erfolgt allzu oft auf der Basis eines sehr minimalistischen Verständnisses von »Integration«. Ähnlich reflexhaft, wie der Mehrheit vielfach »Rassismus« unterstellt wird, wird gerade einer religiösen Minderheit wie den Muslimen in Europa mangelnder Integrationswillen vorgeworfen. »Parallelgesellschaften« und »Unterwanderung« sind nur zwei Begriffe, die in diesem Zusammenhang benutzt werden. Sie verweisen allesamt auf die Angst vor gesellschaftlichem Kontrollverlust. Eine Gruppe scheint sich, dies ist der Verdacht, mitten in einer Gesellschaft eigene Regeln schaffen zu wollen, die sich der Kenntnis der Mehrheit entziehen oder diese sogar wegen fehlender Gruppenzugehörigkeit ganz ausschließen. Dem Forscher fällt hier auf, dass zwei konträre gesellschaftliche Grenzziehungen konzeptionell den Ton angeben: Rassismus und Desintegration. Teile der Mehrheiten und der Minderheiten wollen anscheinend jeweils die andere Seite

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kulturell und sozial ausgrenzen. Gibt es etwa eine Wechselwirkung zwischen beiden Tendenzen? Ist der Rassismus eine Angstreaktion auf die Desintegration oder die Desintegration eine Fluchtreaktion vor der Diskriminierung? Es wird zu zeigen sein, dass sich solche Verstärkungen teilweise empirisch belegen lassen. Wichtig aber ist, sich zunächst einmal theoretisch darauf zu verständigen, ob es sich hier wirklich um eine Symmetrie der Wahrnehmungs- und Verhaltensformen handelt, was mehr als fraglich ist. Während nämlich der Rassismus eine Grundhaltung ist, die, wie wir gesehen haben, zumindest indirekt am staatsbürgerlichen Konsens und an der Verfassung rüttelt, da er es an Toleranz gegenüber anderen Gruppen und Lebensweisen fehlen lässt, sind soziale und kulturelle Desintegrationen keineswegs einheitlich als Gegentendenz zum liberalen Gesellschaftsmodell zu verstehen – ganz im Gegenteil. Liberale Demokratie und Gesellschaft sind geradezu dazu geschaffen worden, gesellschaftliche Desintegration zu ermöglichen. Im liberalen Weltbild wird die Gesellschaft nur noch sehr begrenzt über gemeinsame Werte, Traditionen und Kulturen zusammengehalten, ihr Integrationsbedarf ist deutlich geringer als der früherer Gemeinschaftsformen des Zusammenlebens etwa in Dörfern oder Stämmen. Ausnahmen betreffen die staatsbürgerlichen Werte und, so argumentieren zum Beispiel einige Autoren wie Werner Schiffauer, eine gegenseitige Anerkennungskultur, die die liberale rechtliche Metanorm der Möglichkeit des Anderswie des Gleichseins mit gesellschaftlichem Leben füllt, sie formuliert und zelebriert (Schiffauer 2008, S. 13). Aber wie weit geht dabei die Verpflichtung zur lebensweltlichen Integration? Das Verhalten von Muslimen in Europa muss vor dem Hintergrund der verschiedenen Herangehensweisen an Fragen der sozialen und kulturellen Integration und Desintegration ganz neu und vorurteilsfrei diskutiert werden. Im abschließenden Abschnitt dieses Kapitels soll in konzentrierter Form die Frage erörtert werden, durch welche strukturellen Bedingungen, vor allem welche sozioökonomischen Triebfedern, sich Probleme wie Rassismus, Anerkennung oder Integration heute verstehen lassen. Zwar haben sowohl Rassismus als auch Integrationstheorie Aspekte der ökonomischen Marginalisierung und Deprivation immer berücksichtigt. Die moderne Anerkennungstheorie allerdings ist »ideenlastig«, hier geht es eher um »Diskurs«, »Habitus« und kulturelle »Symbolik« als um die sozioökonomische Logik gesellschaftlicher Analyse, die im postmarxistischen Zeitalter ein wenig aus der Mode gekommen zu sein scheint. Der Bruch zwischen Anerkennungstheorien und kritischen marxistisch orientierten Theorien des »Neoliberalismus« ist markant. Anerkennungsfragen lassen sich aber im Zuge einer entökonomisierten Betrachtung von Kultur sicher nicht beantworten. Nicht nur, dass es einfacher ist, ökonomische Interessen von Menschen nachzuweisen als Anerkennungswünsche, die in der Geschichte oft weitaus weniger deutlich und schon gar nicht programmatisch formuliert worden sind. Anerkennung besitzt auch, ebenso wie Rassismus

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und Desintegration, ökonomische Rahmenbedingungen. Die Frage, die sich hier stellt, ist, ob »Islamophobie« eine zwangsläufige Begleiterscheinung einer heraufziehenden ökonomischen Strukturkrise der westlichen Industriestaaten in einer globalen Ordnung ist oder ob Toleranz in der europäischen Gesellschaft auch ökonomisch-antizyklisch neu erfunden werden kann.

1. B ÜRGERLICHE M EHRHEIT – V ON DER S ALON -I SL AMOPHOBIE ZUM S YSTEM -G ESELLSCHAF TS -B RUCH Rainer Forst hat argumentiert, dass »Toleranz« eine rechtlich-politische Praxis sein könne, zuvorderst aber eine gesellschaftliche Haltung und Kultur sei (Forst 2006, S. 79f.; vgl. a. Forst 2003). Aus dieser Sicht geht es also nicht nur um legale Gleichbehandlung, sondern auch Toleranz und Anerkennung von kulturellem und religiösem Pluralismus sind als Kernwerte einer Gesellschaft erforderlich, um die Stabilität des Gemeinwesens und der politischen Ordnung abzusichern. Ebenso wenig wie die liberale Demokratie ohne internalisierte Werte der Verfassung und der Demokratie existieren kann, ist dieser staatsbürgerliche Konsens tragfähig und stabil, wenn er nicht auf einer Hierarchie von gesellschaftlichen Toleranzwerten basiert. Oder ist er das doch? Der klassische Liberalismus des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich kaum mit Fragen der Toleranz. Noch 1981 konnten Lothar Gall und Rainer Koch ihr vierbändiges Werk »Der europäische Liberalismus im 19. Jahrhundert« fast ohne Bezug zu Fragen des gesellschaftlichen Umgangs mit religiösen oder anderen Minderheiten herausbringen (Gall/ Koch 1981). Bei den europäischen Vordenkern des Liberalismus standen Fragen des Staatsrechts, der wirtschaftlichen Ordnung oder des Nationalismus im Vordergrund. Quasi als Gegengewicht zur Behauptung individueller Freiheiten entwickelte sich in Staaten wie Italien oder Deutschland das liberale Denken in enger Bindung zur Nationen- und Staatsbildung heraus und auch andere Teile Europas pflegten nach der Auflösung der verschiedenen Großreiche wie dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn oder später auch Ländern wie Jugoslawien einen ausgeprägten kleinstaatlichen Nationalismus, der erst allmählich durch eine europäische Komponente im Rahmen der Europäischen Union und des Europarates bereichert wurde. Schwierig war dies insbesondere deshalb, weil »Nation« und »Rasse« zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg vielfach zusammengedacht wurden, so dass zugewanderte Minderheiten eigentlich nur über den Weg der Heirat und der Assimilierung »naturalisiert« werden konnten. Der Status einer permanenten Minderheit wie den Juden blieb im Verhältnis zur Nation immer prekär. Auch bereits gefestigte Nationalstaaten wie die Niederlande, von denen man häufig behauptet, sie besäßen eine außergewöhnliche Toleranztradition, unterschieden sich bei näherer Betrachtung keines-

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wegs so erheblich. »Toleranz« bedeutete auch in den Niederlanden nicht die Gleichberechtigung religiöser Minderheiten. Zwar herrschte in den Vereinigten Niederlanden während und nach der Reformationszeit religiöser Pluralismus, aber viele effektive Rechte der Religionsfreiheit, politische Partizipationsrechte und sowieso die breite öffentliche Anerkennung mussten sich religiöse Minderheiten wie die Katholiken dort im Laufe der Jahrhunderte erst erkämpfen (Lademacher et al. 2004). Selbst der vielfach gelobten niederländischen Toleranztradition merkte man also an, dass sie »liberal« allenfalls im Sinne einer staatlichen Duldung von Minderheiten, nicht aber der gleichberechtigten und öffentlichen Anerkennung war. Die liberale Theorie begründete die Nichtbeachtung und sogar Feindlichkeit gegenüber dem »Multikulturalismus« selbstverständlich nicht mit dem Hegemonie- und Majorisierungsbedürfnis der Mehrheit der Gesellschaft. Vielmehr verwies sie auf die eigene natürliche Differenzblindheit. Kultur, Religion, aber auch Geschlecht galten lange Zeit als irrelevante Kategorien, deren theoretische Beachtung die Position und Freiheit des Individuums schwächen würde (Heywood 2007, S.  322). Der klassische Liberalismus lebte daher vor allem vom Kontrast zwischen Staat und Individuum, »Gesellschaft« war eine theoretische Restgröße, allenfalls eine Kategorie wie »Öffentlichkeit« (Kap. III) fand langsam mehr Beachtung. In bewusster Abgrenzung zu gruppen- und gemeinschaftsorientierten Ideologien wie dem Konservatismus, Sozialismus oder neuerdings dem (amerikanischen) Kommunitarismus blieb der Liberalismus individualzentriert. Noch heute gibt es vehemente Vertreter dieser Position, etwa den Wirtschaftswissenschaftler der Harvard Universität Amartya Sen (Sen 2006). Für diese klassizistischen Positionen des Liberalismus ist der Multikulturalismus nichts anderes als eine weitere Form des Kollektivismus, gar nicht unähnlich seinem angeblichen Gegenspieler – dem Rassismus. Bezeichnend ist allerdings, dass der klassische Liberalismus das Problem des Rassismus in der Gesellschaft nicht einmal ansatzweise hat lösen können. Im Gegenteil: Äußerungen und Einstellungen der Intoleranz wurden zwar immer mehr zum Reizbild für die antifaschistische Linke, die linksorientierte Sozialwissenschaft oder religiös begründete Toleranzdenker wie den katholischen Theologen Hans Küng mit seiner Stiftung »Weltethos«, um nur einen Namen zu nennen. Doch dies waren und sind intellektuelle Randströmungen verglichen mit dem breiten verfassungsrechtlichen Konsens der »freiheitlichen Grundordnung«, aus dessen Sicht nun einmal gilt, dass nicht ethnische oder religiöse Toleranz verpflichtend ist, sondern, so paradox das klingen mag, Toleranz gegenüber dem Rassismus, solange dieser weder eine Rechtsposition beansprucht noch Gewalt predigt. Zwar ist individuelle rassistische Beleidigung verboten, weil hier das Recht auf freie Meinungsäußerung geringer geschätzt wird als andere Persönlichkeitsrechte. Aber weder Beleidigungen von Gruppen – zum Beispiel »der Muslime« – und schon gar nicht von Religionen – zum Beispiel »des Is-

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lams« – stehen unter Strafe. Immer wieder etwa hat das deutsche Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahrzehnten Urteile von unteren Gerichtsinstanzen aufgehoben, die die Wiederholung des Zitates von Carl von Ossietzky »Soldaten sind Mörder« verurteilten. In diesem Sinne erscheint es nur konsequent, wenn auch Sätze wie »Muslime sind Terroristen« von der Meinungsfreiheit geschützt werden. Ob alle Muslime als Terroristen bezeichnet werden, ist Gerichten solange gleichgültig, wie man Muslimen nicht die verfassungsmäßigen Rechte aberkennt oder sie gewaltsam verfolgt. Europäische Länder kennen gelegentlich gewisse Einschränkungen des weitgehenden Rechts auf Meinungsfreiheit, in Deutschland etwa ist die Leugnung des Holocaust verboten. Ein »Blasphemiegesetz« eröffnet die Möglichkeit, anti-religiöse Diffamierungen zu unterbinden, die den sozialen Frieden stören (Kap. I.1). In der Praxis aber werden solche Gesetze in Europa kaum noch angewandt. Verbote wie das der Holocaust-Leugnung sind also Ausnahmen einer sonst recht konsequent liberalen Rechtsauslegung. Rechtstheorie wie Rechtspraxis sind ganz überwiegend klassisch-liberal geprägt. Auch nach dem Massenmord von Norwegen 2011 differenzierten insbesondere Vertreter rechter Internet-Blogs fein zwischen Islamophobie und »bürgerlicher Islamkritik«, was nicht mit inhaltlichen Unterschieden begründet wurde, sondern damit, dass bürgerliche Religionskritik mit der Akzeptanz der Verfassung einhergeht.47 Geistige Brandstiftung nicht nur durch pauschale, sondern auch hochemotionale und polemische Hetze wird hier geradezu als Ausweis liberaler Tugenden geadelt. Diese Prioritätensetzung, derzufolge die Toleranz gegenüber Rassisten im Zweifel höher wiegt als die gegenüber religiösen Minderheiten, hat es ermöglicht, dass sich rassistische Diskurse auch Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg in allen westlichen Demokratien auf einem erkennbaren Niveau gehalten haben. Nicht nur tendieren bis zu 20 Prozent etwa der deutschen Bevölkerung relativ stabil zu rassistischen Positionen, wonach etwa »Weiße« zu Recht führend in der Welt seien oder Ähnliches. Mehr als ein Drittel der Deutschen, in manchen Zeiten sogar mehr als die Hälfte, gilt auch als »fremdenfeindlich«, insofern als sie der Meinung sind, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben (Heitmeyer 2002-2010). Pogromartige Stimmungen wie während der Übergriffe auf Asylantenheime in Deutschland in den 1990er Jahren knüpfen stets an diese Einstellungen an und sie erwecken in den Öffentlichkeiten ein ambivalentes Echo. Zwar ist die Zahl der offenen Gewaltbefürworter gering, was für die Verfassungsfestigkeit der Gesellschaft spricht, aber der Vorwurf der geistigen Brandstiftung eines bürgerlichen Rassismus steht im Raum (F. Esser et al. 2002). Für die liberale Gesellschaft bleibt es also eine ungelöste Frage, wie sie von der »negativen Toleranz« einer eher formalen Befürwortung verfassungsmäßiger Freiheitsrechte zu einer partizipativeren Demokratie und, mehr noch, zur kulturellen und gesellschaftlichen Anerkennung von Minderheiten gelangt. Es ist zweifelhaft, ob das urliberale Credo der freiheitlichen Rechte ausreicht,

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um als kulturelle Bremse von Ausfällen gegen Minderheiten zu wirken. Es wird im weiteren Verlauf des Buches nicht mehr nur um die Tatsache gehen, dass auch Muslime gleichberechtigte Religionsfreiheit genießen wollen, sondern dass sie als zu Europa gehörig anerkannt werden müssen. Als der damalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff 2010 den Satz »Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland« formulierte, löste dies allerdings eine hitzige Debatte aus – ein gesellschaftlicher Konsens ist etwas Anderes. Es zeigt, dass Muslimen vielleicht nolens volens verfassungsmäßige Rechte zugestanden werden; als soziale Gruppe aber werden sie nicht in gleicher Weise geachtet. Die Rassismusforschung hat eine Reihe von Ursachen für die Entstehung von Rassismus ermittelt, unter anderem die relative soziale Deprivation, wozu neben Armut auch Wohlstandsverluste in besseren Einkommensschichten gezählt werden. Ideologische Einflüsse spielen zudem eine entscheidende Rolle. Bei rassistischen Ideologien ist es wichtig, nicht nur ihre Inhalte, sondern auch ihre soziale Genese und den Prozess der Sozialisation im Blick zu behalten. Weltbilder vermitteln sich über primäre Bezugsgruppen wie die Familie ebenso wie über andere soziale Kontakte (peer groups), über Schule und Medien. Es ließe sich die These aufstellen, dass gerade bei »fernen Thematiken« wie dem Islam für den Aufbau einer rassistischen Ideologie ein Zusammenspiel zwischen primären und sekundären Sozialisationsinstanzen außerordentlich wichtig ist. (Vertikale) Kernwerte werden über Familien und Freunde angelegt, sie formieren sich mit fortschreitendem Bewusstsein zu (horizontalen) Weltbildern oder Ideologien aus, deren Entwicklung nicht zuletzt durch die Medien angeregt wird. Es ist auch demoskopisch messbar, dass der Rassismus dann am größten ist, wenn die Zeitgeist-Kreateure der Medien ihr Augenmerk auf bestimmte Gruppen in einer Gesellschaft konzentrieren (Kap. III.1). Medien können Meinungen von Menschen nicht vollständig beeinflussen, ihre Wirkung ist begrenzt. Vor allem bei Fragen aus der Nahwelt sind sie relativ schwach, denn hier verfügt der Rezipient über eigene Erfahrungen und ist nicht auf die Sekundärvermittlung der Medien angewiesen. Die Bedeutung der Medien wächst aber mit der Wahrnehmung ferner Ereignisse und Personen. Hier übernehmen sie die Funktion der Thematisierung, des sogenannten agenda setting (K. Hafez 2002a). Je größer also die Distanz des Rezipienten zu einem Gegenstand ist, umso stärker ist in der Regel der Einfluss von Medien auf die Ideologiebildung des Bürgers. Allerdings stellt sich die Frage, ob religiöse Minderheiten eine »ferne Realität« darstellen. Man könnte annehmen, dass das Zusammenleben in einer Gesellschaft automatisch eine Erfahrungs- und Interaktionsdichte erzeugt, so dass Minderheiten für die Mehrheitsgesellschaft nicht pauschal als unbekannte Größe bezeichnet werden können. Dass dem aber nicht so ist, hat die Forschung zur sozialen »Kontakthypothese« in der Soziopsychologie längst ermittelt. Demnach ist nicht jede Form der Begegnung zwischen Individuen ein »Kon-

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takt«, der geeignet wäre, Vorurteile abzubauen. Von einem Kontakt dieser Qualität spricht etwa Thomas Pettigrew erst, wenn gemeinsame Ziele entwickelt werden, sich dauerhafte Kooperationen oder gar Freundschaften anbahnen – und sei es auf einer ganz alltäglichen Ebene von Nachbarschaftsverhältnissen (Pettigrew 1998). Auch in einer nominell multikulturellen Gesellschaft ist es aber keine Seltenheit, dass weite Teile der Mehrheiten keinerlei Gesprächs- oder sonstige vertiefende Kontakte zu Angehörigen von religiösen oder ethnischen Minderheiten pflegen. Einwanderer sind also oft nur in einer sehr reduzierten Form »anwesend«, nämlich als flüchtige Erscheinung in urbanen Räumen. Ein Kernproblem für die liberale Sozialtheorie ist die Frage, wie man es schafft, dass die freiheitliche Ordnung, die man etwa durch den Schutz der Meinungsfreiheit zu retten versucht, nicht durch einen Rassismus unterwandert wird, der die soziale Ordnung, und dadurch letztlich sogar die liberale Demokratie, gefährdet. Dieses komplizierte Problem stellt sich modernen Theoretikern eines liberalen Multikulturalismus spätestens seit den 1970er Jahren und sie kehren immer wieder zur alten ungeklärten Frage der »Toleranz« zurück. Liberale Denker interessieren sich hierbei nicht für Religion und Kultur als Quellen der gesellschaftlichen Wertschöpfung, sozusagen als »Bindekitt« der Gesellschaft, wovon andere Ideologien, maßgeblich der Konservatismus, so gerne sprechen. An der »Multikultur« interessiert die neuen Liberalen vielmehr das »Multi-«, also die Frage, wie dauerhaft Freiheit für unterschiedliche Gruppen garantiert werden kann. Der multikulturelle Liberalismus setzt sich wie sein klassischer Vorgänger für Freiheitsrechte in einer rechtsstaatlichen Ordnung ein, darüber hinaus aber auch für die größtmögliche freiheitliche und friedliche Koexistenz von religiös-kulturellen Mehrheiten und Minderheiten. Nicht Religion und Kultur als gesellschaftliche Werte, sondern der »Meta-Wert« der religiösen und kulturellen Toleranz ist von Belang, da die ältere Vorstellung von der Toleranz als Nebenprodukt staatsbürgerlicher Werte (Kap. I.4) gescheitert zu sein scheint. Nur durch neue Formen einer toleranten Wertebildung und gesellschaftlichen Anerkennung, so argumentiert diese Richtung, kann die politische Ordnung der liberalen Demokratie auf Dauer überlebensfähig gemacht werden. Um zu einer toleranztheoretischen Erweiterung in der Lage zu sein, musste der multikulturelle Liberalismus zunächst einmal sein Verhältnis zur Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft klären, denn »Individualismus« reicht vor dem Hintergrund der Frage des Rassismus auch dann nicht mehr aus, wenn man im Auge behält, dass individuelle Rechte vom Liberalismus stets beschützt werden wollen. Thomas Bedorf: Will man Sozialität weder holistisch allein im Ausgang von gesellschaftlichen Strukturen noch individualistisch allein als Aggregat einzelner individueller ›Atome‹ verstehen, so drängt sich als Alternative eine paradoxe Strukturierung des sozialen Seins auf. […]

II. G ESELLSCHAFT Das plural singuläre Sein lässt sich […] weder in Richtung einer Pluralität auflösen, wie es der melting pot oder der fröhliche Multikulturalismus wollen, noch in Richtung der Singularität, wie es die Verfechter der Leitkultur, der Ethnizismen und des Nationalismus betreiben. Die Wahrheit der Kultur wie des Sozialen besteht nach dieser Auffassung in der unauflöslichen Spannung, die zwischen Einheit und Vielheit, Identität und Nicht-Identität herrscht. (Bedorf 2010, S. 204)

Gleichzeitig weist Bedorf auf das Problem der »verkennenden Anerkennung«. Diese besteht dann, wenn man Aspekte des gesellschaftlichen Lebens wie Religion oder Kultur verabsolutiert und sie zu notwendigen Bezugspunkten des Menschen erklärt. Die neue liberale Theorie anerkennt zwar derartige Gruppenbezüge als Möglichkeit der Sozialität stärker als dies im klassischen Liberalismus der Fall war, der diese Prozesse für quasi versiegelte Privatangelegenheiten des Individuums hielt. Gleichzeitig spricht Bedorf aber von »provisorischen Identitäten« (Bedorf 2010, S. 194), was nachvollziehbar ist, da die Cultural StudiesForschung innerhalb der Soziologie verdeutlichen konnte, dass Identitäten bei Menschen vielfach wechseln, dass sie konstruiert, dekonstruiert und rekonstruiert werden, dass Identitäten multiple andere Bezugspunkte haben und in sozialen Großgruppen sowieso, auch bei identischen Selbstbezeichnungen, kaum reale Gemeinsamkeiten bestehen. Gerade liberale Muslime haben, etwa im Zusammenhang mit der Deutschen Islam Konferenz, Bedenken bezüglich einer künstlichen Identitätspolitik des Staates zum Ausdruck gebracht (Kap. I.2). Der liberale Multikulturalismus ist aber in der Hinsicht »liberal« geblieben, dass er weder Mehrheiten noch Minderheiten irgendwelche Identitäten aufzwingt oder diese zur ontologischen Basis seiner Theoriebildung macht. Es geht daher im Sinne des Multikulturalismus streng genommen auch nicht um Muslime als eine soziale Gruppe, die nach Anerkennung strebt, sondern es geht um die soziale Anerkennung des Muslimseins. Das Wechselspiel aus Individualität und vom Individuum selbst bestimmter provisorischer Gruppenzugehörigkeit ist eine sinnvolle Erweiterung, da auch die Cultural Studies-Forschung gezeigt hat, dass Menschen kulturellen Sinn (fast) immer in der Auseinandersetzung mit Gruppen stiften. Selbst ein postmoderner Kulturansatz wie der von Stuart Hall verzichtet keineswegs auf diese Komponente. Zwar ist »Kultur« aus Halls Sicht ein Konstrukt, das wandel- und verhandelbar ist, sie unterliegt zahlreichen strukturierenden Einflüssen von Institutionen wie den Massenmedien, sie besteht jedoch vor allem aus individuellen Interpretationsprozessen, die – hier ist Hall ganz Handlungstheoretiker – eine einheitliche Gesellschaftsstruktur letztlich zur Fiktion werden lassen. Menschen haben aber den Bedarf, durch Interaktion mit anderen den Kategorien ihres Weltbildes eine gewisse soziale Übereinstimmung zu verleihen, das heißt, es gibt »präferierte Lesarten« (preferred readings) in Gruppen (Hall 1980). Sie schaffen sich sprachliche und bildliche Symbole, die Gemeinsamkeiten sug-

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gerieren – auch wenn diese Symbole bei genauer Bedeutungsinterpretation oft stark abweichen und sogar gegensätzlich sind. Kultur als verbindendes Element wäre demnach weithin eine Fiktion – aber eine notwendige und machtvolle Fiktion. Postmodernisten sind also keineswegs, wie vielfach behauptet wird, grundsätzlich radikale Individualisten. Sie haben sich aber konsequent von kulturellen Lesarten abgegrenzt, die, wie in Samuel P. Huntingtons populärem Konzept des »Zusammenpralls der Zivilisationen« (Clash of Civilizations), Kulturen als ontologische Gegensätze konstruieren (Huntington 1993, 1996). Die Subsysteme von verschiedenen Kulturen sind sich im Grunde wesentlich ähnlicher als die von Nationalkulturen – ein linker Muslim hat oft mehr mit einem linken NichtMuslim gemein als mit einem rechten Muslim (K. Hafez 1997b). Das postmoderne Konzept von Sozialität anerkennt zwar die kollektiven Kulturdeutungsneigungen des Menschen, hält diese Deutungen aber – ganz im Sinne von Autoren wie Bedorf oder auch Hall und im Gegensatz zu Huntington – für heterogen und improvisiert. Man muss religiöse und kulturelle Anerkennungskämpfe der menschlichen Gesellschaft nicht grundsätzlich leugnen oder negativ bewerten. Eine laizistische Form des Säkularismus, die solche Auseinandersetzungen aus der Gesellschaft ins Private verdrängen möchte, ist vielfach kontraproduktiv. Aber es bedarf einer grundlegenden Einsicht in den provisorischen Charakter jeglicher Großgruppenidentität und eines daraus erwachsenden Konsenses der Vielfalt und der gegenseitigen Anerkennung. Axel Honneth unterscheidet neben den Anerkennungsformen der Liebe und des Rechts diejenige der sozialen Wertschätzung. Fehlende soziale Anerkennung führt nach Honneth unweigerlich zum »Kampf um Anerkennung«. Wenn Anerkennung allerdings erfolgt, entwickelt sich eine solidarische Gesellschaft (Honneth 1994, S. 207ff.). Wissenschaftliche Positionen wie diese lassen sich auf Gedankengänge von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Max Weber, aber auch von weniger bekannten Autoren wie Thorstein Veblen oder George Herbert Mead zurückführen. Axel Honneth: Im Unterschied zur rechtlichen Anerkennung in ihrer modernen Gestalt […] gilt die soziale Wertschätzung den besonderen Eigenschaften, durch die Menschen in ihren persönlichen Unterschieden charakterisiert sind: während das neuzeitliche Recht ein Anerkennungsmedium darstellt, das allgemeine Eigenschaften menschlicher Subjekte in differenzierter Weise zum Ausdruck bringt, verlangt jene zweite Anerkennungsform daher ein soziales Medium, das Eigenschaftsdifferenzen zwischen menschlichen Subjekten auf allgemeine, nämlich intersubjektiv verbindliche Weise zum Ausdruck bringen können muss. […] Solidarität ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften […] an die Voraussetzung von sozialen Verhältnissen der symmetrischen Wertschätzung zwischen individualisierten (und autonomen) Subjekten gebunden; sich in diesem Sinne symmetrisch wertzuschätzen heißt, sich reziprok im Lichte von Werten zu betrach-

II. G ESELLSCHAFT ten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. Beziehungen solcher Art sind ›solidarisch‹ zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Teilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken. (Honneth 1994, S. 197, 209f.)

Rainer Forst hat dargelegt, dass kulturelle Anerkennung aus mindestens drei dialogischen Komponenten besteht: 1. Ablehnung, die sich heute vielfach hinter einer »negativen Toleranz« als einer bloßen Duldung dessen, was man eigentlich ablehnt, verbirgt; 2. Akzeptanz, also eine Form der positiven Toleranz und Wertschätzung, wobei ein gemeinsamer Nenner herausgearbeitet wird, und 3. Zurückweisung, was nichts anderes bedeutet, als dass es Grenzen des Tolerablen gibt, die im Wesentlichen vergleichbar mit Thomas Meyers staatsbürgerlichen Grundwerten sind (Forst 2006; vgl. a. Kap. I.4). Auch in Ulrich Becks und Edgar Grandes Konzept des Kosmopolitismus geht es um ein Zusammenspiel verschiedener interaktionistischer Formen, die vor allem Forsts »Akzeptanz« und »Zurückweisung« ähneln: Das Fremde wird nicht als bedrohlich, desintegrierend, fragmentierend, sondern als bereichernd erfahren und bewertet. Wer die Sicht der Anderen im eigenen Lebenszusammenhang integriert, der erfährt mehr über sich selbst und die Anderen. Entscheidend ist dabei, dass der Kosmopolitismus Andersartigkeit zwar akzeptiert, aber nicht verabsolutiert (wie dies der nachmoderne Partikularismus tut); er sucht zugleich nach Wegen, um sie universell verträglich zu machen. Der Kosmopolitismus benötigt folglich zugleich einen gewissen Bestand an universellen Normen, die es ermöglichen, den Umgang mit Andersheit so zu regulieren, dass dadurch die Integration eines Gemeinwesens nicht gefährdet wird. Kosmopolitismus kombiniert die Toleranz von Andersheit mit unverzichtbaren universellen Normen, er kombiniert Vielfalt und Einheit […]. Wir möchten hier die These vertreten, dass Europa durchaus demokratisch gestaltet werden kann, dass hierzu das Modell der parlamentarischen Mehrheitsdemokratie jedoch nicht ausreicht. Die Demokratisierung Europas muss mit Hilfe eines neuen Modells der kosmopolitischen Demokratie erfolgen. (Beck/Grande 2006, S. 340, 346)

Das Problem solcher Konzepte ist, dass sie zwar Visionen einer dialogischen Form gesellschaftlicher Anerkennung entwickeln, die auch in der Regel vor dem Hintergrund der Fragen multikultureller Gesellschaften konzipiert werden, dass aber die interaktionistischen Elemente kaum elaboriert werden. So bleiben vielfach mehr Fragen als Antworten, die man aber allesamt im Blick haben muss, da sie theoretische Orientierungsmaßstäbe für die Frage der gesellschaftlichen Anerkennung der Muslime in Europa sind. Unterscheiden lassen sich Fragen nach den Formen des Dialogs und der Anerkennung (1.) von Fragen nach den Bedingungen für das Gelingen des Dialogs (2.).

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Zu 1.: Formen des Dialogs und der Anerkennung • Hat negative Toleranz gar keinen Stellenwert mehr? Konzepte wie das von Beck und Grande räumen der »Duldung« keine Bedeutung mehr ein, sie grenzen die moderne Anerkennung gerade durch den Akt der bewussten Akzeptanz und Wertschätzung von der klassischen Duldung, die, wie wir gesehen haben, auch Rassismus im staatsbürgerlichen Rahmen möglich macht, ab. Zu fragen aber ist, ob es der liberalen Idee, die sich stets durch die Vermeidung ideologischer Einheitlichkeit von anderen Ideologien unterschieden hat, zukommt, negative Toleranz als mögliche Einstellung von Menschen im Rahmen pluralistischer Vielfalt völlig ausschließen zu wollen. • In dem ohne Zweifel zu erweiternden Raum von Anerkennung, Dialog und Wertschätzung wäre zu fragen, wie das Verhältnis von Wissen/Aufklärung, Emotion und Handeln zu beschreiben ist? Was das Wissen betrifft – man wird über »fremde« Religionen in der Regel weniger wissen als über die »eigene«: Wo wird dieses Unwissen problematisch und inwieweit reicht es aus, eine Kultur des Nicht-Wissens zu etablieren, in der zwar nicht alles über den Anderen gewusst wird, die Grenzen des eigenen Wissens aber sehr wohl bekannt sind (Scheunpflug 2000)? Was Emotionen betrifft: Gibt es in der modernen Anerkennungspolitik einen Raum des Symbolischen, wenn ja, wie wäre der zu gestalten? Was das Handeln betrifft: Wie sollen Dialog und Anerkennung in gesellschaftliche Handlung umgesetzt werden? Ist es etwa die Aufgabe jedes Einzelnen, zu agieren, oder gibt es auch in der Gesellschaft, ähnlich wie in der Politik, Repräsentationen durch Institutionen usw., die die eigentlichen Träger der gesellschaftlichen Anerkennung sein sollten? Zu 2.: Bedingungen für das Gelingen des Dialogs • Welches sind die diskursiven Strukturen, die Anerkennung und Dialog hintertreiben und die vielfach historisch tradiert werden? Etienne Balibar hat beschrieben, wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa ein neuer gesellschaftsfähiger Rassismus konstruiert worden ist, der sich als »Rassismus ohne Rassen« nicht auf genetische, sondern auf kulturelle Zugehörigkeit und Differenzlehre stützt, etwa ganz im Sinne Samuel P. Huntingtons (Balibar 1989, S.  373). Welche Rekonfigurationen des rassistischen Diskurses gilt es zu beachten, wo bestehen, im konkreten Fall der Muslime, Grenzen zwischen legitimer Islamkritik und Islamophobie? • Können sozioökonomische Spannungen gesellschaftliche Anerkennung beoder gar verhindern, und wenn ja, welche Formen der Deprivation sind dies? Gegenüber Juden war etwa in Deutschland und in anderen europäischen Ländern schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein »SalonAntisemitismus« wirksam (Lenk 1994), der bis tief ins Bürgertum reichte.

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Zugleich aber gibt es Anzeichen dafür, dass nicht nur Armut, sondern jede Form der tatsächlichen oder befürchteten Deprivation Fremdenfeindlichkeit auch in den Mittel- und Oberschichten verstärken kann. • Welches sind die makrosoziologischen Interaktionsstrukturen einer Gesellschaft, die Anerkennungsdialoge fördern oder verhindern? Wenn es stimmt, wie die »Kontakthypothese« behauptet, dass bestimmte Formen eines dauerhaften und auf Kooperation zielenden Dialogs geeignet sind, Vorurteile zwischen sozialen Gruppen abzubauen, so sind die Rahmenbedingungen des Kontaktes im Blick zu behalten. Es macht zum Beispiel einen Unterschied, ob Menschen konzentriert in urbanen Räumen oder verstreut in Flächenstaaten leben, aber auch, ob sie in »gemischten« oder in sozial separierten urbanen Milieus verkehren. • Welches sind die gesellschaftlich-kulturellen Machtbedingungen der Hegemonie, und wer sind die Gegeneliten und sozialen Bewegungen der Anerkennung? Diskurs und gesellschaftliches Handeln des Einzelnen wird vielfach von sozialen Meinungsführern beeinflusst, die sich in kulturellen Anerkennungskämpfen profilieren, von diesen profitieren und daher an einer solidarischen Klärung der Probleme kein Interesse hegen. Neben den bereits vorgestellten politischen Parteien des parlamentarischen Raumes sind dies nicht zuletzt neopopulistische Bewegungen, aber auch deren antifaschistische Gegner und Netzwerke üben Einfluss aus. Gerade die Probleme der Rahmenbedingungen des Dialogs verdeutlichen, dass eine handlungstheoretische Sichtweise auf das Verhalten von gesellschaftlichen Mehrheiten nicht ausreichend ist. Gesellschaftliche Einstellungen, Meinungen, Diskurse und Handlungen – von tolerant und dialogbereit bis rassistisch – erschließen sich nicht allein durch einen Ansatz, der der Prämisse folgt, dass sich Denken, Fühlen und Handeln erst in der konkreten Situation bilden und in ihr jeweils neu »verhandelt« werden. Vielmehr gilt es, neben der konzeptionellen Offenheit gegenüber Akteursperspektiven auch gesellschaftliche Strukturen und den systemtheoretischen Deutungsrahmen gesellschaftlicher Liberalität oder Illiberalität im Blick zu behalten. Kultursoziologische Anerkennungstheorie sollte denn auch nicht auf kulturwissenschaftliche Handlungstheorie reduziert werden, sondern paradigmatisch offen sein und Wechselbeziehungen zwischen autonomen Akteuren und deren gesellschaftlichen Umwelten – Eliten, Personen, Gruppen, Organisationen und Bewegungen – herausarbeiten. *** Das folgende Kapitel untersucht das Islambild europäischer Gesellschaften. Wenn der öffentliche Diskurs die Handlungen von Individuen, Gruppen und Gesellschaften beeinflusst und im Extremfall zu einer rassistischen Zurück-

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weisung führen kann, dann bedarf er einer eingehenden Untersuchung. Wir beschäftigen uns daher mit Geschichte und Gegenwart des Islambildes im bürgerlichen »Mainstream« der Gesellschaften. Es geht um empirisch messbare Einstellungen von Mehrheitsgesellschaften. Durch eine Aufarbeitung empirischer Studien kann es gelingen, die öffentliche Meinung in westlichen Demokratien und den Stand der gesellschaftlichen Anerkennung von Muslimen zu ermitteln. Das Kapitel erörtert solidarische gesellschaftliche Netzwerke ebenso wie islamfeindliche Gewaltakte und es unternimmt den Versuch, den Ursachen fremdenfeindlicher Einstellungen in der »liberalen Gesellschaft« auf den Grund zu gehen. Es macht wenig Sinn, eine fraglos schwierige, umfassende Definition der Begriffe »Bild«, »Stereotyp«, »Feindbild« und »Diskurs« leisten zu wollen, zumal dies andernorts bereits ausführlich versucht worden ist (K. Hafez 2002a, Bd. 1). Für eine Beschäftigung mit dem bürgerlichen Islambild sind dennoch einige Vorbemerkungen erforderlich. Als »Islambild« oder »Islamdiskurs« sollen im Folgenden übergreifende und mehrheitliche Strukturmerkmale der Wahrnehmung von Muslimen und Islam in der europäischen öffentlichen Meinung betrachtet werden. Diese Strukturen können zunächst wertfrei als »Stereotype« in dem Sinne bezeichnet werden, dass Bildstrukturen in der Soziopsychologie nicht generell als pathologisch, sondern zur Reduzierung von Umweltkomplexität als unvermeidlich gelten. Es ist auch an dieser Stelle nicht beabsichtigt, zu unterstellen, dass Individuen als Träger von Bildern ausschließlich stereotyp agieren – individuelle Bilder können sich als dynamisch und wandelbar erweisen. In diesem Kapitel beschäftigt uns allerdings zunächst die Frage, in welcher Größenordnung Menschen bestimmten Formen sehr negativer oder – gelegentlich auch – sehr positiver Islambilder zustimmen. Der Grad dieser Zustimmung definiert sozusagen den verbleibenden Raum, den Gesellschaften für individuelle Bildprägungen eröffnen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Derartige Ansätze der Feindbildforschung haben mittlerweile eine lange Tradition und lassen sich zurückverfolgen bis in den Kalten Krieg, wo amerikanische und sowjetische Feindbilder Gegenstand von Untersuchungen waren (Frei 1985; MccGwire 1987). Wenn in der Wissenschaft heute von »Islamfeindlichkeit« oder »Islamophobie« die Rede ist, dann decken sich diese Begriffe weitgehend mit dem begrenzten klassischen Feindbildbegriff der Soziopsychologie und Politischen Psychologie. Als Islamophobie wird nach dem Vorbild der Studien zur »gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit« der Universität Bielefeld jede Form einer pauschalen Herabsetzung und Verurteilung der Gruppe der Muslime, ihrer Kultur und/oder Religion betrachtet (Heitmeyer 2005, 2006). »Islamkritik« wäre im Gegensatz dazu auf bestimmte Aspekte beschränkt und differenzierend (Schneiders 2010b). Islamophobie kann, was der Begriff der »Phobie« hervorhebt, Ängste gegenüber dem Islam beinhalten: Jedes Feindbild hat auch

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eine affektive Ebene, auf der Wut, Hass und Angst zum Ausdruck kommen. In der Forschung sind aber ganz überwiegend die kognitiven Muster des Feindbildes gemeint, die Muslimen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit pauschal negative Eigenschaften und feindliche Absichten zuweisen. Der Begriff »Islamophobie« ist vielfach kritisiert worden (vgl. Bielefeldt 2010, S. 190ff.; Cesari 2006, S. 6, 101, 143). In der Tendenz geht es darum, dass nicht jede Form von Kritik an Muslimen und Islam umstandslos als Ausdruck von Islamophobie betrachtet werden kann, sondern lediglich die Zustimmung zu negativen Urteilen, in der Islam oder die Muslime grundsätzlich abgelehnt oder negativ beschrieben werden. Nicht jede Art der Islamkritik ist islamfeindlich, nicht jeder Diskurs über den Islam, sondern vor allem generelle Ablehnungen des und Distanzierungen vom Islam sind der harte Kern dessen, was die sozialwissenschaftliche Einstellungsforschung seit Jahren intensiv untersucht. Zwar sind auch Islamdiskurse, etwa in den Massenmedien, häufig einseitig und es wird noch zu zeigen sein, wie sich Islamophobie in politisch korrekter Weise auch ohne klassisch-rassistische Aussagen nach dem Typ »Alle Muslime sind…« konstruieren lässt (Kap. III.1). Textkritische Interpretationen sind aber schwierig und theorieabhängig und daher hier nicht Gegenstand der Analyse. Die theoretischen Konstrukte der Einstellungsforschung – Stereotype, Feindbilder, Vorurteile – sind hingegen in der Regel simpler, ihre Methoden dafür aber umso repräsentativer und verlässlicher, so dass wir heute wissenschaftlich abgesicherte Ergebnisse zu einigen gruppenfeindlichen Grundkonstanten des Islambildes der Europäer vorweisen können. Bildstrukturen sind zudem nicht deckungsgleich mit »Einstellungen« oder »Meinungen« von Menschen und sie müssen auch keineswegs automatisch in Handlungen umschlagen. Einstellungen und Meinungen sind komplexe Gebilde, bei denen neben Bildern auch zentrale Werte eine Rolle spielen. So gehen einige Forscher etwa davon aus, dass der liberale Kernwert der Religionsfreiheit trotz starker Islamfeindlichkeit in einem Land dazu beitragen kann, dass Debatten über Moscheebauten und Kopftücher weniger vehement geführt werden als in einem anderen. Ausgeprägte liberale Werte können also einen dämpfenden Einfluss auf die soziale Virulenz von Islamfeindlichkeit haben; das Fehlen oder die Unterentwicklung solcher Werte kann sich allerdings radikalisierend auswirken. Es ist in diesem Zusammenhang vor einem Alarmismus zu warnen, wonach Vorurteile automatisch zu gesellschaftlicher Diskriminierung oder gar zu Gewalt gegen Minderheiten führen müssen. Dieser reduktionistische Fehlschluss ist eine verbreitete Gefahr der Stereotypen- und Feindbildforschung, die Vorurteile zwar ermitteln, deren gesellschaftliche Folgen aber selten erklären kann. Zugleich jedoch sind die Übergänge zwischen »Bildern«, »Einstellungen« und »Handlungen« entscheidend, denn hegemoniale Bilder können in einem bestimmten gesellschaftlichen Wertegefüge durchaus zu intoleranten Einstellungen, zu Alltagsdiskriminierung und rassistischer Gewalt führen. So

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können Bilder und Einstellungen einer Mehrheit für die Handlungen extremistischer Minderheiten mitverantwortlich sein. Wendet man sich der Geschichte der Islam- und Orientwahrnehmung in Europa zu, so sind zumindest drei große Traditionslinien zu erkennen. Zunächst eine christlich-dogmatische Perspektive, die über keine theologischen Kategorien für nachchristliche Religionen verfügte, sich primär mit dem Judentum beschäftigte und für den Islam überwiegend negative Werturteile bereithielt. Seit den im 11. Jahrhundert einsetzenden Kreuzzügen galt der Islam als eine von zahlreichen Häresien des Christentums, und der Prophet Mohammed wurde von vielen europäischen Gelehrten als Antichrist betrachtet, obwohl seine Lehren überhaupt erst nach 1143 durch die lateinische Übersetzung von Robertus Retenensis zugänglich wurden (Southern 1978; Watt 1972; Daniels 1975). Der Islam galt zudem wegen seiner Ausbreitung durch Eroberung als gewalttätige Religion, wobei die islamische Tradition der Respektierung monotheistischer Religionen (dhimmi-Status) und der Synthese mit fremden Kulturen, die keineswegs vernichtet wurden, unberücksichtigt blieb. Da die Ära der Kreuzzüge neben Kriegen auch eine Verbesserung des Informationsflusses zwischen Orient und Okzident ermöglichte, übten Wissenschaft, Kunst und Kultur des islamisch-arabischen Raumes einen nachhaltigen Einfluss auf Europa aus, zu dem unter anderem durch die Rezeption des Gegenspielers der Kreuzritter, Sultan Saladin, die Vorstellung des ehrenhaften Feindes trat. Die Religion des Islams wurde zumindest in Zentral- und Westeuropa jedoch durchgehend als die negative Seite der orientalischen Kultur betrachtet, zumal sie, so wurde häufig argumentiert, den rationalen Traditionen der eigenen orientalischen Kultur feindlich gegenüberstand; eine, wie der französische Orientalist Maxime Rodinson meint, weitgehend inadäquate Übertragung der Erfahrungen der europäischen Wissenschaft mit der Repression durch die katholische Kirche auf den Islam (Rodinson 1985, S. 34). Die zweite Tradition des Orientbildes ist daher in der säkularen Perspektive der europäischen Moderne zu finden, die sich zunehmend gegen die alten christlichen Denkstrukturen durchsetzte. Eine außereuropäische Religion wie der Islam bewegte sich von nun an unter dem Einfluss der säkular-liberalen Grundströmung in einem »Niemandsland«. Sie wurde von den alten christlichen Traditionen bekämpft, während sie gleichzeitig von der religionsfeindlichen Tendenz des säkularen Liberalismus, der sich gegen das Christentum behaupten musste, als scheinbar restriktives Kultursystem abgelehnt wurde. Allerdings erschöpfte sich das säkulare Orientbild nicht in anti-islamischen Haltungen, sondern in Randbereichen der europäischen Kultur, denen es zeitweise, wie im Fall von Goethes »West-östlichem Divan«, sogar gelingen konnte, die Aufmerksamkeit der Mainstream-Kultur zu erregen, erhielt sich eine Wertschätzung für das rationale orientalische Erbe und, im Zuge der Ausbildung der Islam- und Orientwissenschaft, sogar für den Islam als religiös-kulturelles

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Ordnungssystem. Gerade der zentraleuropäische Raum wurde nach dem Wegfall der physischen Gefahr durch das Osmanische Reich in der späten Klassik und in der Romantik von einer »Orientschwärmerei« ergriffen, die den Entwurf eines glaubensfesten, sittenstrengen und traditionsbewussten Orients auch als Ausgleich für den geistigen Modernisierungsdruck der französisch geprägten Aufklärung begrüßte. Weder der schwärmerische Orientalismus noch die rationale Tradition der Orient- und Islamwissenschaft haben jedoch das Bild des europäischen Mainstreams nachhaltig beeinflussen können. Die abendländischen Kernvorwürfe des islamischen Fanatismus und der orientalischen Despotie waren aus den Konversationslexika nie verschwunden und längst zu Ethnound Religionsmythen geworden. Die anti-islamische Apologetik eines Voltaire, der erst in seinen späten Schriften zu differenzierteren Einsichten gelangte, hatte über den kulturellen Relativismus eines Lessing, der das Zusammenleben von Christentum, Judentum und Islam für alternativlos hielt, gesiegt, was den Religionshistoriker Karl-Josef Kuschel zu dem Urteil gelangen lässt: »Es ist ein kultureller Skandal: Keine Religion der Welt ist im gegenwärtigen Europa so ›dämonisiert‹ wie der Islam – ein signifikanter Unterschied zu allen anderen großen Weltreligionen wie etwa dem Hinduismus oder dem Buddhismus.« (Kuschel 1998, S. 16) Bis heute allerdings lässt sich gerade auf dem Höhepunkt von Debatten – etwa dem Karikaturenstreit von 2006 – beobachten, wie die »großen« und »kleinen« Traditionen des europäischen Orient- und Islambildes kollidieren können, wobei letztere vielfach bestrebt sind und auch kurzfristig von den Medien aufgefordert werden, ein einseitig negatives Islambild zu korrigieren. Eine dritte, pragmatische Traditionslinie entstand vor dem Hintergrund der europäischen (später auch der amerikanischen) Orientpolitik. Die jahrhundertelangen Konflikte im maurischen Spanien, die Verhinderung des freien Zugangs zu den Handelszentren Asiens sowie die osmanische militärische Ausdehnung nach Südost- und Zentraleuropa trugen – etwa in den deutschen Türkenliedern – zur Ausprägung eines negativen Orient- und Islambildes bei. Gerade im Zuge der spätkolonialen Ambitionen des Deutschen Reiches im 19. und frühen 20. Jahrhundert diente dieses Bild als Vorwand für eine paternalistische Außenpolitik. Der Orient galt als schwach und kontrollbedürftig. Die berühmte, mit deutscher Hilfe gebaute »Bagdadbahn« wurde von den Zeitgenossen nicht nur als Wirtschaftsfaktor, sondern auch als Erziehungsvorbild gepriesen. Aussagen wie die folgende des schottischen Orientalisten des 19. Jahrhunderts, William Muir, wurden von Kolonialpolitikern wie dem britischen Gouverneur in Ägypten, Lord Cromer, zu einem rassistischen Weltbild kolonialer Subjekte weiterverarbeitet: »Das Schwert Mohammeds und der Koran sind die beiden schlimmsten Feinde der Zivilisation, der Freiheit und der Wahrheit, welche die Welt je gesehen hat.«48 Solche Äußerungen lassen sich bis heute in identischer Form etwa in islamkritischen Internetforen finden (Kap. III.2).

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Das Orient- und Islambild des zeitgenössischen Europas, also der Periode seit dem Zweiten Weltkrieg, ist in weiten Teilen ein Mikrokosmos der geschilderten Wahrnehmungstraditionen. Während die zwei Traditionen der Wahrnehmung fortbestehen, hat sich die große Tradition, die Wahrnehmung des Islams und des Orients durch den bürgerlichen Mainstream, in einem fortschreitenden Prozess von der ursprünglich im europäischen Kulturerbe angelegten Dichotomie von Distanzierung und Hinwendung gelöst und ist von einem Tiefpunkt zum nächsten fortgeschritten (K. Hafez 2000a, 2002a/b/c). An die Stelle eines noch in der Nachkriegszeit erkennbaren, zum Teil positivexotischen Orientbildes (Hofberichte über den Schah von Persien usw. in großen europäischen Medien) ist eine ausgeprägte Konfliktorientierung getreten, die in Etappen verlief: arabischer Nationalismus, Nahostkonflikt, palästinensischer Terrorismus, Erdölkrise und schließlich die Re-Islamisierung mit ihren zahlreichen markanten Ereignissen wie der Iranischen Revolution von 1978/79, der Rushdie-Affäre, den Terroranschlägen vom 11. September 2001, deren Folgeattentaten in London und Madrid und dem Karikaturenstreit. Diese Ereignisse basierten zwar auf realen Konflikten, haben aber etwa im Islambild der Medien alte Neigungen einer pauschalen Gleichsetzung von Islam und Gewalt, Unterdrückung und Fanatismus wieder aufleben lassen (Kap. III.1). Die Iranische Revolution von 1978/79 war der inhaltlich entscheidende Wendepunkt des Islambildes. Es folgten andere Zäsuren wie das Ende des OstWest-Konflikts 1989 (Ruf 2006), die Rushdie-Affäre oder die Anschläge des 11. September, die das Islambild allerdings in der Substanz kaum veränderten, sondern vielmehr zur Emotionalisierung westlicher Öffentlichkeiten beitrugen und die innen- und außenpolitischen Handlungsdimensionen des seit der Iranischen Revolution wiederbelebten »Feindbildes Islam« erweiterten. Mit der Rushdie-Affäre von 1989 gelangte der Islam dann in die innere Lebens- und Vorstellungswelt der Europäer. Während sich die Muslime immer mehr zu einer sichtbaren Minderheit in Europa entwickelten, die etwa durch Moscheebauten Ressentiments bei vielen Menschen auslösten (Vertovec/Peach 1997, S.  24f.), schienen die Drohungen gegenüber dem in England lebenden Schriftsteller Salman Rushdie seitens der iranischen Staatsführung geradezu symbolisch für eine wachsende innere Gefährdung zu sein. Mehrere Autoren haben darauf hingewiesen, dass im Zuge der Rushdie-Affäre rassistische Ausfälle gegenüber dem Islam in die europäische bürgerliche Öffentlichkeit zurückkehrten. Unter dem »Deckmantel der Islamkritik« wurde eine rassistische Weltsicht in Stellung gebracht (Vertovec/Peach 1997, S. 4; vgl. a. K. Hafez 2002a, Bd. 2, S. 261265). Die Terrorattentate des 11. September werden vielfach zu Unrecht als der entscheidende Wendepunkt der Verschlechterung des Islambildes interpretiert, was sie nicht waren. Inhaltlich hat sich seit 2001 am populären europäischen Islambild kaum etwas verändert, alle Anlagen des Negativbildes des Islams – Fanatismus, Repression, Frauenfeindlichkeit – waren nicht nur latent kulturell

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vorhanden, sondern auch durch die Iranische Revolution und die Rushdie-Affäre bereits hinreichend aktiviert. »9/11« hat daher an der Substanz des Diskurses wenig verändert, das Ereignis war aber für den gesellschaftlichen Umgang des Westens mit dem Islam wohl von entscheidender Bedeutung. Nicht nur diente es der Legitimierung außenpolitischer Kriege in Afghanistan und im Irak (K. Hafez 2009, S. 193-213), sondern es führte auch zu einem Dammbruch bei der Entwicklung rechtspopulistischer Parteien in Europa und diente als Weckruf für eine zunehmend gewaltsame Diskriminierung der in Europa lebenden Muslime (s.u.). Wer bis dahin die Hoffnung gehegt hatte, dass sich die langsamen Lernprozesse des europäischen politischen Systems der liberalen Demokratie bei der Gleichstellung von religiösen Minderheiten auch auf die Gesellschaften übertragen würden, der sah sich seit 2001 in wachsendem Maße enttäuscht, denn die Terrorattentate waren eine Initialzündung für anti-islamische gesellschaftliche Netzwerke aller Art, die man heute weitgehend im Internet beobachten kann (Kap. III.2). »9/11« hat daher den Bruch zwischen System und Gesellschaft beim Thema Islam endgültig manifestiert. Der Islam avancierte von einem Neben- zu einem Hauptschauplatz der europäischen Öffentlichkeit. Es ist derzeit noch nicht klar erkennbar, ob einmal mehr – wie bei der Iranischen Revolution von 1978/79 – ein Ereignis aus der Fernwelt der Europäer den Niedergang des »Orientbildes« aufzuhalten vermag. Die arabischen Revolutionen, Aufstände und Demokratisierungsprozesse, die seit 2010 erfolgt sind, haben das Potenzial, als eine Art »paradoxe Intervention« zu wirken: ein Ereignis, das so unerwartet positiv und so groß ist, dass es Fremdbilder und Distanzwahrnehmungen verändern kann (Kap. III.1). Franz W. Dröge unterscheidet zu Recht zwischen drei historischen Periodizitäten von Nationenbildern, die sich auf das Islambild anwenden lassen: den a) kultur-dauernden Stereotypen (z.B. religiöse Vorstellungen), b) kultur-epochalen Stereotypen (z.B. Vorstellungen über die »türkische Gefahr vor Wien«) und c) zeitgeschichtlich determinierten Stereotypen (z.B. deutsche Vorstellungen über »die Franzosen« in der Naziperiode) (Dröge 1967, S. 151). Die Umbrüche in der arabischen Welt könnten durchaus als Ereignisse der Zeitgeschichte eine positive Wirkung haben. Zugleich allerdings ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich zwar das Bild des Nahen Ostens kurzfristig verbessert, aber nicht das kultur-dauernde Negativbild des Islams, das im Westen seit mehr als tausend Jahren wirksam ist. Mit anderen Worten: Die Ereignisse im Nahen Osten werden möglicherweise begrüßt, aber nur solange, wie sie als eine Art »westlicher« Demokratisierungsprozess und ohne Beteiligung islamischer Kräfte verstanden werden können. Demoskopische Umfragen und große sozialwissenschaftliche Untersuchungen der 1990er und 2000er Jahre bestätigten, dass Probleme des Islambildes einerseits bereits vor 2001 in Erscheinung getreten waren, andererseits aber durch die Terrorattentate des 11. September nunmehr ein sozialer Dammbruch

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im Umgang mit dem Islam erfolgte, der neben gesellschaftlichen Netzwerken auch Teile der etablierten Parteipolitik einbezog und letztlich die islamfeindliche Ideologie des neobürgerlichen Rechtspopulismus in Europa auf den Plan rief. Die bekannteste Studie zur Islamophobie in den 1990er Jahren war wohl der Bericht »Islamophobia: A Challenge for Us all« des britischen Runnymede Trust von 1997, der in Zusammenarbeit mit dem britischen Innenministerium entstand (Runnymede Trust 1997). Darin wurde ein erster Versuch der Definition von Islamophobie unternommen. Von Islamfeindlichkeit sprach der Trust, wenn vom Islam als einer monolithischen, dem Westen fremden, gewalttätigen, in der Regel auch irrationalen und frauenfeindlichen Religion oder Ideologie gesprochen wurde oder von Muslimen als einer entsprechenden sozialen oder religiösen Gruppe. All diese Elemente ließen sich problemlos bereits im Islambild europäischer Medien während der Iranischen Revolution von 1978/79 oder in den Medienberichten über die Rushdie-Affäre nachweisen (K. Hafez 1996a, 2000b, 2002a, Bd. 2, S. 207ff.). Große europäische Medien setzten in der Iranischen Revolution den Islam vielfach mit Politik gleich, islamische Politik mit Fundamentalismus und islamischen Fundamentalismus mit gewaltbereitem Extremismus. Viele andere Psycho-Logiken des Islambildes waren zu erkennen, die in der Regel auf selektiver Wahrnehmung und Worst-Case-Verallgemeinerungen basierten. Charakteristisch für das Islambild in Europa war es vielfach nicht nur, »den Islam« als eine spiegelbildliche Gegenwelt »des Westens« mit differenten und feindlichen Werten und Verhaltensmustern zu konstruieren – religiöser, fanatischer, repressiver und kollektivistischer Islam vs. aufgeklärten, rationalen, freiheitlichen und friedliebenden Westen. Tatsächlich verbarg sich hinter diesen scheinbaren Spiegelbild-Konstrukten ein »Antipoden-Denken«, wonach grundlegende anthropologische Kategorien bei Muslimen anders zu beurteilen waren als bei Menschen aus der westlichen Welt. So war etwa die Annahme verbreitet, dass Religion und Politik in der islamischen Welt untrennbar seien – was natürlich nicht der Fall ist, denn Säkularisierung, das beweist ja schon ein Land wie die Türkei, ist in der islamischen Welt durchaus denkbar und historisch nachweisbar (K. Hafez 2009, S. 91ff.). Für dieses Denken war daher nicht nur das Bild der Differenz und Feindlichkeit einer anderen Kultur – also ein »neuer Rassismus« nach Balibar – charakteristisch, sondern auch ein spezifisches Menschenbild, was an ältere Formen des genetischen Rassismus erinnert – ein Punkt, auf den wir noch zu sprechen kommen werden. Die Studien der 1990er Jahre waren allerdings nicht in der Lage zu klären, wie repräsentativ und prägend islamophobe Bildkonstrukte für das Islambild der Europäer waren, denn generalisierende Aussagen der erwähnten Art waren zwar immer wieder zu finden, das Islambild beinhaltete aber damals wie heute auch neutrale Elemente, die weniger verallgemeinernd und negativ-abgrenzend sind. Zudem war die Forschung weitgehend auf Medieninhalte beschränkt, da repräsentative sozialwissenschaftliche Befragungen wegen der hohen Kosten

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damals noch nicht durchführbar waren. Außerdem ist ja bereits theoretisch auf die Problematik aufmerksam gemacht worden, dass selbst islamophobe Bilder nicht isoliert von gesellschaftlichen Werten und Einstellungen gesehen und schon gar nicht als zwangsläufig handlungsleitend betrachtet werden dürfen. Einige dieser offenen Fragen aber sind in den darauffolgenden Jahren gelöst worden, denn die Attentate des 11. September 2001 verliehen nicht nur der Islamfeindlichkeit, sondern auch der entsprechenden Forschung enormen Auftrieb. Als erkennbar wurde, dass auch ein vergleichsweise fortschrittliches politisches System wie das Großbritanniens die Bürger nicht davon abhielt, islamophobe Einstellungen zu kultivieren (Vertovec 2002) und auch in vormals als Toleranzvorbilder geltenden Staaten wie den Niederlanden ein enormer Klimawechsel stattfand, wobei selbst absurde Ideen wie ein Verbot des Islams, die Deportation der Muslime oder die Abschaffung der Geschlechtertrennung in Moscheen ernsthaft in der Öffentlichkeit diskutiert wurden, auch wenn die Politik sie nicht umsetzte (Cesari 2006, S.  32), dauerte es nicht mehr lange, bis große Umfrageprojekte ins Leben gerufen wurden, um die Meinungslage genauer zu untersuchen. Das bekannte amerikanische Meinungsforschungsinstitut Pew zum Beispiel legte 2005 eine Studie im Rahmen des Pew Global Attitudes Project vor, nach der in Ländern wie Frankreich und Großbritannien positive Einstellungen gegenüber Muslimen immerhin noch leicht überwogen, in Deutschland und den Niederlanden hingegen negative Haltungen vorherrschten (Pew Research Center 2005). Die Mehrheit in diesen Ländern etwa hielt ein Kopftuchverbot für eine gute Idee oder war der Meinung, der Islam sei grundsätzlich gewaltsamer als das Christentum oder das Judentum. Die Unterschiede in der Bewertung waren extrem, etwa wenn weniger als 5 Prozent das Christentum, aber mehr als 80 Prozent der Befragten den Islam für gewaltsam hielten. Mehr als 70 Prozent der Bevölkerungen in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, Spanien, Frankreich oder auch den USA hatten Angst vor dem Islam. Mehrheiten in Ländern wie Frankreich, Deutschland und den Niederlanden wendeten sich gegen muslimische Einwanderung; Briten, Spanier und Polen dachten etwas positiver. Kein Wunder, dass eine Studie des World Economic Forums »Islam and the West: Annual Report on the State of Dialogue« (2008) ergeben hat, dass Europäer vielfach kein Interesse an verbesserten Dialogbeziehungen zu Muslimen haben. Eine Untersuchung in mehreren europäischen Ländern, an der das Exzellenzcluster »Religion und Politik« der Universität Münster unter Leitung von Detlef Pollack beteiligt war, ergab, dass etwa 60 Prozent der Deutschen den Islam ablehnen (Pollack 2010). Die Werte liegen fast doppelt so hoch wie in Frankreich, Portugal oder beim deutschen Nachbarn Dänemark. Den Bau von Moscheen befürworten in Deutschland nur etwa 20 Prozent, in Dänemark immerhin 50 Prozent der Bevölkerung.

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Trotz gewisser Grauzonen bei den Studien hinsichtlich Fragestellungen und Methoden, die sich zum Teil unterscheiden, verfestigt sich doch ein unangenehmer Trend: Deutschland ist bei der Islamfeindlichkeit in allen untersuchten Ländern der amtierende »Europameister«. Gerade die zentraleuropäischen Staaten wie Deutschland und die Niederlande sind heute Kernländer der Islamophobie. Vorurteile gegenüber Muslimen sind dabei allerdings in ganz Europa und nicht nur bei unteren Gesellschaftsschichten präsent, sondern fest in den Bürgergesellschaften verankert. Es geht nicht eigentlich um elitäre islamfeindliche Thesen oder gesellschaftliche Randgruppen, sondern um die weit in die Mitte europäischer Gesellschaften reichende Ablehnung des Islams. Auch vor den Vereinigten Staaten macht die Problematik nicht halt, die dadurch von einem europäischen zu einem »westlichen« Phänomen wird. Eine Pew-Zusatzuntersuchung von 2010 ist in diesem Zusammenhang interessant. Als Präsident Barack Obamas Ansehen im Laufe seiner Amtszeit wegen zahlreicher politischer Widerstände und Niederlagen abnahm, sanken nicht nur seine Popularitätswerte, sondern immer mehr Menschen hielten ihn statt für einen Christen für einen Muslim. Diese Ansicht war vor allem bei seinen politischen Gegnern, den Anhängern der Republikaner, ausgeprägt, wo etwa ein Drittel dies glaubten (Pew Research Center 2010). Politische Gegnerschaft und das »Feindbild Islam« schienen also eng zusammenzuhängen. Zahlreiche nationale Studien bestätigen die Ergebnisse dieser großen ländervergleichenden Untersuchungen im Wesentlichen. Bis zur Hälfte der amerikanischen Bevölkerung glaubt demnach, dass der Islam eine Religion von Gewalt und Hass ist und Muslime gewalttätig sind; ein Drittel meint, dass Muslime per se anti-amerikanisch sind; ein wachsender Teil der Bürger ist bereit, die Bürgerrechte von amerikanischen Muslimen einzuschränken (Haddad/Ricks 2009, S. 23; Nisbet et al. 2009, S. 164, 167, 172). Von einer generellen Religionstoleranz der Amerikaner kann also, zumindest sobald Sicherheitsfragen berührt werden, nicht mehr die Rede sein (s.u.). Immer mehr Menschen sind bereit, Sicherheitsängsten mit Diskriminierung zu begegnen und die Regeln der liberalen Demokratie außer Kraft zu setzen. In Deutschland wiesen bereits in den 1990er Jahren zahlreiche Umfragen darauf hin, dass eine Mehrheit Angst vor und Aversionen gegenüber dem Islam hegte (Allensbacher Jahrbuch 1997, S. 62).49 Eine Umfrage im Auftrag der Zeitschrift stern 2006 bestätigt, dass sich etwa ein Drittel der Deutschen vor dem Islam fürchtet und ihn die Mehrheit nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung empfindet.50 Die Shell-Jugendstudie 2006 fördert eine diffuse Fremdenfeindlichkeit und relativ hohe Erstwähleranteile für rechtsradikale Parteien unter deutschen Jugendlichen zutage.51 Eine bereits erwähnte Studie des Bundesinnenministeriums von 2007 belegt, dass Nicht-Muslime stärker islamophob sind als Muslime christophob (Kap. I.4). In Deutschland haben Bielefelder Soziologen um Wilhelm Heitmeyer etwa in der Langzeitstudie »Deutsche Zu-

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stände« ähnliche Ergebnisse hervorgebracht. Eine zum Teil beträchtliche Mehrheit der Deutschen möchte demnach keine muslimischen Nachbarn haben und ist der Meinung, der Islam passe nicht zum Westen (Heitmeyer 2005; vgl. a. Leibold 2010; Zick et al. 2011). Immerhin mehr als 20 Prozent sind der Auffassung, es sei besser, wenn es keine Muslime in Deutschland gebe oder man deren Zuwanderung unterbinde; 84 Prozent denken, die muslimische Religion und Kultur passe nicht zu der westlichen Kultur; etwa 60 Prozent glauben, dass der Terrorismus starken Rückhalt bei Muslimen finde (Heitmeyer 2006). Jodie T. Allen und Richard Wike gehen zudem davon aus, dass in Deutschland die Angst vor Parallelgesellschaften und vor Terror stärker ist als in allen anderen westlichen Ländern, und sie stützen sich dabei auf Daten des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew (Allen/Wike 2009, S. 138ff.). Nationale Studien in anderen europäischen Ländern haben diese Trends im Wesentlichen bestätigt (European Monitoring Centre 2006a, S. 44ff.). In Dänemark etwa zeigen Meinungsumfragen, dass viele Dänen glauben, die Muslime werden eines Tages die Mehrheit in ihrem Land stellen. In Spanien sind 80 Prozent der Ansicht, dass Muslime durchweg autoritär seien, und 57 Prozent der Spanier halten sie für gewaltbereit. In Italien glaubt die Mehrheit, dass Muslime den internationalen Terrorismus unterstützen. In Österreich lehnt immerhin ein Viertel der Bevölkerung Muslime als Nachbarn ab. In Finnland sind 50 Prozent der Befragten negativ gegenüber dem Islam eingestellt und in Großbritannien weisen mehr als 40 Prozent der Jugendlichen islamophobe Einstellungen auf. Insgesamt lassen sich bei großen Teilen der europäischen Bevölkerungen, vielfach bei der Mehrheit dieser Bevölkerungen, zahlreiche Hinweise auf eine gewachsene Islamophobie finden. Wir werden uns im Fortgang dieses Kapitels noch mit den Ursachen und Wirkungen des Islambildes beschäftigen, aber es scheint ratsam, an dieser Stelle bereits ein Zwischenfazit hinsichtlich Struktur und Verbreitung von Islamfeindlichkeit in Europa zu ziehen. Die Schweizerische Eidgenössische Kommission gegen Rassismus hat 2006 versucht, Grundzüge des Negativbildes des Islams herauszuarbeiten und ist dabei zu folgenden Schlussfolgerungen gekommen (Eidgenössische Kommission 2006, S.  14ff.): In weiten Teilen der öffentlichen Meinung Europas sind bereits vor den Attentaten des 11. September 2001 deutliche Tendenzen erkennbar gewesen, Muslime religiös und kulturell auszugrenzen und ihnen eine Unverträglichkeit mit Christentum und Westen zu attestieren. Der Islam wird dabei nicht nur pauschal negativ beurteilt, sondern Religion wird zu stark in den Vordergrund gerückt, obwohl die Mehrheit der Muslime ihren Glauben gar nicht streng praktiziert.52 Muslime werden mit »Bildern traditioneller Praktiken belegt«, auch wenn sie dazu keinen Bezug haben. Muslime avancieren zu »neuen Sündenböcken« und werden vielfach wegen entfernter Vorkommnisse (etwa in Afghanistan) kollektiv verunglimpft.

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Derartige Einschätzungen sind vor dem Hintergrund der sich in den letzten Jahren sehr stark verdichtenden empirischen Befunde der westlichen öffentlichen Meinung vollkommen zutreffend. »Islamophobie« in seiner definitorisch simpelsten Form, nämlich als Ausdruck für ein pauschales Negativbild der Religion und Kultur des Islams und der Muslime als religiöser oder sozialer Gruppe, lässt sich vielfach als Mehrheitsposition westlicher Gesellschaften nachweisen. Es stellt sich nunmehr die Frage, inwieweit wir hier von einem hegemonialen, mehrheitlich anti-islamischen Rassismus westlicher Gesellschaften sprechen können. Für die Untersuchung von »Ausländer«- und Fremdenbildern hat in der modernen Soziologie der Begriff der »Konstruktion des Fremden« Verbreitung gefunden. Zu den wesentlichen Bestandteilen des Konstruktionsparadigmas gehört die Annahme, dass soziopsychologische Kategorien wie »das Eigene«, »das Andere« oder »das Fremde«, die ihrerseits Bestandteil der öffentlich-diskursiven wie rechtlichen Definition von »Volk«, »Nation«, »Staatsangehörigen« und »Ausländern« sind, im Kern als Ergebnis gesellschaftlicher Definitionsvorgänge anzusiedeln sind. »Fremdheit« ist aus anthropologischer Sicht keine konstante Größe, sondern ein sozialer Akt der Trennung in in-groups und out-groups, der auf Identifikationsbedürfnissen und dem Glauben an eine Differenz beruht, der so fundamental ist, dass er das politische und soziale Miteinander von Staaten und Gesellschaften (etwa im Nationenbegriff) prägt. Religion bzw. Kultur werden hier quasi zu »natürlichen« Differenzmerkmalen, die das Zusammenleben der Gruppen erschweren oder unmöglich machen. Wenn Islambilder in den Einzugsbereich der Konstruktion des Fremden gelangen, das heißt, wenn die produzierten Vorstellungen über die islamische Welt zu Differenzkriterien der sozialen Gruppendefinition werden, so bedeutet dies, dass ihre Eigenschaften von der Ebene transkultureller Vorstellungswelten zu Faktoren des sozialen Alltags (Mikroebene), des institutionellen Verhaltens (Mesoebene) oder der Innenpolitik (Makroebene) werden können. Welche Implikationen besitzen also die ermittelten Islambilder für die Konstruktion des Fremden? Öffentliche Islambilder tragen deutliche Züge einer Art kollektiven Wahrnehmungsextremismus. Vorgänge wie die Reduktion der Komplexität zugunsten einer Pars-pro-Toto-Sicht des Islams, in der eine Vielzahl religiöser, politischer und sozialer Lebensrealitäten auf ein einziges Phänomen, den radikal-fundamentalistischen und fanatischen Islam, beschränkt werden, sind ebenso wie die anderen ermittelten Wahrnehmungs- und Konstruktionsprinzipien der Islambilder eigentlich typisch für die Welt- und Feindbilder extremistischer politischer Gruppierungen (Funke 1986, S. 132-136). Zu erkennen ist eine unerwartete strukturelle Verwandtschaft zwischen verbreiteten demokratischen und extremistischen Fremdbildern. Das öffentliche Islambild ist hochgradig selektiv, parolenartig stereotyp, stark abwertend und, analog ideologischen Denkschemata, modellhaft geschlossen. Es ist eine starke Tendenz zu einem »radikale[n] Denkstil« zu erkennen, wie Aleida und Jan Assmann den Hang

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zu dualistischen Wertemustern, logischen Zwangsalternativen und absoluten Wahrheiten beschreiben und den sie als Wesensmerkmal auch der profanen Gesellschaft der westlichen Moderne im Kulturkonflikt betrachten (Assmann/ Assmann 1990, S. 25f.). Hinzu kommt, dass auch die Einbettung des Islams in eine Weltanschauung der kulturellen Differenz im Zusammenhang mit einer Entwicklung des modernen Rassismus zu stehen scheint, der, wie bereits erörtert, als »Rassismus ohne Rassen« (Balibar) weniger physische Merkmale als vielmehr die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur zum obersten Differenzkriterium erhebt (vgl. a. Bühl 2010, S. 293f.). Weite Teile der europäischen öffentlichen Meinung teilen Ideen einer fundamentalen kulturellen oder sogar anthropologischen Differenz zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, wie sie in der »neuen Rechten« verbreitet sind (Höhne 1995, S. 74-79). Dichotome Bilder wie »moderner Westen« vs. »rückständigen Islam« oder »friedlicher Westen« vs. »gewaltsamen Islam« führen nahezu unweigerlich zu sozialen Grenzziehungsprozessen, die sich durch ein hohes Maß an latenter Gewalt auszeichnen, da »das Eigene« und »das Andere/Fremde« als Gegensatz konstruiert werden. Seit der Jahrtausendwende hat es sogar immer wieder Hinweise darauf gegeben, dass der Islam zum Anlass einer Rückentwicklung vom Kultur- zum genetischen Rassismus werden kann. Nicht nur haben Genetiker wie Charles Watson längst beantwortet geglaubte Fragen wie die nach der angeborenen Intelligenz von »Schwarzen« und »Weißen« erneut aufgegriffen. Auch populäre Islamkritiker wie Oriana Fallaci in Italien oder Thilo Sarrazin in Deutschland haben biologistische Metaphern und Hinweise auf Vererbung in ihre Werke gestreut und sind dabei in Europa zu absoluten Bestsellerautoren geworden. Thilo Sarrazin: »Es ist bekannt, dass der Anteil der angeborenen Behinderungen unter türkischen und kurdischen Migranten weit überdurchschnittlich ist.« (Sarrazin 2010, S. 316)53 Oder: »Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.«54 Diese Ideen sind vielfach verbunden mit einem Wiederaufleben des Sozialdarwinismus – und das in Zeiten der europäischen Finanz- und Wirtschaftskrisen. Natürliche Eigenschaften führen demnach zu gesellschaftlicher Selektion, zu Segregation und zu Auslese, es gelten die Gesetze des natürlichen Überlebenskampfes, nicht die der gesellschaftlichen Anerkennung. Allerdings ist die Verwandtschaft zwischen Biologie und Sozialdarwinismus nur vordergründig, denn letzterer bedient sich einer vulgären Form des Darwinismus. Die Evolutionstheorie hat den Einfluss von Umweltfaktoren auf menschliche Lernprozesse nie geleugnet. Angesichts der ungeheuren Popularität von Autoren wie Fallaci oder Sarrazin in Europa spricht Albrecht von Lucke zu Recht von einem neuen »Eliten-Rassismus«, von einer Verschiebung der Mitte zu Ideen der Ungleichheit und zu einer »Relativierung des Gleichheits- und Gerechtigkeitsgebots« sowie von einer neuen »bürgerlichen Koalition« (von Lucke 2009, S.  58). Tatsäch-

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lich wird man feststellen müssen, dass die extrem selektive, mit kultureller oder auch genetischer Ungleichheit argumentierende Haltung gegenüber Islam und Muslimen (oft auch Arabern, Türken und Iranern) eine neue Form rassistischer Salon-Islamophobie ist, die weit im europäischen Bürgertum verbreitet und wenig tabuisiert ist. Der Differenzialismus einer fundamentalen Unterscheidung der Botschaften des Islams und des Christentums bzw. des Westens, mehr noch, des Religions-, Menschen- und Gesellschaftsbildes von Muslimen und Christen oder Europäern tendiert dazu, den Islam pauschal als die unterlegene, negativ besetzte, belastete Religion und Kultur zu betrachten und ist damit in nuce durchaus als rassistisch zu bezeichnen, da er zu keiner Differenzierung von Strömungen, Akteuren usw. fähig scheint und seine Kritik nicht fundiert. Die Übertreibung vermeintlicher kultureller Differenzen ist in der Forschung auch schon als »verstecktes Vorurteil« tituliert worden (Zick et al. 2011, S. 35). Zwar gibt es formal Unterschiede zwischen stereotypen Islambildern, da diese nicht immer explizit abwertend und feindbildartig sein müssen, sondern zum Teil schlicht essenzialisieren und kulturalisieren. Dass der Islam als »anders« betrachtet wird, heißt nicht zwangsläufig, dass er auch als »schlechter« als die eigene Religion und Kultur gesehen wird. Allerdings sind Differenzialismus, Kulturalismus und Rassismus vielfach Weggefährten. Zum Beispiel ist es nicht das Gleiche, ob man den Islam »nur« als anders – zum Beispiel glaubensstrenger – erlebt oder auch als unverträglich mit der eigenen Kultur. Spätestens bei der zweiten Variante setzt die Frage ein, ob »Unverträglichkeit« nicht doch bedeutet, dass man Muslime eben nicht »verträgt«, also gering schätzt. Schließlich geht es in einer liberalen Gesellschaft nicht darum, dass der Bürger einen »fremden« Lebensstil übernehmen muss, sondern dass er ihn in seinem Lebensumfeld ertragen können und sich gelegentlich mit ihm auseinandersetzen muss. Differenzialismus und Kulturalismus können daher als eine Art Krypto-Islamophobie fungieren, da sie einer extremen Wahrnehmung der Muslime als dem stereotypen Anderen Vorschub leisten, zu dem eine Beziehung nicht gewünscht wird. Die meisten demoskopischen Umfragen oder sozialwissenschaftlichen Studien sind aber eindeutig und zeigen, dass klar abwertende Bildkulturen des Islams, also explizite Islamophobie, heute in Europa mehrheitsfähig sind. Die Varianten der Islamophobie kommen nicht nur in anti-islamischen Äußerungen, sondern auch in Positionen zur Geltung, die vorgeben, auf die Anerkennung des Islams zu zielen. In solchen Reden wird dann zwar beispielsweise zu Akzeptanz und Toleranz der Muslime aufgerufen, weil diese von Rechts wegen Teil der freiheitlichen Ordnung seien. Dem Toleranzangebot folgt aber keinerlei Hinweis auf mögliche Gemeinsamkeiten mit Muslimen und dem Islam – etwa durch eine Besinnung auf die bekannte Toleranzgeschichte des Islams, auch und gerade im Hinblick auf das Judentum –, sondern hervorgehoben wird etwa, dass in der islamischen Welt Christen verfolgt werden und dies

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durch den Koran gestützt sei – in Kairo allein gibt es hunderte von Kirchen. Das Christentum wird hingegen als im Kern reformiert, friedliebend und tolerant dargestellt.55 Eine solche Toleranzphilosophie ist aber nicht weiterführend. Unter der Oberfläche der staatsbürgerlichen Duldung schlummern vielmehr Essenzialismus und Islamophobie. Aus Sicht der multikulturellen Liberalismustheorie sind dies »Pseudo-Anerkennungen«. Der Begriff der »Salon-Islamophobie« evoziert den Vergleich mit dem »Salon-Antisemitismus« (s.o.). Eine Reihe von Autoren haben mittlerweile auf die Verwandtschaft dieser Phänomene hingewiesen (u.a. Heitmeyer 2005, S.  20; Benz 2009; K. Hafez 1999a; Schiffer 2009). Ein Vergleich bietet sich weniger mit dem Judenbild der Nationalsozialisten an, sondern eher mit dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, der subtiler war. Micha Brumlik: »Nein, die Türken von heute sind nicht die Juden von gestern, aber vielleicht ähnelt ihre Lage doch den Juden von vorvorgestern.«56 Theologische Klischees (Juden als Jesusmörder, Muslime als Bedrohung des Christentums) vermischen sich in beiden Fremdbildern mit der Angst vor der Unterwanderung oder Eroberung Europas oder seiner Staaten, der ideologisch-theologisch gestützten Verschwörung. Auch wenn es sicher zahlreiche Bildunterschiede gibt, die vor allem in der ganz anderen Weltposition von Juden und Muslimen begründet sein dürften – Juden sind nur in Israel majoritär, Muslime in zahlreichen Staaten der Erde –, die historisch-diachronen Bildübereinstimmungen zwischen dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und der Islamophobie der Gegenwart sind teilweise so ausgeprägt, dass Ignatz Bubis, der langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, 1999 feststellte, dass Antisemitismus und Islamophobie im Grunde ähnliche Phänomene wären und dass dem negativen Islambild heute die gleichen Fehlinformationen zugrunde liegen würden, die früher zur Verachtung des Judentums geführt hätten (Bubis 1999; K. Hafez/Steinbach 1999). Eine Untersuchung der Universität Zürich im Auftrag der Anti Defamation Kommission (ADL), B’nai B’rith Zürich und der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus fand 2004 heraus, dass ungeachtet der historischen Verwandtschaft das Bild von Juden und Muslimen in der Schweiz gegenwärtig denkbar ungleich ist: Juden werden überwiegend positiv wahrgenommen, Muslime negativ, Juden tendenziell eher als Opfer von Antisemitismus, Muslime als terroristische Täter, mit der einzigen Ausnahme des Nahostkonflikts, wo Täter und Opfer auf beiden Seiten erkannt werden (Meier et al. 2004). Parallelen zwischen Antisemitismus und Islamophobie sind also nicht zu allen Zeiten gegeben, die Bilder von Religionsgruppen weisen zeitgenössische Schwankungen auf. Die strukturellen Bildverwandtschaften sind daher primär diachron im Vergleich des aktuellen Islambildes mit dem historischen Judenbild zu sehen. Islamophobie ist heute im Mainstream der europäischen Bürgergesellschaft zu Hause, während der Antisemitismus weitgehend an die extremen Ränder verbannt werden konnte.

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Es stellt sich insgesamt die Frage, ob zwischen dem »Feindbild Islam« in der allgemeinen europäischen Öffentlichkeit und der aggressiven Ausländerfeindlichkeit in extremistischen Kreisen nicht ein enger Zusammenhang besteht. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, zwischen der durch »Wahrnehmungsextremismus«, Kulturalismus und pauschaler Abwertung geprägten Konstruktion des islamischen »Fremden« – sie kann als mainstream-Islamfeindlichkeit bezeichnet werden – und dem anti-islamischen Rassismus, wie er im Bereich des Rechtsextremismus in Europa anzutreffen ist, zu unterscheiden. Hier zeigt sich, dass der Rassismusbegriff zur Erforschung der Beziehungen zwischen Mehrheitsmeinung, Extremismus und Diskriminierung nur begrenzt geeignet ist (Bielefeld 1991, S. 18). Islamophobie ist nicht identisch mit rechtsextremistischem Rassismus, auch wenn es häufig eine »gar nicht so geheime geteilte Problemsicht« gibt (Bielefeld 1993, S. 37). Die Gemeinsamkeit zwischen mainstream-Islamfeindlichkeit und rechtsextremistischer Islamophobie besteht darin, dass beide übereinstimmend dazu neigen, vermittels einer gestörten Realitätswahrnehmung eine essenzielle Differenz zwischen islamischer und westlicher Welt und eine damit verbundene pauschale Aburteilung des Islams zu konstruieren. »Das Fremde« wird von den europäischen Mehrheiten und ihren rechtsextremistischen Minderheiten ähnlich definiert, die Umgangsformen sind hingegen sehr verschieden. Es ist davon auszugehen, dass sich die Mehrheit von der Minderheit durch ihren Mangel an Gewaltbereitschaft unterscheidet. Anders ausgedrückt: Die Mehrheit mag einen islamophoben Rassismus pflegen, sie steht aber ganz überwiegend zum Konsens staatsbürgerlicher Werte, was Gewaltfreiheit beinhaltet (Kap. I.4). Es ist sogar davon auszugehen, dass die Islamophobie der Mehrheit geradezu nicht-intentional ist: Sie muss keinen politischen Zweck im engeren Sinne verfolgen und auch nicht politischideologisch geprägt sein, sondern ist schlicht als Vorurteilsstruktur im europäischen Bilderbe angelegt, wurde seit der Iranischen Revolution nachhaltig von vielen Medien aktualisiert und wird nun im Wechselspiel von Medien, sozialen Meinungsführern und den Institutionen der primären, sekundären und tertiären Sozialisation weitergereicht. Die Mehrheit ist islamophob und rassistisch, sie verfügt aber über kein geschlossenes rassistisches Weltbild, das auch Gewalt einschließt. Wahrscheinlich hält die Mehrheit ihre eigene Islamophobie nicht einmal für rassistisch. Gleichwohl ist mit Andreas Zick festzustellen, dass auch »in den öffentlichen Debatten Konzepte von Fremdenfeindlichkeit, Vorurteilen, Rassismus generiert« werden (Zick 1994, S. 119). Während des islamophoben Massakers und Bombenattentats in Norwegen 2011 kam in Europa daher auch erstmals eine Debatte auf, in der teilweise infrage gestellt wurde, ob der Täter Anders Breivik ein »lone wolf« ist oder ob die Mehrheitsgesellschaft durch ihre hoffähig gewordene Islamophobie eine Mitverantwortung trägt (s.u.). Dabei geht es nicht nur um die weitgehend geteilte Weltsicht, sondern auch darum, dass

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eine verbindliche Tabuisierung der Islamfeindlichkeit in der europäischen Kultur bis heute nicht existiert. Bereits Edward W. Said hat hierzu angemerkt: »Für keine andere ethnische oder religiöse Gruppe trifft zu, dass man über sie, ohne Einwände oder Widerstände befürchten zu müssen, alles schreiben oder sagen kann.« (Said 1995, S. 287) Genau dies aber wäre die Aufgabe einer neuen Politik und Kultur der Anerkennung in der liberalen Gesellschaft, wie sie theoretisch bereits vorgedacht ist. Hinzu kommt, dass die Islamophobie der bürgerlichen Mehrheit vielleicht ursprünglich nicht-intentional und geradezu unbewusst als soziales Vorurteil entwickelt worden ist, spätestens seit 2001 aber deutlich erkennbar ist, dass Neopopulisten, Rechtsextreme und viele andere Akteure der Gesellschaft recht erfolgreich eine sekundäre Ideologisierung betreiben. Gerade rechte Neopopulisten geben der bürgerlichen Islamophobie zunehmend eine politische Stoßrichtung, die diese in den 1990er Jahren noch nicht hatte (s.u.). Wenn man feststellt, dass in Europa eine bisweilen hegemoniale Tendenz zu einer kultur-rassistischen Sicht des Islams und zur Intoleranz gegenüber der sozialen Gruppe der Muslime besteht, so wird man auch eine deutliche Kluft zwischen dem politischen System der liberalen Demokratie und den gesellschaftlich-kulturellen Befindlichkeiten Europas erkennen müssen. Die Frage ist, wie ein politisches System, das nicht nur Rechte der privaten Religionsfreiheit sichert, sondern auch Gleichbehandlung der Religionen durch den Staat fordert und diese Gleichbehandlung, wenn auch langsam und widersprüchlich, in wachsendem Maße realisiert, auf Dauer Bestand haben kann, wenn eine Mehrheit der europäischen Bevölkerungen im Grunde das Gegenteil wünscht: Ungleichbehandlung, Diskriminierung, Exklusion des Islams aus Staat und Öffentlichkeit, sogar Einwanderungsverbote und physische Verdrängung. Momentan hält das Band der liberalen Demokratie noch, da auch die Mehrheit derjenigen, die den Islam ablehnen, die Verfassungen und Grundregeln des Systems bejaht. In den USA aber ist bereits in Umfragen deutlich geworden, dass die Gratwanderung, die eine solche »Duldungsgesellschaft« macht, langfristig kaum zu bewältigen sein wird und sehr rasch scheitern kann. Die Ablehnung einer religiösen und sozialen Minderheit schlägt dann in den Ruf nach einer Einschränkung von Grundrechten um. Die Tendenz zur Verbesserung von staatlichen oder politischen Repräsentationsrechten würde aus dem Bereich der Parteien und der Legislative einem starken Gegendruck ausgesetzt und es ist fraglich, wie standhaft die anderen Gewalten des Staates in einer solchen Situation sein könnten. Für die Zukunft gibt es zwei denkbare Szenarien: einen Zerfall der politischen Ordnungen mit unabsehbaren Folgen oder eine kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung, wobei sich das bürgerliche Europa zumindest in Teilen von der negativen Toleranz ab- und der positiven Anerkennung der muslimischen Minderheit zuwendet, so dass ein neuer Konsens einer multikulturellen liberalen Gesellschaft entstünde. Konservative Ansätze der »Leitkultur« und

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»Integration« sind zwar der Versuch eines gesellschaftlichen Kompromisses, sie geben aber dem Ressentiment der Mehrheit letztlich zu viel Raum, tendieren dazu, Grundrechte nur im privaten Rahmen zugestehen zu wollen und die staatliche und öffentliche Sphäre weiter zu majorisieren. Konservative Ideologien sind insofern aus theoretischer Sicht geradezu ein exaktes Abbild und ein Ausdruck der derzeitigen Schizophrenie Europas zwischen dem Liberalismus weiter Teile des politischen Systems und der Intoleranz weiter Teile der Gesellschaften. Bevor wir in die nähere Analyse der neopopulistischen Parteien eintreten, die eine Politik einer Mehrheitsdiktatur gegen die liberale Ordnung betreiben und die labile Balance zwischen System und Gesellschaft zu Fall bringen wollen, ist es interessant zu sehen, dass spätestens seit 2001 eine Reihe von westlichen Politikern den drohenden Bruch zwischen politischer und gesellschaftlicher Ordnung beim Thema Islam bereits erkannt haben. Der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, warnte 2004 vor Islamophobie und bezeichnete sie als eine der übelsten Formen religiöser Intoleranz. Muslime wären im Westen allzu oft Verdächtigungen, Einschüchterungen und Diskriminierungen ausgesetzt.57 Die Deutsche Islam Konferenz wurde 2006 mit dem Hinweis eröffnet, dass »Rassismus, Antisemitismus und Extremismus« bekämpft werden sollten (Deutsche Islam Konferenz 2009, S. 7). Auch wenn hier der Begriff der »Islamophobie« noch vermieden wurde, kritisierte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble in einer späteren Rede die Verzerrungen des Islambildes und sprach von einer »emotionalen Kluft zwischen den Menschen«, die ihm große Sorge bereiten würde (Deutsche Islam Konferenz 2009, S.  23) – konservative Sprechformeln, hinter denen sich eine Kritik am Rassismus der Bevölkerung verbarg. Auch während der Debatte um die fremdenfeindliche Streitschrift »Deutschland schafft sich ab« (2010) von Thilo Sarrazin wurden die unterschiedlichen Befindlichkeiten in der deutschen Bevölkerung deutlich. Während die Bundesbürger seinen Thesen in hohem Maße zustimmten, wurde Sarrazin vonseiten der Bundeskanzlerin Angela Merkel und anderen Spitzenpolitikern heftig kritisiert und aus dem Amt gedrängt. Die System-Gesellschafts-Kluft bei der Frage des Islams wird heute auch von denjenigen konservativen Kommentatoren bemerkt, die eher auf der Seite der gesellschaftlichen Islamophobie als auf der der multikulturellen Anerkennung stehen. Alexander Gauland: Es ist die Abgehobenheit einer politischen und medialen Elite, die eine Realität nicht akzeptieren, ja nicht einmal diskutieren möchte, weil sie das offizielle Bild einer multikulturellen Gesellschaft stört […]. Auf Dauer aber hat noch keine Gesellschaft überlebt, die die Realität aus- und die sie Benennenden am liebsten einsperren möchte. Die DDR war nicht das erste, wohl aber das letzte Beispiel für den daraus folgenden selbstverschuldeten Untergang. 58

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Der Analyse einer Kluft zwischen politischem System und weiten Teilen der Gesellschaft stimmt dieser Autor zu, auch wenn er hinsichtlich ihrer Bewertung der Ansicht ist, das System müsse sich auf die Gesellschaft zubewegen, indem es jeden Versuch einer multikulturellen Anerkennungspolitik aufgebe. Dass man diese Wertung auch umkehren kann, ja aus Sicht des liberalen Gesellschaftsbildes sogar umkehren muss, indem man darauf hinweist, dass große Teile der europäischen Gesellschaften beim Thema Islam zeigen, dass sie die für den Systemerhalt notwendigen Werte der positiven Toleranz nicht verinnerlicht haben, sondern Muslime als gefährliche und unliebsame Gruppe isolieren wollen, erkennt der konservative Gauland nicht. Er macht sich zwar berechtigte Sorgen um die Systemstabilität, möchte sie aber zur Seite des »Volkswillens« auflösen, ohne darauf einzugehen, dass eine Gleichberechtigung von Muslimen in Justiz, Staat und Öffentlichkeit auf diese Art nicht erreicht werden kann. Muslime sind in dieser Analyse die nicht-assimilierten Störenfriede einer Bürgergemeinschaft, deren Bereitschaft zu staatsbürgerlicher Duldung einer unliebsamen Minderheit sich dem Ende zuneigt. Bemerkenswert ist auch, dass Gauland davon ausgeht, dass der Multikulturalismus das herrschende Leitbild der amtierenden konservativen Regierung Merkel sei: was insofern verwundert, als Angela Merkel und die CDU immer wieder gegen den Multikulturalismus polemisiert haben, zugleich aber die Sichtweise bestätigt, dass die CDU in ihrer Rolle als Regierungspartei de facto erhebliche Fortschritte bei der Anerkennung der Muslime gemacht hat (Kap. I.2). Interessant an der Analyse Gaulands ist also die zutreffende Annahme eines drohenden Bruchs zwischen System und Gesellschaft bei der Islamfrage. Wenig plausibel ist neben der islamophoben Grundüberzeugung der gegen die eigenen konservativen Eliten gerichtete Furor. Die Kontroverse um Sarrazin zeigte, dass der konservative assimilatorische Islamkonsens Risse bekommen hat. Nicht nur die christdemokratische Regierung Merkel, sondern auch konservative Intellektuelle wie etwa Frank Schirrmacher, Herausgeber der einflussreichen Tageszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung, standen Sarrazin eher kritisch gegenüber und teilten dessen Feindbilder nicht ohne Weiteres. Man kann von der Herausbildung eines »modernen Konservatismus« sprechen, der allerdings nicht als strategische Gruppe zu betrachten ist. Schirrmacher zum Beispiel verkennt die Gefahr eines System-Gesellschafts-Bruchs, die sich bei der Frage des Islambildes deutlich zeigt. Aus seiner Sicht gibt es in Deutschland kein Problem des Rassismus, sondern das Land hat seit 1945 ein »Gespür für Rassismen und Totalitarismen aller Art« entwickelt59: eine These, der die deutschen islamophoben Umfragewerte widersprechen. Diese Analyse mag allenfalls für den Antisemitismus weitgehend zutreffend sein (s.u.). Der Mythos einer vom Rassismus gereinigten und befreiten Gesellschaft führt in der Betrachtung Schirrmachers offensichtlich zur Verdrängung neuer Gefahren. Dass Deutschland eine Gesellschaft ist, die zwar in den vergangenen Jahrzehnten

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den Antisemitismus nachhaltig bekämpft hat, aber die Lektion einer notwendigen Übertragung des Antirassismus auf andere ethnische und religiöse Minderheiten nicht gelernt hat, wird ignoriert. Insgesamt also zeigen sich im konservativen Lager bei der Frage des Islams heute sehr unterschiedliche Sichtweisen: • eine eher aufgeklärte Sicht des Islams, die zu verstärkter staatsbürgerlicher Gleichstellung der Muslime bereit ist, die daraus entstehenden Probleme des drohenden System-Gesellschafts-Bruchs aber entweder verklärt (z.B. Schirrmacher) oder nur sehr zaghaft thematisiert (z.B. Schäuble), zumal ja die eigene Klientel in hohem Maße islamophob geprägt ist; • eine eher islamfeindliche Sicht, die den eigenen Eliten zu viel Entgegenkommen vorwirft und offensichtlich einen Roll-Back der im Ansatz erkennbaren konservativen Dialog- und Anerkennungspolitik wünscht (z.B. Gauland). Diese Unterscheidung ist im Hinblick auf die neu entstandenen neo- bzw. rechtspopulistischen Parteien in Europa interessant, da diese als die neuen bürgerlichen Vertreter eines konservativen Roll-Back der begonnenen Anerkennungspolitik gelten können und die Balance des Systems der »liberalen Demokratie« gefährden. Sie wollen das Kräfteverhältnis in den Beziehungen zwischen politischen Systemen und Gesellschaften zugunsten der Gesellschaft verschieben. Hegemoniale Anschauungen der Mehrheitsgesellschaft sollen den staatlichen und öffentlichen Raum wieder zurückerobern. Schulen und andere Institutionen müssen von Symbolen der Anwesenheit der Muslime befreit werden, Moscheen, soweit ihr Bau überhaupt erlaubt wird, werden an die Peripherie verdrängt und sollen ohne Minarette unscheinbar bleiben, dominiert von einer christlichen Prägung der Institutionen und des Staates, die zu der Tradition des Landes erklärt wird. Dass dies nicht nur die rechtlichen Gleichstellungsansätze der letzten Jahrzehnte, sondern auch individuelle Rechte der Religionsfreiheit konterkariert, wird zwar offiziell bestritten, da man sich zu den freiheitlichen Verfassungen bekennt, das Spannungsverhältnis ist aber unverkennbar. Rechtspopulisten sind Radikaldemokraten, die der Mehrheit zur vollständigen Dominanz verhelfen wollen – hier verdienen sie ihre Bezeichnung als »populistisch« – und die Probleme mit dem »liberal« in der Formel der »liberalen Demokratie« haben. Da Liberalität aber zu den freiheitlichen Ordnungen Europas gehört, sind Spannungen zwischen den politischen Systemen und den Rechtspopulisten in Europa unausweichlich. Die Frage, die sich also letztlich stellt, ist, ob diese angeblich verfassungskonforme Bewegung im Fall von Regierungsübernahmen nicht doch elitenstürmerisch und systemverändernd wirken würde. Bislang operieren die meisten Rechtspopulisten noch unterhalb der Schwelle einer offenen Konfrontation der Systeme. Ihre Hauptfunktion besteht vielmehr im Anheizen der gesellschaftli-

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chen Spannungen zwischen Bevölkerungsmehrheiten und den Muslimen Europas. Man muss allerdings das Wählerpotenzial dieser Parteien mit etwa einem Drittel der europäischen Bevölkerungen veranschlagen – mehr haben auch die Nationalsozialisten unter Hitler in freien Wahlen nie erreicht. Dieses Drittel der Gesellschaft bekennt sich offen zu ausländerfeindlichen Aussagen wie »Ausländer wollen nur den Sozialstaat ausnutzen«. Solche Einstellungen sind im Laufe der 2000er Jahre stärker geworden und sie sind von den Rändern in die »Mitte« der europäischen Gesellschaften gerückt (O. Decker/Brähler 2008; O. Decker et al. 2008, 2010). Auch wenn vor leichtfertigen Vergleichen mit dem Nationalsozialismus zu warnen ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass, sollte der Fall eintreten, dass rechtspopulistische Parteien die Regierungsführung in europäischen Nationalstaaten übernehmen und nicht nur Juniorpartner sind wie in Finnland, Dänemark oder Österreich, sich der aufgestaute Furor der Mehrheit gegenüber dem Islam systemgefährdend auswirkt. Der amerikanische Liberalismustheoretiker Alan Wolfe hat die Härte und Kälte neopopulistischer Parteien als »reaktionär« bezeichnet und wie folgt charakterisiert: One finds in them no generosity of spirit toward people whose conditions of life have been difficult in the extreme; no heartwarming accounts of their courage in leaving one land and try and achieve success in another; no sense that all cultures have something to value; no appreciation of the underlying universality of all people whatever their national differences; no recognition of the fact that peace among cultures is a worthier objective than war between them; and no acknowledgement the society being protected, far from being flawless, could use an injection of new ideas and entrepreneurial energy. (Wolfe 2009, S. 204)

Gegen Ausländer und Einwanderer gerichtete Propaganda war immer ein wesentlicher Teil der rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien Europas. Seit den Attentaten von 2001 aber hat Fremdenfeindlichkeit einen spezifisch gegen den Islam und Muslime gerichteten Einschlag bekommen (Cesari 2006, S. 31; Hartleb 2011, S. 29f.; Ehrke 2002, S. 17). Islamfeindliche Polemik ist in diesen Kreisen nicht neu. Bereits 1990 schrieb Beat Christoph Bäschlin, Mitarbeiter der rechtsradikalen Zeitschrift »Junge Freiheit« ein Pamphlet »Der Islam wird uns fressen!«, in dem er Frankreich als Brückenkopf einer islamischen Invasion Europas beschrieb (Bäschlin 1990). In den 1990er Jahren warfen Rechtsradikale in ganz Europa gerade den Muslimen immer wieder vor, ihre Gastgeber zu »plündern«, »zu unterdrücken« und das christlich geprägte Europa zerstören zu wollen (Pinn 2000, S. 94). In den 2000er und 2010er Jahren aber hat sich die Islamophobie in den nun zahlreicher werdenden rechtspopulistischen Parteien in Europa inflationär entwickelt:

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• Österreich – Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und Bündnis Zukunft Österreich (BZÖ): Diese Parteien gehören durch die langjährige Leitung des mittlerweile verstorbenen Jörg Haider zu den ältesten rechtspopulistischen Parteien Europas. Der Vorsitzende der FPÖ, Heinz Christian Strache, bezeichnete den Islam schon einmal als »Faschismus des 21. Jahrhunderts« und wendete sich gegen Moscheen und Minarette, die nicht in europäische Landschaften passten.60 Die Parteien treten für ein Verbot von Minaretten und Kopftüchern ein61 und sprechen von einer »schleichenden Islamisierung« Europas (Bauer 2011, S. 58). • Frankreich – Nationale Front (Front National; FN): Die von Jean-Marie Le Pen aufgebaute Partei ist zusammen mit Haiders FPÖ so etwas wie die »Urmutter« der modernen rechtspopulistischen Parteien in Europa. Le Pen war so erfolgreich, dass er 2002 in die Stichwahl um das Amt des französischen Präsidenten gelangte. Seine Nachfolgerin und Tochter Marine Le Pen hat die islamophobe Diktion der Partei verschärft: Sie nennt Muslime Besetzer des französischen Territoriums und beschimpft alle Muslime, Islamisten zu sein.62 • Dänemark – Dänische Volkspartei (Dansk Folkeparti; DF): Das wichtigste Thema der Partei ist die Forderung nach einem Einwanderungsstopp und die Warnung vor angeblichen »kriminellen Ausländern und Islamisten« (Beer 2009, S. 95). • Finnland – »Wahre Finnen«/»Basisfinnen« (Perussuomalaiset; PS/PERUS): In ihren Reihen sind bekannte Islamhasser aktiv, etwa Jussi Halla-aho, der den Propheten Mohammed als Pädophilen bezeichnete oder über genetische Ursachen des Diebstahls räsonierte.63 • Die Niederlande – Freiheitspartei (Partij voor de Vrijheid; PVV): 2010 gewann der Rechtspopulist Geert Wilders mit seiner Partei 21,6 Prozent aller Stimmen bei den Kommunalwahlen und wurde damit zweitstärkste Kraft im Land. Zwar erlangte er bei den Parlamentswahlen im gleichen Jahr nur noch etwa 15 Prozent, wurde mit dem Ergebnis aber drittstärkste Partei. Wilders ist einer der schärfsten und klar islamophoben Islamkritiker, der den Koran als faschistisch bezeichnet, von muslimischen Randalierern spricht oder davon, dass Muslime mit ihren Zahnbürsten den Bürgersteig säubern sollten (Langenbacher/Schellenberg 2010) – eine fatale Reminiszenz an die Behandlung der Juden, die während der Naziherrschaft in Deutschland zu solchen Dingen gezwungen wurden. Wilders gewann Wahlen, indem er sich für einen Baustopp von Moscheen und ein Einreiseverbot für Muslime einsetzte. Er propagiert undifferenziert, der Islam sei eine Bedrohung für den westlichen Lebensstil. Trotz seiner Beliebtheit und Erfolge hatte er wegen seiner offenen Islamophobie Schwierigkeiten mit den etablierten Parteien, die diese Parolen ablehnten.

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• Schweden – Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna; SD): Das Land galt lange als Bastion des nordeuropäischen Liberalismus, aber 2010 zogen erstmals die Rechtspopulisten der Schwedendemokraten in den Reichstag ein. Ihr größter PR-Coup bestand in der Verbreitung eines Fotos, auf dem eine Gruppe von Burka-Trägerinnen zu sehen war, die in einer Warteschlange für Sozialleistungen anstand.64 • Italien – Liga Nord (Lega Nord; LN): Sie ist eine der ältesten rechtsgerichteten Parteien mit Tendenz zum Rechtspopulismus, die nicht nur gegen Zuwanderung aus islamischen Ländern agitiert, sondern regionale Initiativen gegen Moscheebauten oder islamische Schulen unterstützt (Bauer 2011, S. 75). • Schweiz – Schweizerische Volkspartei (SVP): Sie wurde international bekannt, als auf ihr Betreiben hin 2009 das Verbot des Baus von Minaretten per Volksentscheid in der Schweiz durchgesetzt wurde (Kap. I.1). Die Partei lehnt alles ab, was aus ihrer Sicht religiöse Sonderrechte sein könnten, also besondere Beerdigungsregeln für Muslime, deren Einführung man tatsächlich eher als Akt der Gleichberechtigung betrachten müsste. Mit dem Erfolg der Schweizerischen Volkspartei 2009 und Wilders’ Wahlsiegen in den Niederlanden kam es gegen Ende der 2000er Jahre zu einer »zunehmend islamophoben Stimmung«65 und zu einer sehr weitgehenden Politisierung der Islamfeindlichkeit in Europa. Allerdings lässt sich am Beispiel der Schweizerischen Volkspartei demonstrieren, dass Rechtspopulisten ihre Islamgegnerschaft zum Teil geschickt verpacken. Die Partei kommt zumindest in ihrem offiziellen Parteiprogramm ohne die üblichen Klischees aus, argumentiert also im engeren Sinne nicht islamophob, sondern konzentriert sich stattdessen mit einer extremen Selektivität auf Phänomene, die gegen die Menschenrechte verstoßen und daher weitgehend konsensfähig auch bei Menschen sein dürften, die nicht islamfeindlich sind. Man spricht nicht mehr von »den Muslimen« oder »dem Islam«, Muslime tauchen aber ausschließlich in Verbindung mit negativen Praktiken im Parteiprogramm auf – eine Form der »aufgeklärten Islamophobie« durch selektive Wahrnehmung und Agenda-Setting, die uns im Zusammenhang mit dem Medienbild des Islams noch beschäftigen wird (Kap. III.1) und die ebenso wie die klassische Islamophobie (essenzialistischer Rassismus) zur Stigmatisierung der sozialen Gruppe der Muslime beiträgt. Ein Auszug aus dem Parteiprogramm von 2011: Gewiss sympathisiert nur eine kleine Minderheit mit islamistischem Gedankengut. Doch die muslimischen Zuwanderer stammen oft aus Ländern, in denen keine demokratische Rechtsordnung herrscht. Sie bringen Vorstellungen über Recht und Ordnung mit, die mit unserem Rechtssystem und unseren demokratischen Spielregeln nicht vereinbar sind. Unsere freiheitliche Rechtsordnung darf sich unter keinen Umständen der Scharia beugen; unsere Gerichte dürfen einen islamischen ›Kultur-

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ hintergrund‹ keinesfalls als Strafmilderung akzeptieren. Die Duldung und gar Beförderung von Praktiken wie Zwangsheirat, ›Ehrenmorden‹, Blutrache, weiblicher Genitalbeschneidung, Eheschließung mit Minderjährigen oder Vielehen ist hierzulande absolut inakzeptabel. Die feige, eingeschüchterte Haltung gewisser Politiker, Journalisten und Kirchenvertreter ist bedenklich. Auch bei den Linken, den Feministinnen und sogar bei den Gleichstellungsbüros herrscht meist Schweigen. (SVP 2011)

• Norwegen – Fortschrittspartei (Fremskrittspartiet; FrP): Eine der stärksten rechtspopulistischen Parteien Europas, die seit dem kombinierten Bombenattentat/Massaker von Oslo und Utøya 2011 international bekannt wurde, weil der Attentäter sich unter anderem auf die Fortschrittspartei bezog und lange Jahre ihr Mitglied gewesen war, auch wenn sie sich von der Tat distanzierte. Ihr Islambild ist zum Teil offen islamophob, wenn etwa einer der Parteiführer behauptet, alle Terroristen seien Muslime. Zudem wird durch Horrorszenarien ein Klima der Angst erzeugt. Die Vorsitzende der Partei argumentiert, sie habe Angst, in Norwegen könne über Nacht das islamische Recht (Scharia) eingeführt werden.66 • Deutschland – Hier sind rechtspopulistische Parteien nur auf lokaler Ebene erfolgreich, etwa die Partei Rechtsstaatlicher Offensive (»Schill-Partei«), die 2001 bis 2004 an der Hamburger Landesregierung beteiligt war. Versuche der Gründung einer Anti-Islampartei hat es gegeben, sie sind aber gescheitert. In Deutschland sind die »klassischen« rechtsradikalen Parteien wie die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) aktiv. Diese sind immer wieder auch in einzelnen Länderparlamenten vertreten. Ihr Zuspruch liegt aber in der Regel unter 5 Prozent der Wähler und sie gehören mit ihrer traditionellen Systemkritik nicht in die Kategorie des modernen Rechtspopulismus, der eher die Eliten als die Systeme kritisiert. Ob Deutschland aufgrund seiner Geschichte tatsächlich immun ist gegen eine große rechtspopulistische Bewegung, wie es sie mittlerweile fast überall in Europa gibt, ist dennoch fraglich. Als die Sarrazin-Debatte 2010 auflebte, bekannten sich zahlreiche Wähler aller Parteien zu dessen Thesen, und 18 Prozent der Bundesbürger zeigten sich bereit, eine Partei zu wählen, die nach den Ideen Sarrazins – also stark islamkritisch bis islamophob – ausgerichtet wäre.67 Dieser Prozentsatz ähnelt Werten in anderen europäischen Ländern, so dass die Zeitschrift Der Spiegel räsonierte: »Angesichts der Zustimmung für Sarrazin tauchen Zweifel auf, ob es nicht doch einen Bodensatz von Fremdenfeindlichkeit gibt.«68 • Osteuropa – In osteuropäischen Ländern existieren zahlreiche rechtspopulistische Parteien, die ihre Feindschaft gegenüber Roma, Homosexuellen oder Juden oft wenig verklausuliert formulieren. Die »Bewegung für ein besseres Ungarn« (Jobbik Magyarországért Mozgalom; Jobbik) etwa spricht offen von der Überfremdung des Landes, vielfach äußert sie sich auch demokratie-

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feindlich, was sie zu dem eher klassischen Typus einer rechtsextremistischen Partei werden lässt (Mayer/Odehnal 2010). Muslime und der Islam sind bei osteuropäischen Rechtsradikalen oft weniger präsente Feindbilder, da deren Zahl eher begrenzt ist, nur sehr wenige dort leben. Die Nationalpartei in Tschechien aber wendete sich wiederholt gegen den Islam und versuchte eine ähnliche Initiative gegen Minarette zu starten wie die Schweizerische Volkspartei, war damit aber erfolglos (Mayer/Odehnal 2010, S.  156). Auch bulgarische Rechtsradikale mit Kontakten zu westlichen Parteien agitieren vielfach gegen den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, was bei dem verbreiteten Türkenhass im Land auf fruchtbaren Boden fällt (Mayer/Odehnal 2010, S. 266f.). Die wachsende Kluft zwischen der islamophoben Einstellung weiter Teile der europäischen Bevölkerungen und der langsam zunehmenden Integration und Teilhabe von Muslimen in den europäischen politischen und rechtlichen Systemen hat Räume für große Protestparteien eröffnet, die Muslime und den Islam mehr und mehr zum zentralen Feindbild ihrer Ideologie machen. Sie koppeln Fragen der finanziellen und strukturellen Krise Europas, die auch Teile des Bürgertums heute erfasst hat (s.u.), mit der Frage der muslimischen Einwanderung und suggerieren durch fremdenfeindliche und ultranationalistische Ideologien scheinbare politische Lösungen. Diese Parteien haben die Islamophobie keineswegs erfunden, sind aber ein Indikator für deren hohe soziale Akzeptanz in der Mitte europäischer Gesellschaften und tragen zur weiteren Verfestigung und Verbreitung der Islamophobie bei. Sie schüren sozialen Unfrieden und stellen sich aktiv gegen eine positive gesellschaftliche Anerkennung des Islams, die in weiten Teilen der Gesellschaften nach wie vor fehlt. Was das politische System betrifft, so bemühen sich sowohl moderne liberale Segmente der etablierten Politik als auch Rechtspopulisten jeweils um Systemveränderungen: Liberale hin zur effektiven Gleichberechtigung und Anerkennung, Rechtspopulisten zur radikalen Demokratie und zur rassistischen bzw. krypto-rassistischen Hegemonie. Der Dualismus von liberalen und rechtsgerichteten Akteuren der Parteiendemokratie bildet allerdings nur einen Teil der gesellschaftlichen Aktivitäten ab, die sich um die Frage der Islamophobie in Europa ranken. Ähnlich wie Rechtspopulisten und Islamgegner heute nicht nur im Rahmen von Parteien, sondern massiv auch in selbsternannten »anti-islamischen Bewegungen« aktiv sind und sich vor allem über das Internet vernetzen (Kap. III.2), gibt es auch in fast allen Staaten Europas anti-islamophobe Netzwerke. Der Netzwerkbegriff ist allerdings nur schwer genauer zu definieren, denn es handelt sich nicht um feste Bündnisse von Organisationen, sondern eher um gesellschaftliche Bewegungen mit dem Ziel, Islamophobie einzudämmen. Selbst der in der Politikwissenschaft etablierte Begriff der »sozialen Bewegung« wäre hier fehl am Platze, denn anders als etwa in der Umweltbewegung existiert bei anti-islamophoben

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Netzwerken nicht nur eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich der Zahl der Sympathisanten und ihrer Mobilisierungskraft, sondern die sogenannten Sozialen Bewegungsorganisationen (social movement organizations), die, wie etwa Greenpeace, soziale Bewegungen gewöhnlich zusammenhalten, sind hier sehr viel kleiner. Die anti-islamophoben Netzwerke werden von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) angetrieben, in denen in der Regel allenfalls einzelne Repräsentanten der großen Gesellschaftsorganisationen vertreten sind. Nur bei außergewöhnlichen Ereignissen bilden sich um diese Kernstrukturen herum weitgehend spontane Bündnisse, die dann auch weitere Kapazitäten der traditionell gut organisierten antifaschistischen Gruppen sowie der Gewerkschaften, Kirchen und Verbände mit einschließen können. Anders als bei den großen Themen wie »Umwelt« oder »Menschenrechte« oder auch beim allgemeinen Thema »Fremdenfeindlichkeit« existiert derzeit keine klar umrissene Politik der Zivilgesellschaften in Europa gegen Islamophobie. Daher gibt es auch immer wieder Klagen der auf deren Bekämpfung spezialisierten Kräfte, dass sich die großen europäischen Organisationen der Zivilgesellschaft beim Thema »Islamophobie« zu wenig engagierten (Cesari 2006, S. 206). Allerdings zeigt sich, dass neben der verbreiteten Islamfeindlichkeit auch die »kleinen Traditionen« eines aufgeklärten Islambildes fortleben, die es in Europa immer gegeben hat und die in den zeitgenössischen Zivilgesellschaften fest verankert sind. Aus dem »West-östlichen Divan« eines Goethe sind die »islamophilen« Netzwerke der Gegenwart geworden. Die Erdölkrise von 1973 führte zu massiven politischen Spannungen zwischen Europa und der arabischen Welt, aber auch zu der europäischen Erkenntnis, dass die Beziehungen mit der arabisch-islamischen Welt im Bereich der kulturellen Zusammenarbeit intensiviert werden müssten. Seitdem gibt es zahlreiche Kooperationen, bei denen die Frage der Wahrnehmung des Islams und der islamischen Welt eine wichtige Rolle spielt (vgl. u.a. Hopwood 1985; Kaiser/Steinbach 1981). Vielleicht die größte spezialisierte NGO gegen Islamophobie und zugleich eine der ältesten ist das Forum Against Islamophobia and Racism (FAIR) in Großbritannien,69 dessen Aktivitäten vielfältig sind. Die Organisation arbeitet mit Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, dem britischen Parlament, den Kommunalverwaltungen, Ministerien und der Polizei zusammen. Sie betreibt Kampagnen, eine Diskriminierungs-Hotline, politische Lobbyarbeit und Media Watch-Aktivitäten. Ähnlich ausgerichtet ist das französische Collectif Contre l’Islamophobie en France.70 In Deutschland wurde relativ spät ein ähnliches, eher lokales Netzwerk gegen Islamophobie und Rassismus (NIR) in Leipzig71 gegründet. Allerdings ist in Deutschland bereits seit Längerem die Christlich-Islamische Gesellschaft (CIG) aktiv.72 Auch die Islamorganisationen engagieren sich gegen Islamophobie, etwa der Zentralrat der Muslime in Deutschland,73 der gute Kontakte zum Staat und zu anderen NGOs pflegt, auch zum Zentralrat der Juden in Deutschland (K. Hafez/

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Steinbach 1999). Vielleicht am deutlichsten zeigt sich das Vernetzungspotenzial heute beim Interkulturellen Rat,74 in dem unter anderem Vertreter der Wohlfahrtsverbände, türkischer und muslimischer Organisationen, des Zentralrats der Juden in Deutschland, von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften, der Sinti und Roma, der Evangelischen Akademien und der Landeskirchen präsent sind. Allerdings repräsentieren sie nicht ihre Organisationen, sondern sind als einzelne Akteure tätig, wohl mit Billigung und Unterstützung ihrer Arbeitgeber. Ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt, dass es dort ähnliche, oft wenig bekannte, aber immerhin langsam wachsende Netzwerke gibt, was etwa im Rahmen von Protesten gegen den Patriot Act von 2001 sichtbar wurde. Da dieser die Bürgerrechte insbesondere von Muslimen einschränkte, protestierten unter anderem Verbände wie die American Bar Association, die American Civil Liberties Union oder die American Librarians Association (Haddad/Ricks 2009, S. 25). Wenn man heute von einer gesellschaftlichen »Anerkennung« des Islams in Europa sprechen will, so sind die anti-islamophoben Netzwerke derjenige Ort, wo sie bereits am ehesten praktiziert wird. In den Netzwerken wird der Islam und werden Muslime dabei keineswegs idealisiert oder unkritisch behandelt. Rainer Forsts Ansatz des notwendigen Dreischrittes der modernen Anerkennung durch »Ablehnung«, »Akzeptanz« und »Zurückweisung« wird in sehr vielen Zusammenhängen und gerade in den zahlreichen Informations- und Diskussionsveranstaltungen, die gesellschaftliche Organisationen aller Art zum Thema des Islambildes seit Jahrzehnten betreiben, praktisch umgesetzt. Es war in dieser Hinsicht interessant zu beobachten, wie sich 1995 anlässlich der Kontroverse in Deutschland um die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel – es ging um die Frage, ob die Wissenschaftlerin den Mordaufruf gegen Salman Rushdie bagatellisierte – im prinzipiell »islamfreundlichen« Lager ein Streit über Kulturrelativismus und Toleranz entwickelte (Hoffmann 2004). Der Dialog als Form der Anerkennung und Akzeptanz lässt also hinreichend Raum auch für die Zurückweisung menschenrechtsfeindlicher Sichtweisen und Praktiken. Welche spontane Mobilisierungsfähigkeit anti-islamophobe Netze, trotz aller organisatorischen Begrenztheit, haben können, zeigte sich etwa 2008 am Beispiel der Mobilisierung gegen die islamfeindliche Bewegung »Pro Köln« durch die Allianz »Köln stellt sich quer«.75 Gerade Proteste und Demonstrationen, die über bloße Aufklärungsarbeit hinausgingen, ließen ein erstaunliches anti-islamophobes Mobilisierungspotenzial in Deutschland erkennen. Mehr als 15.000 Bürger protestierten bei dem lokalen Kölner Ereignis gegen die Aktivitäten der rechtspopulistischen »pro Köln«-Bewegung. Die linksalternative Zeitung die tageszeitung beschrieb diese Protestaktion:

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ Zehntausende von Kölnerinnen und Kölnern haben sich am vergangenen Wochenende einem Häuflein von Rechtsextremisten eindrucksvoll entgegengestellt und die Verhältnisse wieder zurechtgerückt. Wenn es darauf ankommt, hält die Zivilgesellschaft in Köln zusammen – und zwar in einem Maße, das wohl einzigartig in der Bundesrepublik sein dürfte. Auch wenn die Kölner weiterhin durchaus unterschiedlicher Auffassung über den geplanten Bau einer repräsentativen Moschee sein mögen, in einer Frage sind sie sich einig: Offen rechtsextreme Menschen mag man nicht in der Stadt haben. Christdemokraten standen daher mit Gewerkschaftern, Linksparteilern und Schülern, die christlichen Kirchen mit muslimischen Verbänden, Islamkritiker mit Moscheebefürwortern, Karnevalisten mit Linksautonomen. Taxifahrer verweigerten den braunen Gesellen den Transport, Hoteliers kündigten ihnen die Zimmer, Wirte machten ernst mit der Ankündigung ›Kein Kölsch für Nazis‹. Und die Polizei hat in bemerkenswerter Weise alle ihre rechtsstaatlichen Spielräume ausgenutzt, um sich nicht von ›pro Köln‹ und Co funktionalisieren zu lassen.76

Allerdings merkte die Zeitung auch an, dass dieser »Wochenend-Antirassismus« nicht über die Ressentiments gegen Andersgläubige hinwegtäuschen dürfte, die sonst den Alltag des Zusammenlebens mit den Muslimen vielfach beherrschte und den Aufstieg von »pro Köln« erst möglich gemacht hätte. Die mangelnde Durchschlagskraft von Netzwerken gegen Islamophobie, die die Verfestigung eines hohen Maßes an Islamfeindlichkeit in Europa nicht haben verhindern können und allenfalls bei besonderen Ereignissen in Erscheinung treten, ist ein Indikator für in sich gespaltene europäische Zivilgesellschaften. So imponierend einzelne Aktivitäten etwa anlässlich der Ermordung der Ägypterin Marwa El-Sherbini (Deutschland) oder des Massakers von Utøya (Norwegen) auch sein mögen – im gesellschaftlichen Alltag ist der Widerstand gegen Islamophobie vielfach noch unscheinbar. Im Vergleich zu der rasanten Ausbreitung islamophober Netzwerke – allein eine rechte Internetplattform wie »Politically Incorrect« in Deutschland verzeichnet geschätzte 60.000 Zugriffe pro Tag (Kap. III.2) – sind die Gegenkräfte noch schwach. Bei außerordentlichen politischen Aktivitäten mag die anti-islamophobe Zivilgesellschaft durchaus gleichwertig mobilisieren können, in Sachen Nachhaltigkeit und Permanenz der gesellschaftlichen Wirkung ist sie allerdings der Mischung aus Alltagsrassismus und rechtspopulistischer Agitation im Internet und durch rechte Parteien deutlich unterlegen. Wendet man sich den Ursachen für gesellschaftliche Islamophobie zu, so ist man mit einer Reihe von Theorien für die Entstehung von Rassismus konfrontiert. Bevor allerdings deren Relevanz für das Thema der Islamfeindlichkeit erörtert wird, muss auf die Frage eingegangen werden, ob das Islambild der Europäer nicht schlicht deswegen so vorurteilsbeladen ist, weil der Islam tatsächlich so negativ zu bewerten ist. Das Problem der sogenannten »Realitätsadäquanz« ist in der Nationenbildforschung wiederholt diskutiert worden (Os-

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termann 1977, S. 100). Feindbilder sind demnach nicht ohne Weiteres falsch, sie können durchaus reale Feindschaft abbilden, müssen es allerdings nicht. Natürlich beinhalten viele Pauschalisierungen Teilwahrheiten – das berühmte »Körnchen Wahrheit«. Einzelne Muslime etwa sind fanatisch, sind terroristisch, sind faschistisch. Dennoch lässt sich die Vorstellung, Islamophobie sei lediglich ein Abbild der Realität, leicht widerlegen. Alle einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zeigen, dass nur kleine Teile der Muslime zu Extremismus bereit sind, sie liegen damit im Durchschnitt europäischer Bevölkerungen (Kap. I.4). Auch wird noch zu zeigen sein, dass Muslime vielfach nicht nur, wie wir gesehen haben, loyal gegenüber Recht, Verfassung und Demokratie sind, sondern, trotz bestehender Probleme, rechtlich wie auch sozial und kulturell besser integriert sind als dies ihr Ruf ist (Kap. II.2). Wer Islamophobie damit begründet, dass Muslime es versäumen, sich anzupassen, kann zwar auf empirische Fakten einer leicht erhöhten Desintegration zurückgreifen. Diese Werte sind aber weitgehend typisch für »Arbeits-« und »Flüchtlingsmigration« und keineswegs gesellschaftlich alarmierend. Zudem sind die Ursachen komplex und oft besteht eine Mitverantwortung der Mehrheitsgesellschaft. Wer Islamfeindlichkeit also mit Fehlverhalten der Muslime begründet, ist in erheblichem Ausmaß ideologisch voreingestellt und kombiniert Konservatismus (das Beharren auf sozialer und kultureller Assimilation) mit Vorstellungen der kulturellen, anthropologischen oder rassisch-genetischen Differenz. Hier rücken die wirklichen Ursachenkomplexe des Rassismus ins Bild. Aus heuristischen Gründen lassen sich zwei große Bereiche unterscheiden, kulturelle und soziale Theorien, deren Trennung aber, wie man schnell erkennt, letztlich kaum möglich ist, da sich beide Bereiche vielfach aufeinander beziehen. Kulturelle Faktoren werden von denjenigen Richtungen der Rassismusforschung betont, die die Rolle von Werten, Ideologien und Diskursen einer Gesellschaft, einschließlich der Medien, hervorheben wollen. Sympathisanten der politischen Rechten sind in der Regel deutlich fremdenfeindlicher eingestellt als Anhänger der Liberalen oder Linken. Natürlich gibt es Varianten in jeder Strömung, etwa einen aufgeklärten und weltoffenen Konservatismus, nach dem Motto: »Jedem sein oder ihr Vaterland!«. Aber vielfach besteht in dem zum Konservatismus neigenden Teil einer Gesellschaft doch eine Tendenz zur Idealisierung eigener Gemeinschaftswerte – die neuere Tendenz zu einem »unschuldigen Nationalismus« versucht allerdings exakt hier eine Unterscheidung zu treffen. Differenzen zwischen Nationen, Religionen, Kulturen usw. werden deklamiert, aber nicht mehr in der Weise gewertet, dass »out-groups« herabgewürdigt werden – das überlässt man den Rechtspopulisten. Den Lackmustest müssen die modernen konservativen Haltungen dann bestehen, wenn sie diese – angeblich gleichwertigen – Lebensstile im eigenen Land dulden und anerkennen sollen, was bei Konservativen in der Regel zu einem Dilemma zwischen dem Wunsch nach Konservierung des eigenen Lebensstils und dem Image des Kosmopolitis-

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mus führt und bei der Forderung nach Assimilation und Anpassung der Fremden endet. Spätestens hier erkennt man das geheime »Ranking« der kulturellen Wertschätzung. Auch der »linke« Teil der Bevölkerung ist gegen diese Reflexe keineswegs gefeit, denn er ist progressiv oft nur in einem Sinne der Verteilungsgerechtigkeit, nicht aber was die nationale oder religiöse Frage angeht. Selbst Liberale haben eine lange Tradition des Orientalismus und Rassismus, weil Nationalismus vielfach das Bindeglied ihrer sonst freiheitlichen Bestrebungen war. Dies ist auch der Grund, warum bis heute nur ein Teil derjenigen, die sich als »liberal« bezeichnen, auch wirklich antirassistisch zu nennen ist, denn »Liberalismus« als politisches Label umfasst vielfach auch den »Neoliberalismus« oder gar den »Rechtsliberalismus«: Strömungen, bei denen Toleranz und Anerkennung gegenüber religiösen Minderheiten gar keinen oder einen negativen Stellenwert aufweisen können. Nur die multikulturell-liberalen und multikulturell-linken Ideologien bekennen sich heute in einem positiven Sinne zur religiösen und kulturellen Diversität. Für alle etablierten Ideologien in Europa jenseits des Rechtspopulismus und -extremismus gilt aber, dass sie sich programmatisch gegen jede Form des »Rassismus« wenden. Kulturelle Anerkennung im Mitte-Links-Spektrum und Antirassismus im aufgeklärten Konservatismus sind Reaktionen auf die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa erfolgte soziale Ächtung des Rassismus und Antisemitismus. Allerdings gibt es auch Wege für die Sympathisanten aller politischen Strömungen, die soziale Tabuisierung des Rassismus zu umgehen: 1. ein differenzialistisches Islambild, das ohne direkte Verurteilung auskommt, gilt den Meisten nicht als rassistisch; 2. spezifische ethnisch-religiöse Feindbilder können als Ausnahme von der Regel des allgemeinen Rassismusverbots betrachtet werden. Samuel P. Huntingtons Paradigma des »Kampfes der Kulturen« passte und passt hervorragend in diese Nahtstelle: Islam und Westen gelten Huntington als unverträglich, wesensfremd, inkompatibel – nicht mehr und nicht weniger. Huntington war kein Rassist alter Schule, er war aber ein Kulturalist in der pauschalisierenden Typisierung des Islams. Wer solchen Vorstellungen anhängt, hält sich »offiziell« vom Rassismus fern, da dieser stets die Herabminderung der anderen Gruppe beinhaltet. Hinter der Idee der Differenz liegt aber, dies haben wir bereits erörtert, vielfach die krypto-rassistische Anlage zur Geringschätzung verborgen. Dazu Oliver Decker, Marliese Weißmann, Johannes Kiess und Elmar Brähler: Nicht mehr ein biologistisch geprägter Rassismus […] scheint mehrheitsfähig zu sein. Eher scheint ein Rassismus, der an den kulturellen Unterschieden ansetzt, des Ressentiments unverdächtig und damit ohne Vorbehalte [äußerbar zu sein]. Hinter einem solchen modernen Rassismus stünden durchaus genauso antidemokratische Ressentiments, etwa in der Ethnisierung sozialer Konflikte, und in der Islamfeindlichkeit können sie scheinbar sozial akzeptierter manifestiert werden. Diese Akzeptanz islamfeindlicher

II. G ESELLSCHAFT Aussagen bietet für rechtsextreme Parteien oder Rechtspopulisten die Möglichkeit, […] auch anderen ideologischen Elementen des Rechtsextremismus in der Öffentlichkeit Raum und Akzeptanz zu verschaffen, wie etwa dem klassischen Rassismus von der Vererbung minderwertiger Eigenschaften bestimmter Bevölkerungsgruppen. (O. Decker et al. 2010, S. 135)

Der Islam ist in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in ein ideologisches Spannungsfeld geraten, das zur Umformung des Islambildes, aber nicht unbedingt zum Abbau der im traditionellen europäischen Kulturerbe angelegten Islamophobie geführt hat. Auf der einen Seite standen konservative, rechte, unterschwellig aber auch linke und liberale Ressentiments gegen das »Fremde« und insbesondere gegen den »Islam« als angeblich anti-westlicher und fortschrittsfeindlicher Religion und Kultur. Auf der anderen Seite stand der Antirassismus als gesellschaftliche Konsensforderung. Um diesen divergierenden Ansprüchen zu genügen, ist die Islamophobie zu einem »neuen Rassismus« umgeformt worden, in dem sie als Differenzialismus, Essenzialismus und KryptoRassismus nicht mehr tabuisiert werden muss, sondern erneut mehrheitsfähig geworden ist, was eine pauschale Beurteilung des Islams erlaubt, die in der Regel auf subtile Weise eine Verurteilung ausdrückt: »Der passt nicht zu uns!«. Dass dieser »Trick« in allen gesellschaftlichen Milieus gewirkt hat, beweisen die hohen demoskopischen Zustimmungswerte etwa bei der Frage nach der Unverträglichkeit von Islam und Westen (s.o.), die heute in allen europäischen Ländern nachweisbar sind. Die Kulturwissenschaftler David Morley und Kevin Robins haben bereits in den 1990er Jahren in Europa die Tendenz zu einer neuen Abgrenzung gegenüber dem »Fremden« ausgemacht, die neben vielen nationalen und lokalen Ursprüngen auch in den politischen Veränderungen nach dem Mauerfall, dem Europäischen Einigungsprozess und der »Globalisierung« begründet liegt: The incorporation of ›others‹ into the German Volksgemeinschaft has long been troublesome, as it has challenged the underpinnings of the German notion of identity: Überfremdung (overforeignisation) has been perceived as a threat to national integrity and culture. Now it is the 1.5 million Turks living in Germany who have become the salient and disturbing ›Other‹. ›We the people‹ are now defined, in Germany, against the ›Islamic Other‹. The question is whether Germany can come to terms with this ›Islam within‹, or whether the new nation will be imagined on the basis of an exclusive and excluding racism. […] [There is a] powerful appeal of Heimat throughout the changing Europe. […] The crucial issue that now confronts European culture, we would argue, is whether it can be open to the condition and experience of homelessness. (Morley/Robins 1995, S. 102f.)

Die moderne Islamophobie und ihre Varianten sind ebenso das Produkt traditioneller Islambilder wie zeitgenössischer sozialer Werte und Entwicklungen.

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Ideologien und zentrale gesellschaftliche Ideen werden nicht einfach verabreicht, sondern sie treffen auf Bedingungen in der Gesellschaft, aus deren Mitte heraus sie in aller Regel formuliert werden. Massen- wie soziopsychologische Ansätze haben daher von jeher zum Arsenal der Rassismusforschung gehört. Berühmt geworden ist die Figur der »autoritären Persönlichkeit« von Theodor W. Adorno und seinen Kollegen (Adorno et al. 1950) oder die Dogmatismustheorie von Milton Rokeach (Rokeach 1960). Menschen mit rigiden Denkarten lehnen demnach Fremdheit ab, orientieren sich am hegemonialen Wertezentrum einer Gemeinschaft, dem sie folgen, und verurteilen diejenigen, die scheinbar nicht dazugehören. Studien wie diese hat man in Bezug auf das Phänomen der Islamophobie noch nicht durchgeführt. Ob man von der oberflächlich erkennbaren Geschlossenheit und hochgradigen Stereotypisierung des Islambildes eines großen Teils der europäischen Bevölkerungen, von dem, was wir oben in Anlehnung an Assmann den »radikalen Denkstil« genannt haben, wirklich auf die Dominanz autoritärer und dogmatischer Persönlichkeiten schließen kann, bleibt unklar. Andreas Zick, Beate Küpper und Andreas Hövermann haben festgestellt, dass zwar etwa die Hälfte der meisten europäischen Bevölkerungen Aussagen wie »Es gibt zu viele Muslime« oder »Der Islam ist eine Religion der Intoleranz« zustimmen, also ein negatives oder islamophobes Bild der Muslime hegen, dass aber der Zusammenhang zu autoritären und dogmatischen Werten von Land zu Land verschieden ist: Stark ausgeprägt ist dieser in Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden und Italien (Zick et al. 2011, S. 70, 89). Hier tut sich ein enorm interessantes und weitgehend unerschlossenes Forschungsfeld auf, in dem das Verhältnis von »Fremdbildern«, »Werten« und »Einstellungen« erörtert werden muss. Um es auf einen markanten Nenner zu bringen: Ist das Islambild in Europa deshalb so ausgesprochen negativ, weil den Europäern zentrale Werte eines liberalen Kultur- und Gesellschaftsverständnisses – ungeachtet aller proklamierten Freiheitsrechte und der freiheitlichen Grundordnungen der politischen Systeme – auch siebzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg immer noch fehlen? Und ist diese Frage nicht geradezu ketzerisch, weil man doch jahrzehntelang gemeint hatte, dass Europa Schritt für Schritt seine rassistischen Werte der Vergangenheit abgelegt, also eine weniger »autoritäre« oder dogmatische Persönlichkeit im Sinne Adornos oder Rokeachs entwickelt hat? Natürlich kann es nicht darum gehen, 500 Millionen Europäer, die allein in der Europäischen Union leben, über einen Kamm zu scheren. Auch sollte man sich stets bewusst werden, dass »Kultur« auch »Kulturwandel« beinhaltet, also nicht von einer statischen Fixierung gesellschaftlicher Einstellungen ausgegangen werden kann – eine Tatsache, die wir noch unter dem Aspekt der sozioökonomischen Krise Europas erörtern werden. Dennoch lassen sich in jeder einzelnen Zeitperiode durchaus Tendenzen mehrheitsfähiger gesellschaftlicher Einstellungen, (Kern-)Werte und Ideologien mit den Mitteln der modernen Sozialwissenschaft beschreiben. In der Soziologie

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werden heute handlungs- und systemorientierte bzw. nutzungs- und wirkungsorientierte Aspekte der »öffentlichen Meinung« betont. Menschen werden nicht bloß von Ideologen manipuliert durch, sie suchen sich zum Teil aktiv die zu ihnen passenden Ideologien, Meinungen und Medien. Wenn Michel Foucault davon spricht, dass »Macht« nicht nur von Staatsapparaten oder einigen »Mächtigen« ausgeht, sondern diese ihre Macht vielmehr durch ein System der gesellschaftlichen Verflechtung sichern, wobei etwa die Werte der autoritären Familie eine Keimzelle der Macht sein können (Foucault 2005), so wird diese Dezentralität der Macht im Zeitalter des Internets auch jenseits gesellschaftlicher Institutionen mehr denn je erkennbar. Kulturelle Macht war noch nie nur elitär – von Politikern, Medien und anderen Meinungsführern – geprägt. In allen Gesellschaften gibt es soziale Dynamiken der Einstellungs- und Diskursprägung, die wir nur unzureichend mit Begriffen wie »öffentlicher Meinung« oder »schweigender Mehrheit« charakterisieren können. Auch das Nachdenken über »Mentalitäten« und »Kulturen« ist im Zeitalter eines konstruktivistischen Kulturverständnisses, wie wir es etwa am Beispiel Stuart Halls skizziert haben, keine wirkliche Hilfe. Wie lang- oder kurzfristige Werte und Einstellungen in Gesellschaften das Islambild prägen könnten, zeigt sich exemplarisch, wenn man mit den Vereinigten Staaten ein Vergleichsobjekt hinzuzieht, das die Konstellationen in Europa deutlicher werden lässt. In den USA sind Vorurteile gegenüber dem Islam in etwa so verbreitet wie in Europa, das Bild des Islams ist dort nicht differenzierter, islamophobe Wahrnehmungen und Werturteile sind sehr präsent. Dennoch treffen diese Bilder auf eine etwas höhere Akzeptanz gegenüber Religion, Religionsfreiheit und sogar radikalen religiösen Positionen, wie sie auch bei Christen in den Vereinigten Staaten absolut alltäglich sind. Die durch Medien und andere Meinungsführer verbreitete Islamophobie tritt also in einem von Europa abweichenden Kontext auf. Die Vereinigten Staaten haben eine lange Tradition der Flucht vor religiöser Verfolgung in Europa und sie begreifen sich in hohem Maße als Heimstatt der Religionsfreiheit. Diese Tatsache mag erklären, warum in den USA trotz des sehr negativen Islambildes vergleichsweise lange Zeit wenige Diskussionen über das muslimische Kopftuch oder Moscheebauten geführt worden sind (obwohl eine zunehmende Tendenz auch hier erkennbar ist, Esposito 2011, S. XXIVf.). Dass die US-amerikanische Gesellschaft gerade durch diese Attentate ihre eigenen Phobien im Bereich der nationalen Sicherheit entwickelt hat, die wiederum ausgeprägter sein mögen als in Europa, haben wir bereits erörtert (Kap. I.2). Jocelyne Cesari: The social legitimacy of organized religion in American society does not, however, translate into an unequivocal acceptance of Islam. In fact, Muslims in America are caught in a difficult paradox: the simultaneous demonization and acceptance of Islam. Especially

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ after 9/11, American acceptance of Islam is at odds with the persistence of anti-Muslim prejudice and discrimination. (Cesari 2010b, S. 170f.)

Das komplizierte Zusammenspiel von kognitiven Fremdbildern mit affektiven und konativen Werten hätte eigentlich auch in Europa in den letzten Jahrzehnten dazu führen müssen, dass Freiheitswerte stärker zum Vorschein kommen als autoritäre oder dogmatische Neigungen. Jedenfalls ging man stets davon aus, dass etwa die ehemals faschistischen Staaten wie Deutschland oder Italien ihre Autoritätshörigkeit seit dem Zweiten Weltkrieg in hohem Maße überwunden hätten. Man stellt jedoch in der Gegenwart immer öfter fest, dass dies zwar möglicherweise für die Akzeptanz des politischen Systems der Demokratie, nicht aber für gesellschaftliche Toleranzwerte per se gilt. Die Vorstellung urliberaler Länder wie die Skandinaviens oder die Niederlande, die stets als Vorzeigeland in Europa in dieser Frage galten, ist in den letzten Jahren stark erschüttert worden, denn konservative und reaktionäre Elemente sind in Politik und Öffentlichkeit zurückgekehrt, und zwar nicht nur in Form des organisierten Rechtspopulismus. Der Ruf nach religiöser »Integration« und Verdrängung des Islams aus der Öffentlichkeit ist in den meisten europäischen Ländern lauter als in den Vereinigten Staaten. Hatten Theoretiker wie der deutsche Staatsrechtler Carl Schmitt am Ende doch recht, wenn diese glaubten, ein jedes Volk bräuchte ein äußeres Feindbild (Schmitt 2002)? Müssen wir mit Jean-Christophe Rufin argumentieren, dass die Gesellschaft in demokratischen Ländern geradezu als Tribut für ihre innere Freiheit einen äußeren Feind benötigt, um den gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, und dass der Feind im Äußeren wie im Inneren zeitgenössisch der Muslim ist (Rufin 1994)? Gibt es also am Ende gar keinen Ausweg aus dem Rassismus, keine dauerhaft und stabile kulturelle Bewegung zu einer liberalen Gesellschaft und wird auch in den USA die Abneigung gegenüber Muslimen lediglich oberflächlich überspielt durch den historisch sehr ausgeprägten Wert, den die Religionsfreiheit in diesem siedlerkolonialen Land hat? Selbst in den Vereinigten Staaten kann die Gesellschaft ihre Islamophobie ja über den Umweg anderer Werte – nationale Sicherheit – sehr wohl in diskriminierende Handlungen umschlagen lassen. In Europa wurde das negative Islambild dem Druck der Antirassismus-Politik angepasst, wie wir gesehen haben, es mutierte vom klassischen zum kulturellen Rassismus und vom direkten zum indirekten, differenzialistischen Rassismus, blieb dabei aber durchgehend schlecht. Eine wirkliche soziale Werteverschiebung hin zur Anerkennung und zur echten, kritischen, dialogischen Toleranz gegenüber dem Islam ließ sich nur in sehr begrenzten Teilen der Bevölkerung erkennen. Neben elitären Ideologien und sozialen Werten spielen sozioökonomische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung und Entwicklung von Rassismus. Schon vom Antisemitismus etwa in der Ära Bismarck war bekannt, dass er unter an-

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derem als Ideologie der Benachteiligten in der Industriegesellschaft verwendet wurde, nach dem Motto: »Die soziale Frage ist die Judenfrage« (Herzig 2006, S. 189f.). Während über den Zusammenhang von Rassismus und Ökonomie in einem späteren Exkurs (Kap. II.3) noch ausführlicher zu reden sein wird, soll an dieser Stelle bereits verdeutlicht werden, dass soziale Werte und Einstellungen auch »konjunkturabhängig« sind. Werte, die auf Koexistenz und Ausgleich zwischen sozialen Gruppen zielen, finden in der »Mitte« der Gesellschaft solange eine Heimat, wie sozialer Abstieg ein seltenes und individuell begründbares Phänomen bleibt (O. Decker et al. 2010, S.  44). In der modernen Forschung geht man keineswegs mehr davon aus, dass primär Armut oder Arbeitslosigkeit Rassismus begünstigen, sondern es geht um relative Deprivation. Wichtig ist nicht, auf welcher Stufe der sozialen Leiter jemand steht, sondern ob er oder sie sozial abzurutschen droht. Es geht um Wohlstandsängste ebenso wie um die Wut längst ausgegrenzter Schichten. Sind also soziale Probleme in Europa Weggefährten der europäischen Salon-Islamophobie und der zunehmenden rechtspopulistischen Agitation? Wenngleich noch zu demonstrieren sein wird, dass die ständigen ökonomischen Krisen Europas und der vielfach schrumpfende Mittelstand in der Tat einen Beitrag zur wachsenden Fremdenfeindlichkeit leisten, wäre es leichtfertig, Islamophobie nur oder vor allem mit diesen Entwicklungen zu erklären. Es ist in keiner Weise gesichert, dass die Krise ein entscheidender Faktor ist, auch wenn sie verstärkend wirkt. Islamophobie aber als Resultat sozioökonomischer Krisen zu verstehen, ist verkürzt, denn langfristige, tradierte und sozial ständig aktualisierte Fremdbilder und allenfalls oberflächlich reformierte soziale Werte spielen eine ebenso große Rolle. Ist der Normzustand einer saturierten europäischen Bürgergesellschaft die friedliche Koexistenz mit den Muslimen? Mitnichten! In den Zeiten des Wachstums und des sozialen Aufstiegs Europas, in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, war das Islambild keineswegs viel besser als es heute ist. Bestimmte Auswüchse der Islamophobie wurden vermieden, der Rechtspopulismus oder die in den letzten Jahren immer stärker zunehmende mediale Skandalisierung des Islams existierten noch nicht (Kap. III.1). Gerade diese sehr negative Öffentlichkeit und auch einzelne vorhandene demoskopische Werte aus den 1970er Jahren zeigen aber, dass zwar der islamophobe Rechtspopulismus eine Krisenerscheinung sein mag, nicht aber die Islamophobie selbst, die im kulturellen Erbe der Mehrheitsgesellschaft angelegt und spätestens seit der Iranischen Revolution von 1978/79 reaktualisiert worden ist. Die heutige Islamophobie ist nicht krisenbedingt, sie ist allenfalls krisenverstärkt. Sie ist keine kurzfristige Irritation eines multikulturellen Normzustandes Europas – sie ist der Normzustand. Man fragt sich allerdings, warum im Prozess der zunehmenden Einwanderung von Muslimen nach Europa nicht ein anderer Faktor positiv auf das Islambild gewirkt hat: der interpersonale Kontakt. Fremdenfeindlichkeit und

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Rassismus sowie der modernisierte Rassismus der Islamophobie, gelten in der Wissenschaft auch als Resultat eines mangelnden Kontakts zwischen Individuen und Gruppen. Die Mehrheit kennt die Minderheit kaum, sie lebt von Medienbildern und anderen Versatzstücken. Vorurteile entstehen durch selektive Wahrnehmung, die aus der Distanz viel einfacher aufrechtzuerhalten ist als im direkten sozialen Miteinander, wo man Menschen von verschiedenen Seiten kennenlernt und durch vielfältige interpersonale Kontakte Binnendifferenzen der stets nur scheinbar homogenen Gruppe – in diesem Fall der Muslime – deutlicher hervortreten. Die klassischen Thesen zur »Kontakthypothese« hat Gordon W. Allport formuliert, der bereits in den 1950er Jahren feststellte, dass Kontakt zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen Vorurteile abzubauen in der Lage ist (Allport 1954). Heute finden solche Annahmen dort ihre Bestätigung, wo wir erkennen, dass Fremdenfeindlichkeit oft am stärksten ist, wo die wenigsten Fremden leben. Der »abwesende Fremde« funktioniert besser als Feindbild als der »anwesende Fremde«, wenngleich sich auch letzterer durchaus stereotyp wahrnehmen lässt, wie die Weiterentwicklung der Kontakthypothese gezeigt hat. Pettigrew hat darauf hingewiesen, dass der Kontakt eine bestimmte Qualität aufweisen muss, wenn er geeignet sein soll, Vorurteile abzubauen. Es müssen gemeinsame Ziele, Kooperationen oder gar Freundschaften entstehen (Pettigrew 1998). Noch ein Faktor erschwert allerdings die Lage: Selbst ein solch intensiver Kontakt kann zwar Vorurteile gegenüber einer bestimmten Person abbauen, er muss aber das Bild der gesamten Gruppe, der dieses Individuum zugehört oder zugeordnet werden kann, nicht unbedingt aufhellen, so dass sich Vorurteile gegenüber fast allen Mitgliedern der Gruppe selbst unter Kontaktbedingungen aufrechterhalten lassen. Nach dem Motto: »Alle Muslime sind…, nur mein Nachbar Mohammed…«. Zwar mag es sein, dass das interpersonale Handeln von einem negativen Islambild nicht unbedingt beeinträchtigt wird, dass also Mitglieder der Mehrheitsgruppe das Negativbild nicht auf ihren persönlichen Alltag übertragen (Halm et al. 2007). Andererseits wäre es falsch anzunehmen, dass Islamophobie, weil sie interpersonal relativiert werden kann, gesellschaftlich harmlos sei. Die kulturelle Ausnahmehypothese ist eine alte Weisheit in der Wissenschaft, sie verhindert aber negative Folgewirkungen von Rassismus keineswegs, da auch derjenige, der seinen Nachbarn Mohammed schätzt, in anderen Zusammenhängen sehr wohl in der Lage sein kann, seine Islamophobie in fremdenfeindliches Handeln jedweder Art – von der Diskriminierung bis zur Gewalt – umschlagen zu lassen (s.u.). Zusammenfassend lässt sich also sagen: Kontakt kann hilfreich sein, aber er muss eine bestimmte Qualität haben und ist selbst dann kein Garant gegen das gesellschaftliche Fortleben des Rassismus. Überträgt man diese Gedanken nun konsequent auf das Islambild, so ist festzustellen, dass ein großer Teil der Bevölkerungen Europas kaum Kontakt zu Muslimen haben dürfte. Zwei Drittel der niederländischen Bürger geben etwa

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an, selten oder nie Kontakte mit Einwanderern zu pflegen – warum sollte dies im Fall der Muslime und in anderen Ländern sehr viel besser sein (Open Society Institute 2007, S. 24)? Jørgen Bæk Simonsen kritisiert das Integrationsdenken des Westens, weil es den Muslimen Anpassungsleistungen abverlangt habe, ein großer Teil der Bürger Europas selbst aber zu keinem Dialog mit Muslimen bereit sei (Simonsen 2002, S. 125). Der moderne und durch Einwanderung geprägte Nationalstaat ist nur scheinbar ein Ort der Begegnung von Menschen mit unterschiedlicher ethnischer, kultureller oder religiöser Herkunft oder Identität. Definiert man »Kontakt« zumindest als minimalen Gesprächsaustausch, so hören wir etwa aus Israel immer wieder, dass ein großer Teil der Israelis trotz des begrenzten Territoriums von Israel/Palästina nie mit einem Palästinenser gesprochen hat. Oft ist es den Betroffenen selbst gar nicht bewusst, dass sie mit einem Muslim sprechen, denn die meisten Muslime sind nicht irgendwie traditionell gekleidet. Großereignisse wie die Attentate des 11. September 2001 haben wohl fast jeden in Europa über die Medien erreicht, sie waren eine Art DistanzKontakt zur islamischen Welt, der bleibende psychologische Nachwirkungen hinterlassen hat, was man schon an den ständigen Wiederholungsritualen der Bilder der Zerstörung in den ersten Wochen nach den Attentaten und an Jahrestagen dieser Attentate erkennen kann. Historisch besitzen katastrophenartige Großereignisse einen stärkeren »Impakt« auf das Islambild als der interpersonale »Kontakt«: Das ist offensichtlich heute bei weiten Teilen der europäischen Bürgerschaft nicht viel anders als in den Zeiten, als die Türken vor Wien standen – obwohl heute deutlich mehr Muslime in Europa leben als damals. Was die Qualität des Austauschs angeht, so gibt es positive Berichte über Kontakte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen am Arbeitsplatz. Rainer Dollase und Kai-Christian Koch urteilen auf der Basis einer empirischen Studie: »Wer mit Muslimen zusammen arbeitet, hat weniger Distanz zu ihnen.« (Dollase/Koch 2006; Dollase 2006) Zusammenarbeit ist eine Form des dauerhaften und, je nach Art der Betätigung, auch intensiven Kontakts. Ob es sich hierbei wirklich immer um Freundschaften und Kooperationsbeziehungen im Sinne von Pettigrew handelt, muss man bezweifeln, denn die Kontakte sind vielfach durch die Struktur des Arbeitsprozesses vorgeformt und erfolgen selten freiwillig. Dennoch dürften intensive Arbeitsbeziehungen die Chancen zu vertieften zwischenmenschlichen Beziehungen erhöhen. Viele der Kontakte zwischen Mehrheit und muslimischer Minderheit in Europa sind aber anders geartet, sie sind oberflächlich, beschränken sich zum Beispiel auf kurze Dialoge mit Geschäfts- und Ladenbesitzern. Die Schulen in Europa sind ein interessanter Ort, um sowohl Kontakte als auch Kontaktdefizite zu studieren. Generelle Aussagen sind hier aber nicht möglich. Eigentlich ist davon auszugehen, dass im öffentlichen Schulwesen Kontakte zu Muslimen zunehmen müssten. Hingegen ist es regionen-, schichten- und milieuabhängig und selbst dort, wo gemischte Klassenverbände existieren, durchaus möglich, dass Freundschaftskontakte ihre

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Eigenarten aufweisen, zum Beispiel, indem zwar die Kinder selbst aber nicht die Eltern in Berührung kommen, was sonst bei Jugendfreundschaften nicht unüblich ist. Ein wirklich qualifiziertes Studium dieser Prozesse steht noch aus. Selbst der intensivste interpersonale Kontakt muss keine positive Rückwirkung auf das Gruppenbild der Betroffenen haben. Warum auch? Wenn man behauptet, dass soziale Großgruppen letztlich aus Individuen, Subkulturen usw. bestehen, also heterogen sind, dann ist es geradezu unsinnig, von der Kenntnis eines einzelnen Muslims auf den gesamten Islam oder auf alle Muslime schließen zu wollen. Das Phänomen des Ausnahmedenkens muss etwa im »Dritten Reich« sehr verbreitet gewesen sein: Nicht-jüdische Deutsche kannten jüdische Deutsche und waren auch mit ihnen befreundet – Antisemiten aber waren sie unter Umständen doch. Es ist nicht nur »methodisch« berechtigt, seine persönlichen Eindrücke nicht verallgemeinern zu wollen, es ist auch soziologisch nachvollziehbar, denn der Kontakt zum Nachbarn und Arbeitskollegen mag zwar intensiv sein, er erfüllt aber andere Bedürfnisse und Funktionen als der Rassismus, der als Herrschafts- und Gruppenideologie einen Mehrheitszusammenhalt suggerieren soll. Handlungstheoretiker würden dieser Argumentation möglicherweise widersprechen, da sie nicht per se von sozialen Zielen oder Funktionen des Menschen ausgehen, sondern – etwa in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus – von erst im Kontakt entstehenden und zu verhandelnden sozialen Motiven. Dennoch werden die meisten Handlungstheoretiker wohl zugestehen, dass Menschen zu Routinezwecken Identitäten, Welt- und Fremdbilder ausprägen, also ihre soziale Verortung keineswegs von Tag zu Tag gänzlich neu fixieren, auch wenn sie im einzelnen Kontakt zu anderen Menschen ständig neue Entdeckungen machen können. Da wir allerdings bislang noch keine wirklich »intelligenten« Studien über den Kontakt zu Muslimen und über Kontinuität und Wandel des Islambildes haben, ist all dies derzeit noch theoretische Spekulation ohne empirische Grundlage. Etwas besser ist die Forschungslage beim letzten Ursachenkomplex der Entstehung von Fremdenfeindlichkeit: der Bildung. Diese gilt im Allgemeinen als Dämpfer für Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Menschen mit hoher formaler Bildung lehnen Rassismus eher ab als Menschen mit niedrigerer Bildung. So verhält es sich auch in Bezug auf Islamfeindlichkeit: Hochgebildete neigen etwa in geringerem Maße zur Islamophobie als weniger Gebildete (Zick at al. 2011, S. 95ff.). Auffällig ist allerdings das hohe Niveau, auf dem sich diese Unterschiede abbilden. Während Menschen mit hohem Bildungsgrad in Europa sich heute kaum noch generell zu Rassismus – vor allem dem genetischen Rassismus – bekennen, ist die Zahl derer, die antisemitischen Thesen zustimmen, schon erheblich höher. Noch mehr Hochgebildete bekennen sich zu islamophoben Anschauungen. Man muss also davon ausgehen, dass der Faktor Bildung ein Dämpfer gegen den Rassismus im Allgemeinen ist, dass er aber nur sehr bedingt als Puffer gegen Islamophobie fungiert. Nicht nur, dass ideologische

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Transformationen, unklare soziale Werte, ökonomische Deprivation und interpersonaler Kontaktmangel Islamophobie begünstigen: Bildung, Wissen und Aufklärung scheinen ebenfalls kein Ausweg zu sein. Zwar hat eine Analyse des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Bern 2010 ergeben, dass der Erfolg der Anti-Minarett-Initiative der Schweizerischen Volkspartei bei Menschen mit höherer formaler Bildung auf weniger Zustimmung traf.77 Allerdings ist dies nicht unbedingt ein Hinweis auf geringere Islamophobie, denn die Frage der Zustimmung zur Schweizerischen Volkspartei ist politisch und ideologisch vermint. Als Symbol eines modernisierten Rassismus ist sie für viele Gebildete generell untragbar; mit dem Islam oder gar einer stärkeren Unterstützung der Muslime hat das wenig zu tun. Die Ursachen für den geringen Einfluss des soziodemographischen Faktors »Bildung« liegen in der Art, wie diese in Europa typischerweise erworben wird. Sie bietet in aller Regel kaum islamspezifisches Wissen, ist überwiegend ethno- oder gar eurozentrisch – ein Aspekt, auf den wir noch ausführlich eingehen werden (Kap. IV). Zwar ist die Forschung im Bereich der Ursachen der Islamophobie derzeit noch weitaus dürftiger als im Bereich der Bildforschung selbst, die heute demoskopisch gut abgesichert ist. Vieles weist jedoch darauf hin, dass Islam- und Muslimfeindlichkeit in Europa einen geradezu idealtypischen gesellschaftlichen Nährboden vorfindet, wie dies wohl bei keiner anderen Minderheit der Fall ist. Islamophobie bildet sich sozusagen im Schnittfeld aller genannten Ursachenkomplexe und lässt sich, ein wenig salopp, wie folgt erklären: Der Islam ist ein vermeintlich alter und neuer ideologischer Feind mit einer langen Tradition, die leicht zu reaktualisieren ist. Dies wird zwar durch die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewertete Toleranz und den Antirassismus etwas erschwert, aber da diese Werte ohnehin nie vollständig konsensual gewesen sind, fällt es umso leichter, durch Akzentverschiebungen des Islambildes hin zu einem »Neuen Rassismus« – der Islam als Problem der Kultur, nicht der Rasse usw. – gesellschaftliche Tabus zu unterlaufen, und zwar auch in der Mitte der Gesellschaft. So einfach ist dies im Zusammenhang mit anderen Gruppen nicht: »Schwarze«, Afrikaner und Afro-Amerikaner zum Beispiel werden nicht mit einer einheitlichen (etwa religiösen) Ideologie identifiziert. Da Einwanderer nach Europa heute in großer Zahl Muslime sind, bietet es sich auch an, sie als soziale Sündenböcke zu kennzeichnen, die angeblich Arbeitsplätze stehlen, den Sozialstaat ausbeuten oder das Niveau der Schulbildung herabsetzen und so dem bürgerlichen Nachwuchs zukünftige Aufstiegschancen verbauen. Persönlichen Kontakt zu Muslimen zu pflegen ist nicht gewollt und auch nicht nötig. Man kennt andere Ausländer, vor allem trifft man sie im Urlaub, man kann daher auch ein kosmopolitisches Selbstbild pflegen und zugleich islamophob sein. Bildung ist kein Hindernis, denn anders als im Fall des Antisemitismus oder Anti-Amerikanismus weiß man im Grunde nichts über den Islam, die islamische Welt und über Muslime; im Fall der Juden ist das nicht unbedingt viel

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anders, aber die Geschichte des »Holocaust« ist doch bekannt und wirkt nach, und über die Vereinigten Staaten werden zumindest Grundkenntnisse seit der Schule, in Medien und sogar durch eigene Reisen und verwandtschaftliche Kontakte, durch Filme und vielfältige Kanäle der Englischsprachigkeit eingeübt, die eine kulturelle Nähe zu Europa suggerieren und eine allzu pauschale Verurteilung erschweren. Trotz dieser deprimierenden Gesamtbilanz des Islambildes und des Rassismus, die aus zahlreichen Segmenten der Gesellschaft gestützt wird, gibt es keinen Anlass zu Resignation. Nehmen wir nur das Phänomen der Bildung, so ist es an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass ungeachtet aller Defizite Aufklärung nicht generell zum Scheitern verurteilt sein muss. Da westliche Bildungskanons in der Regel eben nicht oder nicht hinreichend aufgeklärt sind, wenn es um Islamfragen geht, wäre eine solche Schlussfolgerung völlig verfrüht: Wie kann man über ein Versagen einer Aufklärung urteilen, die es noch gar nicht gibt? Es ist davor zu warnen – wie Rufin – Islamophobie für einen urtümlichen Zustand, sozusagen für eine konstante europäische Grundbefindlichkeit zu halten, die nur gelegentliche zeitgenössische Permutationen durchläuft: Verstärkungen oder Abschwächungen aufgrund von ökonomischen und anderen Faktoren. Trotz der langen Tradition eines einseitig negativen Islambildes in weiten Teilen der europäischen Gesellschaften ist eine Wende zur »globalen Bildung« bislang nur bedingt erfolgt. Fände sie allerdings statt, könnten die Einflüsse erheblich sein. Bildungstraditionen würden sich verändern, was Einfluss auf Medien und Ideologien hätte, kurz: auf die kulturellen Machtverhältnisse. Eine breite gesellschaftliche Anerkennung des Islams und der Muslime als Teil Europas, die auch von den Bürgern und nicht nur vom politischen System mehrheitlich mitgetragen würde, könnte durchaus die Folge sein. Derzeit ist allerdings, schaut man sich die empirische Datenlage an, von dieser Anerkennung noch nicht viel zu erkennen. Im Gegenteil: Ängste vor und Abneigung gegenüber dem Islam nehmen zu und sind bis weit in (bildungs-)bürgerliche Schichten hinein messbar. Der Islam ist daher weniger ein anerkannter Teil der sozialen Systeme als vielmehr ein Generator sozialer Konflikte, die unter anderem zu Erscheinungen von Diskriminierung und Gewalt führen. Den Anerkennungsbestrebungen von Muslimen (Kap. II) stehen ideell, materiell und kommunikativ begründete Hegemonialansprüche der Mehrheitsgesellschaft entgegen. Natürlich könnte man meinen, dass es Anschauungssache ist, inwieweit soziale Konflikte zum Normalfall einer »liberalen Gesellschaft« zählen, dass sie unvermeidlich und letztlich sogar wichtig sind für die Gesellschaftsentwicklung. Soziologen wie Reinhard Bendix oder Ralf Dahrendorf haben die noch in den 1950er Jahren vorherrschende Systemtheorie Talcott Parsons’ zu Recht für ihren Harmonismus kritisiert, da hier Konflikte allenfalls als Irritationen einer Balance der einzelnen Gesellschaftsteile auftauchen (Bendix 1963; Dahrendorf 1957). Während im Durkheim’schen Weltbild

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der Systemintegration Konflikte tatsächlich störend sind, ist der soziale Konflikt in der weberianischen Lehre Ausdruck von Dynamik und Freiheit in menschlichen Gesellschaften. Die positive Sicht des sozialen Konflikts scheint die Anerkennungskämpfe zwischen Mehrheiten und muslimischen Minderheiten in Europa geradezu zu adeln. Aber Vorsicht ist geboten! Wir haben es mit einer asymmetrischen Konfliktkonstellation zu tun, wobei nicht soziale Schichten oder Klassen sich im Habitus zu übertreffen versuchen, sondern eine Mehrheit gegen eine Minderheit mit sehr geringem Bevölkerungsanteil agiert.78 Als Folge registrieren wir heute verschiedene Phänomene latenter wie auch manifester Gewalt, die befürchten lassen, dass sie den Gesellschaftsfrieden ernsthaft gefährden. Selbst Konflikttheoretiker werden zugeben müssen, dass der soziale Konflikt nur dann systemerneuernde Kraft haben kann, wenn er sich an gewisse Spielregeln hält. Die von der liberalen Demokratie, von Verfassung und Recht vorgegebenen Grundsätze der Gleichberechtigung und Religionsfreiheit im Privaten, in der Öffentlichkeit und auch im Staat müssen sozial internalisiert und gesellschaftlich praktiziert werden, sonst besitzen Konflikte ein absolut systemzerstörendes Potenzial. Anhand empirischer Befunde und konkreter Beispiele soll nun die Frage erörtert werden, wie produktiv der soziale Konflikt mit den Muslimen in Europa ist. Eine Reihe von Studien des European Monitoring Centres haben eine Zunahme der Diskriminierung von Muslimen am Arbeitsplatz, in Schulen und auf dem Wohnmarkt ermittelt (European Monitoring Centre 2006a, 2006b).79 Diskriminierung dieser Art gab es bereits vor dem 11. September 2001, wie eine Untersuchung für die Jahre 1999/2000 von Paul Weller, Alice Feldman und Kingsley Purdam gezeigt hat (Weller et al. 2004). Das Open Society Institute hat für die Europäische Union festgestellt, dass sich etwa 50 Prozent der Minderheiten in den Niederlanden diskriminiert fühlen, 74 Prozent der Marokkaner dort glauben, dass es Diskriminierung gibt (Open Society Institute 2007, S. 30). Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) des Europarates hat hierzu zwei allgemeine Empfehlungen veröffentlicht: Empfehlung Nr. 5 von 2000 zur Bekämpfung von Intoleranz und Diskriminierung gegenüber Muslimen80 und die Empfehlung Nr. 8 von 2004 zur Vermeidung von Rassendiskriminierung bei der Bekämpfung des Terrorismus.81 Das European Monitoring Centre unterscheidet legitime Islamkritik von Diskriminierung. Vorwürfe können demnach berechtigt sein, aber es ist »zu gewährleisten, dass bei einem potenziell kritischen Standpunkt gegenüber bestimmten Anschauungen anderer gesellschaftlicher Gruppen der Grundsatz der Gleichbehandlung respektiert wird« (European Monitoring Centre 2006a, S. 17). Zwei bekannte Konfliktfelder stellen das Kopftuch von Musliminnen und der Bau von Moscheen dar. An diesen Symbolen entzünden sich nicht selten soziale Konflikte und Islamfeindlichkeit der Europäer. Das Kopftuch wird von seinen Gegnern als menschenrechts- und frauenfeindlich sowie nicht kompa-

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tibel mit der westlichen Kultur abgelehnt. Trägerinnen und Befürworter klagen hingegen, dass das Tragen eines islamischen Kopftuches zu gesellschaftlicher Diskriminierung führe. Welche Seite hat recht? Legt man Rainer Forsts Dreischritt der Anerkennung zugrunde, so könnte man gegenüber dem Kopftuch unterschiedliche Positionen entwickeln: Erstens Duldung auf der Basis einer inneren Ablehnung des Kopftuches als eines orthodoxen und unzeitgemäßen Symbols; zweitens Akzeptanz, weil sich hinter dem Tragen des Kopftuches sehr verschiedene, auch emanzipatorische, in jedem Fall legitime Haltungen verbergen können; drittens Zurückweisung des Kopftuches als eines menschenrechtsfeindlichen Ausdrucks autoritärer Verhältnisse. Eine Position der Zurückweisung, die in ein Verbot münden müsste, nehmen selbst im rechtspopulistischen Lager nur sehr wenige Menschen ein, sie ist eine Randposition – sieht man vom Verbot des Kopftuches in offiziellen Ämtern ab, was allerdings ein besonderer Fall ist (Kap. I.1). Legt man aber Umfragewerte zugrunde, die zeigen, dass eine Mehrheit der Europäer den Islam für frauenfeindlich hält, so dürfte »Duldung« sehr verbreitet und »Akzeptanz« kaum vorhanden sein. Es ist unschwer vorstellbar, dass eine solche latente Ablehnung des Kopftuches zu sozialer Diskriminierung führen kann, nämlich dort, wo das Kopftuch nicht nur innerlich oder verbal abgelehnt wird, sondern es auch zum Anlass einer Verweigerung von gleichen Arbeits-, Wohn- und Lebensrechten genommen wird. Einstellungen, die als bloße Duldung zu interpretieren sind, sind sicherlich verbreiteter als aktive Diskriminierungen. Man muss grundsätzlich zwischen dem Islambild als einer Haltung der vermeintlichen Toleranz, die in Wirklichkeit aber keine Anerkennung ist, einerseits und einer diskriminierenden Handlung andererseits unterscheiden. Handlungen entstehen gerade im Bereich der Diskriminierung erst im direkten zwischenmenschlichen Kontakt, der, wie wir gesehen haben, gar nicht so häufig stattfindet und zudem Ausnahmeverhalten erlaubt. Islamfeindlichkeit, auch wenn sie stark verbreitet ist, wird sich nie vollständig in Form von Alltagsdiskriminierung abbilden. Vielfach ist sogar zu vermuten, dass die Befragten der zitierten europäischen Studien eher Vermutungen über Diskriminierungsabsichten geäußert haben, die sie ihrerseits aus dem negativen Islambild schlussfolgern, das sie medial umgibt und das sie spüren, als dass sie Diskriminierung wirklich erlebt haben. Dabei machen sie unter Umständen den Fehler, Bilder und Einstellungen von Menschen mit derem tatsächlichen Handeln zu verwechseln. Trotz dieser Einschränkung wird man aber sagen können, dass Diskriminierung ohne Zweifel vorkommt, dass sie sogar häufig anzutreffen ist und dass sie auf einer verbreiteten Position der Duldung basiert. Was politisch und rechtlich nicht verboten werden kann, wird von Teilen der Gesellschaft stigmatisiert und sozial ausgegrenzt. Die Duldung des Kopftuches lässt sich nicht nur in Umfragen, sondern auch im öffentlichen Diskurs festmachen. Während es in Großbritannien vergleichsweise wenige Debatten über das Kopftuch gegeben hat, kommen diese vor al-

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lem in Frankreich seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe (Amir-Moazami 2007).82 In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Lage ähnlich, zumal hier vor allem bekannte Feministinnen in Fundamentalopposition gegangen sind (Schiffauer 2006, S. 105; vgl. a. Berghahn/Rostock 2009). In Belgien wurden Kopftuchdebatten noch in den 1990er Jahren entspannt geführt, bis plötzlich in den 2000er Jahren, wohl auch in Reaktion auf die Lage in den Niederlanden, der alte Pragmatismus immer umstrittener wurde (Bousetta/Jacobs 2006, S. 30). Die in der europäischen Öffentlichkeit verbreitete Gleichsetzung des Kopftuches mit einer Unterdrückung von Frauen übersieht nicht nur die Rückstände der Gleichberechtigung von Frauen im Westen – erst langsam gleichen sie sich in Lohn und Arbeitspositionen den Männern an, Frauen in höchsten Staatsämtern, wie es sie in vielen islamischen Ländern seit Jahrzehnten gibt, setzen sich schrittweise durch usw. –, sondern stiftet vielfach auch einen künstlichen Gegensatz zwischen der westlichen und der islamischen Welt (Rommelspacher 2001; El-Zayat 2001). Sie übersieht auch die empirisch längst nachgewiesene äußerst komplexe Motivlage, die beim Tragen des Kopftuches eine Rolle spielt und die keineswegs eine prinzipielle Geringerwertigkeit der Frau zum Ausdruck bringt. Religiöse Selbstdarstellung ist hier ebenso von Bedeutung wie Übergänge vom Land in die Urbanität und von der Häuslichkeit in die Öffentlichkeit, denn vielfach fungiert – anders als es die Mehrheit im Westen wahrnimmt – das Kopftuch quasi als Symbol des Übergangs zwischen Tradition und Moderne (Lutz 2001; Nökel 2002). Semiotisch kann das Kopftuch ebenso Fremd- wie Selbstkontrolle des weiblichen Körpers zum Ausdruck bringen, man entzieht sich dem Modediktat, ohne »schlecht gekleidet« sein zu müssen, weil man sich schlicht einer Tradition zuordnet. Modische und ultramodische Kopftücher wiederum signalisieren ein anderes ästhetisches Verständnis (Giannone 2005). Niqab und Burka, also die weitgehende oder völlige Verschleierung des Gesichts, ist ein Sonderfall, insofern als dieser auch in vielen islamischen Ländern aus öffentlichen Einrichtungen verbannt worden ist. Nicht nur Frankreich kennt ein solches Verbot, sondern auch in Ägypten gibt es Widerstände gegen die Vollverschleierung an Universitäten. Man argumentiert, das Maß persönlicher Freiheit in der Kopftuchfrage sei hier überschritten, da die grundlegende Identifikation und Kommunikation mit einem Menschen im öffentlichen Raum nicht mehr möglich und dadurch die öffentliche Ordnung gefährdet sei.83 Hauptursache für das Tragen des Kopftuches in Deutschland, das hat eine Studie der konservativen Konrad-Adenauer-Stiftung gezeigt, ist keineswegs familiärer Druck, sondern Religiosität, die zumindest bei gebildeten Frauen deutlich mit einem modernen, emanzipierten Rollenverständnis einhergeht (von Wilamowitz-Moellendorff 2006). Ein religiös-moralisches Überlegenheitsgefühl ist weitverbreitet, aber dies hat in aller Regel nichts mit einem fundamentalistischen Anspruch zu tun. All diese Differenzierungen ändern jedoch nichts an der Tatsache, dass wir

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heute mit Fug und Recht behaupten können, dass ein ganz großer, wenn nicht der größte Teil der öffentlichen wie der veröffentlichten Meinung in Europa das Kopftuch auf repressive, frauenfeindliche, mit dem Westen inkompatible Motive reduziert (Pinn/Wehner 1995; Youssef 2004; Röder 2007). Das Kopftuch wird geduldet, aber als Fremdkörper betrachtet und nicht als legitimer Teil des gesellschaftlichen Lebens akzeptiert und anerkannt. Auch Streite um Moscheebauten in Europa (Sommerfeld 2008) belegen die soziale Virulenz der Salon-Islamophobie. Hier zeigt sich deutlich, dass soziale Konflikte, die mit Islamfeindlichkeit verbunden sind, nicht nur elitäre Diskurse sind, sondern von politischen Machtstrukturen durchwobene soziale Territorialkonflikte. Moscheekonflikte mobilisieren die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft und Islamfeindlichkeit markiert die Grenzen der lokalen Gemeinschaft. Und man erkennt, dass ein erheblicher Teil europäischer Bevölkerungen zwar »Integration« predigt und muslimische »Parallelgesellschaften« verhindern möchte, zu einem nachbarschaftlichen Miteinander und zur Anerkennung des Islams aber nicht bereit ist. Allerdings gibt es Autoren, die behaupten, dass auch derartige Konflikte eine integrations- bzw. anerkennungsfördernde Wirkung haben können, nach dem Motto: »Erst der soziale Konflikt bringt überhaupt Strukturen der Gemeinschaftlichkeit in der Gesellschaft hervor.« (Hohmann 2007, S. 19) Es ist jedoch zweifelhaft, ob dies tatsächlich der Fall ist. Die Konfliktsituation ist asymmetrisch angelegt, Muslime sind in der Rolle, selbstverständliche Rechte verteidigen zu müssen. Sie müssen dies nur deshalb tun, weil sie in der Minderheit sind, es geht also um gesellschaftliche Machtverhältnisse. Wenngleich sich nicht präzise sagen lässt, wie groß der Teil des Bürgertums ist, der Muslimen in derartigen Konflikten feindlich gesinnt ist, so ist es doch eine Tatsache, dass solche Streitigkeiten in den letzten zwei Jahrzehnten in vielen europäischen Ländern inflationär zugenommen haben. Die Moscheegegner sind nicht identisch mit dem Bürgertum (Kap. I.3), sie stammen aber in hohem Maße aus seinen Reihen und sind der artikulierteste Teil der ansonsten vielfach »schweigenden« Mehrheit. Es geht in diesen Konflikten um die Absicherung von Territorien, um Gruppenmacht und um Re-Identifikation auf Kosten einer religiösen Minderheit. Beim Moscheestreit in Berlin-Heinersdorf etwa wurden T-Shirts mit »Du bist Heinersdorf« gedruckt, was die Rückkehr eines lange vermissten Wir-Gefühls signalisierte und viele Rassismustheorien bestätigt.84 Konflikttheoretiker sollten daher den Konflikt nicht idealisieren, da dieser unterschiedliche Rahmungen und entsprechend auch Wirkungen haben kann. Moscheebaukonflikte können das Gemeinschaftsgefühl der Mehrheit stärken, aber es ist zweifelhaft, ob sie Minderheiten zur Anerkennung verhelfen. Richard N. Rosecrance etwa unterscheidet zwischen verschiedenen Typen des Konflikts: Konflikten auf der Basis von positiv-, negativ- und nicht interdependenten Beziehungen, also Konflikten, bei denen die Konfliktpartner eine grundlegende positive, negative oder gar keine Beziehung pflegen (Rosecrance

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1973). Beste Chancen einer Lösung von Konflikten gibt er positiv-interdependenten Beziehungen, während alle anderen Konflikte eher »Nullsummenspiele« zu sein scheinen, wobei jeder Gewinn der einen Seite einen Verlust der anderen Seite bedeutet. Moscheebaukonflikte sind solche Nullsummenkonflikte, denn die streitsamen Bürger sind der festen Überzeugung, dass sie durch einen Bau von Moscheen nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren haben. Dass es sich bei der Verwirklichung von Rechten der Religionsfreiheit um ein höchst wertvolles Gut handelt, das letztlich allen zugutekommt, wird in keiner Weise deutlich. Der Gewinn für die Festigung der Zivilgesellschaft wird nicht verstanden. Damit hat der Konflikt mit hoher Wahrscheinlichkeit eher die Funktion, den oben konstatierten drohenden Bruch zwischen System und Gesellschaft zu fördern, also desintegrierend auf das politische System zu wirken und die dort erkennbaren langsamen Fortschritte der Anerkennung auszubremsen. Konflikttheoretiker könnten allerdings geltend machen, dass der Dialog oft ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt sozialer Konflikte ist. Menschen, die vorher keinen Kontakt gehabt haben und ihn auch nicht haben wollten, führen im Zuge von Moscheekonflikten einen Dialog. Diese Konstellation erinnert an historische Begebenheiten. Auch während der Kreuzzüge gelangten die ersten Koranübersetzungen nach Europa. Letztlich haben diese kulturellen Verflechtungen jedoch das negative europäische Islambild des Mainstreams nicht verhindern können. Informationsaustausch und Kommunikation führen keineswegs automatisch zu mehr Verständnis der Interaktionspartner füreinander. Man muss die Machtverhältnisse hinter einem jeden Dialog erkennen und die sind im Fall von Moscheekonflikten wie folgt zu beschreiben: Platzhirsche gegen Neuankömmlinge, Macht gegen Ohnmacht, allesamt schlechte Voraussetzungen für einen fruchtbaren Dialog auf der Inhaltsebene, da die Beziehungsebene dies unterminiert (Watzlawick et al. 1967). Akzeptanz und Anerkennung müssen daher als Voraussetzung des Dialogs bei Moscheekonflikten gelten, sie müssten dem Sachstreit vorgelagert sein und sind keineswegs die zwingende Folge eines solchen Dialogs. Die politischen Systeme haben gewisse Fortschritte bei der symbolisch-emotionalen Einbeziehung von Muslimen gemacht (Kap. I.2), Öffentlichkeit und Gesellschaft aber kennen nur sehr wenige derartige Rituale, am ehesten noch im interreligiösen Austausch, wo gerade diese gemeinsamen Ritualisierungen allerdings von den Führungsetagen etwa der deutschen Kirchen abgelehnt werden (Kap. V). In Europa bislang wenig zur Kenntnis genommen worden ist das Thema der islamfeindlichen Gewalt. Man kann von Islamophobie nicht direkt auf das Vorhandensein von Diskriminierung oder gar Gewalt schließen, da Menschen, die islamfeindlich eingestellt sind, nicht notwendigerweise auch diskriminierend oder gewalttätig handeln müssen – aber Islamophobie kann durchaus eskalieren (Peucker 2010a, S. 165). Anders als Diskriminierung im Alltag oder die Proteste gegen Moscheen stellt islamophobe Gewalt zwar ein extremistisches,

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in Ausmaß und Bedeutung aber seit 2001 wachsendes Randphänomen dar. Das Problem wurde vom European Monitoring Centre in verschiedenen Studien untersucht (European Monitoring Centre 2002a, 2006a; vgl. a. Cesari 2006). Die ausführlichen Berichte registrierten in Ländern wie Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, den Niederlanden oder Großbritannien Gewalttaten gegenüber Muslimen und islamischen Einrichtungen: Sprengstoff- und Brandanschläge auf Moscheen, islamische Vereine und Einrichtungen wie Friedhöfe, Vandalismus, Blut- und Hakenkreuzschmierereien, Schüsse auf Moscheen. In jüngsten Jahren werden auch immer mehr Menschen attackiert und ermordet. Hier ein kurzer Ausschnitt des europäischen Panoptikums islamfeindlicher Gewalt in den 2000er Jahren (European Monitoring Centre 2002a, S. 80ff.; Cesari 2006, S. 70ff.): • In Dänemark fand man nicht nur Propagandamaterial von Rechtsextremisten, sondern der Haupteingang eines muslimischen Vereinsgebäudes wurde mit Begriffen wie »Scheiß-Islam« bemalt. • In Deutschland wurden Hakenkreuze an Moscheen geschmiert, es fanden Brandanschläge auf Moscheen, einen muslimischen Schlachtereibetrieb usw. statt. • In Griechenland wurde eine Moschee in Brand gesetzt, Gräber und Baudenkmäler aus der Zeit des Osmanischen Reiches wurden zerstört. • In Spanien verübten Rechtsradikale Anschläge auf Moscheen. • In Frankreich gab es ebenfalls Brandanschläge auf Moscheen, Gräber von muslimischen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg wurden geschändet, es wurde versucht, einen muslimischen Gebetsraum in Brand zu setzen, ein Überfall auf ein muslimisches Bestattungsinstitut fand statt, es gab Schüsse auf Moscheen, rassistische Parolen an Moscheen, eine Frau mit Kopftuch wurde angegriffen und ein Mordanschlag auf einen Imam verübt. • In Irland wurde ebenfalls eine Frau mit Kopftuch angegriffen, andere Frauen wurden als »Scheißaraberinnen« und Terroristinnen beschimpft. • In Italien wurden Gebäude der muslimischen Gemeinde mit Parolen wie »Tod dem Islam« beschmiert, der Eingangsbereich eines Kulturzentrums wurde durch eine Explosion beschädigt. • In den Niederlanden wurden Brandanschläge verübt und mehrere Dutzend Straftaten registriert. Die Harvard-Professorin Jocelyne Cesari spricht von einem »Besorgnis erregenden Anstieg anti-muslimischer Gewalt« (Cesari 2006, S. 138). • In Großbritannien bedrohten Jugendbanden Moscheen, Moscheeeingänge wurden mit Blut beschmiert, Fenster von Moscheen zerbrochen. Ein muslimischer Taxifahrer ist nach einem Übergriff gelähmt, eine 19-Jährige wurde mit einem Baseballschläger malträtiert. Eine muslimische Familie wurde als »Terroristen« beschimpft, ein 14-Jähriger in die Toilette gestoßen, »Islam«

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wurde auf seine Stirn geschrieben und ihm eine Wurst in den Mund geschoben, um ihn zu zwingen, Schweinefleisch zu essen und den Ramadan zu brechen. Eine islamische Schule wurde wegen Terrordrohungen zeitweise geschlossen. • In den USA hat es zahlreiche Anschläge auf Moscheen gegeben, die aber kaum beachtet wurden (Nimer 2002, S. 176). In New York wurde ein Taxifahrer angegriffen. • In Australien machten Jugendliche 2005 Jagd auf Einwanderer mit Slogans wie »Haut ab, Libanesen!«.85 Letztlich ist die gesamte westliche Welt von solchen Vorkommnissen betroffen. Regelrechte Angriffswellen lassen sich nach islamistischen Terrorattentaten erkennen, was anzeigt, dass die gesamte Minderheit der Muslime für derlei Attentate verantwortlich gemacht wird. Den vorläufigen Höhepunkt bildete der islamfeindliche Mord an der Ägypterin Marwa El-Sherbini in Dresden 2009 sowie das Massaker und der Bombenanschlag in Norwegen im Juli 2011, bei dem 77 Menschen umkamen, allerdings keine Muslime, obwohl die Tat eindeutig islamophob motiviert war, denn der Täter hatte zuvor seinen Hass auf den Islam im Internet kundgetan und war jahrelang Mitglied der rechtspopulistischen Fortschrittspartei gewesen.86 Täter sind also in der Regel Rechtsradikale im weiteren Sinne. Sie sind nicht immer organisiert oder politisiert, sind aber bereit, ihre islamophobe Agenda, die sie mit großen Teilen der Bürger teilen, gewaltsam umzusetzen. Es besteht insofern zumindest ein indirekter Zusammenhang zwischen der Islamfeindlichkeit der Mehrheit und der radikalen Gewaltbereitschaft von vielfach jugendlichen Tätern, die stets in dem Bewusstsein agieren, im Sinne der Gesellschaft und des Mehrheitswillens zu handeln. Außerdem hat eine Umfrage unter etwa 20.000 Muslimen in nahezu ganz Westeuropa gezeigt, dass etwa 11 Prozent von ihnen angeben, bereits in rassistischer Weise bedroht, belästigt oder angegriffen worden zu sein, wovon 72 Prozent sagen, dies sei keineswegs immer durch Jugendliche, sondern durch erwachsene Bürger geschehen (European Union Agency for Fundamental Rights 2009, S. 3). Die Dunkelziffer von Gewalt dürfte gerade im Bereich der verbalen Gewalt sehr viel höher sein, was es umso nötiger erscheinen lässt, die Übergänge zwischen bürgerlicher Islamophobie und extremistischer Gewalt gründlicher als bisher zu untersuchen. Es ist fraglich, ob der europäischen Öffentlichkeit diese Zusammenhänge hinreichend bewusst sind. Das European Monitoring Centre kritisiert unter anderem den Staat wegen des Fehlens offizieller Statistiken und Daten über islamfeindliche Gewalt, auch wenn das Zentrum zugleich von einem wachsenden Bewusstsein der Behörden spricht (European Monitoring Centre 2006a, S. 18, 23). Ein Beispiel hierfür ist, dass das deutsche Bundeskriminalamt politisch motivierte Gewalttaten etwa nach dem Angriffsziel »Moschee« seit 2001 auswertet.87

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In der Statistik wurden zwischen 2001 und 2008 153 Straftaten unter Rubriken wie »Brandstiftungsdelikte«, »Sachbeschädigung«, »Propagandadelikte« oder »Volksverhetzung« registriert. Das Gewaltniveau war in dieser Periode in etwa gleichbleibend. Die mögliche Annahme, dass es sich bei solchen Taten lediglich um spontane Gewaltausbrüche nach Attentaten wie in New York, Madrid oder London handelte, wäre also falsch. Islamfeindliche Gewalt hat sich auf einem erkennbaren Niveau dauerhaft in europäischen Gesellschaften etabliert, wobei die Dunkelziffer weitaus höher liegen dürfte als in den offiziellen Statistiken ausgewiesen. Während sich aufseiten der Behörden ein wachsendes Bewusstsein für die Frage islamfeindlicher Gewalt erkennen lässt, haben europäische Öffentlichkeiten das Thema bislang allerdings kaum aufgegriffen. In Deutschland beispielsweise begannen erst nach der Ermordung von Marwa El-Sherbini 2009 oder nach einer Serie von Anschlägen auf Berliner Moscheen Ende 2010 kurzlebige Debatten, in die sich auch der Zentralrat der Juden in Deutschland einbrachte, indem er klarmachte: »Islamophobie ist kein Phantom«.88 In der Regel aber wird islamfeindliche Gewalt lediglich in kleinen Meldungen in den Zeitungen registriert.89 Der Islam ist insgesamt ein geradezu idealtypisches Feindbild in europäischen Gesellschaften, das aufgrund zahlreicher kultureller, sozial-interaktionistischer, sozioökonomischer und bildungspolitischer Gründe in verschiedenen Erscheinungsformen des Differenzialismus, Essenzialismus, Krypto- und voll entwickelten alten und neuen Rassismus nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern tief im Bürgertum verwurzelt ist. Einstellungen zum Islam variieren. Kleinere Netzwerke in den europäischen Gesellschaften zeigen eine relativ hohe Akzeptanz und eine generelle Bejahung des Multikulturalismus, während größere Teile, wenn nicht sogar Mehrheiten der Bevölkerungen dem Islam ablehnend gegenüberstehen und ihn allenfalls dulden, ihm dabei aber die grundlegende Akzeptanz verweigern, eine gleichwertige Religion und Kultur zu sein. Der soziale Konflikt findet also unter asymmetrischen Machtbedingungen statt, wobei die Mehrheit selbst nach einer Inklusion in das hegemoniale Machtzentrum der Gesellschaft strebt, während eine Minderheit exkludiert wird – zumindest solange sie als Minderheit »sichtbar« bleibt und sich nicht vollständig assimilieren lassen will. Europäische Gesellschaften reproduzieren auf diese Weise nicht nur Feindbilder, sondern es wächst die Gefahr sozialer Diskriminierung und fremdenfeindlicher Gewalt. Wo diese Grenze überschritten wird, ist ein Bruch zwischen politischen Systemen und Gesellschaften bereits heute erkennbar. Die liberale Demokratie mit ihrem sehr labilen Gleichgewicht zwischen Verfassungsrechten der Freiheit und Gleichheit einerseits und dem Hegemonieprinzip der Mehrheitsdemokratie andererseits wird immer mehr infrage gestellt: Der Freiheit und Gleichheit kommt die »Brüderlichkeit« abhanden.

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2. M USLIMISCHE M INDERHEIT – E RFORDERLICHE I NTEGR ATION UND ANERKENNUNGSFÄHIGE S EGREGATION Beim Nachdenken über die liberale Gesellschaft befinden wir uns an einem neuralgischen Punkt. In Kapitel I haben wir festgestellt, dass die liberale Demokratie vom Einzelnen – also vom Individuum, gleich welcher Gruppe er angehört oder ob er sich überhaupt zu einer Gruppe zählt – nicht mehr verlangen kann als die Anerkennung des rechtlichen und politischen Rahmens. Alles andere fällt in den Bereich der gesellschaftlichen Freiheit. Die Anerkennung multikultureller Diversität ist quasi ein Abfallprodukt dieses Politikverständnisses. Allerdings mussten wir im Verlauf von Kapitel II erfahren, dass Probleme der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus in liberalen Demokratien deswegen noch lange nicht gelöst sind, sondern sich gerade an der Frage des Islams und der Islamophobie stetig neu entzünden. Man mag sich aus der Sicht einer liberalen Gesellschaft multikulturelle Anerkennung noch so stark wünschen – sie wird von einem erheblichen Teil der europäischen Bevölkerungen verweigert. Diese reagieren schichten- und milieuübergreifend mit einem Gemeinschaftsreflex, der einwandernde ethnische und religiöse Minderheiten ausschließt und Muslime und den Islam für inkompatibel mit Europas Werten erklärt. Die Frage also ist: Was läuft falsch? Wieso reicht vielen Menschen die Anerkennung quasi zeitloser Werte der Freiheit nicht aus, warum müssen sie soziale Inklusion und Exklusion betreiben, und warum ist ihnen, um mit der Terminologie Will Kymlickas zu sprechen, »kulturelle Mitgliedschaft« ebenso wichtig wie staatsbürgerliche Zugehörigkeit? Und wie kann es gelingen, Liberalismus und kulturelle Mitgliedschaft zu versöhnen, ohne in alte und neue Fundamentalismen zu verfallen? Einige moderne Denker haben zu diesem Zweck den paradox anmutenden Begriff des »multikulturellen Nationalismus« konzipiert. Dahinter verbirgt sich das Anerkennungscredo von mehr Akzeptanz, allerdings gekoppelt mit der Aufforderung, diesen Wert zu einem zentralen Wert ganzer Nationen zu erklären, zu denen man sich bekennen soll. Multikulturalismus und Anerkennung sind nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte überlassen, sondern werden zur »ground rule« einer Nation erklärt (Aleinikoff 1998; vgl. a. Hussain/Miller 2006; Kernerman 2005). Aus dem klassischen »Nationalstaat« soll eine neue »Staatsnation« werden, die sich als neue idelle Gemeinschaft versteht (Stepan et al. 2011). Der multikulturelle Nationalismus stellt eine schwierige Gratwanderung dar. Zwar wird nicht kulturelle Mitgliedschaft im hergebrachten Sinne der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie oder Religion erwartet, sondern der Kulturbegriff ist dynamisch, wechselseitig und durchlässig. Das Verständnis dessen, was als nationale Kultur betrachtet wird, ist explizit liberal. Dennoch handelt es sich bei dieser Schule, die gerade in den USA sehr verbreitet ist und dem amerikanischen Leitmotto »e pluribus unum« entspricht, um eine neue Form des

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Nationalismus. Menschen bekennen sich zu »Bindestrich«-Identitäten – Afro-, Italo-Amerikaner usw. –, es ist keine kosmopolitische Gemeinschaft der AntiVergemeinschafter, sondern lediglich eine Transformation des Nationalismus von einem stationären zu einem multikulturellen Gemeinschaftsideal. Die Befürchtung, die man dabei haben muss, ist allerdings, dass diese »neuen Nationen«, sollte sich diese Bewegung weltweit durchsetzen, auch neue Spannungen erzeugen, eben zwischen den Bindestrich-Angehörigen der verschiedenen Nationen. Außerdem ist bereits der Zwang, von der kulturellen Duldung zur kulturellen Akzeptanz fortzuschreiten, eine Einschränkung gesellschaftlicher Freiheit und des liberalen Prinzips. Man kann sich solchen scheinbaren Lösungen des Dilemmas zwischen Freiheit und Gemeinschaft, das die liberale Demokratie hinterlässt, nicht einfach vorbehaltlos anschließen. Aus liberaler Sicht ist multikulturelle gesellschaftliche Anerkennung zwar eine Notwendigkeit, um die rechtliche und politische Ordnung und damit auch die persönliche Freiheit abzusichern. Die Umwandlung der negativen Toleranz der bloßen Duldung von religiösen Minderheiten in eine positive Toleranz der Akzeptanz und Anerkennung ist wünschenswert. Diesen Übergang kann man durchaus auch als Gemeinschaftswert zelebrieren, aber nicht als Traditionswert einer »Nation«, denn dies würde wiederum andere ausgrenzen. Menschen im Extremfall vor ein Dilemma stellen zu müssen, sich zwischen einem rassistischen Mitglied der eigenen Nation und einem liberalen Mitglied einer anderen Nation entscheiden zu müssen, wie es der multikulturelle Nationalismus tut, ist prekär und nicht weiterführend. Allenfalls könnte man eine solche Haltung aber als notwendigen Zwischenschritt zu einem kosmopolitischen Liberalismus verstehen. Der liberalen Gesellschaft muss es letztlich darum gehen, ohne Zwang und aus eigener Bereitschaft wenn schon nicht alle Menschen, so doch einen großen Teil von ihnen dazu zu bewegen, sich um den Wert der Anerkennung zu scharen. Nicht kultureller Gleichklang und neue Identitäten sind das Ziel, sondern die Anerkennung der Möglichkeit der Differenz zwischen Menschen und Gruppen im Rahmen eines gemeinsamen Staatswesens. Unterschiedliche Gemeinschaftsformen innerhalb einer Gesellschaft, aber auch verschiedene Bezüge des Nationalen – multiple nationale Identitäten, doppelte Staatsbürgerschaften – müssen als schützenswert anerkannt werden, um Rassismus entgegenzuwirken. Eine solche Politik ist »postgemeinschaftlich«, da sie bestehende Grundlagen der Gemeinschaft – Religion, Ethnie usw. – schützt, zugleich jedoch über diese hinausgeht, sie ist damit aber auch »neogemeinschaftlich« in einem kosmopolitischen Sinne. Aus der »Gemeinschaft der Anerkennenden« werden lediglich Rassisten und Fundamentalisten kulturell ausgegrenzt. In der Sozialtheorie sind solche Gedanken bislang, anders als in der rechtsphilosophischen Debatte (Kap. I), kaum angekommen. Hier herrscht stattdessen eine ständige Spannung zwischen dem Durkheim’schen Integrations- und

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dem weberianischen Freiheits- und Konfliktdenken. Diese theoretische Ambivalenz ist auch bei soziologischer Betrachtung der Minderheiten selbst erkennbar. Der Schlüsselbegriff, um den sich in Europa die meisten aktuellen Debatten ranken, ist der der »Integration« von Minderheiten. Das Schreckensbild der Integrationstheoretiker – der sozial nicht vernetzte, nicht angepasste und nicht anerkannte Mensch – ist leider zum Teil aber gerade jener in den meisten Belangen freie, unabhängige und unangepasste Mensch des liberalen Gesellschaftsbildes. Daraus folgt, dass eine liberale Kritik des Integrationsbegriffs unabdinglich ist. Wie zu zeigen sein wird, bildet sich in der Sozialtheorie in letzter Zeit langsam ein Minimalkonsens der beiden Richtungen heraus, wobei Integrationsleistungen weniger über die Anpassung an bestimmte Werte und »Leitkulturen« der Mehrheit erfolgen sollen, sondern vor allem über sprachliche Kompetenzen als Voraussetzung für freie gesellschaftliche Formen des Dialogs, der sozialen Anerkennung und der Assoziation des Individuums mit unterschiedlichen Gruppen und Weltanschauungen.90 Die meisten Integrationstheorien gehen aber bis heute weit darüber hinaus. Sie stellen Anforderungen an das Individuum, die über die erforderliche Akzeptanz des Rechtsstaates und der politischen Werte der Demokratie hinausreichen. Hartmut Essers Integrationskonzept etwa besteht aus vier Ebenen: der »Sozialintegration« als Identifikation mit zentralen Werten einer Gesellschaft, der »Kulturation«, die vor allem die Sprachkompetenz beinhaltet, der »Platzierung«, was soviel wie die Übernahme einer Position in der Gesellschaft bedeutet, sowie der »Interaktion«, also der Aufnahme sozialer Beziehungen (Esser 2001). In Essers Konzept hängen all diese Prozesse voneinander ab und bedingen sich wechselseitig, was der entscheidende Unterschied zu liberalen Konzepten wie denen von Thomas Meyer ist (Kap. I.4), der explizit die Trennbarkeit dieser Dimensionen als den Wesenskern des liberalen Denkens postuliert. Forderungen, die über die »Sozialintegration« in Essers Terminologie hinausgehen, also mehr als die Akzeptanz zentraler rechtsstaatlicher Werte verlangen, sind aus Meyers Sicht als konservativ, radikal, fundamentalistisch, auf jeden Fall als nicht mehr »liberal« zu kennzeichnen. »Integration« ist trotz der Klärungsversuche der Wissenschaft ein unscharfer Begriff geblieben, was allerdings auch von anderen Konzepten wie »Toleranz« oder »Anerkennung« gesagt werden kann. Folgende Unterscheidungen sind von zentraler Bedeutung: Erstens, »Integration« betont die Bildung von Gemeinsamkeiten, »Anerkennung« hingegen die Möglichkeit – keineswegs die primordiale Existenz! – von Unterschieden zwischen Menschen und sozialen Gruppen. Zweitens, »Integration« tendiert dazu, als »Assimilation« verstanden zu werden, das heißt, die Bildung von Gemeinsamkeiten soll auf der Basis hegemonialer Denk- und Verhaltensweisen einer Gesellschaft erfolgen, die Minderheit soll ihre Eigenheiten zumindest im öffentlichen Raum ablegen. Unterscheidungsversuche wie die zwischen einer handlungsverändernden In-

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tegration und einer persönlichkeitsverändernden Assimilation (Stichweh 2010, S. 202) bleiben unklar. In der Wissenschaft ist zwar die Vorstellung von einer beiderseitigen Akkomodation von Mehrheit und Minderheit im Zuge der Integration verbreitet (Bade et al. 2010, S. 13, 21f.; Modood 2009, S. 104). Wie wahrscheinlich aber ist ein solches Entgegenkommen bei Kräfteverhältnissen wie denen zwischen gesellschaftlichen Mehrheiten und Minderheiten? Wenn die Integrationstheorie nicht zu einer Selbsttäuschung verkommen soll, muss sie anerkennen, dass derjenige, der von »Integration« spricht, nicht nur ein Bild der Gesellschaft vor Augen hat, bei dem erst die Bildung politischer, kultureller, ökonomischer und interaktionistischer Bande Gesellschaften krisenfest und stabil macht, sondern auch davon ausgeht, dass diese Bindungen hegemonial definiert werden, also mit erheblichen Freiheitseinbußen vor allem aufseiten der Minderheit verbunden sind. Man sollte die Integrationstheorie trotz dieser Feststellung nicht einfach als »konservativ« denunzieren, denn die Motive der entsprechenden Theoriekonzepte unterscheiden sich doch gewaltig. Während konservative Politik bis heute Integration, Assimilation und Anpassung weitgehend als Bringschuld von Einwanderern letztlich aus romantischen Vorstellungen von Heimat, Tradition und der Ewigkeitsgeltung bestimmter Kulturen und Nationen ableitet, ist das Weltbild vieler zeitgenössischer Integrationstheoretiker komplexer. Die Schnittstelle zwischen Integrationstheorie und Konzepten der liberalen Gesellschaft besteht darin, dass beide Richtungen vielfach durchaus ähnliche Ziele – eine auf Ordnung basierende, aber möglichst freie Gesellschaft – anstreben, Integrationstheoretiker jedoch einen anderen Weg dorthin beschreiten wollen. Identische Ziele werden also mit unterschiedlichen Mitteln verfolgt. Allein die Vorstellung von ethnischen und religiösen Minderheiten als ökonomisch nicht integriert, am Rande der Wohlstandsgesellschaft stehend, verleiht weiter gehenden Forderungen nach sozialer Integration natürlich eine scheinbare Plausibilität. Ob der staatsbürgerschaftliche Konsens der liberalen Demokratie auf Dauer ausreicht, um die Stabilität der politischen Systeme in Europa zu garantieren, ist ja äußerst fraglich. Die liberale Demokratie allein hat die beiden Schreckensbilder der Integrationstheorie nicht beseitigen können: Rassismus vonseiten der Mehrheit und Segregation bzw. Separatismus vonseiten der Minderheit. Während wir über Rassismus hinreichend gesprochen haben, ist »Segregation« von Minderheiten erklärungsbedürftig. Für sie ist in den letzten Jahrzehnten vielfach der Begriff der »Parallelgesellschaft« verwendet worden. Kriterien für das Entstehen dieser Parallelgesellschaften sind nach Susanne Worbs: Abbruch der Kommunikation mit der Mehrheitsgesellschaft; sprachliche, religiöse und kulturelle Segregation; sozioökonomischer Rückzug durch den Aufbau alternativer Ökonomien und Arbeitsmärkte; soziale Abgrenzung durch den Aufbau von Parallelinstitutionen (z.B. in den Bereichen Bildung und Freizeit); Verdichtung sozialer Kont-

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rolle gegenüber Mitgliedern des Kollektivs bis zu physischem und psychischem Zwang; faktische Verhinderung der Inanspruchnahme der demokratischen Rechtsordnung und Ausbildung eines selbstverwalteten Rechtsbezirks (z.B. islamisches Recht); siedlungsräumliche Absonderung und sozial-lebensweltliche Segregation (Worbs 2007, S. 11). Esser ist zwar der Ansicht, dass auch »Mehrfachintegration«, also Integration in die ethnische oder religiöse Gemeinschaft wie auch in den neuen sozialen Zusammenhang des Aufnahmelandes, prinzipiell möglich, aber eine Ausnahme sei: Weil die Mehrfachintegration nur unter sehr speziellen (günstigen) Verhältnissen zu erwarten ist und weil die Marginalisierung der Migranten kein politisches Ziel sein kann, gäbe es als Optionen für die Sozialintegration der Migranten nur die Alternativen der Segmentation und der Assimilation. […] Im Prinzip sind ethnisch pluralisierte multiethnische Gesellschaften als eine Kombination von gelingender Systemintegration einer Gesellschaft bei Fehlen von ›Assimilation‹ der Gruppen theoretisch denkbar. Empirisch gibt es sie jedoch so gut wie immer nur als ein System der ethnischen Schichtung. (Esser 2001, S. 73ff.)

Muss man zum Mittel der Integration und Assimilation greifen, um die rassistische und die segmentierte Gesellschaft zu vermeiden? Trotz der Tatsache, dass der klassische Liberalismus hier keinen Ausweg gewiesen hat, ist zu bezweifeln, dass »Integration«, wo diese über den staatsbürgerlichen Rahmen hinausgeht, eine probate Alternative zur Beseitigung dieser Phänomene ist: • Gerade bei religiösen Minderheiten, aber auch bei anderen Minderheiten mit dauerhaft »sichtbaren« Merkmalen, die sich nicht über die Jahrhunderte durch Mischehen assimilieren lassen, bis sie kaum noch erkennbar sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Integration und die Förderung von sozialen Gemeinsamkeiten und Netzwerken den Rassismus abbaut, äußerst gering. Eine zumindest oberflächlich benennbare Differenz bleibt etwa zwischen Muslimen und Christen stets vorhanden. Alle Bindungen sind dagegen nur Momentaufnahmen, was sich historisch verschiedentlich gezeigt hat. Soziale Interaktionen mit Juden waren intensiv, wurden aber in der Nazi-Periode in der Regel rasch wieder gelöst. Den Juden half ihre gehobene ökonomische Position wenig – und erst recht nicht ihre gelungene Akkulturation. Im Gegenteil, je mehr sie sich integriert hatten, desto eher wurde ihnen vorgeworfen, die Kultur »entartet«, das Volkseigentum »geraubt« und sich als »Fünfte Kolonne« einer Weltverschwörung in das soziale Gewebe »eingeschlichen« zu haben. Schon im 19. Jahrhundert war eine Tendenz zu erkennen, dass Juden, nachdem man sie lange Zeit für ihre Absonderung kritisiert hatte, nun, da sie sich langsam rechtlich emanzipierten, sich gerade in der liberalen Verfassungsbewegung engagierten und sich gesellschaftlich

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einbrachten, vorgeworfen wurde, sie wollten die Gesellschaft unterwandern, kontrollieren und dominieren (Bronner 1999, S. 61). In der heutigen jüdischen Gemeinde Deutschlands wird daher Integrationspolitik sehr stark kritisiert (Eisenberg 2010/11). Den Zerfall scheinbar integrierter Gemeinschaften haben wir auch bei der Auflösung von Integrationsbanden im ehemaligen Jugoslawien erlebt. Daraus lässt sich folgern, dass die Verleugnung von Minderheitenkulturen mit dem Ziel, den Rassismus zu beschwichtigen, ein schwerer Fehler ist. Liberalismus-, Anerkennungs- und Konfliktkonzepte haben hier historisch die besseren Argumente auf ihrer Seite: Nur wenn die Minderheitenkultur nicht zur Assimilation gezwungen wird, sondern sich den Weg einer gleichberechtigten Anerkennung einer Gesellschaft (Kultur, Nation usw.) erkämpft, nur wenn sie ganz selbstverständlich in den Akademien und Schulen gelehrt, in den Medien popularisiert, von den zentralen politischen Ideologien beachtet und für das jeweilige Land traditionsbildend wird, besteht eine Chance, Rassismus zu beseitigen. • Die Angst vor Segregation durch Minderheiten berücksichtigt nicht, dass hier Extremfälle generalisiert werden. Essers Vorstellung von der empirischen Kaum-Beweisbarkeit der »Mehrfachintegration« ist äußerst fraglich – vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Die vollendete Parallelgesellschaft, im Sinne der Definition von Worbs, ist eine Ausnahme, die Grauzonen sind bei den meisten Menschen, die in bestimmten Bereichen mehr, in anderen weniger Berührung mit der Mehrheitsgesellschaft aufweisen, die Regel. Die vollendete »Parallelgesellschaft« wäre eine Art mafiöser Staat im Staate. Ansätze dafür gibt es in Europa, lassen sich aber nicht verallgemeinern. Hinzu kommt, dass auch Mitglieder der Mehrheit im Sinne Essers gar nicht immer integriert sind. Nicht jeder Mensch hat Freunde, ist gut vernetzt, hat seine ökonomische Position in der Gesellschaft gefunden und nicht einmal die sprachliche Integration ist angesichts der verschiedenen Soziolekte und des verbreiteten Quasi-Analphabetismus auch in Europa vollständig gegeben. Das Dilemma zwischen Assimilation und Segregation folgt dem Motto: »Weber für die Mehrheit, Durkheim für die Minderheit« und ist insofern künstlich konstruiert. In Wirklichkeit beschreibt eine Kombination aus sozialer Anpassung und Eigenheit die Lebensrealität der meisten Menschen – der Minderheiten ebenso wie der Mehrheiten – viel besser. Iris Marion Young kritisiert aus ähnlichen Gründen das Ideal einer völlig integrierten Gesellschaft, betont darüber hinaus aber auch andere Argumente gegen »Integration« als gesellschaftliches Leitbild. Integration, so Young, festige die Hegemonie der Mehrheit, negiere die Möglichkeit der freien Assoziation des Menschen, das Scheitern der Integration werde bestraft, belaste eine Gesellschaft schwer und die Mehrheit sei, gerade weil sie in der Mehrheit sei, gar nicht bereit, sich integrieren zu lassen, was man etwa bei der Frage der Wohn-

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segregation erkennen könne und was, wie man hinzufügen kann, auch durch bereits zitierte Studien über die mangelnde Bereitschaft vieler Europäer zu Kontakt mit den Muslimen bestätigt wird: I question [the ideal of integration] as an appropriate guide for action to eliminate the harms of residential racial segregation. This idea tends wrongly to focus on patterns of group clustering while ignoring more central issues of privilege and disadvantage. (Young 2000, S. 216f.)

Young argumentiert, dass ethnische und religiöse Segregation nicht an sich falsch sind, zumal sie als Strategien gegen Diskriminierung geeignet sein können, sich neuer Wertschätzung in der eigenen Gruppe zu versichern. Sie beklagt, dass gerade in Europa zu viel Wert auf das Ideal der vollständigen Integration gelegt wird und dass diese Ideologie insbesondere gegenüber Einwanderern aus Asien und Afrika geltend gemacht wird (Young 2000, S. 219). Integration ist demnach nicht nur ein übertriebener und langfristig ineffizienter Ansatz zur gesellschaftlichen Befriedung, sondern ist auch Ausdruck eines kulturellen Machtanspruchs der Gesellschaftsmehrheit. Young schränkt allerdings ein, dass ein Minimum an demokratischer Partizipation und an Teilhabe an der sozioökonomischen Solidargemeinschaft erforderlich sei. Daher gelangt sie insgesamt zu einem Konzept der »differenzierten Solidarität« (differentiated solidarity), wobei auf der Basis eines grundlegenden Bekenntnisses zum politischen System und zum Sozialsystem kulturelle, kommunikative und soziale Eigenständigkeit und sogar soziale Introvertiertheit möglich sein und ihren Sinn haben können (Young 2000, S. 221ff.). Man kann unter Umständen Youngs »differenzierte Solidarität« als Gegenstück zu Will Kymlickas »multicultural citizenship« bezeichnen (Kap. I.1). Interessanterweise hat sich der Integrationstheoretiker Hartmut Esser im Rahmen der Deutschen Islam Konferenz einem ähnlichen Konzept genähert, das zwar Minima der Integration festlegt, aber doch sehr viel liberaler ist als frühere Integrationskonzepte und der Segregation unter dem Begriff der Vielfalt nun wesentlich mehr Raum gibt. Esser schlägt vor, die politische Integration zur Grundlage zu erklären, ebenso die soziale Integration im Sinne einer Teilhabe an Bildung und Arbeitsmarkt sowie kulturelle Integration, aber beschränkt auf den Erwerb der Sprachkompetenz des Landes, in das immigriert wurde: »Eine derartige ›Akkulturation‹ ist aber […] keine Zumutung an die Migranten und ethnischen Gruppen, denn sie liegt schon in ihrem eigenen ›objektiven‹ Interesse, und innerhalb weiter Grenzen lassen sich darin alle möglichen Formen der ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt denken« (Deutsche Islam Konferenz 2009, S. 102). Tatsächlich scheint die Formel Systemakzeptanz + Bildungs- und Arbeitsplatzintegration + Sprachkompetenz einen tragbaren Kompromiss zwischen liberalen Urformeln der vollständigen Freiheit innerhalb der

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bestehenden Ordnung und Konzepten einer vollständigen Integration zu bilden. Der liberale Kern bleibt erhalten und wird lediglich ergänzt um Elemente, die das ökonomische Überleben durch das Knüpfen notwendiger Bande zur Mehrheitsgesellschaft ermöglichen. Die Forderung nach sprachlicher Integration anstelle einer umfassenden kulturellen Integration – letztere ist freiwillig und wird nicht mehr gefordert – ergibt sich nicht nur notwendig aus den ersten beiden Forderungen, sondern sie ist auch für alle weiteren »Anerkennungskämpfe« und für den Dialog der Minderheit mit der Mehrheit erforderlich. Maximale Eigenständigkeit der Lebensstile entsteht in der liberalen Gesellschaft daher weder durch vollständige Integration noch durch vollständige Segregation. Eine »kluge Politik der Differenz« (Schiffauer 2008) – statt einer zu pauschalen »Polemik gegen Assimilation« (Stichweh 2010, S. 203) –, die bestimmte Minima politischer und sozialer Werte verlangt, sich aber davor hütet, ein künstliches Loyalitätsdilemma zwischen entweder Integration oder Segregation zu erzeugen, sondern multiple Identitäten zulässt, ist durchaus als multikulturelles Konzept des Liberalismus zu verorten (Heywood 2007, S. 321). Stabilität und Zusammenhalt werden in einem solchen Konzept nicht nur durch Netzwerke und Gemeinsamkeiten erzeugt, sondern auch durch Anerkennung – nicht Ignoranz, Duldung oder Ablehnung – von Differenz und Nicht-Integration. Das Recht auf Differenz haben nicht nur Individuen, was radikal-liberalen Kritikern des Multikulturalismus wie Amartya Sen (Kap. II.1) verdeutlicht werden muss. Dieses Recht auf Differenz haben auch soziale Gruppen wie religiöse Minderheiten. Eine von Individuen wie Gruppen erzeugte gesellschaftliche Widerständigkeit, die auf kulturelle Anerkennung durch die Mehrheit pocht, hat aus historischer Sicht sicher keine geringe Chance, Gesellschaften zu stabilisieren. Der soziale Konflikt zwischen Mehrheit und Minderheit ist geradezu nötig, auch wenn das Beispiel der Moscheekonflikte gezeigt hat, dass nicht jeder Konflikt förderlich sein muss. Gerade die vom europäischen Bürgertum in den letzten Jahrzehnten inszenierten Konflikte um Kopftücher und Moscheen sind vielfach – nicht immer – Anzeichen »unreifer« Konflikte, da sie von einem unaufgeklärten Islambild ausgehen (Kap. II.1). Kulturelle »Anerkennungskämpfe« müssen aber ungeachtet der ungleichen Machtverhältnisse in Europa geführt werden, um gesellschaftliche Einstellungen, Institutionen, Wissen und Werte in einer Weise zu verändern, die echte Stabilität durch aktive Integration von Differenzoptionen ermöglicht. Weder vollständige Integration noch vollständige Segregation sind gefordert, um den Bruch zwischen der liberalen Demokratie und den europäischen Gesellschaften zu verhindern, sondern ein Dialog auf der Basis der freiheitlichen Ordnung und maximaler Eigenständigkeit von Lebensstilen. Zusammenhalt und Gemeinsinn lassen sich in der liberalen Gesellschaft nicht verordnen. Zu der Befürchtung, dass diese an solchen Kulturkonflikten zerbrechen muss und sich nicht entwickeln kann, besteht aber kein Grund (Ekardt 2009).

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Selbst wenn sich hier ein sinnvoller theoretischer Mittelweg abzeichnet, wird man allerdings einräumen müssen, dass solche Konzepte sehr holzschnittartig sind. Die theoretische Soziologie scheitert mit ihren Theorieentwürfen sicherlich an der Vielzahl biographischer Varianten, die erst ein realistisches Abbild der Gesellschaft ergeben. Konstrukte wie »Mehrheit« und »Minderheit« sind in letzter Instanz viel zu grob und werden daher auch immer umstritten bleiben. Allerdings stellen sie Residualkategorien für Denken, Handeln und soziale Orientierung dar, die sich als äußerst beharrlich erwiesen haben. Ein Faktor ist bislang jedoch noch gar nicht behandelt worden oder ist in der Sammelkategorie »Kultur« untergegangen: die Frage der Religion, der Religionsfreiheit, des religiösen Individualismus oder der religiösen Integration. Indiskutabel ist »Integration« als eine kategorische Forderung nach »Konversion« – diese Zeiten sind vorbei. Die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, Folgen und Grenzen von religiöser Darstellung im öffentlichen Raum aber ist noch ungeklärt. In der Diskussion des Säkularisierungskonzepts haben wir bereits festgestellt, dass der Kern von Säkularität nicht die Privatisierung von Religion sein kann; Privatisierung und Laizisierung sind vielmehr Nebenthesen des übergeordneten Zentralmotivs der Gleichberechtigung der Religion vor Staat und Gesetz (Kap. I.1). Während aber die zentralen Orte der liberalen Demokratie die staatlichen Gewalten sein mögen, ist der zentrale Ort der Gesellschaft die Öffentlichkeit. Was aus politischer Sicht daher nebensächlich erscheint – das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit –, kann aus gesellschaftlicher Sicht vorrangig werden. Neo-Religiosität hat in den letzten Jahrzehnten in der islamischen und in der westlichen Welt unterschiedliche Formen angenommen, aber einen Aufschwung der Religiosität, nach Jahrhunderten einer eher abnehmenden Bedeutung, wollen Beobachter wie José Casanova durchaus in beiden Sphären erkennen (Kap. I.1). Der Zusammenhang zwischen Neo-Religiosität und liberaler Gesellschaftsidee ist komplex. In der islamischen Welt sind nicht nur fundamentalistische Bewegungen gestärkt worden, sondern auch zahlreiche Formen eines liberalen oder konservativen Reformislams (K. Hafez 2009). Sozialer Konservatismus und gruppale Identitätssuche gehen einher mit (westlich geprägter) kultureller Moderne, mit Medien, Moden und Internet. Dies gilt ebenso für den amerikanischen Protestantismus, der, wie Casanova selbst sagt, vor allem eine vielfach konservative Erneuerungsbewegung religiöser Werte und Gemeinschaftsideale im Rahmen der liberalen Grundordnung ist. Durch die ganz anderen politischen und sozialen Rahmenbedingungen neigt ein größerer Teil des Neo-Islams und ein eher kleinerer Teil des Neo-Christentums in westlichen Industriestaaten zum politischen Fundamentalismus, indem er sich – sofern er nicht ohnehin gewaltsam agiert – gegen das Prinzip der säkularen Rechtsordnung wendet. In der islamischen Welt führt dies zu den bekannten Forderungen nach Einführung des islamischen Rechts (Scharia); in den USA

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hat es die Bewegung des Kreationismus in vielen Bundesstaaten geschafft, die biblische Schöpfungsgeschichte als Alternative zum Darwinismus gesetzlich verankern zu lassen. Sieht man allerdings von diesen Entwicklungen ab, so stellt man fest, dass sowohl der Islam als auch das Christentum heute immer wieder Haltungen hervorbringen, die zwar den politischen Rahmen der liberalen Demokratie akzeptieren, aber wertefundamentalistisch ausgerichtet sind und anderen Religionen die »ökumenische« Anerkennung verweigern – Anschauungen, die auch in den zentralen Institutionen der Religionen verbreitet sind (Kap. V). Religiöse Intoleranz kann also durchaus die Frage der gegenseitigen Anerkennung von Mehrheit und religiösen Minderheiten auch in Europa beeinträchtigen. *** Wie im Fall der Mehrheitsgesellschaft muss man zur Ergründung der Frage, welche Einstellungen die Muslime Europas zu Integration und Anerkennung haben, zwischen Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung, zwischen »schweigenden Mehrheiten« (der Minderheit) und »Eliten« unterscheiden. Der Elitenbegriff ist generell schwierig und leicht kritisierbar, man grenzt aber etwa Macht- von Funktions- und Werteeliten ab, wobei wir uns mit Machteliten bereits beschäftigt haben (Kap. I), weswegen wir uns hier auf Funktions- und Werteeliten beschränken und deren Diskurse näher betrachten wollen. Natürlich besitzen Intellektuelle, Wissenschaftler und gesellschaftliche Repräsentanten oft keine Legitimität im Sinne demokratischer Wahlen. Da Einwanderer in größerer Zahl erst spät aus der islamischen Welt nach Europa gekommen sind, zählen ihre Eliten zu den latecomern (Vogt 2002, S. 99) und haben sich in den meisten Ländern frühestens seit den 1980er, vielfach erst seit den 1990er Jahren herausgebildet. Ihr Etablierungsprozess ist in vollem Gange, und trotz der Tatsache, dass Muslime in öffentlichen Debatten vielfach noch zu wenig gehört werden (Zemni/Parker 2002, S. 241), ist ihre Entwicklung dynamisch, was sich schon anhand des Aufstiegs muslimischer Einwanderer in den Reihen europäischer Parteien und Parlamente zeigen ließ (Kap. I.3). Muslime sind auch in Universitäten, freien Professionen und in den Medien in wachsendem Maße präsent (Sunier/van Kuijeren 2002, S. 155). Schon ein kursorischer Einblick in nur einige Stimmen europäischer muslimischer Eliten zeigt, dass Haltungen zu Fragen wie Liberalismus, Anerkennung und Integration sehr uneinheitlich sind und sich Strömungen zuordnen lassen, die weitgehend identisch mit den geschilderten theoretischen Positionen in diesen Bereichen sind. Zahlreiche Stimmen zielen auf eine verbesserte Anerkennung des Islams durch die Mehrheitsgesellschaft. Mona Sahlin etwa fordert Respekt und Anerkennung von Differenz. Sie entwirft die Vision eines »Europas der Diversität« und stellt fest, dass man, um den Rassismus vollstän-

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dig zu beseitigen, das Anderssein »umarmen« (to embrace) müsse.91 Sabiha El-Zayat spricht gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Holocaust von einer »Notwendigkeit des gegenseitigen Austauschs«, bloße Duldung oder Sichertragen reiche nicht aus, dialogische Elemente seien ein »entscheidendes Entwicklungsmoment« (El-Zayat 2001, S. 29f.). Unter den Muslimen in Europa gibt es allerdings nicht nur Vertreter eines anerkennungsorientierten Multikulturalismus. Wie im Fall Amartya Sens gibt es gerade bei den muslimischen Eliten Stimmen, die eher klassisch-liberalen oder vielfach auch links-integrationistischen Positionen zuneigen. Sami Zubaida etwa kritisiert, der Begriff des Multikulturalismus beinhalte apriorische Annahmen über die Existenz einer Einheit »der Muslime« bzw. »des Islams«, die sich bei näherer Betrachtung als extrem problematisch erweisen.92 In ihrem Werk »After Multiculturalism« beklagt Yasmin Alibhai-Brown die Zerklüftung der Gesellschaft in statische ethnisch-religiös divergierende Gruppen.93 Jamal Malik und Levent Tezcan haben sich ähnlich geäußert (Kap. I.1 und I.2). Diese Intellektuellen machen im Grunde klassische liberale Argumente geltend, sie sind individualistisch orientiert und wenden sich gegen die aus ihrer Sicht künstliche Konstruktion der Muslime als Gruppe oder Gemeinschaft – einen Vorgang, den sie als Form der »Ethnisierung« ablehnen. Die Stimmen zeigen, dass es unterschiedliche Positionen bei Muslimen gibt, die aber selten klar definiert sind, so dass die Grenzen zwischen den Haltungen vielfach porös sind. Erkennbar ist, dass gerade Vertreter der Schule des klassischen und des multikulturellen Liberalismus oft aneinander vorbeireden: Während die Multikulturalisten vor allem die Notwendigkeit von Öffentlichkeit, sozialem Konflikt und kultureller Anerkennung betonen, wenden sich ihre Kritiker nicht gegen diese Tendenz an sich, sondern gegen die kollektivistischen Trends, die sie dahinter vermuten. Es muss also noch einmal hervorgehoben werden, dass aus der Perspektive der liberalen Schule »Anerkennung« sowohl individuelle als auch gruppale Züge tragen kann und dass weder eine kollektivistische Eingemeindung noch physischer oder psychischer Zwang als legitime Mittel zur Erzeugung eines muslimischen Konsenses betrachtet werden. Freiwilligkeit sowie die Grund- und Menschenrechte des Individuums bleiben Voraussetzung für jede Form von Anerkennungspolitik. Es reicht in diesem Sinne tatsächlich nicht aus, dass Muslime, lediglich weil sie Muslime sind, für eine bestimmte Politik vereinnahmt werden. Wegen der fehlenden Institutionalisierung durch Kirchenmitgliedschaft und Steuerpflicht ist die Identität von Muslimen vielfach gar nicht feststellbar und müsste aus liberaler Sicht durch ein Bekenntnis abgesichert werden. Auch als Muslime geborene Menschen können Atheisten oder »Kulturmuslime« sein, die zwar in einem muslimischen Kontext sozialisiert wurden, denen aber das Bekenntnis zum Glauben fehlt (Sakaranaho 2006, S. 208). Zugleich muss man allerdings einräumen, dass Religionen keine reinen Individualprodukte sind, sondern in aller Regel neben geteilten

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Schriften und Symbolen starke Gemeinschaftsbezüge in Ritus und Theologie aufweisen. Es wäre eine reduzierte Sichtweise, Individualisierung/Privatisierung als Grundzustand von Religion betrachten zu wollen. Zur Freiheit gehört eben auch die Freiheit der Assoziation und das individuelle oder kollektive Bekenntnis zur Religion ist bei vielen Muslimen Bestandteil ihres praktizierten Selbstverständnisses, gelegentlich ist es auch eine logische Alternative zur gesellschaftlichen Diskriminierung und Islamophobie (s.u.). Jytte Klausen hält Europas Muslime für ganz überwiegend liberal orientiert und grenzt sich damit von Intellektuellen wie Olivier Roy oder Gilles Kepel ab, die die Annäherung des Islams an den Liberalismus für wenig aufrichtig halten (Klausen 2006, S.  254ff.). Derartige Meinungsunterschiede rühren zum Teil sicher von der beschriebenen im muslimischen Lager erkennbaren Unschärfe der Positionen eines multikulturellen Liberalismus als Mittelweg zwischen klassisch privatisiertem Liberalismus und Kommunitarismus oder Fundamentalismus. Gedankliche Heterogenität liegt in der Natur des liberalen Denkens, das ideologische Offenheit, Textkritik und Pluralität von Denk- und Lebensstilen zur zentralen Botschaft macht. Sie ist aber auch dadurch bedingt, dass liberale und linksliberale Programme europäischer Parteien bei der Frage des Multikulturalismus und des Islams vielfach noch wenig ausgereift sind (Kap. I.3). Gerade die progressive Szene muslimischer Eliten in Europa gilt nach wie vor als »disparat« (Rohe; Friedrich-Ebert-Stiftung 2007, S. 29). Ein Beispiel für die mangelnde programmatische Klarheit lässt sich etwa beim deutschen Bundestagsabgeordneten der Grünen Omid Nouripour finden (Nouripour 2007). Er äußert Verständnis für das Gemeinschaftsstreben vieler Einwanderer in Deutschland, er betrachtet ethnische oder religiöse Vergemeinschaftung als ebenso legitim wie andere legale Vereinsbildungen. Zugleich aber plädiert er für ein Menschenbild, das alle Sozialbeziehungen in Betracht zieht, die Beziehungen zur Gruppe ebenso wie die zur Gesellschaft, in die der Mensch integriert ist. Dies alles bezeichnet er als »radikalen Republikanismus in einer multikulturellen Realität« (Nouripour 2007, S.  87), was verwirrend ist, da es radikal republikanische Positionen waren, die es den Schweizern erlaubten, den Bau von Minaretten zu verbieten. Nicht multikultureller Republikanismus, sondern multikultureller Liberalismus ist ein treffender Begriff für Nouripours Haltung, denn der Liberalismus macht eben, anders als der Republikanismus, positive Werte- und Rechtsbezüge geltend, die nicht vom radikalen Volkswillen oder von Bürgertugendbewegungen infrage gestellt werden können. »Liberalismus« aber ist als Begriff für Nouripour möglicherweise deswegen heikel, weil dessen Partei Die Grünen in einem politischen Konkurrenzkampf zur liberalen Partei in Deutschland, der FDP, steht. Intellektuelle Positionen werden durch politische Rücksichtnahme verschleiert. Der liberale Multikulturalismus unter europäischen Muslimen wird nicht zuletzt wegen solcher Unklarheiten von seinen Kritikern teils als zu kollekti-

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vistisch, teils aber auch als zu individualistisch abgetan. Denn zur klassischoder linksliberalen Kritik kommen auf der anderen Seite einflussreiche Eliten und Organisationen, die man eher dem kommunitaristischen Lager zurechnen kann und deren Haltungen in den europäischen Öffentlichkeiten vielfach als repräsentativ für die Muslime Europas betrachtet werden (Klausen 2006, S. 256). Abgesehen von extremistischen Positionen bekennen sich auch die meisten Vertreter dieser Richtungen zum Recht und zu der politischen Ordnung Europas, suchen aber nach Wegen mitunter auch legaler Segregation von der Mehrheitsgesellschaft und formulieren in sozialer und kultureller Hinsicht einen klaren Primat der Eigengruppe. Für den Kommunitarismus der Muslime Europas, den dieser Autor andernorts als »konservativen Reformislam« bezeichnet hat (K. Hafez 2009, S. 42-50), steht die Suche nach einem neuen Gemeinschaftskonsens der Muslime im Vordergrund. Vordenker wie Tariq Ramadan lassen dabei aber offen, ob sie für Integration, Anerkennung in der multikulturellen Gesellschaft oder Segregation plädieren, da für sie der Prozess innerhalb der muslimischen Gemeinschaft Vorrang hat: So könnten wir zwar fortfahren, von Assimilation, Integration und Isolation zu sprechen, aber die Begriffe bleiben leer, solange wir nicht wissen, wer das betreffende ›Subjekt‹ sowohl im wörtlichen als auch im philosophischen Sinne ist. […] Der Weg der rechten Mitte ist anspruchsvoll: er verlangt von uns, zunächst die muslimische Identität hinsichtlich ihrer Prinzipien wie ihrer Grundlagen zu definieren. […] Dieser Ansatz gebietet schließlich, dass wir eine geistige Revolution durchleben, da es für uns nicht mehr um die Frage gehen kann, welcher Platz der unsrige sein wird (›aufgelöst innerhalb‹ oder ›isoliert außerhalb‹), sondern vielmehr darum, die Weise unseres aktiven Beitrags zu bestimmen. Beitrag bedeutet Präsenz, Austausch, Teilnahme und Geben: das ist sehr viel mehr, als bloß integriert zu werden. (Ramadan 2001, S. 232f.)

Während gesellschaftliche Abschottung bei muslimischen Kommunitaristen trotz aller Wertschätzung der Eigengruppe und der muslimischen Kollektivität und Identität keineswegs zwangsläufig ist, hat sie bei als »fundamentalistisch« bezeichneten Gruppen und Positionen durchaus Programm. Der Kultur- und Sozialanthropologe Werner Schiffauer hat sich intensiv mit der in Deutschland aktiven Gruppe Millî Görüş und anderen türkischen Islamisten beschäftigt. Nach Schiffauer lässt sich der Islamismus zwar nicht durch Diskriminierung allein erklären, aber die Abkehr vom westlichen Lebensstil war in diesen Kreisen bei nach Europa eingewanderten Teilen der Bewegungen oft stärker als in der Türkei (Schiffauer 2004). Es kam zu einer Aufspaltung der Gemeinde und Abspaltung der politischen Radikalen um den Prediger Cemaleddin Kaplan. Millî Görüş war dennoch lange von anti-demokratischen Grundhaltungen und Grundsatzkritik gegenüber der liberalen Demokratie geprägt. Auch wenn sich die Frage, welche Staatsform Millî Görüş letztlich anstrebt und wie sie zum

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islamischen Recht (Scharia) und zur Säkularität steht, nicht eindeutig beantworten lässt, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte ein Bruch zwischen radikaler Ideologie und dem wesentlich zivileren Alltag der Gruppe erkennbar geworden (Schiffauer 2004). Die zweite Generation der bereits in Deutschland geborenen Mitglieder hat eine weitere Entwicklung durchgemacht, zu der auch eine zentralere Rolle von Frauen gehört, die nun einen doppelten Kampf gegen Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft wie auch durch die eigenen Männer führen (Schiffauer 2004). Schiffauer kritisiert die Fundamentalismustheorien als krude Konstruktionen des »Anderen« und als Bedrohung des eigenen politischen Systems, der westlichen Moderne, der Aufklärung und der zivilen Gesellschaft (Schiffauer 2000, S. 315). Das Weltbild der Islamisten ist demnach »genauso berechtigt oder unberechtigt wie andere Weltbilder« (Schiffauer 2000, S. 319). Anders als aus Schiffauers anthropologischer Perspektive kann man diese »fundamentalistischen« Bewegungen allerdings aus Sicht der liberalen Theorie nicht vollständig relativistisch betrachten. Islamisten stehen in einem möglichen Widerspruch zu den Menschenrechten, zum Rechtsstaat und zur Säkularität der politischen Ordnung. Ihr Verhältnis zu dem von Iris Marion Young und anderen angedeuteten Sozialkompromiss – dem Recht zur Segregation unter dem Vorbehalt von Systemakzeptanz, ökonomischer Solidarität und sprachlicher Akkulturation – ist unklar. Zwar ist es richtig, dass die Beziehung dieser Gruppierungen zur Moderne ambivalent und nicht einheitlich ablehnend ist und dass ihr ausgeprägter Wertekonservatismus gegen den europäischen »Zeitgeist« gerichtet sein mag, aber bis auf wenige Verstöße rechtlich und gesellschaftlich tolerabel sein muss und reaktionären Denk- und Verhaltensmustern des konservativen oder rechten Lagers in Europa vielfach gar nicht unähnlich ist (K. Hafez 2009, S. 50ff., 69ff.). Auch ist nicht bekannt, dass Islamisten es an ökonomischer Solidarität im Sinne der Steuerzahlung mangeln lassen, zumal das soziale Engagement innerhalb der Eigengruppe der Muslime oft beträchtlich ist und sie regulär am Arbeitsleben teilnehmen. Dennoch ist ihr Selbstbild in der Regel auf religiöser und kultureller Überlegenheit aufgebaut – hier sind sie islamophoben Haltungen strukturell ähnlich – und ebenso wie bei weiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft, die den Islam nicht anerkennen und allenfalls dulden, bestehen berechtigte Zweifel, ob sie – die islamischen Fundamentalisten – Europas liberalen Gesellschaftsentwurf eigentlich akzeptieren, ihn also, im Sinne von Rainer Forst, als gleichwertig anerkennen. Ihre zum Teil rigiden Bilder westlicher Gesellschaft und Kultur, die bis zum Antisemitismus reichen können, werfen erhebliche Fragen auf.94 Das Hauptproblem ist also nicht die mangelnde gesellschaftliche »Integration«, sondern die teilweise fehlende »umgekehrte Anerkennung« der Mehrheit durch eine (fundamentalistische) Minderheit innerhalb der Minderheit. Aus der Sicht liberaler Politik- und Gesellschaftssysteme sind islamische Fundamentalisten teilweise anders zu bewerten als aus dem diskurs- und handlungstheoretischen

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Blickwinkel von Schiffauers Sozialanthropologie oder Ethnomethodologie, die auf strukturelle Aussagen gesellschaftlicher Kausalzusammenhänge mit Absicht verzichtet und sich auf die »Diskurskämpfe« und die rationalen Motivlagen bestimmter Akteure konzentriert. Man könnte nun versucht sein, gesellschaftliche Toleranz eben als Produkt der modernen Gesellschaft zu betrachten, zu der Einwanderer, die aus teilweise vormodernen Gesellschaften stammen, gar nicht in der Lage sind. Dies wäre allerdings aus verschiedenen Gründen ein Fehlschluss, und zwar weil hier die vor-modernen wie auch die modernen Qualitäten islamischer Elitepositionen unterschätzt würden. Theologie und Ideologie des Islams werden heute in Staaten von Marokko bis Indonesien geprägt, die man als multisektoral einstufen kann. Traditionelle und hochmoderne Gesellschafts- und Wirtschaftsformen koexistieren dort und auch die traditionelle islamische Gesellschaft hat einen gewissen Pluralismus vorzuweisen (Salewski 2006, S. 210). Wie im Christentum gab es in der islamischen Geschichte tolerante und weniger tolerante Perioden, Strömungen und Regionen. Die Toleranzgeschichte des Islams ist alt, sie hat ein friedliches und fruchtbares Zusammenleben unterschiedlicher Religionen (z.B. im mittelalterlichen Spanien) ermöglicht, Pogrome gegen Juden waren weitaus seltener als in Europa, und noch im Zweiten Weltkrieg flüchteten viele Juden Europas in die Türkei oder nach Marokko. Angelika Hartmann: Toleranz als Verstehensvorgang für das Leiden anderer, als emotionale Offenheit sowie als Anerkennung einer Abweichung von der herrschenden Lehrmeinung bzw. Standardnorm hat es de facto in der islamischen Geschichte kontinuierlich gegeben. Ungeachtet des Fehlens bedeutsamer, direkt auf die Gesellschaft wirkender programmatischer Schriften zu diesem Thema ist der Toleranzbegriff mehr oder weniger unabhängig vom Kern in viele Bereiche der Wissensvermittlung, der Dichtung und mystischen Literatur und nicht zuletzt in die alltägliche Praxis eingegangen. (Hartmann 2006, S. 133)

Der Hinweis auf den gesellschaftlichen Kontext zeigt aber auch, dass die Frage der Toleranz im Islam nicht einfach mit Koranzitaten wie »Kein Zwang im Glauben« (2:256) beantwortet ist. Praktizierte Religion und Tradition dieser Praxis waren nicht immer identisch mit den heiligen Texten und die Texte wurden unterschiedlich interpretiert. Wenngleich in der Vergangenheit das Zusammenleben von Muslimen, Christen und Juden in der islamischen Welt weitgehend möglich war, so gibt es doch klare Hinweise, dass der Islam weitaus weniger Geduld mit anderen Religionen hatte (Friedmann 2003). Warum sollten also Fundamentalisten in ihrer Modernitätskritik an den »Götzen des Kapitalismus« eigentlich nur auf die Toleranztradition gegenüber Christen und Juden zurückgreifen? Wenn viele Menschen im Westen sich selbst gar nicht mehr als Christen bezeichnen, werden sie aus radikaler Sicht zu »Heiden«; Toleranz ihnen gegenüber hat also aus theologischer Sicht überhaupt keinen Ewigkeits-

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anspruch. Hinzu kommt, dass gerade die islamischen Fundamentalisten der Gegenwart gar nicht als »Traditionalisten« zu verstehen sind. Sie sind Neotraditionalisten, die viele Gesellschaftsnormen unter dem Vorwand der moralischen Restauration im Grunde verschärfen wollen. Die religiöse Orthodoxie des Islams, die bei allem Dogmatismus auch eine lange Tradition des Arrangements mit Staat, Gesellschaft und dem praktizierten Volksislam hat, ist aus Sicht der Fundamentalisten viel zu pragmatisch, daher radikalisieren diese die Tradition. Allerdings sind fundamentalistische Organisationen eben nur eine unter vielen Eliten. Wie aber denken und agieren die Muslime Europas in ihrer Gesamtheit? Im Folgenden wird versucht, das Bild, das Demoskopie und Sozialforschung uns heute bieten, zu rekonstruieren. Analog zur Untersuchung des europäischen Islambildes (Kap. II.1) soll nach dem Westbild der Muslime in Europa gefragt werden, nach Einstellungen gegenüber dem Westen und abgeleiteten Alltagsstrategien und -handlungen im Kontext von Anerkennung, Integration oder Segregation. Zugespitzt gefragt: Ist das Pendant zur europäischen »Salon-Islamophobie« und zu den verbreiteten Formen der anti-muslimischen Diskriminierung der introvertierte, intolerante und sich in parallelgesellschaftlichen Ghettos separierende Muslim? Oder ist der überwiegende Teil der »schweigenden Mehrheiten« der Muslime in Europa ebenso liberal eingestellt, wie dies nach Jytte Klausen das Gros der muslimischen Eliten ist? Die Frage der Haltungen zum politischen System haben wir bereits erörtert und festgestellt, dass zumindest die Muslime in Deutschland eine sehr hohe Systemloyalität aufweisen (Kap. I.4). Was die weitere rechtliche Integration angeht, so hat eine Studie eine erhöhte Gewaltbereitschaft muslimischer Jugendlicher in Deutschland ermittelt. Die aktive Gewaltdelinquenz liegt allerdings »nur« um etwa 10 bis 15 Prozent höher als bei christlichen Jugendlichen und sie steigt bereits bei christlichen Aussiedlern und anderen Migranten, so dass sich der Abstand zu den Muslimen verringert (Brettfeld/Wetzels 2003, S. 347, 350, 356f.). Ein Zusammenhang mit der Ausprägung religiöser Werte war jedoch nicht eindeutig erkennbar. Als Hauptursache für die Differenz machen die Autoren Gewalterfahrungen in der Sozialisation in Ländern wie Afghanistan, den arabischen Staaten oder der Türkei und wirksame Normen im Kontext von »Ehre« und Männlichkeit verantwortlich. Man kann dies durchaus erklären: Die Herkunftsländer sind oft zwar autoritäre, aber in ihrer sozialen Reichweite »schwache Staaten«, die Sozialsysteme werden durch traditionelle Normen der Stammes- und Familienehre zusammengehalten. Gewalteinstellungen können sich in einer Population generell innerhalb nur einer Generation vollständig ändern, man denke etwa an die Tatsache, dass etwa körperliche Strafen auch in deutschen Schulen nach dem Zweiten Weltkrieg noch verbreitete Praxis gewesen waren, während sie bald darauf vehement abgelehnt wurden. Eine Studie im Auftrag des deutschen Familienministeriums hat etwa 3500 Hinweise auf Zwangsverheiratungen ermittelt, wobei allerdings 60 Prozent der

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Fälle lediglich angedrohte, aber nicht ausgeführte Delikte waren (T. Mirbach et al. 2011). Bei den verbleibenden Meldungen ist statistisch unklar, wie viele von ihnen mehrfach gemeldet wurden. Ein großer Teil der Fälle betraf, so vermutet die Studie, Muslime. Der wissenschaftliche Beirat der Studie hat jedoch in einer öffentlichen Stellungnahme bezweifelt, dass die Zahlen, die ohnehin keine Aussagekraft besitzen würden, adäquat erhoben worden sind: »Beispielsweise dürfte der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Zusammenhängen ebenfalls nicht zentral auf den christlichen Glauben der Täter zurückzuführen sein, sondern auf Gelegenheitsstrukturen für pädosexuelle Täter […].«95 Auch bei Zwangsehen also gibt es eine erkennbare kriminelle Problematik, die allerdings nur einen sehr kleinen Teil der Muslime in Deutschland betrifft und ohne unmittelbaren Zusammenhang zur Religion des Islams steht. Wenden wir uns nun sozialen und kulturellen Einstellungen der Minderheit zu. Erneut konzentrieren wir uns auf Deutschland; allerdings sollten sich diese Ergebnisse mit einiger Vorsicht auch auf andere europäische Staaten übertragen lassen. Es existieren mittlerweile einige übergreifende Studien, die Migranten sozialen Milieus zuordnen (Sinus-Institut 2008; vgl. a. Weiß/Trebbe 2001). Der Begriff des »Milieus« steht in der Soziologie für den Versuch, die starre Typologisierung der Gesellschaft in Schichten oder Klassen zu erweitern und Menschen vor allem nach Habitus und Lebensstil zu erfassen, die sich auch innerhalb von Einkommensschichten stark unterscheiden können. Eine repräsentative Studie des Heidelberger Sinus-Instituts im Auftrag deutscher Ministerien und Verbände von 2008 geht von acht verschiedenen Migrantenmilieus aus: religiös-verwurzeltes Milieu, traditionelles Gastarbeitermilieu, statusorientiertes Aufsteigermilieu, entwurzeltes Milieu, intellektuell-kosmopolitisches Milieu, multikulturelles Performermilieu (stark bikulturell orientiert), adaptives bürgerliches Milieu (sicherheits- und harmonietreue Mitte) sowie hedonistisch-subkulturelles Milieu (unangepasster Jugendstil). Sowohl das religiöse als auch das entwurzelte Milieu liegen demnach unter 10 Prozent Anteil an der Einwandererschaft, alle anderen Milieus bewegen sich zwischen 10 und etwa 15 Prozent. Interessant ist diese Studie, trotz aller möglichen Kritik an der unscharfen Abgrenzung der Milieukategorien,96 weil sie zeigt, dass segregierte Milieus heute keineswegs mehr in der Überzahl sind, sondern dass Gruppen dominieren, bei denen ein hohes Integrations- und zugleich auch multikulturelles Kapital zu erkennen ist. Der Einfluss religiöser Traditionen ist zwar bei Muslimen etwas größer als bei anderen Einwanderern, aber mehr als die Hälfte zeigt eine hohe Integrationsbereitschaft gekoppelt mit eigenständigen bi- oder multikulturellen Lebensstilmustern. Die von der Öffentlichkeit in Europa vielfach wahrgenommenen Milieus der sozial Desintegrierten oder religiösen Fundamentalisten gibt es – sie sind aber Randgruppen innerhalb der Einwandererschaft und der Muslime.

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Eine große Studie »Muslimisches Leben in Deutschland«, die 2009 im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz von Sonja Haug, Stephanie Müssig und Anja Stichs erstellt wurde, bestätigt diesen Trend (Haug et al. 2009). Die muslimische Bevölkerung in Deutschland ist demnach durch starke Heterogenität der Soziodemographie, der Migrationsbiographie und der Haushaltsstruktur geprägt, was sich allein durch die unterschiedliche Herkunft (Türkei, Iran, Südosteuropa usw.) und die damit verbundenen verschiedenen Motivlagen (ökonomisch, politisch usw.) erklären lässt. Religion hat insgesamt bei den muslimischen Einwanderern einen hohen Stellenwert, betrifft aber nicht alle Herkunftsgruppen im gleichen Umfang. So gibt es bei den Einwanderern aus Iran, Zentralasien oder Südosteuropa höhere Anteile, die sich als nicht-religiös bezeichnen (Haug et al. 2009, S. 325). Auch wenn mehr als 90 Prozent angeben, religiös zu sein, betet mehr als die Hälfte nicht täglich, ist also nicht orthodox religiös: Religiosität ist bei Muslimen stark ausgeprägt, religiöse Heteropraxis aber gleichermaßen weitverbreitet, auch wenn die allermeisten Muslime Speisevorschriften einhalten. Gefastet wird allerdings nur von etwa der Hälfte der Muslime (Haug et al. 2009, S. 326f.). Dass Religiosität allein noch nicht als Ausweis für organisierten Fundamentalismus gelten kann, zeigt sich, wenn nur ein Drittel der Muslime angibt, überhaupt religiöse Veranstaltungen zu besuchen und lediglich 13 Prozent ein aktives Engagement in der Religionsgemeinde vorweisen können (Haug et al. 2009, S. 327f.). Zwar ist ein segregierter Lebensstil in der Eigengruppe mit und ohne hochreligiöse Orientierung denkbar, interessant aber ist, dass Muslime, die regelmäßig religiöse Veranstaltungen besuchen, auch häufiger in deutschen Vereinen sind als andere, wobei allerdings der höchste Anteil an deutschen Vereinsmitgliedschaften unter denjenigen zu finden ist, die selten in die Moschee gehen. Jeder zweite Muslim ist Mitglied in einem deutschen Verein. Das heißt: Soziale Integrationsbereitschaft korreliert in hohem Maße mit heteropraktischem Religionsverhalten, aber auch, wenngleich nicht ganz so stark, mit ausgeprägter Religiosität. Muslime haben häufig Kontakte mit nicht-muslimischen Deutschen und Muslime aus allen Herkunftsregionen zeigen hierzu auch eine hohe Bereitschaft (Haug et al. 2009, S. 337). In der Studie heißt es: Insgesamt ist die Kontaktintensität der Personen aus muslimischen Herkunftsländern mit Personen deutscher Herkunft in allen Alltagsbereichen sehr hoch […] [Es zeigt sich], dass zwischen den Muslimen und der einheimischen Bevölkerung in der Regel keine Barriere besteht. (Haug et al. 2009, S. 338f.)

Natürlich bedeutet eine positive soziale Kontaktbilanz aus der Sicht einer etwa 5 Prozent großen Bevölkerungsminderheit noch nicht, dass auch die deutsche Mehrheitsbevölkerung solche Kontakte mehrheitlich wünscht oder pflegt (Kap. II.1). Muslime aber fühlen sich zu 70 Prozent stark mit Deutschland verbunden,

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36 Prozent sogar intensiver als mit dem Herkunftsland, umgekehrte Präferenzen gibt es bei 27 Prozent der Befragten (Haug et al. 2009, S. 337f.). Auch Studien wie die von Katrin Brettfeld und Peter Wetzels, die eine höhere kulturelle Identifikation von Muslimen mit deren Heimatländern ermitteln, stellen fest, dass dies a) nicht die soziale Integrationsbereitschaft konterkarieren muss und b) bei Schülern am stärksten ausgeprägt ist und mit dem Alter abnimmt (Brettfeld/Wetzels 2007, S. 363). Keineswegs, so die Autoren, dürfe diese kulturelle Bindung mit einer allgemeinen Segregationstendenz verwechselt werden, deren Rate bei weniger als 20 Prozent der Muslime veranschlagt wird. Nur ein kleiner Teil der muslimischen Schüler bleibt denn auch gemischtgeschlechtlichem Sport- oder Schwimmunterricht, Sexualunterricht sowie Klassenfahrten fern, bei den Mädchen ist die Tendenz mit 7 bis 10 Prozent vergleichsweise noch am höchsten. Dennoch stellt die Studie fest, dass Verweigerung von Unterrichtsangeboten »kein Massenphänomen« (Haug et al. 2009, S. 330f.) darstellt. Ähnlich wie unter Muslimen in den USA und wahrscheinlich wie auch andernorts in Europa ist in Deutschland die Bereitschaft von Muslimen, Nicht-Muslime zu heiraten, sehr groß, auch wenn das traditionelle islamische Recht hier Einschränkungen vornehmen würde (Pew Research Center 2007, S. 34). Als Zwischenbilanz der sozialen Integration lässt sich festhalten, dass Muslime im Hinblick auf die soziale Vernetzung weit stärker integriert zu sein scheinen, als dies nach den Minimalanforderungen von Iris Marion Young oder Hartmut Esser notwendig wäre. Die Mehrzahl der Muslime pflegt soziale Kontakte auch außerhalb der Gruppe und ist in die Institutionenlandschaft der Gesellschaft bereits weitgehend integriert, während sich erahnen lässt, dass sie zugleich auch eigenständige Religions- und Kulturpräferenzen besitzt und an religiöser Vergemeinschaftung innerhalb der muslimischen Eigengruppe zumindest in Teilen Interesse zeigt. Offensichtlich besteht also aus Sicht der Mehrzahl der Muslime keine Zwangsalternative zwischen entweder Assimilation oder Segregation. Die in europäischen Medien vielfach beschworenen »Parallelgesellschaften«, etwa libanesisch-kurdische Familienclans in Berlin, sind Randgruppen innerhalb der muslimischen Minderheit. Ob Muslime Aktivitäten entwickeln, die auf gesteigerte Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft zielen, also ob sie einen multi- oder transkulturellen Lebensstil pflegen oder ob sie ihre Lebenswelten eher separieren, vielleicht sogar den Islam im Wesentlichen privatisieren, ist auf Basis der Studien nicht klar erkennbar. Die soziologische Forschung ist deutlich an Grundvorstellungen der »Integration« ausgerichtet. Fragen der Anerkennung, des kulturellen Dialogs und des sozialen Konflikts sind bislang empirisch wenig erforscht. Dabei wären solche Fragen von enormer Bedeutung: Wenn wir aus theoretischer Sicht eine Fixierung auf »Integration« schon aus historischer Perspektive als einen Irrweg bezeichnet haben, weil ethnische und religiöse Konflikte davon völlig unabhängig jederzeit verschärft werden können und Rassismus auf diese Art nicht beseitigt werden

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kann (s.o.), so wäre es interessant zu erfahren, welche sozialen Anerkennungsstrategien Muslime in Deutschland verfolgen. Es ist überhaupt nicht gesagt, dass das, was historisch etwa aus dem Beispiel der Judenvernichtung gelernt werden kann und heute von vielen muslimischen Eliten in Europa propagiert wird – das Streben nach positiver Toleranz und Anerkennung des Islams und der Muslime als Teil Europas – auch von der Mehrzahl der Muslime bereits erkannt und gutgeheißen wird. Soziale Konflikte im Alltag auszuhalten ist etwas anderes, als eine konfliktbereite Haltung aus der Position bestimmter intellektueller Eliten zu fordern. Leider können sich Probleme der Geschichte deshalb auch stetig wiederholen. Wir wissen noch zu wenig darüber, wie Muslime in Europa ihre sozialen Beziehungen gestalten, wie soziale Interaktion funktioniert und wie der von vielen gepriesene, aber selten wirklich untersuchte islamisch-westliche Dialog im Alltag aussieht. Es gibt durchaus Grund zu der Annahme, dass es hier Konfliktstoff gibt oder geben könnte und dass dies erstaunlich wenig mit der Frage zu tun hat, wie stark die sozialen Interaktionen eines Menschen ausgeprägt sind. Denn trotz der positiven Kontaktbilanz nach Haug, Müssig und Stichs wissen wir aus anderen Untersuchungen zu Deutschland, dass Muslime doppelt so häufig wie andere Einwanderer über Diskriminierung (Unhöflichkeit, gemeine Bemerkungen usw.) klagen (Brettfeld/Wetzels 2007, z.B. S. 236ff.). Auch in anderen europäischen Staaten ist dies weitverbreitet, wie wir bereits im Zusammenhang mit staatlicher Anti-Diskriminierungspolitik gesehen haben (Kap. I.2). Interessant ist nun, dass sozial und sprachlich extrem schlecht wie auch besonders gut Integrierte die niedrigsten Raten an Diskriminierungserfahrungen aufweisen (Brettfeld/Wetzels 2007, S.  239). Bei den schlecht Integrierten ist dies wohl mit der Tatsache zu erklären, dass weniger Kontakt eben auch weniger Diskriminierung mit sich bringt. Bei den gut Integrierten ist wahrscheinlich die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit wegen der starken Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft oft gar nicht mehr zu bemerken. Was aber geschieht mit dem gesamten Mittelfeld derjenigen, die in Sprache, Habitus usw. nicht so stark angepasst, aber zugleich, wie wir statistisch gesehen haben, durchaus über ausgeprägte soziale Kontakte zu Nicht-Muslimen verfügen? Sie müssten die meisten Diskriminierungserfahrungen machen, was bedeutet, dass soziale Spannungen und Diskriminierungen genau da entstehen, wo zu der Integration als erbrachter Leistung der Einwanderer auch die Anerkennung als Bringschuld der Mehrheit kommen müsste. Diskriminierung ist offensichtlich dort anzutreffen, wo teilweise durchaus integrierte Muslime auf eine intolerante Umwelt stoßen. Hier wird die theoretische These belegt, dass auch Integration nicht unbedingt ein Allheilmittel gegen Rassismus und Diskriminierung ist. Sie ist es nicht, wenn sie unvollständig bleibt, sich gegen völlige Assimilation zur Wehr setzt und liberale Räume beansprucht – einmal abgesehen von der Tatsache, dass auch die hoch Integrierten historisch nicht sicher sein können,

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dass sie zu keiner Zeit diskriminiert werden, wie wir am Beispiel der Juden in Europa erörtert haben. Wer sich weder hundertprozentig anpassen noch abschotten will, hat soziale Spannungen auszuhalten. Deshalb belegt eine Studie in den USA, dass die Angst der Muslime vor Diskriminierung auch unter gebildeten und reichen Muslimen verbreitet ist (Pew Research Center 2007, S. 35ff.). Man muss dieses Urteil einschränken, da nicht immer klar ist, dass »Diskriminierungserfahrungen« von Muslimen auch wirklich auf »Diskriminierungen« zurückgehen. Zum Teil mögen sie eine den Muslimen vielfach vorgeworfene Überempfindlichkeit widerspiegeln. Soziale Interaktionen sind im Hinblick auf die Fragen von Konflikt, Integration und Anerkennung noch weitgehend unerforscht und müssen viel genauer untersucht werden, wenn man Beziehungen zwischen Minderheit und Mehrheit in der »liberalen Gesellschaft« verstehen möchte. Frauen mit islamischem Kopftuch verfügen über relativ wenige Kontakte. Nur 28 Prozent der Musliminnen tragen ein Kopftuch, die ganz überwiegende Mehrzahl gibt als Grund religiöse Motive und nicht den Druck der Familie an. Allerdings sind diese Frauen im Durchschnitt bei den meisten Integrationsfaktoren schlechtergestellt: Ihr Bildungsgrad ist niedriger, sie sind seltener erwerbstätig, besitzen in weniger Fällen die deutsche Staatsangehörigkeit und haben weniger Freundschaftskontakte zu nicht-muslimischen Deutschen (Haug et al. 2009, S. 331f.). Während orthodoxes religiöses Verhalten im Rahmen der Religionsfreiheit der liberalen Gesellschaft unproblematisch ist, scheint das Kopftuch doch, anders als zum Beispiel Moscheebesuche, als ein sozialer Marker der Desintegration zu wirken. Die soziale Vernetzung scheint weitgehend separiert und konzentriert auf die Eigengruppe zu erfolgen. Da jedoch nicht klar ist, ob es sich hierbei um Selbst- oder Fremdsegregation – zum Teil wissen wir durch Studien, dass Kopftücher zu Diskriminierungen am Arbeitsmarkt führen (Kap. II.1 und II.3) – handelt und da wir bereits festgestellt haben, dass man Musliminnen mit Kopftuch gemäß anderen Untersuchungen nicht grundsätzlich jegliche Individualität absprechen muss (Kap. II.1), liegen auch solche Ergebnisse durchaus im Rahmen. Wesentlich problematischer als der soziale Kontakt der Muslime in Europa ist die sozioökonomische Integration. Hier bestehen die größten Probleme, da etwa Muslime in Deutschland im Durchschnitt ein signifikant niedrigeres Bildungsniveau aufweisen (Haug et al. 2009, S. 332f.). Bei der Binnendifferenzierung der Daten zeigt sich allerdings, dass nicht die besonders Religiösen unter den Muslimen die schlechtesten Bildungsabschlüsse haben, sondern die Türken: Muslime aus dem Nahen und Mittleren Osten schneiden besser ab (Haug et al. 2009, S. 215). Während die arabische Einwanderung in einem Land wie Frankreich häufig in das Prekariat hinein erfolgt, sind Araber (ebenso wie Iraner) in Deutschland in hohem Maße gebildet und hoch integriert, auf einem Niveau mit Einwanderern aus Südeuropa (Berlin Institut 2009, S. 49). Für die

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sozioökonomische Integration und »differenzierte Solidarität« im Sinne von Iris Marion Young ist also nicht der Faktor Religiosität ausschlaggebend, sondern der Charakter der Migration: Handelt es sich um Arbeitsmigranten, wie überwiegend aus der Türkei, oder zum Beispiel um politische Flüchtlinge, wie etwa aus Iran? Trotz der im Allgemeinen geringeren Bildung der Muslime in Deutschland ist der allergrößte Teil erwerbstätig, wenn auch mit geringem Einkommen, und »nur« 20 Prozent – immerhin doppelt so viele wie der deutsche Durchschnitt – sind arbeitslos (Haug et al. 2009, S. 334ff.). Zudem gibt es, wie andere Studien anmerken, auch eine gegenläufige Tendenz der Herausbildung einer muslimischen – in Deutschland zum Beispiel türkischen – Mittelschicht (Hildebrandt/Bendel 2006, S.  15). Als Fazit stellen Haug, Müssig und Stichs fest, dass Probleme im Bereich der Sprachkompetenz und eher bei der strukturellen Integration (Arbeitsmarkt, Bildung) als bei der sozialen Vernetzung (Kontakte, Vereine) bestehen (Haug et al. 2009, S. 344). Diese Ergebnisse werden durch Studien im Bereich der Mediennutzung gestützt, die zeigen, dass ein segregiertes Verhalten (rein fremdsprachliche Mediennutzung) die Ausnahme und bikulturelle Nutzung die Regel ist (Kap. III.2). Da Mediennutzung aber eher die kulturelle als die soziale Integration betrifft, wobei Esser ja vor allem das Sprachlernen zur Grundlage erklärt hat, muss diese Dimension näher betrachtet werden. Eine Reihe von Studien geben genauere Auskunft über die Frage der kulturell-religiösen Integration. Der »Religionsmonitor« der Bertelsmann Stiftung etwa verzeichnete eine wachsende Religiosität unter deutschen Muslimen. Über 90 Prozent der Muslime bezeichnen sich als religiös, 41 Prozent sind sogar hochreligiös; zum Vergleich ermittelte die Studie, dass etwa 70 Prozent der Mehrheitsbevölkerung religiös und 18 Prozent hochreligiös sind (Religionsmonitor 2008, S. 6). Ein leichter Diaspora-Effekt lässt sich erkennen: Bei einer Vergleichsuntersuchung in der Türkei betrachteten sich 85 Prozent als religiös. Die Vorstellung also, Religiosität sei unter Muslimen in Deutschland eine Reaktion auf Einwanderung und Diskriminierung trifft allenfalls auf einen sehr kleinen Teil der Einwanderer zu. Eine größere Gruppe mag aber, dies ist unklar, wegen der Einwanderung hochreligiös werden. Religion scheint eher ein eigenständiger kultureller Raum zu sein, in dem sich traditionelle Sozialisation und Berührungsängste gegenüber der neuen Umwelt vereinen. Eine leichte Zunahme religiöser Identifikationen bei der zweiten und dritten Einwanderergeneration ist nachweisbar (Tietze 2003, S. 122; vgl. a. Gerlach 2006; Mandaville 2009). Religion wird trotzdem von der großen Mehrzahl nicht als Reaktion auf Islamophobie praktiziert, sondern sie wird eher bewahrt und kann durchaus, wie Kea Eilers, Clara Seitz und Konrad Hirschler sagen, auch eine positive gesellschaftliche Rolle spielen (Eilers et al. 2008, S. 89). Sie hilft vielleicht nicht bei der kulturellen Integration, wohl aber bei der kulturellen Bewältigung des Alltagswandels (Stichwort: »Heimweh«), der mit der Migration einhergeht.

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Auch das »kulturelle Exil« ist, wie wir im Kapitel über die Medien noch sehen werden, eine Form der Segregation, aber ohne negative Auswirkungen auf die politischen und sozialen Minimalanforderungen. Nilüfer Göle spricht von verschiedenen Gruppen der muslimischen Einwanderer, die entweder »einem bestimmten Ort, einem bestimmten Territorium und festgefügten Traditionen verhaftet sind« oder »angetrieben durch ihren Willen zu besserer Bildung und Ausbildung, zur Teilnahme am städtischen Leben und zur Nutzung der mit Migration verbundenen neuen Chancen« sich selbst von diesen traditionellen Wurzeln distanzieren (Göle 2004). Gerade für die fortschrittlichen und multikulturellen Einwanderermilieus ist ein gewisser Rückzug in »Salons« oder, wie Göle das nennt, in »halbprivatisierte Räume«, eine Möglichkeit, neue Diskurse, Dialoge und Kostüme zu erproben. Ihre Analyse klingt dabei wie eine Übertragung der Sinus-Milieus auf die Verhältnisse der Muslime in Europa. Dass hierbei auch ein kleiner Teil von Muslimen existiert, der sich religiös motiviert abschottet, ist im Sinus-Konzept durchaus berücksichtigt. Traditionalismus, aber auch Entwurzelung können die Abschottung eines bestimmten Milieus innerhalb der Minderheit der Muslime befördern, unter anderem soziale Diskriminierung, wodurch, wie wir festgestellt haben, weniger die Religiosität an sich als vielmehr die Art der Religiosität (Strenggläubigkeit) zuzunehmen scheint. Durch den Rückzug in das eigene Minderheitenkollektiv versuchen manche, den schmerzhaften Erfahrungen der Diskriminierung zu entgehen (Khosrokhavar 2003). Dass religiöse Orientierung für die existierenden sprachlichen Defizite verantwortlich ist, ist unbewiesen: Eine Studie der Universität Bremen hat zudem gezeigt, dass selbst in sozialen Milieus im Umfeld islamistischer Organisationen mit einer hohen Tendenz zur Segregation die Orientierung an universellen Bildungsidealen und die Leistungsbereitschaft in allgemeinen Schulen sehr stark ausgeprägt sein können, das heißt, dass kulturelle und soziale Segregation keineswegs zusammenhängen müssen (Meng 2004, S. 158ff.; vgl. a. Religionsmonitor 2008, S. 8). In der Quintessenz aber lässt sich sagen: Die wirklichen Probleme der gesellschaftlichen Integration, die auch dann noch bestehen bleiben, wenn man dem Integrationsdenken kritisch gegenübersteht und ihm die Idee der freien Entfaltung in der liberalen Gesellschaft entgegenhält – ökonomische Deprivation, Sprach- und Bildungsdefizite sowie eine erhöhte Kriminalitätsrate –, werden nicht durch die Religion des Islams oder durch die vergleichsweise hohe Religiosität der Muslime verursacht, sondern sind ein Ergebnis von mangelndem Sozialkapital (Sozialisation, Geld, Bildung usw.) der Einwanderer einerseits und mangelnder Investitions- und Aufnahmebereitschaft der Mehrheitsgesellschaft andererseits. Die Mehrheitsgesellschaft stört sich vielfach an der Religion der Muslime, auch wenn diese gar nicht für die Defizite bei den Minima der Integration verantwortlich gemacht werden kann und selbst die weniger ausgeprägten sozialen Kontakte von Frauen mit Kopftuch zum Teil als

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Reaktionen auf die Diskriminierung der Umwelt interpretiert werden müssen. Mit diesem letztlich entscheidenden sozioökonomischen Mechanismus werden wir uns noch beschäftigen (Kap. II.3). Vorerst aber gilt es, eine Asymmetrie der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Mehrheit und muslimischer Minderheit im Bereich von Anerkennung und Integration zu erkennen. Der kulturell verfestigten Islamophobie der Mehrheitsgesellschaft, die durch ökonomische Krisen allenfalls verstärkt, aber nicht hervorgerufen wird, steht keineswegs eine pauschal integrationsunwillige muslimische Minderheit gegenüber. Wo Muslime die erforderliche soziale Solidarität nicht aufbringen, da sind weniger religiös-kulturelle Vorbehalte als vielmehr sozioökonomische Defizite verantwortlich. Die Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheit scheint aber durch eine Verschiebung der Wahrnehmungen gekennzeichnet zu sein, die einen gesellschaftlichen Dialog erheblich erschweren dürfte, da sozioökonomische Fragen von der Mehrheitsgesellschaft kulturell gedeutet werden. Dabei ist nicht nur die politische, sondern auch die gesellschaftliche Integration der Muslime bereits weit fortgeschritten und von einer generellen Tendenz zur Segregation kann überhaupt nicht die Rede sein. Am Beispiel Deutschlands jedenfalls lässt sich zeigen, dass die großen, repräsentativen empirischen Studien über die Muslime in Deutschland – Brettfeld und Wetzels, Haug et al., der Religionsmonitor, aber auch die später noch erwähnte Studie von Weiß und Trebbe – sich heute weitgehend darin einig sind. Der bekannte Migrationsforscher Klaus Bade: Bei nüchterner Analyse stellen wir fest, dass die Situation weitaus besser ist als in der öffentlichen Diskussion beschrieben. Sie ist vielmehr in vielen empirisch fassbaren Bereichen durchaus zufriedenstellend oder sogar gut gelungen. 97

Auch Dirk Halm und Martina Sauer haben 2006 die türkische Bevölkerung Deutschlands untersucht und kommen zu dem Ergebnis, dass nicht von einer abgeschotteten Gemeinschaft, einer »Parallelgesellschaft«, gesprochen werden könne, da lediglich der Faktor »Religiosität« außergewöhnlich hoch ausgeprägt sei (Halm/Sauer 2006). Die meisten anderen sozialen Parameter liegen weitgehend im Bereich des Normalen, entsprechen also in etwa der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Soziale Kontakte eines großen Teils der Muslime zu Nicht-Muslimen sind vorhanden; wie sie gestaltet sind, ob durch Harmonie, Konflikt oder Diskriminierung, lässt sich ebenso wenig pauschal beantworten wie bei Individuen und Gruppen der Mehrheitsgesellschaft. Radikale politische Einstellungen finden sich nur bei kleinen Teilen der Bevölkerung, auch hier verhalten sich Muslime durchschnittlich und normal (Kap. I.4). Vor allem bei den Arbeitsmigranten und deren Familien bestehen vielfach noch rechtliche, sprachliche, Bildungs- und sozioökonomische Integrationsdefizite, aber schwe-

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re kulturelle Unverträglichkeiten wie Schulverweigerung oder gar Zwangsehen, »Ehrenmorde« und ähnliche repressive Handlungen sind viel seltener als man lange Zeit angenommen hat.98 Gerade bei der religiösen Integration wird Muslimen im Gegenteil sehr viel Anpassung abverlangt: Sie müssen sich bei der Kopftuchfrage rechtfertigen, der Staat ist bestrebt, kirchenähnliche Strukturen zu schaffen (Kap. I.1 und I.2) und sie sind vielfachen Anfeindungen bei Moscheeprojekten ausgesetzt (Hildebrandt/Bendel 2006, S. 19-26). Die realen Integrationsdefizite zum Generalvorwurf der Segregation zu machen, ist sichtbar stark übertrieben, erstens weil die Integration trotz vorhandener Probleme und zumindest gemessen an der deutschen Datenlage erfolgreicher verlaufen ist als vielfach gedacht, und zweitens weil völlige Integration in der liberalen Gesellschaft überhaupt nicht erforderlich ist. Durkheim für die Einwanderer, Weber für die Alteingesessenen: Diese Formel funktioniert nicht und verlangt von Muslimen eine Hyperanpassung, die weit über das von den Einheimischen geforderte Maß hinausgeht. Bekleidungsformen, soziale Gruppenbindung, öffentliche Religiosität, politischer oder sozialer Wertekonservatismus: All dies sind häufige Orientierungen von Muslimen in Europa, die aber in keinerlei Widerspruch zu der erforderlichen Integration der Muslime stehen (vgl. a. Öztürk 2007). Die Sozialtheorie muss sich den Realitäten in der multikulturellen Gesellschaft stellen. Integrationstheorie muss zwischen maximaler und notwendiger Integration unterscheiden. Die Anerkennungstheorie sollte ihrerseits reale von fiktiven Differenzen innerhalb von Minderheitengruppen trennen. Aus historischer Sicht lässt sich sagen, dass alle Modi des sozialen Handelns für die Muslime Europas bedeutsam sind: Integration allein ist kein Gegenmittel gegen Rassismus, Segregation allein sprengt den Rahmen der gesellschaftlichen Solidarität im europäischen Nationalstaat. Die Suche nach Anerkennung kann Dialog und Toleranz stärken. Dazu einmal mehr die Schweizerische Eidgenössische Kommission gegen Rassismus: Die EKR kritisiert die ständige Wiederholung der noch nicht erfolgten Integration von Musliminnen und Muslimen, was nicht den Tatsachen entspricht. Tausende von Menschen muslimischen Glaubens leben, arbeiten, ernähren ihre Familien in der Schweiz, ohne dass sie in irgendeiner Weise mit dem Schweizer Rechtssystem in Konflikt geraten. Was sie aber für sich beanspruchen, ist der Verzicht auf eine von der Mehrheitsgesellschaft erzwungene kulturelle Assimilation. Nur eine an sich integrierte Gesellschaft, die Differenz zulässt, in der verschiedene Bevölkerungsteile miteinander im Dialog stehen und sich gegenseitig austauschen, kann diese Ausgrenzung vermeiden. (Eidgenössische Kommission 2006, S. 38)

Mehr noch: Die Frage steht im Raum, ob die durch die großen Studien nachgewiesene multikulturelle Orientierung vieler muslimischer Einwanderer nicht

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eine kulturelle Bereicherung Europas darstellt, was bislang nicht erkannt worden ist. Es geht nicht allein um die Frage der Anerkennung von Freiheiten. Die liberale Gesellschaft basiert auf der Idee von Pluralismus und Diversität, und zwar nicht nur als Selbstzweck oder Verankerung in einem Menschenbild der individuellen Selbstverwirklichung. Hinter dem Beharren auf Pluralismus verbirgt sich auch der Glaube an dessen Beitrag zu Fortschritt, Entwicklung, Kompetenz und Wissensgesellschaft. Ein Beispiel hierfür ist der UNESCO-Bericht »Our Creative Diversity« von 1996. Darin wird im Kern behauptet, dass zwar die klassischen Nationalkulturen fortschrittsfördernde wie auch -hemmende Werte beinhalten, dass es aber erst durch kulturellen Pluralismus möglich sein kann, zu einer kreativen Optimierung des menschlichen Wissens zu gelangen: If the Pacific has emerged as the most dynamic region of the world, it is because it has drawn on the best practices and values from many rich civilizations, Asian and Western. If this fusion continues to work, there could be explosive creativity on a scale never before seen. (UNESCO 1996, S. 23)

Man kann bereits heute den weiten Weg erkennen, den das liberale Gesellschaftsbild vom Rassismus und Nationalismus früherer Zeiten zum kulturellen Pluralismus und Multikulturalismus zurückgelegt hat. Während die liberale Demokratie in Europa in den demokratischen Staaten weitgehender Konsens ist, wird der Multikulturalismus als gesellschaftliches Leitbild nicht nur an den Rändern des ideologischen Spektrums, sondern auch in der konservativen Mitte noch immer abgelehnt (Kap. I.3). Dennoch deutet sich bei der UNESCO eine Vision an, die zunächst einmal wie ein naives Plädoyer für kulturellen Relativismus durch eine machtlose Staatengemeinschaft anmuten mag. Am Beispiel der Muslime in Deutschland und Europa allerdings lässt sich zeigen, dass hegemoniale Kulturkonzepte, die in internationalen Beziehungen immer wieder für Spannungen sorgen und kriegsfördernde Feindbilder ausprägen, sich durch Einwanderung tatsächlich liberalisieren. An dieser Stelle spätestens fällt auf, dass wir uns, anders als im Kapitel über die Mehrheitsgesellschaften Europas, in dem das Islambild im Zentrum stand, bislang zwar mit sozialen Einstellungen und Handlungsstrategien von Muslimen, nicht aber mit deren kognitiven Voraussetzungen beschäftigt haben. Wie kommt es, dass Muslime häufiger Kontakte zu Nicht-Muslimen pflegen als umgekehrt? Die Antwort ist relativ einfach: Im Gegensatz zum öffentlichen Bild von Muslimen und dem Islam (Kap. III.1) sind sie im Durchschnitt toleranter gegenüber ihrer Umwelt als diese ihnen gegenüber ist. Die Erkenntnis ist eigentlich trivial: Die spezifische (Ohn-)Machtposition einer Minderheit gegenüber der Mehrheit lässt Gedanken an Hegemonie, Phobie und Intoleranz sehr viel stärker in den Hintergrund treten, als dies bei der Mehrheit der Fall ist, deren Islamophobie häufig aus der Kontaktdistanz heraus betrieben wird und für die die negative Grundein-

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stellung gegenüber einer Minderheit keine wichtige Frage in ihrem Alltag ist, sondern, wenn überhaupt, eine Entlastungsfunktion in Zeiten sozialer Krisen besitzt (Sündenbock-Syndrom). Am »Westbild« der meisten Muslime in Europa lässt sich demonstrieren, dass sich durch den Prozess der Einwanderung ein positiver Bildwandel bei Muslimen vollzieht, der eine Folge des intensiven Kontaktes mit Menschen und Facetten des europäischen Kulturraumes ist, dem sich die Mehrheit der Muslime, anders als die nicht-muslimische Mehrheit, gar nicht entziehen kann. Wie die Studie von Brettfeld und Wetzels (Kap. I.4) zeigt auch der »Religionsmonitor« der Bertelsmann Stiftung, dass Hochreligiosität nicht gleichzusetzen ist mit fundamentalistischem Dogmatismus und Macht- und Überlegenheitsanspruch und dass Muslime mit einer hohen Toleranz gerade gegenüber dem Christentum ausgestattet sind. 86 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime stimmen der Ansicht zu, dass man gegenüber anderen Religionen offen sein müsse (Religionsmonitor 2008, S. 8). Die Autoren der Studie: Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Zentralität der Religion die größte Bedeutung für die Glaubensvorstellungen und -praktiken von Muslimen in Deutschland besitzt. Mit einer hohen Zentralität ist aber kein rigider Dogmatismus oder Fundamentalismus verbunden: Hochreligiöse Muslime in Deutschland sind kritisch und reflektiert, mit einer hohen Akzeptanz von religiösem Pluralismus und einem eher pragmatischen Umgang mit religiösen Konsequenzen im Alltag. (Religionsmonitor 2008, S. 20)

Wenn Religiosität also überhaupt mit kultureller Abschottung einhergeht, was bei den allermeisten Muslimen in Deutschland, wie gesehen, nicht der Fall ist, so hat dies nichts mit mangelnder Akzeptanz und Anerkennung von Nicht-Muslimen zu tun. Auch Yasemin Karakaşoğlu-Aydıns Befragung von türkisch-muslimischen Lehramtsstudentinnen in Deutschland kommt zu dem Ergebnis, dass zwischen hoher Ausprägung von Religiosität, inklusive Tragen des Kopftuches und Vorstellungen der Moderne wie gesellschaftlichem Pluralismus, Demokratie, Entscheidungsfreiheit des Individuums und Toleranz in der Regel kein Widerspruch besteht. Religiosität kann im Gegenteil diese Einstellungen begünstigen und stärken sowie einhergehen mit der Bereitschaft zur Integration (Karakaşoğlu-Aydın 1999 u.a. S. 413, 415, 424, 442). In Deutschland lebende Muslime sind häufig toleranter gegenüber Christen und Nicht-Muslimen als diese es ihnen gegenüber sind und sie sind ebenso besorgt über den Terrorismus wie die meisten Europäer (Allen/Wike 2009, S.  145f.). Die stark ausgeprägte europäische Islamfeindlichkeit steht also in krassem Widerspruch zu dem toleranten Westbild eines Großteils der Muslime in Europa. Wie kann es zu diesem Ungleichgewicht kommen? Sind Muslime und ist der Islam generell toleranter gegenüber dem Westen als umgekehrt oder sind es die spezifischen Bedingungen der Migration, die das Bild aufhellen? Beide

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Argumente lassen sich fundieren, aber erst zusammengenommen ergeben sie eine plausible Antwort. Zunächst einmal ist es nicht schwer, auch in der islamischen Welt Vorurteile gegenüber Christen, den Amerikanern oder dem Westen zu finden, und man muss sich die Frage stellen, ob es in der islamischen Welt eigentlich ein Gegenstück zur Islamophobie des Westens gibt: »Okzidentalismus« oder »Westophobie«. Der Zerfall des Ostblocks und Jugoslawiens in den 1990er Jahren hat von Zentralasien über Tschetschenien bis Bosnien-Herzegowina zur Stärkung des islamisch gefärbten Nationalismus geführt. Im Nahen und Mittleren Osten einschließlich Nordafrikas, wo die Nationenbildungsprozesse weiter fortgeschritten sind, ist zwar kein neuer islamischer Supranationalismus entstanden, da die Kleinstaaten bereits zu tief verwurzelt sind, als dass eine Wiederherstellung des 1924 abgeschafften Kalifats, das unter anderem Türken und Araber vereinigte, zur Mehrheitsforderung werden könnte. Das Gesellschaftsklima in den meisten islamischen Ländern hat sich jedoch in Richtung eines islamisch-traditionalistischen Wertekonservatismus gewandelt. Obgleich nur eine Minderheit der Muslime dem Fundamentalismus anhängt, tendieren viele zu einer nativistischen Rückbesinnung auf traditionelle Symbole, Riten und Gepflogenheiten des Islams. Die Zahl der Moscheen und Moscheebesuche ist in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Kopftuch und Schleier sind in das Öffentlichkeitsbild des Orients zurückgekehrt. Die relative Weltoffenheit der Intelligenz ist einer introvertierten Haltung gewichen, die gegenüber der westlichen Kultur Gefühle der Eigenständigkeit und des Andersseins gestärkt hat (K. Hafez 1997a). Ein wesentlicher Auslöser für die Entfremdung vom Westen waren politische und militärische Konflikte des 20. Jahrhunderts, die in der islamischen Welt Ängste vor westlicher Bedrohung wachgehalten haben. Die Niederlage gegen Israel und seine westlichen Verbündeten im Sechs-Tage-Krieg von 1967 war ein traumatisches Erlebnis für die arabische Welt. Sie entwertete die Ideologie des arabischen Nationalismus und stärkte den politischen Islam. Im Golfkrieg von 1991 hatte in der arabischen Öffentlichkeit die Vorstellung von der Wiederkehr der Kreuzzugsritter Konjunktur, obwohl eine Reihe islamischer Staaten sich an der militärischen Allianz gegen den Irak beteiligte. Die westliche Vorherrschaft im Nahen Osten, ob in Form der Kolonialherrschaft oder als postkoloniale Mandatsmacht in Palästina, hat einen Historismus der Kreuzzüge befördert, in dem die faktische Stärke des mittelalterlichen Orients zur Opferrolle umgedeutet wird. Die Gelassenheit und Überlegenheit der Muslime gegenüber den Kreuzzüglern des Mittelalters, den Frandji (Franken), ist einer Verteidigungshaltung aus der Position der militärischen, politischen und ökonomischen Unterlegenheit gewichen (Sabbagh 1994). Islamischen Fundamentalisten ist es gelungen, den Jihad – der Begriff meint eigentlich weniger »Heiliger Krieg« als vielmehr »innere Anstrengung des Glaubens« – vor allem vielen Jugendlichen als eine Alternative anzubieten, die zumindest psychologisch einen Ausweg aus der

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selbst empfundenen Unterdrückung weist: Die Neuentdeckung der glorreichen »Stunde null« der islamischen Zivilisation wird zu einem Moment der persönlichen Stärke. Das Bild der westlichen Kultur hat zur gleichen Zeit in der islamischen Öffentlichkeit starken Schaden genommen (K. Hafez 2000a; Institut für Auslandsbeziehungen 2004). Anerkannte westliche Tugenden wie Bildung, Wissenschaftlichkeit, Strebsamkeit und Initiativgeist werden immer stärker überlagert von Stereotypen des Materialismus und Egoismus, der sittlichen Verrohung und des fehlenden Gemeinschaftssinns. Die ethischen und geistigen Grundlagen des Westens – Christentum, Aufklärung, Humanismus – geraten zunehmend aus dem islamischen Blickfeld und weichen dem pauschalen Vorwurf der Inhumanität der westlichen Moderne. Das saudi-arabische Königshaus hat, um nur ein Beispiel zu nennen, in den vergangenen Jahrzehnten sein regionales Hörfunk- und Fernsehimperium vergrößert, um die arabisch-islamische Welt vor der Korruption durch den Westen zu schützen. Fremdbilder wie die des arabischen Historikers Rifa’a Al-Tahtawi (1801-1873), der dem Westen die Beherrschung der Materie, dem Islam jedoch die Spiritualität der inneren Welt zuordnete, finden in islamischen Ländern wachsenden Anklang. Eine Reihe von großen Meinungsumfragen in mehrheitlich islamisch geprägten Ländern haben seit den Anschlägen des 11. September gezeigt, dass sich ein negatives Bild vor allem der Vereinigten Staaten und, wenn auch weniger, Europas stark verfestigt hat (Diner 2002).99 Es scheint berechtigt, wenn Ian Buruma und Avishai Margalit davon sprechen, dass es einen »Okzidentalismus« der islamischen Welt gebe, der das Spiegelbild des westlichen Orientalismus oder der Islamophobie sei (Buruma/Margalit 2004, S. 10; vgl. a. Carrier 1995). In diesem Sinne muss das von Toleranz gegenüber dem Westen und dem Christentum geprägte Bild der meisten in Deutschland lebenden Muslime durchaus verwundern und es kann nur mit zwei grundsätzlichen Prozessen erklärt werden. Durch die Migration hat sich der Kontakt zur westlichen Kultur intensiviert, so dass Differenzierungen entstehen, die die Bildung von pauschalen negativen Vorurteilen zumindest behindern. Zudem unterscheiden sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse in Europa von denen in der islamischen Welt. Dort wird der Westen als Eindringling und Usurpator wahrgenommen, Muslime stellen eine macht- und territorienbewusste gesellschaftliche Mehrheit dar. Hier, in Europa, ist der Westen »zu Hause« und die in der Soziopsychologie bekannten Mechanismen der Orientierung am gesellschaftlichen Zentrum (Autoritarismus- bzw. Dogmatismustheorie, Kap. II.1) wirken sich positiv auf die Wahrnehmung der Mehrheit durch die Minderheit aus, was zu einer Ausprägung des gesellschaftlichen Wertes der Toleranz führt. Muslime haben zwar vielfach ein größeres Vertrauen in die politischen Systeme des Westens als in dessen Völker (Kap. I.4), weil sie Islamfeindlichkeit und Rassismus wahrnehmen, aber sie selbst haben mehrheitlich durchaus eine positive Meinung

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von ihrer »neuen Heimat«. Im Ergebnis lässt sich sagen, dass es im Vorderen Orient »okzidentalistische« Vorurteile gibt, die als Pendant zur westlichen Islamophobie gelten können und sich in vielen Ländern auch zuungunsten der Stellung der Christen auswirken, dass aber durch den veränderten Kontext der Einwanderung nach Europa eine Bilddifferenzierung erfolgt – die Tatsache, dass es gerade unter muslimischen Jugendlichen in Europa auch Radikalisierungsprozesse gibt, die in Hass auf den Westen und in Terrorismus umschlagen können, ist davon unbenommen, aber diese Dinge sind Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Es gibt allerdings einige Hinweise darauf, dass dieser Bildwandel nicht ausschließlich durch Migration zustande kommt, sondern dass das Bild des Westens in der islamischen Welt bereits in der Anlage positiver ist als das durchschnittliche Bild des Islams im Westen. Die Spiegelbild-These von Buruma und Margalit muss vor allem aus zwei Gründen relativiert werden: Erstens hat der Islam, wie schon erwähnt, eine lange Tradition der Toleranz gegenüber Christen und Muslimen vorzuweisen. Kein Wunder also, dass es das Gegenstück zur Islamophobie, die »Christophobie«, eigentlich als Wortprägung nicht gibt. Da sich der Islam ausdrücklich als Nachfolger und Vollender von Judentum und Christentum sieht – Jesus Christus ist ein Prophet des Islams, Muslime führen ihre Abstammung zurück auf Stammvater Abraham usw. –, zeichnet sich beim Islam eine ganz andere synkretistische Genese ab als beim Christentum. Während Christen den Islam historisch vielfach als Häresie verurteilten, hat der Islam das Christentum ursprünglich als eine Quelle der Inspiration betrachtet. Wenn wir also von einer Abneigung des Westens in der islamischen Welt sprechen, so bleibt als Grundlage eher ein säkularer Okzidentalismus, der zum Westen auch besser zu passen scheint, da gerade in Europa die Privatisierung von Religion sehr weit fortgeschritten zu sein scheint. Zweitens, auch das säkulare »Feindbild Westen« ist nicht ausgeprägt und stabil. Schon eine oberflächliche persönliche Kenntnis der islamischen Welt zeigt, dass Menschen aus dem Westen dort sehr oft sehr zuvorkommend behandelt und geradezu hofiert werden, was Orientalen in Europa nicht immer so geht. Zugleich sind letztere keine besseren Menschen – vor allem Afrikanern begegnet man vielfach deutlich kühler, sie genießen eine geringere Wertschätzung als Europäer. Wie kommt es zu dieser Ungleichheit? Verantwortlich ist wahrscheinlich ein weltweites Nord-Süd-Gefälle, der Westen gilt als Zentrum der globalen Moderne, westlicher Lebensstil ist in weiten Teilen Vorbild und wird in den bürgerlichen Schichten Nordafrikas und des Vorderen und Mittleren Orients kopiert. Eine unter zweitausend Arabern in Ländern wie Kuwait, Ägypten, den Vereinigten Staaten und Jordanien durchgeführte Studie bestätigt, dass arabische Bevölkerungen überwiegend eine positive Einstellung zu amerikanischen Werten und zur amerikanischen Gesellschaft haben, auch wenn die Außenpolitik Amerikas verurteilt wird (Communique Partners 2006,

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S. 13f.). Länderimages der USA und europäischer Staaten werden zudem deutlich unterschieden, wobei von allen westlichen Ländern Frankreich die höchste Zustimmung findet. Insgesamt aber kann man sagen, dass auch in islamischen Staaten unter den Bedingungen der kulturellen Hegemonie diskriminierende Haltungen gegenüber jüdischen, christlichen und anderen Minderheiten entstehen können, die der europäischen Islamophobie strukturell verwandt sind. Spätestens mit der Erfahrung der Migration in den Westen wachsen Kenntnis und Wertschätzung der westlichen politischen und sozialen Systeme. Versuchen wir, die Erkenntnisse dieses Kapitels in wenigen Sätzen zusammenzufassen, so zeigt sich, dass die beiden Schreckensbilder der Integrationstheoretiker – Rassismus und Segregation – in Wirklichkeit nicht gleichberechtigt existieren. Während die islamfeindliche Mehrheit der muslimischen Minderheit in hohem Maße die gesellschaftliche Anerkennung verweigert, erweist sich die Minderheit selbst als weitgehend tolerant gegenüber der christlichen und der westlichen Kultur. Trotz kleinerer fundamentalistischer Gruppen sind muslimische Eliten wie auch der Großteil der »schweigenden Mehrheiten« der Muslime zur Toleranz und zum sozialen Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft bereit. Mögen auch viele Anschauungen der Muslime von sehr konservativen Werten geprägt sein und die im Vergleich zu Nicht-Muslimen hohe Religiosität einer traditionalistischen Orientierung Vorschub leisten, so kann dennoch von einer religiösen oder kulturellen Zurückweisung des Westens selbst bei den meisten Hochreligiösen nach allen empirischen Untersuchungen nicht die Rede sein. Für zukünftige programmatische Entwürfe der europäischen Gesellschaftsentwicklung wird es von entscheidender Bedeutung sein, die Ungleichgewichte der real existierenden gesellschaftlichen Anerkennung zu benennen und offen anzusprechen. Nicht die Abschottungstendenzen der Muslime verderben das gesellschaftliche Klima und laden es rassistisch auf, sondern die Unfähigkeit der europäischen Völker, die epochale Kluft zwischen »Orient« und »Okzident« zu überwinden und den Islam als Teil Europas anzuerkennen, ist die größte kulturelle Herausforderung der Zukunft. Ob der multikulturelle Nationalismus nach amerikanischem Vorbild ein positives Leitbild für Europa darstellt, ist fraglich, denn die neue Vielheit von »Muslimo-Engländern«, »Judäo-Deutschen«, »Christo-Franzosen« usw. kann in Europa mit seinen zahlreichen Nationalstaaten bestenfalls neue Verwirrung, aber sicher keine stabile Anerkennungskultur schaffen. Vielleicht ist es notwendig, der liberalen Gesellschaft solche Neonationalismen anzubieten, um eine neue Gemeinschaftlichkeit zu stiften. Ob ein multikultureller Liberalismus auch ein multikultureller Nationalismus sein muss, bleibt aber zweifelhaft. Neben notwendiger Integration muss kulturelle und religiöse Freiheit und Gleichberechtigung im privaten, öffentlichen wie im staatlichen Raum herrschen. Die Muslime, zumindest in Deutschland, haben diese Tatsache in der Regel

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bereits stärker verinnerlicht als die Mehrheitsgesellschaft, die hier eine deutliche Bringschuld zu erfüllen hat, die durch keine wie auch immer geartete Integrations- oder Assimilationspolitik in Vergessenheit geraten sollte. Historisch betrachtet, das zeigt das Beispiel der Juden, ist Integration keine Lösung des Rassismusproblems und einer Lösung bedarf es, da religiöse Minderheiten, anders als manche ethnische Minderheit, nicht einfach »verschwinden«, sondern langfristig erhalten bleiben. Eine verbesserte sozioökonomische und kulturelle Integration (Bildung, Arbeit bzw. Sprache) ist durchaus erforderlich, sie ist aber weder die Ursache noch die Lösung für die Herausforderung der kulturell-religiösen Anerkennung. Theorien der kulturellen Anerkennung und der sozialen Integration sind als Sozialtheorien alleine jedoch unzureichend, weswegen wir nunmehr einen sozioökonomisch fundierten Exkurs anschließen wollen. Da Einwanderer sich in die ökonomischen und Bildungssysteme nicht ohne die Mithilfe der Einheimischen, die diese Systeme beherrschen, integrieren können, versuchen wir hier die gesamte Konfliktkonstellation – Islamophobie der Mehrheit, Integrationsrückstände der Muslime – noch einmal aus einer anderen Perspektive zu betrachten, nämlich im Lichte ökonomischer Ansätze der Kritik des Neoliberalismus.

3. E XKURS : »E NDE DER G EMÜTLICHKEIT« 100 – M IT TELSCHICHTKRISE UND KULTUR - DIFFERENTER S OZIALDARWINISMUS Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth hat den ökonomistischen und machtpolitischen Determinismus in der Sozialtheorie beklagt. Allzu lange habe man die moralischen Kämpfe um Anerkennung in den Hintergrund gedrängt. Zugleich räumt er ein, dass immer dann, wenn es in der Geschichte um das pure ökonomische Überleben ging, Anerkennungsfragen zweitrangig wurden (Honneth 1994, S. 264ff.). Das anerkennungstheoretische Modell darf demnach, gemäß Honneth, den Kampf um Ressourcen und die utilitaristischen Aspekte der Gesellschaft nicht überdecken, es ist vielmehr eine Ergänzung. Steckt also am Ende eine sozioökonomische Logik hinter den Beziehungsproblemen zwischen europäischer Mehrheitsgesellschaft und muslimischer Minderheit? Liegt Islamophobie im Kalkül eines (neo-)liberalen Wirtschaftssystems, das Islamfeindlichkeit zur Camouflierung sozialdarwinistischer Interessen benutzt? Es wird sich zeigen, dass diese These eben doch zu ökonomistisch ist, auch wenn wirtschaftliche Faktoren zweifellos einflussreich sind. Als Problem erweist sich in diesem Zusammenhang, dass sich der politische Liberalismus in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg mit kleinen prosperierenden Milieus der Mittel- und Oberschichten verbrüdert hat. Dabei ist auffällig,

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dass sich etwa die Freie Demokratische Partei (FDP) in Deutschland bis heute weitgehend am klassischen Liberalismus orientiert, den multikulturellen Liberalismus aber, ganz im Sinne Amartya Sens, als eine Form des »Kollektivismus« ablehnt. Der Multikulturalismus hat sich parteipolitisch daher im Wesentlichen bei der Partei der Grünen entwickelt, die sich ihrerseits immer mehr von ihrem ursprünglich linken Einschlag entfernt hat und mit der FDP um Einfluss in der bürgerlichen Mitte konkurriert. Während die neoliberale FDP dabei eher auf den konservativen Teil des Bürgertums zielt und daher nationalistisch und integrationistisch ausgerichtet ist, sucht die ebenfalls zunehmend kapitalismusfreundliche Partei der Grünen nach einem Kompromiss zwischen Integration und Anerkennung und definiert hierdurch den Kern eines neuen Liberalismus des Bürgertums (Kap. I.3). Es ist ein verbreitetes Missverständnis, dass der Liberalismus zwar die rechtliche und politische Frage stellt, gegenüber Problemen der sozialen Gerechtigkeit aber indifferent bleibt. Schon einflussreiche Vordenker des modernen Liberalismus wie John Rawls haben klargestellt, dass die Herstellung von gesellschaftlicher Chancengleichheit ein Projekt sei, auf das sich die freie Gesellschaft im Rahmen von Sozialkontrakten einigen könne, um unfaire, weil unverdiente Statusvorteile und damit verbundene Unfreiheiten zu vermeiden (Kap. I.2). Rawls hat außerdem angemahnt, dass ungleiche Bezahlung in einer Gesellschaft an den gesamtgesellschaftlichen Nutzen einer Tätigkeit gebunden sei. Geradezu paradox mutet an, dass ein bekannter Liberaler wie Ralf Dahrendorf, der unter anderem in der FDP und später als Chef der London School of Economics Karriere gemacht hat, bereits in den 1980er Jahren ein Konzept unterstützte, das heute als »links« gilt, nämlich das garantierte Mindesteinkommen. Nach Dahrendorf gehört zur liberalen Idee neben einem Minimum an Gleichheit vor dem Gesetz auch die »Etablierung gewisser sozialer Staatsbürgerrechte« (Dahrendorf 1987, S. 111). Da, so Dahrendorf, die neue Staatsbürgergesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in den demokratischen Staaten Europas zu einer »neuen Klassengesellschaft« geworden sei, die die Teilnahmechancen des Einzelnen eminent verringert habe, und eine neue Armut in westlichen Gesellschaften zunehme, sei der Staat ersichtlich zum Hüter von Mittelklasseninteressen geworden, weswegen sich eine wachsende Zahl von Menschen vom politischen System der Demokratie abwende (Dahrendorf 1987, S. 118f.). Er fordert eine Diskussion über die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens – wie sie mit einer Verspätung von einigen Jahrzehnten heute ja auch geführt wird: Können wir wirklich mit der Tatsache leben, dass zehn Prozent, vielleicht mehr, staunend oder sich abwendend, lethargisch oder voller Ressentiments vor dieser Rolltreppe stehen, weil ihnen schon der Schritt auf die erste Stufe verwehrt bleibt? Wenn wir das aber nicht wollen, dann liegt der Schlüssel in der Suche nach Reformen, die Bürgerrech-

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ te und nicht Armenrechte etablieren. Dann geht es also um Grundübereinkünfte, nicht um milde Gaben. (Dahrendorf 1987, S. 152)

Solche Gedanken sind im europäischen politischen Liberalismus allerdings die Ausnahme geblieben, der Neoliberalismus einer Ideologie des »schlanken Staates« und der wirtschaftlichen »Laissez-faire-Politik« ist zur Regel geworden. Man könnte die europäische Sozialdemokratie als eine »sozial-liberale« Bewegung betrachten. Ebenso wie die Grünen meiden Sozialdemokraten jedoch aus Konkurrenzgründen den Begriff des »Liberalismus«, was dazu führt, dass liberale Sozialpolitik ohne Konturen bleibt. Etwa zwanzig Jahre nach Dahrendorfs Plädoyer spricht der deutsche Politologe Christoph Butterwegge von einer Krise des Neoliberalismus, die er auch für die zunehmende Fremdenfeindlichkeit verantwortlich macht. Je enger die ökonomischen Verteilungsspielräume der krisenhaften europäischen Wirtschaft, so Butterwegge, umso stärker sei die Tendenz, Randgruppen von den Ressourcen auszuschließen (Butterwegge 2008, S. 216f.). Ethnisierung erweise sich als geeigneter Ausschlussmechanismus. Einwanderer würden von den zunehmend deprivierten sozialen Klassen als »Sozialschmarotzer« etikettiert, um eigene Privilegien aufrechtzuerhalten. Es kommt zu einer Aufladung kultureller Differenz, und, die Bezeichnung wäre wohl im Sinne Butterwegges, ein kultur-differenter Sozialdarwinismus entsteht. Interessant ist die Betonung Butterwegges, dass hiervon auch die gesellschaftliche Mitte betroffen ist, die zwar in der Regel noch nicht am Existenzrand steht, aber von sozialen Umverteilungen und Verlustängsten befallen ist (Butterwegge 2008, S. 217f.). Es ist gerade die fremdenfeindliche Übereinstimmung von Mittel- und Unterschichten, in der die gesellschaftliche Brisanz des kultur-differenten Sozialdarwinismus besteht. Die erodierende Mittelschicht Europas ist sozusagen die historische Gegenentwicklung zur früheren »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« – einem Begriff, mit dem der deutsche Soziologe Helmut Schelsky den im 20. Jahrhundert erfolgten Aufstieg vieler Arbeiter in die Mittelschicht beschrieben hat (Schelsky 1953). Der Mittelstand reagiert nervös auf die »Krise«, nicht nur mit einer immer akribischeren Vorbereitung des Nachwuchses auf ein Leben in Unsicherheit, sondern auch durch soziale Abgrenzungen. Das multikulturelle Solidaritätsgefühl vergangener Jahrzehnte erodiert langsam, Tendenzen der Fremdenfeindlichkeit in der Mittelschicht verstärken sich. Aversionen gegen Einwanderer nehmen zu, Kinder werden von Schulen mit »zu hohem« Migrantenanteil genommen, durch Umzug in andere Stadtquartiere versucht man sich auch räumlich zu distanzieren und Kontakte zu vermeiden (Kloepfer 2008, S. 139f.). Was der Öffentlichkeit wie Selbstsegregation von Minderheiten in »Ghettos« erscheint, ist in Wirklichkeit ein komplexer Prozess von Selbst- und Fremdsegregation. In ihrem Buch »Das Ende der Gemütlichkeit. Strukturelles Unglück und mentales Leid« hat die Schweizer Soziologin Claudia Honegger vergleichbare

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Prozesse beschrieben. Neoliberale Politik führt zu einer Abwälzung sozialer Kosten des gesellschaftlichen Umbruchs, zu biographischen Brüchen. Die Versuchung ist groß, die Vergangenheit zu verklären, es herrscht Trauer um die verlorene »schöne« Ordnung, Feindbilder und Sündenböcke florieren (Honegger 1998). Ebenso wie die nach Europa eingewanderten Muslime ihre Migration teilweise als lebensweltliche Krise empfinden und mit gesteigerter Religiosität reagieren, pflegt die bürgerliche Mehrheit in Europa in Zeiten der sozio-ökonomischen Krise und des Rückbaus von Wohlstand, Sicherheit und sozialen Errungenschaften einen Traditionalismus der eigenen Art. Neonationalismus und kultur-differenter Sozialkonservatismus prägen zunehmend das mittelständische Weltbild. Bestenfalls eine Fassade des Liberalismus und Kosmopolitismus bleibt erhalten, was sich in den Umfragen deutlich zeigt, in denen zwar »Rassismus« generell abgelehnt wird, Islamophobie aber floriert, weil sie als angeblich wertfreie Haltung der kulturellen Unverträglichkeit des Islams mit Europa verpackt wird – eine kaum kaschierte Form des kultur-differenten, »neuen Rassismus« (Kap. II.1). Natürlich ist es nicht sinnvoll, zu stark zu pauschalisieren. Umfragen und Studien weisen zwar aus, dass vielfach die Hälfte oder mehr der europäischen Bevölkerungen etwa den Islam ablehnen und/oder diesem ängstlich gegenüberstehen. Damit sind die Grenzen zum europäischen Bürgertum längst überschritten, wenngleich die nach wie vor existenten liberalen Bildungs- und Bewegungsnetzwerke zeigen, dass Mittelschichten hier nicht einig sind, sondern ihrerseits verschiedene Milieus ausgeprägt haben (Kap. II.1). Quantitative empirische Studien belegen aber, dass es einen gewissen Zusammenhang zwischen ökonomischer Stellung, Krise der Mittelschichten und Islamophobie gibt (O. Decker et al. 2010; Zick et al. 2011). Menschen mit mittlerem Einkommen sind demnach weniger anfällig für Islamophobie als Menschen mit geringem Einkommen, aber wiederum anfälliger als Menschen mit hohem Einkommen. Diese Zusammenhänge sind für Länder wie Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Italien, Deutschland, Ungarn und Polen bereits nachgewiesen worden. Die Einkommensabhängigkeit gilt auch für andere Vorurteilsbereiche wie Sexismus, Homophobie oder Antisemitismus; die Zustimmung zur Islamophobie hat jedoch das höchste Niveau: Während gerade Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit im Allgemeinen weniger befürwortet werden, haben weite Teile des europäischen Bürgertums bei Islamophobie weitaus geringere Hemmungen vor ungebremsten Vorurteilen. Die neueren Studien zum Verhältnis der Mittelschicht zu Fremden und Fremdenfeindlichkeit sind auch insofern interessant, als hier ein komplexer Mittelschichtbegriff verwendet wird, bei dem neben der Höhe des Einkommens auch Aspekte des Bourdieu’schen Habitus und die Wechselbeziehungen zwischen Wohlstand und Habitus eine Rolle spielen (Nolte/Hilpert 2007; Hradil/ Schmidt 2007). Auch diese Studien gehen etwa für Deutschland von einer

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langsamen Erosion der Mittelschicht aus, die Fremdenfeindlichkeit verstärkt. Während sich in der Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit die Lohnniveaus von Arbeitern und Mittelschichten zunehmend anglichen, machen sich seit den 1970er Jahren immer stärker Strukturkrisen der Ökonomie bemerkbar, die die Mittelschicht gefährden und deren Einkommen teilweise absinken lassen. Aufstiegsmilieus sind dabei toleranter als Abstiegsmilieus (Hradil/Schmidt 2007, S.  212f.). Da sich in letzteren das Einkommen nicht mehr als sozialer Differenzmarker eignet, werden Habitusunterschiede wichtiger, welche durch die in den Boomjahren zumindest auf dem Papier geförderte größere Transparenz des Bildungssystems angeglichen worden waren und die bis heute vielfach als soziales Distinktionsmerkmal auch in Krisenzeiten erhalten bleiben – der »Taxi fahrende Soziologe« war nicht umsonst das Angstbild vieler Eltern in den 1980er Jahren, wenn diese ihrem Kind zum Studium der Betriebswirtschaft rieten. Es folgte die »Generation Praktikum« mit verzögerter und gebrochener Erwerbskarriere: hervorragend ausgebildet, aber vom Arbeitsmarkt nicht immer leicht absorbiert. Habituswerte werden als Konsequenz gerade in den absteigenden Milieus betont, mehr Bildung gilt als Schlüssel für mehr Teilhabe und es entwickelt sich eine neue Bildungsbürgerlichkeit (Nolte/Hilpert 2007, S. 54), die auch von populären Annahmen über die »Wissensgesellschaft«, die »Globalisierung« und die Zukunft der spätindustriellen westlichen Gesellschaft bestärkt wird. Was dem Erreichen dieses Aufstiegsmotivs im Wege steht – »zu viele« Kinder mit »Migrationshintergrund« in Schulklassen oder im Stadtteil, die tatsächlich oder vermeintlich den Lernfortschritt des eigenen Kindes beeinträchtigen – wird abgelehnt. Bisher sind derartige Befunde weder theoretisch noch empirisch in hinreichendem Maße auf den Islam und die Frage der Islamophobie übertragen worden. Hier dürfte sich aber ein reichhaltiges Forschungsfeld eröffnen, denn der Islam und Muslime bieten sich in vielerlei Hinsicht als geradezu ideales Feindbild für krisenhafte Mittelschichten in Europa an. Wenn die wachsende Spannung zwischen sinkenden Einkommen und gleichbleibenden oder gar steigenden Habitusansprüchen sich in einem neuen Sozialdarwinismus entlädt, in dem nicht mehr materieller, sondern »geistiger Wohlstand« zur sozialen Distinktion eingesetzt und eine Art bildungsbürgerliche Renaissance als Krisenmechanismus entwickelt wird, so kann man sich vorstellen, welche Provokation der Islam in diesem Kontext darstellen muss. Er steht der Rückbesinnung auf tradierte europäisch-abendländische Bildungswerte im Wege, weil er a) mit diesen – zumindest oberflächlich betrachtet – nicht verbunden ist, er b) als »rückständige« Ideologie angeblich bildungsfeindlich ist und er c) als offensichtliche Metamorphose des »Anti-Westens« so ungefähr jeden Wert zu konterkarieren scheint, der in dieser kriselnden Mittelschicht Europas gerade aufgewertet wird: vor allem Individualismus, Wissen und Lernbereitschaft. Der Sieg einer fundamentalistischen Spielart des Islams in der Irani-

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schen Revolution von 1978/79 und die zunehmende Sichtbarkeit von Moscheen und Kopftüchern in Europa fielen zeitlich genau in die beginnende Krisenperiode der europäischen Mittelschichten – zumindest in den klassischen Staaten der »Europäischen Gemeinschaft«; Süd- und Osteuropa haben sich wegen der verspäteten Demokratisierung hingegen auch ökonomisch in anderen Zeitzyklen entwickelt. Da kosmopolitische Toleranzwerte in Abstiegsmilieus nachwirken und im Fall einer Rückkehr zum »alten« Rassismus ideologische Zielkonflikte hervorbringen würden, bietet die Islamophobie auch die Möglichkeit, Fremdenfeindlichkeit zu verbrämen: Im »neuen Rassismus« (Kap. II.1) gilt der Islam nicht als »schlechter«, er erscheint schlicht als »anders« und als »unverträglich«. Schließlich stehen hinter ihm ja noch die »islamischen Länder« mit ihrem oft aggressiven anti-westlichen Gehabe: Auch das macht es leichter, den Islam abzulehnen, denn wer eine »objektive« Gefahr erkennt, ist ja noch kein Fremdenfeind, sondern wendet sich gegen eine feindliche Ideologie. Dass die Bilanz der politischen Gewalt eindeutig dafür spricht, dass es westliche Staaten sind, die in Kriegen weit mehr Muslime töten als umgekehrt und die das »Feindbild Islam« als außenpolitische Legitimation für die Kooperation mit Diktaturen und für zahlreiche Kriege um Ressourcen nutzen, taucht in diesen Konstrukten der »islamischen«, »iranischen« oder sonstigen Gefahr allenfalls am Rande und in kleinen kritischen Zirkeln und Öffentlichkeiten auf (K. Hafez 2009, S. 161ff.). Der Islam ist also das richtige Feindbild einer kriselnden Mittelschicht zur richtigen Zeit. Nur so lässt sich auch erklären, warum etwa die islamfeindlichen Thesen von Thilo Sarrazin (Kap. II.1) bei Mitgliedern der als multikulturell geltenden Partei der deutschen Grünen so große Zustimmung fanden.101 Die Grünen haben sich nämlich nicht nur zu einer Partei der Besserverdienenden entwickelt, sondern hier versammeln sich auch viele aus den bedrohten Mittelschichten: die Bildungsabschlüsse der Parteimitglieder sind höherwertiger als die aller anderen Parteien, so dass die Partei zum Hort des neuen bildungsbürgerlichen Habitus wird. Mehr noch: die Grünen sind selbst Teil dieses Habitus geworden, denn sie verkörpern Umweltbewusstsein, Fortschritt und Modernität. Später werden wir noch sehen, dass auch und gerade die »seriösen« Medien des Bürgertums vielfach ein Feindbild des Islams pflegen (Kap. III.1) und dass viele öffentliche Meinungsführer des linken oder liberalen Bildungsbürgertums heute zu den reaktionärsten Islamgegnern gehören (Kap. IV.1). Obwohl sie selbst keine materielle Not leiden, orientieren sie sich offensichtlich an der Genese ihres Publikums und verkörpern, was ein Teil ihrer Rezipienten erlebt: eine Rückentwicklung zur Intoleranz und zur sozialdarwinistischen Territorialverteidigung mit dem alt-neuen Instrumentarium der »aufgeklärten Islamophobie«. Die modernen Mittelschichtanalysen, die Faktoren wie »Habitus« einbeziehen, sind auch deswegen so reizvoll, weil sie nicht ökonomischdeterministisch argumentieren. Die Vorstellung, dass sich Islamophobie ein-

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kommensabhängig bildet, ist zu reduziert, denn wie wir bereits gesehen haben, spielen Faktoren wie Ideologie, Werte, Bildung und sozialer Kontakt eine erhebliche Rolle. Verschiedene Einwände gegen die mögliche These der Islamophobie als Phänomen der Wirtschaftskrise ließen sich in Stellung bringen: • Der Begriff der ökonomischen Krise ist zu vage, da sich die Autoren ja einig sind, dass die Wahrnehmung der »Krise« oft entscheidender ist als die Krise selbst. Relative Deprivation bedeutet Unzufriedenheit mit der eigenen materiellen Situation, was sich als tatsächliches Leben am Existenzminimum, aber auch als Klagen auf relativ hohem Niveau darstellen kann. • Die hohen Raten bei der Islamophobie im Vergleich zu anderen Vorurteilsbereichen zeigen, dass es auch spezifische Motive in den islamisch-westlichen Beziehungen geben muss, die das Bild beeinträchtigen und die selektive Wahrnehmung fördern: Dass weite Teile des westlichen Bürgertums aus der Iranischen Revolution so schnell generelle Vorbehalte gegen den Islam ableiteten und etwa vom demokratischen »Arabischen Frühling« 2010/11 überrascht wurden, zeigt die Wirksamkeit langfristiger interkultureller Wahrnehmungsstörungen. • Islamophobie hat sich nicht erst in der ökonomischen Krise Europas gebildet. Zwar haben wir keine aussagekräftige Demoskopie aus der wirtschaftlichen »Boomzeit« der 1950er und 1960er Jahre, aber es gibt doch eine Reihe von Hinweisen darauf, dass Fremden- und Islamfeindlichkeit damals schon existierten. Demoskopisch gesichert ist, dass der Antisemitismus noch bis etwa in die 1960er Jahre in Deutschland verbreitet war – also noch lange nach dem Holocaust (Wolffsohn 1984). Die Medien der damaligen Zeit thematisierten zwar kaum den Islam, waren aber voller orientalistischer Vorurteile (K. Hafez 2002a, Bd. 2, S. 235ff.). Die in der These der Krisenbedingtheit angelegte Annahme, dass Islamophobie in Zeiten der Hochkonjunktur abnimmt, ist also sehr kritisch zu bewerten, da bestimmte Formen der Arabo-, Turko- oder Islamophobie zwar wechselnde Gestalt annehmen, im Kern aber durchgehend präsent sind. Aus diesem Grund reicht auch die Kritik des Neoliberalismus sicher nicht aus, um Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie zu erklären. Auf die Frage etwa, warum in Deutschland Ausländer auch nach dem Studium nur ein Jahr im Land bleiben dürfen, um lediglich nach schweren »Vorrangprüfungen« dauerhaft Arbeit und Aufenthalt zu finden, antwortet der Migrationsexperte Dieter Oberndörfer daher nicht zu Unrecht, dass der Politik keineswegs der Sinn für die ökonomische Rationalität fehlt, sondern schwerer wiegen die kulturelle Dimension, »Ängste gegenüber allem Fremden« und ein Mangel an »kulturellem Pluralismus«.102 Thesen vom Verschwinden des Rassismus nach Herstellung von mehr Verteilungsgerechtigkeit oder, eine andere Variante, nach vollständi-

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ger ökonomischer Integration der Muslime, sind nicht haltbar. Die klassischen Faktoren für die Entstehung des Rassismus gelten auch für die Islamophobie (Kap. II.1). Sozialer Abstieg in der Mittelschicht erzeugt aber sicherlich eine wichtige Aktivierungsmatrix für die Zunahme von Islamophobie, für deren hegemoniale Verbreitung und die Verbindung mit den Motiven des Sozialdarwinismus, der gesellschaftlichen Abgrenzung, Verdrängung und Diskriminierung. Die Krise bietet demnach die Möglichkeit, eine latente hegemoniale Kulturauffassung auszuleben. Eine weiterführende Frage, die sich im Rahmen der Kritik des »Neoliberalismus« stellt, ist, ob Rassismus und Islamophobie eigentlich das Ergebnis von Krisen des kapitalistischen Systems sind, also ein Ausnahmezustand, oder ob sie dem Normalzustand des Systems entspringen. Von der strukturellen Krisenanfälligkeit des Kapitalismus war bereits Karl Marx ausgegangen, aber selbst dieser Großkritiker des Kapitals hatte den Kapitalismus als einen Fortschritt gegenüber traditionellen Gesellschaftsformen wie dem Feudalismus usw. betrachtet. Der Kapitalismus war demnach geeignet, der ständischen Gesellschaft soziale Mobilität einzuhauchen. Nach dieser Analyse sollte man hinsichtlich der Einstellung zu Einwanderern und zu Muslimen in Europa von einem Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehen. Während Arbeitgeber Einwanderung prinzipiell befürworten müssten, da sie ständig nach neuen Arbeitskräften suchen und Konkurrenz am Arbeitsmarkt ihre Stellung verbessert, verbindet ein Teil der in der Krise befindlichen Arbeitnehmer mit der Zuwanderung das Aufkommen unliebsamer Konkurrenz. Vonseiten des Kapitals und der Unternehmerschaft wäre also Rassismus sicherlich nicht systemisch geprägt und tatsächlich stellen wir fest, dass in Europa nicht zuletzt die Arbeitgeberverbände die einwanderungsfreundlichste Politik betreiben. Dennoch gibt es immer mehr Studien, die zeigen, dass Diskriminierung auch von Unternehmen ausgeht und dass gerade Muslime unter dieser Art der strukturellen Diskriminierung zu leiden haben. In der Europäischen Union und in der OECD gelingt die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt schlecht, was besonders Türken, Araber und andere »Orientalen« betrifft. Zum Teil bringen sie geringe Qualifikationen mit (s.u.), aber selbst nach einer statistischen Bereinigung bleibt eine ungewöhnlich hohe Arbeitslosigkeit in dieser Einwanderergruppe übrig (Liebig/Widmaier 2009, S.  6f.). Defizitäre Bildung und Qualifikation erklären nicht alle Unterschiede bei der Arbeitslosigkeit, es findet auch Diskriminierung am Arbeitsplatz statt (Open Society Institute 2007, S. 23). Vor allem Musliminnen, die ein Kopftuch tragen, werden auf dem europäischen Arbeitsmarkt diskriminiert (Amnesty International 2012). In Deutschland etwa haben Bewerber mit türkischem Namen Nachteile bei der Arbeitssuche (Kaas/Manger 2010). Für den Einfluss kollektiver Kulturannahmen – »machohaftes türkisches Benehmen« usw. – oder Vorbehalte gegenüber

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dem muslimischen Kopftuch, die gegen europäische Antidiskriminierungsgesetze verstoßen (Kap. I.2), gibt es zahlreiche Belege (Peucker 2010b). Ist also Islamophobie eher das Produkt eines funktionierenden kapitalistischen Systems als dasjenige der Krisen dieses Systems? Die Schlussfolgerung wäre zu vereinfachend. Im Gegenteil ist zu erkennen, dass der Kapitalismus keine hinreichenden Mechanismen entwickelt hat, Diskriminierung zu verhindern. Unternehmen sind keine idealtypischen Organisationen, in denen einwanderungsfreundliche Markt- und Funktionslogiken an alle Glieder weitergegeben werden. Vielmehr sind Unternehmen auch »soziale Systeme«, sie bestehen neben »Entscheidungsprogrammen« aus Menschen, die ihre Rollen interpretieren, die mit anderen Mitarbeitern »verhandeln« und Entscheidungsfreiräume besitzen. Arbeitgeber und Personalabteilungen agieren unterschiedlich, manche lassen dabei persönlichen Vorurteilen freien Lauf. Eine unternehmensethische Normierung hat im Bereich des Rassismus bislang kaum gewirkt, so dass auch außerhalb von Krisenzeiten Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt und am Arbeitsplatz stattfinden kann. Auch wenn keine systemische Funktion erkennbar ist, dringen gesellschaftliche Werte der Intoleranz über die Handlungslogik von Individuen und Gruppen in Unternehmen ein, selbst wenn wirtschaftliche Dachverbände gerne mit multikultureller Diversität werben. Erneut zeigt sich, dass eine komplexe Analyse von Gesellschaft mit den Mitteln der System- und der Handlungstheorie am fruchtbarsten ist. Betrachtet man den wirtschaftlichen Sektor nun insgesamt, dann werden die sozioökonomischen Ursachen der Islamophobie sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie des europäischen Wirtschaftssystems deutlich. Man erkennt, dass auch die oben als real und dringlich bezeichneten sozioökonomischen Integrationsprobleme nicht nur durch die Integrationsverweigerung der muslimischen Minderheit (s.u.), sondern auch durch die Aufnahmeblockaden der Mehrheitsgesellschaften inner- wie außerhalb von Krisenzeiten verursacht werden. Das negative Image des Islams wird als Argument der sozialen Isolation, die wiederum kulturell gedeutet wird, in Stellung gebracht. Eine Art Teufelskreis des islamophoben Sozialdarwinismus wird sichtbar. Wie solche Zuschreibungen funktionieren, konnte man etwa anlässlich der Unruhen in den Pariser Banlieues 2005/06 erkennen, als vor allem die französische Rechte, flankiert von der konservativen europäischen Presse, die Muslimbrüder, die Polygamie und den Islam für die Verwahrlosung und den Aufruhr verantwortlich machte.103 Dagegen wendete sich die linksliberale Le Monde diplomatique: Entgegen allen Verschwörungstheorien haben weder irgendwelche Gangstermilieus noch islamistische Gruppen die Unruhen angezettelt. Im Gegenteil: Alle Beobachter betonen, dass die Unruhen spontan entstanden sind. Dass die Islamisten nicht hinter den Ereignissen stecken, erkennt man schon daran, dass die muslimischen Geistlichen vielfach als Vermittler wirkten […]. Es wäre absurd, einige ›Muslimbrüder‹ für die Folgen

II. G ESELLSCHAFT der Ghettoisierung von über fünf Millionen Menschen in 752 ›Zones urbaines sensibles‹ (sozialen Brennpunkten) verantwortlich machen zu wollen. Wer nach den Gründen für die jüngsten Unruhen fragt, braucht sich nur die städtische Apartheidspolitik – die Negation des ›französischen Integrationsmodells‹ also – in Verbindung mit dem Rassismus und der Diskriminierung, die den jungen Arabern und Schwarzen entgegenschlagen, klar vor Augen zu führen. Heute tritt offen zutage, was die Kopftuchdebatte unter den Teppich gekehrt hat.104

Natürlich, das geben auch die Studien wieder, bringen sehr viele muslimische Einwanderer schlechte schulische Voraussetzungen und Qualifikationen mit, sie arbeiten oft im Niedriglohnsektor (Hildebrandt/Bendel 2006, S. 15). Muslime sind daher nicht zu Unrecht als die »Unterschicht Europas« (underclass) bezeichnet worden (Cesari 2006, S. 17f.). Trotz des hohen Arbeitslosenrisikos und niedrigen Durchschnittseinkommens leisten sie aber bereits heute einen positiven Nettobeitrag zum Steueraufkommen und für das Sozialversicherungssystem (Institut zur Zukunft der Arbeit 2006; Straubhaar 2007). Allein türkische Unternehmen in Deutschland erwirtschaften einen Umsatz von 30 Milliarden Euro (Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer 2006). Die Zahl der Studierenden unter den Einwanderern steigt (Bundesministerium des Inneren 2007). Dennoch nehmen Muslime zweifellos nach wie vor eine unterdurchschnittliche soziale Position ein. Die Ursachen hierfür sind aber, wie gesehen, komplex und auch bedingt durch Diskriminierung als Folge von Islamo-, Turkound Arabophobie. Am Ende steht eine relativ simple Erkenntnis: Prozesse der sozialen Desintegration (der Mehrheit) können ebenso zur Islamophobie beitragen wie Islamophobie (in Unternehmen) ihrerseits zur sozioökonomischen Desintegration (der Minderheit) beitragen kann. Beide Mechanismen greifen allerdings als Erklärung zu kurz, da die Islamophobie nicht nur von sozioökonomischen, sondern zusätzlich von zahlreichen anderen Faktoren wie Normdefiziten, Wahrnehmungstraditionen, Bildungs- und Kontaktmängeln beeinflusst wird und weil sozioökonomische Probleme der Muslime auch das Ergebnis einer Selbstmarginalisierung durch mangelnde Qualifikation sind. Damit ist klar, dass sich eine rein ökonomische Betrachtung der Beziehungen zwischen europäischen Mehrheitsgesellschaften und Muslimen verbietet, weshalb wir uns nun den Einflüssen von Medien, Wissenschaft, Schule und Kirche zuwenden.

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III. Medien

Wir sind an einem Punkt der Argumentation angelangt, an dem sich in etwa auch Jürgen Habermas befand, als er sich Ende der 1960er Jahre immer mehr von der marxistischen Sozialanalyse löste. Wie Hans Joas und Wolfgang Knöbl es formulieren, kam Habermas zu der Erkenntnis, dass »eine Steigerung der Produktivkräfte nicht automatisch auch einen moralischen Fortschritt« mit sich bringt, so dass man den Primat der Ökonomie verwerfen und die »Eigenlogik des moralischen Handelns« in sozialen Beziehungen stärker berücksichtigen müsse (Joas/Knöbl 2011, S. 318). Auch uns ist aufgefallen: Die moderne Demokratie und die kapitalistische Industriegesellschaft haben Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie nicht beseitigen können. Alles Wachstum an politischer und gesellschaftlicher Freiheit, das Europa in den letzten hundert Jahren unzweifelhaft erlebt hat, hat dies nicht bewirkt. Fragen der multikulturellen Gesellschaft scheinen einer Eigendynamik zu unterliegen, die nur wenig mit wirtschaftlichen Auf- und Abwärtsbewegungen zu tun hat und auch wenig mit der liberalen Dynamik des Rechtssystems und dem – wie auch immer ambivalenten – Versuch staatlicher Eliten, einen islamfreundlicheren Wertekanon einzuführen, der einen Bruch zwischen Politik und Gesellschaft abwendet. Womit aber ist all dies sonst zu erklären? Die liberale Gesellschaftstheorie hatte das Individuum gefeiert, konservative und sozialistische Ideologien ihrerseits verschiedene Varianten von Gemeinschaftsidealen, all diese Richtungen pochten auf bestimmte Werte, Institutionen und Machtverhältnisse, die die Gesellschaft aus ihrer Sicht prägten. Kaum jemand aber hatte sich bis dahin ernsthaft bemüht, die Interaktionsprozesse zwischen Individuum, Gruppen und Gemeinschaften als Grundlage einer jeden Wertebildung genauer zu untersuchen. Was in Habermas’ Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit« (1962) noch sehr demokratietheoretisch, ideologie- und machtkritisch daherkam (Habermas 1990), wurde in seinem Opus magnum, der zweibändigen »Theorie des kommunikativen Handelns«, zu einer echten Theorie des sozialen Handelns weiterentwickelt (Habermas 1995). Kommunikation rückt hier ins Zentrum des gesellschaftlichen Geschehens. Wie bei Zeitgenossen der französischen Philosophie wie Michel Foucault

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oder den amerikanischen Symbolischen Interaktionisten in der Nachfolge von George Herbert Mead geht es Habermas um ein genaueres Verständnis des öffentlichen »Diskurses«, des Funktionierens kollektiver Rationalität und Lernprozesse. Wie lösen Menschen Probleme und warum lösen sie sie nicht? Macht und Ressourcen spielen bei Habermas nach wie vor eine Rolle, denn nicht jedes Handeln ist »kommunikatives Handeln«, sondern es gibt auch instrumentelles und strategisches Handeln. Besondere Beachtung aber findet die gesellschaftliche Kommunikation, finden die Fragen der Problemlösung und des Konsenses. Es geht Habermas um die Bewältigung des Nicht-Ohne-Weiteres-Verständlichen. Dass Habermas sich seit seiner Habilitation immer wieder auch mit der Vermachtung von Diskursen beschäftigt hat – etwa im Zentrum-Peripherie-Modell der Öffentlichkeit –, zeigt, wie sehr er sich um eine integrative Theoriesynthese bemüht hat und warum sein Werk international so große Ausstrahlung besitzt. Die Frage ist also nicht zuletzt, inwiefern die Medien eigentlich die Dialogprozesse innerhalb der Gesellschaft beeinflussen. Welchen steuernden Einfluss haben sie bei Fragen wie der politischen und rechtlichen Gleichberechtigung sowie bei der gesellschaftlichen Anerkennung oder der Entwicklung der Islamophobie? Es fällt auf, dass die klassischen Auslöserfaktoren, die die Soziologie für den Rassismus nennt – Ideologie, Werte, Kontakt, Wirtschaftslage und Bildung – diesen Punkt gar nicht explizieren oder ihn allenfalls als Unterpunkt der Sozialisation vermerken. Aber können nicht auch die Medien Fremdbilder prägen und sogar die Entwicklung rassistischer Einstellungen in einer Gesellschaft maßgeblich beeinflussen? Mit der öffentlichen Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland seit den 1960er Jahren ging auch der Antisemitismus im Land deutlich zurück. Bieten Medien also für das Individuum eine Chance, aus seiner kleinen Welt der Vorurteile, des mangelnden Kontakts zu Fremden und der sozialen Ängste herauszukommen? Und wäre eine kommunikative Neuverhandlung des Bildes der Muslime nicht wichtig, um den drohenden fremdenfeindlichen Bruch zwischen liberal-demokratischem Politiksystem und Gesellschaft in Europa (Kap. II.1) abzuwenden? Sind Medien nicht per Definition die Nahtstelle zwischen Politik und Gesellschaft, an der Konflikte verhandelt, gelöst und wo der Zusammenhalt moderner Großgruppen und Nationalstaaten gefestigt wird? So wichtig die Aufwertung des kommunikativen Kosmos durch Habermas auch gewesen ist, lassen Konzepte wie die »liberale Demokratie« oder die »liberale Gesellschaft« doch viel Raum, um gesellschaftliche Kommunikation in unterschiedlichster Weise zu theoretisieren. Öffentliche Kommunikation wurde lange Zeit mit den Massenmedien gleichgesetzt, deren Bedeutung für den Themenhaushalt einer Gesellschaft, für die politische und soziale Orientierung und Integration, aber auch für die gesellschaftliche Vielfalt betont wurde. Gerade die Entwicklung der digitalen Medien hat die Zahl der gesellschaftlichen Kommunikationskanäle explodieren lassen. Der postmodernen Gesellschaft mit

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ihren zahlreichen Sub- und Multikulturen stehen heute eine Vielzahl »großer« und »kleiner« Medien zur Verfügung, um soziale Sinndeutung zu verhandeln. Abkoppelungen vom Mainstream machen sich ebenso breit wie spontan und instabil anmutende kommunikative Vernetzungen – all dies mit sozialen Folgen, die wir erst langsam verstehen. Je stärker sich Individuen aber öffentlich Gehör verschaffen oder sich zumindest präsentieren können, umso deutlicher wird auch, dass einige der Habermas’schen Prämissen des kommunikativen Handelns hinterfragt werden müssen. Nicht Rationalität, sondern Emotionalität, nicht nur das Wort, sondern auch Klang und Bild spielen immer mehr eine Rolle. Der Zusammenhang zwischen »Kommunikation« und »Handeln« ist viel brüchiger als gedacht. Gesellschaftliche Mehrheiten wie auch Minderheiten bilden vernetzte und separierte Interaktionsräume, monokulturelle, multikulturelle, reaktionäre, orthodoxe und neo-religiöse »Salons« des digitalen Zeitalters. Gesellschaftliche Gruppen sammeln internes wie externes Sozialkapital, die Bedeutung der Massenmedien verändert sich – all dies mit möglichen Auswirkungen auf die Frage der Stellung des Islams im politischen, sozialen und kulturellen Gefüge Europas. Kommunikation geht schließlich weit darüber hinaus. Sie umfasst die Symbolsprache der Mode und der Kleidung. Von Habermas zum muslimischen Kopftuch – ein weiter Weg. Es macht wenig Sinn, die verschiedenen Theoriestränge der gesellschaftlichen Kommunikation gegeneinander auszuspielen. Es geht heute durchaus um die unterschiedlichen Facetten sozialer und politischer Kommunikation. Massenmedien spielen eine erhebliche Rolle bei der Frage der Anerkennung des Islams und der Integration der Muslime. Fragen der Gleichberechtigung oder Hegemonie in Medien und Öffentlichkeit sind zu klären. Über Freiheit und Gleichberechtigung, über Toleranz und Intoleranz wird nicht in den Massenmedien allein entschieden.

1. M ASSENMEDIEN – A UFGEKL ÄRTE I SL AMOPHOBIE UND GESELLSCHAF TLICHE K OMMUNIK ATIONSE THIK Liberale Gesellschaftstheorie mit ihrem Schwerpunkt auf Fragen der Freiheit, des Individuums und der Minimierung von gemeinschaftlichen Integrationsverpflichtungen basiert ganz wesentlich auf der Idee der repräsentativen Demokratie. England war zwar führend in seiner Umsetzung der parlamentarischen Demokratie, aber diese Herrschaftsform war noch im 18. und 19. Jahrhundert eine andere als wir sie heute kennen. Bürger sollten zwar wählen, die Staatsgeschäfte dann aber einer vorgeblich gut informierten Elite überlassen. Die Demokratie war hochgradig elitär. Das Volk sollte gelegentlich zur Wahlurne gehen, ansonsten aber schweigen. Im Laufe der Zeit allerdings wurde immer deutlicher, dass Meinungsverbote nicht hilfreich waren. Was fehlte, war eine

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kommunikative Verbindung zwischen Bürger und Politik. Politiker wurden zwar gewählt, aber ihre Amtsperiode erstreckte sich über Jahre und zahlreiche politische Entscheidungen waren zu fällen, die es als durchaus sinnvoll erscheinen lassen konnten, mit den Wählern Rücksprache zu halten. Habermas hat in seinem »Strukturwandel der Öffentlichkeit« jenen historischen Durchsetzungsprozess einer bürgerlichen Öffentlichkeit in Europa beschrieben. Die deliberative Demokratie Habermas’scher Art ist nichts anderes als der Versuch, einen gangbaren Mittelweg zwischen der zum Legitimitätsdefizit neigenden repräsentativen und der im großen Nationalstaat nicht mehr realisierbaren direkten Demokratie aufzuzeigen. Nachdem Habermas viel für seine Fixierung auf das Bürgertum kritisiert worden war, weil sie Teile der Gesellschaft außen vor ließ, legte er in seinem späteren Zentrum-Peripherie-Modell eine Öffentlichkeitskonzeption vor, in der das politische Zentrum, die intermediäre Sphäre der Gesellschaft (Verbände, Organisationen usw.) und die Peripherie (Individuen usw.) über die Medien miteinander verbunden werden sollten (Habermas 1992). In den theoretischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts hat sich eine solche idealistische Haltung nicht überall durchsetzen können. Bei der Beurteilung des Verhältnisses von Öffentlichkeit und Demokratie lassen sich drei große Richtungen unterscheiden, die allesamt zwar bestätigen, dass die Öffentlichkeit eine wichtige Sphäre der Demokratie ist, aber mit gewaltigen Nuancen (Beierwaltes 2002). Elitentheoretiker wie Joseph Schumpeter besaßen eine tief sitzende Abneigung dagegen, die Demokratie von einer unqualifizierten »Masse« regieren zu lassen; das Volk, so argumentierten sie, solle davon absehen, den Repräsentanten in das politische Geschäft hineinzureden (Schumpeter 1993, S. 468). Die Öffentlichkeit ist in diesem Sinne vor allem als eine Sphäre zu betrachten, in der der Politiker den Bürger informiert, ihn auf dem Laufenden hält, das heißt, Elitentheoretiker betonen die Informationsfunktion des Staates. Pluralismustheoretiker wie Ernst Fraenkel gehen da schon weiter. Die Öffentlichkeit ist für sie ein Raum des Austauschs zwischen den Gewalten des Staates und den organisierten Vertretern von Gesellschaftsinteressen, nehmen wir als Beispiele Parteien und Gewerkschaften (Fraenkel 1991). Was aber ist mit Lobbyisten? Hier wird es schwierig: Wer ist denn außerhalb der Reihen der gewählten Staatsvertreter legitimiert, Gesellschaftsinteressen zu repräsentieren? Da eine radikale Antwort lauten muss, dass dort, wo mehrere Bürger sich zusammentun, »Gesellschaft« im Entstehen ist, geht eine dritte Richtung der Demokratietheorie über Eliten- und Pluralismustheorien hinaus. In der zivilgesellschaftlichen oder partizipatorischen Demokratietheorie à la Habermas geht man daher davon aus, dass prinzipiell angestrebt werden muss, alle Bürger in den öffentlichen Diskurs einzubinden. Diese Richtung könnte auch argumentieren, dass wir längst so etwas wie einen »Wandel im Wandel« erleben. Unsere Gesellschaft unterscheidet sich erheblich von der des 19. Jahrhunderts: bessere Schulabschlüsse, bessere Einkommens- und Bildungslagen einer breiten Mit-

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telschicht, die »nivellierte Mittelstandsgesellschaft«, wie der Soziologe Helmut Schelsky das genannt hat, sind in weiten Teilen längst Realität (Schelsky 1953). Die Gesellschaft als Ganzes wird immer gebildeter und qualifizierter, umso bedeutsamer scheint es also, dass sie auch öffentlich mitredet. Die Zivilgesellschaftstheoretiker bezweifeln, dass die Politiker heute die Lösung für Probleme der immer differenzierter werdenden Lebenswelten parat haben. Sie betrachten Politiker als eine Art ausführendes Organ der öffentlichen Meinung einer zunehmend komplexen Gesellschaft, das die politischen Repräsentanten und großen korporativen Vertretungen (wie Parteien und Gewerkschaften) immer weniger zu verstehen, geschweige denn zu steuern in der Lage ist. Was diese These unterstützt ist die Tatsache, dass im Bundestag heute sehr viele Juristen sitzen, Leute also, die politische Phantasie eher umsetzen als selbst erzeugen. Die großen Volksparteien verlieren zudem immer größere Teile ihrer Stammwähler, gesellschaftliche Milieus brechen auf und die gesellschaftlichen Schichtungen zerfallen in zahlreiche manchmal konträre Interessengemeinschaften. Während Eliten- und Pluralismustheorie vor allem in der an politischen Systemen und Institutionen orientierten Politikwissenschaft verbreitet sind, ist in der Kommunikationswissenschaft die weitgehende Vorstellung von der Öffentlichkeit als einem gesamtgesellschaftlichen Dialog wesentlich gängiger. Man kann sich vorstellen, dass je anspruchsvoller die Demokratietheorie in ihren Anforderungen an die Öffentlichkeit und je größer der Kreis derjenigen wird, die miteinander interagieren sollen, umso größer werden auch die Probleme für die Kommunikationstheorie. Was genau ist denn nun diese öffentliche Meinung, wie fängt man politische Haltungen von vielen Millionen Europäern ein, und zwar tagtäglich und zu zahlreichen Themen? In den großen Nationalstaatsverbänden der heutigen Zeit gibt es offensichtlich einen deutlichen Verlust an Primärerfahrung zu beklagen, die Unfähigkeit nämlich, wie in der altathenischen Agora-Demokratie physisch anwesend auf einem Marktplatz zu debattieren. Die moderne Massendemokratie braucht die Massenmedien – hier zunächst einmal beschränkt auf Presse und Rundfunk – als Mittler im öffentlichen Diskurs zwischen Bürger und Bürger sowie zwischen Bürger und Politiker. Leider aber ist auch diese Form der Kommunikation nicht problemfrei. Man bedenke nur diese Paradoxie: Da befreit sich die Demokratie durch die Erfindung der Öffentlichkeit von der Qual der Repräsentation, sucht nach dem direkten kommunikativen Kontakt zwischen Bürger und Politiker, nur um sich erneut repräsentieren lassen zu müssen und dieses Mal nicht einmal von gewählten Politikern, sondern von ungewählten Medien und Journalisten. Die Legitimationsprobleme der Demokratie werden zum Legitimationsproblem des Journalismus (Donsbach 2000). Habermas hat trotz seines hohen Ideals der Öffentlichkeit bereits frühzeitig einen Bruch zwischen Theorie und Praxis erkannt, den er als zweiten »Strukturwandel« der kommerziellen Massenmedien des 20. Jahrhunderts betrachtet:

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ihre Vermachtung und mangelnde Repräsentation der Gesellschaft als Ganzes. Warum dies so kam, wird theoretisch deutlich, wenn man statt der demokratietheoretisch-normativen eine medientheoretisch-funktionalistische Analyse betreibt, denn hier werden die Eigenlogiken der Medien erkennbar. Das autonome Mediensystem erzeugt zwar »Nachrichten« und informiert die Gesellschaft, was dem demokratietheoretischen Ideal von Öffentlichkeit nahekommt und unter dem Oberbegriff der »Pressefreiheit« rechtlich abgesichert wird. Aber die realen Funktionen der Medien weichen vom Idealbild der Demokratie zugleich erheblich ab, was am Subsystem der Medien ebenso liegt wie an den es umgebenden Umweltsystemen und Systemumwelten: • Das politische System ist eben, trotz aller historischen Kämpfe, nicht bereit, die Steuerung des Diskurses völlig aufzugeben. Gerade liberale Theoretiker wie Thomas Meyer beklagen zugleich die »Mediokratie« und die Gefährdung der Parteien- und Gremiendemokratie (Meyer 2001). Die Politik hat PR-Systeme entwickelt, die allerdings oft neue Probleme der Authentizität und Unabhängigkeit des Journalismus aufwerfen – die bekannten Kriegslügen der US-Regierung im Irakkrieg 2003 (K. Hafez 2004) waren hier nur ein Extremfall eines grundlegenden Problems westlicher Öffentlichkeiten. • Der Konsument von Medienprodukten ist eben nicht der »Bürger« schlechthin, sondern er ist »Rezipient« und »Publikum«, verkörpert also ein bestimmtes Segment der Gesellschaft. Medien richten ihre Angebote in Auswahl, Gestaltung und Sprache daher nicht immer an Vorstellungen des Gemeinwohls aus, im Vordergrund steht nicht der große gesellschaftliche Dialog, sondern sie bedienen ihre jeweils eigene Klientel. Vor allem in den öffentlich-rechtlichen Medien besteht zwar ein Programmauftrag der Ausgewogenheit, aber es ist fraglich, ob die großen Medien von Rundfunk, Fernsehen und Presse mehr repräsentieren als den gesellschaftlichen Mainstream, da sie nach großer Publikumsresonanz streben. • Der Journalist übt nicht nur in seiner Berufsrolle als neutraler Informant, sondern auch als sozialisiertes Individuum Einfluss auf die Medien aus. Zwar hat der Kommentar eine auch in der Demokratie gewünschte meinungsbildende Funktion, aber der medienethische Grundkonflikt zwischen Meinungslust und Objektivitätspflicht ist im klassischen Berufsjournalismus ungelöst, weswegen es heute auch alternative Ansätze des »Bürgerjournalismus« (civic journalism) gibt, die vor allem an das Leitbild der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit anknüpfen und sich gegen elitäre Einflüsse wehren (Rosen 1999). • Nicht nur die Umwelten des Journalismus, sondern das Mediensystem selbst übt partikulare Einflüsse aus. Verlagseigner steuern die Medien durch ihre Finanzkraft, eine »innere Pressefreiheit« in den Redaktionen besteht nur bedingt, auch weil sich Hierarchien und Machtverhältnisse dort entwickeln.

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Probleme entstehen aber nicht nur aus der Abhängigkeit von Geld und Macht, sondern auch durch redaktionelle Routinen, schwierige Quellenbeschaffung und -prüfung sowie mangelnde Expertise. Zulieferungen von gesellschaftlichen Eliten wie Organisationen, Verbänden oder Wissenschaftlern sollen hier Abhilfe leisten, doch die Qualität des öffentlichen Diskurses ist auch hierbei nicht immer gesichert (Kap. IV.1). Eine besondere Form der »Vermachtung« von Medien und Öffentlichkeit ist erst in letzter Zeit theoretisch aufgearbeitet worden, nämlich die Stellung von ethnisch-religiösen Minderheiten. Während liberale Theoretiker wie Will Kymlicka nach Möglichkeiten der Verbesserung von rechtlicher Gleichstellung und politischer Repräsentation von Minderheiten suchten, haben John Downing und Charles Husband geltend gemacht, dass auch im Bereich der demokratischen Öffentlichkeit hegemoniale Tendenzen bestehen. Wie die gesellschaftliche Mehrheit dazu neigt, im politischen Raum ihre Abstimmungsmacht zu benutzen, um über religiöse Fragen der Minderheit zu verfügen, obwohl diese als »ungewählte Ungleichheiten« (Dworkin 2011) gerechterweise gar nicht in ihrem Ermessensspielraum stehen sollten (Kap. I.1), besteht auch in den großen Massenmedien oft eine so weitgehende Vormacht der Mehrheitsgesellschaft, dass die Minderheiten gar nicht oder kaum Gehör finden. Husband postuliert daher ein »Recht zu kommunizieren« (right to communicate) und ein »Recht verstanden zu werden« (right to be understood) und will damit den veränderten Bedingungen der »multiethnischen Öffentlichkeiten« in Europa gerecht werden (Husband 2001; Downing/Husband 2005; vgl. a. Kleinsteuber 2002). Genderforscherinnen wie Seyla Benhabib haben Vordenker der Öffentlichkeitstheorie wie Hannah Arendt oder Jürgen Habermas schon Jahre vorher dafür kritisiert, ignoriert zu haben, dass die politische Öffentlichkeit bereits in der Antike allein Eliten vorbehalten war (Benhabib 1992, S. 91). Wie wichtig eine verbesserte Repräsentation ethnisch-religiöser Minderheiten wäre, wird spätestens dann augenfällig, wenn man den engen Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und Medien auf der einen Seite und Rassismus, Anerkennung, Dialog und Integration auf der anderen Seite erkennt. HansBernd Brosius und Frank Esser haben die Medienberichterstattung der ausländerfeindlichen Übergriffe in Deutschland in den 1990er Jahren (Mölln, Solingen und Hoyerswerda) mit der Straftatstatistik im Bereich ausländerfeindlicher Kriminalität verglichen und kommen zu dem Ergebnis, dass Medienberichterstattung, völlig unabhängig von der Art der Berichterstattung, Kettenreaktionen der rassistischen Gewalt auslösen kann (Brosius/F. Esser 1996, S. 211). Medien sind also sicher nicht die alleinige Ursache von fremdenfeindlichen Einstellungen. Sie erzeugen aber Fremdenbilder und liefern Stoff für eine ideologische Deutung und Meinungsbildung, indem sie Minderheiten und deren Verhalten in einem bestimmten Licht erscheinen lassen (sog. framing: »Rahmung«). Sie be-

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stimmen zudem, worüber eine Gesellschaft sich verständigt, welche Themen und Probleme diese erörtert und welche sie ignoriert (sog. agenda setting: »Themenstrukturierung«). In beiden Bereichen sind die Medien umso wirkungsvoller, je geringer der Kontakt der Menschen zu Minderheiten ist und je weniger diese über alternative Informationsquellen verfügen. Folgt man der Cultural Studies-Forschung, dann haben Medien einen erheblichen Einfluss auf kollektive – kulturelle – Sinndeutungen in einer Gesellschaft, auf die Bildung sozialer Kategorien der in- oder out-groups und damit auf Akzeptanz oder Diskriminierung von ethnisch-religiösen Minderheiten. Medien bilden die soziale Schnittstelle für die Definition des sozialen Konflikts zwischen Minderheiten und Mehrheiten. Sie können die Diskriminierungswahrnehmung von Minderheiten verstärken, aber sie sind auch der Ort, wo der Dialog über Anerkennung und Differenz stattfinden muss. Sprachliche Assimilation und Nutzung der Medien des Einwanderungslandes allein erzeugen bei Minderheiten noch keine verbesserte politische und soziale Integration (K. Hafez 2002b). Einwanderer registrieren aber sehr genau, ob sie öffentlich anerkannt werden, was wiederum Einfluss auf die Frage hat, inwieweit sie motiviert sind, politische, sozioökonomische und kulturelle Mindestanforderungen der Integration zu erfüllen (Kap. II.2). Die moderne Kommunikationsforschung hat es längst aufgegeben, Medien als allmächtigen sozialen Akteur zu beschreiben. Medien sind nicht allein verantwortlich für Gewalt und Missstände in einer Gesellschaft. Zum einen sind Faktoren der Mediennutzung ebenso bedeutsam wie die direkten Medienwirkungen. Zum anderen sind Medien nur eine von vielen Sozialisationsinstanzen: Elternhaus, Wissensinstitutionen und Peergroups aller Art spielen eine Rolle, die sozialen Milieus sind viel differenzierter. Dennoch haben gerade die großen Massenmedien, zumindest in der Öffentlichkeitstheorie von Habermas, eine wesentliche Funktion, die man als »kommunikative Integration« bezeichnen könnte. Paradoxerweise ist nämlich für die Herstellung gesellschaftlicher Anerkennung von religiöser und kultureller Differenz ein gewisses Maß der Teilhabe an einem gemeinsamen gesellschaftlichen Dialog durchaus erforderlich. Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhang von einem weiteren Minimum der Integration sprechen, das bei Wahrung aller denkbaren Freiheiten in der liberalen Gesellschaft dennoch zumindest repräsentiert durch gesellschaftliche »Eliten« erfüllt werden sollte. Erinnert man sich zum Beispiel an die Kategorien der Anerkennung nach Rainer Forst – Ablehnung, Akzeptanz, Zurückweisung (Kap. II.1) –, so lässt sich der Unterschied zwischen der negativen Toleranz (Duldung) vergangener Zeiten und der positiven Toleranz der aktiven Anerkennung eigentlich nur durch den Kernbegriff des »Dialogs« verstehen. Der Dialog setzt nach Habermas voraus, dass eine grundlegende Akzeptanz des »Anderen« erfolgt, er legt Menschen aber nicht auf einen kulturrelativistischen Zwang fest, alles zu tolerieren, sondern hier ist Raum für die Zurückweisung bestimmter Denk- und Verhaltensweisen. Weniger der Inhalt als vielmehr die im Dialog

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und durch den Dialog erzeugte gesellschaftliche Haltung ist die integrative Grundlage, auf der sich Mehrheit und Minderheit begegnen, sie ist Teil der Anerkennung, lässt aber Raum für Freiheit und Differenz. Dies ist der Kern auch der deliberativen Demokratievorstellungen von Arendt oder Habermas, die lediglich auf den multikulturellen Kontext übertragen werden müssen. Cum grano salis: Massenmedien können Rassismus verstärken, sie sind aber zugleich der natürliche Ort einer notwendigen sozialen und kulturellen Anerkennung von Diversität. Deshalb kann auch Rudolf Stichweh mit Recht feststellen, dass »Exklusion heute primär den Ausschluss von sozialen Ereignissen bezeichnet – nicht die Verhinderung des Zugangs zu materiellen Ressourcen –, die Gelegenheiten für Kommunikation bieten« (Stichweh 2010, S. 150). Wir werden im Fortgang der Argumentation noch über Alternativen zu den großen Massenmedien und einen erweiterten Begriff des kommunikativen Handelns sprechen (Kap. III.2). Dennoch lässt sich bereits hier feststellen, dass kleine Medien zwar wichtig sind für die Artikulationsfähigkeit von Minderheiten, dass aber, wie die Menschenrechtsorganisation Article 19 richtig erkannt hat, der Zugang von Minderheiten zu den großen Medien zu den Grundlagen der Informationsfreiheit gehört (Article 19 [2003], S. 3f.). Daher stellt sich im Bereich der Medien eine ähnliche Frage wie in der parlamentarischen Demokratie: Welche Zugeständnisse der Mehrheit an die Minderheit sind erforderlich, um kommunikative Chancengleichheit zu gewähren, das »Recht zu kommunizieren« (Husband) einzulösen und die hegemoniale Verdrängung von Minderheiten aus dem öffentlichen Raum zu vermeiden? Es gilt herauszufinden, ob die »speziellen Repräsentationsrechte«, von denen Will Kymlicka im politischen und staatlichen Bereich spricht, nun auch in den Medien gelten sollen. Natürlich wird unmittelbar klar, dass hier kategoriale Unterschiede bestehen. Die privatwirtschaftliche Verfasstheit vieler Medien würde eine zu rigide Interpretation kommunikativer Sonderrechte in einen unmittelbaren Verfassungskonflikt mit Meinungsfreiheitsrechten der Medienbetreiber führen. Deshalb erscheint es sinnvoll, zwei Bereiche zu trennen: • Öffentlich-rechtliche Medien haben theoretisch eine andere Stellung als private Medien, denn nur erstere sind in einer liberalen Gesellschaft diejenigen Medien, die über einen multikulturellen Programmauftrag verfügen müssten. • Entscheidend für den öffentlichen Dialog über Anerkennung ist, dass nicht nur über, sondern auch mit Migranten gesprochen werden muss – ihre Repräsentation als Journalisten oder anderweitige Stimmen im Mediendiskurs wäre also zu fördern. • Der Staat hat keinen direkten Zugriff auf den öffentlichen Mediensektor, er kann aber im Rahmen einer Chancengleichheitspolitik Medienförderungsprogramme für Minderheiten auflegen.

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• Letztlich entscheidender als eine gesteigerte Repräsentation von Minderheiten ist es, dass der mediale Diskurs Positionen der multikulturellen Gesellschaft »ausgewogen« und, trotz aller Problematik dieses Begriffs, »objektiv« darstellt. Hauptziel der nun folgenden Ausführungen ist es, die Medien auf ihr Islambild hin zu untersuchen. Wie wird der Islam dargestellt, wie wird die Minderheit der Muslime in deutschen und europäischen Massenmedien abgebildet? Ist das integrative Ziel eines dialogischen Austauschs über Anerkennung erreicht? In welche Richtung tendieren die Medien: zum eher differenzierten politischen und rechtlichen System oder zur populistischen Islamophobie weiter Teile der Gesellschaft? Zudem werden wir nach Faktoren innerhalb des Mediensystems und in dessen systemischen Umwelten suchen, die wir als strukturelle Ursachen ausmachen können. *** Das Islambild in westlichen Medien ist seit Jahrzehnten ein Gegenstand der internationalen wissenschaftlichen Forschung. Zahlreiche Studien in den USA, in europäischen Staaten, in der islamischen Welt und in anderen Teilen der Welt haben mithilfe verschiedener Methoden und mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzenten auf islamophobe Tendenzen hingewiesen, darüber hinaus aber den Islamdiskurs insgesamt und nicht nur beschränkt auf Islamophobie untersucht (vgl. u.a. Deltombe 2005; Geissler 2003; Glück 2008; K. Hafez 2002a; Poole 2002; Said 1981; Schiffer 2005). Der Gegenstand ist heute ein etablierter Wissenschaftstopos mit einer großen Zahl von Forschungsarbeiten, Lehrveranstaltungen und Konferenzen weltbekannter Wissenschaftseinrichtungen (z.B. Öktem/Abou-El-Fadl 2009). Es kann daher nicht verwundern, dass eine Reihe prominenter Persönlichkeiten und Institutionen bereits vor Verzerrungen des Islambildes der westlichen Öffentlichkeit und insbesondere westlicher Medien gewarnt haben. Der British Council hat Aufklärungshandbücher für Journalisten herausgegeben, in denen eine differenzierte Deutung des Islams und der islamischen Welt angemahnt wird (Masood 2006), und die OECD betreibt ähnliche Projekte. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, meinte 1999, dass dem negativen Islambild der deutschen Öffentlichkeit die gleichen Fehlinformationen zugrunde liegen würden, die früher zur Verachtung der Juden geführt hätten (Kap. II.1). Verschiedene europäische Staatsoberhäupter zielten in dieselbe Richtung (Kap. I.2). Mehr noch als die demoskopisch messbaren islamophoben Einstellungen der Europäer ist in den letzten Jahrzehnten das weitaus sichtbarere mediale Islambild diskurskritisch analysiert worden.

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Zwar ist der Begriff der »Islamophobie« als solcher wegen seiner Unterstellung einer psychologisch fundierten kategorischen Abwehrhaltung umstritten, da nicht jede Form einer Fehldeutung der islamischen Welt systemisch intendiert sein muss, sondern auch nicht-intendierte Fehlinformationen eine Rolle spielen. Dennoch lassen sich viele Strukturmerkmale der Medienberichterstattung in unterschiedlichen westlichen Mediensystemen nachweisen, die darauf schließen lassen, dass eine selektive Wahrnehmung negativer Ereignisse und Entwicklungen vorherrscht – ein typisches Merkmal eines »Feindbildes« also. Der deutsche Mediendiskurs zum Beispiel weist keine propagandistische Einheitlichkeit auf und es fehlt auch eine aggressive Handlungsdimension, die von einer vollständigen Ausprägung des in der Soziopsychologie angesiedelten Feindbildbegriffs zeugen würde. Jedoch existieren alte Klischees nach wie vor und werden in neuartigen islamophoben Diskursen rekonfiguriert. Der Islam hat im Westen seit 1400 Jahren eine schlechte Presse und die moderne Mediengesellschaft hat mit dieser Tradition nicht gebrochen, sondern sie revitalisiert in der Gegenwart ständig die alte Vorstellung vom Orient-Okzident-Gegensatz, wie hier kurz dargestellt werden soll. Mediendiskurse zeichnen sich sowohl durch Mikro- als auch durch Makrostrukturen aus. Als Mikrostrukturen bezeichnet man alle inhaltlichen Merkmale eines Textkorpus, die im einzelnen Text nachweisbar sind, also etwa im einzelnen Zeitungsartikel oder im Radio- oder Fernsehbeitrag. Makrostrukturen sind solche, die entweder die durch Vergleich gewonnene systematische Beschreibung der Gesamtmenge der Texte ermöglichen oder aber Beziehungen und Interaktionen zwischen Texten in den Vordergrund rücken. Nur wenn man alle Ebenen im Blick behält, lassen sich generalisierbare Aussagen über das Islambild europäischer Medien formulieren. Das Framing-Konzept stellt eine Weiterentwicklung der Stereotypenlehre dar, da Textmerkmale differenzierter erfasst werden. Während sich die ältere Stereotypenforschung vor allem auf attributive und sprachlich manifeste Merkmale konzentrierte (»der fanatische Muslim« usw.), ist ein Frame ein ganzes Argument in einem Text, das den Sinn der Aussage markiert und »einrahmt« (to frame). Schon bei den Analysen des Schweizer Feindbildforschers Daniel Frei, der sich in den 1980er Jahren mit Wahrnehmungen im Kalten Krieg beschäftigt hat, lässt sich ein Übergang von der klassischen Stereotypen- zur komplexeren Framingforschung erkennen, etwa wenn Frei feststellt, dass im Westen vielfach die Vorstellung einer Kluft zwischen sowjetischer Führung und Volk vorherrschte (Frei 1985, 1989). Die Bildwahrnehmung war also deutlich differenzierter als simple Vorstellungen von Nationenstereotypen vermuten lassen (»der böse Russe«). Bereits an diesem Beispiel sieht man, dass theoretische Konstrukte und methodische Instrumente nicht unterkomplex sein dürfen, weil die Wissenschaft sonst nach Art einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung auch nur reduzierte Islambilder

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aufspüren und empirische Ergebnisse systematisch verzerren würde (K. Hafez 2002a, Bd. 1, S. 35ff.). Es ist unmöglich, alle Mikrostrukturen des Islambildes zu ermitteln. Nachweisbar aber ist, dass in den großen deutschen Print- und elektronischen Medien bis heute Bilder und Argumentationen verbreitet sind, die auf ein hochgradig selektives und negativ vereinheitlichendes Bild hinweisen. Verschiedene Arbeiten haben sich mit zeithistorischen Islamdiskursen der Medien beschäftigt, etwa anlässlich der Iranischen Revolution von 1978/79 (K. Hafez 2002a, Bd. 2, S.  207ff.), oder aber sie haben die aktuelle Medienlandschaft diskursanalytisch untersucht (Schiffer 2005; Glück 2008). Die Iranische Revolution war das Erweckungserlebnis für die deutschen Medien. Bis dahin gab es zwar Nahostberichterstattung, aber der Islam war ein Randthema für die Medien. Das Aufkommen des politischen Islams hat dies grundsätzlich verändert. Die diskursiven Mikrostrukturen, die während der Revolution entwickelt wurden, haben sich mit Modifikationen bis heute erhalten. Immer wieder findet man seitdem etwa in deutschen Medien die im Kapitel über das Islambild (Kap. II.1) dargestellte Annahme einer Untrennbarkeit von Politik und Religion im Islam. Verbreitet ist auch die Gleichsetzung von politischem Islam mit radikalem Fundamentalismus und von Fundamentalismus mit Terrorismus und Extremismus. Verschiedene Autoren haben sich mit den Selektionsmechanismen des Ausblendens, Hervorhebens, Wiederholens und des Pars-pro-Toto-Symbolismus europäischer Medien ausgiebig beschäftigt (u.a. Schiffer 2005; Deltombe 2005; Geissler 2003). Es gehört wohl zu den absoluten Ausnahmen, dass etwa Fundamentalismus und Terrorismus in westlichen Medien sprachlich und argumentativ auseinandergehalten werden. Hier herrscht nicht nur eine selektive Wahrnehmung vor, sondern auch eine Psycho-Logik im Sinne von Worst-CaseAnnahmen. Wenn nämlich der Islam gleichzusetzen ist mit Politik, die Politik ihrerseits identisch ist mit Fundamentalismus und dieser wiederum mit Extremismus, dann ist die Folgerung logisch, dass dem Islam in seiner Gesamtheit Gewaltbereitschaft unterstellt werden muss – womit man die Verbindung zwischen dem aktuellen Mediendiskurs und der verbreiteten These Samuel P. Huntingtons vom »Kampf der Kulturen« gefunden hat. Huntington behauptet ja nichts anderes als einen grundsätzlichen und gewaltsamen Antagonismus zwischen dem Islam und dem Westen (Die »blutigen Grenzen« des Islams, Huntington 1996) – eine essenzialistische Position, die politisch einseitig ist, weil sie kooperative Interaktionen ausblendet, und die kulturtheoretisch naiv ist, da sie subkulturelle Differenzen (des Islams) negiert (K. Hafez 2009). Große europäische Medien haben aber offensichtlich wenig Probleme damit, kulturalistische Grundpositionen nach der Art Huntingtons zu formulieren, auch wenn diese pauschale Annahmen über Kulturen und Religionen beinhalten. In den angesehensten Zeitungen Europas wird etwa behauptet, der Islam sei intrinsisch expansiv, das Christentum hingegen im Kern

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friedlich.105 Es wird ernsthaft räsoniert, ob Iran Europa militärisch gefährlich werden und es mit Langstreckenraketen angreifen könne106 – obwohl das Land 5000 Kilometer entfernt und dem Westen militärisch hoffnungslos unterlegen ist. Große Rundfunkhäuser veranstalten Sendungen mit Leitfragen wie: »Können Christen und Muslime friedlich zusammenleben?«107 – was nach dem Debattenstil von »Pro und Kontra« die Möglichkeit einer verneinenden Antwort nach sich zieht, was wiederum absurd ist, da Muslime und Christen natürlich zusammenleben können und die Integrationsbilanz überwiegend positiv ist (Kap. II.2). Natürlich treffen wir hier auf ein grundsätzliches Problem. Kann man eine Beschäftigung mit anerkanntermaßen problematischen Themen wie »Terrorismus«, »Frauenunterdrückung« usw. als islamophob bezeichnen? Schließlich war die berechtigte Kritik an arabischen Diktatoren wie Hosni Mubarak, Muammar Al-Gaddafi oder Saddam Hussein auch nicht islamophob, wie auch Kritik an der Politik Israels nicht zwangsläufig antisemitisch ist. Wo aber endet legitime Kritik, wo beginnt Framing islamophob zu werden? Die Antwort lautet, dass man ebenso wenig wie man das Judentum für die Handlungen Israels verantwortlich machen kann, den Islam als Erklärung für die Aktivitäten von Terroristen usw. heranziehen sollte. Einzelne Akteure, die sich mal mehr, mal weniger auf den Islam berufen, können zur Verantwortung gezogen werden, nicht aber ein religiöses Kollektivum wie »der Islam«. Die Verknüpfung von negativen Themen mit Religionen ist eine Form der »Kulturalisierung« oder gar der »Ethnisierung« von Konflikten (Wiegand 2000), die einen künstlichen Erklärungszusammenhang stiftet, eine latente essenzialistische Botschaft formuliert: »Es gibt etwas am Islam, das falsch ist.« Wie man Israelkritik, die das Judentum durch eine thematische Verbindung pauschal als Verursacher des palästinensischen Leids darstellt, mit Fug und Recht als antisemitisch auffassen kann (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung 2002), muss man dies analog auch beim Islam tun. Beiträge, die den Islam im Kontext von Fragen wie Frauenunterdrückung und Gewalt isolieren oder thematisch hervorheben, schaffen einen kulturalisierenden Interpretationsrahmen, der andere Gründe verdrängt. Terror ist letztlich nicht »islamisch«, sondern auch im Islam kriminell; Gewalt gegen Frauen mag in bestimmten Suren des Korans erlaubt sein, in anderen wird sie relativiert und insgesamt ist sie patriarchalisch und wird durch zahlreiche traditionalistische Kontexte legitimiert; Fortschritt und Tradition sind keine intrinsischen Motive des Islams, sondern kulturelle Stile in jedem theologischen Diskurs. Dennoch lässt sich schon begrifflich zeigen, dass die diskursive, thematische Kontextualisierung im Fall orientalischer »Fremdkulturen« von den westlichen Medien ganz anders vorgenommen wird als bei der »eigenen« Kultur des »Abendlands« oder des »Christentums«. Man kennt Begriffe wie »islamischer Terrorismus«, ja selbst »jüdischer Extremismus«, aber wer hätte für die katholischen und protestantischen Kämpfer im nordirischen

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Bürgerkrieg jemals die Begriffsprägung »christlicher Terrorismus« verwendet? Sendungen und Pressebeiträge über die theologischen und biblischen Bezüge des IRA-Terrorismus lassen sich kaum vorstellen; beim Islam sind solche Kontextualisierungen aber die Regel. Dies beweist, dass über die Art des Framings zum Teil ein Bild kultureller, religiöser und anthropologischer Gegensätze in europäischen Medien geschaffen wird, das sich ähnlich auch in der öffentlichen Meinungslage weiter Teile der Bevölkerungen widerspiegelt und das wir selbst bei sorgfältigster Eingrenzung des Begriffs als »islamophob« gekennzeichnet haben (Kap. II.1). Jedoch ist diese Art der inhaltlichen Analyse nur ein erster Schritt zum Verständnis des medialen Islambildes, denn solche Untersuchungen sagen nichts über die Häufigkeit und Gewichtung entsprechender Konstruktionen im gesamten Mediendiskurs aus. Diese sind nämlich komplexer und bilden nicht nur stereotype islamophobe Frames ab. Es ist daher unmöglich, ausgehend von solchen Fallstudien zu Gesamtaussagen über das Islambild europäischer Medien zu gelangen, zumal sich im modernen Mediendiskurs auch immer wieder alternative Frames nachweisen lassen, die zielgenau die Versäumnisse des etablierten Mediendiskurses aufdecken und sich um eine neue Differenzierung nach dem Motto »Islam ist nicht gleich Islam« bemühen. Die deutsche Zeitschrift Die Woche beispielsweise warnte nur zehn Tage nach den Attentaten des 11. September 2001 vor einem »Feindbild Islam«.108 Solche Gegendiskurse sind jedoch vergleichsweise selten. Dennoch wird man sagen müssen, dass lange nicht jede Aussage der Massenmedien über den Islam »islamophob« im Sinne einer engen und sinnvollen Definition dieses Begriffs ist (Kap. II.1): der pauschalen negativen Verurteilung oder Kontrastierung mit dem Westen. Eine weitere Differenzierung ist erforderlich. Der Mediendiskurs über den Islam kann kurzfristig Strömungsunterschiede etwa im Rechts-Links-Gefüge der Medien ausprägen. Solche »Strömungsdebatten« konnten in der Affäre um Salman Rushdie ab 1989 (K. Hafez 1996b), während der Kontroverse um die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel 1995 (Ahmed/Hafez 1995) oder im »Karikaturenstreit« von 2005 (Ata 2011) nachgewiesen werden. Sie zeigen unterschiedliche Sensibilitäten. Die Rücksichtnahme auf religiöse Symbole etwa ist im konservativen oft größer als im linksprogressiven Lager. Linke Medien hingegen übernehmen in der Regel eine Art »Warnfunktion« mit Blick auf Themen wie Krieg oder Rassismus, bleiben aber wegen kleiner Auflagen einflussarm (Jäger 2007, S. 100). Strömungsdebatten eröffnen kurzfristig auch den »kleinen Traditionen« der deutschen Orientbetrachtung, etwa der deutschen Orientalistik, die Möglichkeit, sich in den Medien zu äußern, da diese in solchen Zeiten aktiv als Gesprächspartner gesucht werden. Dass sich hieraus noch lange kein allgemeiner Pluralismus ableiten lässt und dass die modernen Medien islamophobe Diskurse konstruieren, lässt sich leicht zeigen. In den letzten Jahrzehnten ist eine Tendenz zu erkennen, wonach

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• explizite, verbale Stereotype zwar abnehmen, • stereotype Sichtweisen aber über den Umweg der Themenstellung, der Themenhaushalte und • der Kontextualisierung von Bildern wieder eingeführt werden. Das Ergebnis ist eine Art »alter Wein in neuen Schläuchen«, eine »neue Islamophobie«, die weitgehend ohne manifeste Vorurteilsaussagen auskommt, dafür jedoch durch selektive Wahrnehmungen und sachfremde Kontextualisierungen »alte Islamophobie« rekonstruiert. Dieser Vorgang wird hier als »aufgeklärte Islamophobie« bezeichnet und soll im Folgenden näher beschrieben werden. Ein markanter Unterschied zwischen Wahrnehmungen im Kalten Krieg und dem zeitgenössischen Islambild kommt in der Bildsprache der Medien zum Ausdruck. In einer nahezu identischen Ikonographie werden hier seit der Iranischen Revolution Bilderwelten entfaltet, die von Motiven wie radikalisierten islamischen Massen, blutigen Geißelprozessionen und tief verschleierten Frauen geprägt sind. Ein Vergleich der Ausgaben der deutschen Illustrierten Stern von 1979 und Titelgeschichten des gleichen Blattes in den 2000er Jahren wie »Islam – die unheimliche Religion« würde dies rasch belegen.109 Die inhaltlich vorbereitete These der Untrennbarkeit von Religion und Politik wird hier subtil durch die Kennzeichnung der religiösen Irrationalität des Gegenübers gestützt. Während die Sowjetunion als Staat wahrgenommen wurde, dessen Führung zwar ideologische Ziele hegte, darüber hinaus aber als moderner Staat fungierte, ist im Islambild die staatliche Akteurskomponente auch visuell aufgelöst. Neben bestimmten Führungsfiguren (z.B. Usama Bin Ladin) werden »die Muslime« bildlich inszeniert, was suggeriert, dass eine Kluft zwischen Staat und Volk, die in der westlichen Wahrnehmung des Kalten Krieges vorherrschte, im Islam nicht existiert. Bilder von Terroristen und Gewalttaten neben Alltagsszenen oder Bildern der Pilgerfahrt in Mekka mit der Umrundung der Heiligen Kaaba transportieren unterschwellig die Botschaft einer Übereinstimmung zwischen Gewalt, den Menschen und der Religion des Islams. Aus dem Feindbild des staatlichen Gegenübers wird also ein Kollektivbild mit krypto-rassistischen Zügen (Link 1993; Gerhard/Link 1993). Dies wird auch beim größten deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel oder bei bekannten Magazinen wie Stern deutlich, die mit Titelgeschichten wie »Mekka Deutschland – Die stille Islamisierung«,110 »Papst contra Mohammed«111, »Der Koran – das mächtigste Buch der Welt«112 oder »Wie gefährlich ist der Islam?«113 innerhalb kürzester Zeit Beiträge zu einer bildlich verdichteten Islamophobie veröffentlichten: missverständliche, gewaltorientierte, die Trennung zwischen Islam und Westen betonende Titel, jeweils vor schwarzem Hintergrund, was Angst und Phobien bestärkt – kein Wunder also, dass das Islambild der Europäer seit mehreren Jahrzehnten immer negativer geworden ist (Kap. II.1). Zu allen anderen die Fremdenfeind-

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lichkeit prägenden Faktoren – Ideologien, Werte, Bildtradition, Bildungs- und Kontaktmängel – kommt definitiv die starke Wirkung medialer Diskurse hinzu. Nicht nur die Bildkomposition und das Verhältnis von Bild und Text, auch die Themenstruktur von Mediendiskursen kann bildprägend sein, wie ein anderer methodischer und theoretischer Zugang der Kommunikationswissenschaft, die Agenda-Setting-Forschung, zeigt. »Themen« sind Cluster von Frames, die sich um klare, das heißt physisch und zeitlich abgrenzbare Ereignisse ranken oder aber allgemeine Problemstrukturen beschreiben (z.B. Menschenrechte) und die eine den Diskurs ordnende Funktion haben. Themen bestimmen nicht, was wir sagen – dafür gibt es die Frames –, aber sie zeigen an, worüber wir reden, beziehungsweise worüber die Medien reden, was auf der Medienagenda steht und was nicht. In der modernen Forschung ist Agenda-Setting das zentrale Paradigma der Medienwirkung geworden, weil es nicht behauptet, dass die Medien das Denken und Verhalten von Menschen vollständig bestimmen können, wohl aber, dass sie eine steuernde Wirkung auf die soziale und öffentliche Kommunikation ausüben. Von den Themen der Islam-Agenda der Medien darf man daher annehmen, dass sie beeinflussen, worüber die Menschen beim Thema Islam nachdenken und was diese mit dem Islam assoziieren. Eine Langzeituntersuchung der deutschen überregionalen Presse im Zeitraum der 1940er bis 1990er Jahre hat ergeben, dass etwa die Hälfte aller Beiträge den Islam im Kontext eines Gewaltereignisses oder eines entsprechenden Themas (z.B. Terrorismus) erörtern. Weitere circa 10 Prozent thematisieren den Islam im Zusammenhang mit Konflikten, die allerdings ohne physische Gewalt ablaufen können (z.B. Repression durch Tradition).114 Dieser Negativwert ist der höchste aller anderen erhobenen Themen der Berichterstattung über Nordafrika sowie Nah- und Mittelost (K. Hafez 2002a, Bd. 2, S.  92ff.). Eine Studie über das Islambild bei den deutschen Fernsehsendern ARD und ZDF zeigt, dass diese Tendenz im Fernsehen nach den Ereignissen des 11. September 2001 noch stärker auszufallen scheint. Bei mehr als 80 Prozent aller Sendungen und Beiträge über den Islam in öffentlich-rechtlichen Magazinsendungen stehen negative Themen wie Terrorismus, internationale Konflikte, religiöse Intoleranz, Fundamentalismus, Frauenunterdrückung, Integrationsprobleme und Menschenrechtsverletzungen im Vordergrund (K. Hafez/Richter 2007). Dies ist ähnlich beim Bild des Islams in Deutschland, wo Themen wie Parallelgesellschaften, Kopftuchaffären, Frauenunterdrückung, Schulprobleme und Moscheekonflikte seit Jahrzehnten prägend sind (Cesari 2006, S. 161f.). Dass gute Nachrichten im Zusammenhang mit dem Islam auch in anderen westlichen Ländern kaum eine Chance haben, die Nachrichtenschwelle zu überwinden, beklagt eine Studie des World Economic Forums, die ebenfalls davon ausgeht, dass zwar die Art der Berichterstattung in den Medien gar nicht immer in einem klassischen Sinne islamophobe Aussagen und Stereotype enthalten muss, dass aber der Themenhaushalt deutlich in Richtung

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hochgradig konflikthaltiger Themen verschoben ist (World Economic Forum 2008, S.  102ff.). Eine Studie zur britischen Presse im Auftrag des Londoner Bürgermeisters kam zu dem Ergebnis, dass die Berichterstattung über den Islam in den meisten Fällen aus der Sicht eines Konflikts zwischen Islam und Westen sowie Muslime in England als Bedrohung für englische Gebräuche und den britischen Lebensstil dargestellt werden (Greater London Authority 2007, S. XIIIf.). Auch Vincent Geissler ist in seiner Arbeit über das Islambild französischer Medien der Ansicht, dass das negative Bild weniger durch Stereotype und homogene Ablehnungen des Islams entsteht als vielmehr durch verschiedene Mechanismen wie Themenselektion und Bildauswahl erzeugt werde (Geissler 2003). Eine Studie über die USA von Brigitte L. Nacos und Oscar Torres-Reyna spricht von einem insgesamt sehr negativen Bild der Muslime, das nicht zuletzt durch entsprechende Visualisierungen entstehe (Nacos/Torres-Reyna 2007, S. 48; vgl. a. Ibrahim 2003). Natürlich gebe es einzelne Medien auch innerhalb des Mainstreams, die die Ausnahme der Regel darstellen (Nacos/Torres-Reyna 2007, S. 32ff.). Mit einer allgemeinen Neigung von Medien zum Nachrichtenfaktor »Negativismus« oder »Konflikt«, wie sie sicher auch bei anderen Gegenständen besteht, lassen sich die Zuspitzungen des Islamdiskurses nicht mehr erklären, eher schon mit dem »Wahrnehmungsextremismus« einer Reduktion von Komplexität, wie er in der breiten Öffentlichkeit beim Thema Islam oft zu finden ist (Kap. II.1). Der Mediendiskurs ist in seinem Hang zur politisch korrekten »Latenz« der Islamophobie, die ein negatives Islambild verkörpert, ohne im engeren Sinne Pauschalaussagen zu tätigen, lediglich etwas eleganter – eben scheinbar »aufgeklärter« – als der »Stammtisch«. Stereotype des Islams werden häufig nicht mehr ausgesprochen, sie steuern aber unterschwellig durch Themenstrukturen und Bildkompositionen immer noch die Berichterstattung. Der Orient-Okzident-Gegensatz lebt in der hochmodernen Mediengesellschaft fort. Wir dürfen also mit Fug und Recht schlussfolgern, dass im heutigen Mediendiskurs über den Islam zwar gelegentlich aufgeklärte Meinungen in Erscheinung treten, dass aber Menschen, oder genauer gesagt: Medienrezipienten, in überwältigender Weise dazu bewogen werden, den Islam mit Negativthemen in Verbindung zu bringen. Die Medien vermeiden die pauschale verbale Gleichsetzung des Islams mit Gewalt, Rückständigkeit etc., legen jedoch diese Verbindung strukturell sehr nahe. Denn welche andere Schlussfolgerung soll bei der Erörterung von Themen wie »Islam und Terrorismus« – letztlich einem absoluten Minderheitenphänomen des muslimischen Lebens (Kap. II.2), das aber in deutschen Medien das größte Einzelthema darstellt – herauskommen, als die, dass vom Islam eine akute Gefahr ausgeht? Selbst bei gelungener Kommunikation über das Thema mag man das Phänomen des Terrorismus besser verstehen. Eine positive Wertigkeit lässt sich dem Thema jedoch wohl kaum abgewinnen. Es verwundert daher nicht, dass die Deutsche Islam Konferenz urteilt:

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ Die aktuelle Berichterstattung [über den Islam] ist überproportional auf den Gewaltaspekt fokussiert. [Zu fordern ist deshalb] eine verantwortungsvolle, vorurteilsfreie und differenzierte Berichterstattung. Es sollen mehr alltagsnahe Themen zum islamischen Leben in Deutschland aufbereitet werden. Auch die kulturelle Vielfalt muslimischer Mitbürger sollte […] dargestellt werden. (Deutsche Islam Konferenz 2009, S. 43, vgl. a. S. 338, 341)

Dem zugespitzten Islambild großer europäischer Medien fehlt ein relativierender Informationskontext, der den Rezipienten in die Lage versetzt, den Stellenwert eines solchen Phänomens wie des religiösen Extremismus richtig einzuordnen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die noch immer starken Traditionen des gewaltfreien Widerstandes im Islam sind eigentlich nie Thema in den westlichen Medien (Abu-Nimer 2003). Den Hindu Mahatma Gandhi kennt im Westen jeder. Kaum jemand aber weiß von Badshah Khan: einem Muslim, der in Pakistan zigtausende von Menschen zu friedlichen Protesten mobilisierte, der einer der engsten Weggefährten Gandhis war und für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Deutsche Medien widmen sich intensiv der Frage der islamistischen Selbstmordattentate. Selten allerdings wird die tägliche gewaltfreie Widerstandsarbeit auch vieler islamistischer Organisationen in Demonstrationen, Sitz- und Hungerstreiks erwähnt. Die Genese des Islambildes deutscher Medien zeigt ein ganz überwiegendes Desinteresse am Islam als Religion und der Vielfalt seiner gesellschaftlichen Äußerungsformen. Dies gilt übrigens analog für die Wahrnehmung des Judentums, das vielfach auf Holocaust und Zionismus beschränkt wird (K. Hafez 2002a, Bd. 2, S. 118f.). Das Medieninteresse konzentriert sich in hohem Maße auf radikale Facetten des Islams; einer Religion, die im Wesentlichen die Funktion zu haben scheint, als radikaler ideologischer Gegenentwurf zur westlichen Gesellschaft zu dienen. Erneut zeigt sich hier, wie Huntingtons Kulturenkampf kommunikativ konstruiert wird. Rekonfigurationen hat das Islambild westlicher Medien immer wieder bei der Akteurskomposition durchlebt. So ist etwa in deutschen Medien seit den Terrorattentaten vom 11. September 2001 ein – zunächst einmal positiver – Trend zur stärkeren Repräsentanz von Muslimen als Gesprächspartnern zu erkennen. Zugleich aber handelt es sich in der Regel um eine Form der »Repräsentation ohne Partizipation«, da Muslime zwar gehört werden, jedoch selten Themenstrukturen der Medien beeinflussen, sondern lediglich als Akteure innerhalb eines zumeist negativ besetzten thematischen Rahmens auftreten. Alternative Themensetzungen muslimischer Verbände allerdings werden von den Medien weitgehend ignoriert. Thematisierung erweist sich als »Machtfrage« (Halm 2008, S. 96f.). Muslime werden vielfach für eine zu zögerliche Distanzierung vom Terrorismus kritisiert, gleichzeitig aber finden ihre Äußerungen in den Medien kaum Resonanz (Nacos/Torres-Reyna 2007, S. 27ff.). Die deutsche Ini-

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tiative »Neue deutsche Medienmacher« fordert daher mehr echte Partizipation, will Ausländer und Migranten nicht mehr nur als Alibi in den Medien sehen.115 Ob die Ereignisse des »Arabischen Frühlings«, die revolutionären Umbrüche in der arabischen Welt seit Ende 2010, das Islambild in Europa zum Positiven verändert haben, ist noch nicht abschließend erforscht. Großereignisse wie dieses haben durchaus das Potential als »paradoxe Interventionen« auch etablierte Bildkulturen zu beeinflussen, indem sie Nachrichtenroutinen erschüttern und sich ein erhöhter Neuorientierungsbedarf des Journalismus Bahn bricht. Es gibt Hinweise darauf, dass etwa in der deutschen Presse des Jahres 2011 die Partei der ägyptischen Muslimbrüder differenzierter beurteilt wurde und dass insbesondere die Vitalität der arabischen Zivilgesellschaft erstmals intensiv zur Kenntnis genommen wurde (Behroz et al. 2012). Im amerikanischen Fernsehen wurde zur gleichen Zeit die US-Reality-Serie »All American Muslims« gesendet, wobei sich allerdings nach Interventionen christlich-fundamentalistischer Kräfte immer mehr Werbefirmen von dem Programm zurückzogen.116 Insgesamt konnte der »Arabische Frühling« sicherlich das Araberbild aufhellen, die Langfristigkeit dieses Bildwandels ist jedoch noch ebenso unsicher wie eine Differenzierung des Islambildes, zumal der Islam vielfach noch pauschal als Feind des Fortschritts in der Region betrachtet wird. Insgesamt weisen zahlreiche Untersuchungen aus, dass in den großen europäischen Massenmedien – vor allem in Fernsehen und Presse – in weiten Teilen ein negatives Islambild vorherrscht, das teils durch verbale und visuelle Stereotypie, vor allem aber durch entsprechende Themen- und Bildökonomien konstruiert wird. Selbst dort, wo verbesserte Repräsentation von Muslimen erkennbar ist und der Zugang von Minderheiten zu den Medien also erleichtert worden ist, wird vielfach ein vorbelasteter Themenrahmen konstruiert, der ganz an assimilatorischen Absichten orientiert ist: Angst vor Terror und Repression ist vorherrschend, alternative Themenstellungen, die zu einer Stärkung der gesellschaftlichen Anerkennung beitragen und Intoleranz gegenüber dem Islam abbauen könnten, bleiben die Ausnahme. Mit den Worten von Charles Husband kann man bei den meisten »bürgerlichen« Massenmedien von einem verbesserten »right to communicate« (durch vereinfachten Medienzugang für Minderheiten) bei gleichzeitig uneingelöstem »right to be understood« (durch die Persistenz eines in der Anlage islamkritischen bis islamophoben Journalismus) sprechen. Der gesellschaftliche Dialog, wie er sich in den Massenmedien darstellt, wird eindeutig von der Mehrheitsgesellschaft geprägt; Gleichberechtigung im Dialog, wie sie Habermas fordert, ist nicht realisiert. Damit fehlen europäischen Gesellschaften entscheidende Impulse für eine kommunikative Neuverhandlung der gesellschaftlichen Fragen der Integration, Anerkennung sowie politischen und rechtlichen Gleichberechtigung. Die »Salon-Islamophobie« europäischer Bevölkerungen und die »aufgeklärte Islamophobie« vieler europäischer Massenmedien gehen keineswegs zufällig Hand in Hand. Die

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Medienförderung des Staates, sofern sie in diesem Bereich überhaupt vorhanden ist, beschränkt sich auf die Unterstützung einzelner Sendungen und Serien oder auf Forderungen nach einer verstärkten beruflichen Integration von Migranten als Journalisten (Der Nationale Integrationsplan 2007, S. 157-171) – die strukturellen Defizite des Islambildes werden kaum berührt, Selbstverpflichtungen der Medien zur Verbesserung des Fremdenbildes sollen zwar theoretisch nicht auf Nischen begrenzt bleiben, sondern als Querschnittsaufgabe des gesamten Rundfunks und Fernsehens verstanden werden, praktisch aber werden nur einige spezielle Sendungsvorschläge gemacht. Deutlich wird: Der Staat verfügt im Bereich der großen Medien in liberalen Demokratien Europas aus verständlichen historischen Gründen nur über einen sehr geringen Einfluss. Einzelne Stimmen wie die von Roger Hard von der britischen Rundfunkanstalt BBC hoffen auf eine Normalisierung und Banalisierung des Islambildes der Medien im Laufe der Zeit.117 Natürlich muss man erkennen, dass der Islam erst seit der Iranischen Revolution von 1978/79 überhaupt ein großes Medienthema in Europa ist (Kap. II.1). Aber spricht nicht Franz W. Dröges Hinweis auf die Existenz von »kultur-dauernden« Stereotypen gegen die Chance zur Normalisierung (Kap. II.1)? Stefano Allievi und Peter Mandaville sind daher auch eher skeptisch, was die Banalisierungsthese angeht, zum Teil, weil sie glauben, dass Medien von kommerziellen Faktoren angetrieben werden und sich das Negativbild des Islams besser verkaufen lässt als ein differenziertes Bild.118 Die These von der Eigenlogik der Medien, die zu einer Bildprägung in den Medien führt, die ihrerseits eine starke Wirkung auf das gesellschaftliche Islambild entfaltet, ist naheliegend: Sie lässt sich aber, streng genommen, nicht beweisen. Was wir belegen können, sind Korrelationen, nicht Kausalitäten: Die Islamangst der Bevölkerungen und das Negativbild der Medien haben sich in den Jahrzehnten seit 1978/79 sukzessive gesteigert. Es gibt einige Indizien für eine starke Medienwirkung, etwa wenn wir feststellen, dass mediale Vielnutzer mehr Angst vor dem Islam haben als mediale Wenignutzer (Nacos/Torres-Reyna 2007, S. XII) oder wenn die Mutter des islamophoben Mörders von Dresden äußerte, ihr Sohn hätte die Motive aus den Medien bezogen.119 Für eine wissenschaftliche Fundierung reicht das aber noch nicht aus, denn zu viele intervenierende Variablen der Medienwirkung (Familie, Freunde usw.) sind unkontrollierbar. Ähnlich wie bei der Frage, ob jugendliche Gewalt von den Medien verursacht wird, ist die mediale Brandstifterthese im Bereich des Rassismus und der Islamophobie sicherlich zu simpel, denn Individuen und Gesellschaften erzeugen auch ohne Medien Gewalt. Hinzu kommt, dass die Medien selbst Einflüssen unterliegen, ihre formale Autonomie macht sie nicht autark. All dies lässt die Frage aufkommen: Ist es vielleicht so, dass die demoskopisch messbare Islamophobie in europäischen Bevölkerungen gar nicht von Medien verschuldet wird, sondern umgekehrt das negative Islambild der Medien von den Gesellschaften angestoßen wird? In einer solchen Sichtweise wür-

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de weniger die interne Logik der Medien verantwortlich gemacht als vielmehr Einflüsse aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Derartige Überlegungen zur Medienwirkung sind keineswegs eitler theoretischer Zeitvertreib, sondern sie führen zurück zu der Frage, welche Rolle Medien im gesellschaftlichen Dialogprozess spielen. »Mediator« zu sein, hieße mehr oder weniger Dienstleister zur Herstellung eines Gesprächs zwischen den Kräften der Gesellschaft zu sein, deren Ereignisinszenierungen, Einstellungen und Meinungen die Medien zu transportieren hätten. Die Idee der Autonomie des Subsystems der Massenmedien geht aber darüber hinaus und betont den eigenständigen Beitrag der Medien zur Themenstrukturierung, Meinungsbildung und ganz allgemein zur Reduktion von Informationskomplexität. Durch den historischen Funktionswandel im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich der Charakter der Publizität von Partei- zu unabhängigen Massenmedien gewandelt. Dennoch ist die Vorstellung einer uneingeschränkten Autonomie der Medien, wie sie normative Leitbilder der »liberalen Demokratie« häufig pflegen, indem sie die Staatsfreiheit der Medien betonen, grob vereinfachend. Schon 1962 hat Jürgen Habermas kritisiert, dass Medien vor allem Öffentlichkeitsarbeit, Propaganda und Werbung von Politik und Verbänden kolportierten, da diese privilegierten Medienzugang besitzen würden, was er als eine Form der »manipulierten Öffentlichkeit« bezeichnete (Habermas 1990, S. 321, vgl. a. S. 293ff.). Die Frage ist also, inwieweit das Medienbild des Islams allein im sensationalistischen Eigeninteresse der auf negative Nachrichtenwerte und Konfliktnachrichten zielenden Medien liegt, ob wir wirklich von einer linearen Wirkung von den Medien zur Gesellschaft sprechen können oder ob nicht vielmehr eine zirkuläre Wechselwirkung und gegenseitige Verfestigung der Islamophobie stattfindet. Wenn dies der Fall ist, dann erwachsen hieraus erhebliche Konsequenzen für die Kommunikationsethik in der multikulturellen liberalen Gesellschaft. Die Autonomie der Medien müsste gestärkt, zugleich jedoch deren eigene kommerzielle Logik ethisch reguliert werden – aber dazu später mehr. Es macht wenig Sinn, die Debatte über das Islambild deutscher Massenmedien aus dem wesentlich breiteren Kontext des deutschen Islambildes insgesamt herauszulösen. Die strukturellen Ursachen, die zur derzeitigen Islamberichterstattung geführt haben, liegen nämlich nur zum Teil bei den Medien selbst. Aus historischer Perspektive ist sehr leicht nachzuweisen, dass die meisten heute bestehenden medialen Negativbilder des Islams in nuce bereits seit Jahrhunderten im deutschen Kulturraum virulent sind (Kap. II.1). Ein synchroner Vergleich des Medienbildes mit anderen Segmenten der Gesellschaft – dem Islambild von Politik, Bildungseinrichtungen, Kirchen und anderen intellektuellen Eliten sowie, was heute nicht außer Acht zu lassen ist, dem über das Internet popularisierten Islamdiskurs – würde sehr rasch zeigen, dass die Massenmedien Fernsehen, Rundfunk und Presse lediglich ein Baustein einer kom-

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plexen westlichen Wissensgesellschaft sind, die mehrheitlich dazu tendiert, den Islam als Negativ- oder Feindbild der Moderne zu konservieren. Zudem kann man aus theoretischer Sicht Einflüsse auf Medieninhalte auf drei verschiedenen Ebenen ansiedeln (Shoemaker/Reese 1996; K. Hafez 2002a, Bd. 1): • Mikroebene: Einflüsse der im Journalismus handelnden Individuen, vor allem der Journalisten selbst, deren individuelle wie auch berufliche Sozialisation sich in der Medienproduktion bemerkbar macht; • Mesoebene: Einflüsse der Medienorganisationen, deren Ressourcen, Informationsprozesse und sozialen Interaktionen, die sich auch typologisch unterscheiden lassen, etwa im Rahmen des Dualismus von privaten und öffentlich-rechtlichen Medien; • Makroebene: Einflüsse der Gesellschaft auf die Medien, wobei zwischen den Interaktionen mit sogenannten Systemumwelten (z.B. Bürger- und Elitenmeinungen) und Umweltsystemen (z.B. politisches System, Wirtschaftssystem) zu unterscheiden ist. Die Kritik am Islambild westlicher Massenmedien setzte in den 1990er Jahren vor allem auf der theoretischen Mikroebene an, als die Stereotypie führender Journalisten kritisiert wurde, in Deutschland etwa Peter Scholl-Latours, der über Jahrzehnte die deutsche Nahostberichterstattung des Fernsehens dominiert hatte (Klemm/Hörner 1993). Dessen Fernsehsendereihen wie »Das Schwert des Islam« während des Golfkrieges von 1991 ließen schon im Titel die Dominanz kulturalistischer und essenzialistischer Weltbilder – der Islam als Akteur, die Einheitlichkeit des Islams usw. – erkennen. Weiter gehende Untersuchungen haben bestätigt, dass sich die Annahme, europäische Journalisten ließen in ihre Islamberichterstattung persönliche Klischees einfließen, auch am Beispiel anderer deutscher Journalisten beweisen ließ (K. Hafez 2002a, Bd. 1, S.  73ff.). Einer der Gründe für den hohen Eigenanteil der ideologischen Prägung journalistischer Arbeit dürfte in der Tatsache zu suchen sein, dass aus der professionellen Journalistenausbildung in aller Regel kein Korrektiv erwächst. Die stereotype Grundhaltung der primären und sekundären Sozialisation in Familie, Schule und sozialen Milieus wird durch die professionelle Sozialisation des Journalismus nicht ausgeglichen. Während Journalisten zwar allgemeine Maximen der Neutralität, Objektivität und Ausgewogenheit erlernen, fehlt ihnen oft das Hintergrundwissen, um alternative Standpunkte zum Islam zu entwickeln, die sie zu pluralistischer – kritischer wie auch würdigender – Berichterstattung befähigen würden. Kaum eine Journalistenschule in Europa bietet heute regelmäßig Schulungen zum Thema Islam an und erst langsam wächst überhaupt das Bewusstsein für die Notwendigkeiten einer spezifischen Medienausbildung in der multikulturellen Gesellschaft.

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Mikrotheoretische Betrachtungen, die den Journalisten ins Zentrum stellen, bieten allerdings keine hinreichende Erklärung für den derzeitigen Zustand des medialen Islambildes. In der Journalismustheorie fragt man sich seit Langem, ob das Individuum der Medienorganisation oder die Medienorganisation dem Individuum überlegen ist, wenn es um das Geltendmachen von Einflüssen geht. Der Grund für die Unsicherheit liegt im spezifischen Charakter des heutigen Journalismus, der als Grenzberuf zwischen freier individueller Profession und industrieller Lohnabhängigkeit firmiert. Während der Journalismus einerseits wie andere Professionen nur der eigenen Standesethik Rechenschaft schuldet und die Selbststeuerung durch Berufsverbände und Presseräte hoch entwickelt ist, ist es andererseits die Medienorganisation, die ihm den materiellen Rahmen vorgibt, ohne den er nicht publizieren kann. Anders ausgedrückt: Das Medienunternehmen ist zwar auf die kreative, intellektuelle und sprachliche Eigenständigkeit seiner Journalisten angewiesen, kann aber im Fall einer als zu groß befundenen Abweichung von der Betriebsnorm mit materiellen Sanktionen drohen, die vom Journalisten ganz überwiegend antizipiert und durch selbstzensorisches Verhalten vermieden werden. Auch der aufgeklärteste Journalist kann daher an den Apparaten der Medien scheitern oder in ihnen eine Randexistenz fristen, vor allem dann, wenn die kommerziellen Entscheidungen eines Mediums in eine andere Richtung weisen. Nur so ist es auch zu erklären, dass zwar einerseits die Ära der Dominanz einiger weniger Auslandsjournalisten in europäischen Mediensystemen seit Jahrzehnten vorbei ist, weil es immer mehr Medienprodukte gibt und heute ein breiter Strom von Journalisten im Print- und elektronischen Sektor an der Konstruktion des Islambildes beteiligt ist, andererseits aber eine Zunahme an individueller Freiheit nicht zu erkennen ist. Die alten Themen- und Diskursmuster des Islambildes der Medien funktionieren auch unter sich permanent erneuernden Produktionsbedingungen. Die Hauptursache ist wohl darin begründet, dass Journalisten organisatorischen Interessen und Pressionen unterliegen. Massenmedien müssen sich am Markt behaupten. Gerade unter dem Druck der »Pressekrise« schwinden selbst die im Einzelfall durch verbesserte Kompetenz von Journalisten hinzugewonnenen Freiheiten gleich wieder. Nichts dürfte dem Islambild der Medien mehr schaden und es stärker einer negativen Einseitigkeit aussetzen als die Tatsache, dass der berühmte Nachrichtenwert »Konflikt« sich auch bei wechselndem Personal kontinuierlich systemisch in den Medien auswirkt. Marktlogiken zeigen sich auch in einem anderen Bereich, etwa bei den immer knapper werdenden Ressourcen für Auslandskorrespondenten und der dadurch gestärkten Stellung von Nachrichtenagenturen als externen Informationsquellen. Es sind diese Agenturen und Knotenpunkte des Mediendiskurses, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass das Islambild der großen deutschen Massenmedien so einförmig von wenigen sich ständig wiederholenden

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Themen und Argumentationsmustern beherrscht wird. Agenturen leisten zwar durch das Zurverfügungstellen von zentralen Themen und Materialien einen wichtigen Dienst für die Entstehung eines »öffentlichen Gesprächs«, dessen Bildung und Genese durch zu große thematische Heterogenität und eine zu radikale Definition journalistischer Eigeninteressen gefährdet würde. Es besteht allerdings zugleich die Gefahr, dass unter dem Zeit- und Finanzdruck der Medien Sekundärquellen der Agenturen weder ordentlich überprüft noch vielfältig und intensiv interpretiert werden. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu, der häufig übersehen wird: Journalisten orientieren sich nicht nur an externen Informationsquellen, sondern auch in hohem Maße an anderen Journalisten und Medien, ein Phänomen, das man als »innerjournalistische Meinungsführerschaft« bezeichnet (Weischenberg et al. 1994). Zwar schließen diese Orientierungen Eigenpositionierungen nicht aus, die etwa aus der weltanschaulichen Differenzierung der Medien und einem entsprechenden Profilierungsbedarf im Rechts-Links-Spektrum der Gesellschaft resultieren können, aber thematische Impulse von Leitmedien – und dies ist heute zum Teil auch die Boulevardpresse – setzen sich in der Regel stark durch: Themen, die von den großen Medien aufgegriffen werden, lösen Debatten aus; Themen, die dort unberücksichtigt bleiben, werden auch im Rest der Gesellschaft weitgehend ignoriert. Gerade Leitmedien wie in Deutschland dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel ist mehrfach eine Vorliebe für ein negatives Islambild nachgewiesen worden (Thofern 1998; Gehrs 2005; Röder 2007). Neben den Einflüssen durch Agenturen und Meinungsführerschaften machen sich im Inneren der Medienorganisationen vielfach hierarchische Machtkonstellationen bemerkbar, die oft eine aus der Perspektive der Qualitätssicherung sehr fragliche Wirkung entfalten. Empirisch ist belegt, dass etwa im Bereich der großen überregionalen Zeitungen und politischen Zeitschriften die reguläre Tagesberichterstattung über den Islam in den Händen des jeweiligen Ressorts liegt – was allerdings nicht bedeutet, dass hier zwangsläufig Islamexperten tätig sind, aber zumindest die Ressortkompetenz sichergestellt ist. Gerade auf den Höhepunkten von Krisen und großen Debatten jedoch, die sich um den Islam ranken – zum Beispiel in der Rushdie-Affäre, im Karikaturenstreit und ohnehin nach dem 11. September –, schalten sich die Chefredakteure und Leitartikler als Hüter eines dezidiert islamkritischen und oft sehr verallgemeinernden Status quo der gesellschaftlichen Wahrnehmung ein (K. Hafez 2002a, Bd. 2, S. 172, 305). Ob der Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, während der Rushdie-Affäre 1989 vor den »Ablegern fremder Kulturen« in unserer Mitte warnte120 oder der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, fast zwanzig Jahre später junge Muslime zur Hauptgefahr der Jugendkriminalität erklärt:121 Stets ist es dasselbe Muster, nach dem sich strukturkonservative Kräfte ihre publizistische Hegemonie in den entscheidenden Momenten sichern. Auf dem Höhepunkt von Debatten werden Stereotype

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geschickt formuliert, oft als kulturelle Differenzthese ohne explizite Wertung getarnt, häufig werden sie ganz vermieden, negative Themen- und Bildökonomien ersetzen verbale Stereotypie und diese Ökonomien werden durch interne Medienhierarchien, journalistische Koorientierungen und zentrale Nachrichtendistributeure abgesichert. So entsteht ein zugleich politisch korrektes Produkt für einen an nicht-muslimischer Hegemonialität ausgerichteten Markt der Massenmedien. Auf der makrotheoretischen Ebene wäre zu fragen, welchen Einfluss etwa das politische System auf das Medienbild des Islams ausübt. Es ist im systemtheoretischen Sinne ja ein Umweltsystem der Medien. Die Zusammenhänge sind auch hier sehr vielfältig, zumal viele markante Äußerungen von Politikern über den Islam auch ihren Weg in die Medien finden. Belege für islamophobe Stereotype im politischen Raum ließen sich geradezu beliebig beibringen, denn, wie gesehen, stellt gerade für Parteien und Parteipolitiker, die kein Regierungsamt innehaben, eine Identifikation mit islamophoben Meinungsströmungen an der Parteibasis eine Versuchung dar, der nicht nur rechtspopulistische Politiker erliegen (Kap. I.2, I.3, II.1). Bemerkungen wie die des früheren Bayerischen Innenministers Günther Beckstein über die »anatolische Bauform« einer geplanten Moschee, die nicht zum »Empfinden eines halbwegs normalen Menschen« passe,122 gehören dabei noch zu den harmloseren. Allerdings ist auch bereits verdeutlicht worden, dass unter den politischen Funktionseliten Europas keineswegs ein islamophober Konsens herrscht. Gerade der Staat sucht in Europa vielfach nach verbesserten Kontakten zu den Muslimen, außenpolitisch sind Beziehungen zur islamischen Welt von Bedeutung. Jochen Hippler hat unter Hinweis auf die amerikanische Politik eine funktionale Duplizität beschrieben, die ähnlich auch für Europa Gültigkeit besitzt. Das »Feindbild Islam«, so Hippler, sei kein durchgehendes Ideologem der amerikanischen Politik, sondern es werde situativ nur dann konstruiert, wenn es gelte, die eigene Bevölkerung im Konflikt mit einem islamisch geprägten Staat zu mobilisieren (Hippler 1993). Was in dieser Analyse erkennbar wird, ist die Koexistenz eines latent vorhandenen Feindbildes in Medien und Öffentlichkeit mit einem rational aufgeklärten politischen Apparat. Diese Grundanalyse wird durch die Rationalisierungstendenz im Umgang mit dem Islam bestätigt, die wir bereits im politischen System, vor allem in der Exekutive und Judikative Deutschlands und anderer europäischer Staaten, ausgemacht haben (Kap. I). Dabei ist allerdings einschränkend zu beobachten, dass gerade aus dem legislativen Raum, insbesondere aber aus der vorlegislativen Sphäre der Parteipolitik, immer wieder populistische und islamophobe Äußerungen zu vernehmen sind. Wenn Parteien sowohl Teil des politischen Systems als auch Repräsentanten einer außerparlamentarischen politischen Meinungsbildung sind, dann ist dies auch der Grund, warum nicht nur rechtspopulistische Politiker, sondern auch Politiker etablierter Parteien gelegentlich mit islamophoben Betrachtungen in die Öffentlichkeit gehen. Damit

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möchte man islamfeindlichen Stimmungen an der Basis entsprechen. Einen ethischen Konsens der grundlegenden religiösen Anerkennung des Islams gibt es nicht. Politische Rationalität im Umgang mit dem Islam bleibt also utilitaristisch und zweckgebunden, sie ist nicht hinreichend ethisch fundiert. Als abschließender Aspekt der Entstehungsbedingungen des Islambildes europäischer Medien muss die Wechselwirkung von Medien und Gesellschaft näher beleuchtet werden. Zu fragen ist, ob die heutigen Massenmedien in einem zivilgesellschaftlichen Umfeld operieren, das man als halbwegs aufgeklärt mit Blick auf den Islam betrachten kann. Die Lage der Zivilgesellschaften Europas ist allerdings zu komplex für diese Frage, um hier zufriedenstellend beantwortet zu werden. Wir haben gezeigt, dass Aversionen und Ängste gegenüber dem Islam bei etwa der Hälfte, in manchen Ländern auch bei noch größeren Teilen der Bevölkerungen sehr ausgeprägt sind (Kap. II.1). Dass der islamophobe Diskurs der Medien zusätzlich durch ein Netzwerk informeller Beziehungen gestützt wird, das zwischen manchen Massenmedien und intellektuellen Wortführern besteht, die als »Experten« aufgebaut werden, wird uns später noch beschäftigen (Kap. IV.1). Bliebe die Frage, wie der in Vereinen, Verbänden und Institutionen tätige Teil der »organisierten Öffentlichkeit« zu beurteilen ist, und auch diese Frage wird später noch erörtert werden (Kap. IV). Es lässt sich aber jetzt schon sagen, dass Bildungsinstitutionen, Wissenschaft und Schulen in Europa noch relativ am Anfang der Entwicklung solider Wissenskulturen über den Islam und das muslimische Leben stehen, die sich nur schwer gegen die im europäischen Kulturerbe tief verwurzelten negativen Islambilder durchsetzen können – man denke etwa an Martin Luthers Islam-Apologetik (Kuschel 1998) oder Max Webers umstrittene Islamrezeption (Salvatore 1997). Auch die christlichen Kirchen fungieren nicht immer als ehrliche Mittlerinnen im Dialog mit den Muslimen und dem Islam, sondern verfolgen zum Teil Eigeninteressen. Anders als bei den Medien sind dies weniger Interessen am Konflikt (Sensationalismus) als vielmehr Interessen im Konflikt (kulturelle Hegemonie). Die Eigeninteressen üben aber gerade auf den veröffentlichten Islamdiskurs der Kirchen einen erheblichen Einfluss aus und beeinträchtigen, ähnlich wie im Fall der Medien, die Ausübung der Rolle des multikulturellen Mediators. Kehren wir zurück zum theoretischen Ausgangspunkt: dem Plädoyer von Jürgen Habermas für die stärkere Berücksichtigung des kommunikativen Handelns und der Logik des moralischen Handelns in der gesellschaftlichen Interaktion. Dieser Aspekt wird trotz allen vordergründigen Interesses an der »Mediengesellschaft« in der theoretischen Debatte über Rassismus und Fremdenfeindlichkeit bislang wenig beachtet. Die Rassismusdebatte kennt Einflüsse der Ideologie, der Ökonomie, der Bildung ebenso wie der Werte und des sozialen Kontakts. Sie hat aber kaum untersucht, wie Bildung, Ideologie und Werte kommunikativ konstruiert werden. Und sie hat nicht hinreichend verstanden, dass gerade in der modernen Industrie- und Mediengesellschaft zwischen

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Mehrheitsgesellschaft und ethnisch-religiösen Minderheiten wie den Muslimen vielfach ein Mangel an direktem sozialem Kontakt besteht, so dass die Medien zunehmend in die Rolle eines Dialogsurrogats schlüpfen. Ihre Aufgabe ist es, Defizite der interpersonalen Kommunikation auszugleichen. Nach der »Theorie der multiethnischen Öffentlichkeit« (Husband) haben Minderheiten nämlich nicht nur ein Anrecht auf rechtliche Gleichbehandlung sowie Rechte und Pflichten im Hinblick auf eine zumindest minimale politische, ökonomische und kulturelle Teilhabe. Sie haben auch ein Recht auf den Zugang zur öffentlichen Kommunikation. Da solche Rechte in der liberalen Gesellschaft immer differenziert werden müssen, sprechen wir von einem »integrativen Minimum«, insofern als sicher nicht alle Menschen der Mehrheit oder der Minderheit an dieser Interaktion beteiligt sein können. Diejenigen, die sich nicht beteiligen, müssen allerdings auch mit den Mängeln der Repräsentation oder auch angemaßten Repräsentation – Thomas Bedorf nennt das die »verkennende Anerkennung« (Kap. II.1) – leben. Der öffentliche Dialog im Sinne von Jürgen Habermas ermöglicht eine notwendige gesellschaftliche Neuverortung; nur mit ihm können Konflikte gelöst werden; nur in der deliberativen Demokratie kann es zu einer ständigen Neubestimmung und Lösung gesellschaftlicher Probleme kommen; nur im Dialog kann sich eine Gesellschaft verändern – aber auch der Dialog verändert Gesellschaften, alle Beteiligten, Mehrheiten wie Minderheiten. Erkennt man erst einmal den Dialog zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen als gesellschaftliches Erfordernis an, so gelangt man rasch zu Erkenntnissen über die kommunikative Ethik des euro-muslimischen Dialogs, die die Frage beantworten, wie ein solcher Dialog zu führen wäre und wie die jetzige Situation einer starken islamophoben Ausrichtung europäischer Medienöffentlichkeiten bereinigt werden könnte. Einige Gedanken hierzu seien thesenartig vorgestellt: • Wo? – Der Dialog zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft darf nicht in »kleine Medien« abgedrängt werden, da nur die großen Medien von Fernsehen, Radio und Presse die notwendige kommunikative Integration leisten können. Kleine Medien, sogenannte Social Media, bieten mannigfaltige Ausdrucksmöglichkeiten und übernehmen wichtige Funktionen in einer Gesellschaft (Kap. III.2), sie sind aber kein Ersatz für die Strukturierungsund Integrationsleistungen eines weite Teile der Bevölkerung erreichenden Journalismus. • Wer? – Der Dialog mit den Muslimen erfordert nach Habermas die Anerkennung der Gleichwertigkeit und -rangigkeit der Dialogpartner: Man sollte also nicht nur über, sondern mit Muslimen sprechen. Für die Massenmedien bedeutet dies die Notwendigkeit interner Reformen: die gezielte Förderung von Minderheiten als redaktionellen Mitarbeitern, eine Verbesserung der Gesprächspartnerschaften mit Muslimen aus europäischen Gesellschaften sowie unter Umständen spezielle Repräsentationsrechte in öffentlich-recht-

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lichen Medien (Stichwort: »Quoten«). Trotz gewisser Fortschritte bei den ersten beiden Punkten, sind auch noch gravierende Rückstände zu verzeichnen: Nur wenige Muslime sind in Redaktionen oder gar in Führungspositionen europäischer Massenmedien aufgerückt. Kaum jemand hat zudem bislang eine konsequente Gleichstellung der Muslime mit Christen und Juden in öffentlich-rechtlichen Rundfunkkontrollgremien gefordert.123 Die Ablehnung rechtlicher Gleichstellung im Bereich des religiösen Gemeinschafts- und Korporationsrechts (Kap. I.1) wirkt sich also auch in anderen gesellschaftlichen Feldern wie der Schule (Islamunterricht) und den Medien (Rundfunkräte) aus – was zumindest erkennen lässt, dass die liberale Gerechtigkeitsidee einen konsistenten theoretischen Zusammenhang aufweist. • Was? – Der Dialog ist als eine Form des echten kommunikativen Handelns vom instrumentellen Handeln zu unterscheiden. Es geht nicht um die Durchsetzung von Interessen, sondern um das »Verstehen« (right to be understood) und um eine inhaltliche Neuverortung, um gemeinsame Sinnsuche und um echten kulturellen Wandel. Im Rahmen des euro-muslimischen Dialogs ist es von entscheidender Bedeutung, dass Machtinteressen die kommunikative Absicht des Dialogs nicht torpedieren. Die »Inhaltsebene« muss von der »Beziehungsebene« losgelöst werden und hierbei sind gravierende Defizite zu erkennen. Vor allem der visuelle und thematische Reduktionismus europäischer Medien verzerrt das Islambild bis zur Unkenntlichkeit. Hegemoniale Machtansprüche dominieren hier deutlich vor einem echten Lern- und Bildungsinteresse. Das Bild ist strukturell mono- und nicht dialogisch ausgerichtet. • Wodurch? – Erstens Medienethik: Die Massenmedien sind nicht nur ein Instrument der Gesellschaft. Gerade bei der Aufarbeitung des Holocaust seit den 1960er Jahren in Deutschland haben sie ihre Autonomie und ihr gesellschaftliches Wirkungspotenzial unter Beweis gestellt und eine edukative Rolle gespielt. Der euro-islamische Dialog ist deshalb eine Frage der Medienethik. Eine Steigerung des Pluralismus beim Thema Islam kann aber nur über eine Öffnung der Redaktionen, einen Abbau von hierarchischer Redaktionspolitik und eine Verbesserung der internen Medienkritik erreicht werden. Die Kritik am Islambild ist unter europäischen Journalisten viel weiter fortgeschritten als es das veröffentlichte Islambild glauben lässt; die meisten Kritiker scheitern jedoch an redaktionellen Zwängen (vgl. u.a. Bahners 2011; Wiedemann 2008; Greiner 2009; Thumann 2011). Medienethik ist nicht nur journalistische Individualethik, sondern auch Professionsethik: Verleger, Eigner und Presseräte müssen das Thema gemeinsam angehen. Die formale journalistische Ethik europäischer Länder beinhaltet bislang nur eine generelle Absage an Rassismus – die Funktion der Medien in der multikulturellen liberalen Gesellschaft hat überhaupt noch keine Beachtung gefunden (K. Hafez 2002c). Die journalistische Selbstregulierung hat beim Thema »Islamo-

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phobie« versagt. Zweitens Verbraucherethik: Da Medien zwar autonom agieren, zugleich aber von ihren Umwelten – Politik, Publika, Institutionen usw. – abhängig sind, ist kommunikative Ethik immer auch eine Frage der »Publikumsethik« (Stapf 2006). Die Gesellschaft beeinflusst Medien ebenso wie die Medien die Gesellschaft beeinflussen. Medien können die notwendige Neujustierung des Islamdiskurses daher nur im Zusammengehen mit den Personen, Organisationen und Institutionen der Gesellschaft leisten – weswegen wir uns diesen später auch intensiver zuwenden werden (Kap. IV).

2. S OCIAL M EDIA – V IRTUELLE K REUZRIT TER DER NEUEN Ö FFENTLICHKEIT Funktionen von Medien haben wir bislang in den Bereichen der Herstellung von Öffentlichkeit, der Legitimation von Demokratie und der gesellschaftlichen Integration angesiedelt. Massenmedien spielen hierbei eine bedeutsame Rolle für Staat und Gesellschaft – aber soziale Großgruppen sind in Wirklichkeit weitaus differenzierter. Sie gliedern sich in interaktive Kleingruppen und Gemeinschaften, die viel intensiver vernetzt sind als die klassischen Institutionen des Staates und der Gesellschaft. Nicht erst die Einführung des Internets als Massentechnik seit den 1990er Jahren hat dies ermöglicht. In der gesamten Entwicklung der Moderne stand der national- oder territorial-integrierenden Kommunikation der Massenmedien die Kleingruppenkommunikation gegenüber, die für viele Individuen weitaus prägender ist. Verbandszeitschriften, Amateurfunkerbewegungen und Bürgerradios: All dies hat eine lange Tradition. Das Internet ist nun allerdings eine multimediale Plattform, die alle Formen der Medienkommunikation in Klein- wie in Großgruppen integriert und sie damit raum- und zeitunabhängig verfügbar macht. Es hat zudem Menschen, die vorher als »Konsumenten«, bestenfalls als »Nutzer« von Medien angesehen werden konnten, zu »Produzenten« gemacht. Das Internet hat Medienkommunikation in der Kleingruppe nicht erfunden. Es hat aber eine Verlagerung von der elitären zur zivilgesellschaftlichen Medienproduktion bewirkt – auch wenn die großen Medien nach wie vor wichtig bleiben. Diese definieren den »Zeitgeist«, an dem die Menschen teilhaben wollen, was man schon daran merkt, dass die »Presse im Netz« zu den erfolgreichsten Publikationen gehört. Weite Teile des gesellschaftlichen Diskurses aber verlagern sich ins Internet. Daran haben sich viele Hoffnungen auf die Weiterentwicklung der Cyberdemokratie geknüpft (Wilhelm 2000; Tsagarousianou et al. 1998), auf die Entwicklung sozialer Bewegungen (van de Donk et al. 2004; Keck/Sikkink 1998), der Zivilgesellschaften (Kaldor 2003) und auf eine Veränderung sozialer Beziehungen durch Mediatisierung (Krotz 2001). Wer das kommunikative Handeln in europäischen Gesellschaften verstehen will, kann dies sicher nicht mehr nur

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durch die Erforschung der Massenmedien tun. Ob das Internet allerdings gesellschaftliche Kommunikation und soziale Beziehungen so weit revolutioniert, dass wir von einer generellen Subversion von gesellschaftlichen Strukturen sprechen können, bleibt unklar. Denn auch eine Konzentration auf das Internet und auf »Social Media« leidet unter Begrenzungen. Nicht-mediatisierte interpersonale Kommunikation, mündliche Alltags- oder Versammlungskommunikation, wird weder im politischen noch im sozialen Bereich erfasst. Die moderne Kommunikationswissenschaft ist eindeutig schriftquellenlastig (K. Hafez 2011). Dennoch stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die neuen digitalen Medien auf unser Grundproblem haben: Wie beeinflussen sie das Verhältnis von nicht-muslimischen Mehrheiten zu muslimischen Minderheiten in Europa? Die Öffentlichkeitstheorie von Jürgen Habermas ist hier nicht mehr ausreichend, sondern es ist erforderlich, einem zweiten theoretischen Weg zu folgen. Schon bei Hannah Arendt lassen sich Differenzierungen insofern erkennen, als es bei ihr nicht immer um die große Medienöffentlichkeit, sondern um öffentliche Räume aller Art geht, um Agoren und die »Salons« der Moderne (Geulen 2004). Habermas hingegen betont zentrale Lösungen, er weist auf den Funktionsverfall der Massenmedien hin, er sucht nach Wegen, um von der kommunikativen Peripherie nationaler Großgruppen ins Zentrum vorzudringen. Sein Blick ist auf kommunikative Integration und auf die Stärkung des Austauschs zwischen Bürger und Staat gerichtet. Das Internet ist aber keineswegs zwingend ein solch verbindendes Medium. Es ist eine Einladung zur gesellschaftlichen Pluralität und Diversität. Die Habermas vorrangig beschäftigende Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Konsens wird durch dessen komplexe technische Verästelung infrage gestellt. An die Stelle einer – wie auch immer zu bewertenden – professionellen Ethik des »großen« Journalismus tritt eine Radikalisierung der individuellen sozialen Kommunikation. Michael Margolis und Gerson Moreno-Riaño halten daher auch den Beitrag des Internets zur Demokratieentwicklung für fraglich. Zwar lassen sich Elemente wie die Verbreitung geheimer Regierungsquellen etwa durch »Wikileaks« als Fortschritte der Transparenz preisen. Ihnen stehen aber Probleme wie die Fragmentierung des politischen Diskurses im Netz und der fehlende Antrieb zum politischen Konsens entgegen (Margolis/Moreno-Riaño 2009, S. 35ff.). Auch bleibt die Frage ungeklärt, wie sich »virtuelles« auf »realweltliches« politisches Engagement auswirkt: Sind mehr Menschen bereit, sich politisch zu engagieren oder zieht das Netz Energien von etablierten Formen des politischen Handelns in der Demokratie ab? Zwar kann man das Internet allein nicht für das dealignment, also für die Loslösung vieler Europäer von ihren Parteien (Kap. I.3), verantwortlich machen, aber es ist vielleicht ein Faktor: Spontaner internetbasierter Aktivismus ersetzt das oft langwierige Engagement in politischen Parteien.

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Eine andere Frage von Margolis und Moreno-Riaño ist für uns allerdings bedeutsamer: Wie wirkt sich das Internet auf den Rassismus aus? Die repräsentative Demokratie mag ja auch ohne allzu breites Engagement lebensfähig sein, sie hat sich schließlich auch in früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten sehr elitär gegen basisdemokratisches Engagement verweigert. Aber Rassismus führt gerade unter Krisenbedingungen zu massiven Störfällen des sozialen Handelns – rassistische Gewalt ist nur die Speerspitze dieser gesellschaftlichen Problematik (Kap. II.1). Frühe Internet-Utopien beinhalteten auch die Vorstellung einer Überwindung von Klassen- und »Rassengrenzen« zu einer neuen »Identität der Netzwerkgesellschaft« (Castells 2002, S. 57ff.). Der Leitgedanke derartiger Vorstellungen war etwa der, dass, wenn die klassischen Massenmedien Hegemonie verkörpern und das Internet diese abbauen kann, es auch möglich sein müsse, autoritäre Macht- und Persönlichkeitsstrukturen in der Gesellschaft insgesamt zurückzudrängen und ein egalitäreres, »brüderlicheres« Denken zu fördern (Margolis/Moreno-Riaño 2009, S. 69ff.). Intoleranz zu bekämpfen wäre demnach im selben Moment möglich, in dem die Freiheit eines jeden Individuums hergestellt ist. Der »Fremde« wird nicht mehr durch Medienmanipulationen entstellt, er könnte sich in seiner ganzen differenzierten Gestalt zeigen und würde daher auch anerkannt. Margolis und Moreno-Riaño machen allerdings zu Recht geltend, dass ein Rückgang von Rassismus im Internetzeitalter bislang noch nicht erkennbar ist. Zwar formieren sich im Internet immer mehr liberale Gruppierungen, aber ebenso schnell, wenn nicht schneller, wächst die Zahl rassistischer Meinungsäußerungen. »Hate Speech« im Netz ist sogar radikaler als in den Massenmedien, da es keinen Zwang zur politischen Korrektheit, keine Tabus und keine ethischen Grenzen gibt. Selbst die verschämten Permutationen des Salon-Rassismus, die wir im Fall der Islamophobie in den Massenmedien beobachtet haben (Kap. III.1), fallen hier weg. Das Internet ist ein Raum des ungeschminkten Rassismus ohne jeden Zwang zum Kompromiss. Große Medien mögen ja oft Ausdruck von gesellschaftlicher Hegemonie und latentem Rassismus sein, aber ob das Internet eine positivere Bilanz vorzuweisen hat, ist mehr als zweifelhaft. Im Gegenteil: Zwar sind die hegemonialen Diskurse der Massenmedien vielfach kulturalistisch, sie grenzen sich vom »Fremden« ab, jedoch überschreiten sie selten die Grenze verbaler Gewalt und Beleidigung und halten zumindest pro forma die verfassungsmäßigen Regeln der Religionsfreiheit ein. Im Internet hingegen herrscht eine Anarchie ultrarassistischer Meinungsmacher. Hegemonie entwickelt sich hier schnell zum elitenstürmerischen »Mob«. Das Internet passt in dieser Form nicht zu Utopien eines radikalen Liberalismus oder der radikalen Demokratie, sondern es offenbart die Ambivalenz radikaler Demokratiekonzepte. Grundrechte und ethische Prinzipien werden hier schnell zugunsten von Herrschaftsvorstellungen einer vermeintlichen oder wirklichen Mehrheit geopfert. Das Internet eignet sich für progressive Bewegungen aller

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Art ebenso wie für den Rechtspopulismus. Einen Beweis dafür, dass das Internet an sich toleranter wäre als die Massenmedien oder dass es Mehrheitsgesellschaften liberalisiert, gibt es nicht. Auch und gerade die Medien der zweiten Internetgeneration, des »Web 2.0«, wie Internet-»Blogs«, soziale Plattformen wie »Facebook« oder Nachrichtenplattformen wie »Twitter« oft genannt werden, sind Treffpunkte für Rassisten und Holocaustleugner geworden. Kritiker monieren, dass vergleichsweise harmlose Nacktbilder von Facebook gelöscht werden, sich Antisemitismus aber als »Meinungsbeitrag« frei entfalten dürfe – und dies zum Teil entgegen der gesetzlichen Verbote in vielen Ländern.124 Probleme der Medienethik entstehen also auch im Internet, was ein Dilemma offensichtlich werden lässt. Einerseits gilt das Internet zu Recht als Hort der Meinungsfreiheit, andererseits bietet es rassistischen Ansichten ein Forum. Zwar wären spezifische Internetgesetze der falsche Lösungsansatz, gesellschaftliche Ethik und Selbstregulierung im Internetzeitalter müssen aber dringend aufgewertet werden. Bestehende allgemeine Gesetze in einigen europäischen Staaten, die geeignet wären, Meinungsäußerungen gegen religiöse und andere Gruppen als Angriff auf den sozialen Frieden zu verbieten, werden bislang noch kaum auf das Internet angewendet. Bleibt also nur die Hoffnung auf eine Verbesserung des medienethischen Verhaltens der Bürger selbst. Medienethik ist damit im Internetzeitalter weit mehr als nur »journalistische Ethik«. Sie ist eine zentrale Form der Sozialethik und betrifft heute jedes Individuum. Zusammenfassend lässt sich bis hier sagen, dass eine Dezentralisierung von politischer und sozialer Kommunikation im Internet stattgefunden hat, die einerseits Zivilgesellschaften kommunikativ aufgewertet hat, andererseits aber auch die in den Mehrheitsgesellschaften vorhandenen Probleme im Umgang mit Fremdheit sichtbarer denn je gemacht hat. Das Internet und die Social Media haben als Heilmittel gegen Rassismus versagt und vielmehr dazu beigetragen, dass Rassismus noch zugänglicher und unkontrollierbarer wird. Der repräsentative Staat und die Politik werden durch die vernetzte Gesellschaft auf vielfältige Weise in die Defensive gedrängt, es herrscht ein neues postdemokratisches Verständnis von spontaner, unkontrollierter Gesellschaftsmacht, kommunikative Plebiszite durchbrechen die bisherigen Medienhegemonien. Zugleich aber entstehen neue Probleme der Kommunikationsethik. Wenn wir in früheren Kapiteln bereits von einem drohenden Politik-Gesellschafts-Bruch gesprochen haben (Kap. II.1), so trägt das Internet mit seiner Vielzahl von Öffentlichkeiten tendenziell zwar zu einer integrativen Vernetzung der Zivilgesellschaft bei, was neue diskursive Gemeinschaften stärkt, aber oft auch die Ausgrenzung von Minderheiten. Das Netz fördert nicht nur die Hin-, sondern ebenso die Abwendung von der Politik, vielleicht sogar von der liberalen Demokratie. Der wachsende rassistische Internetdiskurs belegt, dass die verschiedenen Ursachen des Rassismus, von politisch-ideologischen über sozioökonomi-

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sche bis hin zu alltagsweltlichen Kontakt- und Bildungsdefiziten (Kap. II.1) auch im Medienzeitalter nicht beseitigt werden. Wie das Internet dazu beitragen kann, dass eine gemeinsame Ethik, die politische Werte (Kap. I.4) mit der kulturellen Anerkennung des sozialen Wandels in multikulturellen Gesellschaften (Kap. II.1) verbindet, gefestigt wird, bleibt eine unbeantwortete Frage. Natürlich spielen bei der Kommunikation im Internet auch andere als rassistische Prozesse eine Rolle, die weitaus positiver stimmen und die man mit der auf Staat und Gesellschaft fixierten Öffentlichkeitstheorie von Habermas kaum verstehen kann. Liberale Politik- und Sozialtheorie war noch nie geeignet, die exakten Prozesse zu erklären, die sich in der Gesellschaft abspielen. Habermas ist daher nicht nur einer der führenden Denker in Fragen von Öffentlichkeit und sozialer Kommunikation – er ist auch einer der am meisten kritisierten. Habermas hat zentralen Lösungen und großen Medien in der Regel den Vorzug gegebenund er ist rationalistisch ausgerichtet. Medien sind aus seiner Sicht Orte des bürgerlichen Räsonierens und der politischen Problemlösung. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte aber macht das Internet sichtbar, dass Menschen öffentliche Kommunikation nicht nur und nicht einmal primär zu diesen Zwecken betreiben, sondern dass auch emotionale Selbstdarstellung, dramatisches Handeln und – nicht zuletzt – Gemeinschaftssuche eine erhebliche Rolle spielen. Während die ideologischen Konzepte der »Politik« und der »Gesellschaft« Menschen oft abstrakt, sinnlos und sogar feindlich erscheinen, gibt die Gemeinschaft deren Leben Sinn. Gemeinschaften vereinen Menschen mit ähnlichen Werten und Zielen und sie weisen in der Regel eine vergleichsweise hohe Interaktionsdichte auf. Gemeinschaftsbildung steht keineswegs im Widerspruch zur liberalen Gesellschaft und zur Individualität, denn die Assoziationsfreiheit ist ja Teil der individuellen Freiheiten. Heutige Gemeinschaften sind, anders als diejenigen früherer Zeiten, keine Zwangsgemeinschaften mehr. Howard Rheingold hat gerade die im Internet entstehenden Kommunikationsgruppen als »virtual communities« bezeichnet (Rheingold 2000). Dabei muss klar sein, dass »Diskursgemeinschaften« des Internets nicht immer auf persönlichen Kontakten beruhen, also oft einen anderen Mehrwert verkörpern als physische Gemeinschaften: von der »Schwarmintelligenz« über neue soziale Kontakte bis hin zur virtuellen Kreativitätsentfaltung (in der Smitten 2007; Lanier 2010; Göring 2011). Mit Robert D. Putnam lässt sich sagen, dass neu entstehendes Sozialkapital sich zwar zunächst im Inneren von Gemeinschaften entwickelt, durchaus aber auch extern – also gesamtgesellschaftlich – wirksam werden kann (Putnam 2000). Das Internet wertet am Ende auch diejenigen Gemeinschaftsbezüge wieder auf, die im Zeitalter der aufkommenden Massenmedien im 20. Jahrhundert in Residuen der europäischen Gesellschaften weitgehend privatisiert und oft nur noch an Sonn- und Feiertagen beachtet wurden – etwa die Religion.

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Gemeinschaften können zudem über das Internet delokalisiert werden, sie können sogar staatliche Grenzen überschreiten, was insbesondere Migranten die Möglichkeit gibt, mit den Herkunftsländern in Kontakt zu bleiben oder sich einer globalen Internet-Diaspora anzuschließen. Migranten sind durchaus als Avantgarde der globalen Mediennutzung zu bezeichnen, als eine Art globale Informationselite (K. Hafez 2005, S. 87). Das Internet erweist sich auf diese Weise nicht nur als Vehikel der kulturellen Durchmischung, sondern auch als potenzielle Sphäre der kulturellen Abschottung gegenüber dem Einwanderungsland. Globalisierung und gesellschaftliche Segregation können Hand in Hand gehen. Eine Angst vor medialen »Parallelgesellschaften« ist dennoch weithin unbegründet. Nutzerstudien zeigen eindeutig, dass der Prozess der Einwanderung Spuren im Medienproduktions- und im -nutzungsverhalten hinterlässt. Mögen die ersten Einwanderungsgenerationen schon aufgrund sprachlicher Defizite vielfach noch auf fremdsprachliche Medien konzentriert sein und in einer Art »Kulturexil« leben, so gilt dies in der Regel nicht für nachwachsende Generationen, die sich immer mehr an die Mediennutzung des Einwanderungslandes anpassen, auch wenn viele von ihnen bi- oder transkulturelle Eigenheiten pflegen, indem sie zusätzlich zu den Medien des Einwanderungs- auch die des Auswanderungslandes konsumieren oder neue transkulturelle Medien schaffen. Untersuchungen zu solchen Prozessen liegen aus unterschiedlichen europäischen Ländern vor (Gillespie 1995; Naficy 1993; K. Hafez 2002b). Die Vorstellung einer nach innen abgeschotteten Kommunikationsweise der Migranten ist irrig und kapriziert sich zu sehr auf Besonderheiten, ohne das Gesamtbild zu erkennen. Wenn wir schon gesehen haben, dass »Integration« ein Konzept ist, das der Idee der »liberalen Gesellschaft« und der »liberalen Demokratie« vielfach fremd gegenübersteht und überhaupt nur auf bestimmte integrative Minimalforderungen angewendet werden sollte (Kap. II.2), so müssen wir jetzt feststellen, dass dies auch für den Bereich von Kommunikation und Medien gilt. Erstens: In einer liberalen Ordnung herrscht weitgehende kommunikative Freiheit und kein Integrationszwang bei der Mediennutzung. Zweitens: Selbst wenn man Integration auf notwendige politische, soziale und kulturelle Minima (z.B. Rechtsstaatstreue, Arbeitsintegration, Sprachlernen) reduziert, besteht keine lineare Beziehung zwischen Mediennutzung und gesellschaftlicher Integration. Menschen, die in hohem Maße fremdsprachliche Medien nutzen, ja selbst die, die ausschließlich solche Medien nutzen und in einem »Kulturexil« leben, sind dennoch in aller Regel sozial integriert und politisch zufrieden, was die Lebensbedingungen in europäischen Einwanderungsländern angeht (K. Hafez 2002b). Umgekehrt können Menschen, die einen hochgradig angepassten Mediennutzungsstil pflegen, sich gegenüber Demokratie und Rechtsstaat distanziert verhalten und sogar zu Terroristen werden. Integration ist daher nur in geringem Maße eine Frage einer bestimmten Form der Mediennutzung – von großen oder kleinen, Mehrheits- oder Minderheitsmedien. Medien bieten bes-

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tenfalls thematische Anreize zu gesellschaftsverträglichem Verhalten und dies gilt mehr oder minder für alle Medien. Ebenso wenig wie Rassismus werden Terror und »Parallelgesellschaften« zuvorderst oder gar allein durch Medien erzeugt, was bedeutet, dass es keine mediale Zwangsintegration geben darf. Im Gegenteil: Es geht bei Medienproduktion und -nutzung nicht nur um Anpassung durch die Minderheit, sondern auch um Anerkennung seitens der Mehrheit. Wenn wir in einem anderen Zusammenhang festgestellt haben, dass kulturelle Anerkennung und positive Toleranz für die Bekämpfung des Rassismus und für die Überbrückung des drohenden Bruchs zwischen multikultureller Politik und fremdenfeindlichen Gesellschaften in Europa bedeutsam sind, dann ist es eine zwangsläufige Folgerung, dass Diversität auch im öffentlichen Raum artikuliert werden muss. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Anerkennung allein über (reformierte) große Medien verbessert werden könnte oder ob dafür nicht auch kleine Medien erforderlich wären. Massenmedien werden nie die Imaginationsdichte erzielen, die notwendig ist, um Transkulturen zu erzeugen. Zum gesellschaftlichen Dialog gehören daher auch spezielle »Ethno-Medien« und transkulturelle Brückenmedien. Sie werden vielleicht nur von kleinen Gruppen aus der Mehrheitsgesellschaft rezipiert und mitgestaltet, bilden aber in mancher Hinsicht das kulturelle Rückgrat der multikulturellen Gesellschaft. Von zentraler Bedeutung wird es allerdings sein, derartige Medien auch für die – zum Teil vorurteilsbeladene – Gesellschaftsmehrheit sprachlich zugänglich zu halten (Geißler 2005). Gemeinschaftsbildung durch kleine Medien ist ein Recht, eine Freiheit – es kann aber nicht schaden, wenn dabei zudem die Idee der Bildung externen, gesamtgesellschaftlichen Sozialkapitals beachtet wird. Wenn der Rassismus seine Ursachen auch in kommunikativen Hegemonien in Massenmedien und im Internet hat, so wird es umso bedeutsamer sein, die Potenziale, die das Internet besitzt, zu nutzen, um multikulturelle Stimmen zu stärken und den Einfluss rassistischer Diskurse im Netz zurückzudrängen. Das Internet ist nicht ein einfaches Abbild gesellschaftlicher Macht, sondern es stellt eine eigene »Kampfzone« der Anerkennung dar, in der auch Minderheiten und ihre gesellschaftlichen Verbündeten durch geschickte Kommunikationsstrategien zum gesellschaftlichen Fortschritt beitragen können. *** Im Hinblick auf Islamophobie im Internet werden Margolis und Moreno-Riaño bestätigt. Das Netz übt keineswegs eine liberalisierende Wirkung auf das Islambild westlicher Staaten aus, im Gegenteil: Islamophobie hat sich im Internet manifestiert, ausgebreitet und radikalisiert. Das Netz ist der »Treffpunkt« einer enträumlichten Szene der Islamhasser geworden. Häufig fallende Begriffe des deutschsprachigen Internets machen dies exemplarisch deutlich: »Moslem-Unruhen«, »Moslem-Bande«, »Mekka-Betrüger«, »Musel«, »Dialüg«, »Passdeut-

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sche«, »islamischer Inzest«, »islamische Vergewaltigung«, »Drecksmoslems«, »Kameltreiber«, »Ziegenficker«, »Schleierschlampen«, »Kültürbereicherer« (Schiffer 2010, S. 355f.). Im englischsprachigen Netz tauchen ähnliche Begriffe auf: »Londonistan«, »towel heads« für Araber, »camel jockeys«, der Koran wird mit Hitlers »Mein Kampf« verglichen, Muslime als Terroristen, Asylsucher usw. denunziert. Haja und Shamimah Mohideen bezeichnen diese Sprache zu Recht als linguistische Form der Dominanz und der Manipulation (Mohideen/ Mohideen 2008, S.  76f.). Tatsächlich wird man erkennen müssen, dass sich der islamophobe Diskurs im Internet im Vergleich zu etablierten Massenmedien, ja selbst zu Radio- und Presseprodukten mit geringer Reichweite, deutlich radikaler gibt. Die politisch korrekten Verwandlungen der Islamfeindlichkeit in der massenmedialen Öffentlichkeit weg vom expliziten verbalen Rassismus und hin zu komplexen Konstruktionen ebenfalls islamophober Themen- und Bilderwelten spielen für das islamfeindliche Netz keine Rolle. Dabei wäre nichts irriger als die Annahme, dass es sich bei dem islamophoben Netz um eine Widerspiegelung von Meinungen der Neonazi-Szene handelt. Ähnlich wie rechtspopulistische Parteien es geschafft haben, sich als Retter des westlichen Systems der Demokratie zu gerieren und so Unterstützung bis tief ins bürgerliche Lager gefunden haben, ist das islamophobe Netz groß, zeugt von hoher interaktiver Dichte und ist alles andere als ein Echo marginaler Positionen. Eine Untersuchung der deutschsprachigen »Blogosphäre« des Islams hat erwiesen, dass sie in zwei getrennte Lager zerfällt: eine islamophobe und eine islamophile Sphäre (Engelmann et al. 2010, S. 121ff.). Berührungen sind dort vorhanden, wo die Lager aufeinander reagieren, was aber selten der Fall ist. Anders als das islamophile ist das islamophobe Lager untereinander durch Weblinks verbunden, was anzeigt, dass es zu einer stärkeren Gemeinschaftsbildung neigt, wohingegen die islamophile Blogosphäre durch Posts mit sich und der nicht-muslimischen Umwelt – solange diese nicht islamophob ist – zwar verbunden, aber kaum verlinkt ist und daher wenig feste Bindungen aufweist. Während also die islamfeindliche Blogosphäre deutlich zur Gemeinschaftsbildung neigt, herrscht bei den Betreibern der islamophilen Blogs eine individuelle Mentalität vor, die zwar für neutrale und sympathisierende Teile der deutschen Netzöffentlichkeit offen ist, aber nicht zum Gemeinschaftsaustausch tendiert. Das islamophobe Segment des Netzes ist mit 48 Prozent Anteil an den Blogs wesentlich größer als der islamophile (35 Prozent); die Übermacht der islamfeindlichen Posts ist sogar noch viel deutlicher. Die Hegemonien der Realwelt, die ungleichen Kräfteverteilungen zwischen Mehrheitsgesellschaften und muslimischen Minderheiten in Europa, spiegeln sich also bisher auch im Internet wider. Aus den Inhalten und Netzstrukturen lassen sich Rückschlüsse ziehen auf die Ursachen der Entstehung von Islamophobie im Netz. Das Internet hat die Öffentlichkeit verändert. Während krude Islamophobie der oben stehenden

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Art früher weitgehend in abseitigen Publikationen von rechtsextremen Gruppen und in Form mündlicher Kommunikation des »Stammtisches« praktiziert wurde, materialisiert sie sich im Internetzeitalter in einer allen Menschen zugänglichen Schriftform. Im Hinblick auf das kommunikative Handeln in der Gesellschaft sind vor allem zwei Prozesse von Bedeutung. Erstens: Alte und neue Formen der Islamophobie existieren zunehmend parallel. Während die Massenmedien den genetischen Rassismus weitgehend tabuisiert haben, aber zum Teil neue Varianten des kulturellen Rassismus pflegen (Kap. II.1 und III.1), werden diese Muster im Internet beliebig vermischt. Gesellschaftliche Lernprozesse und diskursive Veränderungen, wie man sie sich gerade nach dem Zweiten Weltkrieg in Bezug auf die Rassenlehre erhofft hatte, werden durch die konstante Erneuerung entsprechender Argumentmuster im Internet obsolet, alter und neuer Rassismus verfestigen sich ständig ideologisch. Wenn man historisch weiter ausholen möchte, sind Ähnlichkeiten etwa mit Martin Luthers protestantischer Islam-Apologetik zum Teil frappierend. Luther hatte den Islam und die Türken als »Grundsuppe aller Greuel«, als »ärgster Zorn des Teufels« und den Koran als Lüge bezeichnet; die Tötung von Muslimen war aus seiner Sicht ein gottgefälliges Werk (Kuschel 1998, S. 62ff.). Dem heutigen Internet fehlt weitgehend der religiöse Selbstbezug, aber alle anderen Arten der Beschimpfung ähneln sich erheblich. Das Internet trägt also, bewusst oder unbewusst, zu einer Verstetigung und Überlieferung islamophober ideologischer Traditionen in Europa und im Westen bei. Zweitens: Die Art der Gemeinschaftsbildung hat sich verändert. Islamophobe Diskursgemeinschaften sind anders als die Neonazi-Gruppierungen früherer Zeiten im Internet auch für das Bürgertum zugänglich. Bekannt ist, dass hegemoniale Gruppen ihre Identität dadurch festigen, dass sie sich um einen autoritären Wortführer scharen und gegen Minderheiten agitieren (Kap. II.1). Bislang wenig beachtet worden ist allerdings, dass die neuen Formen der Internet-Vergemeinschaftung hiervon zum Teil abweichen. Da es sich um »Diskursgemeinschaften« handelt, die nicht automatisch politische Aktivität erfordern, beteiligen sich mehr Menschen, was noch dazu durch die Anonymität des Netzes gefördert wird. Jeff Sparrow hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es irrig wäre, die Netz-Islamophoben als sozial Marginalisierte einzuschätzen (Sparrow 2011; vgl. a. Gerhold 2010). Dieser größere Kreis bedient sich zwar des Musters der »autoritären Persönlichkeit« und wertet seine Gruppenidentität auf Kosten einer schwächeren Minderheit auf, er ist dabei aber wesentlich artikulierter, er lebt sich aus, sucht nach neuen Erfahrungen im Alltag und schlüpft in die Rolle eines virtuellen Kreuzritters: Blogs are unique in that they allow supporters to feel an ownership of a political project without giving them any actual control. They are, to put it another way, simultaneously participatory but undemocratic. That’s why the major Islamophobic blogs should be

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F REIHEIT , G LEICHHEIT UND I NTOLERANZ understood not simply as providing ideas for their followers but as offering them an experience. […] In real life, you might be a retired dentist, aggrieved at your vermicular existence; [on the Web] you’re ›Mightydragon55‹, Hammer of Islam and agent of counter jihad. (Sparrow 2011)

Die Grundrichtung der Islamophobie wird immer noch autoritär und von Meinungsführern vorgegeben, sie wird keinesfalls von jedem einzelnen Internetnutzer neu erfunden. Aber das »Kriegsgeheul« ist lauter geworden. Wenn man diese ideologischen und soziologischen Ursachen der Netz-Islamophobie allerdings erkennt, stellt sich zugleich die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Virtuelle Islamophobie fällt den Menschen leicht, sie bleibt aber auch oft ohne direkte Folgen. Wenn sich der Internetdiskurs unmittelbar auf die politischen Verhältnisse übertragen ließe, müssten Rechtspopulisten und Rechtsextremisten Europa längst beherrschen. Insofern ist es wichtig, einmal mehr darauf hinzuweisen, dass Bilder und Einstellungen von Menschen nicht automatisch identisch sind mit deren Handlungen (Kap. II.1). Zugleich ist aber auch vor einer Unterschätzung des Radikalisierungspotenzials zu warnen: Die Tatsache, dass es sich bei den Diskursgemeinschaften nicht um gesellschaftliche Außenseiter handelt, zeigt, dass ultraradikale islamophobe Diskurse in der Mitte westlicher Gesellschaften angekommen sind (Shooman/Spielhaus 2010, S. 220). Gewalttaten wie das islamfeindliche Massaker und das Bombenattentat von Norwegen 2011 wurden von Internetdiskursen angetrieben.125 Die Handlungsrelevanz des Internets mag beschränkt sein – sie ist aber prinzipiell vorhanden. Es gibt in den rechtspopulitischen Bewegungen des Internets nicht nur Feierabend-Kreuzritter, sondern ein erheblicher Teil ist auch politisch aktiv oder, und das ist entscheidend, wird durch das Internet zu politischer Tätigkeit angeregt. Viele Internetaktivisten der politischen Rechten sind dabei keineswegs Extremisten, sondern engagieren sich auf Demonstrationen oder wählen rechte Parteien (Bartlett et al. 2011, S. 23). Social Media haben allerdings auch das Potential, islamfeindliche Gewalt wie die Attentate von Norwegen zu motivieren, denn auch der Täter war jahrelang ein Netzaktivist gewesen, der sein Weltbild von radikalen virtuellen Gemeinschaften bezog (Kap. II.1). Wie nutzen aber Muslime in Europa selbst das Internet und andere kleine Medien? Der Verdacht steht im Raum, dass islamische Netze vor allem dem Terrorismus und der parallelgesellschaftlichen Abschottung dienen (K. Hafez 2000c). Wenn weite Teile der Mehrheitsgesellschaften in Europa den Muslimen die Anerkennung verweigern und sogar offen Rassismus pflegen, müssen dann nicht auch Muslime für ihre anti-westliche Agitation kritisiert werden? Wir haben auf die theoretischen Probleme des Integrationsbegriffs hingewiesen und integrative Minima definiert, deren Beziehung sowohl zum fremd- als auch zum europasprachlichen Internet nun erörtert werden soll.

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Muslime leben in Europa in sehr unterschiedlichen Sprachlandschaften. Sie verwenden das Netz in diesen Sprachen, aber zumindest der nach Europa zugewanderte große Teil der Muslime nutzt es auch in seinen Mutter- bzw. Herkunftssprachen. Die arabischen, türkischen, iranischen usw. Netze sind mittlerweile gut erforscht. Hier gibt es ohne Zweifel eine Reihe radikaler Websites und Blogs. Islamistische Terroristen (sog. Jihadisten) rekrutieren im Internet Personal und betreiben eine günstige Form der Propaganda und zur Geldbeschaffung (Weimann 2004). Terrorismus ist in der Gegenwart vor allem eine Kommunikationsstrategie, bei der es weniger um Sabotage als um die Tötung symbolischer Opfer zur Verbreitung von bestimmten Botschaften geht, was man am besten mithilfe moderner Medien erreicht (Nacos 1999). Über das Internet lässt sich eine speziellere Klientel erreichen als über die Massenmedien. Allerdings ist nur ein sehr kleiner Teil des orientsprachlichen Netzes als terroristisch zu bezeichnen. Neben Jihadisten existiert ein breiter Diskurs, der von religiösen Autoritäten, Privatleuten, religiösen Dienstleistern und Spiritualisten (»Jihad for Peace«) geführt wird, die religiöse wie weltliche Fragen aus orthodoxen, liberalen oder fundamentalistischen Sichtweisen verhandeln (Bunt 2003; Gräf 2010; Allievi 2004; Leman 2009; Brouwer 2009; van den Branden/ Broeckaert 2009). Eine Gleichsetzung des islamischen Netzes mit Terrorismus ist daher grob vereinfachend. Im Gegenteil: Während Islamophobie für Europäer, die sich im Internet mit dem Islam beschäftigen, ein zentrales Merkmal ist, ist der Terrorismus für Muslime weitaus weniger bedeutsam. Der Eindruck, der dadurch entsteht, dass islamistische Terroristen, die in Europa verhaftet wurden, vielfach mit dem Netz in Berührung gekommen waren, lässt sich nicht auf die Muslime insgesamt übertragen. Die Heterogenität des internationalen islamischen Netzes passt vielmehr zu den wissenschaftlichen Befunden, die gezeigt haben, dass der allergrößte Teil der in Europa lebenden Muslime keine Extremisten sind und dass das Ausmaß radikaler Einstellungen mit nichtmuslimischen Gruppen vergleichbar ist (Kap. I.4). Es besteht also kein Grund anzunehmen, dass die fremdsprachliche Internetnutzung den europäischen Rechtsstaat untergräbt. Bei der Nutzung spielen offensichtlich kulturelle Interessen und Gemeinschaftsorientierungen eine größere Rolle als radikale politische Anschauungen, etwa die virtuelle umma (islamische Gemeinschaft), und diese Orientierungen dürften nur zu einem sehr kleinen Teil im Widerspruch zu den integrativen Mindestanforderungen stehen, die wir formuliert haben. Untersuchungen der türkischen Mediennutzung in Deutschland haben ergeben, dass tatsächlich eine Minderzahl dieser Einwanderer – vielleicht 20 bis 30 Prozent – in einem medialen »Kulturexil« lebt, in dem er oder sie fast ausschließlich heimatsprachliche Medien nutzt (Weiß/Trebbe 2001; K. Hafez 2002b). Hier entstehen sicher Probleme der kulturellen Integration, aber diese Formen der Internetnutzung gehören weithin zu den Freiheitsrechten des Menschen in der liberalen Ge-

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sellschaft. Zudem müssen die Vorteile der fremdsprachlichen Mediennutzung erkannt werden: Hamid Naficy hat argumentiert, dass gerade die durch neue Medien entstehenden engeren Bande zu den Herkunftskulturen für die Migranten der ersten Einwanderergenerationen eine Form der »strategischen Ethnisierung« seien, die sich nicht gegen das Einwanderungsland richteten, sondern im Gegenteil die Lebens- und Systemzufriedenheit steigerten (Naficy 1993; vgl. a. Roald 2004, S. 224). Zudem sollte man in Rechnung stellen, dass »Sprachkompetenz« ein weiter Begriff ist, der Lernprozesse in den Mutter- und Herkunftssprachen mit einschließen sollte, denn auch diese können dem Einwanderungsland zugutekommen. Wenn man also kaum einen Widerspruch zur kulturellen Integration erkennen kann, so ist dies bei der sozioökonomischen Integration noch weniger der Fall. Viele Arbeitsprozesse verlangen keinen differenzierten Sprachgebrauch und gerade junge Einwanderer mit Aufstiegs- und Bildungsinteressen sind ohnehin fast nie »Kulturexilanten«, sondern sie nutzen primär die Medien des Landes, in dem sie leben (Weiß/Trebbe 2001; Simon 2007). Wenn hier zusätzlich bikulturelle Mediennutzungsstrategien eingeschlagen werden, so ist dies der sozioökonomischen Integration nicht abträglich. Untersuchungen zu Iranern in deutschen »Offenen Kanälen«, also einer Art individualisiertem Bürgerradio, haben ähnliche Ergebnisse hervorgebracht: ein hohes Interesse an inneriranischem Austausch, das aber Offenheit gegenüber der nicht-iranischen Umwelt nicht ausschließt und in fast keinem nachgewiesenen Fall extremistisch motiviert ist, auch wenn diese Medien oft als »Mullah TV« diskreditiert worden sind (Horz 2011; Bentzin et al. 2007, S. 34ff.). Aus der Sicht der integrativen Minima – staatsbürgerliche Werte, ökonomische Solidarität und Sprachlernen – gibt es daher kaum ernsthafte Einwände gegen die Nutzung des fremdsprachlichen Internets oder anderer »Ethno-Medien«. Während aber fremdsprachliche Nutzung sicherlich überwiegend kulturelles Binnenkapital für die Gemeinschaft der Muslime in Europa erzeugt, lässt sich in den landessprachlichen Netzen Europas eine ganz andere Tendenz erkennen. Muslimische Blogs sind weitaus weniger verlinkt als islamophobe Blogs (s.o.), was Kommunikation mit der nicht-muslimischen Umwelt allerdings nicht ausschließt, sofern diese nicht islamophob motiviert ist (Engelmann et al. 2010, S. 123, 254). Im Gegensatz zur hochpolitisierten Agenda islamophober Blogs beschäftigen sich Muslime im europasprachlichen Netz vor allem mit Alltags- und Lebensstilfragen, es geht um Mode, Hip-Hop und vieles andere – eine sehr heterogene Themenpalette. Die Muslime Europas pflegen im Netz keineswegs nur diasporischen Traditionalismus, sondern sie hybridisieren ihre Erfahrungswelten, das Netz ist ebenso ein Hort der Individuation wie der Vergemeinschaftung. Individuelle Hybridkulturen im Internet tragen zur kulturellen Vielfalt jenseits von kommerziellen und staatlichen Zwängen bei (vgl. a. Shooman/Spielhaus 2010). Das Gemeinschaftspotenzial ist ohnehin

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sehr gering, kaum durch Verlinkungen geprägt und es geht mehr um Gedanken- und Meinungsaustausch als um die Bildung fester Gemeinschaftsstrukturen in Europa. Zudem ist der Blick tatsächlich nicht nur nach innen, sondern auch nach außen gerichtet, in Richtung Integration in die nicht-muslimische Öffentlichkeit. Hier zeigt sich das Potenzial muslimischer Blogs in Europa für den sozialen Kontakt und die soziale Vergesellschaftung. Dies ist insofern interessant, als die Studien gezeigt haben, dass in der Wahrnehmung vieler Muslime diese ja durchaus über gute Kontakte zu Nicht-Muslimen verfügen (Kap. II.2), was sich im Bereich ihres Kommunikationsverhaltens durch das Studium ihrer Netzaktivitäten zumindest im Ansatz bestätigen lässt. Allerdings hängt, das wird hier klar, soziale Integration durch interaktiven Kontakt unmittelbar mit der Frage der Anerkennung zusammen. Nicht-Muslime, die sich in muslimische Foren begeben und dabei nicht islamfeindlich agitieren wollen, sondern den Gesprächsaustausch suchen, akzeptieren Muslime als gleichwertige Dialogpartner. Im Bereich der gesellschaftlichen Kommunikation zeigt sich also deutlich: Integration mag eine Voraussetzung für Anerkennung sein, aber Anerkennung ist sicherlich auch eine Voraussetzung für Integration. Leider sind Dialoge im Netz noch schwach entwickelt, die Potenziale der interkulturellen Kommunikation und des Kontakts durch das Internet und die damit einhergehende Zurückdrängung des gesellschaftlichen Rassismus sind lange noch nicht ausgeschöpft. Im Prinzip aber hat Nilüfer Göle Recht, wenn sie davon spricht, dass gerade die zweiten und dritten Generationen der muslimischen Einwanderer in Europa sich nicht mehr verstecken, sondern am öffentlichen Leben teilhaben wollen: Wir können argumentieren, dass sich die muslimische Identität heute, nach einer Phase kollektiver Selbstbehauptung und scharfer Hervorkehrung von Andersartigkeit, in einem Prozess der ›Normalisierung‹ befindet. Die islamischen Akteure bringen sich in die modernen urbanen Räume ein, sie benutzen die globalen Kommunikationsnetze, engagieren sich in öffentlichen Debatten, folgen Konsummustern der anderen, erlernen die Regeln des Marktes, begeben sich in säkulare Zeitabläufe, werden mit den Werten der Individuation, der Berufstätigkeit und der Konsumgesellschaft vertraut, und sie denken über ihre eigenen Praktiken nach. (Göle 2004, S. 12)

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IV. Wissenschaft/Bildung

Wissenschaftseinrichtungen, Bildung und Bildungsinstitutionen gehören zum Kern des liberalen Denkens. Die szientistische Abwendung von religiösen und traditionalistischen Tabus und die Entwicklung der aufgeklärten Industriegesellschaft bildeten wesentliche Grundlagen für die gesellschaftliche Mobilisierung, moralische Liberalisierung und politische Demokratisierung, die Europa spätestens seit dem 19. Jahrhundert geprägt haben. Wissen und Bildung sind zudem zentrale Bausteine der politischen Ordnung (»politische Bildung«), Manipulation und Zensur hingegen gelten als Signum des Autoritarismus. Meinungsfreiheit und der ungehinderte Wissenschaftsaustausch gehören zu den schützenswerten Gütern freiheitlicher Ordnungen. Dass man westliche Gesellschaften heute auch als »Wissensgesellschaften« bezeichnet, liegt allerdings nicht nur an ihrem Hang zur wissenschaftlichen »Wahrheitssuche«, sondern auch an Erfordernissen des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die »postindustrielle Gesellschaft« (Bell 1973) bindet immer weniger Menschen in der industriellen Fertigung und stellt immer höhere Anforderungen an eine zweckgebundene Kreativitätsentwicklung in Forschung und Bildung. Diese Entwicklung ist so bedeutsam für Europa geworden, dass nach den klassischen Bildungsreformen des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Nachkriegszeit und in den 1960er Jahren, im 21. Jahrhundert eine dritte große Reformwelle wirksam wird, die unter Begriffen wie »Bologna«-Hochschulreform oder »PISA«-Schulreform firmiert. Einerseits wird hier die zentrale Bedeutung von Wissen und Bildung in westlichen Gesellschaften deutlich; andererseits aber droht ein Verlust an Freiheit von Akademien und Schulen und deren Unterordnung unter das volkswirtschaftliche Denken und ein betriebswirtschaftlich ausgerichtetes Wissensmanagement. Während es also im Gebälk der Beziehungen zwischen Wirtschaft, Schule und Politik kräftig knirscht, ziehen westliche und auch andere »Wissensgesellschaften« längst weitere Kreise. Die Entwicklung des Internets zeigt, dass die Hierarchien zwischen Wissensinstitutionen und dem Rest der Gesellschaft zunehmend infrage gestellt werden und dass eine Analyse der Wissenschaftsgesellschaft mit einer Betrachtung von Universitäten und Schulen allein nicht

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mehr auskommt. Wissensbestände sind heute nicht nur freier und einfacher zugänglich als je zuvor, sie werden auch nicht mehr ausschließlich von Wissenseliten produziert, sondern Wissen wird in wachsendem Maß deautorisiert. Die »Schwarmintelligenz« der Wikipedia-Generation oder die Inflation von Expertentum in Medien aller Art ist vordergründig ein Prozess der »Nivellierung der Wissensgesellschaft«, der der »Nivellierung der Mittelstandsgesellschaft« (Schelsky 1953) im 20. Jahrhundert nachzufolgen scheint. Allerdings ist es wohl kein Zufall, dass neben den Paradigmen der »postindustriellen Gesellschaft« und der »Wissensgesellschaft« auch der Begriff der »Mediengesellschaft« aufgetaucht ist. Gesellschaftlicher Wandel erfolgt nämlich nicht allein nach den Erfordernissen einer Optimierung und Demokratisierung von Wissen, sondern er unterliegt auch den Interessen der Mittlerinstitutionen der Medien, etwa ihrem Bedarf an Inszenierung von Expertise oder kommerziellen Interessen von Suchmaschinen, die nur bedingt einer wissenschaftlichen Recherchelogik folgen (K. Hafez 2011). Manche Beobachter sprechen daher auch von einem »Mythos Wissensgesellschaft« (Kübler 2005). Wurde die Vorherrschaft der alten Wissenseliten am Ende nur abgebaut, um neuen Eliten und Meinungsführern den Weg zu bahnen? Die Frage, die uns im folgenden Kapitel beschäftigen wird, ist, wie die liberale multikulturelle Gesellschaft in der postindustriellen Wissens- und Mediengesellschaft aussieht. Können Minderheiten und insbesondere die Muslime an ihr partizipieren, gestalten sie die Wissensgesellschaft gleichberechtigt mit? Eine Antwort ist schon deshalb schwierig, weil die Idee der Gleichheit der Bildung oder der mit Bildung verbundenen sozialen Stellung – anders als die rechtliche Gleichheit – nie zum liberalen Gedankengut gehörte, eher schon die Ermöglichung von Chancengleichheit, wie sie etwa John Rawls gefordert hat (Kap. I.2) und die zumindest im Linksliberalismus verhaftet ist. Die Frage nach der Zukunft des Multikulturalismus in der Wissensgesellschaft muss also anders gestellt werden, nämlich: Haben wir es heute mit einer europäischen Wissensgesellschaft zu tun, in der auch Menschen mit einem spezifischen kulturellen Erfahrungshintergrund bei vorhandener Neigung und Bildungsqualifikation ihren gleichberechtigten Platz finden können? Es wird deutlich werden, dass Herausforderungen des geistigen Wandels erzeugt werden, die nicht leicht zu meistern sind. Mit der zunehmenden Einwanderung nach Europa kommen immer mehr Menschen, die eigene Wissensbestände mitbringen. Sie demaskieren den »Eurozentrismus« der westlichen Aufklärung und Moderne, denn man erkennt, dass nicht nur durchschnittlich gebildete Europäer, sondern auch weite Teile der europäischen Wissenseliten, sofern sie nicht außergewöhnlich spezialisiert sind, herzlich wenig über die außereuropäische Welt wissen. Das Nord-Süd-Gefälle der Moderne hat sich in einer mentalen Introvertiertheit westlicher Industriegesellschaften niedergeschlagen, gegen die sich auch im Wis-

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senschaftsbetrieb selbst Kritik erhoben hat. Zu fragen ist allerdings, inwieweit sich Reformen an Universitäten und Schulen bereits durchgesetzt haben. Damit sind wir an einem Punkt angelangt, an dem ein viertes und letztes Paradigma ins Spiel kommt – das der »Globalisierung«. Die zunehmende Verflechtung von Märkten und die Beschleunigung von Kommunikation und Verkehrsbeziehungen aller Art haben zu Verzerrungen geführt. Viele Massenmedien beispielsweise sind kaum in der Lage, diesen Prozessen zu folgen, der Umfang der Auslandsberichterstattung hat nicht zu-, sondern vielfach eher abgenommen, die Qualität und Stimmigkeit des vermittelten Weltbildes ist fraglich. Macht sich hier eine »tektonische Verschiebung« der Globalisierung bemerkbar, wobei materielle und geistige Märkte sich in unterschiedlichem Tempo und in verschiedene Richtungen bewegen, was unweigerlich zu neuen Spannungen führen muss: eine Welt mit zunehmender wirtschaftlicher und politischer Reichweite aufgebaut auf stagnierendem Weltwissen (K. Hafez 1999b)? Entstehen aufgrund der gewachsenen Mobilität der Menschen weltweit de facto multikulturelle Gesellschaften, denen aber die kulturelle Anerkennung versagt bleibt, weil sie die geistigen Horizonte nicht nur der viel gescholtenen »Massen«, sondern auch vieler »Eliten« in Wissenschaft und Bildung überfordern?

1. W ISSENSCHAFT UND I NTELLEKTUALISMUS – D IE D E -L IBER ALISIERUNG DER INSZENIERTEN W ISSENSGESELLSCHAF T Es mag von einer gewissen Begrenztheit des theoretischen Arsenals zeugen, wenn man immer dieselben Denker als Kronzeugen aufruft – aber an Jürgen Habermas kommt man auch in diesem Kapitel nur schlecht vorbei. Habermas hat sich im Verlauf seines Schaffens nicht nur in Fragen des liberalen Rechtsstaates und des Multikulturalismus oder in die Theorie der Öffentlichkeit eingeschaltet. Er hat auch wegweisende Schriften über die Rolle von Wissenschaft und Universität in der modernen Gesellschaft verfasst. Das Werk von Habermas ist geprägt von der Leitvorstellung einer modernen Gesellschaft, die sich von traditionalistischen und fundamentalistischen Zwängen abgrenzt und auf dem Boden von Rechtsstaat und Demokratie das gesellschaftliche Projekt der Moderne öffentlich, deliberativ und rationalistisch vorantreibt. Er stimmt somit im Kern mit dem überein, was in diesem Buch als »liberale Gesellschaft« beschrieben worden ist. »Wissenschaft« nun ist aus der Sicht von Habermas ein »Unternehmen kooperativer Wahrheitssuche« (Habermas 1987, S. 96). Die Kernfunktion der Wissenschaft als autonomer Unternehmung ist die rationalistische Durchdringung der Welt und die Verwissenschaftlichung des gesellschaftlichen Dialogs. So sehr sich auch Habermas und der Systemtheoretiker

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Niklas Luhmann zeitlebens kritisch gegenübergestanden haben, herrscht in diesem einen Punkt jedoch weitgehende Übereinstimmung, was etwa in Luhmanns Abwehr eines jeden Versuchs des organisatorischen Managements von Wissenschaft deutlich wurde. Für Luhmann ist die Universität ein soziales System und kein Produktionsunternehmen im herkömmlichen Sinne. Da der »Output« gerade der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht vorherseh- oder erzwingbar ist, bleibt aus seiner Sicht stets ein nicht organisierbarer Rest (Luhmann 1987). Autonomie und Wertefreiheit der Wissenschaft, so sehr sie auch zum Kern des Leitbildes einer »liberalen Gesellschaft« zählen mögen, sind jedoch faktisch zu keiner Zeit vollständig realisiert worden. Ähnlich wie der Journalismus vielfältige Abwehrkämpfe gegen innere und äußere Übergriffe zu führen hat, muss dies auch die Wissenschaft tun. Die Leistungen der Wissenschaft haben nämlich zu allen Zeiten Begehrlichkeiten anderer Subsysteme der Gesellschaft – Wirtschaft und Politik – geweckt, gerade finanzielle Einflüsse machen sich im regulären Universitäts- und Akademiebetrieb ebenso bemerkbar wie in der externen Forschungsförderung. Als »Wissenschaft unter dem Regime des akademischen Kapitalismus« hat Richard Münch die Entwicklung der europäischen Universität zu Beginn des 21. Jahrhunderts bezeichnet (Münch 2009). Im Gegensatz zu diesen bekannten Problemen des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Macht, die spätestens seit den 1960er Jahren die Diskussion über die Stellung der Wissenschaft in der Gesellschaft beherrscht haben, ist ein anderes Problem weit weniger präsent: das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit. »Öffentlichkeit« ist zwar, anders als Politik und Wirtschaft, nicht als organisiertes Umweltsystem der Wissenschaft, sondern eher als eine sehr disperse Sphäre mit zahlreichen individuellen und organisierten Akteuren – unter anderem den Medien – zu bezeichnen. Aber die Feststellung, dass öffentliche Wirksamkeit für alle gesellschaftlichen Teilsysteme von wachsender Bedeutung ist, gilt eben auch für die Wissenschaft. War lange Zeit die klassische platonische Lehre einer größtmöglichen Distanz der Akademia von der Öffentlichkeit vorherrschend, damit Wissenschaftler in autonomer und ungestörter Weise ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten konnten, so ist dieser »Elfenbeinturm« im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr zum Einsturz gebracht worden. Die Wissenschaft ist in weiten Teilen bestrebt, aus der elitären Introspektion herauszutreten und über die sich ausbreitenden medialen Vermittlungskanäle in die Gesellschaft hineinzuwirken. Einer der frühen Denker der gesellschaftlichen Verantwortung des »öffentlichen Intellektuellen« war der amerikanische Pragmatiker John Dewey, der eine Art De-Platonisierung der Wissenschaft forderte (vgl. Stikkers 2010). Wenn wir »Öffentlichkeit« als wesentlichen Bestandteil der liberalen Gesellschaft akzeptieren (Kap. III), dann muss die Verwissenschaftlichung des öffentlichen Diskurses, und nicht nur die Autonomie der Wissenschaft, im Interesse liberaler Theorie sein. Zugleich

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aber, so betont der Wissenschaftssoziologe Walter L. Bühl bereits in den 1970er Jahren, werden die medialen Vermittlungswege immer unübersichtlicher, der wissenschaftliche Diskurs droht zu »zerfasern«, und in der sich verdichtenden Mediengesellschaft entstehen »Scheinkompetenzen« und »Scheinwissen« (Bühl 1974, S.  248f.). Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit ist sehr bedeutsam für die Definition dessen, was wir als neue »Wissensgesellschaft« bezeichnen, und es lohnt sich, die Akteure und Mechanismen in diesem Kraftfeld unter die Lupe zu nehmen. Richard A. Posner hat den Versuch unternommen, den Typus des »öffentlichen Intellektuellen« genauer zu charakterisieren (Posner 2001). Dieser ist demnach universell orientiert, wendet sich Fragen von größerer gesellschaftlicher Bedeutung zu, statt sich nur an fachlichen Detailfragen abzuarbeiten. Sein Schreibstil ist zugänglich, weitgehend frei von Fachjargon und er formuliert gesellschaftliche Ideen, die auf Breitenwirksamkeit zielen. Öffentliche Intellektuelle sind Sozialkritiker, sie reagieren auf Zeitfragen und ihre Resonanz in der Gesellschaft begründet ihre gesellschaftliche Wirkung. Sie wenden sich einem breiten, aber gebildeten Publikum zu. Ihre Positionen sind eben wegen der thematischen Breite, des oft unpräzisen Schreibstils und der wenig akademischen Präsentationsform schlecht oder gar nicht empirisch belegt, sondern sie tragen eher zur ideologischen Polarisierung von Debatten bei (Posner 2001, S. 72, 146). Daraus entstehen Spannungen in den Beziehungen zum Wissenschaftssystem. Auch nach diesem Definitionsversuch allerdings bleiben viele Fragen offen. Posner bezeichnet als »öffentliche Intellektuelle« nicht nur formal ausgewiesene Akademiker, sondern ein schillerndes Panoptikum aus öffentlichen Persönlichkeiten, darunter vielen Autodidakten, bekannten Kolumnisten, Buchautoren und Kritikern aller Art, die den öffentlichen Diskurs beherrschen. Es fällt auf, dass Posner seine Anforderung an »Ideen«, die von öffentlichen Intellektuellen zu formulieren sind, nirgends konkretisiert. Im Gegenteil, bei ihm ist jedes Individuum, dessen Thesen populär werden, ein »öffentlicher Intellektueller«.126 Dies aber ist zu undifferenziert, denn wie Posner empirisch anhand von Zitationshäufigkeiten nachweist, erzeugen Autoren entweder in den Medien oder in der Wissenschaft Resonanz. Nur selten gelingt beides, Ausnahmeerscheinungen wie Noam Chomsky oder Hannah Arendt bestätigen die Regel. Es macht wenig Sinn, jede Form von Popularität unter einer Kategorie des »öffentlichen Intellektualismus« zu verbuchen. Als öffentliche Intellektuelle sollte man vielmehr nur solche Autoren bezeichnen, denen es, wie Chomsky und Arendt, gelingt, Botschaften zu formulieren, die, trotz aller Kritik der Fachwissenschaften, sowohl im Wissenschafts- als auch im Mediensystem Anerkennung finden. Zu unterscheiden wären demnach elitär orientierte Wissenschaftler, öffentliche Intellektuelle und, als letzte Kategorie, »Medien-Meinungsführer« (oder »MedienExperten«). Letztere finden zwar breite Resonanz mit ihren Thesen, werden

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aber von dem für fachliche Expertise zuständigen Wissenschaftssystem nicht als Experten anerkannt. Zwischen den Massenmedien und den Medien-Meinungsführern besteht eine wechselseitige Abhängigkeit, weswegen man diese Art der Meinungsführer durchaus als festen Bestandteil des Mediensystems betrachten kann. Medien sind zur Legitimation und Fundierung ihrer Berichterstattung auf außermediale Eliten angewiesen, die sich nicht durch Bindungen zu spezifischen anderen Gesellschaftssystemen (wie etwa Parteien, Kirchen) auszeichnen und daher den Nimbus geistiger Unabhängigkeit genießen. Sie fungieren quasi als die grauen Eminenzen des medialen Diskurses. Viele Autoren wiederum brauchen die Publizität der großen Medien, um ihre Produkte und Positionen bekannt zu machen. In diesem symbiotischen Verhältnis bedient sich jede Seite der Popularität der jeweils anderen Seite: Die distributive Reichweite der Medien paart sich mit der gesellschaftlichen Gängigkeit bestimmter Thesen. Medien-Meinungsführer stellen Behauptungen auf, die Resonanz erzeugen, aber oft so polarisierend sind, dass die Medienhäuser sie selbst nicht formulieren können, wollen sie den Ruf der Neutralität und Autonomie nicht verlieren. Dabei wird der Medien-Meinungsführer eben nicht als Mitarbeiter der Massenmedien, sondern als »Ereignis« inszeniert: Sein Erfolg auf anderen Medienmärkten, vor allem auf dem Buchmarkt oder als Führungsfigur sozialer Bewegungen, definiert sein »Medienkapital«. Der Begriff »Medienkapital« wird in Anlehnung an die Feldtheorie Pierre Bourdieus benutzt und wäre aus der Sicht des französischen Theoretikers wohl als eine Mischung aus »kulturellem Kapital« (Bildung) und »sozialem Kapital« (Beziehungen, Netzwerke) zu verstehen.127 Dass der Medien-Meinungsführer ein »Experte« bleibt, dessen Expertise von der Wissenschaft kaum anerkannt wird, stört das massenorientierte Mediensystem nur wenig, da Kritik an diesen Personen, sofern sie überhaupt geäußert wird, vom Mediensystem selbst verstärkt werden müsste, wollte sie auf breite Resonanz treffen. Medien-Meinungsführer sollen aus der Perspektive der Massenmedien nicht der Wissenschaft gefallen, sondern sie fungieren als Stimmgeber verborgener gesellschaftlicher Meinungen und Einstellungen, wobei nicht vergessen werden darf, dass hier eine Wechselwirkung besteht: Medien sind nicht nur der Resonanzkörper von Bevölkerungsstimmungen – sie erzeugen diese auch selbst (Kap. III.1). Dennoch muss man einräumen, dass Medien-Meinungsführer im Sinne des Mediensystems nur erfolgreich sind, wenn sie auch in gewisser Hinsicht »soziale Meinungsführer« sind. Aber genau hier liegt das Problem: Medien-Meinungsführer mögen in vielen Bereichen eine wichtige Funktion zur Entwicklung öffentlicher Debatten einnehmen, aber sie verkörpern auch Popularität und Hegemonie. Die Tatsache, dass Positionen von Minderheiten allerdings vielfach wenig populär sind, erklärt, warum etablierte Meinungsführer – ganz wie die Mehrheit der Bevölkerung – oft kritisch gegenüber eingewanderten ethnischen und religiösen

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Minderheiten sind und warum die Minderheiten zwar eine Reihe von Wissenschaftlern und einige »öffentliche Intellektuelle« hervorbringen mögen, aber höchst selten selbst zu intellektuellen »Popstars« der Medien werden. Wenn dies ausnahmsweise gelingt, dann auf anderen Sachgebieten, etwa im Sport, wo die Öffentlichkeit die Tatsache, dass es sich hier um den Repräsentanten einer Minderheit handelt, weitgehend ausblendet. Auch auf dem Feld der Intellektualität stoßen wir also erneut, wie schon in der Politik, in den sozialen Beziehungen und in den Medien, auf die Frage der Hegemonie. Grundsätzlich können Probleme der hegemonialen Machtausübung auch im elitären Wissenschaftssystem auftreten, denn die dort üblichen Mechanismen der Qualitätssicherung – Berufungsverfahren, Gutachterwesen – beruhen letztlich ebenso auf Mehrheitsprinzipien. In der viel zitierten »vorherrschenden Wissenschaftsmeinung« kommen Herrschaftsverhältnisse sprachlich zum Ausdruck. Allerdings weisen Wissenschaftssysteme einige Merkmale auf, die man als Besonderheiten verbuchen kann. Erstens ist Wissenschaft, im Unterschied zu vielen anderen Teilsystemen der Gesellschaft, in hohem Maße international vernetzt. Während etwa die Massenmedien mit Ausnahme bestimmter Unterhaltungssparten und mit einem recht dünnen Firnis globaler Nachrichten vielfach noch immer weitgehend an nationale Absatzmärkte gebunden sind (K. Hafez 2005), ist dies bei der Wissenschaft ganz anders. In den meisten Fächern wird der Forschungsstand global erzeugt und führende Fachzeitschriften sind oft außerhalb der eigenen Landesgrenzen des Forschers angesiedelt, auch wenn die Mitgliedsstrukturen vieler internationaler Fachgesellschaften, in denen etwa europäische Wissenschaftler Mitglieder sind, nach wie vor ein westliches Übergewicht aufweisen. Es ist daher zweitens auch von größerer Bedeutung, dass das Wissenschaftssystem zyklischen Revisionen unterzogen wird. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die westliche Wissenschaft Fächer wie die Postcolonial Studies oder die Cultural Studies hervorgebracht, die sich gegen Vorurteilsstrukturen im Wissenschaftssystem gewendet und es von innen zu reformieren versucht haben. Auch viele Area Studies – Orient-, Afrika- oder Asienwissenschaften –, ursprünglich durchaus im Kontakt mit dem westlichen imperialen System, haben sich emanzipiert. Nach einigen noch sehr begrenzten Kritiken am »Orientalismus« westlicher Wissenschaften in den 1960er Jahren (Abdel-Malek 1963), schaffte Edward W. Said Ende der 1970er Jahre mit seinem gleichnamigen Werk den Durchbruch zu einer fächerübergreifenden Wissenschaftsdebatte (Said 1978). In seinem Essay demaskierte Said, in Anlehnung an Foucaults Diskurs- und Machttheorie, den Essenzialismus und die Kulturalisierung des Orients und des Islams in der westlichen Wissenschaft als das künstliche Konstrukt einer anti-aufklärerischen, repressiven und frauenfeindlichen Welt und Kultur – ein Bild, das ja tatsächlich im populären Islamdiskurs Europas und des Westens bis heute nachwirkt und das oft weniger mit dem Orient selbst als mit den

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ideologischen, kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Machtverhältnissen, die im und durch den Westen hergestellt werden, zu tun hat (Kap. II.1 und III.1). Die Debatte wurde so kontrovers geführt, dass Said schließlich selbst für seine Pauschalisierungen kritisiert wurde, zumal er viele unzweifelhafte Verdienste der westlichen Wissenschaft und insbesondere der Orientalistik zu wenig gewürdigt hatte (Lockman 2004, S. 194ff.). Said hob in den Vorworten zu späteren Ausgaben seines Werkes denn auch die besonderen Leistungen gerade der deutschen Orientalistik hervor.128 In den europäischen Fachwissenschaften, die sich mit Nordafrika sowie mit Westasien beschäftigen, werden spätestens seit der Orientalismusdebatte klassische Annahmen europäischer Denker wie Max Weber (»orientalische Despotie«) oder Karl Marx (»Geschichtslosigkeit« des Orients) kaum noch verwendet, westliche Theorien der Modernisierung, der Demokratie usw. werden theoretisch, ja vielfach sogar methodisch an reale Verhältnisse in den Ländern angepasst. Die Area Studies sind daher ein durchaus selbstbewusster Versuch einer Entprovinzialisierung der westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften (Schäbler 2007; vgl. a. Chakrabarty 2000). Ähnlich wie sich im 19. Jahrhundert Fächer wie Geschichtswissenschaft, Soziologie oder auch die klassische Orientalistik von den großen Fächern wie Philosophie und Theologie emanzipieren konnten, scheint dies auch der europäischen Wissenschaft von der außereuropäischen Welt zunehmend zu gelingen. Eine ethnozentrische Sicht des Orients und des Islams ist seither in den westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften zumindest wesentlich seltener anzutreffen als vor der Orientalismusdebatte. Das Projekt der Globalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften ist zwar noch lange nicht abgeschlossen. Der Area-Forschung wird nicht ganz zu Unrecht der Vorwurf der Theorieferne gemacht. Essenzialisierungen außereuropäischer Kulturen treten immer wieder auf, wenn vor allem Vertreter der großen Fachdisziplinen sich über den Islam äußern, ohne eigentlich kompetent zu sein. Dann jedoch werden sie von weiten Teilen der Wissenschaft nachhaltig kritisiert – das berühmteste Beispiel ist wohl der Harvard-Politologe Samuel P. Huntington, der mit seiner These vom »Clash of Civilizations« zwar einem weltweiten Publikum bekannt wurde, in der Wissenschaft allerdings mehr Kritik als Unterstützung erntete (s.u.). Huntington hatte sich vom Fachexperten zu einem »öffentlichen Intellektuellen«, vielleicht sogar zu einer Medienfigur mit wenig Rückhalt in der Wissenschaft entwickelt. Zusammenfassend lässt sich über Wissenschaft und Intellektualismus in westlichen Gesellschaften und Europa sagen, dass es Defizite zwar auf allen Ebenen von Wissenschaft und Intellektualismus gibt, dass das Hauptproblem jedoch nicht die mangelnde Intellektualität der westlichen Wissenschaft ist, sondern die Begegnung der Wissenschaft mit Medien und Öffentlichkeit. Die autonomen Qualitätsmaßstäbe von Wissenschaft und Medien als Subsystemen der Gesellschaft sind so unterschiedlich, dass man nur schwerlich beide Syste-

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me befriedigen kann: hier theoretische Präzision und empirische Haltbarkeit; dort Marktgängigkeit. Stimmt beides gelegentlich einmal überein, sprechen wir von einem gelungenen »öffentlichen Intellektualismus«. Driftet beides auseinander, stehen sich wissenschaftliche Qualitätsbegriffe und die Inszenierung von Expertise in den Medien unversöhnlich gegenüber. *** Islamophobie ist auch in der modernen Wissenschaft noch immer anzutreffen. Die vor Jahrzehnten durch Edward W. Said ausgelöste fächerübergreifende Orientalismusdebatte hat sich keineswegs überall konsequent durchgesetzt. Selbst prominente Denker wie Jürgen Habermas oder bekannte Wissenschaftler wie der deutsche Soziologe Hans Joas sind davon nicht ganz frei. Unter dem Eindruck des Sturzes eines Denkmals von Saddam Hussein in Bagdad im April 2003 stellte Habermas sich die Frage, ob der amerikanische Krieg im Irak, trotz des Verstoßes gegen das Völkerrecht und der hypertechnischen Konfrontation, nicht doch legitim gewesen sei (Habermas 2004, S.  32). Der liberale Vorzeigedenker erliegt fast den Versuchungen des Imperialismus; dass es sich, wie man schnell erkennen konnte, um einen vom amerikanischen Militär inszenierten Denkmalsturz handelte, versteht er nicht. Joas schränkt das antike Erbe Europas einmal mehr auf Griechenland, Rom und die Kirche ein und grenzt es kategorisch vom »Islam« und vom Orient ab (Joas 2005). Hier wirkt der eurozentrische Mythos vom »Wunder Griechenlands« nach, der von anderen Wissenschaftlern vielfach und eloquent bestritten worden ist (Corm 2004; Goody 1998). Während es sich bei den vorgenannten Werken eher um »Ausrutscher« verdienter Wissenschaftler handelt, geraten diejenigen, die derartige Thesen in ihrer Arbeit zentral stellen, schnell ins wissenschaftliche Abseits. Der wissenschaftliche Niedergang verläuft dann parallel zum Aufstieg in der Mediengesellschaft und zur wachsenden öffentlichen Popularität, so geschehen etwa bei Samuel P. Huntington, der als Harvard-Professor ein führender Intellektueller mit berühmten Thesen zur Institutionenentwicklung und zur Demokratisierung war, für sein Werk »Clash of Civilizations« trotz rasanter Popularitätsgewinne in der Wissenschaft aber vielfach kritisiert wurde (K. Hafez 1997b). Einem bekannten Gegenspieler von Edward W. Said, dem Orientalisten Bernard Lewis, gelang es zwar, mit seiner These vom fundamentalen Gegensatz von Islam und Westen auf die Liste der 100 einflussreichsten Denker der US-Zeitschrift Time zu gelangen, in Fachkreisen jedoch wurde er zunehmend isoliert und überwarf sich schließlich sogar mit dem amerikanischen Fachverband der Middle East Studies Association (MESA). Die westliche Fachwissenschaft ist offensichtlich nicht mehr ohne Weiteres gewillt, essenzialistische oder kultur-differenzialistische Anschauungen, die letztlich auf primitiven Kulturkonzepten basieren, zu tolerieren. Wissenschaftler, die solche Anschauungen formulieren, werden

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dadurch zwar in der Öffentlichkeit bekannter, sie verlieren aber ihren Rang im Wissenschaftssystem. Probleme der Islamophobie gibt es sicher auf allen Ebenen der Wissensgesellschaft – in Wissenschaft, öffentlichem Intellektualismus und bei Medien-Meinungsführern. Die Wissenschaft hat allerdings Gegengewichte entwickelt, ihr interner Pluralismus funktioniert, wie nicht zuletzt die zahlreichen differenzierten Analysen zeigen, die in diesem Buch zitiert werden und die fast ausschließlich aus dem westlichen Wissenschaftssystem stammen. Die Teile der Wissensgesellschaft allerdings, die nicht nach den Regeln des wissenschaftlichen Meinungsstreits, sondern nach den Erfolgskriterien der öffentlichen Popularität funktionieren, erweisen sich als deutlich anfälliger für fundamentale Islamkritik und Islamophobie. Kein Wunder daher, dass, wenn Studien zur Islamophobie in Europa Namen islamfeindlicher Intellektueller nennen, hier nur wenige etablierte Akademiker auftauchen. Stattdessen fallen Namen wie Oriana Fallaci, Antonio Elorza, Paul Cliteur, Caroline Fourest, Alexandre Caeiro, Necla Kelek, Ayaan Hirsi Ali, Michel Houellebecq, Leon de Winter oder André Glucksmann (Cesari 2006, S. 35f., 212ff., vgl. a. dies. 2010a, S.  22ff.). Vorherrschend in diesem Feld sind nicht Wissenschaftler, sondern Laien, die auf ganz anderen Gebieten als der Islamexpertise bekannt wurden und als Islamkritiker sozusagen eine zweite Karriere machen. Typisch für diese Publizisten ist, dass sie zwei Sorten von Medienkapital in die Verbindung mit den großen Massenmedien, die ihre Islamkritik bekannt machen, einbringen: Prominenzkapital oder Herkunftskapital. In beiden Fällen handelt es sich um geliehenes Medienkapital, insofern als es nicht im Feld der Islamexpertise erworben, sondern aus anderen Feldern entlehnt wurde. Kritiker wie Fallaci, Houellebecq oder Glucksmann haben sich als Journalisten, Schriftsteller oder Intellektuelle auf ganz anderen Gebieten einen Namen gemacht und nutzen ihre Bekanntheit für radikale Islamkritik. Musliminnen oder Frauen, die einem muslimischen Hintergrund entstammen, wie Ali oder Kelek, scheinen der Öffentlichkeit quasi von Geburt an Expertinnen zum Thema zu sein, sie werden zu Kronzeuginnen einer islamischen Selbstkritik oder sogar einer Abwendung vom Islam; das Fundament ihrer Expertise aber bleibt sehr fraglich. Kelek etwa ist Anwältin, als Wissenschaftlerin jedoch ist sie, trotz Promotion, nicht hervorgetreten, sondern sie war lediglich Lehrbeauftragte einer kirchlichen Fachhochschule, also einer Einrichtung ohne Forschungsauftrag. Dass eher die Herkunft als die analytische Qualifikation ihre Bekanntheit begründet, ist anzunehmen, was insofern problematisch ist, als hier eine Muslimin oder als Muslimin geborene Frau, angeblich im Namen ihrer Emanzipation, erneut zum Objekt gemacht wird. Die schärfsten und bekanntesten Islamkritiker Europas entstammen nicht dem etablierten Wissenschaftssystem, sondern sie sind quasi Privatexperten ohne Qualitätssicherung durch eine akademische Gemeinschaft. Dies muss die Qualität der Analysen nicht in jedem Fall beeinträchtigen – eine Garantie, dass

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ihre Essays und Einwürfe auf der Höhe des wissenschaftlichen Forschungsstandes sind, gibt es allerdings nicht. Dennoch fungieren sie mehr als die etablierte Wissenschaft als die »grauen Eminenzen« des öffentlichen Diskurses. Annlies Moors beklagt deren privilegierten Zugang zu den Medien sowie deren enormen Erfolg auf den europäischen Buchmärkten, der ein Zeichen breiter Unterstützung sei (Moors 2005). Dass dieser Eindruck keinesfalls täuscht, lässt sich mittlerweile auch statistisch erhärten. Gesellschaftliche Meinungsführer sind etwa in deutschen Zeitungen und Magazinen bereits ermittelt worden. Wie in den USA gibt es auch in europäischen Staaten Ranglisten einflussreicher Denker. Zwar ist an deren Methoden manches zu kritisieren, insbesondere die Tatsache, dass die Grundgesamtheit der gezählten Namen recht willkürlich bestimmt wird (vgl. Höfer 2005, S. 14). Allerdings lassen die relativen Erfolgswerte dieser begrenzten Stichprobe von immerhin 500 einflussreichen Intellektuellen in Deutschland interessante Schlussfolgerungen zu. Islamkritiker sind unter den populären Denkern Deutschlands deutlich präsenter und erfolgreicher als differenzierte Islambeobachter oder gar emphatische Verteidiger des Islams. Unter den führenden einhundert Denkern von 2007 hatte sich nur eine Person – Hans Küng – um eine differenzierte Sicht des Islams bemüht (Rang 39), aber allein acht ausgewiesene Islamkritiker und Vertreter eines fundamentalen Widerspruchs zwischen Islam und Westen/ Christentum waren dort vertreten: Joseph Karl Ratzinger (1), Alice Schwarzer (9), Peter Sloterdijk (20), Wolfgang Huber (27), Peter Scholl-Latour (42), Ralph Giordano (75), Hans-Ulrich Wehler (84) und Henryk M. Broder (94).129 Die beiden Wissenschaftler – Sloterdijk und Wehler – sind keine Experten für die islamische Welt, jedoch typische »öffentliche Intellektuelle«, denen es weitgehend gelungen ist, Akzeptanz in einer dem Islam fernen Wissenschaft zu wahren, während sie in der Öffentlichkeit der Massenmedien die islamische Welt kritisieren oder sich vom Islam abgrenzen. Ratzinger und Huber vertreten als Papst und als langjähriger oberster Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zwar persönliche, in hohem Maße aber auch institutionelle Abgrenzungsinteressen der Kirchen (Kap. V). Alle anderen entstammen weder dem Wissenschaftssystem noch repräsentieren sie gesellschaftliche Institutionen, sondern sie sind als »Publizisten« prototypische Medien-Meinungsführer. Sie haben ihr Medienkapital auf anderen Feldern erworben: Schwarzer als Frauenrechtlerin, Scholl-Latour als Pionier des Auslandsjournalismus, Ralph Giordano als Überlebender des Holocaust und Kämpfer gegen Antisemitismus, Letzteres verbindet ihn mit Broder. Schwarzer, Giordano und Broder stehen für eine Tendenz, wonach gerade ehemalige Leitfiguren progressiver Gesellschaftskritik vielfach sehr grundsätzlich islamkritisch hervortreten. Beim Thema Islam üben sie unerwartet den Schulterschluss mit rechtspopulistischen und rechtsradikalen Sichtweisen einer primär christlichen (oder christlich-jüdischen) Prägung der westlichen Politik und Gesellschaft, die

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in der Mitte des deutschen politischen Konservatismus langsam aus der Mode geraten.130 Im Spektrum ideologischer Strömungen wandern sie von links nach rechts, oder, genauer, sie üben einen ideologischen Spagat. Noch vor einigen Jahrzehnten hätte man derartige Konstellationen für relativ »normal« erachten können, denn in linken oder liberalen politischen Kreisen Europas sind Vorurteile gegen den Islam nicht unbekannt und haben eine lange Geschichte (Kap. I.3). Allerdings überschreitet eine radikale Islamkritik, wie sie die genannten Wortführer formulieren, an der Wende zum 21. Jahrhundert immer deutlicher die Grenzen linker, liberaler und zum Teil sogar konservativer Gesellschaftsvorstellungen, was nunmehr anhand einiger Beispiele erörtert werden soll. Der deutsche Publizist Ralph Giordano wendet sich seit den 2000er Jahren immer wieder gegen den Bau von Moscheen in Deutschland, weil er die Integration des Islams für gescheitert hält.131 Nicht der Islamismus, sondern »der Islam« stellt aus Sicht von Giordano ein Problem dar.132 Dem islamischen Kulturraum wirft er – gerade mal ein Jahr vor Ausbruch des »Arabischen Frühlings« 2010/11 – vor, im Kern stagnativ zu sein.133 Burka-Trägerinnen bezeichnet er als »menschliche Pinguine« (Schneiders 2010a, S.  430). Giordano hat sich auch wiederholt dafür ausgesprochen, Muslimen die Religionsfreiheit zu entziehen, und er beteiligte sich an vorderster Front an der Anti-Moscheebaubewegung »Pro Köln« (Kap. II.1). Für derartige Positionen und Aktionen ist Giordano vielfach kritisiert worden. Man hat ihm ein »undifferenziertes Freund-Feind-Denken« (Seidel)134 und Hetze gegen eine Religionsgemeinschaft vorgeworfen (Ruf 2010, S.  126). Der Wandel des intellektuellen deutschen Juden vom Kämpfer gegen Antisemitismus zum Apologeten der Islamophobie lässt manche frühere Weggefährten ratlos zurück. Micha Brumlik: [In] seinem fünfundachzigsten Jahr ist der Autor zu eben dem geworden, was er jahrelang analysiert und damit an den Pranger gestellt hat: zu einem von dumpfen Ressentiments getriebenen Kleinbürger, der – von undurchschauten Vorurteilen getrieben – seine liebe Not und Mühe hat, sich des überreichen Beifalls von der falschen, der rechten Seite zu erwehren. Mit seinem Engagement gegen die Errichtung einer Moschee in Köln-Ehrenfeld, mit Äußerungen in Interviews über tief verschleierte muslimische Frauen, die bei aller begrüßenswerten Gegnerschaft zum Islamismus jenseits des Akzeptablen stehen sowie seinen düsteren Untergangsahnungen wurde der Aufklärer von Einst zum Propheten von Rechts, zum selbststilisierten und selbstgerechten Siegelbewahrer westlicher Freiheit. (Brumlik 2010, S. 483)

Der Publizist Henryk M. Broder warnt etwa in der gleichen Zeit im Nachrichtenmagazin Der Spiegel wie auch in seinen Büchern plakativ vor einer »Kapitulation« vor dem Islam (Broder 2006). Einen differenzierten Umgang mit dem Islam und mit Muslimen vergleicht er mit der Appeasement-Politik der 1930er Jahre gegenüber Hitler. Seine Sprache ist nicht nur polemisch, sondern belei-

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digend, etwa wenn er über »promovierte Schwachköpfe« schreibt (Schneiders 2010a, S. 422). Er argumentiert vielfach ohne Faktengrundlage, zum Beispiel wenn er behauptet, die Zahl der Musliminnen mit Kopftuch steige sprunghaft an, Gewalt an Berlins Schulen sei vor allem ein Problem von muslimischen Jugendlichen oder deutsche Sparkassen wollten aus Rücksicht auf muslimische Kunden das Sparschwein abschaffen (Schneiders 2010a). Die »Verfolgung« von Christen in der islamischen Welt lässt ihn ein Verbot von Moscheebauten in Deutschland fordern. Auch gegen Broder hat sich Kritik erhoben, er übe »banalpolemische Religionskritik«135 und bediene sich, obwohl selbst jüdischer Abstammung und früher ein Publizist gegen Antisemitismus, alter anti-jüdischer Klischees, wobei er lediglich »Jude« durch »Muslim« und »Judentum« durch »Islam« ersetze.136 Broder, der einige Jahre in Israel lebte, hatte Deutschland angeblich wegen antisemitischer Töne der Frauenzeitschrift Emma verlassen, deren Gründerin, Alice Schwarzer, in den 2000er Jahren aber neben ihm zu einer der bekanntesten Islamkritikerinnen Deutschlands geworden ist. Schwarzer fragt sich, ob die aufgeklärte Welt überhaupt noch vor dem Islam zu retten sei. Sie spricht von systematischer Unterwanderung der deutschen Bildungs- und Rechtssysteme durch den Islam und vergleicht das Machtstreben von Islamisten mit dem Beginn der Nazi-Herrschaft, das muslimische Kopftuch mit dem Judenstern (Schneiders 2010a). Ihr wird daraufhin auch aus der Wissenschaft moralische Panikmache und Irrationalismus vorgeworfen (Schiffauer 2006, S. 111f.). All diesen einflussreichen deutschen Publizisten gelingt ein ungewöhnlicher Spagat. Während sie jahrzehntelang darum bemüht waren, bestimmte Freiheitsrechte zu erkämpfen oder zu verteidigen, wollen sie Muslimen ähnliche Rechte heute verweigern. Grundrechte wie die Religionsfreiheit, zu denen auch der Bau von Moscheen und – zumindest in Deutschland – auch der Islamunterricht an Schulen gehören, sollen ausgesetzt werden. Um dies zu rechtfertigen, werden Muslime pauschal als Verfassungsfeinde bezeichnet, denn nur eine solche Wahrnehmungsverschiebung begründet diese Konsequenzen. Dass sie mit ihren überzogenen Feindbildern – »Machtanspruch«, »Unterwanderung« usw. – Bildkonstrukte schaffen, die große Ähnlichkeit mit dem Judenbild der Nationalsozialisten aufweisen und dessen Psycho-Logik der Faktenfälschung, selektiven Wahrnehmung, Pauschalisierung, kulturellen Spiegelung und anthropologischen Verdrehung wir bereits untersucht haben (Kap. II.1), wird billigend in Kauf genommen. Die bei bekannten westlichen Intellektuellen verbreitete Weigerung, sich eingehender mit dem Islam zu beschäftigen, die auch dem Theoretiker der multikulturellen Gesellschaft, Charles Taylor, aufgefallen ist,137 wird zur Basis für eine Verschiebung der intellektuellen Kultur und der gesellschaftlichen Werte, die sich am Thema Islam entzündet, in Zukunft aber auch andere »Fremde« betreffen kann. Anti-aufklärerischer Duktus und ideologische Elitenstürmerei, die Pose des notwendigen Tabubruchs, gehen bei

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islamophoben Medien-Meinungsführern Hand in Hand. Während das politische System den Liberalismus und die Gleichberechtigung der Muslime langsam entdeckt, bewegen sich ehemals gesellschaftskritische Publizisten auf den kulturellen Mainstream zu und verstärken dessen Vorurteilsbereitschaft gegenüber dem Islam. Ähnlich wie die rechtspopulistischen Parteien, aber meistens in gebührender Distanz und aus der Position der scheinbar unabhängigen Expertise, treiben sie den Bruch zwischen System und Gesellschaft voran, indem sie die Grundrechte von Muslimen beschneiden wollen. Daniel Bax spricht für Deutschland von einer »seltsamen Koalition« aus ehemals liberalen und reaktionären Kräften.138 Daniel Binswanger hat diesen Trend schon vor dem Verbotsbeschluss für Minarette in der Schweiz auf den Punkt gebracht: Die Tatsache […], dass sich die Schweiz heute den Luxus einer Regierungspartei erlaubt, die ein generelles Minarett-Verbot durchsetzen will und damit eine klare Kulturkampfansage an den Islam macht, zeigt eindrücklich, wie weit sich das helvetische Politikklima von den Zentralwerten des Liberalismus entfernt hat. In den Stammlanden des angelsächsischen Liberalismus, das heißt in England und in den USA, wäre ein Minarett-Verbot noch nicht einmal am äußeren Rand des rechtskonservativen Spektrums zustimmungsfähig.139

Die De-Liberalisierung hat natürlich nicht die gesamte linke oder liberale intellektuelle Elite ergriffen, aber sie ist als Phänomen in vielen europäischen Ländern zu beobachten. Als der französische Philosophielehrer Robert Redeker 2006 den Islam als »Meister des Hasses« bezeichnete und daraufhin Drohungen erhielt, solidarisierten sich linke Pariser Philosophen wie Alain Finkielkraut und André Glucksmann mit ihm.140 Ähnlich wie Alice Schwarzer argumentieren andere Feministinnen wie Hilda Verwey-Jonker in den Niederlanden, Elisabeth Badinter in Frankreich oder Fay Weldon in Großbritannien. Trotz dieser Parallelität ist auffällig, dass die islamophoben Meinungsführer zwar gelegentlich aufeinander Bezug nehmen, darüber hinaus aber nationale Figuren bleiben, die außerhalb ihrer Länder kaum bekannt sind. Autoren wie die italienische Journalistin Oriana Fallaci sind Ausnahmen von der Regel. Anders als bei den akademischen Vordenkern wie Lewis oder Huntington, die weltweit bekannt sind, sind islamophobe Medien-Meinungsführer weitgehend an ihre eigene Sprache und ihr nationales Mediensystem gebunden. Da ihre Stellung nicht auf Expertise, sondern auf geborgtem Medienkapital beruht, das sie sich auf anderen Feldern ebenfalls in nationalen Zusammenhängen erarbeitet haben, sind ihre Ansichten, die wenig originell sind, auch nicht exportierbar. Sie werden von Publizisten in den jeweiligen Landeskontexten reproduziert. Dies ist selbst bei islamophoben Meinungsführern in den Vereinigten Staaten wie Steven Emerson oder Daniel Pipes nicht anders, deren Thesen vom islamischen

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Jihadismus als neuem Kommunismus usw., unterstützt durch neokonservative Netze, starke Verbreitung finden (Youmans 2004, S. 121, 124), die jedoch in Europa allenfalls in rechten Internetforen bekannt sind. Was aber sind die Ursachen dieser De-Liberalisierung europäischer Meinungsführer? Zwar gibt es gelegentliche Berührungen zum organisierten Rechtspopulismus, doch der Hauptgrund liegt wohl eher in der schwierigen Symbiose zwischen Intellektualismus und Wissen in der modernen Wissensgesellschaft. Während sich die differenzierenden Botschaften der Wissenschaft nur schlecht publizistisch vermarkten lassen, haben Massenmedien und gesellschaftskritische Eliten, die früher vielfach ein gespanntes Verhältnis zueinander hatten, ihren Frieden zugunsten beider Seiten geschlossen. Beide Parteien benötigen ein möglichst großes Publikum, um ihre Produkte abzusetzen, was bei der demoskopisch messbaren verbreiteten Islamophobie in Europa die Gewichte fast zwangsläufig in diese Richtung verschiebt. Mehrheitsgesellschaft, Meinungsführer und Massenmedien bilden ein in Wechselwirkung stehendes Dreigestirn. Die mediatisierte Wissensgesellschaft besitzt eine konservative, wenn nicht gar reaktionäre Grundtendenz. Dass die europäischen Gesellschaften keine tabuisierenden Normen bereithalten, um den neuen Rassismus zu unterbinden, ist letztlich ein kommunikationsethisches Problem, dessen Ursachen nicht nur bei den individuellen Meinungsführern, sondern auch im Journalismus und in der Gesamtgesellschaft zu suchen sind. Trotz aller Auseinandersetzung mit den Islamkritikern wird mit diesen nämlich sehr viel milder umgegangen als mit Menschen in ähnlichen Positionen, die antisemitische Meinungen kundtun. Die vorhandene Kritik hat selten zu einer Isolation der Medien-Meinungsführer geführt. So skeptisch manche alte Weggefährten sich auch äußern mögen, wirkt deren Reputation noch immer nach. Mehr noch, sie werden weiterhin von einer Gesellschaft prämiert, die sie immer mehr in ihre »Mitte« aufnimmt. Henryk M. Broder etwa erhielt 2007 in der Frankfurter Paulskirche den Ludwig-Börne-Preis verliehen, einen der bedeutendsten deutschen Preise – eine Entscheidung, die nicht nur vom deutsch-französischen Publizisten und Friedenspreisträger Alfred Grosser kritisiert wurde. Verschiebungen der öffentlichen Meinung von links nach rechts und Verschiebungen in den Wissensgesellschaften in Richtung Mediatisierung und Boulevardisierung gehen also Hand in Hand, so dass die Wissenschaft in der Öffentlichkeit weitgehend marginalisiert wird und gesellschaftskritische Intellektuelle als korrigierende Kraft im ethischen Gefüge der Gesellschaft nahezu wirkungslos bleiben. Zwar gibt es in jüngeren Jahren auch publizistische Stimmen aus dem inneren des Mediensystems, die über den Umweg des Buchmarktes auf ein ausgewogenes Islambild drängen (vgl. Kap. III.1). Diese Persönlichkeiten verfügen jedoch bei Weitem nicht über den Bekanntheitsgrad, die Präsenz und den meinungsführenden Einfluss der Islamkritiker. Sie mögen die »eigentlichen«, die »neuen Liberalen« Europas sein,

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sie sind bestrebt, die liberale Gesellschaft in Deutschland und Europa »neu zu erfinden« (Sezgin 2011) – ihre gesellschaftliche Wirkung in der mediatisierten Wissensgesellschaft aber bleibt begrenzt. Es gibt noch andere mögliche Ursachen der De-Liberalisierung öffentlicher Meinungsführer in Europa, die weniger das System der Wissensgesellschaft in den Vordergrund rücken, sondern ideologiekritisch oder psychologisch argumentieren. Daniel Bax erklärt das Phänomen mit internen Problemen des linken Intellektualismus, der sich zu wenig mit seiner oft extremen Denkart auseinandergesetzt habe.141 In einer Art »radical chic« wechseln demnach linke Intellektuelle vielfach in ebenso radikale rechte Gefilde. Die Ideen und Werte scheinen hier oft austauschbar – was bleibt, ist ein extremer Argumentationsstil und eine gewisse »Krawalllust«. Eine biographische Interpretation könnte zu dem Schluss kommen, dass Personen, die einen Beitrag zur Sicherung bestimmter Freiheitsrechte geleistet haben, häufig dazu neigen, diese in fortgeschrittenem Alter nicht mehr hinterfragt sehen zu wollen. Aspekte wie Frauenemanzipation und Israeltreue sollen bei aller scheinbaren Identifikation mit dem Konzept der Meinungsfreiheit und der deliberativen Öffentlichkeit nicht zur Debatte gestellt werden, sondern gelten als konsensual, was natürlich prinzipiell mit der Idee der liberalen Gesellschaft nicht vereinbar ist, weswegen die Muslime auch als Feinde dieser Gesellschaft stigmatisiert und ausgegrenzt werden müssen. Der anti-aufklärerische Duktus der islamophoben Meinungsführer wäre aus dieser Sicht weniger das Resultat kommerzieller Interessen mit beliebigen Botschaften, sondern es ginge vielmehr um den Versuch einer neoautoritären Absicherung von Weltbildern, die offensichtlich höher bewertet werden als die Tugenden der liberalen Demokratie. Ob durchgehender autoritärer Denkstil oder reaktionärer biographischer Bruch: All diese persönlichen Motive von Meinungsführern und Intellektuellen sind bisher noch nicht empirisch untersucht worden und bleiben daher spekulativ. Am Ende aber landet man auch im Wege der Analyse öffentlicher Meinungsführer und Intellektueller bei Erkenntnissen der Rassismusforschung. Die Hauptprobleme der publizistischen Islamophobie sind der fehlende gesellschaftliche Wertekonsens, die mangelnde Kenntnis und ideologische Deformation der sogenannten »Bildungseliten« mit Blick auf den Islam sowie die hegemoniale Verstärkungswirkung der Medien. Entwicklungen der Wissensgesellschaft sind insofern von politischer Brisanz, als sie das ohnehin labile Gleichgewicht zwischen sich langsam liberalisierenden politischen Systemen und in hohem Maße intoleranten Gesellschaften gefährden. Die Wissenschaft wird – mit Ausnahme von durch Krisen ausgelösten Debatten – als Expertensystem in der Öffentlichkeit weitgehend marginalisiert. Akademiker haben ebenso wenig wie die liberalen Gegeneliten und alternativen Meinungsführer (Kap. II.1) die in den letzten Jahrzehnten erfolgte ständige Verhärtung des europäischen Islambildes verhindern können. Die Kräftekonstellationen für einen liberalen

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Kulturwandel scheinen ungünstig zu sein. Muslime haben von der Medienund Wissensgesellschaft nur sehr begrenzt profitiert. Die Orientalismusdebatte hat in der Wissenschaft Spuren hinterlassen, aber die mediengesteuerten intellektuellen Märkte funktionieren, egal ob in weiten Teilen der Massenmedien oder im Internet, nach den Prinzipien der Hegemonie und der »Schwarmintelligenz«. Es fehlen Mechanismen der Qualitätssicherung von Expertise und nicht-kommerzielle Initiativen zur Bestandssicherung der Medien, die den populistischen Druck im kommerziellen Mediensystem verringern.

2. S CHULE – D IE P ÄDAGOGIK DER (ZÖGERLICHEN) A NERKENNUNG DES I SL AMS Die Schule besitzt im Kontext des liberalen Gesellschaftsdenkens einen ganz besonderen Stellenwert. Während der Staat das politische System steuert und die Gesellschaft auf Individuen, Gruppen und Organisationen mit je eigenen Interessen besteht, sind die Medien das kommunikative Band zwischen diesen Kräften. »System«, »Handlung«, »Kommunikation« – mit Wissenschaft und Schule aber kommen neue Paradigmen ins Spiel, nämlich »Wissen« und »Werte«. Die Schule ist wie die Wissenschaft eine Institution des Wissens, allerdings geht es ihr maßgeblich auch um Werte, die im Zuge der schulischen Sozialisation vermittelt und erlernt werden sollen. Die Schule übernimmt hier eine ganz wesentliche Aufgabe, denn ohne einen gewissen Wertekonsens kann eine Gesellschaft selbst bei optimaler Funktion aller anderen Teilsysteme nicht überleben. Welche Werte für die liberale Gesellschaft wichtig sind, lässt sich aus der Gesamtbetrachtung des Buches ableiten: Mit Blick auf das politische System muss die Schule die Werte des Rechtsstaates, der zivilen politischen Kultur und der Demokratie vermitteln. Die Leistungen für die bürgerliche Gesellschaft orientieren sich an minimalen Anforderungen der Integration (sprachliche Verständigung und ökonomische Solidarität) und der Anerkennung (Respekt vor der Freiheit und der Andersartigkeit des Individuums und der Gruppe). Die Schule hat eben nicht nur die Aufgabe, Menschen durch Qualifizierung zu leistungsbereiten Mitgliedern einer Gesellschaft zu machen, sondern sie vermittelt auch Werte des Zusammenlebens wie den Antirassismus und die religiös-kulturelle Toleranz, die wir, mit Rainer Forst, als eine Mischung aus »Respektierung« und »Zurückweisung« bezeichnet haben (Kap. II.1). Kulturelle Differenz braucht Freiräume zur Entfaltung, stößt aber auch an rechtliche Grenzen. Der multikulturelle Liberalismus ist im Spannungsfeld zwischen Kulturrelativismus und Universalismus zu verorten, und es bedarf eines oft konfliktreichen gesellschaftlichen Dialogs, um die Probleme zu lösen.

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»Multikulturelle« oder »interkulturelle Pädagogik« besteht also aus mehreren Ebenen, man könnte grob zwischen einer »Pädagogik der Anerkennung« und einer »Pädagogik der Integration« unterscheiden, wobei wir uns im Folgenden mit dem ersten Bereich beschäftigen wollen. Integrationsaufgaben haben in den europäischen Ländern gerade unter dem Stichwort »PISA« (Programm zur internationalen Schülerbewertung), regelmäßigen ländervergleichenden Studien zu Kernkompetenzen wie Lesefähigkeit oder mathematisch-naturwissenschaftlichem Denken, bereits eine enorme öffentliche Beachtung erfahren; die »Pädagogik der Anerkennung« wird weitaus weniger beachtet. Wenn aber Integration nicht die Lösung der Probleme des Rassismus ist, wie wir im Verlauf unserer Analyse festgestellt haben (Kap. II.1), dann bleibt der Antirassismus eine der zentralen Aufgaben der Schule der Zukunft. Erinnert man sich an die unterschiedlichen Ursachen für Rassismus, dann ist die Schule vielleicht der zentrale Ort zum Erlernen antirassistischer Werte. Hier können rassistische Ideologien des Elternhauses und der primären Sozialisation korrigiert werden; die Traditionen des Weltbildes werden durch die Heranführung an Literatur und Wissensbestände vermittelt und kritisch reflektiert; persönliche interkulturelle Kontakte im Sinne der »Kontakthypothese« entstehen oft erstmals im Leben eines Menschen; Schulkinder sind, trotz aller Betroffenheit durch das Elternhaus, noch relativ frei von ökonomischen Krisen; und schließlich ist die Schule ein Raum, in dem Fairness in der Gruppe eingeübt, die »autoritäre Persönlichkeit« bekämpft und alle Formen der Diskriminierung aufgedeckt werden können. Fraglich aber ist, ob all dies schon ausreicht. Wolfgang Nieke hat darauf hingewiesen, dass antirassistische Erziehung den Aspekt der Feindseligkeit von Mehrheiten gegenüber Minderheiten betont, sie übt Kritik an Hegemonie, Ausgrenzung und Gewalt. Sie bleibt aber, ähnlich wie der »Antifaschismus« der früheren Ostblockstaaten, appellativ und liefert lediglich humanistische Motive, die nicht verdeutlichen, warum eine Bekämpfung von Rassismus auch im Eigeninteresse der Mehrheit ist (Nieke 2008, S.  29). Auf alle denkbaren Definitionen von »Rasse« und religiöser Fremdheit werde nur missbilligend reagiert. Nieke plädiert daher für einen weiteren Begriff von »interkultureller Erziehung«, wobei Antirassismus zwar eine wichtige Rolle spielt, aber verbunden wird mit positiven Werten der kulturellen Vielfalt. Solche Ansätze lassen sich sowohl durch die positive Anerkennung von Differenz als auch durch die Herausarbeitung transkultureller Gemeinsamkeiten finden (vgl. »verkennende Anerkennung« nach Bedorf, Kap. II.1). Es geht also bei der Pädagogik der Anerkennung um eine komplexe Sicht des »Anderen« (1) in seinen Beziehungen zum »Eigenen« (2). Die Schule sollte Aufklärung über Minderheiten, aber auch Reflexionen über den Austausch zwischen Minderheit und Mehrheit anbieten. Die Pädagogik der Anerkennung zielt nicht, wie die Pädagogik der Integration, auf die Erziehung der Minderheit und sie ist auch nicht, wie die antirassistische

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Erziehung, ein Ansatz zur Umerziehung der Mehrheiten, sondern sie ist die Lehre des Kennenlernens, der Beziehungen, des Dialogs und der gemeinsamen kulturellen Neuverortung. Alfred Holzbrecher: Die Anerkennung des Fremden wird zur zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderung und damit zur pädagogischen Entwicklungsaufgabe. Aus soziologischer Sicht lässt sich fragen: Wie weit kann eine Gesellschaft, eine Gruppe bzw. eine Person in der Anerkennung differenter Verhaltensnormen gehen, ohne die Substanz des eigenen Wertesystems infrage zu stellen […]. Die Interkulturelle Pädagogik erweitert diesen Fragehorizont: Ihr geht es nicht nur darum, das Allgemeinbildungskonzept der staatlichen Institution Schule zu bewahren, sondern es auch ›vom anderen‹ her infrage stellen zu lassen: Welche monokulturellen Traditionen und Lehrinhalte können wir ins Museum stellen, weil sie nicht mehr zeitgemäß sind? Inwiefern könnte eine Anerkennung des Fremden zu einem geschärften Blick auf ›das Eigene‹ führen und zu einer (Weiter-)Entwicklung gemeinsamer Wertehaltungen? (Holzbrecher 2007, S. 168f.)

Was hier nur angedeutet wird, wird vor allem in den britischen Postcolonial Studies als scharfe Kritik am Monokulturalismus und Eurozentrismus westlicher Bildungssysteme formuliert. Bhikhu Parekh etwa bemängelt die vorherrschende westliche Erziehung, weil sie jede Neugier auf außereuropäische Kulturen abtöte und Kindern im Namen des westlichen Liberalismus letztlich Werte der Intoleranz einimpfe. Das Erziehungssystem in Europa wie andernorts in westlichen Industriestaaten macht er mitverantwortlich für den nach wie vor bestehenden Rassismus: Basically, multicultural education is a critique of the Eurocentric and in that sense monocultural content and ethos of much of the prevailing system of education. Eurocentrism asserts the following two theses. First, modern, that is post-twentieth century, European civilization represents the highest form of life reached by humankind so far and provides the standards by which to judge all others. Second, it attained its glory unaided by, and owes little if anything to, non-European civilizations. Its formative influences are taken to be three, all European. Its intellectual and political foundations were laid by classical Athens and Rome, both presumed to be European. Its moral and religious foundations were laid by Christianity which, although non-European in origin, was radically reshaped in the light of the Greco-Roman heritage and became a progressive force only after it had undergone much cultural filtering at European lands. Its third major source was the rise of individualism, secularism, science, technology and so on, all assumed to be unique achievements of modern Europe and based on its pre-modern heritage. (Parekh 2000, S. 225)

Multikulturelle Erziehung hingegen erhebt nicht nur den Anspruch, ein paar Integrationskompetenzen der Einwanderer zu stärken. Minderheiten und

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Mehrheiten sollen gemeinsam neue Wege gehen, um die gegenseitige Anerkennung und damit die Stabilität der Gesellschaft und ihre Weiterentwicklung zu sichern. Es geht nicht nur um einen Schutz vor Rassismus, sondern um eine Zukunft durch kulturelle Erneuerung. Provokativ formuliert: Was bleibt einem kriselnden Europa, dessen demographisches Gewicht im Weltvergleich immer mehr abnimmt und das sich um seine Zukunft angesichts boomender Wirtschaften in Asien und Lateinamerika Sorgen machen muss, als sich kulturell anzupassen (Miegel 2005; Sandschneider 2011)? Was kann ihm Besseres passieren als eine Schülerschaft und eine Jugend, die jeweils ein festes Bein in Europa und in einem außereuropäischen Land hat? Sprache, Kulturen und Religionen dieser Welt allerdings führen in den europäischen Erziehungssystemen seit jeher eine Randexistenz. Deshalb wird es erforderlich sein, umzulernen und das als Chance zu verstehen, was bis heute viel zu oft lediglich als Problem verstanden wird. Forderungen nach einer Abkehr vom Eurozentrismus und einer echten kulturellen Anerkennung, die sich auch in Lehrplänen niederschlägt, sind nicht neu und haben sich in der Vergangenheit etwa in den USA mit ihrer langen Erfahrung als Einwanderungsland als umkämpftes Terrain entpuppt (Banks 2002, S. 27ff.). Programmatisch wird dort multikulturelle Erziehung zwar bereits seit Langem als antirassistische Erziehung verstanden (Fullinwider 1996, S. 4f.). Die positive Anerkennung der Werte anderer Kulturen aber beschränkte sich oft auf internationale Küche in der Schulmensa anstelle einer konsequenten Überarbeitung von Lehrplänen und Curricula, wie Bob Reich lakonisch anmerkt (Reich 2002, S.  1f., 19ff.). Schulische Hegemonialkämpfe zwischen Protestanten und Katholiken führten noch im 19. Jahrhundert zu blutigen Straßenschlachten zum Beispiel in Philadelphia (»Bible riots«) und die National Teacher Association förderte noch Jahrzehnte später die Dominanz der Protestanten im staatlichen Schulwesen. Gerade deutsche Einwanderer wollten, dass ihre Kinder auf Deutsch unterrichtet werden, ganze Schulen, beispielsweise in Oregon, lehrten auf Deutsch und es entbrannte ein Streit um bilingualen Schulunterricht. Erst mit dem Ersten Weltkrieg und wachsenden Germanophobie in den USA wurde Deutsch an Schulen verboten. Anders als bei den Katholiken brach der deutsche Widerstand schnell zusammen – was wieder einmal belegt, dass gerade religiösen Unterschieden und den damit verbundenen Diskriminierungen mit einer reinen Integrationspolitik nicht beizukommen ist. Jahrhundertelang unterlag das amerikanische Schulsystem einem starken Anglisierungs- und Amerikanisierungsdruck (Reich 2002, S. 24ff.). Schulen wurden geradezu feindlich gegenüber Einwandererkulturen, Assimilation bestimmte den Zeitgeist und nur wenige Intellektuelle wie der Pragmatiker und Öffentlichkeitstheoretiker John Dewey äußerten sich positiv über kulturellen Pluralismus, der lange als »Bindestrich-Amerikanismus« (»hyphenated Americanism«) beschimpft und verspottet wurde. Die herrschende Ideologie vom amerikanischen

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»Schmelztiegel« war und ist also in Wahrheit intolerant, auf weitgehende Integration ausgerichtet und die Integrationsmaßstäbe werden vom anglo-amerikanisch-protestantischen Bevölkerungsteil festgelegt. Ethnische und religiöse Unterschiede haben im Privaten überlebt – für den Staat waren sie nichts als folkloristische Überbleibsel. Bob Reich folgert daraus, dass Forderungen des Liberalismus nach kultureller Autonomie des Bürgers und weltanschaulicher Neutralität des Staates im Schulwesen vielfach Illusion geblieben sind. Was in der Theorie erstrebenswert erscheint – Pluralismus, Vielfalt –, weicht in der Schulpraxis oft einer monokulturellen Hegemonie. Die Herkunftskulturen amerikanischer Einwanderer bleiben unberücksichtigt, auch wenn es, so Reich, nicht die Aufgabe von Schulen sein könne, kulturelle Muster bloß zu reproduzieren (Reich 2002, S. 41, 116). Auch in Europa hat Kritik an multikulturellen Defiziten des Schulwesens zugenommen (Auernheimer 2003, 2010; Leiprecht/Kerber 2006; Schiffauer et al. 2002). Die Ursachen für das häufige Scheitern der Einwandererkinder sind demnach nicht nur bei Bildungsdefiziten der Migranten und der Struktur der Bildungsselektion bzw. mangelnden Integrationsförderung zu suchen, sondern auch beim monokulturellen Habitus der Schule, in der vielfach weder die Sprachen der Einwanderer noch deren kulturelles Wissen wertgeschätzt werden. Einwandererkindern wird dadurch kein symbolischer Raum zur Selbstverortung geboten, obwohl Integration und Anerkennung eng zusammenhängen. Gestützt werden solche Klagen auch von Teilen der Politik. Der Europarat hat seit den 1970er Jahren wiederholt Erklärungen herausgegeben, in denen die Bedeutung multikultureller Bildung betont worden ist (Portera 2011, S.  23ff.). In Deutschland hat die Kultusministerkonferenz 1996 die Empfehlung »Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule« verabschiedet, in der interkulturelle Erziehung als »Querschnittsaufgabe« der Fächer bezeichnet wird. Die Frage, wie diese Aufgabe realisiert werden soll, wurde allerdings nicht konkretisiert, da dies im Aufgabenbereich der einzelnen Bundesländer liegt. Immerhin wurden die Bundesländer aber aufgefordert, ihre Lehrpläne und Rahmenrichtlinien »unter dem Aspekt eines interkulturellen Perspektivenwechsels« zu überprüfen. Inwieweit die Beschlüsse umgesetzt worden sind, dazu existieren in der pädagogischen Fachwelt geradezu konträre Meinungen. Manche Experten sehen die multikulturelle Reform in vollem Gange, andere hingegen halten die Reformen für unzureichend und oberflächlich. Wilfried Stölting etwa spricht von einem »sich zurzeit vollziehende[n] Umbau (Paradigmenwechsel) weg von der nationalcurricularen Verfasstheit des Schulwesens« (Stölting 2006, S. 244). Christina Allemann-Ghionda geht davon aus, dass die neueren deutschen Lehrpläne eine respektable Grundlage für die multikulturelle Erziehung darstellen, wobei sie allerdings bemängelt, dass eine Kluft zwischen symbolischer Politik einer neoassimilatorischen Schulpraxis bestehe, in der weder die Sprache

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noch die Kultur der Einwanderer Berücksichtigung finde und Migranten insofern nach wie vor diskriminiert würden (Allemann-Ghionda 2011, S. 50, 58). Marianne Krüger-Potratz moniert in gleicher Weise: »Die (monolinguale und monokulturelle) Schule ist in ihrem Kern unverändert geblieben« (Krüger-Potratz 2006, S. 75). Es bedürfe noch immer einer grundlegenden Überprüfung der Curricula, der Didaktik, der Förderangebote und der Personalentwicklung. Andere Autoren wie Hanna Kiper sprechen von prinzipieller Offenheit des deutschen Schulsystems für multikulturelle Fragen, bemängeln aber den zu geringen Anteil der antirassistischen Erziehung, was gerade in Deutschland erstaunlich anmute. Antirassistische Inhalte würden vielfach an den Rand der Lehrplanentwicklung in Projekte abgedrängt, was zeige, dass sie nicht als Querschnittsaufgabe aller Fächer verstanden würden (Kiper 2006, S. 314; vgl. a. Leiprecht 2006). Wieder andere Autoren schließen sich der Klage über eine unzureichende antirassistische Erziehung an, verweisen aber positiv auf eben jene Projekte und Initiativen wie »Schule ohne Rassismus«, eine Initiative, der sich in Deutschland bereits über dreihundert Schulen angeschlossen haben (Luchtenberg 2009, S.  465, 467f.). Kritik an der mangelnden Beschäftigung mit Rassismus in Schulen ist auch aus anderen europäischen Ländern zu vernehmen, etwa aus Großbritannien (Starkey/Osler 2009, S.  354). Hier macht sich das Bestreben bemerkbar, nicht nur Lektionen wie den historischen Holocaust, sondern auch zeitgenössische und aktuelle Fragen wie Antisemitismus, Sinti- und Romafeindlichkeit und Islamophobie in Zeiten des medialen Alltagsrassismus und eines sich in Europa ausbreitenden Rechtspopulismus intensiver in Schulen zu behandeln. Die sehr unterschiedlichen Sichtweisen auf das Problem der Umsetzung von Erziehungsvorgaben haben auch mit den unklaren Konzepten der multikulturellen Pädagogik und der Pädagogik der Anerkennung zu tun. Dass diese sich nicht auf antirassistische Erziehung beschränken kann, haben wir oben bereits festgestellt. Der Erziehungswissenschaftler Bob Reich greift, ähnlich wie der Philosoph der multikulturellen Anerkennung, Charles Taylor, auf Hans-Georg Gadamers Hermeneutik zurück, wobei die Verschmelzung von Deutungshorizonten und die Öffnung für die potenziellen Wahrheiten des Anderen von zentraler Bedeutung sind (Reich 2002, S. 184ff.). Es geht also sowohl um das Kennenlernen des scheinbar »Fremden« als auch um das Verstehen der Geschichte und der Gegenwart der Beziehungen zum Anderen. Die Eckpunkte einer Hermeneutik der pädagogischen Anerkennung lassen sich in Anlehnung an dieses Verständnis wie folgt beschreiben: • komparativ – Ein wesentlicher Bestandteil multikultureller Erziehung ist die Vermittlung von Wissen über politische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der außereuropäischen Welt. Im Vordergrund steht der Kulturvergleich. Die komparative Systematik stellt eine große Herausforderung dar,

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da zum Verstehen »entfernter« Prozesse ein Kontextwissen erforderlich ist, das nur durch einen systematischen und aufwendigen Umbau von Lehrplänen in Richtung eines Vergleichs von lokaler Geschichte (»Weltgeschichte«), Politik, Wirtschaft usw. erfolgen kann. • international – Für die multikulturelle Erziehung ist nicht nur ein Vergleich stationärer Kulturen wichtig, sondern auch die Erforschung von weiträumigen Interaktionen zwischen Staaten und anderen Akteuren unterschiedlicher kultureller Herkunft. Dietmar Rothermund hat die beiden Komponenten für die Geschichtswissenschaft in der Unterscheidung zwischen »Globalgeschichte« und »Geschichte der Globalisierung« zum Ausdruck gebracht, wobei erstere – im Sinne des Kulturvergleichs – eine umfassende Geschichte der Menschheit anstrebt, letztere aber die Beziehungen zwischen Gemeinschaften, Gesellschaften und Staaten thematisiert (Rothermund 2005). Sprachlich wäre wohl die Einteilung in »Weltgeschichte« und »Globalisierungsgeschichte« deutlicher. • intraregional – Beide Prozesse, eigenständige Entwicklungen von Gruppen und Beziehungen zwischen den Gruppen, spielen sich nicht nur über große Distanzen, sondern auch auf engstem Raum ab. Migrantengruppen bilden oft »Parallelgesellschaften«, die aber, wie wir bereits festgestellt haben, selten vollständig abgeschottet sind, so dass auch Interaktionen zwischen Mehrheiten und Minderheiten einen wesentlichen Teil gesellschaftlicher Entwicklungen darstellen (Kap. II.2). Im intraregionalen Vergleich spielen nicht nur soziale Schichten, Organisationen und Institutionen eine bedeutsame Rolle, sondern auch Gruppen oder Gemeinschaften der »Diaspora« und deren Beziehungen zu autochthonen Gruppen. Zu fragen ist nicht nur, ob alle Elemente dieser interkulturellen Hermeneutik in der multikulturellen Theorie der Pädagogik als gleichrangig betrachtet werden, sondern auch, ob sie über bildungspolitische und curriculare Vorgaben effektiv in der Schulpraxis ankommen. Multikulturelle Erziehung hat sehr viele Ebenen, was eine Bewertung schulischer Entwicklungen so schwer macht, denn Entwicklungen auf diesen Ebenen müssen keineswegs parallel verlaufen und unterliegen ganz unterschiedlichen staatlichen, wissenschaftlichen, bürokratischen und professionellen Einflüssen. Als Orientierung können die »multikulturellen Maßstäbe« (multicultural benchmarks) von James A. Banks gelten, der folgende Bereiche unterscheidet: Bildungspolitik, Lehrerschaft, Curricula, Schulbücher und Lehrmaterialien sowie Kooperation mit dem Elternhaus (Banks 2002, S. 112ff.). Zu ergänzen wäre noch die Erziehungswissenschaft als Fachdisziplin, die über ihre Forschung und Lehrerausbildung Einfluss auf die Schule nimmt. Es ist ganz klar und muss auch mit aller Deutlichkeit formuliert werden: Die Praxis der schulischen Erziehung erzeugt eine kaum überschaubare Vielge-

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staltigkeit. Ein einzelner engagierter Lehrer kann einen enormen Unterschied bewirken. Der Zustand der multikulturellen Schulbildung in Europa lässt sich also beim derzeitigen Forschungsstand, der, anders als im Bereich der öffentlichen Meinung, kaum systematische empirische Befragungen (von Lehrern, Schülern usw.) hervorgebracht hat, unmöglich vollständig ermitteln. Allerdings genießen Lehrer, anders als Wissenschaftler, keine absolute Lehrfreiheit, sondern erhalten Vorgaben von der Politik, der Bürokratie und den pädagogischen Zentraleinrichtungen und in diesen Bereichen ist der Forschungsstand heute wesentlich solider. Curricula und Schulbücher sind ein bedeutsamer Teilbereich der Pädagogik der Anerkennung, auf den sich die weitere Untersuchung beschränken wird. Der größte Teil der Literatur über multikulturelle Erziehung bleibt bei der Frage der Lehrplangestaltung sehr vage. Reich etwa wendet sich lediglich gegen eine »kultur-kongruente« Pädagogik und setzt sich für ein hermeneutischdialogisches Konzept ein (Reich 2002, S. 174). Banks macht eine bedeutsame Unterscheidung zwischen »Infusionen« und »Transformationen« des Lehrplans. Multikulturelle Infusionen sind solche, bei denen Schülern sehr selektiv Entwicklungen der außereuropäischen Welt vor allem unter dem Aspekt der Relevanz für den Westen und die Beziehungen zum Westen vermittelt werden, Transformationen hingegen beabsichtigen einen echten Perspektivenwechsel von der mono- zur multikulturellen Betrachtung (Banks 2002, S. 21ff.). So würde aus Kolumbus’ Entdeckung Amerikas eine Geschichte der Kulturbegegnung. Die eurozentrische Weltsicht (»Europa entdeckt die Welt«) würde durch eine vergleichende und interaktive Betrachtung abgelöst, die unterschiedliche Welterfahrungen einbezöge. Ein weiteres Beispiel: Die Grenzmarkierungen zwischen »Europa« und dem Rest der Welt sind in vielerlei Hinsicht ideologisch und durch Herrschaftseinflüsse geprägt, die bis heute nachwirken. Ebenso wenig wie das antike Griechenland nur »europäisch« war – dafür gab es zu viele asiatische und afrikanische Einflüsse –, sind die Grenzen Europas eindeutig, so dass sich »europäische Geschichte« in Wahrheit in anderen Dimensionen – zum Beispiel einer gemeinsamen Mittelmeergeschichte – auflösen lässt. Auch in der neueren Pädagogik ist dies aber keineswegs durchweg anerkannt. Der Zugriff auf außereuropäische Kulturräume bleibt vielfach sporadisch und episodisch. In der »transkulturellen Landeskunde« ist von der »situative[n] und thematische[n]« Integration außereuropäischen Wissens die Rede oder sogar davon, dass für die Auswahl der Stoffe der subjektive Hintergrund des Lernenden wichtig sei (Wormer 2007, S.  52, 54). Hier wird also anstelle eines transformatorischen und systematischen Umbaus von Lehrplänen für eine eher vorsichtige Öffnung plädiert. Natürlich kann man auf diesem Weg kulturelle Sensibilität fördern und ein begrenztes Wissen über außereuropäische Kulturen und ihre internationalen und intraregionalen Wechselwirkungen erzeugen. Aber reicht das aus? Wer entscheidet, was ausgewählt wird und

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nach welchen Gesichtspunkten: nach denen der europäischen Lernenden oder nach wissenschaftlichen Einsichten des Funktionierens des Anderen? Wie können wir Vergleichskategorien entwickeln, wenn die einzige Systematik, die wir haben, die europäische, westliche und abendländische ist? Erstaunlicherweise waren die Kreuzzüge aus der Perspektive des mittelalterlichen Orients oft eher Randerscheinungen. Probleme dieser Art werden in der Literatur nur selten erörtert. Die großen Fragen einer multikulturellen Lehrplanreform bleiben Nebenschauplätze aktueller pädagogischer und bildungspolitischer Debatten. Hier deutet sich ein ähnlicher Mechanismus wie im Bereich der Reform stereotyper Medienbilder an: Der Staat zeigt durchaus ein zunehmendes Bewusstsein für die Probleme, seine Lösungen bleiben aber vielfach projekthaft, vereinzelt, disparat. Wie im deutschen Nationalen Integrationsplan unter Medienreform vor allem sehr begrenzte Ziele der Herstellung von Best-Practice-Filmen und -Serien formuliert werden, während eine Reform des Gesamtprogramms etwa der öffentlich-rechtlichen Medien nicht einmal erwähnt wird, so hat auch die europäische Bildungspolitik bislang im Wesentlichen Curriculums-Inseln eingerichtet und besondere Lehrmaterialien zum Beispiel im Zuge des Lernschwerpunkts »Globales Lernen« (s.u.) erstellt, aber keine umfassende Reform der eurozentrischen Fachlehrpläne und Fachschulbücher in Angriff genommen. Das Hauptargument gegen eine umfassende Reform ist die vermeintlich größere Relevanz von Nah- gegenüber Fernwissen. Selbst ein postkolonialer Kritiker wie Bhikhu Parekh wünscht sich einerseits eine gesteigerte Sensibilität europäischer Schüler für die Welt, andererseits aber betont er die Bedeutung des westlichen Curriculums (Parekh 2000, S. 228) – also doch kein radikaler Umbau zur globalen Wissensgesellschaft? Es ist wichtig zu verstehen, dass bei den begrenzten Lernzeiten in der Schule und den ständig wachsenden Anforderungen, die ja von allen Seiten insbesondere mit Blick auf mathematisch-naturwissenschaftliches und sprachliches Verstehen gestellt werden, eine weitere Belastung europäischer Schulen mit Reformen schnell zur inhaltlichen Desorientierung und zum kulturellen Kollaps führen kann. Über Jahrhunderte entwickelte Curricula, und mögen sie noch so eurozentrisch sein, besitzen oft eine narrative Stringenz, die nicht über Nacht einem Flickenteppich aus vorgeblich multikulturellem Wissen weichen darf. Dennoch ist interessant zu sehen, dass gerade die PISA-Kriterien den Bereich der geistes- und sozialwissenschaftlichen oder gar der multikulturellen Kompetenz im Sinne einer Pädagogik der Anerkennung überhaupt nicht berücksichtigen; PISA interessiert sich allenfalls für Integrationsfragen und Lesekompetenz von Einwanderern.142 Wer die These von der Überfrachtung mit Lerninhalten für berechtigt hält und zumindest kurzfristig keine multikulturelle Gesamtreform im Sinne des Banks’schen transformatorischen Perspektivenwechsels für machbar hält, der wird allerdings einräumen müssen, dass die multikulturelle Erziehung in

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einem Dilemma steckt: Sie kann die Hegemonie des Eurozentrismus nicht beseitigen, Wissen über die außereuropäische Welt bleibt fragmentarisch, zugleich aber muss sie an dieser Perspektive festhalten, denn nur eine fundierte Kenntnis über den Anderen bietet Chancen zum hermeneutischen Verstehen der Beziehungen zwischen dem Eigenen und dem Anderen und zum Abbau von Feindbildern und rassistischen Denkmustern, die eine durchaus reale gesellschaftliche Bedrohung darstellen. Die Grenzen der Anerkennungsfähigkeit liegen offensichtlich nicht nur in den im Rechtsstaat festgeschriebenen universellen Menschenrechten, die den Kulturrelativismus einschränken, sondern sie bestehen auch in der lebens- und zeitökonomischen Begrenztheit des Menschen und seiner zentralen Institutionen wie der Schule, die Probleme haben, den Wissenshorizont derartig zu erweitern, dass er mit den Horizonten anderer Kulturräume verschmilzt und fundierte Urteile im Sinne der Forst’schen Anerkennungsformel von Respektierung und Zurückweisung anderer Kulturen gefällt werden können, denn ohne vertiefte Kenntnisse ist beides nicht möglich und bleibt eine Form der ignoranten Toleranz, die wir in früheren Kapiteln als überholtes Modell gekennzeichnet haben. Rassistische Grenzmarkierungen sind also nicht nur ideologische Deformationen, sondern immer auch Regelfälle der beschränkten Wissensökonomie des Menschen. Der einzige Ausweg aus dem geschilderten Dilemma ist, so paradox das klingen mag, ein echter Bruch mit dem Paradigma der »Aufklärung«. Wer die multikulturelle Transformierbarkeit der Lehrinhalte für begrenzt hält, sich aber zugleich mit den Zielen der multikulturellen und anerkennenden Pädagogik identifiziert, dem bleibt nur die Rückbesinnung auf die Aufgaben der Schule zwischen Wissens- und Wertevermittlung. Vielleicht ist die europäische Schule tatsächlich überfordert damit, außereuropäisches Wissen gleichrangig mit europäischem Wissen zu lehren und vielleicht ist dies letztlich die Aufgabe der Wissenschaft und spezieller Bildungsinstitutionen. Für die Schule aber ist es in dieser Situation wichtig, die Möglichkeiten des Wissens ebenso zu thematisieren wie die Begrenzungen des Wissens. Von entscheidender Bedeutung ist die Etablierung einer Kultur des Nichtwissens (Scheunpflug 2000) und der »Anerkennung von Nicht-Wissen« (Mecheril 2010) – Paradigmen, die wir bereits im Zusammenhang mit der Theorie von Anerkennung und Dialog eingebracht haben, die jedoch auch von Pädagogen befürwortet werden (Kap. II.1). Die Schule kann demnach zwar nicht das gesamte Weltwissen, aber sie kann Werte der kulturellen Anerkennung vermitteln, indem sie die Grenzen der eigenen Aufgeklärtheit und des eigenen Wissens zum Gegenstand macht. Betrachtet man die Geschichte der westlichen Wissenschaft von der außereuropäischen Welt, dann zeigt sich doch, dass die Überzeugtheit vom eigenen Wissensvorsprung und die Annahme der aufgeklärten zivilisatorischen Überlegenheit eng miteinander verbunden waren. Man kann das eine nicht ohne das andere verändern: Ebenso wenig wie man anerkennen kann, was völlig unverstanden bleibt, kann man re-

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spektieren, was man gänzlich zu beherrschen glaubt. Beides – Ignoranz und Arroganz – raubt dem Gegenüber dessen Autonomie und Existenzberechtigung. Zusammenfassend weist die multikulturelle Pädagogik also folgende Elemente auf: • • • •

3 Grundregeln (Kulturrelativismus, Universalismus und Dialog) 2 Funktionsmodi (Integration und Anerkennung, inkl. Antirassismus) 3 Hermeneutiken (komparativ, international und intraregional) 6 Praxisdimensionen (Bildungspolitik, Curricula, Schulbücher und -materialien, Lehrerschaft, Kooperation mit dem Elternhaus und Fachpädagogik) • 3 Reformdimensionen (Infusion, Transformation und die Kultur des NichtWissens). *** Im Folgenden soll erörtert werden, wie Lehrpläne und Schulbücher des europäischen staatlichen Schulsektors mit Blick auf den Islam und die islamische Welt konzipiert sind. Besondere Berücksichtigung findet dabei das Fach Geschichte, zum Teil auch Politik und Gesellschaftskunde, weniger hingegen Erdkunde oder Religionswissenschaft. Der Religionsunterricht ist für die Frage, inwiefern Wissen über die islamische Welt heute als Querschnittsaufgabe der Fächer begriffen wird, zu speziell und wurde zudem schon in früheren Kapiteln besprochen (Kap. I.1). Es kann kein Zweifel an der dynamischen Entwicklung des Fachs vor allem in den 2000er Jahren bestehen, wo vielfach nicht nur ein eigenständiger Islamunterricht eingeführt wurde, sondern auch der gemeinsame Religions- oder Ethikunterricht den Islam als Lernbereich neu entdeckte. Trotz verbleibender Probleme wie der zu starken Konzentration auf einen vermeintlich homogenen sunnitisch gefärbten Einheitsislam ist der Religionsunterricht bei der Islamvermittlung ohne Zweifel im Aufbruch. Englische Untersuchungen haben eine Pluralisierung der Lehrplanung festgestellt, in Deutschland gibt es zahlreiche Ansätze eines gemeinsamen Religionsunterrichts, um nur zwei Länder zu nennen (Thobani 2010, S. 176; Schmid 2010, Lähnemann 1995; Weiße 2008). Wie aber steht es etwa mit der von der deutschen Kultusministerkonferenz geforderten Revision der Lehrpläne anderer Fächer? Im Schwerpunkt »Globales Lernen« sollen zum Beispiel seit einigen Jahren in Deutschland fächerübergreifend Projekte durchgeführt werden, die darauf zielen, Weltwissen und die Anerkennung anderer Kulturen zu fördern. Unter dem Stichwort »Islam« findet sich auf den Bildungsportalen eine Fülle von speziellen Lern- und Unterrichtsmaterialien.143 Allerdings ist die Vermittlung kulturspezifischen Wissens nur ein Bereich von mehreren anderen. »Globales Lernen« verbindet mit Themen wie Umwelt, Nachhaltigkeit, Weltwirtschaft, Frieden und Interkulturalität ganz

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verschiedene und oft sehr allgemeine Probleme des Weltwissens.144 Einzelne Bundesländer haben diese kulturelle Vielfalt und den Antirassismus ins Programm gehoben.145 Der Schwerpunkt »Globales Lernen« ist also durchaus als Ausweis eines gewachsenen Bewusstseins der Bildungspolitik in Deutschland und in anderen europäischen Ländern für die Probleme des Wissens in der außereuropäischen Welt anzusehen. Allerdings bleibt fraglich, inwieweit der neue Schwerpunkt ein Ersatz für eine Revision eurozentrischer Bildungsinhalte in den Lehrplänen der einzelnen Fächer sein kann, da »Globales Lernens« eher als Projektergänzung zum regulären Unterricht zu verstehen ist. Im Sinne des Theoretikers Banks handelt es sich um sehr begrenzte »Infusionen« in sonst weitgehend unangetastete Fachinhalte. Wendet man sich nämlich den einzelnen Schulfächern zu, so gerät das Bild einer dynamischen Lehrplanentwicklung in Richtung multikultureller Lehrinhalte schnell ins Wanken. Bereits in den 1980er Jahren beschäftigten sich Wissenschaftler in Europa beispielsweise mit der Darstellung des Islams im europäischen Geschichtsunterricht. Moniert wurde damals, dass der Islam allenfalls im Zusammenhang mit mittelalterlicher und frühmoderner Expansions- und Kriegspolitik (Kreuzzüge, Eroberung von Byzanz, Türken vor Wien usw.) und mit einer großen geschichtlichen Lücke dann wieder als Objekt der Kolonialmächte (Napoleons Orient-Expedition, Bau des Suezkanals, Nahostkonflikt) in den Geschichtsbüchern auftauchte. Der Leiter des damaligen Projekts, Walter Fürnrohr, beklagte, dass im Geschichtsunterricht »Kampf, Krieg und Gewaltanwendung als beherrschendes Element in der Auseinandersetzung zwischen dem Islam und dem (mehr oder weniger europäischen) Christentum« im Vordergrund stünden und andere Aspekte der euro-orientalischen Beziehungen lediglich im Mittelalter Erwähnung fänden (Fürnrohr 1984, S. 5). Er schlug vor, auch andere Zeitperioden der Oriententwicklung, regionale Unterschiede und spezifische Themen wie die im Islam ausgeprägte Toleranzkultur stärker zu berücksichtigen (vgl. dazu die Diskussion in Kap. I.2). Fast zwanzig Jahre später haben Lisa Kaul-Seidmann, Jørgen S. Nielsen und Markus Vinzent für die deutsche Herbert Quandt-Stiftung eine, wenn auch nicht repräsentative, Untersuchung von Lehrplänen der Fächer Geschichte, Politik, Erdkunde sowie Literatur- und Sprachwissenschaft in neun europäischen Ländern (England, Frankreich, Deutschland, Finnland, Großbritannien, Griechenland, Italien, Spanien und Schweden) durchgeführt – und gelangten noch immer zu ähnlichen Ergebnissen. Gerade in den Fächern Literatur und Sprache werden aus Sicht der Autoren in den europäischen Curricula weder der Islam noch das Judentum hinreichend berücksichtigt (Kaul-Seidmann et al. 2003, S. 11). In der europäischen Geschichte wird demnach Muslimen wenig Aufmerksamkeit gezollt, ihre Behandlung ist, wo sie überhaupt erkennbar wird, »tendenziell stereotyp«, reduziert auf wenige Begriffe wie die »fünf Säulen« des Islams ohne Vertiefung der Lehre, der Geschichte des politischen Islams

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oder regionaler Eigenheiten. Kulturelle Beziehungen zu Europa oder auch die Rolle des Islams in Europa selbst werden, folgt man der Analyse, nur oberflächlich erwähnt, was auch für Blüteperioden wie den mittelalterlichen spanischen Islam gilt. Zeitgeschichtliche Bezüge sind demnach zumeist konfliktorientiert, beschränkt auf die politische und oft sogar auf Gewaltgeschichte. Die islamische Welt steht gemäß der Untersuchung vor einem spiegelverkehrten Problem wie das Judentum, bei dessen Darstellung aus lauter Angst vor Ausgrenzung fast nur Gemeinsamkeiten mit Europa betont werden, während die Eigenständigkeit der Religion, worunter man unter anderem auch religiös begründete Politik bis hin zum jüdischen Fundamentalismus verstehen kann, kaum noch in Erscheinung tritt (Nielsen 2004b, S. 19f.). In den Lehrplänen des Fachs Geschichte taucht der Islam lediglich als ein Rudiment auf: Die Präsenz von Muslimen in Europa wird auf die kurze Zeit der Ausbreitung des Islam, der Kreuzzüge im Mittelalter und des kriegerischen Vordringen des Islam beschränkt, in der die Muslime als ›Aggressoren‹ vorgestellt werden, und auf die Gegenwart, die gleichermaßen unter kämpferischen Vorzeichen steht – und in der die Muslime entweder als Immigranten behandelt und ›integriert‹ werden müssen, oder in der sie als ›Fundamentalisten‹ und ›Terroristen‹ begriffen und ausgegrenzt, wenn nicht gar bekämpft werden. (Kaul-Seidmann et al. 2003, S. 22)

Eine starke Essenzialisierung des Islams und der islamischen Welt und eine Konfliktfixierung in der Beziehungsgeschichte sind gemäß der Untersuchung das Signum europäischer Fachlehrpläne.146 Intraregionale Varianzen und Wechselwirkungen zwischen Europa und der islamischen Welt treten dagegen in den Hintergrund. Vorgeschlagen wird, dass die Beziehung zwischen Islam und Westen »quer durch den Lehrplan und ganzheitlich« Berücksichtigung finden solle, statt lediglich »kleine Stücke aus dem Kontext« zu reißen (Nielsen 2004b, S. 21). Zudem werden Stoffvorschläge in den Bereichen Grundlagen des Islams, kulturelle Vielfalt von Glaubenstraditionen, kulturelle Errungenschaften der Muslime, historische Entwicklungen vom klassischen zum modernen Islam und dessen Alltagspraxis bis hin zur wechselseitigen Beeinflussung in Philosophie und Theologie und der unterschiedlichen Wahrnehmung historischer Ereignisse gemacht (Kaul-Seidmann et al. 2003, S. 46ff.; Nielsen 2004b, S.  22). Die gesamte Studie orientiert sich im Wesentlichen an der Drei-Ebenen-Hermeneutik der multikulturellen Erziehung, wie wir sie im theoretischen Kapitel dargelegt haben, und sie basiert, ohne den Begriff zu erwähnen, auf einem transformatorischen Verständnis der Lehrplanreform, sie ist weniger an einem fragmentarischen Wissenszuwachs als vielmehr an einer ganzheitlichen Berücksichtigung des islamisch-orientalischen Raumes in allen Stadien und Bereichen der jeweiligen Lehrplanung interessiert.

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Wenn wir davon ausgehen, dass gerade in den 2000er Jahren die Vorgaben der europäischen und nationalen Politik multikulturelle Bezüge in schulischen Lehrplänen gestärkt haben müssten, könnten die Ergebnisse der Studie rasch veraltet sein. Da allerdings eine neue Lehrplanevaluation im europäischen Vergleich noch nicht vorliegt, sollen an dieser Stelle einige Lehrpläne deutscher Bundesländer für das Fach Geschichte auf ihre Berücksichtigung des Islams hin untersucht werden. Sind letztlich diejenigen im Recht, die die Entwicklung zum Multikulturalismus im europäischen Schulwesen positiv als einen Bereich betrachten, in dem sich eine große Dynamik vollzieht, oder gewinnen die Skeptiker die Oberhand, die meinen, dass sich ungeachtet des von Bildungspolitikern proklamierten Ziels des Multikulturalismus als Querschnittsaufgabe aller Fächer an den Grundstrukturen der Islambetrachtung wenig verändert hat, dass die euro-islamischen Beziehungen nach wie vor unterbelichtet sind und dass das antirassistische Lernen zu schwach ausgeprägt ist? Die folgende Auswertung deutscher Geschichts-Lehrpläne konzentriert sich auf die Schulform Gymnasium und auf sechs von sechzehn deutschen Bundesländern (Bayern, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Hessen, Thüringen). Nicht immer konnte die aktuellste Planversion berücksichtigt werden. Die Betrachtung ist also nicht repräsentativ, zeigt aber Tendenzen auf. Gesucht wurde nach Derivaten von *islam* bzw. *muslim*, aber auch von verwandten Begriffen wie *arab*, *türk*, *osman*, *oriental*: • Bayern – Der gymnasiale Lehrplan für Geschichte der Klassen 6 bis 13 erwähnt neben Ostrom und den Germanenreichen auch spätantike islamische Reiche und weist auf die kulturelle Bedeutung der islamischen Welt für Europa hin.147 Danach allerdings tauchen Islam und Orient erst wieder im 19./20. Jahrhundert auf, das Osmanische Reich unter der Rubrik »Staatenbildung am Rande Europas«, auch die Arabische Liga und die Islamische Revolution in Iran werden erwähnt. • Berlin – Im Lehrplan für Geschichte der Klassen 7 bis 10 taucht der Begriff Islam nicht einmal beim Mittelalter auf, allerdings werden die Kreuzzüge behandelt, die islamische Welt wird zudem im Kontext des Nahostkonflikts thematisiert.148 Gar kein Hinweis auf die islamisch-orientalische Welt findet sich im vorläufigen Rahmenplan für das Wahlpflichtfach Geschichte der Klassen 9/10 an Gymnasien.149 Im Lehrplan für Politische Weltkunde/Geschichte der gymnasialen Oberstufe wird im europäischen Mittelalter kurz auf »Abendland und Islam – Kontroverse und Symbiose« Bezug genommen, danach taucht die islamische Welt erst wieder unter den Stichworten »Palästinakonflikt«, »Golfkriege«, also im Zusammenhang mit internationalen Konflikten des 20. Jahrhunderts auf.150 Im Fach Geschichte wird dann immerhin das Osmanische Reich, seine Staatsund Gesellschaftsordnung, seine Ausbreitung und die Sicht der Europäer als ein möglicher Wahlbereich für die höheren Klassen ausgewiesen.151

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• Brandenburg – In der Sekundarstufe I (bis zur 10. Klasse) wird der Islam nicht erwähnt, auch Wissen über die Araber und den Orient gehört nicht zum Pflichtpensum. Allerdings wird in der Mittelaltergeschichte der »Umgang mit dem Fremden: Christen und Araber, Christen und Juden« als möglicher Längsschnitt für die Klassen 7/8 und der Nahostkonflikt für die Klassen 9/10 aufgeführt.152 Im Lehrplan für die Oberstufe wird der Islam erneut nicht erwähnt, es gibt lediglich einen Hinweis auf das Kursthema »Nahostkonflikt«.153 • Hamburg – Im Lehrplan für das achtjährige Gymnasium (Klassen 5 bis 10) ist eine außerordentlich intensive Beschäftigung mit internationalen und interkulturellen Beziehungen im Mittelalter erkennbar. Themenschwerpunkt ist der Kampf der Religionen um Jerusalem, mit ausdrücklichen Bezügen zur heutigen Situation, zu Leistungen der islamischen Kultur, zur Bedeutung der Toleranz für das Zusammenleben. Auch hier allerdings klafft eine große Lücke bis zur Zeitgeschichte, in der dann der Nahostkonflikt als einzig relevantes Thema auftaucht.154 Der Plan für die Oberstufe von 2004 weist mit dem Bereich »Europa und der Orient« erstmals in einem der Pläne einen Schwerpunkt auf westliche-orientalische Beziehungen in der modernen Geschichte (Kolonialzeitalter) und auf die Entstehung des modernen orientalischen Nationalstaates aus; auch hier jedoch ist dies nur einer von mehreren möglichen Vertiefungen, gehört also nicht zum Pflichtpensum.155 Im nachfolgenden Plan von 2009 ist dieser Bereich wieder entfallen, stattdessen aber wird unter der Rubrik »Gewalt und Toleranz« die Minderheitenpolitik des Osmanischen Reiches als ein Themenschwerpunkt von allerdings recht vielen anderen möglichen aufgeführt.156 • Hessen – Im Lehrplan für das Gymnasium werden die spätantike Ausbreitung des Islams, die Lehren Mohammeds, die gemeinsamen Wurzeln der monotheistischen Religionen, das spanische Mittelalter und die Leistungen der Araber sowie die Rezeption der arabischen Kultur jeweils in der damaligen Periode erwähnt. In der modernen und Zeitgeschichte ist lediglich die allgemeine Thematisierung der imperialistischen Politik relevant.157 • Thüringen – Der Islam oder die anderen Referenzbegriffe werden im Lehrplan für das Gymnasium nur für das Mittelalter erwähnt, mit Stichworten wie »Ausbreitung«, »Glaubenswelt« und »wissenschaftliche Leistungen« (5./6. Klasse); in der Oberstufe werden dann erneut die Kreuzzüge thematisiert.158 Außer dem allgemeinen Hinweis auf das imperialistische Zeitalter lassen sich spezifische Bezüge zur islamisch-orientalischen Welt in der modernen oder Zeitgeschichte nicht finden. Der Gesamteindruck der deutschen Lehrpläne spiegelt in etwa die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Frage nach Fortschritt und Stillstand in der multikulturellen Schulbildung wider. In einigen Lehrplänen sind eindeutig positive

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Tendenzen einer zunehmenden Sensibilisierung zu erkennen, in anderen ist dies nicht der Fall. Das Wissen über den Islam und die islamische Welt, das im Fach Geschichte vermittelt werden soll, ist insgesamt als sehr begrenzt zu bezeichnen. Der Fokus liegt auf der Spätantike und dem Mittelalter, wobei in den jüngeren Plänen fast durchgehend eine Akzentverschiebung von einer reinen Konfliktbetrachtung (Kreuzzüge) zu einer breiten Würdigung orientalischer Leistungen und der Wechselwirkungen mit Europa zu verzeichnen ist. Danach entsteht eine riesige Lücke, bis der Orient dann erst wieder frühestens ab dem 19. Jahrhundert auftaucht, hier aber in aller Regel nicht mehr als eigenständige Region der Weltgeschichte, sondern fast ausschließlich konzentriert auf transnationale Konflikte, deren Auswahl zudem noch stark variiert. Der Hamburgische Lehrplan von 2004 wies als einziger einen breiten Schwerpunkt »Europa und der Orient« auf, allerdings nur als Wahlmöglichkeit und auch die ist mittlerweile wieder abgeschafft worden. Man kann zusammenfassen, dass in deutschen Lehrplänen zur Geschichte, soweit sie in der vorstehenden begrenzten Auswahl berücksichtigt wurden, in aller Regel die modernen islamisch-westlichen Beziehungen äußerst fragmentarisch und konfliktfixiert aufgegriffen werden, dass eine eigenständige und komparative Perspektive auf die orientalische Geschichte – vielleicht mit Ausnahme des stark beachteten mittelalterlichen Orients – fehlt und dass die Binnensicht einer Geschichte des Islams in Europa kaum und einer Geschichte der Islamophobie gar nicht vorhanden ist – man denke nur an die Islam-Apologetik Luthers oder den kolonialen »Orientalismus«. Bei der modernen Beziehungsgeschichte fehlt das Augenmerk auf kulturelle und wirtschaftliche Fragen oder der Hinweis auf die in der europäischen Balance-of-Power-Politik im 19. Jahrhundert bedeutsame Stellung des Osmanischen Reiches – die Europa jedoch nicht davon abhielt, die Osmanen vor allem als Muslime kulturell auszugrenzen (Gong 1984; Neumann 1999). Zentrale orientalische Geschichtsentwicklungen wie die Entstehung eines neuen Feudalismus im Kolonialzeitalter, die Bildung orientalischer Nationalstaaten und der Panarabischen Bewegung oder die Entwicklungen des politischen Islams seit dem frühen 20. Jahrhundert werden nicht einmal im Ansatz erwähnt. Hier entsteht ein ähnlicher Eindruck, wie ihn Werner Schiffauer und Thijl Sunier bei einer Untersuchung deutscher Geschichtsbücher formulieren: »Entwicklungen außerhalb Deutschlands werden nur diskutiert, wenn sie auch internationale Bedeutung hatten wie die Russische Revolution oder der Aufstieg Amerikas von einer Kolonie zur Weltmacht« (Schiffauer/Sunier 2002, S. 55). Was die Berücksichtigung des »Islams in Europa« angeht, so ist der Hinweis wichtig, dass zwar die Geschichte des europäischen Islams sowohl auf dem Balkan als auch in den Kolonialstaaten Frankreich und Großbritannien oder in Deutschland, wo Masseneinwanderung erst nach dem Zweiten Weltkrieg stattfand, eine literarische Würdigung des Orients aber durch die blühende deutsche Orientalistik, die Literatur und zahlreiche Salons bereits seit Jahr-

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hunderten zu verzeichnen ist, überhaupt nicht in den Lehrplänen auftaucht. Allerdings wird das Thema Migration in anderen Fächern des Feldes Politik/ Gesellschaft/Wirtschaft stärker berücksichtigt, etwa in Hamburg, wo »Einwanderung und kulturelle Vielfalt« sowie »Segregation« als Lehrplanthemen erscheinen, auch wenn dort weder »Rassismus« noch »Fremdenfeindlichkeit« als Begriffe zu finden sind, von einem speziellen Bezug zu Islam oder Islamophobie ganz zu schweigen.159 Gemessen an früheren Studien zu europäischen Lehrplänen scheint der Umfang der Islam- bzw. Orient-Beachtung in den Lehrplänen des Fachs Geschichte an deutschen Gymnasien nicht gestiegen zu sein, allerdings ist eine Sensibilisierung in der Art des Umgangs mit der islamischen Welt erfolgt. Aus der Expansionsgeschichte des Islams wird zunehmend eine Geschichte des politischen und kulturellen Kontakts mit euro-arabischen, christlich-islamischen und mittelmeerischen Bezügen. Dieser Gesamteindruck passt auch zu der laufenden Debatte über Fortschritte und Defizite in der interkulturellen Pädagogik: Die großen Wissenslücken scheinen die Skeptiker zu bestätigen; die zum Teil erkennbaren Lehrplanrevisionen hingegen die Optimisten, die davon ausgehen, dass der Umbau in Richtung multikultureller Erziehung bereits in vollem Gange ist. Berücksichtigt man, dass neben den Tendenzen in den klassischen Schulfächern selbst vor allem der fächerübergreifende Schwerpunkt »Globales Lernen« einen gewissen Raum zur stärkeren Beschäftigung mit der außereuropäischen Welt bietet, so kann man davon sprechen, dass die heutige Lehrplanung in Deutschland die Islamexpertise zwar kaum mehr ins Zentrum rückt als frühere Generationen, dass sie aber zum Teil Wahlmöglichkeiten geschaffen hat, eine solche zu entwickeln – die Umsetzung obliegt dann Schulen, Lehrern wie Schülern. Man darf nicht vergessen, dass Steuerungsversuche des Staates in der schulischen Lehre begrenzt bleiben und oft dort enden, wo die Lehrfreiheit des einzelnen Lehrers beginnt. Der Staat kann die Themenauswahl sowie die Rahmenbedingungen einer wissenschaftlichen Fundierung und der weltanschaulichen Neutralität des Unterrichts vorschreiben. Die Unterrichtsgestaltung aber liegt in den Händen der Pädagogen. Ein einzelner Lehrer kann daher auch im Bereich der Islambildvermittlung einen erheblichen Unterschied ausmachen. Dennoch sendet der Staat mit den Lehrplänen wesentliche Impulse und die sind im Fall des Islams relativ schwach oder vage geblieben. Das Ergebnis fügt sich nicht nur in die pädagogische Debatte, sondern auch in den Gesamteindruck dieses Buches in anderen Feldern, etwa was die ambivalente Anerkennung des Islams durch europäische Regierungen und die staatlich-exekutive Elite Europas betrifft (Kap. I.2). Der Staat unternimmt in Europa auf allen Ebenen – transnational, national und föderal – verstärkt Versuche, das Bild des Islams und des Orients zu differenzieren und es zumindest von früheren Klischees zu befreien. Noch ist jedoch unklar, ob sich auch der Stellenwert von Wissen über den Islam

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vergrößert oder ob es bei der fragmentarischen Wissenskultur früherer Zeiten bleibt. Während im Mediensektor aber eine klare Linie einer langfristigen Verbesserung des Islambildes aus unterschiedlichen Gründen (Themenstruktur, Bildsprache, anti-islamischer Medienpopulismus usw., Kap. III und IV.1) nicht erkennbar ist, wird in der schulischen Lehrplanung immerhin eine langsame Positiventwicklung deutlich. Ein anderes Feld staatlicher Schulpolitik ist das der Schulbücher. In einer Erklärung von 2002 forderte der Europarat eine verstärkte Kooperation zwischen Europa und den arabischen Staaten, um Vorurteile und Fehler aus den Schulbüchern zu beseitigen.160 Spätestens seit den 1980er Jahren ist das Islambild westlicher Schulbücher wiederholt untersucht und zum Teil massiv kritisiert worden. Joe L. Kincheloe etwa urteilt für die Vereinigten Staaten, dass Islamophobie das Resultat einer langen Geschichte der entstellenden und deformierenden Wissensproduktion über die islamische Welt in Wissensinstitutionen wie den Medien und der Schule sei (Kincheloe 2004, S.  3, 6, 9f., 19f.). Nach den Attentaten des 11. September 2001 fanden sich demnach in den USA kaum aufklärende Schulmaterialien, aber sehr viele stereotype Darstellungen. Gerade ultrakonservative Bildungspolitiker, eng mit außenpolitischen und -wirtschaftlichen Interessen verknüpft, betätigen sich gemäß Kincheloe aktiv an der Dehumanisierung des Bildes der islamischen Welt. Solche Aussagen weisen auf Probleme hin, die auch in Europa zu finden sind, wenngleich sie zur Beschreibung des aktuellen Zustandes von Schulbüchern zugleich zu pauschal sind – zumindest ist dies der Eindruck, den die empirische Schulbuchforschung vermittelt. Noch frühe Schulbuchanalysen für deutschsprachige Länder von Abdoldjavad Falaturi, Udo Tworuschka oder Susanne Heine bestätigten das Vorhandensein ausgeprägter islamkritischer oder -feindlicher Klischees (Falaturi 1986-1990; vgl. a. Falaturi/Tworuschka 1996; Schultze 1994). In österreichischen Geschichtsbüchern etwa wurde bis in die 1990er Jahre der islamische Fundamentalismus ohne Bezug zu seinen kolonialen Entstehungsbedingungen erörtert und das Christentum als Religion der Nächstenliebe, der Islam hingegen als eine Religion mit Herrschaftsanspruch beschrieben (S. Heine 1995, S. 201f., 214), wenngleich in Wirklichkeit das theologische Gewaltverständnis und die Lehre des »gerechten Krieges« in Christentum und Islam große Ähnlichkeit aufweisen (K. Hafez 2010b). Einige typische Fehler in europäischen Schulbüchern hat Moustafa El Halougi vom ägyptischen Erziehungsministerium aufgelistet (El Halougi o.J., S. 6): Der »Jihad« wird mit »Heiliger Krieg« übersetzt und als muslimische Pflicht dargestellt, was aber nur im Verteidigungsfall zutrifft; der Prophet Mohammed gilt als Mann des Krieges und der Gewalt, obwohl verschiedene Phasen und Aspekte seines Wirkens unterschieden werden müssen; das Kalifat wird als Verschmelzung weltlicher und geistlicher Herrschaft betrachtet, auch wenn der Islam gar keine religiöse Autorität kennt; Koranverse werden aus dem Kontext gerissen; »Islam« wird

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mit »Unterwerfung« übersetzt, dabei gibt es im Islam lediglich »Meinungen« (Sg. fatwa), denen man sich anschließen kann, aber nicht muss. Gerdien Jonker hat auf die unterschiedlichen nationalen Prägungen der Islambetrachtung in europäischen Schulbüchern hingewiesen. Zumeist folgt das Islambild althergebrachten stereotypen Wahrnehmungen, »die praktisch überall in Europa negativ geprägt waren, aber dennoch in Süd- oder Nord-, Ost-, Zentral- oder Westeuropa mit jeweils anderen historischen Eindrücken« angereichert wurden (Jonker 2010, S.  76f.; vgl. a. Jonker/Thobani 2010). Italiener und Spanier, zum Teil auch Schweden und Norweger verbinden mit Islam auch den freien Handelsaustausch, Italiener und Spanier gehörten selbst einmal zur Pax Arabica, anders als Griechenland, für das die 400-jährige Osmanische Periode eine Phase der Fremdbeherrschung darstellte, was laut Jonker bis heute nachwirkt. In Nord- und Zentraleuropa scheinen sich mit Beginn des 21. Jahrhunderts Differenzierungen des Islam- und Orientbildes in Schulbüchern erkennen zu lassen. In schwedischen Religionsbüchern wird der Islam zwar in der Tendenz immer noch als andersartig, gewaltsam und patriarchalisch beschrieben, die Situation hat sich jedoch im Laufe der Zeit verbessert (Larsson 2009, S. 413). Das deutsche Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung hat verschiedene Studien über Schulbücher in Deutschland und anderen europäischen Ländern vorgelegt, deren Ergebnisse allerdings recht unterschiedlich ausfallen. Neşe Ihtiyar, Safiye Jalil und Pia Zumbrink kommen bei ihrer Analyse von Schulbüchern der Fächer Geschichte, Erdkunde und Politik in der Periode 1995 bis 2002 zu der Einschätzung, dass sich das Islambild seit den frühen Untersuchungen von Falaturi und anderen differenziert hat, obwohl nach wie vor Probleme bestehen (Ihtiyar et al. 2004). Demnach ist in den Geschichtsbüchern ein Paradigmenwechsel bei der Darstellung der Kreuzzüge erkennbar (s.o.), auch wenn etwa unerwähnt bleibt, dass im islamischen Raum, anders als im christlichen, keine Zwangskonvertierung stattfand. Bei der Darstellung des Osmanischen Reiches herrscht zeitweise noch das Bild des grausamen Osmanen vor, zunehmend aber wird auch der religiöse Pluralismus des MilletSystems gewürdigt. Im Bereich der Sozialgeschichte stehen gemäß den Autorinnen nach wie vor Frauen im Blickpunkt und ihre Benachteiligung wird als islamspezifisch betrachtet, was angesichts ähnlicher Verhältnisse etwa im hinduistischen Raum und der Tatsache, dass Frauen im Islam beispielsweise schon früh bestimmte Besitzrechte erhielten, seltsam anmutet. Immerhin werde die führende Stellung der mittelalterlichen Araber in der Wissenschaft anerkannt, größere Probleme aber täten sich bei der Darstellung des modernen politischen Islams auf, der oft in einem Atemzug mit Extremismus genannt werde. Der Islam in Deutschland werde in den allgemeinen Fachschulbüchern kaum behandelt. Die Ergebnisse decken sich in etwa mit den Eindrücken, die bereits die Lehrplanevaluation im Bereich Geschichte ergeben hat.

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Folgt man Ihtiyar, Jalil und Zumbrink, so setzen sich Schulbücher in den Fächern Sozialkunde und Politik zwar zum Ziel, Vorurteile abzubauen, sind aber selbst noch von Klischees durchsetzt. Hier ist die Rede von vermeintlichen »Identitätskonflikten«, obwohl diese »Gespaltenheit« von Kindern wissenschaftlich umstritten ist. Restriktive Erziehungsmethoden werden oft unzutreffend als »islamisch« bezeichnet, wenngleich sie oft eher auf konservative Traditionen zurückgehen. Deutsche und türkische Lebenswelten werden, so die Autorinnen, zum Teil als grundsätzlich unvereinbar dargestellt. Beim Kopftuch wird zwar mittlerweile auf unterschiedliche Motive hingewiesen, aber noch immer schleichen sich fehlerhafte Annahmen über die angeblich im Koran festgeschriebene Überlegenheit des Mannes ein und das mitgelieferte Bildmaterial bevorzugt Musliminnen mit Kopftuch, auch wenn diese in Deutschland in der Minderheit sind: »Selbst in jüngeren Schulbüchern finden sich in der Beschreibung des Lebens muslimischer Familien in Deutschland vielfach problematische Klischees« (Ihtiyar et al. 2004, S. 253). Hingegen hat sich gemäß der Studie die Darstellung des Fundamentalismus in diesen Schulbüchern mittlerweile differenziert, er wird als religionsübergreifendes Phänomen verstanden, wenngleich er teilweise auf buchstabengetreue Glaubenspraktiken beschränkt wird, obwohl Motive und Ursachen des islamischen Fundamentalismus viel komplexer sind. Als positiv bewerten die Autorinnen auch die erkennbare Aufforderung zum Dialog zwischen den Kulturen. Gemessen an diesem differenzierten Befund ist eine andere Studie, die, vom Auswärtigen Amt finanziert, vom Georg-Eckert-Institut nur wenige Jahre später über Schulbücher von verschiedenen Fächern in Deutschland, Österreich, Frankreich, Spanien und England angefertigt worden ist, sehr viel kritischer im Urteil (Georg-Eckert-Institut 2010). Lerninhalte seien demnach in der Tendenz noch immer an der Idee des Kampfes der Kulturen orientiert, der Islam werde trotz Verbesserungen im Bereich der Darstellung des Mittelalters bei der Behandlung moderner Themen als vormoderner Gegenpol zum Westen vorgestellt und ein relativ einheitliches Bild einer fremden Kultur vor den Toren Europas konstruiert. Moniert werden, wie schon so oft, ein fragmentarisches Bild der islamischen Welt mit Fokus auf dem Mittelalter und nur sporadische Einblicke in die jüngere Geschichte und in die Gegenwart. Fehlerbeseitigungen, die in anderen Studien und bei der Lehrplananalyse den Eindruck eines gewissen Fortschritts erzeugt haben, werden hier als gelegentliche positive Ausnahmen einer noch immer islamkritischen oder -feindlichen Regelwahrnehmung des Islams betrachtet. Prozesse des Bildwandels verlaufen aus Sicht der Autoren deutlich zu langsam und die fragmentarische Herangehensweise an die Wissensvermittlung über den Islam – die »Infusionen« – werden als gänzlich ungeeignet bezeichnet. Die Autoren haben einen hohen Anspruch an Fehlerfreiheit, Differenzierung und Stringenz im Lehrbereich »Islam«. Eine besondere Zuspitzung findet ihre Analyse in der These, der derzeitige Zustand

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europäischer Schulbücher fördere den kulturellen Rassismus und die Islamophobie: The analysis presented here […] points out that over-simplifications of Islam, together with the problematic gaps in narrative, are not suitable for immunizing against an Islamophobic populism. Rather, the view often visible in the subtext – that European modernity seamlessly developed autonomously and unlike ›Islam‹ with increasing enlightenment for the better, converges with the politics of history and identity among Islamophobic populists. (Georg-Eckert-Institut 2010, S. 18f.)

Der Forschungsstand zum Islambild in europäischen Schulbüchern ist noch immer unübersichtlich. Vehemente Kritik und Anerkennung von positiven Entwicklungen wechseln sich ab. Die europäische Schule hat auf jeden Fall, was die Schulbuchreform angeht, noch Lernbedarf. Es zeigt sich, dass die Gleichung »Schule = Staat = relativ fortgeschrittene Anerkennung des Islams« zu simpel ist. Die unterschiedlichen Praxisdimensionen der multikulturellen Pädagogik (Bildungspolitik, Curricula, Schulbücher, Elternhaus, Fachpädagogik) weisen zugleich auf verschiedene gesellschaftliche Einflüsse hin, denen die Schule ausgesetzt ist. Die Institution Schule kann generell dem staatlichen Raum zugeordnet werden, aber innere Freiräume und Autonomie machen ebenso den Charakter einer Institution aus, die zwar gesellschaftliche Aufgaben, diese jedoch vielfach nach eigenen Regeln erfüllt. Auf das Islambild in europäischen Schulen wirken so auch nicht nur die – zögerlich fortschrittlichen – bildungspolitischen Ansätze, sondern ebenso Traditionen wie der Einfluss von Schulbuchredaktionen oder die Sozialisation der Lehrerschaft, die oft eine Generation nachwirkt (Karakaşoğlu 2010). Wichtig ist am Ende die Erinnerung daran, dass, wenn schon die Wissensvermittlung über die islamische Welt aus unterschiedlichen Gründen lückenhaft bleibt, die Schule auch ein Ort der Werteerziehung ist und dass einer der zentralen Werte im interkulturellen Kontext das »Wissen um das Nicht-Wissen« ist. Neben einer erheblichen Portion Neugier ist für die Toleranz in den islamisch-westlichen Beziehungen eine Form der globalen Bescheidenheit von großer Bedeutung – und gerade diese Kultur ist oft weniger abhängig von Lehrplänen und Schulbüchern als von einem Schulklima, von Lehrern und Schülern selbst.

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V. Kirche V ERMIT TLERIN WIDER W ILLEN Die Aufgaben der christlichen Kirchen in den demokratischen Staaten sind vielfältig. Wir haben in diesem Buch bereits alle möglichen Gesellschaftsfunktionen beschrieben: rechtliche und politische Systemaufgaben, gesellschaftliche Handlungen, mediale Kommunikation sowie wissenschaftliche und schulische Wissens- und Wertevermittlung. Der natürliche Raum der Kirche ist nun das »Transzendentale«, sind die letzten Sinnfragen des Menschen und des Lebens. Da Kirchen gerade in dem in Europa sehr verbreiteten »weichen Säkularismus« (Kap. I.1) über zahlreiche Berührungen mit dem Staat verfügen, kann man zwischen »inneren« und »äußeren« Funktionen unterscheiden. Nach innen übernehmen die Kirchen Aufgaben für die Gläubigen, die sich ihnen anschließen, also für die Christen oder streng genommen: für Christen, die auch Kirchenmitglieder sind. Nach außen wirken die Kirchen als Institutionen in die gesamte Gesellschaft hinein. Die Dynamiken im inneren Funktionssystem der Kirche entziehen sich weitgehend der Analyse durch die liberale Gesellschaftstheorie. Die Fragen, die dort erörtert werden, sind theologischer Natur und haben nichts mit der liberalen Demokratie oder der liberalen Gesellschaft zu tun, außer vielleicht Fragen des religiösen Rechts. So kommt es, dass selbst fundamentalistische Annahmen im Sinne eines Absolutheitsanspruchs bestimmter Lehrmeinungen in der Theologie auch in der Gegenwart immer noch zu finden sind, obwohl Europa eigentlich von der Idee der gleichen Menschenrechte, der Demokratie und zumindest dem theoretischen Anspruch an gesellschaftliche Toleranz geprägt ist. Die katholische Doktrin der päpstlichen Unfehlbarkeit ist nur eines von vielen Beispielen für das Fortleben von Dogmatismus. Jürgen Hach äußert ein gewisses Verständnis dafür, dass die Forderung nach einer »grundsätzlichen Dialogbereitschaft auch in letzten Glaubensfragen« eine »schwere Herausforderung an das Selbstverständnis« der Kirchen bedeute (Hach 1980, S. 151). Wenn Kirchen, so sein Gedankengang, keine letzten Sicherheiten mehr vermitteln könnten, sei ihre Existenz gefährdet. Hach geht sogar so weit anzunehmen, dass es die Aufgabe der kirchlichen Führungen sei, dem Kirchenvolk,

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das häufig zu synkretistischen und religionstoleranten Haltungen neige, theologische »Ideale und Dogmen« entgegenzusetzen, auch wenn hierdurch das »interreligiöse Konfliktpotenzial« steige (Hach 1980, S. 153). Interessant an dieser Position ist, dass sie ungeschminkt beschreibt, was man an den christlichen Kirchen jahrhundertelang beobachten konnte: religiösen Dogmatismus. Dieser war im protestantischen Raum weitverbreitet, man denke nur an die Tatsache, dass Martin Luther alles andere als ein Liberaler oder ein Freigeist war. Gerade die Humanisten, aber auch viele religiöse Lehren bekämpfte er mit derselben Energie, mit der er den Monopolanspruch des Papsttums zu Fall gebracht hatte (Gronau 2006; K. Hafez 2009, S. 42ff.). Die christliche Mission ist bis heute Teil der Aufgabe christlicher Kirchen, die allenfalls den Gewaltanspruch (»Heiliger Krieg«) aufgegeben haben. Es mag verwundern, aber die liberale Theorie hat im Prinzip gar keine Probleme mit fundamentalistischer Theologie, denn diese berühren den inneren Funktionsbereich der Kirchen und fällt als transzendente Idee schlicht nicht in das Ressort einer Gesellschaftstheorie. Erinnert man sich an die Einteilung in drei Werteebenen bei Thomas Meyer, so wird hier zu Recht die Ebene der Metaphysik und Religion von der individuellen Lebensführung und von sozialen und politischen Grundwerten abgegrenzt (Kap. I.4). Religion ist Privatsache von Individuen und Gruppen, solange diese sich an die Grundregeln von Rechtsstaat und Demokratie halten. Sogar religiöse Meinungsäußerungen, die die grundlegenden Überzeugungen der liberalen Demokratie berühren, weil sie etwa die Gleichstellung von Mann und Frau infrage stellen oder die Vorrangigkeit von religiösen über weltliche Gebote propagieren, sind vom Recht auf Meinungsfreiheit weitgehend abgedeckt. Nur so ist zu erklären, dass zum Beispiel evangelikale Prediger mit ihren vielfach radikalen Botschaften in den Vereinigten Staaten wie auch in Europa wirken können, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden. Wenn fundamentalistische Auslegungen auf Kritik stoßen, dann von ganz anderer Seite als von der liberalen Theorie, nämlich aus dem Bereich der Theologie und Religionswissenschaft selbst. Gerade ökumenische Strömungen treten dafür ein, »Mission« durch »Dialog« zu ersetzen. Es ist hier nicht der Ort, die zahlreichen Herangehensweisen an die Weltökumene aufzuzeigen (vgl. Möller/Goßmann 2006). Nur beispielhaft sei die »Stiftung Weltethos« des katholischen Theologen Hans Küng erwähnt, die sich für einen Dialog zwischen den Religionen und für interkulturelle Werteerziehung einsetzt.161 Eine zentrale Botschaft dieser Stiftung ist die »goldene Regel«, die sich in allen großen Religionen nachweisen lässt und dort jeweils Prinzipien der Gegenseitigkeit formuliert, die wiederum an den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant erinnern. Der ökumenische Ansatz ist eine Kritik an den Botschaften einer Theologie der letzten Wahrheitsansprüche, da diese vielfach auf selektiven und nicht selten falschen Religionsvergleichen basiert und von Differenzen zwi-

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schen den Religionen ausgeht, die nicht oder nur bei ganz bestimmten Interpretationen überhaupt entstehen. Udo Tworuschka hat deshalb komparatistische Regeln aufgestellt: Vergleiche müssen stets innerhalb derselben Glaubensdimension stattfinden (z.B. zwischen Gottesbildern, Erlösungsvorstellungen) und sie müssen den Unterschied zwischen Theologie und gelebter Religionspraxis berücksichtigen (Becker/Tworuschka 2006, S.  139ff.). Durch diese und andere Verfahrensregeln gelangt man zu der Erkenntnis, dass gerade die großen monotheistischen Religionen vielfach Überschneidungen aufweisen. Wäre dies in der Geschichte mehr beherzigt worden, wäre es nicht immer wieder so leicht gewesen, christliche, jüdische und islamische Glaubensvorstellungen gegeneinander auszuspielen und interreligiöse Konflikte zu schüren. Selbst gängige Konfliktstoffe wie die christliche Trinitätslehre, die bei Judentum und Islam auf Kritik stößt, sind bei näherer Betrachtung doch Bestandteil eines gemeinsamen monotheistischen Gottesbildes. Für die liberale Politik- und Gesellschaftstheorie sind die »äußeren« Funktionen der Kirchen, die diese für die Gesamtgesellschaft übernehmen, wesentlich bedeutsamer als theologische Debatten, auch wenn das Wirken der Kirche in der Gesellschaft aus Sicht der Kirchen eng mit ihrem jeweiligen religiösen Selbstverständnis verbunden sein mag. Interessant ist, dass der Religionswissenschaftler Tworuschka auf den liberalen Vordenker John Rawls Bezug nimmt, wenn er die Funktion von Religion in der modernen Gesellschaft als die einer dialogischen Vermittlerin beschreibt. Da die Gesellschaft, so argumentiert er mit Rawls, im Rahmen der freiheitlichen Demokratie dauerhaft plural sein werde und Religion heute erneut eine wachsende Bedeutung für die gesellschaftliche Orientierung von Menschen gewinne, besäßen Religion und Religionswissenschaft eine »mediatorische Funktion« beim »Umgang mit religiös-kulturellen Denk- und Gefühlsstrukturen und Handlungen« (Becker/Tworuschka 2006, S.  119ff.). Auch Jürgen Hach sieht die Gesellschaft als im Grunde pluralistisch an, wenngleich er davon ausgeht, dass der Pluralismus der Religionen etwa in Deutschland erst langsam im Entstehen begriffen sei (Hach 1980, S. 147). Man kann eine gesellschaftliche Mittlerfunktion von christlichen Kirchen, Religionswissenschaft und -pädagogik auch aus dem Rechtsverständnis europäischer Staaten wie aus der liberalen Theorie selbst herleiten. Da eine Reihe europäischer Rechtssysteme die Kirchen nicht als beliebige Verbände oder Vereine behandeln, sondern sie per Gesetz zu »Körperschaften des öffentlichen Rechts« (wie in Deutschland) oder ähnlichen Institutionen mit gesamtgesellschaftlichen Aufgaben in Staat, Sozialwesen, Medien usw. machen und ihnen dafür Rechtsprivilegien einräumen, haben diese Kirchen ihrerseits auch die Verpflichtung, den Religionsfrieden zu wahren und als Konfliktvermittlerinnen tätig zu werden. Für die Kirchen entsteht hier allerdings unter Umständen ein Widerspruch: Während sie als theologische Einrichtungen (zumindest außerhalb der weltökumenischen Schule) letzte Wahrheiten formulieren sollen, dürfen sie als gesell-

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schaftliche Institutionen eben dies nicht tun. Während sie nach innen intolerant sein dürfen, müssen sie nach außen tolerant agieren. Wie aber sollen Kirchen in einer pluralistischen Gesellschaft zwischen Vertretern verschiedener Religionen vermitteln, die man – bis auf die eigenen – theologisch bekämpft? Ökumenische Theologie ist hier sicher wesentlich leichter in Einklang mit liberaler Gesellschaftstheorie zu bringen, jedoch auch eine nach wie vor denkbare fundamentalistische Theologie muss Wege finden, wie sie innere und äußere Funktionen und eventuell auftretende Spannungen zwischen diesen löst oder verarbeitet. Gerade auf der Nahtstelle zwischen religiöser Gemeinschaft und Gesamtgesellschaft haben Kirchen in der Gegenwart eine bedeutsame Aufgabe zu leisten. Natürlich versteht man in den Ländern Europas die rechtliche Rolle der Kirchen sehr unterschiedlich. Laizistische Staaten wie Frankreich kennen zumindest offiziell keine rechtlich begünstigte Stellung von Kirchen oder anderen Religionsvertretern. Im Gegensatz dazu manifestiert sich im Staatskirchentum, das bis vor Kurzem etwa in Schweden und bis heute in gewisser Weise in Großbritannien existiert, eine wesentlich stärkere Position der Kirchen. Die genaue Ausgestaltung der gesellschaftlichen Mittlerfunktion der Kirchen muss, insofern sie mit rechtlichen Rahmenbedingungen zusammenhängt, also letztlich von Land zu Land individuell bestimmt werden. Allerdings ist auch in Ländern mit einer weitgehenden Trennung von staatlichen und kirchlichen Aufgaben fraglich, ob Kirchen fundamentale Theologien einfach in die Gesellschaft hinein lancieren dürfen, ohne dass dies den gesellschaftlichen Frieden stört. Was rechtlich legal ist, muss ethisch noch lange nicht legitim sein, womit wir erneut bei der Frage angelangt sind, wie denn Kirchen zu einer multireligiösen Anerkennung anderer Religionen stehen, die mehr ist als eine duldende Toleranz, und wie sie mit den Problemen des Antirassismus und des multikulturellen Dialogs umgehen. Noch auf eine weitere Komplexität ist hinzuweisen, die für gesellschaftliche Institutionen typisch ist und die uns auch schon im Zusammenhang mit Medien, Wissenschaft und Schule begegnet ist. Kirchen weisen trotz aller Dogmen interne Heterogenitäten auf, es besteht eine Kluft zwischen Führungsebenen und der Basis, oder, wie es Niklas Luhmann für das soziale System der Wissenschaft ausgedrückt hat, im Sozialsystem Kirche bleibt ein nicht beherrschund nicht organisierbarer Rest. In der folgenden Analyse des Beitrags der christlichen Kirchen zum christlich-islamischen Dialog beschränken wir uns weitgehend auf den harten Kern kirchlicher Lehren, während die dezentralen Aktivitäten von kirchlichen Akademien und in der Gemeindearbeit von der empirischen Wissenschaft bislang noch kaum erforscht worden sind. Natürlich gilt analog zu Journalismus, Wissenschaft und Schule, dass ein einzelner Priester oder Religionslehrer einen erheblichen Unterschied ausmachen kann. Welche Wirkung »die Kirche« also auf die Stellung des Islams in der liberalen Gesell-

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schaft Europas hat und wie sie mit ihren eingebauten Rollenkonflikten umgeht, lässt sich nur sehr eingeschränkt ermitteln. *** Einflussreiche amerikanische evangelikale Fernsehprediger wie Pat Robertson oder Franklin Graham sind nicht nur Gegner des Feminismus oder der Homosexualität, sie sind auch in einem ständigen »Krieg«, wie sie es selbst ausdrücken, mit dem Islam, dessen Gottesbild sich aus ihrer Sicht völlig von dem des christlichen Gottes unterscheidet (Haddad/Ricks 2009, S. 24). Die Vorstellung der fundamentalen Verschiedenheit der Gottesvorstellung findet sich auch bei einer sonst wenig radikal auftretenden Organisation – der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der zentralen Kirchenorganisation des lutherischen Protestantismus. Der Rat der EKD veröffentlichte 2006 ein Papier »Klarheit und gute Nachbarschaft. Christen und Muslime in Deutschland«, das sich mit dem Verhältnis der EKD zum Islam beschäftigt und das für erhebliches Aufsehen und für Kritik gesorgt hat, da sein Inhalt als Ausdruck fundamental-christlicher Überzeugungen gedeutet werden kann (Bühl 2010, S. 224-230). Das folgende Kapitel wird sich weitgehend mit der Analyse dieser und einer anderen Schrift der EKD befassen und die Frage stellen, welches Verhältnis die oberste Kirchenleitung zu den »inneren« und »äußeren« Funktionen in der liberalen Gesellschaft erkennen lässt. Was die Frage der Mission betrifft, argumentiert das EKD-Papier, reden Christen nur in der Gewissheit, dass der »Menschheit« – nicht nur den Christen – in Jesus Christus die göttliche Offenbarung zuteilgeworden ist (EKD 2006, S. 15f.). Die evangelische Kirche wendet sich gegen einen »Zeitgeist« und eine »Gesellschaft des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus«, in dem alle Wahrheitsansprüche relativiert werden. Würden Muslime dies so formulieren, würde ihnen sicherlich ein religiöser Überlegenheitsanspruch und die Ablehnung der Demokratie mit dem Ziel der Errichtung einer religiösen Diktatur vorgeworfen, denn die EKD kann zwar in theologischen Fragen fundamentalistisch argumentieren, spricht sie aber über die Gesellschaft, verstößt sie gegen Grunderfordernisse der religiösen Toleranz im liberal-demokratischen Rechtsstaat. Als integrative Mittlerin im interreligiösen Dialog wird die EKD in dieser Form jedenfalls nicht fungieren können. In theologischen Fragen macht ein Dialog mit der EKD, folgt man dem Papier der Kirchenleitung, wegen des von vornherein fixierten fundamentalistischen Wahrheitsanspruchs keinen Sinn; als gesellschaftliche Gruppe müssen sich religiöse Minderheiten diskriminiert fühlen, da dem religiösen Pluralismus der Kampf angesagt wird. Da ist es nur konsequent, dass die EKD beim Gottesbegriff – wie die amerikanischen Evangelikalen (s.o.) – kaum Gemeinsamkeiten mit dem Islam entdeckt (EKD 2006, S. 18). Eine theologische Vertiefung dieser Frage, zu der es einen

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neueren und differenzierteren Forschungsstand gibt, findet allerdings nicht statt (vgl. u.a. Bultmann 2007; Kuschel 2007). Im Prinzip richtig ist bei der Erörterung der religiösen Gewaltfrage der Hinweis, dass der Koran sowohl von Frieden als auch von Krieg spricht (EKD 2006, S. 19ff.). Während erneut eine genaue Auseinandersetzung mit theologischen Fragen der Lehre vom »gerechten Krieg« und dem passiven »Jihad« fehlt, grenzt sich das Papier von »muslimischen Selbstmordattentätern« ab. Auch fundamentalistische Islamorganisationen wie Millî Görüş und der Antisemitismus bei Muslimen werden abgelehnt (EKD 2006, S.  92), was jedoch unmittelbar die Frage aufwirft: Gibt es keine antisemitischen Christen mehr? Hier wird ein theologisches Ideal der christlichen Nächstenliebe mit schlechter Praxis bei den Muslimen vermengt, denn die islamische Theologie ist nicht die Ursache für den Antisemitismus, der sich erst seit dem 20. Jahrhundert, bedingt durch den Nahostkonflikt, in der islamischen Welt ausgebreitet hat (K. Hafez 2009, S. 175-181). Gewalt von Muslimen gegen Frauen wird beklagt. Auch hier wäre allerdings zu fragen, was die Kirche in Europa zum Kampf gegen die patriarchalische Gesellschaft theologisch wie praktisch beigetragen hat. Dass in manchen evangelikalen Freikirchen Frauen aus Glaubensgründen Kopftücher tragen, sei nur als kleine Ironie vermerkt.162 Die gesamte Argumentation zur Gewaltfrage ist von selektiver Wahrnehmung und, im Sinne Tworuschkas, von falschen Vergleichen geprägt, was insgesamt ein asymmetrisches Trugbild von gewaltfreien Christen vs. gewalttätige Muslime konstruiert. Die Idealisierung des »Eigenen« und Dämonisierung des »Anderen« liegen in der Tradition der Feindbildprägung (vgl. a. Mokrosch 2007; Just 2007). Sie stellen erneut gravierende Verletzungen der gesellschaftlichen Funktion der Kirche als Religionsmittlerin dar. In Bezug auf Fragen von Demokratie und Rechtsstaat wird an die Muslime appelliert, ihren Wahrheitsanspruch »öffentlich und nachvollziehbar« aufzugeben und damit jeglicher Neigung zur Einführung des islamischen Rechts abzuschwören (EKD 2006, S.  24f.). Erneut zeigt sich hier ein Ungleichgewicht in der Argumentation, denn es dürfte dem Rat der EKD bewusst sein, dass im Islam nur der Koran eine Ewigkeitsstellung besitzt, nicht jedoch das von Menschen gemachte islamische Gesetz der Scharia, dass es aber keine zentrale Autorität im Islam gibt, die für alle oder auch nur einen großen Teil sprechen kann und eine einheitliche »Reformation« des islamischen Rechts insofern – ähnlich wie im Judentum – erschwert wird. Man setzt Muslime also unter einen künstlichen theologischen Druck, dem diese nicht nachkommen können, und man vergisst, dass es auch beispielsweise unter amerikanischen evangelikalen Christen Tendenzen gibt, fundamentale Positionen rechtlich abzusichern, etwa bei der Streitfrage Kreationismus vs. Darwinismus. Hier wird eine Gegenüberstellung zwischen einer nicht vorhandenen Einheit christlicher Theologie und einer nicht herstellbaren Einheit islamischer Lehre konstruiert, die das »Feindbild Islam« vertieft. Ausführungen über – zum Teil reale – rechtliche Konflikte

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von Konvertiten und Minderheiten in der islamischen Welt (EKD 2006, S. 35ff.) sind an sich nicht zu bemängeln, allerdings werden auch hier die Probleme im christlich geprägten Europa vollständig ausgeblendet. Sieht man einmal von radikalen Einschränkungen der Religionsfreiheit von Christen etwa in SaudiArabien ab, dann sind nämlich die Beschränkungen religiöser Minderheiten in der islamischen Welt und im Westen durchaus vergleichbar und weitgehend als »subtile rechtliche und soziale Diskriminierungen« zu bezeichnen. Über die seit vielen Generationen vorhandene rechtliche Diskriminierung des Islams in Deutschland (Kap. I.1) sagt die EKD aber nichts, was einmal mehr zeigt, wie wenig sie zu fairen Vergleichen bereit und ihre gesellschaftliche Mittlerfunktion auszuüben gewillt ist. Der Eindruck, dass es der EKD nicht um den Religionsfrieden, sondern um eine theologische Profilierung und vor allem um eine gesellschaftliche Machtdemonstration geht, spitzt sich noch zu, wenn man die Ausführungen zu sozialen Einrichtungen und praktischen Fragen der Begegnung und der Religionsausübung betrachtet. Der Kirchenrat legt fest, dass in evangelischen Einrichtungen wie in Kindertagesstätten prinzipiell nur christliche Kräfte beschäftigt werden dürfen (EKD 2006, S. 59ff.). Die Tatsache, dass die EKD für solche Einrichtungen öffentliche Subventionen und private Gebührengelder erhält und dass heute auch viele muslimische Kinder dort untergebracht sind, weil eine eigene Infrastruktur fehlt und zudem von der Gesellschaft als »Parallelsystem« abgelehnt würde, wird nicht in Rechnung gestellt. Mit Blick auf religiöse Symbole in öffentlichen Einrichtungen sieht die EKD jüdisch-christliche Symbole als unverfänglich an (EKD 2006, S. 64) – ein zumindest indirektes Plädoyer für die Diskriminierung islamischer Symbole. Gemeinsame Gebete im Sinne einer weltreligiösen Ökumene, die in Kindereinrichtungen sicherlich wichtig wären, um bereits frühzeitig in der Sozialisation gegen religiöse Vorurteile anzugehen, werden von der EKD mit Nachdruck untersagt: »[J]egliches Missverständnis, es finde ein gemeinsames Gebet statt, ist zuverlässig zu vermeiden« (EKD 2006, S. 117). Hier wird nicht nur eine Gelegenheit zum interreligiösen Dialog versäumt, sondern fundamentale Wahrheitsansprüche werden in die soziale Praxis verlängert – auf Kosten des sozialen Friedens. Schließlich wendet sich die EKD auch gegen eine Überlassung nicht mehr genutzter Kirchen an Muslime, da sonst der Eindruck entstehen könne, die Kirche weiche vor dem Islam zurück (EKD 2006, S. 69). Der Kirchenrat bringt seinen Macht- und Territorialanspruch offen zum Ausdruck. Lieber überlässt man – wie etwa in den Niederlanden längst üblich – ungenutzte Kirchen kommerziellen Zwecken (z.B. Wohnprojekten), als sie der religiösen Konkurrenz zu vermachen. Dass man sich durch eine Umwidmung von Kirchen auch den Streit um manches Moscheebauprojekt sparen könnte, spielt in diesem Weltbild der gesellschaftlichen Hegemonie keine Rolle. Man könnte geneigt sein, die Stellungnahme der EKD von 2006 für einen intoleranten »Ausrutscher« zu halten. Allerdings hat die EKD bereits 2003 ein

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ähnliches Papier herausgegeben (Eissler 2008). Manche Beobachter machen einen wachsenden evangelikalen Einfluss auf diese für deren Abgrenzungspolitik gegenüber dem Islam verantwortlich.163 Die einzelnen Landeskirchen der EKD formulieren eigene Empfehlungen, die durchaus von der Linie des Rates der EKD abweichen können. Eine Stellungnahme, die die Evangelische Kirche von Westfalen (EKvW) 2008 veröffentlichte, zeigt, dass der harte Kurs gegenüber dem Islam auch in anderen Kirchenteilen vorhanden ist und eher den amtskirchlichen Normal- als den evangelikalen Ausnahmefall darzustellen scheint. An einigen Stellen bemüht man sich, die verbreitete Kritik an der Stellungnahme der EKD durch differenziertere Positionen abzumildern – in der Substanz aber bleibt das EKvW-Papier auf Linie des Rates der EKD. Mit Blick auf die Mission wird behauptet, dass das Christentum nach vielen historischen Verirrungen eine gewalttätige Expansion aufgegeben habe, während der Islam noch immer einen »religiösen Herrschaftsanspruch« pflege (EKvW 2008, S. 17). Beim Gottesbegriff wird zwar der gemeinsame Respekt der Schöpfung und die Bezugnahme beider Religionen auf den Stammvater Abraham erwähnt, allerdings werden Unterschiede in der Trinitätslehre – zum Beispiel ist Gott im Islam nicht »Vater«, aber »Richter« und »Schöpfer« – herausgearbeitet (EKvW 2008, S. 4ff.). Der Islam wird in Hinsicht auf Fragen von Demokratie und Rechtsstaat als Gesetzesreligion basierend auf der Trinitas von Koran, Sunna und Scharia bezeichnet und vom Christentum als Religion eines freien Bekenntnisses abgegrenzt (EKvW 2008, S. 14ff.) – was erneut die Stellung des islamischen Rechts über- und die Freiheit im Islam als einer Religion ohne religiöse Autorität unterschätzt. Ein gemeinsames Gebet von Christen und Muslimen wird wegen der grundsätzlich anderen Gottesvorstellung auch von der EKvW abgelehnt (EKvW 2008, S. 19ff.). Bei multireligiösen Partnerschaften wird ein Ehevertrag vorgeschlagen (EKvW 2008, S.  23ff.) – immerhin, denn einer Vikarin in Baden-Württemberg wurde 2011 die Übernahme als Pfarrerin verweigert, nachdem sie einen Muslim geheiratet hatte.164 Hinsichtlich religiöser Gebäude begrüßt die EKvW im Prinzip Moscheebauten, auch wenn Christen in islamischen Ländern vielfach unterdrückt würden (EKvW 2008, S. 35). Die Haltung der deutschen evangelischen Kirche, die in den Stellungnahmen deutlich wird, zeigt trotz einiger Ansätze der Ökumene ein recht weitgehendes Bedürfnis nach theologischer Abgrenzung und gesellschaftlicher Distanzierung. Der Islam wird direkt oder indirekt als autoritäre und expansive Religion dargestellt, die im Widerspruch zu einem freien und friedlichen Christentum steht, so dass Berührungen der Gläubigen im Alltag auf ein Minimum zu reduzieren sind. Die Papiere atmen förmlich den Geist des religiösen Fundamentalismus und der klassischen, negativen Toleranz. Theologisch wird dem Islam der eigene christliche Wahrheitsanspruch übergeordnet; gesellschaftlich wird der Islam zwar als Faktum, nicht aber als gleichwertiger Partner im interreligiösen Dialog konzipiert. Ebenso wenig wie eine Vertiefung weltökumeni-

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scher Perspektiven wird »gute Nachbarschaft« angestrebt. Eine Vermittlerposition in Fragen des religiösen Gesellschaftspluralismus wird die Kirche mit den geschilderten Einstellungen zu Personalangelegenheiten, gemeinsamen Gebeten in sozialen Einrichtungen oder beim Problem der Überlassung kirchlicher Gebäude kaum beanspruchen können. Nicht Integration, sondern allenfalls patronisierende Toleranz ohne vollständige Anerkennung ist das Signum beider Stellungnahmen, die die Kirche als multikulturelle Mediatorin diskreditieren (vgl. a. Micksch 2007). So urteilt Frank Peter denn auch: »In its numerous interventions […] the Church has stressed – in an often categorical manner – that Islam’s fundamental difference in relation to Christianity poses serious obstacles to the integration of Muslims in Germany.« (Peter 2010, S. 136) Die Haltung der katholischen Kirche steht in der Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965), das Fragen der Ökumene breiten Raum gab. Die internen Spannungen lassen sich etwa an der Formel des »Missionsdialogs« erkennen, mit der man das Verhältnis zu anderen Religionen kennzeichnete. Keineswegs gab die Kirche ihren Wahrheitsanspruch auf. In der katholisch-jesuitischen Mission beispielsweise stellt man sich bis heute vor allem die Frage, wie man Muslimen das Christentum erklären könne, es geht also eher um Monolog als um Dialog (Körner 2008). Dennoch ging von dem Konzil ein Signal aus, gesellschaftliche und politische Spannungen zwischen Christen und Muslimen zu mindern. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellte 2001 der Besuch von Papst Johannes Paul II. in der Umayyaden-Moschee in Damaskus dar – der erste eines Papstes in einer Moschee überhaupt. Danach jedoch folgten Rückschläge. Sein Nachfolger Benedikt XVI. brachte bei einer Rede in Regensburg 2006 den Propheten Mohammed mit Inhumanität und Gewalt in Verbindung, was in der islamischen Welt enorme Kritik auslöste. Der Papst, nicht unbedingt ein Freund der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils, versuchte seine »Islampolemik« (Paul 2010, S. 406) später allerdings zu entschärfen. Weltökumenische Positionen wie die von Hans Küngs »Stiftung Weltethos« oder die Lehren des katholischen Theologen Karl-Josef Kuschel entstammen interessanterweise häufig dem katholischen Bereich (Kuschel 1998, S. 343ff.). Sie weisen über den Missionsdialog des Zweiten Vatikanums hinaus. Die katholische Kirche ist möglicherweise ihrem Grundcharakter nach weitaus eher als eine Weltkirche zu bezeichnen als der in zahlreiche lokale Religionsgruppen zerfallende Protestantismus, was sich auch auf die Beziehungen zu nicht-christlichen Religionen auszuwirken scheint. In den USA werden beispielsweise Kontakte zwischen katholischen und muslimischen Gruppen und Gemeinden oft positiv bewertet (Nimer 2002, S. 181). Die Gründe hierfür dürften vielfältig sein: Beide Konfessionen bzw. Religionen sind in den USA in der Minderheit, beide sind im Mainstream konservativ und der Katholizismus hat wenig Tuchfühlung zur pro-israelischen Politik weiter Teile der christlichen Republikaner. Offensichtlich ist entgegen dem verbreiteten Bild eines dogmatisch strengen Katholizis-

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mus dessen Offenheit für den Dialog mit dem Islam oftmals recht fortgeschritten. Dirk Halm hat nicht umsonst für Deutschland beobachtet, dass sich Kritik an der Islamhaltung der Kirchen primär auf die evangelische und seltener auf die katholische Kirche bezieht, was er unter anderem damit erklärt, dass gerade die EKD bereits seit Langem eine Linie der Politisierung des Dialogs betreibe, während die katholische Kirche sich eher an der theologischen Substanz des Dialogs orientiere (Halm 2008, S. 31, 53). Am Beispiel von Hans Küng allerdings zeigt sich bereits, dass für den christlich-islamischen Dialog vielfach nicht nur Kirchenführungen verantwortlich sind. Die Beurteilung des Dialogs hängt eng mit der Frage zusammen, auf welcher Ebene man ihn untersucht. Zahlreiche Kontakte zwischen Christen und Muslimen entstehen an der »Basis«. In den USA erhielten Muslime in der prekären Zeit nach den Attentaten von 2001, als viele verdächtigt wurden, häufig Unterstützung von christlichen Kirchen, Institutionen und christlichen wie jüdischen Gemeinden (Haddad/Ricks 2009, S. 24). In Deutschland bemühen sich die »Islambeauftragten« oder »Dialogbeauftragten« der Kirchen um Austausch und Kontakte. Lokale Kirchenkräfte sind in ganz Europa zum Teil Partner, zum Teil aber auch Gegner muslimischer Anliegen (Fetzer/Soper 2005, S. 122). Vor allem die kirchlichen Akademien und andere religionspädagogischen Mittlerinstitutionen sind hier von Bedeutung. Es ist auffällig, dass sie die in der liberalen Theorie angelegte Zweiteilung der gesellschaftlichen Funktionen der Kirche in einen inneren theologischen und einen äußeren sozialethischen Raum wesentlich klarer erkannt haben als ihre kirchlichen Führungsetagen, die, wie gesehen, noch immer eine stark fundamentalistische Theologie pflegen. Fritz Erich Anhelm, damaliger Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Akademien in Deutschland (EAD), warnt zum Beispiel vor neuen Religionskämpfen. Ausdrücklich fordert er, zwei Ebenen auseinanderzuhalten: die der »religiösen Grundwahrheiten« und des persönlichen Gottesverständnisses und die der »Religionskultur«, die durch ein Zusammenleben im Stadtteil, in der Schule und im Beruf geprägt sei (Anhelm 2006, S.  13). Nur durch eine solche Unterscheidung sei die Lösung von Alltagskonflikten überhaupt möglich. Walter Schöpsdau, Referent eines katholischen Zentralinstituts in Bensheim, bezeichnet die christlichen Kirchen als »Schuldner der säkularen Neuzeit«, da es ihnen nach dem Religionsfrieden von 1648 erlaubt worden sei, an ihren fundamentalen Wahrheiten festzuhalten, ohne sich um den Dialog mit der Welt jenseits ihrer eigenen Glaubensgemeinschaften kümmern zu müssen (Schöpsdau 2006, S. 202ff.). Im inneren theologischen Raum hält Schöpsdau »prinzipiellen Pluralismus« denn auch für sinnlos, da sich so jegliche Kommunikation erübrige. Gegenüber dem »Anderen« allerdings müsse eine Grundhaltung der »Anerkennung von Alterität« herrschen. Globalisierung, technische Überlegenheit und Ereignisse wie die Attentate des 11. September haben eine »neue Euro-

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zentrik« gefördert, die durch einen Dialog ersetzt werden müsse, in dem »der Streit um Wahrheit ebenso wie die Achtung fremder Freiheit« Raum finden. In den wenigen Untersuchungen, die sich mit dem Dialog in den Kirchengemeinden beschäftigen, zeigt sich, dass auch hier alle Motive genannt werden, die für einen gelungenen Dialog notwendig erscheinen: Neugier, Respekt, das Werben um Verständnis, die Suche nach spiritueller Begegnung usw. (Klinkhammer/Satilmis 2007, S.  21ff.; vgl. a. Klinkhammer/Satilmis 2008). Leider kann man nicht beurteilen, wie repräsentativ derartige Haltungen für das »Kirchenvolk« insgesamt sind, denn die Befragten in solchen Studien werden aus Kreisen von nur wenigen aktiven und motivierten Christen rekrutiert. Gritt Klinkhammer und Ayla Satilmis stellen denn auch fest, dass der christlich-islamische Dialog insofern asymmetrisch ist, als hier auf christlicher Seite häufig religionswissenschaftlich vorgebildete Dialogprofis mit muslimischen Laien sprechen, die, wenn überhaupt, Bindung zu islamischen Organisationen ohne theologischen Auftrag haben (Klinkhammer/Satilmis 2007, S. 39). Wenn aber viele Christen gar nicht am Dialog teilhaben, entsteht der Eindruck, dass, von Ausnahmen abgesehen, auch an der Basis der christlichen Kirchen Berührungsängste gegenüber dem Islam sehr verbreitet sind. Christen sind letztlich ein großer Teil der europäischen Bevölkerungen, in denen Islamophobie floriert (Kap. II.1). Ob und inwieweit sich praktizierende Christen von diesen Problemen durch einen religiös begründeten Umgang mit anderen Religionen lösen und einen Beitrag zu Gesellschaftsfrieden, Integration und Anerkennung leisten können, muss weiter erforscht werden. In der Zwischenzeit ist davon auszugehen, dass die Islampolitik der Kirchenführungen an der Kirchenbasis Spuren hinterlässt. Eine Befragung von Akteuren im christlich-islamischen Dialog hat ergeben, dass viele davon sprechen, dass die Exklusion des Islams in der Gesellschaft auch deswegen erfolgreich sei, weil es den Kirchen gelungen sei, die »fremde« Religion als Integrationshindernis zu stigmatisieren (Halm 2008, S. 30, 49f., 102). Dirk Halm beklagt nach seiner Studie denn auch ein Abflauen des Dialogs im lokalen Raum. Der christlich-islamische Dialog verkomme immer mehr zu einem Gremiendialog, geführt von Einrichtungen auf mittlerer Institutionsebene. Es lässt sich folgern, dass die Annahme, dass die christlichen Kirchen lebendige, heterogene und in sich pluralistische Institutionen sind, in denen die Kirchenführungen völlig losgelöst fundamentalistische Weltbilder entwerfen, während dialogbereite Akademien, Priester und Gläubige einen interreligiösen Dialog zum Wohle der Gesellschaft pflegen, zu simpel ist. Die Kirchen dürfen nicht durch künstliche Politisierungen Anerkennungsfortschritte in anderen Bereichen der Gesellschaft zunichtemachen. Ihre zum Teil auch rechtlich definierte Aufgabe ist es vielmehr, im öffentlichen Interesse als Mittlerinnen zwischen Individuen und Gruppen zu wirken, die die Religion ins Zentrum ihres Lebens stellen wollen – ganz gleich welche Religion.

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Zusammenfassung und Fazit – Verbindung durch Dialog Kommunikative Solidarität und die Neuerfindung der liberalen Gesellschaft in Europa

Eines der Hauptprobleme liberaler Demokratien in Europa stellt heute die Tatsache dar, dass in der bürgerlichen Gesellschaft islamfeindliche Haltungen, die als eine spezifische Form von Rassismus zu kennzeichnen sind, äußerst verbreitet sind. Der weitgehend inklusive Charakter des politischen Systems sowie die grundsätzlich positive Haltung von Mehrheiten und Minderheiten gegenüber dem System haben leider nicht zu dem gesellschaftlichen Frieden geführt, den man sich erhoffen konnte. Unter der Oberfläche der Systemtreue und der Stabilität politischer Systeme schlummern erhebliche Konflikte zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa. Wenn eine Mehrheit nicht an die Verfassungstreue einer Minderheit glaubt, ihr jegliche soziale Integrationsbereitschaft und kulturelle Passfähigkeit abspricht, und wenn sich die Minderheit in hohem Maße diskriminiert fühlt, dann leben wir in einer instabilen Angstgesellschaft. Feindbilder haben heute in Europa enorme Konjunktur, sie reichen tief in die bürgerliche Gesellschaft. Während nur eine Minderzahl sich offen zum Rassismus bekennt, glaubt der überwiegende Teil der Mehrheitsgesellschaft, der Islam sei gewaltsamer als das Christentum und/oder nicht vereinbar mit westlichen Werten und der westlichen Kultur. Alltagsdiskriminierung ist keine zwangsläufige, allerdings eine verbreitete Reaktion. Islamfeindliche Gewalt ist zwar relativ selten, sie ist aber ein in ganz Europa vorhandenes Problem, wenngleich dies öffentlich noch wenig Beachtung findet. Der inhaltliche Wendepunkt für das Islambild waren nicht die Attentate vom 11. September 2001, sondern es war die Iranische Revolution von 1978/79. Hier wurde die im europäischen Kulturerbe angelegte latente Islamfeindlichkeit durch die Politisierung einer fundamentalistischen Bewegung neu belebt. Die Attentate von 2001 haben an der Substanz des Islambildes wenig verändert, das Ereignis war aber für den gesellschaftlichen Umgang des Westens mit

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dem Islam von entscheidender Bedeutung. Es führte zu einem Dammbruch bei der Entwicklung des »Feindbildes Islam« bei rechtspopulistischen Parteien, zu verstärkter Diskriminierung und auch zu Gewalt gegenüber Muslimen. Es existieren gewisse Unterschiede in der Wahrnehmung des Islams in einzelnen europäischen Ländern: Eine grundlegende Islamfeindlichkeit ist gerade in Zentraleuropa sehr verbreitet, wohingegen sie in westeuropäischen Staaten leicht gedämpft in Erscheinung tritt. Öffentliche Islambilder tragen in Europa deutliche Züge einer Art kollektiven Wahrnehmungsextremismus: Sie sind hochgradig selektiv, parolenartig, stark abwertend und lassen einen radikalen Denkstil erkennen. Diese Negativbilder des Islams als »rassistisch« zu bezeichnen, ist insofern berechtigt, als wir heute von einem Rassismus »ohne Rassen« sprechen, der weniger physische Merkmale als vielmehr die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kultur/Religion zum Differenzkriterium erhebt. Rückentwicklungen zum genetischen Rassismus werden bisher von der Mehrheit der Europäer und in den großen Medien zurückgewiesen, der kulturelle Rassismus hingegen wird gar nicht als Rassismus betrachtet und banalisiert. Nur durch diese Umstrukturierungen von Fremdenbildern ist es möglich, dass ein großer Teil der europäischen Bevölkerungen heute von sich behauptet, nicht rassistisch zu sein, sich offen gegen den Antisemitismus wendet und zugleich negative Vorurteile gegenüber dem Islam und den Muslimen pflegt. Islamfeindlichkeit wird durch dieses Wechselspiel zu einer Art politisch korrekter Salon-Islamophobie, die bis tief in die bürgerlichen Kreise hineinreicht und keineswegs ein extremes und radikales Element, sondern eine europäische Volkskultur darstellt. Zwar ist die Islamfeindlichkeit der Mehrheit nicht unbedingt intentional, sie muss sich weder in Alltagsdiskriminierung noch in islamfeindlicher Gewalt äußern. Sie wird aber, dafür gibt es genügend Anhaltspunkte, von rechtsextremen islamfeindlichen Gewalttätern als treibende Kraft für deren Taten verstanden. In diesem Sinne trägt die bürgerliche Gesellschaft eine zumindest indirekte Verantwortung für islamfeindliche Attentate, wie sie in Deutschland und Norwegen geschehen sind. Die Taten Einzelner liegen durch die fremdenfeindliche Ausstrahlungskraft, die populäre Islambilder haben, in der Verantwortung aller. Die Wissenschaft kann kein Interesse daran haben, reflexhaft der Mehrheit »Rassismus« und Minderheiten »Integrationsverweigerung« vorzuwerfen, vielmehr geht es heute um eine differenzierte Bilanz der Einstellungen und Verhaltensweisen von Muslimen und Nicht-Muslimen. Islamophobie ist deutlich verbreiteter als fundamentale Aversionen der Muslime Europas gegen die westliche Kultur und die christliche Religion. Der Eindruck der Asymmetrie der wechselseitigen kulturellen Wahrnehmungen ist durchaus erklärbar, denn er folgt dem Machtgefälle, das zwischen beiden Gruppen in Europa besteht – in der islamischen Welt herrschen vielfach ähnliche Ressentiments gegenüber autochthonen religiösen Minderheiten. Dass kulturelle Hegemonie in modernen Einwanderungsgesellschaften ausgelebt wird, ist denn auch ein weltweit

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ungelöstes Problem. Europa macht hier, trotz seines freiheitlichen politischen Rahmens, keine Ausnahme. Nicht jedes Feindbild ist unberechtigt, zumal es auch reale Feinde gibt. In der Tat finden sich in einzelnen Teilen der muslimischen Population in Europa erhöhte Kriminalitätswerte, Bildungsdefizite und Zeichen für ökonomische Deprivation. All diese Probleme sind nicht von der Hand zu weisen, und zwar auch dann nicht, wenn man dem Begriff der »Integration« kritisch gegenübersteht. Aus Sicht der liberal-demokratischen Politik- und Gesellschaftstheorie muss man politische, ökonomische und kulturelle Minimalanforderungen an Einwanderer streng trennen von der durch das System ja gerade gewollten und erzeugten Freiheit zur Differenz in der pluralistischen Gesellschaft. Aktuelle Probleme vieler Einwanderer berühren aber in der Tat die Grundlagen der gesellschaftlichen Solidarität, so dass Integrations- und Anerkennungspolitik miteinander verbunden werden müssen. Dabei zeigen alle empirischen Untersuchungen, dass die Integrationsprobleme von Muslimen in Europa wenig mit der Religion des Islams zu tun haben. Statistisch ist ganz eindeutig, dass nicht die Religionszugehörigkeit und nicht einmal der Grad der Religiosität ausschlaggebend ist, sondern die soziale Herkunft, die wiederum oft mit der regionalen Herkunft der Einwanderer in Verbindung steht. Zum Beispiel besitzt die türkische Einwanderung nach Deutschland eine ganz andere soziodemographische Struktur als die arabische und iranische, die arabische Einwanderung nach Frankreich wiederum ist anders als die nach Deutschland. Iraner und viele Araber in Deutschland weisen sehr gute Integrationswerte auf und auch innerhalb der stark türkisch geprägten sozial deprivierten Schichten bestehen sehr viele verschiedene Facetten der Integration. Trotz real existierender Probleme gibt es zu gesellschaftlichem Alarmismus und zu übertriebener Angst vor »Parallelgesellschaften« keinen Anlass. Zudem beweisen Muslime insgesamt nicht nur ein hohes Vertrauen in das Politik- und Gesellschaftssystem der europäischen Staaten (s.u.), extremistische politische Einstellungen sind auch nicht häufiger vorzufinden als im Rest der Gesellschaften. Für Kulturalisierung und Islamophobie gibt es also keinen Grund. Aus theoretischer Sicht gibt es zwar mittlerweile sehr viel Literatur über Toleranz und Anerkennung. Deren Positionen werden aber nur selten mit der liberalen Demokratietheorie verbunden. Diese Schwäche des liberalen Denkens ist von anderen Theorierichtungen kritisiert worden, in den USA maßgeblich vom Kommunitarismus, zu dem letztlich auch der »multikulturelle Nationalismus« zu zählen ist. Es scheint kaum möglich zu sein, aus den negativen Toleranzforderungen der liberalen Theorie eine positive Toleranzgesellschaft abzuleiten, in der multikulturelle Gemeinschaftsideale vorherrschen. Betrachtet man die Ursachen für den Rassismus, so stellt man tatsächlich fest, dass ungeachtet ideologischer und machtpolitischer Vorgaben des politischen Systems zahlreiche Ursachenkomplexe tief in den Gesellschaftsstrukturen der Moderne verborgen liegen. Die Probleme der interkulturellen Kontaktarmut, der globalen Bildungsdefizite,

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sozialen Deprivation und Ausgrenzung von Einwanderern werden durch eine liberale Politiktheorie allein nicht zu lösen sein. Die Frage steht im Raum, wie die Metawerte von Toleranz und Anerkennung gefestigt werden können, ohne dabei zu traditionellen Gruppenideologien und künstlichen Formen der Islamisierung zurückkehren zu müssen, die ja gerade den Rohstoff für moderne ethnisch-religiöse Feindbilder liefern. Moderne Anerkennung in der multikulturellen Gesellschaft beinhaltet die Akzeptanz des Anderen ebenso wie die Zurückweisung von mit den Menschenrechten und dem liberalen Prinzip der Demokratie unvereinbaren Denk- und Verhaltensweisen. Sie ist konfliktoffen und dialogintensiv. Allerdings ist der Anerkennungs- und Toleranzdiskurs bislang weitgehend ein Annex von rechtsstaatlichen Debatten geblieben, in der liberalen Demokratie und bei der Bekämpfung von Islamfeindlichkeit aber geht es in hohem Maße um Probleme, die das Rechts- und Politiksystem allein nicht lösen kann: • Wertedefizite: Der Zusammenhang zwischen Islamophobie und autoritären dogmatischen Werten ist gerade in Ländern wie Deutschland, den Niederlanden, Italien und Großbritannien stark ausgeprägt; Werte der Religionsfreiheit sind zwar verbreitet, haben sich aber in Europa – offenbar anders als in den Vereinigten Staaten – nicht mit den Werten einer Einwanderungsgesellschaft verbunden und scheinen auf die christliche – und die jüdische? – Religion beschränkt zu sein. • Soziale Deprivation: Islamophobie ist auch von sozioökonomischen Faktoren abhängig, Islamfeindlichkeit ist also zumindest teilweise »konjunkturbedingt«, ähnlich wie beim Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Allerdings wäre es verkürzt, Islamophobie als Folge von Armut betrachten zu wollen, denn es geht um relative Deprivation: Auch wachsende Abstiegstendenzen der Mittelschicht stärken gerade deren habituell-kulturelle Abwehrreaktionen. Kulturelle Distinktion und kulturelle Ablehnung von »Fremden« werden zum Erkennungsmerkmal für diese neue Mittelschicht. Man sollte zudem nicht übersehen, dass sozioökonomische Krisen eher ein verstärkender als ein auslösender Faktor von Islamfeindlichkeit sind, die es schließlich auch in Zeiten von Hochkonjunktur gegeben hat. • Interkulturelle Kontaktdefizite: Während Muslimen immer wieder vorgeworfen wird, sie würden sich sozial zu wenig integrieren, pflegt ein großer Teil der nicht-muslimischen Bürger Europas keinen Kontakt zu Muslimen und hält bewusst Distanz. Kontaktarmut gilt denn auch als ein wesentlicher Faktor zur Aufrechterhaltung von Stereotypen und Vorurteilen. Muslime sind ungeachtet ihrer wachsenden Zahl und unmittelbaren Anwesenheit im lokalen Raum vielfach noch immer »abwesende Fremde«. • Eurozentrische Bildung: Bildung gilt generell als Dämpfer gegen Rassismus und auch im Bereich der Islamfeindlichkeit lässt sich ein positiver Einfluss hoher formaler Bildung nachweisen, allerdings auf einem Niveau, das weit

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über das allgemeine Bekenntnis zum Rassismus hinausweist, was Fragen über das Vorhandensein islamspezifischer Bildung in Europa aufwirft. Die Ursachen dafür, dass die europäische Demokratie stabil erscheint, ihre Gesellschaften jedoch in hohem Maße fremden- und islamfeindlich geprägt sind, hängen zwar auch mit dem Versagen der Politik und des Rechtssystems zusammen. Diese haben in ihren zentralen Aufgabenbereichen der Legislative, Exekutive und Judikative deutliche Fortschritte bei der rechtlichen Gleichstellung des Islams gemacht, gerade ihre ideologische Entwicklung ist aber defizitär und beeinflusst die Definition des gemeinschaftlichen Wertezentrums der Gesellschaft. Andere Phänomene der Islamfeindlichkeit zeigen dennoch, dass das politische System nicht allein und vielleicht nicht einmal hauptverantwortlich für die Islamophobie ist. Neben der Verantwortung, die jeder Einzelne besitzt, sind in mehreren Funktionssystemen der Gesellschaft, die einen Beitrag zur Lösung des Rassismusproblems leisten könnten, deutliche Fehlentwicklungen zu erkennen. Als generelle Formel kann gelten, dass die Defizite mit dem Abstand der Teilsysteme von Staat und Verfassungsauftrag wachsen. Sehr ausgeprägt sind Probleme der Islamfeindlichkeit und der Diskriminierung in den Medien – in Massenmedien wie im Internet – und in der privaten Wirtschaft, etwas besser ist die Bilanz in Wissenschaft und Schule. Nicht alle Bereiche sind allerdings bereits empirisch hinreichend erforscht. Dennoch lässt sich sagen: Die größten Probleme der Islamophobie liegen heute nicht im Bereich der politischen Steuerung, sondern bei Werten, Wissen und Kommunikation der modernen Gesellschaft. Das politische System der liberalen Demokratie ist durch zwei Wegmarkierungen gekennzeichnet: den liberalen Rechtsstaat und die demokratische Souveränität. Die oberste Maxime des Rechtsstaates ist die Gleichbehandlung, Säkularismus bedeutet Gleichstellung des Individuums vor dem Gesetz. Andere Aspekte des Säkularismus wie die Trennung von Religion und Politik oder die »Privatisierung« von Religion, die sich aus dem öffentlichen in den privaten Raum zurückzieht, sind nachrangig. Das Verhältnis von liberalem Recht und Demokratie ist konfliktreich, da die Demokratie in Wirklichkeit ein hegemoniales Prinzip verkörpert. Demokratische Mehrheiten intervenieren daher permanent in den auf Gleichheit von Minderheiten und Mehrheit abzielenden Rechtsstaat. Dies hat dazu geführt, dass sich der Säkularismus historisch langsamer entwickelt hat als die Demokratie. Säkularität ist in vielen Bereichen eher ein Ideal als eine Realität, die »farbenblinde« Demokratie ist zum Teil ein Mythos. Auch bei der Analyse der Stellung des Islams in Europa hat sich gezeigt, dass die rechtliche Emanzipation zwar in vollem Gange, aber noch längst nicht abgeschlossen ist. Die Status des Islams in den Rechtssystemen europäischer Staaten weist, je nach Art des säkularen Systems, unterschiedliche Problemzonen auf: Das laizistische System Frankreichs grenzt die Religionsfreiheit im staat-

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lichen Raum übermäßig ein. Das britische Modell ist grundsätzlich liberaler, bevorzugt jedoch christliche vor nicht-christlichen Symbolen. Deutschland hat gerade im Bereich des schulischen Islamunterrichts erheblich aufgeholt, das deutsche Gesetz definiert aber durch das Körperschaftsrecht weitgehende Privilegien für Religionsgemeinschaften, die im Fall des Islams nicht anerkannt sind. Das Land befindet sich hier augenscheinlich in einer Sackgasse, wobei das bestehende Rechtssystem die Anerkennung des Islams unmöglich macht, eine Änderung des Rechts aber politisch nicht gewollt ist. Wie ist der Einfluss von Muslimen im legislativen Raum von Parlamenten, Parteien und Interessenvertretungen zu beurteilen? Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass der multikulturelle Liberalismus keinen festen Ort im ideologischen Spektrum europäischer Parteien einnimmt. Tendenziell linke Parteien bekennen sich zwar zu einer pluralistischen kulturellen Weltsicht, wenngleich – vielleicht mit Rücksicht auf verbreitete Vorurteile an ihrer Basis – Fragen der sozialen Verteilung oder Umweltprobleme wesentlich stärker profiliert werden. Zugleich ist eine unterschwellige Anerkennung multikultureller Ideen heute in nahezu allen Parteiideologien auf dem Vormarsch. Selbst konservative Parteien beharren zwar auf kultureller Hegemonie, haben sich jedoch von ihren früheren völkischen Ideologien gelöst. Demnach können Einwanderer die Nationalkultur also zumindest erlernen, sie sind nicht mehr qua Geburt von ihr ausgeschlossen. Trotz dieser erkennbaren Entwicklungen werden Ideen wie der »multikulturelle Nationalismus« oder der »kosmopolitische Liberalismus«, die heute etwa in Nordamerika hoch gehandelt werden, in den europäischen Öffentlichkeiten kaum diskutiert. Sowohl der multikulturelle Konsens des linksliberalen Politikspektrums als auch der moderne Konservatismus bleiben unauffällig und passiv. Die Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik einiger europäischer Länder ist sehr restriktiv. Dort, wo Muslime allerdings Staatsbürger sind und politisch aktiv werden, haben sie durchaus eine Aufstiegschance im politischen Raum. Die Repräsentanz von Bürgern muslimischer Provenienz oder Herkunft im legislativen politischen System europäischer Staaten ist insgesamt besser als in den USA. Das weniger auf direkte Wahlprozesse abgestellte und den Parteieliten mehr Handlungsfreiheiten ermöglichende System der Parteiendemokratie Europas scheint den politischen Aufstieg von Muslimen zu begünstigen. Gleichzeitig bedeutet »Repräsentation« nicht immer auch »Partizipation«. Vielen Muslimen machen eine politische Karriere nur um den Preis einer starken inhaltlichen Anpassung. Spezifische Islamthemen können sich in den Parteien kaum entfalten. Kenan Kolat, der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), sagt deshalb zu Recht, dass er nicht mehr über »Integration«, sondern auch über »Rassismus« und »mehr gesellschaftliche Partizipation« sprechen wolle.165

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Strukturell stehen die Parteien Europas an einer Schnittstelle zwischen fortschrittlichen Ideologien einerseits und Islamfeindlichkeit an der Parteibasis andererseits. Gleichberechtigungsforderungen wie die nach Einführung eines islamischen Feiertags oder die Gleichbehandlung von islamischen und christlichen Symbolen in Schulklassen werden im politischen Raum denn auch allenfalls hinter verschlossenen Türen verhandelt und in der Öffentlichkeit in der Regel ignoriert oder skandalisiert. Die aus der liberalen Theorie abgeleiteten Forderungen nach spezifischen Förderprogrammen oder sogar speziellen Gruppenrechten für Einwanderer finden bislang in Europa kaum Resonanz. Lediglich in einzelnen Parteien werden Quoten für Migranten diskutiert. Zahl und Umfang der Lobbyaktivitäten von europäischen Islamorganisationen nehmen zu, allerdings ist es schwer, ihren Einfluss auf das politische System zu bestimmen, zumal die meisten Länder politischem Lobbyismus weniger Raum geben als die Vereinigten Staaten. Betrachtet man Islamorganisationen und andere ethnische Vertretungen von Einwanderern, so formulieren diese vielfach sehr unterschiedliche politische Positionen, etwa bei der Frage der Präsenz religiöser Symbole im staatlichen Raum. Eine wachsende Vielfalt der Interessenvertretungen der Muslime in Europa ist zu verbuchen. Gerade die politische Linke scheint sich zudem leichter zu tun, muslimische Akteure in zivilgesellschaftliche Netzwerke und soziale Bewegungen zu integrieren. Allerdings sehen sich Muslime bei basisdemokratischen Aktivitäten häufig einer überwältigenden Repräsentation von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft gegenüber, so dass sie zwar Teile von allgemeinen Friedens-, Antiglobalisierungs- und Umweltbewegungen sein können, spezifische muslimische Interessen auf diesem Wege aber nur schwer durchsetzen können. Bei Moscheebaukonflikten hilft ihnen der Rechtsstaat, bei einer zu starken Agitation von rechtspopulistischen politischen Kräften kommt es zu spontanen antifaschistischen Bündnissen. Allerdings müssten die Allianzen innerhalb der Zivilgesellschaft, auch und gerade zwischen Muslimen und Juden, noch wesentlich ausgeprägter und stabiler sein, wollten Muslime im außerparlamentarischen Raum einen nennenswerten politischen Einfluss gewinnen. Die ambivalente Position der europäischen Parlamente und Parteien beim Thema Islam wirkt sich auf die Regierungspolitik europäischer Staaten aus. In der liberalen Theorie sind Regierungen keineswegs nur das ausführende Organ des Volkssouveräns und daher sollten sie auch den Konflikt zwischen fortschrittlicher Ideologie und regressiver Islamfeindlichkeit, der in den Parteien erkennbar ist, nicht einfach exekutieren. Vielmehr erfüllen sie eine Doppelfunktion bei der Zusammenführung von Verfassungsauftrag und demokratischem Mehrheitswillen. Zudem werden dialogische Funktionen des Staates gerade im zivilgesellschaftlichen Demokratiemodell noch gestärkt, denn der Staat wird hier immer mehr zum Ansprechpartner für den außerparlamentarischen Raum (Bürgerinitiativen usw.). Viele der heutigen Unterstützungsmaß-

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nahmen für religiöse Minderheiten und Einwanderer sind auf Betreiben des Staates hin entstanden: Migrationsgipfel, Integrationspläne und Förderprogramme für Minderheiten. Dies trifft, entgegen der Annahme mancher liberaler Theoretiker, nicht nur auf die ehemaligen Kolonialstaaten wie England zu, sondern auch auf weite Teile Zentral- und Nordeuropas. In diesen Staaten erfolgt eine verspätete Anpassung an die Erfordernisse der Einwanderung und es macht sich bemerkbar, dass die Europäische Union den kulturellen Pluralismus gestärkt hat. Islamische Verbände finden in Brüssel Gehör, die in Europa mittlerweile eingeführten Antidiskriminierungsgesetze entstehen nicht zuletzt auf Betreiben der europäischen Politik. Insgesamt lässt sich erkennen, dass sowohl die nationalstaatlichen Regierungen Europas als auch die Brüsseler Politik zunehmend eine Art Wächterfunktion gegen gesellschaftliche Diskriminierung übernehmen. Anzeichen hierfür sind etwa die zahlreichen Stellungnahmen von Staatsoberhäuptern, die sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten für den Islam als Bestandteil Europas eingesetzt haben, staatliche Islamkonferenzen und Beratungsgremien. Europäische Spitzenpolitiker treten als Partei- und Oppositionsvertreter vielfach noch islamkritisch auf, als Minister, Regierungschefs und vor allen Dingen als repräsentative Staatsoberhäupter aber bedienen sie sich einer inkludierenden Rhetorik, die zumindest auf der Ebene symbolischer Politik den Erfordernissen des multikulturellen liberalen Rechtsstaates entspricht. Die Übernahme staatlicher Verantwortung entfaltet also eine »zivilisierende« Wirkung. Staatliche Toleranzpolitik ist in Europa nach wie vor lebendig. Während die staatliche Anerkennungspolitik Fortschritte gemacht hat, drohen vor allem seit den Attentaten des 11. September 2001 im Feld der inneren Sicherheit neue Herausforderungen. Terrorismusbekämpfung durch Rasterfahndung und verdachtsunabhängige Kontrollen in Wohnungen und Moscheen stellen nicht nur eine Gefahr für die Freiheitsrechte von Muslimen, sondern auch für die liberale Ordnung selbst dar. Die Grenzen zwischen legitimer Gefahrenabwehr und institutioneller Diskriminierung werden von europäischen Regierungen nicht immer eingehalten, notwendige Unterscheidungen etwa zwischen gewaltbereiten und gewaltlosen islamischen Fundamentalisten werden ignoriert. Ähnlich wie in den Vereinigten Staaten werden kollektive Merkmale, die tatsächliche oder vermeintliche Zugehörigkeit zum Islam, zu Kriterien der Strafverfolgung (ethnic profiling), was gegen die Menschenrechte verstößt und von europäischen Gerichten nur in ganz konkreten Verdachtssituationen erlaubt wird. Staatliche Islampolitik bleibt aus Sicht der liberalen Demokratietheorie also insgesamt ambivalent. Exekutive Politik wird so lange anfällig für Diskriminierung von Muslimen bleiben, wie auf der Ebene der Parteien und Ideologien kein umfassender multikultureller Konsens der politischen Klasse erzielt wird. Gerade der legislative Raum aber sieht sich zunehmendem Druck

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durch rechtspopulistische Parteien und einer bis tief in die bürgerliche Mitte hinein verbreiteten Islamfeindlichkeit ausgesetzt. Staat und Gesellschaft begegnen und überschneiden sich im Raum der politischen Kultur, der politischen Einstellungen, Werte und Normen, die häufig wichtiger sind als die institutionellen Systeme. Ohne dass die Werte der liberalen Demokratie von den Menschen gelebt werden, ist kein politisches System in der Lage, eine entsprechende Ordnung aufrechtzuerhalten. Werte gibt es auf verschiedenen Ebenen, von religiösen metaphysischen Überzeugungen über die individuelle Lebensführung bis hin zu Normen des sozialen und politischen Zusammenlebens, und nur letztere werden von der liberalen Demokratietheorie überhaupt erfasst. Liberale Ordnungen wollen ja gerade Diversität im Bereich von religiöser Überzeugung und Lebensführung ermöglichen, sie fordern dafür aber einen integrativen Konsens über politische Grundwerte. Das Staatsvertrauen ist bei Muslimen in Deutschland hoch ausgeprägt. Gibt es also keine Probleme bei den politischen Werten? Es ist möglicherweise ein Defizit der klassischen liberalen Theorie, dass multikulturelle Anerkennung über den Umweg der allgemeinen Toleranz gegenüber differenten Lebensführungen im Rahmen von Verfassungen und Gesetzen nur indirekt erfolgt. Gemeinschaftlichkeit wird demnach paradoxerweise über die Anerkennung von Differenz erzeugt, worunter zudem eher Differenz als Grundhaltung und nicht als Verpflichtung zu einem Dialog zwischen Minderheiten und Mehrheiten in einer Gesellschaft verstanden wird. Gemeinschaftswerte entstehen also in liberalen Systemen nicht durch die Beschäftigung miteinander, sondern durch die – geteilte – Loyalität gegenüber einem Dritten: der Verfassung. So kann es denn auch kaum verwundern, dass ein hohes Systemvertrauen bei Minderheiten wie auch bei Mehrheiten in Europa einhergeht mit gleichzeitigem gegenseitigem Misstrauen. Hier klafft eine erhebliche Wertelücke und es droht ein Bruch zwischen den Orientierungen der politischen Systeme und der Gesellschaften Europas. Die Mehrzahl der Bürger hat die Ziele von »Freiheit und Gleichheit« verinnerlicht, aber »Brüderlichkeit« im Sinne eines multikulturellen Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgefühls ist wenig verbreitet. Was Rosemarie Sackmann über die Niederlande gesagt hat, dürfte für weite Teile Europas gelten: »Politik [hat] sich auf die Integration der Zuwanderer konzentriert und die Integration der Einheimischen vernachlässigt« (Sackmann 2009, S. 134). Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg politische und wirtschaftliche Systeme mit weltweitem Vorbildcharakter geschaffen – die kulturelle Entwicklung seiner Gesellschaftsmehrheiten konnte aber mit diesen Veränderungen nicht Schritt halten. Die von Liberalen wie Timothy Garton Ash geforderte Toleranz gegenüber der Islamophobie, die sich frei äußern können müsse,166 ist als Schutz der Meinungsfreiheit durchaus berechtigt. Das klassisch-liberale Credo der Meinungsfreiheit und der Freiheitsrechte hat aber nicht verhindern kön-

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nen, dass europäische Öffentlichkeiten und Lebenswelten zu Tummelplätzen des Kulturenkampfes und der mangelnden interkulturellen Solidarität geworden sind. Außereuropäische Kulturen und Religionen, und insbesondere der Islam, werden nur von einer Minderheit als Teil der zeitgenössischen europäischen Kultur anerkannt. Welche Gefahren aus einer solchen Situation erwachsen, zeigt die Tatsache, dass sich viele Parallelen zum europäischen Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkennen lassen. Auch damals hinkte die gesellschaftliche Achtung vor dem Judentum der rapide fortschreitenden rechtlichen Emanzipation hinterher. Als Judenfeindschaft dann etwa in Deutschland in der Weimarer Republik sogar in die Parteienlandschaft vordrang, erkannten immer mehr Juden die Krisenhaftigkeit ihrer eigenen Existenz (Reinke 2008). Wie seinerzeit der Antisemitismus macht sich gegenwärtig Islamfeindlichkeit im europäischen Parteiensystem breit. Damals wie heute auch registrieren bereits einzelne Beobachter den drohenden Bruch zwischen politischem System und Gesellschaft. Sie machen sich Sorgen um die Stabilität der politischen Systeme in Europa. Allerdings ist ein vielleicht entscheidender Unterschied zur Weimarer Situation zu erkennen. Nicht die etablierten Parteien werden islamfeindlicher, sondern es bilden sich neue populistische Parteien am rechten Rand, die vom Spannungszustand zwischen System und Gesellschaft profitieren und die den Bürgern eine systemloyale politische Bühne für politischen Rassismus anbieten. Ob hiervon jedoch eine systemstabilisierende Wirkung auf das liberal-demokratische System ausgeht, ist noch völlig unklar. Der Rechtspopulismus kann auch erst der Beginn einer langsamen Aushöhlung der liberalen Demokratie und einer Transformation zur populistischen Radikaldemokratie oder zu autoritären Verhältnissen sein. In Europa existieren zwar anti-islamophobe Netzwerke, deren Stärke allerdings zu wünschen übrig lässt. Da es sich bei der Islamfeindlichkeit um ein in vielen Bereichen der bürgerlichen Gesellschaft vorhandenes Phänomen handelt, das selbst in linken und intellektuellen Kreisen vorhanden ist, fällt solchen Netzwerken die gesellschaftliche Mobilisierung oft schwer. In dem Maße, wie sich der Rassismus verbürgerlicht, wird der Antifaschismus ganz neue Wege gehen müssen, gerade große gesellschaftliche Institutionen wie die Gewerkschaften sind gefordert, sich hier nachhaltiger einzubringen. Natürlich könnte man annehmen, dass die Demokratien heute stabiler sind als zu »Weimarer« Zeiten und dass daher den Muslimen Europas keine echte Gefahr droht. Metawerte wie »Freiheit« scheinen fester verankert denn je, die politischen Systeme solider als in jeder anderen geschichtlichen Phase Europas. Wir sind also gut beraten, den Vergleich zwischen dem historischen Antisemitismus und der heutigen Islamfeindlichkeit mit Bedacht zu betreiben. Europas Gesellschaften haben sich im letzten Jahrhundert in vielfältiger Weise verändert. Ein Beispiel hierfür ist der wachsende Einfluss der Medien und die Ausbreitung

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der öffentlichen Kommunikation. Medien ermöglichen die in einer Demokratie notwendige Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft. Gerade die Massenmedien sind zunehmend in eine Position gelangt, die Kommunikation als dritte Ressource der Politik- und Gesellschaftsentwicklung neben Macht und Ökonomie erscheinen lässt. Die Stabilität einer politischen Ordnung und eines Gesellschaftsmodells, aber auch ihr Wandel hängen in hohem Maße von den Institutionen der Massenkommunikation ab. Sie stimulieren die Entstehung von Fremdenbildern. Obwohl die gesellschaftliche Wirkungsmacht der Medien umstritten ist, können diese ebenso zur multikulturellen Anerkennung wie zur Verfestigung des Rassismus beitragen. Mit Blick auf das Islambild deutscher und europäischer Medien scheinen explizite verbale Stereotype zwar abzunehmen, stereotype Sichtweisen werden aber über den Umweg der Themenstellung, der Themenhaushalte und der Bildgestaltung reproduziert. Die Kulturalisierung und negative Prägung des Diskurses über Muslime und die islamische Welt wird auf diese Weise in politisch korrekter Manier neu konfiguriert und es entsteht eine paradox anmutende »aufgeklärte Islamophobie«. Problematisch ist nicht die begründete Kritik an einzelnen muslimischen Akteuren, Praktiken usw., sondern die vor allem über die Themen- und Bildsteuerung erreichte stereotype Prägung der Berichterstattung, die die Vorstellung einer fundamentalen Differenz zwischen islamischer und westlicher Welt zum Ausdruck bringt. Mediale und gesellschaftliche Islamfeindlichkeit bedingen sich in hohem Maße gegenseitig. Immerhin haben die Massenmedien aber verbalen Rassismus zurückgedrängt und die Repräsentation von Muslimen verbessert, auch wenn es die thematischen Zwänge oft nicht zulassen, von echter Partizipation zu sprechen. Der Beitrag des Internets zur partizipativen Gesellschafts- und Demokratieentwicklung mag erheblich sein. Im Bereich des Rassismus jedoch sind eher Gegentendenzen einer Stärkung rassistischer Diskurse im Netz zu erkennen. Die Machtverhältnisse von Mehrheiten und Minderheiten bilden sich auch im Internet ab, werden sogar verschärft, da die traditionellen Filterinstitutionen der Medien fehlen. Das europäische Internet ist in hohem Maße zu einem Raum für islamfeindlichen »Hate Speech«, für Rassisten und Holocaustleugner geworden. Das Internet spiegelt beim Thema Islam nicht einfach rechtspopulistische und rechtsextreme Milieus wider. Das islamophobe Segment des Netzes ist, um nur ein Beispiel zu nennen, mit etwa 50 Prozent der Weblogs deutlich größer als das prozentuale Wähleraufkommen der Rechtspopulisten, was zeigt, dass sich hier ein erheblicher Teil der bürgerlichen Mitte islamfeindlich äußert. Virtuelle Islamophobie ist ungeachtet ihrer verbalen Artikuliertheit nicht zwangsläufig mit Gewalt verbunden, sie wird allerdings von islamfeindlichen Gewalttätern fast immer als Bezugsquelle genannt. In der Mitte der europäischen Gesellschaft bildet sich zunehmend ein Phänomen heraus, das es früher nur am gesellschaftlichen Rand gab – die Vergemeinschaftung von Rassisten.

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Diese virtuellen Gemeinschaften sind zwar weder mit den alten Stammtischen noch mit den Kadergruppen der Neonazis vergleichbar, ihr Mobilisierungspotenzial im Zentrum des sozialen Lebens ist aber nicht zu unterschätzen. Die europäische Wissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Revisionen unter dem Stichwort der Orientalismusdebatte durchlebt. Obwohl alle wesentlichen Impulse zu einer kritischen Diskussion der Stellung des Islams in Europa heute in der westlichen Wissenschaft beheimatet sind und in westlichen Akademien entstehen oder von westlichen Verlagen publiziert werden, muss fraglich bleiben, ob die nicht speziell mit dem Islam und der islamischen Welt beschäftigten Fächer eurozentrische Traditionen tatsächlich überwunden haben. Die Wissenschaft insgesamt aber funktioniert als Leitsystem einer fundierten Kritik der Islamophobie. Gewichtige Probleme erwachsen allerdings vor allem an den Nahtstellen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, im Bereich des öffentlichen Intellektualismus. Die europäische Öffentlichkeit hat in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Figuren hervorgebracht, die als »Islamexperten« auftreten und als fundamentale Islamkritiker eine enorme Resonanz erzielt haben. Ihr Wirken bleibt in der Regel, von Ausnahmen wie der italienischen Journalistin Oriana Fallaci abgesehen, national begrenzt. Sie werden jedoch weitaus eher als die Wissenschaft zu öffentlichen Meinungsführern. Die öffentliche intellektuelle Kultur in Europa ist keineswegs gegen Islamfeindlichkeit gewappnet, sondern gerade fundamentale Islamkritiker sind die Stimmgeber der populären Islamophobie und treiben den Bruch zwischen dem politischen System und der Gesellschaft voran. Ein Phänomen der Deliberalisierung ehemals liberaler und linker intellektueller Eliten ist beim Thema Islam deutlich zu erkennen. Die Ursachen ihres Erfolgs sind allerdings komplex. Der Bedarf der Medien nach scheinbar unabhängiger Expertise, die dann aber nicht vom Wissenschaftssystem abgestützt, sondern von den Medien selbst inszeniert wird, ist offensichtlich groß. Die Resonanz dieser Islamkritiker speist sich in der Regel aus der gleichzeitigen Präsenz auf verschiedenen Medienmärkten. Zentral ist das Zusammenspiel von Buchproduktion, Verlags-PR und der Event-Orientierung der Massenmedien, die die islamophoben Islamkritiker zu einem Ereignis machen und dabei enorme publizistische Kapazitäten aktivieren. Medien-Meinungsführer der Islamophobie entstehen also durch externe Tendenzen zur Boulevardisierung von Wissensmärkten ebenso wie durch interne Probleme des europäischen Intellektualismus und dessen gelegentliche Anfälligkeit für reaktionäre Radikalität, die keineswegs mit dem Zweiten Weltkrieg und im Zuge der »68er-Bewegung« verschwunden ist. Was den öffentlichen Schulsektor in Europa angeht, ist der multikulturelle Umbau von Lehrplänen und Schulbüchern in weiten Teilen Europas in vollem Gange. Islambezogenes Wissen scheint sich allerdings in den Fachlehrplänen nur sehr geringfügig niederzuschlagen. Teilweise wird diese gesamte Diversifizierung des Lehrstoffs in Projektlerneinheiten zum »Globalen Lernen«

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ausgelagert. Lehrpläne des Fachs Geschichte sind beispielsweise vielfach von früheren Stereotypen befreit worden, der islamrelevante Wissenszuwachs aber bleibt begrenzt. Die islamische Welt findet vor allem im Mittelalter Beachtung, in der Neuzeit dominieren selektive Einblicke in regionale Konflikte (Nahostkonflikt, Golfkriege, Terrorismus usw.). Gerade in der neuzeitlichen Geschichte bestehen enorme Wissenslücken, das Islambild ist äußerst fragmentarisch und konfliktfixiert, eine eigenständige und komparative Perspektive auf die Entwicklung orientalischer Gesellschaften in den letzten Jahrhunderten fehlt fast vollständig. Ein Thema wie »Migration« findet in Fächern wie Politik/Gesellschaft/ Wirtschaft stärkere Berücksichtigung, heutige Untersuchungen weisen aber zum Teil auf noch immer vorhandene analytische Klischees (z.B. das Konzept des »Identitätskonflikts«) und auf eine zu geringe Beachtung der Islamophobie als eigenständiges Thema. Insgesamt bleibt unklar, inwieweit Schulbuchwissen geeignet ist, das aus den Medien stammende Zerrbild der islamischen Welt zu konterkarieren. Die über Lehrpläne und Schulbücher hinausweisende Unterrichtspraxis ist bislang kaum untersucht worden und kann daher nicht beurteilt werden. Dass die Probleme der Islamophobie heute durch ein Zusammenspiel von zahlreichen Teilsystemen der Gesellschaft begünstigt werden, zeigt sich auch mit Blick auf die christlichen Kirchen. Grundlegende Dokumente der evangelischen Kirchenleitung in Deutschland beispielsweise zeigen ein sehr weitgehendes Abgrenzungsbedürfnis gegenüber dem Islam. Weltökumenische Ansätze sind hier nicht zu erkennen. Es dominiert ein fundamentaler Wahrheitsanspruch. Aus Sicht der liberalen Theorie noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass dieses Abgrenzungsbedürfnis auch in die soziale Alltagspraxis transferiert wird: Das gemeinsame Gebet zwischen Christen und Muslimen wird untersagt, muslimisches Personal soll in evangelischen Sozialeinrichtungen nicht eingestellt werden. Die Haltung der katholischen Kirche zum Islam ist ambivalent und sowohl durch die dialogischen Positionen des Zweiten Vatikanischen Konzils als auch durch gelegentliche Islampolemiken geprägt. Theologische Mittlerinstitutionen beider Kirchen, insbesondere die für Erwachsenenbildung zuständigen christlichen Akademien, scheinen wesentlich eher gewillt zu sein, den interreligiösen Dialog zu pflegen. Bei ihnen ist eine Unterscheidung zwischen fundamentalen theologischen und dialogischen Sozialfunktionen der Kirchen präsenter. Inwieweit die kirchliche Basis in den islamisch-christlichen Dialog einbezogen ist, lässt sich nicht mit abschließender Sicherheit sagen. Dass die Kirchen aber durchweg eine gesellschaftliche Mittlerfunktion mit Blick auf die Muslime Europas ausüben, ist zu bezweifeln. ***

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Kehren wir von Fragen der Islamfeindlichkeit und deren Ursprüngen zurück zu den Ausgangsproblemen dieses Buches: Wie kann eine Reform der liberalen Demokratie und der liberalen Gesellschaft gelingen? Wie ist es möglich, den drohenden Bruch zwischen einem sich auf säkulare Freiheit und Gleichheit zubewegenden System der liberalen Demokratie und einer in hohem Maße fremden- und islamfeindlichen europäischen Gesellschaft abzuwenden? Dazu drei Thesen: These 1: Die Anerkennung von religiösen Minderheiten ist Teil einer weiter gehenden politischen und sozialen Emanzipation westlicher Politik und Gesellschaft. Die unterschiedlichen Reformbestrebungen erzeugen neben positiven Wechselwirkungen aber auch Dilemmata, die nur überwunden werden können, wenn »Eliten« und »Basis« einen neuen Gesellschaftsvertrag eingehen, der es erlaubt, ihre jeweiligen Stärken für ein gemeinsames Projekt der Weiterentwicklung Europas zur pluralen Gesellschaft zu nutzen. Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsreformen hängen eng zusammen. Anerkennung und Toleranz sind Elemente einer Emanzipation von Politik und Ökonomie. Die Verbesserung der politischen Repräsentation von Minderheiten ist zum Beispiel Bestandteil einer stärkeren Beteiligung der Bevölkerungen an politischen Entscheidungen in einer postdemokratischen Ordnung (vgl. Einleitung; Crouch 2004; Mouffe 1993, 2005). Die ökonomische Integration von Einwanderern und die Vermeidung von Hyperausbeutung (Young 1990) werden nur im Rahmen einer ökonomischen Emanzipation deprivierter Klassen und Schichten möglich sein. Die Einsicht in diese Wechselwirkungen reicht aber lange nicht aus, denn kulturelle Anerkennung ist nicht die zwangsläufige Folge anderer Emanzipationsbestrebungen, da diese sich auch gegenseitig blockieren können. Folgende Dilemmata lassen sich erkennen: • Das Basisdemokratie-Anerkennungs-Dilemma: Viele Theoretiker der Postdemokratie fordern heute eine Verbesserung der basisdemokratischen Teilhabe (vgl. Einleitung). Nicht nur die Erfolge der deutschen »Piratenpartei« weisen in diese Richtung, die neue Netzwerkgesellschaft des Internets (Castells 2002) scheint die Einführung von entsprechenden Mechanismen historisch erstmalig auch in großräumigen Nationalstaaten praktikabel zu machen. Radikaldemokratie entfesselt allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit zugleich die Kräfte der kulturellen und religiösen Hegemonie. Fortschritte bei der demokratischen Partizipation bedeuten also möglicherweise Rückschritte bei den liberalen Rechten: Carl Schmitts Hinweis auf die intrinsische Unvereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie würde dann in der Postdemokratie bestätigt. Der derzeitigen repräsentativen Demokratie kann man vieles vorwerfen – eine zu geringe Repräsentanz, versäumte Diskussionen über Quo-

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ten und ideologische Uneindeutigkeit – und Reformen dieses Systems sind dringend geboten. Zugleich garantiert sie aber einen weitgehenden rechtlichen Schutz der Religions- und Kulturfreiheit von Minderheiten. • Das »Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma«: Dieser von Nancy Fraser geprägte Begriff (redistribution-recognition dilemma, Fraser 2008a) bezeichnet die Tatsache, dass all diejenigen, die eine sozialistische Wirtschaftsordnung anstreben, erkennen müssen, dass es leider oft eher die kapitalistischen Eliten sind, die für Globalisierung und internationalistische Öffnung plädieren, während deprivierte Teile der Bevölkerung vielfach zum Sozialdarwinismus neigen und linke Eliten antiglobalistische, antieuropäische und dadurch in hohem Maße nationalistische Lösungskonzepte befürworten (vgl. Kap. II.3). • Das Meinungsfreiheits-Anerkennungs-Dilemma: Die Entwicklung des modernen Internets hat gezeigt, dass die Befreiung des Menschen von den Zugangsbeschränkungen des Journalismus und der Medienindustrie den Rassismus in der Öffentlichkeit nicht beseitigt, sondern ihn im Gegenteil gestärkt hat (Margolis/Moreno-Riaño 2009). Die Massenmedien mit ihren politisch korrekten Variationen der Islamfeindlichkeit sind problematisch genug; »Hate Speech« im Internet ist aber schlimmer und ein weit ins europäische Bürgertum reichendes Phänomen. Diese Konstellation führt unmittelbar zu einem Dilemma der kommunikativen Solidarität, wobei zwar Meinungsfreiheit und der Persönlichkeitsschutz im Internet, aber auch ein konsequentes Vorgehen gegen Rechtsverstöße im virtuellen Raum thematisiert werden müssen. Anerkennung und Toleranz sind also nicht zwangsläufig Bestandteile einer Bewegung zu politischer und ökonomischer Emanzipation. Emanzipationsbestrebungen können sich als »Nullsummenspiele« erweisen, wenn Fortschritte in einem Bereich Rückschritte in einem anderen nach sich ziehen. Um solche Konstellationen in »Win-win-Spiele« zu überführen, muss ein Junktim geschaffen werden, wobei ein verbesserter Zugang zu Ressourcen der Macht und der Ökonomie mit einem Toleranzversprechen gekoppelt wird. Nur eine derartig konditionierte Machtausübung darf in Zukunft als legitim gelten. Ein Bekenntnis zu neuen Formen der Radikaldemokratie und der sozialen Umverteilung reicht nicht aus, denn es geht zugleich um die Erneuerung des Bekenntnisses zum liberalen Prinzip der schützenswerten Autonomie und Freiheit des Individuums. »Anerkennung« bedeutet in diesem Zusammenhang die Akzeptanz aller rechtskonformen Artikulationen im Bereich der »ungewählten Ungleichheiten« (Dworkin 2011). Sie betrifft nicht nur Fragen der ethnischen Herkunft und der Religion, sondern auch Geschlecht, Sexualität oder »Behinderung«. Sollte eine Kopplung von Emanzipationsforderungen nicht zu erreichen sein, wäre das Bekenntnis zu liberalen Rechten vorrangig, denn hier geht es um vorstaatliche Menschenrechte.

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Garanten der liberalen Ordnungen sind keineswegs immer die staatlichen Eliten, wie etwa der Fall Ungarns unter Premierminister Orbán zeigt (Kap. II). Auch die Zivilgesellschaft kann unter autoritären oder semiautoritären Herrschaftsbedingungen zur Hüterin des Liberalismus werden. Zumindest in West-, Zentral- und Nordeuropa aber bezieht der Staat seine Legitimität, die unter den Gesichtspunkten der machtpolitischen und ökonomischen Gerechtigkeit durchaus angezweifelt werden kann, in hohem Maße aus seiner Rolle als Verfassungshüter. Will man den Staat politisch und sozial verändern, muss man auch die staatliche Schutzfunktion für den Liberalismus in die Gesellschaft hinein verlagern. Reformerische Demokratietheorien haben zwar Lösungen im Bereich der Anerkennungsfrage angedacht, dabei allerdings alle anderen machtpolitischen und ökonomischen Gerechtigkeitsfragen weitgehend außer Acht gelassen (Walzer, Taylor, Kymlicka u.a.). Radikalere Reformdenker der Postdemokratie (Crouch, Mouffe u.a.) haben diese Verteilungsfragen aufgegriffen, tendieren aber dazu, die Dilemmata der Anerkennung auszublenden. Theoretiker der Wechselwirkungen von Emanzipationen (Young, Fraser, Benhabib, Habermas u.a.) erkennen die Grenzen ökonomischer und utilitaristischer Theorien – und ihre Reformvorschläge münden überwiegend in neue Konzepte der deliberativen Demokratie (s.u.). These 2: Das Hauptproblem der Islamfeindlichkeit und der kulturellen Anerkennung besteht heute nicht im Versagen der »liberalen Demokratie« als politischen Systems, sondern in den Unzulänglichkeiten der Werteordnung europäischer Gesellschaften, die Multikulturalität und religiöse Diversität nicht hinreichend akzeptieren. Toleranzmängel sind in hohem Maße Kulturdefizite, es geht um kulturelle Macht als Mittel der sozialen Privilegierung. Intoleranz erfüllt emotionale, massenpsychologische Bedürfnisse, hängt aber auch mit Wissensdefiziten zusammen, so dass eine Erneuerung der Werte der Anerkennung nur im Rahmen einer Weiterentwicklung der Wissensgesellschaft zur Globalisierung erreicht werden kann. Nicht das politische oder ökonomische System in Europa stellt derzeit die größte Herausforderung bei Fragen der kulturellen Anerkennung dar, sondern die Gesellschaftswerte und -normen, die sich allzu oft vom Rechtssystem unterscheiden. Reformen der Ökonomie und der Machtpolitik ohne Einbeziehung dieser idealistischen Komponente werden nicht in der Lage sein, die fortbestehenden Probleme des Rassismus zu beseitigen. Zwar sind Menschen zweifelsohne zu altruistischem Handeln fähig. Sie verfolgen aber auch utilitaristisches Handeln. Die bisherige Debatte über multikulturellen Liberalismus und Demokratie (Walzer, Kymlicka, Habermas u.a.) hat den System- und Machtaspekt betont. Die Anerkennungstheorie konzentriert sich auf die Dimension gesellschaftlicher Werte (Honneth, Bedorf, Forst u.a.), sie hat allerdings deren Implikationen für die demokratische Ordnung und ihre Institutionen nur am

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Rande thematisiert. Weder eine »Verliebtheit« in Systeme noch Versuche der Aufwertung von Individuen und Gruppen gegenüber den Systemen helfen hier aber weiter. Talcott Parsons hat die Komplexität gesellschaftlicher Fragen in der Anlage seiner Systemtheorie erkannt, Iris Marion Young und andere neuere Autoren suchen nach multikausalen Lösungen. Dabei soll nicht »Kultur« als solches aufgewertet werden, wie dies zum Beispiel kommunitaristische Vertreter von kulturellen Gruppenrechten (Taylor u.a.) oder einer modernitätskritischen »Wiederkehr der Religion« (Casanova u.a.) postulieren. Vielmehr geht es darum, die dadurch zwangsläufig entstehenden Kulturenkämpfe im Rahmen von Wertebezügen zur Entfaltung zu bringen, die gegenseitige Anerkennung ermöglichen, wobei nicht kulturrelativistische Konzepte fundamentaler Werte im Vordergrund stehen, sondern interaktive Prozesse der Akzeptanz oder Ablehnung der Werte »des Anderen«. Weder Harmonie noch Konflikt sind das Ideal, beide aber sind möglich und Mittel zum Zweck der Herausbildung eines gemeinsamen transkulturellen Wertekonsenses. Staatliche Toleranzpolitik wird als nicht mehr zureichend betrachtet, das Recht bildet jedoch den Referenz- und ultimativen Lösungsrahmen für alle in der Gesellschaft selbst nicht lösbaren Konflikte. So müssen denn nicht nur Individuen und soziale Gruppen, sondern alle Teilsysteme der demokratischen Industriegesellschaft an dieser neuen Wertegrundlage mitarbeiten. Denkt man an die Ursachen des Rassismus, ist es erforderlich, dass • der Staat einen neuen multikulturellen Konsens jenseits des Parteienstreits schafft; • die Gesellschaft alle Ausdrucksformen der »autoritären Persönlichkeit« bekämpft, in der Familie, in sozialen Netzwerken, kurz: in der Lebenswelt des Menschen; • staatliche Institutionen und private Organisationen Rassismus konsequent ächten und den Multikulturalismus als Leitbild adaptieren. Zentral für den Erfolg einer breiten Verankerung liberaler Werte ist das Verhältnis von Werten zu Wissen und Bildung. Werte hängen mit »bewerten« zusammen und bewerten mit »wissen«. Wie soll der Mensch Werturteile ohne ausreichende Wissensbasis fällen? Wertungen ohne Wissen führen nicht zu Wert-, sondern zu Vorurteilen. Wenn aber Stereotype und Feindbilder nach wie vor ein zentrales Problem der kulturellen Anerkennung sind, dann kann die Förderung der Toleranzwerte der europäischen Gesellschaft nicht ohne eine Entwicklung der multikulturellen Wissensbasis erfolgen. Gerade im Bereich der Islamfeindlichkeit erweisen sich Wissen und Bildung bislang noch in zu geringem Maße als Dämpfer des Rassismus. Selbst formal hochgebildete Menschen pflegen em-

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pirisch nachweisbar islamophobe Vorurteile auf einem Niveau, das weit oberhalb der generellen Zustimmung zu rassistischen Anschauungen liegt. Zwar gibt es auch hier keinen zwangsläufigen Zusammenhang dergestalt, dass ein Mehr an Wissen automatisch zu einem Weniger an Vorurteilen führt. Aber ein ausgeprägter Wert des Multikulturalismus erleichtert vielfältiges kulturelles Lernen ebenso wie dieses auf der rationalen Bildebene die Aufrechterhaltung vielleicht emotional nach wie vor gewollter Stereotype erschwert. Wenn es um Wissensreformen geht, dann sind die klassischen Wissensinstitutionen der Wissenschaft und der Schule im selben Maße gefordert wie etwa die Kirchen oder die religiösen Organisationen von Minderheiten als Hüterinnen »letzter Wahrheiten« der Metaphysik. Gerade die Schule ist die Schnittstelle zwischen Wissens- und Werteentwicklung. Diese Bereiche aber stoßen in der europäischen Gesellschaft wie in den Institutionen auf zwei Grundprobleme: Erstens, die neue Wissensgesellschaft muss wirklich global sein und die noch immer erkennbaren eurozentrischen Grenzen überwinden (Fraser 2008b; K. Hafez 2005). Zweitens, sie muss die Metanormen der europäischen »Aufklärung« nachbessern, indem sie neben neuen Wissenshorizonten auch die Grenzen von Wissen in einer zunehmend komplexen Welt thematisiert. Neue Wissensgeometrien sind erforderlich, die Fernwissen über die außereuropäische Welt aufwerten, vergleichende Perspektiven schärfen und die intraregionale Geschichte der Einwanderung sowie des Rassismus und der Anerkennung betonen. Nur so lässt sich der Zusammenhang zwischen Wissen, Werten und Macht, den viele Autoren des Postkolonialismus betonen (Said, Chakrabarty, Parekh, Schäbler u.a.), festigen. Da Anerkennung ein wechselseitiger Prozess ist, sind auch Minderheiten in der Pflicht, an der multi- und transkulturellen Wissens- und Wertebasis der Gesellschaft mitzuwirken. Zwar erlauben freiheitliche Ordnungen neben einigen politischen und ökonomischen Minimalforderungen ein hohes Maß an Freiheit und sogar Segregation, jedoch die parallelgesellschaftliche Fixierung auf die eigene Kultur ist nicht im Sinne einer gemeinsamen Multikultur. Wer sich an die Spielregeln der politischen und ökonomischen Verfasstheit hält, kulturellen Austausch und den Dialog über gemeinsame Werte und die horizonterweiternde Bildung aber vernachlässigt, der muss mit der heute erkennbaren Kluft zwischen System und Gesellschaft bei der Frage der Islamophobie leben, kurz: der muss mit der ihm entgegengebrachten Geringschätzung leben. Allerdings gibt es keinen Grund, den Muslimen Europas einen solchen Rückzug vorzuwerfen, denn statistisch ist bestenfalls ein Viertel der Muslime isoliert. Es existieren Bildungsdefizite, jedoch entsteht multikulturelles Wissen auch in vielen populärkulturellen Bereichen, die von entsprechenden Bildungsstudien gar nicht erfasst werden. Mediennutzungsuntersuchungen haben ebenfalls den Bikulturalismus als dominierenden Konsumstil ermittelt. Wie gleichwohl das praktische Bemühen um Anerkennung im Alltag aussieht, so gibt es hierzu bis-

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lang keine wissenschaftlichen Analysen, denn diese richten sich in aller Regel auf den in der Öffentlichkeit viel stärker verhandelten Aspekt der »Integration«, es geht ihnen um Anpassungsleistungen der Muslime, nicht um Anerkennung im Kontakt und im Dialog. Ohne das jüdische Beispiel überstrapazieren zu wollen, so hat die jüdische Geschichte in Europa doch gezeigt, dass weder Integration noch Segregation zu einer Lösung des Problems des Rassismus führen. Hoffnung besteht nur in einer »klugen Politik der Differenz« (Schiffauer) und der Anerkennung. Die Integrationstheorie ist deswegen so unergiebig, weil sie Selbstverständlichkeiten betont, während sie die interessanten Zukunftsfragen gar nicht berührt: Wie und in welchem Maß sollen Minderheiten für Akzeptanz werben? Wie sollen sie sich im Kontext des »Eigenen« und des »Fremden« positionieren? Welche Identitäten eignen sich, um sowohl den Anforderungen der kleinen Gemeinschaft der kulturellen und religiösen Bezugsgruppe als auch den Erfordernissen der weiteren Gesellschaft als Gemeinschaft gerecht zu werden? Es geht nicht um Zwangsalternativen zwischen Gemeinschaftsbezügen, sondern um Prozesse der Neuvergemeinschaftung, die aber, um den liberalen Charakter der Werteordnung zu erhalten, nicht kommunitaristisch gedeutet werden dürften. Ein neoessenzialistischer »multikultureller Nationalismus«, neue »Staatsnationen«, könnten einen gewissen Fortschritt darstellen. Letztlich aber geht es nicht um neue Zwänge, sondern um den offenen Austausch über Werte und um Diskursgemeinschaften in der deliberativen Demokratie. These 3: Defizite der politischen und ökonomischen Systeme wie auch Werteversagen der Gesellschaft können nie allein durch Macht- und Wirtschaftsreformen oder erzieherische Appelle beseitigt werden. Politisches, sozioökonomisches und kulturelles Versagen hängt immer auch mit kommunikativem Versagen zusammen, so dass emanzipatorische Fortschritte an allen Fronten der liberalen Demokratie und der liberalen Gesellschaft nur im Kontext dialogischer Lösungen denkbar sind. Die Beziehungen zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa lassen sich treffend mit dem ABX-Schema der Koorientierung von Theodore M. Newcomb erklären (Newcomb 1953). Beide Seiten (A und B) sind auf ein gemeinsames Problem X konzentriert – sagen wir: Fragen des Rechtsstaates, der Integration, aber auch der Anerkennung –, sie wissen aber wenig über die Wahrnehmungen der jeweils anderen Partei, denn ein direkter Dialog zwischen ihnen findet zu selten statt. Im Ergebnis kommt es zu überhitzten und oft fehlerhaften Annahmen über den Anderen – sagen wir: über dessen diskriminierende Absichten oder auch seine mangelnde Bereitschaft, sich zu integrieren, eine Situation, die in der Koorientierungsforschung, obwohl diese eigentlich für interpersonale Kommunikation entwickelt wurde, treffenderweise als »kollektive Nichtbeachtung« (pluralistic ignorance) bezeichnet wird (K. Hafez 2002a, Bd.

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1, S.  171ff.). Dies beschreibt exakt jenen Zustand, den wir in den empirischen Studien über den Islam in Europa vorfinden: ein hohes Maß an monologischer Reproduktion von stereotypen Annahmen über eine Minderheitengruppe, zu der ein großer Teil der Menschen weder Beziehungen pflegt noch pflegen möchte. Es ist daher überhaupt nicht verwunderlich, dass diejenigen Reformdenker der Demokratie und der liberalen Gesellschaft, die unter anderem Anerkennungsfragen ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt haben, auch für gesellschaftliche Kommunikationsprobleme sensibilisiert sind (Habermas, Fraser, Young, Benhabib u.a.). Jürgen Habermas hat nicht nur eine Theorie der Öffentlichkeit entwickelt, er hat dem »kommunikativen Handeln« auch eine Schlüsselstellung in allen Gesellschaftsfragen zugebilligt. Interaktion findet immer dann statt – oder sie sollte stattfinden –, wenn strategisches und instrumentelles Handeln scheitern und unbekannte Probleme gelöst werden müssen (Kap. III.1). Kommunikation spielt immer dann eine Rolle, wenn Macht, Werte oder andere menschliche Ressourcen versagen. Das Verhältnis von Herschaftsmacht, Ökonomie, Werten und Kommunikation ist schwierig, Kommunikation ist kein Allheilmittel für reale Konflikte. Vielmehr haben verschiedene Theoretiker darauf hingewiesen, dass es vitale Interessen gibt, die kommunikationsresistent sind, während andere Interessenkonflikte durch Kommunikation lösbar sind (Rosecrance 1973); dass Lösungen auf der »Inhaltsebene« Scheinlösungen bleiben oder diese gar nicht erreicht werden, solange die realen oder vermuteten Machtfragen auf der »Beziehungsebene« ungeklärt bleiben (Watzlawick et al. 1967). Wenn aber Kommunikation nur ein Basiselement der Politik- und Gesellschaftstheorie ist, dann ist auch sie beeinflusst von den anderen drei Elementen der Herrschaft, Ökonomie und Kultur. Erst alle drei Bereiche zusammen definieren, was »Macht« in Politik und Gesellschaft ausmacht. Deutlich wird dies, wenn man die unterschiedlichen Einflüsse, die auf die Massenmedien einwirken, reflektiert: Sozialisationsprozesse wirken über die einzelnen Journalisten, kapitalistische und Gruppeninteressen über die Organisation des Mediensystems, die Politik interveniert über mediale Inszenierungen und Netzwerke. Schließlich sind die Medien vielfältigen kulturellen Einflüssen der Gesellschaft ausgesetzt. Man kann die Blickrichtung auf die Beziehungen zwischen Kommunikation und Gesellschaft aber auch umkehren und zahlreiche Theoretiker haben dies getan und damit die Vorherrschaft der traditionellen »idealistischen« oder auch »realistischen« Schulen in der Politik- und Sozialtheorie erschüttert. Jürgen Habermas hat die Notwendigkeit kommunikativen Handelns zur rationalen politischen Problemlösung betont (Habermas 1995). Michel Foucault hat gezeigt, wie der Diskurs uns alle – also auch die »Macht« – performieren kann (Foucault 2005). Stuart Hall hat den Nutzer und Konsumenten von Medien als eigenständigen Akteur in einem komplexen Prozess über Sinndeutungen

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von Medientexten ins Spiel gebracht (Hall 1980). Für Pierre Bourdieu ist »Medienkapital« eine Ressource in Feldern wie Bildung oder sozialen Netzen (vgl. Schwingel 1995). Der symbolische Interaktionist Herbert Blumer betonte in der Tradition von Vordenkern wie George Herbert Mead die interpretativen Spielräume, die Menschen etwa bei der »Aneignung« von Normen und bei der Bildung von Werten besitzen (Blumer 1969). Wenn aber alle Bereiche der Gesellschaft – Macht, Ökonomie, Werte – kommunikativ beeinflusst werden, so ist eine Reform gesellschaftlicher Probleme wie die der kulturellen und religiösen Anerkennung nur denkbar, wenn auch die kommunikativen Determinanten der einzelnen Felder mit reformiert werden. Was das nicht organisierte gesellschaftliche Handeln der Bürger betrifft, muss im Kern verstanden werden, dass gruppale oder nationale »Identitäten« grundsätzlich kommunikativ konstruiert werden (K. Hafez 2000d). Am Ende dieses Buches müssen wir erkennen, dass selbst Kategorien wie »Mehrheit« und »Minderheit«, ganz zu schweigen von »Christen«, »Muslimen« usw., in Wahrheit improvisierte Kategorien mit bestenfalls heuristischer Bedeutung sind. Die Gegenüberstellung von Bürgern als Gruppen mit fixen gruppalen Identitäten ist prima facie berechtigt, solange sie die Selbstzuordnung der Individuen zu diesen Gruppen aufnimmt; sie ist jedoch insofern künstlich, als die Bedeutungen, die diese Identitäten durch das Individuum erfahren, zwar auf der symbolischen Ebene Gemeinsamkeiten aufweisen können, in der Substanz aber sehr stark differieren und oft bei Mitgliedern scheinbar unterschiedlicher Gruppen stärker kongruieren als innerhalb derselben symbolisch demarkierten Gruppe. Weil dies gleichwohl auch für Gottesbilder, religiöse Wertebezüge usw. bei einzelnen Christen und Muslimen gilt, müssen wir die multiplen Identitäten des Menschen dekonstruieren, selbst »Bindestrich-Identitäten« reichen dazu kaum aus, um nicht in die Sackgasse der »verkennenden Anerkennung« (Bedorf 2010) zu geraten, also der Anerkennung von Pseudo-Differenzen und gesellschaftlichen Abgrenzungen – wozu unter anderem eine neue multikulturelle Wissenshermeneutik (s.o.) nützlich sein dürfte. Kritiker des Multikulturalismus wie Amartya Sen oder Richard Rorty haben Recht, dass es bei Anerkennung von kulturellem Pluralismus nicht um die bloße Wiederkehr der Götter und der stationären Kulturvorstellungen gehen kann (Sen 2006; Rorty 2008). Vielmehr muss eine pluralistische kommunikative De- und Rekonstruktion von Kultur im Vordergrund stehen. Natürlich wird es immer Anhänger fundamentalistischer Vorstellungen geben und gerade in Gesellschaften, die den demokratischen Durchbruch noch nicht geschafft haben, ist Fundamentalismus eine Methode des gesellschaftlichen Zusammenhalts oder der politischen Radikalität (K. Hafez 2009). In den demokratischen Staaten Europas ist gewaltfreier Fundamentalismus zwar durch die liberalen Verfassungen gedeckt, er tendiert jedoch, wenn er überhandnimmt, selbst zu einer Destabilisierung der liberaldemokratischen Ordnung.

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Wir müssen darauf Acht geben, dass unsere Toleranz gegenüber dem Rassismus unsere Bereitschaft zur Anerkennung religiös-kultureller Vielfalt nicht übersteigt. Klassisch-liberale Appelle an die Bekämpfung der europäischen Islamfeindlichkeit durch Meinungsfreiheit wie von Timothy Garton Ash (s.u.) reichen deshalb als Grundlage eines kommunikativen Verständnisses der heutigen Gesellschaft schon lange nicht mehr aus. Vielmehr müssen wir die zahlreichen Akteure gesellschaftlicher Kommunikation deutlicher benennen und die Hegemonien, Asymmetrien und Blockaden gesellschaftlicher Dialoge erkennen und beseitigen. Kommunikation ist Macht! Soziale Kommunikation darf im Liberalismus nicht mehr nur als ein Freiheitsrecht betrachtet, sondern – wie im Umgang mit jeder anderen Ressource wie Herrschaft oder Kapital – muss sie auch als soziale Verpflichtung verstanden werden. Kontrolle von Herrschaft und Wahrung der Meinungsfreiheit sind gut, die Herstellung kommunikativer Chancengleichheit sowie dialogische Mitwirkung und Solidarität sind aber ebenso erforderlich. So wie Kommunikation die Werte einer Gemeinschaft beeinflusst, beeinflusst unsere Kommunikationsethik unser kommunikatives Handeln. »Liberal« bleibt ein solcher Ansatz allemal, denn Freiwilligkeit ist oberstes Prinzip. Zum kommunikativen Austausch kommt es nicht nur in den Medien, sondern auch auf der Versammlungsebene und im Alltag, der Encounter-Ebene. Diese letztgenannten Sphären müssen von der Politik- und Sozialtheorie viel ernster genommen werden als bisher. Die Fixierung auf Medien, auch auf das Internet, versperrt den Blick für die zentralen Herausforderungen einer gesellschaftlichen Kommunikationsethik, die mit Standesethiken des Journalismus (s.u.) und Hygieneethiken im Umgang mit neuen Medien nur unzureichend beschrieben sind. Worum es geht, das ist ein gesamtgesellschaftlicher Dialog, es geht um eine Verbesserung der Interaktionen im sozialen Feld, um eine neue und differenziertere Wahrnehmung »fremder« Religionen und Kulturen in der unmittelbaren Lebenswelt. Es geht um einen Dialog mit und nicht nur über Minderheiten, aber es geht nicht nur um »Kontakt« im Sinne der Kontakthypothese der Soziologie. Die Frage der Frauenemanzipation war nie ausschließlich ein Erörterungsgegenstand zwischen Männern und Frauen. Vielmehr ist sie auch in den Salons der Geschlechtertrennung – »Stammtische« und »Kaffeekränzchen« – präsent. Die moderne bürgerliche Salon-Islamophobie (Kap. II.1) wird nie verschwinden, wenn wir darauf warten, dass eine im Durchschnitt 7 Prozent umfassende Bevölkerungsminderheit wie die der Muslime in Europa sie eigenständig auflöst. Dazu ist der Willen der Mehrheit erforderlich, sich den Fragen des neuen Rassismus selbstständig und innerhalb der Eigengruppe zu stellen. Natürlich hängt gesellschaftliche Kommunikationsethik eng mit den Medien zusammen. Medien »ersetzen« vielfach den sonst fehlenden direkten interkulturellen Kontakt zwischen Menschen und sie übernehmen dabei vor allem zwei

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Funktionen: Sie führen die Nah- und Fernwelten des Menschen zusammen (»Auslandsberichterstattung«, K. Hafez 2002a) und innerhalb der Nahwelt überbrücken sie die Kluft zwischen im Inland lebenden, in der Alltagswelt der Alteingesessenen aber oft kaum bekannten Einwanderern, den zugleich anwesenden und abwesenden »Fremden« (»Migrationsberichterstattung«). Wenn es stimmt, dass ungeachtet zunehmender Zurückhaltung der Medien bei expliziten verbalen Stereotypen eine Rekonstruktion von »Rasse« oder zumindest »Kultur« als »neuer Rasse« (Balibar 1989) über Themen- und Bilderhaushalte der Medien stattfindet, dann steuert die mediale Agenda in hohem Maße die gesellschaftliche Kommunikation auf der Encounter- und auf der Versammlungsebene, kurz: in der Lebenswelt des Menschen. Trotz aller gebotenen Skepsis gegenüber Annahmen einer starken Medienwirkung und dem berechtigten Hinweis auf vielfältige Mediennutzung wird es der gesellschaftliche Dialog über Rassismus und Anerkennung ohne die Mitwirkung der Medien schwer haben, in Gang zu kommen. Es bedarf daher einer ganz neuen journalistischen Ethik mit multikulturellem Zuschnitt. Bislang besteht die Medienethik Europas im Wesentlichen aus einem Bekenntnis zum Antirassismus (K. Hafez 2003b). Antirassismus ist aber wie Antifaschismus keine zeitgemäße Ideologie mehr, da die Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheit allein von deren negativer Seite her thematisiert werden (Nieke 2008). Einen »Journalismus der Anerkennung«, einen »multikulturellen Journalismus«, der die positiven Seiten von Diversität genauso betont wie die negativen, gibt es bislang nicht, obwohl dieser ebenso legitim und nötig wäre wie andere Varianten des Journalismus, etwa der »Friedensjournalismus«. Wie das Bekenntnis zu Grundrechten der Privatheit oder der Meinungsfreiheit sollte auch ein Bekenntnis zur multikulturellen Gesellschaft heute zum Konsens der europäischen Gesellschaften und ihrer Institutionen gehören. Man kann über Einzelfragen der Einwanderungsgesellschaft einen konfliktreichen Diskurs in den Medien führen – an den Prinzipien eines modernen dialogischen »Journalismus der Anerkennung« aber sollte es in den »multiethnischen Öffentlichkeiten« Europas (Husband 2001) keinen Zweifel mehr geben. Bei der Formulierung einer neuen journalistischen Ethik geht es um die grundsätzliche Frage, ob Medien sich durch autonome Themensetzungen als Mittler einer Gesellschaft betätigen und professionelle ethische Selbststeuerung betreiben oder ob sie sich – ähnlich wie ein Teil der Politik – zu populistischen Anpassungen an den »Zeitgeist« hinreißen lassen. Wenn Medien ihre Vermittlungsaufgabe nicht mehr ernst nehmen, werden sie zum Annex anderer Teilsysteme der Gesellschaft und verlieren – zumindest aus demokratietheoretischer Sicht – ihre Existenzberechtigung. Auch im politischen System gilt die Regel, dass symbolische Politik und Kommunikationsbereitschaft bei Fragen der multikulturellen Anerkennung

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oft wichtiger sind als effektive Machtpolitik. Zwar sind auf dem Weg zu einer gerechten säkularen Gesellschaft noch etliche Probleme des Zusammenlebens zu lösen und gerade ein realistisches Verständnis von Kommunikation als eine aber nicht die alleinige Ressource zur Konfliktlösung wird darauf dringen, dass Dialoge kein Ersatz für realpolitische Fortschritte sein dürfen, da der Dialog sonst zum folgenlosen Ritual verkümmert. Zugleich aber sind vitale Interessenkonflikte häufig schwer zu lösen, man denke nur an die Dilemmata einer besonderen Repräsentanz (Quoten) von Minderheiten oder der historischen Genese des Kirchenrechts. In solchen Situationen der Verfahrenheit rationaler Problemlösungen ist es oft wichtig, emotionale und symbolpolitische Zeichen zu setzen. Der europäische Staat muss heute ganz neu lernen zu kommunizieren. Ein neuer Konsens der politischen Rhetorik muss gefunden werden, das permanente Hin und Her von Inklusion und Exklusion des Islams, der einmal als Teil, ein anderes Mal allerdings nicht als Teil Europas bezeichnet wird, muslimische Konvertiten, die pauschal als terroristische Gefahr stigmatisiert werden, Politiker, die in populistischer Absicht komplexe wissenschaftliche Studien zur Integration fehlinterpretieren oder Verfassungsschutzeinrichtungen, die nicht zwischen Islamismus und Terrorismus unterscheiden können oder wollen, sollten der Vergangenheit angehören. Die kommunikative Kompetenz der europäischen Politik muss gestärkt werden, da ein klassischer Toleranzstaat, der nach innen Rechte zubilligt, nach außen, in die Mehrheitsgesellschaft hinein, aber zugleich seine latente Verachtung für die Normen des Multikulturalismus artikuliert, die Grundlage der liberalen Demokratie selbst untergräbt. In einer gemeinsamen ethischen Bindung an den Grundsatz der Pluralität und der Anerkennung, der alle Teilsysteme, Gruppen und Individuen zu einer neuen Diskursgemeinschaft vereint, sind die Medien verantwortlich für die Agenda der Bürger (agenda setting), die Politik jedoch ist mit verantwortlich für die Agenda der Medien (agenda building). Gerade beim Thema Einwanderung orientieren sich Medien in besonders hohem Maße an politischer Öffentlichkeitsarbeit (European Monitoring Centre 2002b). In der globalen Wissensgesellschaft der Zukunft sind neue kommunikative Fähigkeiten gefragt. Um sich Wissen aus anderen kulturellen Kontexten zu verschaffen, muss man neue Informationswege erschließen. In der Wissenschaft wäre der Dialog zwischen den Fachgemeinschaften in Europa und der außereuropäischen Welt auszubauen. Neue Kommunikationsprozesse sind auch fächerübergreifend, also multi- und interdisziplinär, erforderlich. Nur wenn die maßgeblichen Theoriedisziplinen in Europa bereit sind, mit der Orientalistik, Ethnologie und anderen Area-Wissenschaften mehr als nur gelegentlich zu kooperieren und diese in ihre Theorien zu integrieren, besteht eine Chance, dass die Wissenschaft als Leitsystem der Aufklärung überlebt. In den Schulen spielt Kommunikation ebenfalls eine Rolle. Zwar sind politische Steuerungen durch Lehrpläne usw. wichtig, die Institution der Schule aber

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ist ein komplexes Interaktionsgefüge. Nicht nur sieht sich die Schule über das Internet mit neuen Informationseinflüssen konfrontiert. In der Schule ist auch die Kontaktinteraktion zwischen Minderheit und Mehrheit von Bedeutung, ebenso wie der intellektuelle »Salon« des Lehrerzimmers. In den christlichen Kirchen und Gemeinden ist Kommunikation vielfach durch Blockaden zwischen den Akteuren der Kirchenführungen, dem institutionellen Mittelbau und an der Basis sowie zwischen (christlichen) Profis und (muslimischen) Laien geprägt. Wenn der neue Dialog über Anerkennung eine breite Gesellschaftsbasis finden soll und wenn Werte der Gemeinschaftlichkeit ins Zentrum rücken müssen, dann hat der interreligiöse christlich-islamische Dialog auch in der Zukunft eine zentrale Funktion zu erfüllen. Die neue multikulturelle Gemeinschaft, derer es bedarf, um das System der liberalen Demokratie zu stützen und die Entwicklung Europas voranzutreiben, ist also letztlich eine Diskursgemeinschaft. Traditionale Gemeinschaften bestehen zwar auch in der Moderne fort, ihre gesellschaftliche Bindung entsteht aber erst durch neue transkulturelle Identitäten. Gemäß Seyla Benhabib sind in der deliberativen Demokratie nur diejenigen Normen gültig, denen alle Betroffenen in einem Diskurs zustimmen können (Benhabib 1999, S. 59). Vor allem durch den interkulturellen Dialog, also denjenigen Dialog, der auf direkten Kontakt zwischen Minderheit und Mehrheit zurückgeht, bildet sich eine zweifache Anerkennung heraus: im Dialog, indem die Partner versuchen einander zu verstehen, aber eigentlich schon zu Beginn des Dialogs, durch die Anerkennung, die jede Seite durch den Status als »Gesprächspartner« erwirbt. Seyla Benhabib: Selbst wenn dieser moralische und politische Dialog keinen Konsens erzeugt, was häufig geschieht, und wir auf das Recht zurückgreifen müssen, um die Grenzen der Koexistenz festzulegen, werden Gesellschaften, in denen multikulturelle Dialoge stattfinden, allmählich die zivile ›erweiterte Denkungsart‹ annehmen, die zuerst von Kant formuliert und von Hannah Arendt in ihrer politischen Philosophie wieder aufgegriffen wurde. […] Wenn wir die Sprache der anderen ablehnen, leugnen wir deren fundamentale menschliche Fähigkeit zu handeln, zu erzählen und Gründe anzuführen. (Benhabib 1999, S. 62, 64)

Bei Benhabib klingt bereits an, dass Dialoge in der multikulturellen Gesellschaft gelegentlich auch scheitern können, nämlich dann, wenn die neue Gemeinschaft – möglicherweise bestehend aus Mitgliedern von Mehrheiten und Minderheiten – Toleranzanliegen aus rechtlichen Gründen zurückweist. Werte, Normen und schon gar nicht das kodifizierte Recht sind einfach nur flüchtige diskursive Konstrukte, die neue deliberative Anerkennungsgesellschaft ist keine Gesellschaft des kulturellen Relativismus. Werte, die als Metanormen der deliberativen Demokratie gelten, also insbesondere die liberalen Menschenrechte, besitzen übergeordnete Gültigkeit. Benhabib sagt deutlich, dass aus

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der Tatsache, dass die menschliche Identität linguistisch »verstrickt« ist, noch keine Ableitung getroffen werden könne, »welche ›Gesprächsnetze‹ unter welchen Bedingungen von wem normativ bevorzugt werden sollten« (Benhabib 1999, S.  46). Die Kommunikationswissenschaft unterscheidet nicht umsonst zwischen »Diskursen« und »Einstellungen«, die stabilere und langfristigere Ordnungsmuster der Werte beinhalten. Auch die deliberative multikulturelle Gesellschaft hat also ein liberal-rechtliches Wertefundament. Menschenrechte können aus unterschiedlichen Kulturkontexten hergeleitet werden, sie sind als Essenz des gesellschaftlichen Dialogs aber selbst nicht verhandelbar (Herzog 1997). Hier entsteht ein Junktim, insofern als die Aufwertung jedes Interaktionspartners durch den Dialog unabdinglich dessen Anerkennung und die Befolgung derjenigen Regeln verlangt, die diesen Dialog erst ermöglichen. Die Achtung jedes Einzelnen, jeder Gruppe ist mit deren Achtung der liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung verbunden. In der Weise, wie die freiheitliche Gesellschaft dem Individuum erlaubt, sogar fundamentalistische Ansprüche der traditionellen Gemeinschaft im Raum des Privaten sowie der Gruppengemeinschaft weiterzupflegen, muss der Einzelne sich nach außen, in die Gesellschaft hinein, um Dekonstruktionen der traditionellen Gemeinschaftlichkeit und transkulturelle Anschlüsse an andere Gemeinschaften bemühen, wenn er die Anerkennung von Pluralismus vorantreiben will. Eine Gesellschaft, in der Kommunikation nicht mehr nur über-, sondern auch miteinander und wenn übereinander, dann weniger essenzialistisch, stereotyp und dafür umso offener stattfände, wäre eine Gesellschaft auf dem Weg, sich selbst eine Gesprächstherapie zu verschaffen. Sie wäre eine Gesellschaft auf dem Weg zu mehr Gemeinschaft durch Kommunikation. Sie wäre eine liberale Gesellschaft ohne die Notwendigkeit zu neuen künstlichen Nationalismen und Gemeinschaftsidentitäten, wo der Weg das Ziel, das Gespräch manchmal schon die Lösung wäre, wo nicht nur (in Verfassungen) Spielregeln festgelegt, sondern diese auch eingehalten werden und wo Dr. Jekyll über Mr. Hyde siegt.

Anmerkungen

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Fürchtet Euch nicht! Die Angst vor dem Islam wird zum Testfall für die abendländische Toleranz (Titelgeschichte), Der Freitag, 10. Dezember 2009. Naseem Khan, We Should Celebrate Diversity, not Suppress It, The Independent, 23. September 2005. In Kapitel III (Medien) wurden, allerdings in stark überarbeiteter Form, Passagen übernommen aus: K. Hafez 2010a, 2010c. Zur Einführung in Affirmative Action vgl. Stanford Encyclopedia of Philosophy 2001. »Man klebt das Label Islam drauf, fertig«, Sabine am Orde im Interview mit Jamal Malik, die tageszeitung, 2. März 2009; vgl. ähnlich Kippenberg 2000. Saied R. Ameli/Arzu Merali, Press Release: Report Reveals Muslim Women’s Thoughts on the Veil and Rise in Discrimination against Women, 26. Januar 2006, http://www.ihrc.org.uk/activities/press-releases/6418PRESS-RELEASE-Report-Reveals-Muslim-Women-s-thoughts-on-the-Veiland-rise-in-Discrimination-against-Women (15.6.2012). Helma Lutz weist zudem darauf hin, dass die jüdische Kippa im Grunde generell toleriert werde, was den Schulausschluss im Fall des muslimischen Kopftuches als eindeutig diskriminierend kennzeichnen würde (Lutz 2001, S. 55). Birger Menke/Dietmar Hipp/Wiebke Hollersen, Muslimischer Gymnasiast darf in Schule beten, Spiegel Online, 29. September 2009. Muslimischer Schüler darf nicht in Schule beten, Spiegel Online, 30. November 2011. Thomas Kirchner, Wenn das Kreuz verletzt, Süddeutsche Zeitung, 30. Juni 2010. Bosbach attestiert Deutschen Angst vor Islamisierung, Spiegel Online, 30. November 2009. UN wettern gegen Minarettverbot, Frankfurter Rundschau, 2. Dezember 2009.

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Verfassungsklagen in der Schweiz?, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Dezember 2011. 14 Hermann Horstkotte, Sarrazin fürs Lehrerpult. NRW-Richter warnt vor muslimischen Pädagogen, Frankfurter Rundschau, 13. Oktober 2009. 15 Islamische Charta, Grundsatzerklärung des Zentralrats der Muslime in Deutschland zur Beziehung der Musli-me zum Staat und zur Gesellschaft, http://www.zentralrat.de/3035.php (9.10.2011). 16 Vgl. die Analyse der Rawls’schen Position in: Kymlicka 1997, S. 54 ff. 17 Muslims in Europe, post 9/11, S. 20. 18 Ebenda, S. 7. 19 Ebenda, S. 22 f. 20 Ebenda, S. 13 f. 21 So geschehen etwa während Bucerius Summer School on Global Governance, Hamburg, 26. August 2010. 22 Alan Cowell, Prominent British Muslim Assails Prejudice, International Herald Tribune, 22./23. Januar 2011. 23 Associated Press, 1. Oktober 2003. 24 »Man kann eine ostdeutsche Kanzlerin nicht ausschließen«, Angela Merkel im Gespräch mit Hans Werner Kilz und Susanne Höll, Süddeutsche Zeitung, 16. Dezember 2004. 25 Schröder warnt vor Kampf der Kulturen, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 21. November 2004. 26 »Der Islam ist Teil Deutschlands«, Heribert Prantl im Interview mit Wolfgang Schäuble, Sueddeutsche.de, 25. September 2006. 27 Merkel erklärt »Multikulti« für gescheitert, Deutsche Welle Online, 16. Oktober 2010. 28 Vgl. u.a. Friedrich startet mit Islam-Kontroverse ins Amt, Spiegel Online, 3. März 2011. 29 Dieser Autor war im Zeitraum 2006 bis 2009 Mitglied der Arbeitsgruppe »Wirtschaft und Medien als Brücke« der Deutschen Islam Konferenz. 30 Muslims in Europe, post 9/11, S. 14. 31 Michael Mönninger, Ein Pariser in Amerika, Die Zeit, 23. Juni 2006. 32 Zu typischen Mustern konservativen Denkens vgl. a. Schmitz 2009, S. 11 ff. 33 Vollständiges oder eingeschränktes Wahlrecht für Ausländer besteht in: Belgien, Dänemark, Estland, Finnland, Großbritannien, Irland, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden und Ungarn. 34 Vgl. die Diskussion in: Walzer 1983. 35 Lukas Wallraff, Deutschland, nein danke, die tageszeitung, 28. Dezember 2005. 36 Anna Reimann, Demontage einer Vorzeige-Migrantin, Spiegel Online, 26. April 2010; Ralph Bollmann, Ja, Kruzitürken!, die tageszeitung, 27. April

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2010; Daniel Bax, Symbolpolitik mit Folgen, die tageszeitung, 27. April 2010. Mathias Hamann, Schwarz aus Überzeugung, Spiegel Online, 12. Januar 2009. SPD und Grüne fordern Gleichstellung des Islam, Welt Online, 7. Oktober 2010. Muslims in Europe, post 9/11, S. 20. Bernd Gräßler, SPD holt Migranten in die Führungsriege, DW-World.de, 12. Mai 2011. Muslims in Europe, post 9/11, S. 13. Zur Einführung in das Denken von Talcott Parsons vgl. die entsprechenden Vorlesungen in: Joas/Knöbl 2011. Zu Kymlicka vgl. Kap. I.1; Taylor 1992. Wenn frühere Umfragen eine höhere Unzufriedenheit mit der Demokratie in der Bevölkerung festgestellt hatten, so hatten sie ebenfalls gezeigt, dass Muslime hier stets im konjunkturellen Trend der Restbevölkerung lagen. Vgl. u.a. Infratest Dimap/ARD-Deutschlandtrend, November 2006, http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/arddeutschlandtrend/2006/november/ (8.2.2012). Christian Rath, »Nicht einheitlich verfassungswidrig«, die tageszeitung, 27. Juli 2011. Muslime mögen Deutschland, die tageszeitung, 8. Mai 2009. In Deutschland wurde das Systemvertrauen von Muslimen allerdings durch das staatliche Versagen in der Neonazi-Mordserie der sogenannten Zwickauer Zelle, die 2011 aufgedeckt wurde, zumindest kurzfristig beeinträchtigt. »Unser Vertrauen in den Staat ist gestört«, Spiegel Online, 21. November 2011. Deniz Yücel, Von der Kritik zur Phobie, die tageszeitung, 29. Juli 2011; »Muslime als Orks: Das ist nicht intelligent«, Interview mit Blog-Betreiber Hannes Stein, die tageszeitung, 29. Juli 2011. Stefan Weidner, Schock für alle Ewigkeit, Qantara.de, 29. Januar 2010, http://de.qantara.de/Schock-fuer-alle-Ewigkeit/4067c4159i1p414/ (3.8.2011). Vgl. a. Zusammenleben von Christen und Muslimen schwierig (ForsaUmfrage), schwaebische.de, 26. September 2006. Jeder dritte Deutsche hat Angst, stern.de, 8. Februar 2006. Shell-Jugendstudie 2006 (Kurzversion), Universität Bielefeld, http://www. uni-bielefeld.de/gesundhw/ag4/projekte/shell.html (10.8.2011). Allerdings ist der Grad der Religiosität höher (vgl. Kap. II.2). Die tatsächlich etwas höhere Anfälligkeit für insgesamt aber noch immer extrem seltene Erbkrankheiten ist das Resultat einer bestimmten Heiratspolitik in Teilen der Türkei, die die Intelligenzentwicklung der Gesamtgruppe nicht beeinflusst. »Es gibt viele Sarrazins« (Autorenkollektiv), Der Spiegel, 6. September 2010.

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Thilo Sarrazin: »Ich bin kein Rassist«, Berliner Morgenpost, 29. August 2010. Steffen Reiche, Die Herausforderung des Islams, politik und kultur, Mai/ Juni 2011, S. 20. Micha Brumlik, Zuerst Deutsche!, die tageszeitung, 23. Februar 2012. Annan warnt vor Islamophobie und Antisemitismus, Spiegel Online, 14. Januar 2004. Alexander Gauland, Sarrazin und die Abgehobenheit der Eliten, der tagesspiegel, 19. Oktober 2009. Frank Schirrmacher, Junge Männer auf Feindfahrt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2008. Heide Platen, Frostiges Klima für die Republikaner, die tageszeitung, 8. Oktober 2007. Rechtspopulistische Parteien in Europa, RP Online (o.D.), http://www. rp-online.de/politik/ausland/Rechtspopulistische-Parteien-in-Europa_ bid_64950.html (12.8.2011). Die neue Frontfrau der französischen Rechten, RP Online, 16. Januar 2011. Abgeordneter der »Wahren Finnen« hält an rechtsextremen Thesen fest, Der Standard, 21. April 2011. Stephen Castle, Migration Erodes Swedes’ Affinity for Left, International Herald Tribune, 14. September 2010. Europas Populisten auf dem Kreuzzug, die tageszeitung, 5. März 2010. »Die Fortschrittspartei hat alles gemacht, um Brücken abzureißen«, Deutschlandfunk, 27. Juli 2011, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/inter view_dlf/1514194/ (13.8.2011). Vgl. u.a. Politbarometer: Beifall für Sarrazin, merkur-online.de, 10. September 2010; Kein Bock mehr auf die Volksparteien (Emnid-Umfrage), Hamburger Morgenpost, 6. September 2010. Es gibt viele Sarrazins (Autorenkollektiv), Der Spiegel, 6. September 2010. http://www.fairuk.org (14.8.2011). http://www.islamophobie.net (14.8.2011). http://nir-leipzig.de (14.8.2011). http://www.christenundmuslime.de (14.8.2011); http://www.chrislages.de (14.8.2011). http://www.islam.de (14.8.2011). http://www.interkultureller-rat.de (14.8.2011). http://www.koelnstelltsichquer.de (14.8.2011). Pascal Beucker, Notbremse à la Köln, die tageszeitung, 22. September 2008. Nicht gegen Muslime, aber gegen den Islam. Vox-Analyse zur Abstimmung über das Minarettverbot, NZZ Online, 25. Januar 2010.

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Muslims in Europe: Country Guide, in: BBC News, 23. Dezember 2005, http://news.bbc.co.uk/go/pr/fr/-/2/hi/europe/4385768.stm (18.8.2011). Vgl. a. »Wir sind ein sehr deutsches Unternehmen«, Spiegel Online, 5. Januar 2009. European Council, On Combating Intolerance and Discrimination against Muslims, 14. März 2000, http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/ activities/GPR/EN/Recommendation_N5/Recommendation_5_en.asp (18.8.2011). European Council, On Combating Racism While Fighting Terrorism, 17. März 2004, http://www.coe.int/t/dghl/monitoring/ecri/activities/GPR/ EN/Re commendation_N8/Recommendation_8_en.asp (18.8.2011). Vgl. a. Muslims in Europe, post 9/11, S. 18. Vgl. u.a. Egypt: Al-Azhar University to Ban Face Veil in Women’s Classes, Dorms, The Huffington Post, 18. März 2010. Jochen-Martin Gutsch, Die Bärtigen kommen, Der Spiegel, 6. November 2006. Jochen Buchsteiner, Anglo-Kelten gegen Nicht-Anglo-Kelten, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Dezember 2005. Reinhard Wolff, »Wir sind unschuldig«, die tageszeitung, 26. Juli 2011. Schreiben des Bundeskriminalamtes (BKA) vom 26. November 2009. »Islamophobie ist kein Phantom«, der tagesspiegel, 7. Juli 2009. Deutsche Zeitungsberichte und -meldungen sowie Agenturmeldungen zum Phänomen der Gewalt gegen Muslime und islamische Einrichtungen (Auswahl der Periode 2002-2009): die tageszeitung, 29. April 2002, 30. November 2002, Hamburger Abendblatt, 27. März 2003, Stuttgarter Zeitung, 19. April 2003, 28. Oktober 2003, 26. November 2003, 29. Juni 2004, Die Welt, 19. November 2004, Hamburger Abendblatt, 25. November 2004, Frankfurter Rundschau, 4. Dezember 2004, Stuttgarter Nachrichten, 4. Dezember 2004, AFP Deutschland, 22. Dezember 2004, Frankfurter Rundschau, 24. Dezember 2004, 31. Dezember 2004, Berliner Morgenpost, 17. Februar 2005, Frankfurter Rundschau, 4. Juni 2005, General-Anzeiger Bonn, 13. Juli 2006, Berliner Kurier, 22. März 2007, ddp, 22. März 2007, 4. Mai 2007, Rheinische Post, 20. Juli 2007, ddp, 4. Januar 2008, Rheinische Post, 26. April 2008, die tageszeitung, 15. August 2008, ddp, 24. Oktober 2008, 26. November 2008, Oberhessische Zeitung, 16. Oktober 2009, ddp, 10. November 2009. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Sprache und Integration vgl. Bommes 2006. Muslims in Europe, post 9/11, S. 6. Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 6.

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94 In diesem Zusammenhang sind beispielsweise die Studien von Nils Feindt-Riggers/Udo Steinbach 1997 und von Wilhelm Heitmeyer et al. 1997 zu nennen, deren Ergebnisse allerdings jeweils erhebliche Kontroversen auslösten. 95 Stellungnahme zur Studie »Zwangsverheiratung in Deutschland: Anzahl und Analyse von Beratungsfällen«, unterzeichnet unter anderem von Mitgliedern des Beirats Prof. Dr. Heiner Bielefeldt, Yildiz Demirer, Dr. Nivedita Prasad und Dr. Monika Schröttle, veröffentlicht durch das Netzwerk »Neue Deutsche Medienmacher«, 28. November 2011. 96 Franz Walter, Einwanderer-Elite beflügelt Deutschland, Spiegel Online, 16. Oktober 2007. 97 Es gibt viele Sarrazins (Autorenkollektiv), Der Spiegel, 6. September 2010. 98 Christian Rath, Verzerrte Wahrnehmung, die tageszeitung, 3. August 2011. 99 Vgl. die Auswertung einiger demoskopischer Studien in: Faath 2003. 100 Titel entlehnt bei Honegger 1998. 101 Vgl. die entsprechenden Hinweise auf demoskopische Befragungen in Kap. II.1. 102 »Kultureller Pluralismus fällt uns schwer«, Thilo Knott im Interview mit Dieter Oberndörfer, die tageszeitung, 20. Dezember 2005. 103 Vgl. u.a. Michaela Wiegel, Verwahrlosung durch Polygamie, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. November 2005. 104 Dominique Vidal, Eine französische Unruhe, Le Monde diplomatique (dt. Ausg.), Dezember 2005. 105 Egon Flaig, Der Islam will die Welteroberung, FAZ.net, 15. September 2006. 106 Merkel, Moskau und die Missile der Mullahs, Neue Zürcher Zeitung, 17./18. März 2007. 107 Sabine Schiffer, Das Gegenteil von gut ist »gut gemeint«, Pressemeldung des Instituts für Medienverantwortung in Erlangen zum SWR-Programmschwerpunkt »Islam«, 18. Oktober 2006. 108 Sabine Rosenbladt, Der Krieg des 21. Jahrhunderts/Feindbild Islam, Die Woche, 21. September 2001. 109 Stern-Tochter View, Oktober 2006. 110 Der Spiegel, 26. März 2007. 111 Der Spiegel, 18. September 2006. 112 Der Spiegel, 22. Dezember 2007. 113 Stern, 5. September 2007. 114 Vgl. a. Gute Nachrichten über Ausländer haben kaum eine Chance, Media Tenor Newsletter, 18. Mai 2006, http://www.mediatenor.de (16.1.2008). 115 Neue deutsche Medienmacher, Newsletter 12/2008, S. 2. 116 Annette Langer, »Bigott, beschämend, unamerikanisch«: Streit über Muslime im Reality-TV, Spiegel Online, 13. Dezember 2011.

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117 Muslims in Europe, post 9/11, S. 15 f. 118 Ebenda, S. 17. 119 Islamfeindlichkeit/Im Prozess um den Mord an Marwa El Sherbini rastet der Angeklagte erneut aus, die tageszeitung, 3. November 2009. 120 Theo Sommer, Mannesmut vor Mullah-Thronen, Die Zeit, 24. Februar 1989. 121 Frank Schirrmacher, Junge Männer auf Feindfahrt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Januar 2008. 122 Joachim Käppner, »Muslime sind die Watschenmänner der CSU«, Süddeutsche Zeitung, 4. Dezember 2006. 123 »Ich bin hochzufrieden!«, Daniel Bouhs und Peer Schader im Interview mit Peter Voß, die tageszeitung, 7./8./9. April 2007. 124 Milosz Matuschek, Treffpunkt für Antisemiten, die tageszeitung, 12. August 2009. 125 Frank Patalong, Der Attentäter und die Hassblogger, Spiegel Online, 13. Juli 2011. 126 Vgl. die Namensauflistung bei Posner 2001, S. 194 ff. 127 Vgl. zur Einführung in Bourdieus Theorie der Kapitalsorten Schwingel 1995, S. 82 ff. 128 Vgl. etwa die Auflage von Saids »Orientalism«, die 1995 bei Penguin Books (New York) erschien (S. 17 ff.). 129 Die Liste der 500, Cicero, 6. Mai 2007. 130 Vgl. die Hinweise zum modernen Konservatismus in Kap. I.3 und II.1 oder die Initiativen von deutschen Bundespräsidenten und Innenministern, den Islam als Teil Deutschlands anzuerkennen (Kap. I.2). 131 Daniel Bax, Dumme Pauschalisierungen, die tageszeitung, 19./20. Mai 2007. 132 Ralph Giordano, »Der Islam ist das Problem«, Focus Online, 26. September 2007. 133 Ralph Giordano, »Ich bin kein Türken-Schreck, aber...« Islam-Kritiker Ralph Giordano rechnet mit Multi-Kulti ab, Bild Online, 4. Dezember 2009. 134 Eberhard Seidel, Wo Ralph Giordano irrt, die tageszeitung, 29. Mai 2007. 135 Rudolf Walther, Zweierlei Religionskritik, die tageszeitung, 29. September 2008. 136 Michal Bodemann, Rufmord und rassistische Hetze, die tageszeitung, 2. September 2008. 137 Etwas mehr Neugierde und Lust zu streiten wären nicht schlecht, Christian Schlüter im Interview mit Charles Taylor, Frankfurter Rundschau, 22. Juni 2010. 138 Daniel Bax, Minarette am Rhein, die tageszeitung, 23./24. August 2008; vgl. a. Robert Misik, Amerikas falsche Freunde, die tageszeitung, 5./6. April 2007.

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139 Daniel Binswanger, Wer nicht liberal ist, hebe die Hand, Das Magazin (Stadtmagazin in Zürich), 38/2007. 140 Dorothea Hahn, »In Hass und Gewalt«, die tageszeitung, 6. Oktober 2006. 141 Daniel Bax, Wenn nötig, mit Gewalt, die tageszeitung, 11./12. März 2007. 142 PISA – Von PISA erfasste Kompetenzen, http://www.oecd.org/docu ment/7/0,3746,de_34968570_39907066_43732743_1_1_1_1,00.html (16.6.2012). 143 http://www.globaleslernen.de/ (20.2.2012). 144 Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung/Kultusministerkonferenz (2007), Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung, Bonn: InWEnt, http://www.bne-por tal.de/coremedia/generator/unesco/de/Downloads/Hintergrundma terial_national/Orientierungsrahmen_20f_C3_BCr_20den_20Lernbe reich_20Globale_20Entwicklung.pdf (20.2.2012). 145 Freie und Hansestadt Hamburg (2009), Rahmenplan Aufgabengebiete/ Bildungsplan Gymnasiale Oberstufe, http://www.globales-lernen.de/ GLinHamburg/dokumente/aufgabengebiete-gyo.pdf (13.2.2012). 146 Vgl. a. Dorothee Nolte, Islam im Unterricht: Ein fast unbekanntes Territorium, Der Tagesspiegel, 18. September 2001. 147 Fachlehrplan für Geschichte, Bayern, o.J., http://www.uni-muenster.de/ imperia/md/content/geschichte/didaktik/lehrplansammlung/bayern/ bay-lp-gymnasium-fachlehrplan.pdf (17.2.2012). 148 Rahmenplan für Unterricht und Erziehung/Geschichte, Klasse 7-10, Berlin, o.J., http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geschichte/ didaktik/lehrplansammlung/berlin/berlin-rp-sekundarstufei7-10.pdf (17.2.2012). 149 Vorläufiger Rahmenplan für Unterricht und Erziehung/Wahlpflichtfach Geschichte, Klasse 9-10, Berlin, o.J., http://www.uni-muenster.de/impe ria/md/content/geschichte/didaktik/lehrplansammlung/berlin/berlin-rpgymnasium-wahlpflicht9-10.pdf (17.2.2012). 150 Rahmenplan für Unterricht und Erziehung/Politische Weltkunde-Geschichte, Berlin, o.J., http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/ geschichte/didaktik/lehrplansammlung/berlin/berlin-rp-gymnasium11-13. pdf (17.2.2012). 151 Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe/Geschichte, Berlin, 2005, http://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geschichte/didaktik/ lehrplansammlung/berlin/berlin_sek_ii.pdf (17.2.2012). 152 Rahmenlehrplan für die Sekundarstufe I/Geschichte, Berlin, 2008, http:// www.uni-muenster.de/imperia/md/content/geschichte/didaktik/lehrplan sammlung/brandenburg/brandenburg_sek_i.pdf (17.2.2012). 153 Verbindliche curriculare Vorgaben für den Unterricht in der Qualifikationsphase der gymnasialen Oberstu-fe/Geschichte, Berlin, 2003, http://

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