Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft [2 ed.] 9783428486618, 9783428086610

Es ist das Los des Juristen, Antworten auf Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit in einem experimentierenden Denken zu

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Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft [2 ed.]
 9783428486618, 9783428086610

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 163

Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft Von Reinhold Zippelius Zweite, erweiterte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

REINHOLD ZIPPELIUS

Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft

Schriften zur Rechtstheorie Heft 163

Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft

Von Reinhold Zippelius

Zweite, erweiterte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Zippelius, Reinhold: Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft / von Reinhold Zippelius. - 2., erw. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 163) ISBN 3-428-08661-9 NE: GT

1. Auflage 1994 Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08661-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ®

Vorwort Es ist das Los des Juristen, Antworten auf Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit i n einem experimentierenden Denken zu suchen, ohne j e an ein Ende zu gelangen. Dieser Gedanke durchzieht die hier vorgelegten Arbeiten aus fünfunddreißig Jahren. Sie bekennen sich zu dem Horazischen „sapere aude", das Kant zum Wahlspruch der Aufklärung erhob. I n seinem Doppelsinn bezeichnet es den M u t zu einer rationalen Bewältigung der Fragen, welche die W e l t uns aufgibt, zugleich aber auch das Bewußtsein, daß jeder Versuch hierzu ein Wagnis bleibt. I n ihren Legitimitätsvorstellungen folgen die Arbeiten dem Gedanken Kants, daß das vernunftgeleitete Gewissen der Einzelnen die letzte Instanz unserer moralischen Einsicht und damit auch unserer Gerechtigkeitsauffassungen ist. I m methodischen Vorgehen stimmen sie i n hohem Maße mit der Wissenschaftstheorie K a r l Poppers überein und erweitern deren Anwendungsfeld auf das Gebiet des Rechts. Die folgende Auswahl von Texten wurde zum T e i l bearbeitet, u m die Form der Gliederung und der Fußnoten zu vereinheitlichen, Wiederholungen zu vermeiden oder zu kürzen, umständliche Formulierungen zu vereinfachen, ungenaue Ausdrücke zu präzisieren und Überholtes oder Entbehrliches wegzulassen. In wenigen Fällen wurden auch Texte zusammengefaßt (so i n Kap. 33) oder geringfügig umgestellt (so i n Kap. 38). Stets blieb aber der wesentliche Gang der Argumentation unverändert. Für Leser, die nur einzelne Kapitel nachschlagen wollen, wurden Querverweisungen eingefügt, die es erleichtern, Parallelen und weiterführende Gedanken und Nachweise zu finden. Sie sollen auch dazu beitragen, einen bestimmten Gedanken i m Kontext unterschiedlicher Gedankenverbindungen wiederzuerkennen. Die Literaturnachweise geben den Diskussionsstand zur Zeit der Entstehung der Abhandlungen wieder; soweit aber zur Ergänzung eines Gedankens auf eines meiner Bücher verwiesen wird, habe ich die jeweils neueste Auflage eingesetzt. Die Texte wurden nach ihren Hauptinhalten großen Themenbereichen zugeordnet, greifen aber nicht selten über diese hinaus. Meine wissenschaftstheoretische Grundeinstellung kommt am klarsten i n der Schrift über die experimentierende Methode zum Ausdruck. Deshalb ist diese an den Anfang gestellt und nicht erst dem letzten T e i l der Textsammlung zugeordnet. Die neue Auflage wurde u m die Kapitel 4, 10 und 16 erweitert. U m die Weiterbenutzung der Vorauflage zu erleichtern, wurde eine Konkordanz der Artikelfolgen beigefügt. Herrn Professor Dr. h. c. Norbert Simon danke ich erneut für ein nicht alltägliches verlegerisches Verständnis. Frau Brigitte Schulze danke ich für ihre treue Hilfe bei der Fertigstellung dieser Auflage. Erlangen, i m März 1996 Reinhold

Zippelius

Inhaltsverzeichnis Α. Experimentierende Praxis Kap. 1. Die experimentierende Methode im Recht I. Grundgedanken 1. Das Experiment als Methode 2. Anwendbarkeit auf das Recht 3. Schritte experimentierender Praxis II. Die Probe der Wirksamkeit 1. Wirksamkeit im engeren Sinn 2. Wirksamkeit im weiteren Sinn 3. Vermeidung unerwünschter Nebenwirkungen

21 21 21 22 24 27 28 30 30

III. Die Probe der Gerechtigkeit 1. Das Kriterium der Konsensfähigkeit 2. Abklärung der Konsensfähigkeit

31 31 34

IV. Die Probe der „Systemverträglichkeit" 1. Verträglichkeit mit dem rechtlichen Kontext 2. Verträglichkeit mit den Leitideen der Kultur

35 35 37

Kap. 2. I m Irrgarten der Gerechtigkeit I. Klassische Lösungsansätze 1. Versuch: Das Naturrecht 2. Versuch: Der philosophische Ansatz Hegels 3. Versuch: Der Eudämonismus 4. Versuch: Das Prinzip der Gleichbehandlung 5. Versuch: Der ethische Formalismus

39 40 40 41 43 44 45

II. Die Suche nach konsensfähigen Einsichten des Rechtsgefühls ... 1. Das Gewissen als Grundlage der Gerechtigkeitseinsicht 2. Grundgedanken eines „experimentierenden" Ansatzes 3. Die Abklärung konsensfähiger Gerechtigkeitsvorstellungen ...

46 46 48 49

Kap. 3. Die Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates als experimentierender Lernprozeß

51

I. Das Modell der englischen Verfassungsentwicklung

52

II. Beispiele aus der deutschen Verfassungsentwicklung

58

8

Inhaltsverzeichnis

Kap. 4. Auf der Suche nach dem legitimen Staat I. Demokratische Legitimität 1. Bürgerliche Selbstbestimmung 2. Rechtsstaatliche Komponenten II. Strukturierung des demokratischen Prozesses 1. Kultivierung durch Repräsentation 2. Der Politik ein menschliches Maß geben 3. Ausgewogenheit der sozialen Gewalten 4. „Entstrüppung" und Transparenz III. Wir lernen nicht aus

65 65 65 66 67 67 68 69 71 71

B. Legitimation in der offenen Gesellschaft Kap. 5. Legitimation im demokratischen Verfassungsstaat I. „Legitimation" im Sprachgebrauch von Normwissenschaft und Soziologie II. Legitimation in der „offenen Gesellschaft"

75 75 76

III. Legitimation durch Kompetenzen und Verfahren

78

IV. Legitimation durch Konsens

79

V. Die „Abklärung" der Konsensfähigkeit durch Verfahren und Institutionen VI. Demokratische „Rückkoppelung" VII. Gesamtwürdigung Kap. 6. Legitimation durch Verfahren? I. Der systemtheoretische Ansatz II. Begriff und Grund der Legitimation

81 84 85 87 87 88

III. Die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen

91

IV. Die Legitimation gesetzgebender Akte

94

Kap. 7. Das Gewissen als Legitimationsgrundlage

97

I. Die subjektive Geltungsgrundlage ethischer Einsichten 1. Das Gewissen als letztzugängliche Grundlage 2. Jeder eine gleichzuachtende moralische Instanz II. Die Überwindung der Subjektivität im Konsens 1. Der Konsens als allgemeines Schema der Vergewisserung .... 2. Die Konsensfähigkeit von Gerechtigkeitsvorstellungen III. Die „Rückseite des Spiegels" 1. Angeborene Verhaltens- und Wertungsdispositionen 2. Erlernte Verhaltens- und Wertungsdispositionen

97 97 98 99 99 100 101 101 102

Inhaltsverzeichnis Kap. 8. Die „Rückseite des Spiegels" — Erträge der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft I. Der anthropologische Ansatz

104 104

II. Grundgegebenheiten der Soziobiologie

105

III. Mögliche Konsequenzen für das Recht

106

IV. Die Unsicherheit der Erfahrungsgrundlagen

108

Kap. 9. Zur Funktion des Konsenses in Gerechtigkeitsfragen I. Die Unabweisbarkeit der Gerechtigkeitsfrage

110 110

II. Begriff und Funktion eines „Konsenses" in Gerechtigkeitsfragen ... 1. Gewinnung von „Wahrheiten" durch Konsens? 2. Grenzen der Konsensfähigkeit 3. Praktische Funktionen eines Konsenses

111 111 112 113

III. Gewinnung konsensfähiger GerechtigkeitsVorstellungen durch „trial and error" 1. Grundgedanken eines „experimentierenden" Ansatzes 2. Die Anwendung dieser Methode im Recht 3. Die Unterscheidung der Gerechtigkeitsfragen von bloßer Interessiertheit

114 114 115

Kap. 10. Über die Wahrheit von Werturteilen I. Zum Begriff der Wahrheit 1. Wahrheit als zutreffende Feststellung an sich bestehender Sachverhalte 2. Wahrheit als bloße Aussagenwahrheit 3. Intersubjektive Nachprüfbarkeit als Wahrheitskriterium?

116 118 119 119 120 121

II. Die empirische Grundlage von Werturteilen 1. Faktizität und Erkenntnisgehalt der Wertungen 2. Konstanten der individuellen Werterfahrung 3. Die intersubjektive Nachvollziehbarkeit von Werturteilen 4. Die Nachvollziehbarkeit bedingter Werturteile 5. Ergebnis

123 123 124 125 126 127

Kap. 11. Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

129

I. Nicht nur eine Regel der Staatsräson

129

II. Das Argument der Vernünftigkeit 1. Vertrauen in den common sense 2. Zweifel an der Vernunft der Menge

130 130 131

III. Argumente aus der Idee des Konsenses 1. Der Konsens als stabilisierender Faktor 2. Der Vertragsgedanke als Ausdruck von Freiheit und Gleichheit

132 132 133

IV. Insbesondere das Argument der gleichberechtigten Entscheidungskompetenz aller 1. Das Gewissen als letzte moralische Instanz? 2. Die Antwort des Protagoras

134 134 134

Inhaltsverzeichnis

10

3. Die Antwort Kants 4. Demokratietheoretische Folgerungen 5. Der Kompromiß zwischen Ordnung und Selbstbestimmung ...

135 135 136

V. Freiheitssicherungen gegen die Mehrheit 1. Grundrechte: ein mehrheitlich festgesetzter Minderheitsschutz 2. Die Menschenwürde als unantastbare Prämisse des Systems

137 137 139

VI. Sicherungen gegen die Unvernunft und Manipulierbarkeit der Mehrheitsentscheidungen 1. Die „elitäre" Antwort 2. Die Antwort des demokratischen Verfassungsstaates

139 139 139

VII. „Souveränitätsrechte" gegen die Mehrheit? 1. Wer entscheidet, was eine Existenzfrage ist? 2. Wer entscheidet über Existenzfragen? 3. Die äußerste Probe der Selbstbestimmung

141 141 142 143

Kap. 12. Akzeptanz durch Einsicht oder Die Erziehung zum Bürger

145

I. Heranführung an Struktur- und Ordnungsprinzipien politischer Gemeinschaften 1. Der Ansatz an schon Bekanntem 2. Das Erfahren der Komplexität sozialer Beziehungen und Ordnungsaufgaben 3. Die Konfrontation mit normativen Fragen Π. Erziehung zum Bürger als Aufgabe und Mittel der Politik 1. Klassische Ansätze 2. Unterschiedliche Ideen für Eliten und Geführte? Kap. 13. Recht und Moral I. Die unterschiedlichen Geltungsmodalitäten von Normen und Pflichten 1. Moralische Geltung 2. Mehrheitliche Akzeptanz 3. Staatliche Durchsetzungsgarantie

145 145 146 147 149 149 150 152 152 153 154 154

II. Konfliktlösungen innerhalb des Rechts 1. Spezielle Konfliktlösungen 2. Generelle Konfliktlösungen

158 158 159

III. Konflikte ohne rechtsimmanente Lösung 1. Ungelöste Konflikte 2. Der Handlungsbedarf

162 162 163

Kap. 14. Weltanschauung und Rechtsgestaltung I. Die anthropologische Bedeutung kulturprägender Ideen 1. Sinnorientiertheit als conditio humana 2. Die Orientierungsfunktion umfassender Ideen 3. Die Befangenheit in Begriffen und Ideen 4. Die gesellschaftlich-politische Relevanz der Weltbilder

166 166 166 166 168 168

Inhaltsverzeichnis II. Der Einfluß weltanschaulich geprägter Ideen auf die Staats- und Rechtsgestaltung 1. Vorverständnis, Motivation, Legitimation 2. Die Schaffung von Orientierungsgewißheit 3. Beispiele 4. Wandel des Zeitgeistes — Wandel des Rechts

169 170 170 171 175

III. Das Menschenbild als politische und rechtliche Leitidee

177

IV. Ziel Vorstellungen als politische und rechtliche Leitideen

179

V. Weltanschauung und Rechtsgestaltung in der „offenen Gesellschaft"

179

Kap. 15. Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel

181

I. Die Angewiesenheit auf kulturelle Verhaltensorientierungen 1. Die Ergänzungsbedürftigkeit angeborener Verhaltenssteuerungen durch Institutionen 2. Die Angewiesenheit auf eine umfassendere Sinnorientierung

181 181 183

II. Auflösung und Wandel kulturbedingter Sinn- und Verhaltensorientierungen 1. Die Auflösung integrierender Lebensgemeinschaften 2. Weltanschauliche Verunsicherung

184 184 187

Kap. 16. Politik und Sachverstand I. Die Utopie vom Regime der Sachverständigen II. Die Unterscheidung von Zielwahl und Sachverstand III. Zusammenhänge zwischen Zielwahl und Sachverstand IV. Grenzen rechtspolitischer Rationalität V. Folgerungen für die Kompetenzenverteilung VI. Das Aufbegehren des S ach Verstandes

190 190 192 194 196 198 199

C. Machtkontrollen Kap. 17. Die Zähmung der englischen Staatsgewalt. De Lolmes „Constitution of England"

203

I. Ursachen der englischen Freiheiten 1. Das Instrument der Abgabenbewilligung 2. Die breite Basis der parlamentarischen Mitwirkung 3. Gewährleistungen individueller Freiheiten 4. Beharrlichkeit und Augenmaß

204 205 205 205 207

II. Zum politischen Prozeß im englischen Verfassungssystem 1. Die Ungeteiltheit einer starken Exekutive 2. Nachteile der unmittelbaren und Vorteile der repräsentativen Demokratie 3. Kontrolle durch öffentliche Kritik und Widerstand

208 208 209 212

12

Inhaltsverzeichnis

Kap. 18. Problemfelder der Machtkontrolle

214

I. Die grundsätzliche Aufgabe der Machtkontrolle II. Aktuelle Fragen 1. 2. 3. 4.

216

Die Funktionenteilung im Gefüge der Staatsorgane Die Schaffung autonomer Teilsysteme Balancen im Bereich der sozialen Gewalten Das Problem des internationalen Gleichgewichts

Kap. 19. Grundstrukturen Kräftespiels

und

214

Fehlentwicklungen

des demokratischen

I. Grundstrukturen 1. Demokratische Grundpositionen 2. Insbesondere Parteienstaatlichkeit II. Fehlentwicklungen 1. Das Ausufern des Parteieneinflusses 2. Andere Unausgewogenheiten im pluralistischen Kräftespiel ... 3. Das Wuchern von Normen und Bürokratien Kap. 20. Die Modernität des Föderalismus I. Das Programm einer Föderalisierung und seine Reichweite II. Die Bereitstellung überschaubarer Lebens- und Funktionsbereiche 1. Die Zurückführung politischer Einheiten auf ein „menschliches Maß" 2. Die Erhöhung demokratischen Engagements 3. Volkswirtschaftliche Optimierung

216 217 220 221 222 222 222 225 226 226 228 229 232 232 233 233 233 235

III. Die Aufwertung von Minderheiten 1. Die Aufwertung ethnischer Minderheiten 2. Die Aufwertung parteipolitischer Minderheiten

236 236 236

IV. Sonstige Vorteile politischer Dezentralisation 1. Schaffung politischer Kontrollen 2. Gewinnung von Sachnähe und Flexibilität 3. Gewinnung begrenzter „Experimentierfelder"

237 237 237 238

V. Nachteile des föderativen Systems VI. Systemtheoretische Aspekte 1. Ein Modell abgestufter Konfliktsbereinigung 2. Insbesondere die sachgerechte Verteilung der Problem- und Informationsverarbeitung Kap. 21. Das Berufsbeamtentum als „neutrale Gewalt" I. Der Interessenpluralismus und die Aufgabe eines gerechten Interessenausgleichs II. Die Ausdifferenzierung der „staatlichen" gegenüber den „gesellschaftlichen" Rollen III. Institutionelle Garantien der Ausdifferenzierung

238 239 239 240 242 242 243 245

Inhaltsverzeichnis Kap. 22. Kontrolle der Meinungsmacht I. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit II. Das Ideal freier Meinungsbildung III. Die heutige Rechtslage 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen 2. Monopolisierungstendenzen 3. Abhilfen

250 250 252 255 255 255 257

D. Grundrechte Kap. 23. Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung I. Das Bekenntnis zu vorgegebenen Menschenrechten 1. Die Vorgegebenheit 2. Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft 3. Menschenrechte als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt II. Unverletzlichkeit der Menschenrechte 1. Grundrechtsimmanente Schranken 2. Schutz gegen normative Eingriffe 3. Schutz gegen Einzeleingriffe 4. Unveräußerlichkeit Kap. 24. Die Garantie der Menschenwürde I. Geistesgeschichtliche Grundlagen 1. Christliche Leitbilder der „Menschenwürde" 2. Moralische Selbstbestimmung als Ausdruck der Menschenwürde II. Ausgangspunkte der juristischen Auslegung 1. Historische Interpretation 2. Systematische Interpretation 3. Die Aufgabe fortschreitender Konkretisierung III. Rechts Wirkungen der Menschenwürdegarantie 1. Rechtspflicht zu Achtung und Schutz 2. Grundrechtsgarantie 3. Richtungweisende Wertentscheidung 4. Reichweite beider Funktionen 5. Drittwirkung 6. Die Unantastbarkeit der Menschenwürdegarantie Kap. 25. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit I. Geschichtliche Grundlagen 1. Zerfall der Glaubenseinheit und Abbau des Staatskirchentums 2. Theologische Gründe der Gewissensachtung 3. Philosophische Gründe der Gewissensachtung

263 263 263 264 266 266 267 268 269 270 272 272 272 273 274 275 275 276 279 279 280 281 282 282 284 286 286 286 288 289

14

Inhaltsverzeichnis 4. Demokratietheoretische Folgerungen 5. Grundrechtsschutz der Glaubens- und Gewissensfreiheit II. Ausgestaltung unter dem Grundgesetz 1. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates 2. Ausgestaltung des Grundrechtsschutzes 3. Glaubens- und Gewissensfreiheit als richtungweisende Weitentscheidung 4. Drittwirkung 5. Schranken des Grundrechts 6. Glaubens- und Gewissensfreiheit als Ausdruck der Menschenwürde

Kap. 26. Der Gleichheitssatz

290 291 292 292 295 300 301 304 305 306

I. Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches 1. Gleiche Teilhabe an der Staatsgewalt 2. Rechtliche Gleichbehandlung durch die Staatsgewalt 3. Angleichung der realen Lebensbedingungen 4. Gleiche Freiheit 5. Fragen des Maßes II. Fragen gerechter Gleichbehandlung 1. Gleichheitssatz und Lebenswirklichkeit 2. Kriterien der Gleichbehandlung 3. Konkretisierung des Gleichheitssatzes durch den rechtlichen Kontext 4. Die Dynamik des Gleichheitssatzes

306 306 308 311 313 314 316 317 319 323 327

Kap. 27. Anfang und Ende des Lebens als juristisches Problem

328

I. Manipulationen des beginnenden Lebens

328

II. Eingriffe in das Leben 1. Eingriffe am Lebensbeginn 2. Eingriffe am Lebensende Kap. 28. Widerstand gegen die Tyrannei und im demokratischen Rechtsstaat

329 330 333 337

E. Verantwortlichkeit Kap. 29. Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit I. Strafrechtliche Verantwortung II. Schuldrechtliche Schadensverantwortung

347 347 350

III. Verantwortung für einen kontrollierbaren Lebensbereich

352

IV. Politische Verantwortlichkeit

352

Kap. 30. Erfolgsunrecht oder Handlungsunrecht? I. Der Gegenstand des Unrechtsurteils II. Der Erfolgseintritt und die Erfolgsbezogenheit des Handelns

356 356 357

Inhaltsverzeichnis Kap. 31. Die Rechtswidrigkeit von Handlung und Erfolg I. Rechtswidrigkeit als Widerspruch zu einem rechtlichen Gebot ... 1. „Rechtswidrigkeit" ein mehrdeutiger Begriff 2. Der Verstoß gegen ein Gebot als allgemeines Deliktsmerkmal II. Das Verhalten als Gegenstand des Unrechtsurteils III. Die Erfolgsbezogenheit der Verhaltensnormen IV. Die Einordnung des tatsächlichen Erfolgseintrittes V. Zusammenfassung

360 360 360 361 362 363 364 365

Kap. 32. Zum Problem der Willensfreiheit I. Das Problem des naturgesetzlichen Determinismus 1. Apriorische Geltung des Kausalgesetzes? 2. Bloß empirische Geltung des Kausalgesetzes? II. Das Problem des Motivationsdeterminismus III. Die positive Existenz der Freiheit

367 368 368 370 372 373

F. Z u r Methode der Rechtsanwendung Kap. 33. Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung I. Rechtsphilosophische Aspekte der Gesetzesauslegung 1. Auslegung mündet in rechtsphilosophische Fragen 2. Anhaltspunkte für die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen II. Rechtsphilosophische Aspekte der Lückenausfüllung 1. Die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen als kritische Instanz 2. Normenstrenge oder konkrete Gerechtigkeit? 3. Insbesondere das Problem der Analogie III. Zusammenfassung

379 380 380

384 385 385 387

Kap. 34. Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft?

388

Kap. 35. Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß I. Verbale Ausgangsbasis und Spielraum der Gesetzesauslegung ... II. Rechtfertigende Auslegungsargumente 1. Auslegung als Legitimationsproblem 2. Argumente aus dem Regelungszweck 3. Argumente der „Rechtseinheit" 4. Argumente der Gerechtigkeit 5. Entscheidungsanalysen III. Offene Fragen

393 393 394 394 396 397 398 399 400

Kap. 36. Der Denkansatz am konkreten Problem I. Der Vorrang der konkreten Erkenntnis 1. Gegen den systematischen Dogmatismus 2. Verbleibende Bedeutung systematischen Denkens 3. Rechtsentwicklung durch vergleichendes Denken

402 402 402 404 405

382 384

Inhaltsverzeichnis

16

II. Topik 1. Zugriff auf schon Bekanntes 2. Produktiver Gebrauch der Topik 3. Grenzen der topischen Methode

406 407 408 410

Kap. 37. Typisierendes Denken

411

I. Die Eigenart typisierender Betrachtung 1. Die „anschauliche" Basis der Typenbildung 2. Die „Ganzheitlichkeit" des Typus 3. Die „Offenheit" des Typus

411 411 413 415

II. Die Verwendung von Typen in Normen 1. Normative Typen 2. Anwendungsweisen 3. Die Entwicklung normativer Typen

418 418 418 419

III. Typisierende Erfahrungsregeln 1. Die Aufstellung typisierender Erfahrungsregeln 2. Die Verbesserung typisierender Erfahrungsregeln

421 422 423

Kap. 38. Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen

425

I. Argumente für eine veifassungskonforme Auslegung der Gesetze 1. Die Verfassung als Kontext der Gesetze 2. Das Argument der Normerhaltung („favor legis")

425 425 427

II. Der mögliche Wortsinn als Grenze „verfassungskonformer Auslegung"

428

III. Das „Regelungsermessen" des Gesetzgebers als Grenze „verfassungskonformer Auslegung" 1. Die grundsätzliche Funktion des gesetzgeberischen Regelungsermessens 2. Generell zulässige richterliche Präzisierungen und Modifikationen 3. Das Überschreiten dieser Grenzen IV. Die Zulässigkeit verfassungskonformer Rechtsergänzung V. Respektierung Gesetzgebers?

vertretbarer

Verfassungskonkretisierungen

429 430 430 431 433

des 435

Nachweise

440

Sachverzeichnis

443

Konkordanz Durch Einfügung der Kapitel 4, 10 und 16 hat sich die Kapitelzählung gegenüber der 1. Auflage geändert. Es entsprechen sich: 1. Aufl. Kap.

=

2. Aufl.

1. Aufl.

Kap.

Kap.

Kap.

=

2. Aufl.

1

1

19

22

2

2

20

23

3

3

21

24

4

5

22

25

5

6

23

26

6

7

24

27

7

8

25

28

8

9

26

29

9

11

27

30

10

12

28

31

11

13

29

32

12

14

30

33

13

15

31

34

14

17

32

35

15

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33

36

16

19

34

37

17

20

35

38

18

21

2 Zippelius

Abkürzungsverzeichnis AcP

= Archiv für die zivilistische Praxis

AöR

= Archiv des öffentlichen Rechts

ARSP

= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

BGHZ

= Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Zivilsachen

BVerfG

= Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

DVB1

= Dt. Verwaltungsblatt

DÖV

= Die öffentliche Verwaltung

GG

= Grundgesetz

HdbStR

= Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd. 1-7, Heidelberg 19871993

JöR

= Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Neue Folge

JuS

= Juristische Schulung

JZ

= Juristenzeitung

Maunz/Dürig = Grundgesetz. Kommentar (von Theodor Maunz, Günter Dürig u. a.), 1958-1992 (Loseblatt) NJW

= Neue Juristische Wochenschrift

NVwZ

= Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

RGStr

= Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen

RGZ

= Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

VVDStRL

= Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

WRV

= Verfassung des Deutschen Reiches v. 11. 8. 1919 (Weimarer Reichsverfassung)

ZevKR

= Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht

Α. Experimentierende Praxis

Kapitel

1

Die experimentierende Methode im Recht I . Grundgedanken 1. Das Experiment

als Methode

Das experimentierende Denken erscheint uns als die bisher erfolgreichste Methode menschlichen Erkenntnisstrebens. Die Idee, daß das Wissen über die Natur sich i n einem experimentierenden Lernen entwickelt, ergriff seit dem Zeitalter Francis Bacons und Galileis immer stärker das allgemeine Bewußtsein. 1 M a n hat die Einsicht gewonnen, daß auch andere Fortschritte sich durch ein — i m weiteren Sinn verstandenes — „Experimentieren" vollziehen: durch das Hervorbringen neuer Strukturen und die Erprobung, ob sie sich i m Leben bewähren. D a r w i n führte den Nachweis, daß die Natur selbst — anthropomorph gesprochen — m i t Lebensformen experimentiert, indem sie Varietäten hervorbringt und unter ihnen die lebenstüchtigeren auswählt. Selbst in der Menschheitsgeschichte tragen manche Entwicklungsschritte Züge experimentierender Lernprozesse. 2 Friedrich v. Hayek hat auch auf kulturell entstandene Verhaltensmuster geradezu den Gedanken experimentierender Selektion angewandt: I m großen und ganzen hätten sich solche Moral- und Verhaltensregeln durchgesetzt, die besser funktionierten als andere, nämlich den Gruppen, die sie befolgten, i m Vergleich zu anderen Gruppen bessere Überlebens- und Vermehrungschancen boten. 3 Die Ansicht, daß unsere Erkenntnis experimentierend voranschreite, könnte als erkenntnistheoretische Variante solcher Anpassungsprozesse aufgefaßt werden, dergestalt, daß unsere Vorstellungen durch probierendes Denken an die Strukturen unserer Erfahrungswelt und an die Natur des Menschen angepaßt

ι Vgl. etwa£. Mach, Erkenntnis und Irrtum, 3. Aufl. 1917, S. 183 ff., 201 ff.; H. Dingler, Das Experiment, 1928, insb. S. 210 ff.; H. Parthey, D. Wahl, Die experimentelle Methode in Natur- und Gesellschaftswissenschaften, 1966, S. 38 ff.; F. Kaulbach, Philosophie der Beschreibung, 1968, S. 9 ff., 30 ff., 140 ff., 234 ff.; G. Böhme, W. van den Daele, W. Krohn, Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung, 1977. 2 Dazu unten Kap. 3. 3 F. v. Hayek, Die drei Quellen der menschlichen Werte, 1979, S. 21 f., 25, 31.

22

Kap. 1 : Die experimentierende Methode im Recht

würden — wie auch immer diese uns „gegeben" sein mögen. Die zusammenfassende Konzeption einer solchen Methode hat Karl Popper entworfen, der diese Methode zunächst für den Bereich der Naturwissenschaften 4 , später auch für den der Sozial Wissenschaften 5 angewendet wissen wollte: Für Probleme, vor welche die Natur oder das menschliche Zusammenleben uns stellt, seien Lösungen vorzuschlagen, die einer sachlichen K r i t i k zugänglich sind; diese Lösungsvorschläge seien dann daraufhin zu prüfen, ob sie logisch einwandfrei sind und der Erfahrung standhalten. Wenn sie diese Probe bestehen, seien sie einstweilen zu akzeptieren; wenn sie dieser Prüfung aber nicht standhalten, seien sie aufzugeben. Diese Methode zielt also darauf, nicht „ewige Wahrheiten" zu finden, sondern nur Einsichten, die uns als einstweilen beste Lösungen von Problemen erscheinen. Wollte man die Grundeinstellung dieser Methode auf einen einfachen Begriff bringen, so wäre dies das Horazische „sapere aude", das Kant zum Wahlspruch der Aufklärung erhob. I n seinem Doppelsinn bezeichnet es die Bereitschaft zu rationaler Bewältigung der Probleme, die uns die Welt aufgibt, und das gleichzeitige Bewußtsein, daß jeder dahingehende Versuch ein Wagnis bleibt. A n diesem Verfahren sind mehrere Komponenten beteiligt: zum einen der kreative Einfall, d. h. der Vorgriff der produktiven Phantasie auf eine mögliche Problemlösung, 6 zum andern die L o g i k und die Erfahrung, als kritische Instanzen, vor denen die versuchsweise Problemantwort sich bewähren muß. 7 2. Anwendbarkeit

auf das Recht

I m Recht geht es aber nicht primär um die Erkenntnis der Welt, sondern u m eine Ordnung menschlichen Handelns. Rechtsnormen sollen Probleme des Zusammenlebens wirksam und gerecht lösen. Experimentierenden Lernprozessen 4 K. R. Popper, Logik der Forschung, 7. Aufl. 1982. 5 Vgl. z.B.K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 82; zum Experiment in der soziologischen Forschung vgl. auch schon E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode (frz. 1895), deutsch 1961, S. 205 ff.; ferner etwa E. Greenwood, F. S. Chapin, in: R. König (Hrsg.), Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, 8. Aufl. 1972, S. 171 ff., 221 ff.; W. Siebel, Die Logik des Experiments in den S oziai Wissenschaften, 1965; W. Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 1972, Artikel „Experiment". 6 Schon Francis Bacon schrieb, die echte Erfahrung sorge zuerst für das Licht und beleuchte damit den Weg (Novum Organum, I 82, 100). Bei Galilei fand sich die Vorstellung, daß physikalische Hypothesen zunächst mit Hilfe logisch schon gewonnener Sätze formuliert und durch Beobachtungsergebnisse kontrolliert werden müßten: J. Mittelstraß, Die Galileische Wende, in: L. Landgrebe (Hrsg.), Philosophie und Wissenschaft, 1972, S. 294 ff. Kant war der Ansicht, daß auch in der Naturerkenntnis „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten . . . ; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobachtungen gar nicht nach einem notwendigen Gesetze zusammen" (Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, Vorrede, S. XIII). 7 Vgl. insbesondere Popper (Fn. 4), S. 7 f., 71 ff.

I. Grundgedanken

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sind sie jedenfalls insoweit zugänglich, als eine zweckmäßige Ordnung des Handelns auf Weltkenntnis beruht, insbesondere auf Wirkungszusammenhänge Rücksicht zu nehmen hat. Daß darüber hinaus auch Gerechtigkeitsfragen, und das heißt ethische Fragen, einer experimentierenden Methode zugänglich sind, hat schon Richard M . Hare festgestellt: A u c h hier gehe es darum, Problemlösungen „vorzuschlagen und dann nach Wegen zu suchen, sie zu testen — d. h. nach Experimenten, die, wenn jene falsch sind, zeigen, daß dem so ist". „Was w i r beim moralischen Räsonnement tun, ist dies: W i r halten Ausschau nach moralischen Urteilen und moralischen Prinzipien, die wir, wenn w i r ihre logischen Konsequenzen und die Tatsachen des konkreten Falles betrachtet haben, immer noch akzeptieren können". 8 W i e später zu zeigen ist, geht es hier u m die Prüfung, ob die rechtlichen Problemlösungen einer vernunftgeleiteten, konsensfähigen Gewissenseinsicht standhalten (III) und mit dem Kontext der jeweiligen Rechtskultur und ihrer weltanschaulichen Perspektiven verträglich sind (IV). Folgt man dieser Konzeption, dann kann man sich auch die Entstehung rechtlicher Institutionen, insbesondere solcher des freiheitlichen Rechtsstaates, als ein „Herausexperimentieren" von Rechts- und Verfassungsstrukturen vorstellen. 9 Schon Oskar B ü l o w vertrat die Ansicht, daß auch i m Recht Erfahrungen auf experimentierende Weise gesammelt und verarbeitet werden: Das Recht, so meinte er, „ist ein Ergebnis der Erfahrung. Es hat herausexperimentiert werden müssen: Es ist ein Erzeugnis bitterer Rechtsnot, die von Fall zu Fall dahin gedrängt hat, den Gut und Leben gefährdenden Widerstreit der menschlichen Selbstsucht und Leidenschaft durch den unparteiischen Rechtsspruch der machtvollen Staatsgewalt schlichten zu lassen". 1 0 Eine gewisse Plausibilität gewinnt diese Aussage schon dadurch, daß die beiden bedeutendsten eigenständigen Rechtsordnungen, das römische und das angelsächsische Recht, aus der Lösung konkreter Rechtsprobleme — als Fallrecht — hervorgegangen sind und daß das Fallrechtsdenken schon dem ersten Anschein nach mit experimentierendem Denken zu tun hat. I n der angelsächsischen Version des „reasoning from case to case" stellt es sich geradezu als eine Methode „experimentierenden" Fallvergleiches dar: Diese präpariert die gemeinsamen und die unterscheidenden Merkmale der verglichenen Fälle heraus und prüft dann, von Fall zu Fall weiterschreitend, auf welche dieser Merkmale es ankommt, wenn ein bestimmter Rechtsgrundsatz — der i n den tragenden Gründen der Vorentscheidungen zum Ausdruck k o m m t — Anwendung finden soll. 1 1 A l s 8

R. M. Hare, Freedom and Reason, 1963, Kap. 6.2; s. jetzt auch F. Kaulbach, Experiment, Perspektive und Urteilskraft bei der Rechtserkenntnis, ARSP 1989, S. 447 ff. 9 Zu solcher Entstehung von Verfassungsstrukturen unten Kap. 3. 10 O. Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 17. 11 Vgl. zur Methode des „distinguishing" etwa N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 1978, S. 185 f., 219 ff. Allgemein zum experimentierenden Charakter vergleichenden Denkens im Recht unten Kap. 9 I I I 2.

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Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht

Kriterium dieser Prüfung dient das von vernünftigen Erwägungen geleitete Rechtsempfinden ( I I I 1). Die Variationen der Sachverhalte, die beim naturwissenschaftlichen Experimentieren dazu dienen, die erheblichen von den unerheblichen Faktoren zu unterscheiden, 12 werden hier v o m Leben selbst hervorgebracht. A u c h in der Gesetzgebung w i r d „experimentiert". Hermann Jahrreiß meinte ganz umfassend: „Das Gesetzgeben ist ein Experimentieren mit Menschenschicksalen". 1 3 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Gedanken versuchsweiser legislatorischer Regelungen vertraut gemacht, deren Sinn es sei, für regelungsbedürftige, aber noch nicht v o l l überschaubare komplexe Sachverhalte „Erfahrungen zu gewinnen". 1 4 Nicht nur Antworten auf spezifische Rechts- und Gerechtigkeitsfragen, sondern auch die Versuche, eine prinzipielle Lösung für das Gerechtigkeitsproblem zu finden, lassen sich i n rückschauender Betrachtung als eine Aufeinanderfolge von Problemlösungsversuchen vorstellen. Das gilt insbesondere für die Vorschläge, die Gerechtigkeitsfrage aus einer naturrechtlichen Konzeption, aus einem eudämonistischen Ansatz, vom Gleichheitsgrundsatz her oder aus der Kantischen Konzeption eines ethischen Formalismus zu beantworten. Diese Problemlösungsversuche hielten zum Teil einer kritischen Prüfung stand, teils wurden sie in ihrem Geltungsanspruch eingeschränkt oder auch ganz aufgegeben und durch andere Lösungsversuche ergänzt oder ersetzt. 15 I m Recht ist eine experimentierende Methode einsetzbar, u m Ordnungsaufgaben menschlichen Zusammenlebens wirksam, gerecht und systemkonform zu lösen. Sie kann also der Erforschung dienen, welche Normen geeignete M i t t e l sind, bestimmte Zwecke zu erreichen, und welche Normen — zugleich — als gerecht erscheinen und sich i n den Kontext der Rechtskultur einfügen. 3. Schritte experimentierender

Praxis

Die experimentierende Methode verwirklicht sich i m Aufstellen und Überprüfen möglicher Lösungen eines theoretischen oder praktischen Problems. Dem Aufstellen einer naturwissenschaftlichen Hypothese entspricht i m Bereich des

12 Mach (Fn. 1), S. 183, 188 ff., 203. ι 3 H. Jahrreiß, Größe und Not der Gesetzgebung, 1953, S. 32 f.; grundsätzlich zum Programm einer experimentellen Gesetzgebungswissenschaft: K. F. Beutel, Die Experimentelle Rechtswissenschaft, 1971, S. 34 ff.; P. Noll, Gesetzgebungslehre, 1973, S. 76; R. Stettner, Verfassungsbindungen des experimentierenden Gesetzgebers, N V w Z 1989, S. 806 ff. ι* So z. B. BVerfGE 57, 324; 75, 162; zu „Erprobungsgesetzen" oder „Pilotgesetzen" vgl. M. Kloepfer, Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1982), S. 91 ff.; H. Wollmann, in: W. Schreckenberger (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, 1986, S. 72 ff.; L. Mader, in: D. Grimm / W. Maihofer (Hrsg.), Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik, 1988, S. 211 ff.; H. D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. 15 Dazu unten Kap. 2.

I. Grundgedanken

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Rechts die versuchsweise Annahme einer Verhaltensregel, die eine Frage der richtigen Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen lösen soll. W i e i n anderen Wissenschaften ist auch i m Recht ein kreatives Denken an solchen Problemlösungen beteiligt. So konnte man etwa sagen, das Rechtsinstitut der Stellvertretung habe ebenso einmal erfunden werden müssen wie die L o k o m o t i v e . 1 6 Ersonnen werden mußten ζ. B. auch das Prinzip und die organisatorische Ausformung der Gewaltenteilung und das parlamentarische Regierungssystem bis hin zu den Versuchen, dieses durch Sperrklauseln und konstruktives Mißtrauensvotum zu stabilisieren, ferner die Einführung von „Grundrechten", die auch den Gesetzgeber binden, bis hin zu den Ausgestaltungen der Grundrechtsschranken, nicht zuletzt mußte die verfassungsgerichtliche Kontrolle erfunden werden — mögen solche „Erfindungen" oft auch nur darin bestanden haben, Entwicklungen, die sich ungeplant anbahnten, in ihrer verfassungspolitischen Funktion zu erfassen und aus dieser Einsicht Verfassungsprinzipien zu gewinnen. I n den Erwägungen des Gesetzgebers können insbesondere „Gedankenexperimente" eine Rolle spielen 1 7 : Unter Zuhilfenahme von Erfahrungen, zumal solcher, die man m i t einschlägigen Regelungen gesammelt hat, kann der Gesetzgeber Regelungsmodelle entwerfen und variieren und kann versuchen, die unterschiedlichen Auswirkungen dieser Regelungen i n Gedanken vorwegzunehmen; er kann diese denkbaren Auswirkungen vergleichen, um auf diese Weise die Lösung herauszufinden, die bei Abwägung von Nutzen und Nachteilen eine optimale und gerechte Interessenbefriedigung verspricht. 1 8 W o der Richter an der Rechtsgewinnung mitzuwirken hat, „experimentiert" auch er in Gedanken m i t Auslegungsalternativen, Rechtsgrundsätzen und anderen „Normhypothesen" und deren Folgen. 1 9 Solches versuchsweise Weiterschreiten kann aber kein Produkt beliebiger Einfälle sein, schon deshalb nicht, weil das bisher Gewordene die Ausgangsbedingungen und den Verständnishorizont für die experimentierende Praxis v o r g i b t . 2 0 Darüber hinaus sprechen auch gute Gründe gegen ein sprunghaftes Herumexperimentieren 2 1 : Das Überkommene ist zumeist ein mehr oder minder bewährtes 16 E. Ehrlich, Die juristische Logik, 2. Aufl. 1925, S. 12; vgl. auch H. Dölle, Juristische Entdeckungen, 1958. 17 Eine klassische Beschreibung des Gedankenexperimentes in den Naturwissenschaften findet sich bei Mach (Fn. 1), S. 183 ff.; vgl. auch Popper (Fn. 4), S. 397 ff. is Vgl. Noll (Fn. 13), S. 107 ff., 120 ff.; K.F.Röhl, Rechtssoziologie, 1987, § 14 Nr. 3; Stettner (Fn. 13), S. 807 m. w. Nachw. zur Frage der Prognostik in den Sozialwissenschaften. 19 M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 331 ff.; Th. W. Wälde, Juristische Folgenorientierung, 1979; H. J. Koch, H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 227 ff. m. w. Nachw. 20 Ähnlich zum Fortgang wissenschaftlicher Erkenntnis: P. Feyerabend, Wissenschaft als Kunst, 1984, S. 112 ff. 21 Vgl. etwa Κ. Η opt, Finale Regehingen, Experiment und Datenverarbeitung in Recht und Gesetzgebung, JZ 1972, S. 70 f.; W. Leisner, Staatsrenaissance, 1987, S. 143 ff.

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Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht

Ergebnis historischer Erfahrungen, dessen Vorzüge und Nachteile bekannt sind, während die Fern- und Nebenwirkungen von Neuerungen oft nicht übersehbar sind. A u c h ist das Streben nach Verbesserungen i n das rechte Verhältnis zu setzen zu dem Bedürfnis, die OrientierungsSicherheit nicht zu gefährden: Die Kontinuität, Stabilität und Verläßlichkeit der bestehenden Ordnung ist die Grundlage allen Disponierens. Der Wunsch, das Ordnungssystem dem Wandel der Lebensumstände und der j e erreichbaren Einsicht über die bestmögliche Ordnung der Gemeinschaft anzupassen, ist daher stets abzuwägen gegen das Interesse an der Verläßlichkeit der überkommenen sozialen Dispositionsgrundlagen. A u c h sonst sind bei rechtlichen „Experimenten" die Grundsätze der Interessenabwägung, vor allem der Rang und die verfassungsrechtliche Gewährleistung der aufs Spiel gesetzten Güter und der Grad ihrer Gefährdung sorgfältig zu beachten. 2 2 Unter diesen Voraussetzungen können rechtliche Verbesserungen verständigerweise nur Stückwerk sein, nämlich Versuche, die bestehenden Verhältnisse dort zu verbessern, w o Mängel sichtbar werden. 2 3 Hierbei ist die eingangs erwähnte Tatsache in Rechnung zu stellen, daß das Recht, wie die Geschichte überhaupt, sich nicht i m ganzen nach durchschaubaren Vernunftprinzipien entwickelt, 2 4 ja, daß — mit K a r l Popper zu sprechen — „nur eine Minderheit sozialer Institutionen bewußt geplant wird, während die große Mehrzahl als ungeplantes Ergebnis menschlichen Handelns einfach gewachsen' i s t " . 2 5 W o aber Vernunft i n dieses Geschehen eingebracht wird, vollzieht sich das sachgemäß i n experimentierender Weise, w i r d also der regelnde Staat „Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig m i t den tatsächlich erreichten vergleichen, immer auf der Hut vor den bei jeder Reform unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen. Er w i r d sich auch davor hüten, Reformen von solcher K o m plexität und Tragweite zu unternehmen, daß es i h m unmöglich wird, Ursachen und Wirkungen zu entwirren und zu wissen, was er eigentlich t u t " . 2 6 — Die neu zu schaffenden Regelungen müssen in einem eingeschränkten Sinne auch „systemverträglich" sein: Sie müssen mit dem schon bestehenden Recht und m i t den Leitideen der Kultur i n Einklang gebracht werden ( I V ) . Ferner ist Rücksicht darauf zu nehmen, daß die moderne Industriegesellschaft ein hochdifferenziertes Gebilde mit vielen wechselseitigen Abhängigkeiten ist: Der regelnde Eingriff i n einen Teilbereich des Sozialgefüges darf sich auf andere Teilbereiche nicht dahingehend auswirken, daß die Gesamtnachteile schwerer wiegen als die Gesamtvorteile.

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Vgl. etwa BVerfGE 39, 59 f.; Stettner (Fn. 13), S. 811. K. R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl. 1974, S. VIII. Vgl. R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 13 II. Popper (Fn. 23), S. 52; vgl. auch Jahrreiß (Fn. 13), S. 33. Popper (Fn. 23), S. 54.

II. Die Probe der

i k e i t

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Die unter diesen Kautelen entworfenen rechtlichen Problemlösungen müssen dann unter den schon genannten Aspekten der Wirksamkeit, der Gerechtigkeit und der „Systemverträglichkeit" „auf die Probe gestellt" werden.

I I . Die Probe der Wirksamkeit Die erste „Probe" betrifft also die „Wirksamkeit" von Rechtsnormen, d. h. die Frage, ob diese als verhaltensleitende Sinngehalte die m i t ihnen erstrebten W i r kungen hervorbringen. Solche „Erfolgskontrolle", verbunden mit einer „Nachbesserung" freiheitsbegrenzender Normen, kann i m Rechtsstaat schon unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit sogar von Verfassungs wegen geboten sein. 2 7 Die Normwirksamkeit ist übrigens von dem Geltungsanspruch zu unterscheiden, den eine N o r m ihrem Sinn nach erhebt: Die Forderung, die ein rechtliches Gebot ausspricht, w i r d nicht dadurch als unrichtig erwiesen, daß i h m zuwidergehandelt wird; i n diesem Sinne beanspruchen Gebote „kontrafaktische G e l t u n g " . 2 8 Bei der Wirksamkeit hingegen geht es nicht um diesen Anspruch und dessen Legitimation, sondern u m einen anderen Aspekt des Rechts: darum, ob es die Wirkungen hervorbringt, die es bezweckt, ob es insbesondere befolgt w i r d und eine verläßliche Durchsetzungschance h a t . 2 9 Kurz, die Frage nach der Wirksamkeit einer Rechtsnorm zielt darauf, ob diese sich als Instrument der Verhaltenssteuerung und Sozialgestaltung „bewährt". Hierbei ist zwischen einer Wirksamkeit i m engeren und i m weiteren Sinn zu unterscheiden. I m engeren Sinn effizient ist eine N o r m dann, wenn sie zu dem vorgeschriebenen Verhalten motiviert, wenn also ζ. B. i m Straßenverkehr die vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzung eingehalten wird, oder wenn auf die Nichteinhaltung mit einer Sanktion reagiert wird. Effizient i m weiteren Sinne ist die N o r m dann, wenn das gebotene Verhalten sich auch als geeignetes M i t t e l erweist, u m die m i t der N o r m erstrebten Zwecke zu erreichen, i m vorliegenden Beispiel also geeignet ist, die Verkehrsunfälle oder den Verkehrslärm oder beides zu vermindern. Die Bedingungen dieser Wirksamkeit zu erforschen, ist eine weitgehend noch unbewältigte Aufgabe der Rechtssoziologie, die sich hierbei nicht zuletzt auch der Rechtsvergleichung bedienen kann. Das Folgende kann daher nur ein Problemaufriß sein, dem exemplarisch einige vorläufige Beobachtungen eingefügt sind.

27 Vgl. Stettner (Fn. 13), S. 808 m. Nachw. 28 N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, S. 43. 29 Dazu unten Kap. 13 I 3 und Zippelius (Fn. 24), §§ 4, 5 IV.

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Kap. 1 : Die experimentierende Methode im Recht 1. Wirksamkeit

im engeren Sinn

a) Ob der Versuch, menschliches Handeln durch Normen zu motivieren, glückt oder mißglückt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren a b . 3 0 Ungeachtet des Determinismusproblems sind jedenfalls statistisch und nach der Alltagserfahrung einige solcher Faktoren mit hoher Wahrscheinlichkeit 3 1 relevant: V o n Bedeutung ist nicht nur die Strenge einer staatlichen Sanktion, sondern vor allem auch die Erwartung prompter staatlicher Rechtsgewährleistung. 32 Die Bereitschaft zum Normengehorsam ist regelmäßig auch u m so größer, j e mehr sich das Recht i m Einklang mit solchen Verhaltensmustern hält, zu denen die Gemeinschaft ohnehin tendiert. M i t der Befolgung rechtlicher Normen ist also um so eher zu rechnen, je mehr sie sich in den Bahnen der schon herrschenden Verkehrssitte und Sozialmoral halten. I n diesem Fall wirken auch schon gesellschaftliche Zwänge dahin, das Recht zu befolgen. Solche sozialen Zwänge bilden i n vorstaatlichen Gesellschaften die wichtigsten Gewährleistungen der Verhaltensregeln; 3 3 sie wirken aber auch in staatlichen Gemeinschaften als bedeutende Motivationen der Rechtsbefolgung. 3 4 Neben gesellschaftlichen Zwängen spielen hierbei von Kindheit an auch Erziehung und Gewöhnung eine Rolle: Die wichtigsten in der sozialen Tradition verankerten Normen „haben den Menschen nicht bezwungen, sondern erzogen". Sie ergehen an den Einzelnen „ohne Begründung, und er folgt ihnen ohne Überlegung", und dies „ u m so williger, als ihm die Erfahrung die Vorteile des Befolgens und die Nachteile des Zuwiderhandelns recht nachdrücklich vor die Augen r ü c k t " . 3 5 Die Motivationskraft von Normen leidet insbesondere dann, wenn diese einem größeren T e i l des Volkes als moralisch unannehmbar erscheinen ( I I I l ) 3 6 , aber auch dann, wenn sie die Interessen, die das Handeln zu leiten pflegen, nicht angemessen i n Rechnung stellen. I n dieser Hinsicht haben viele planwirtschaftliche Systeme das Experiment des Lebens nicht bestanden, w e i l sie eine wichtige Einsicht des Helvetius vernachlässigten: Dieser sah es als Kennzeichen einer weisen Gesetzgebung an, das natürliche Interessenstreben nicht zu unterdrücken,

30 Vgl. etwa//. Ryffel, P. Noll, in: M. Rehbinder/ H. Schelsky (Hrsg.), Zur Effektivität des Rechts, 1972, S. 225 ff., 259 ff.; L. M. Friedman, Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften, 1981, S. 62-148; R. Eilermann, in: G. M. Hellstern / H. Wollmann (Hrsg.), Experimentelle Politik, 1983, S. 130 ff.; Th. Raiser, Rechtssoziologie, 1987, S. 267 ff.; Röhl (Fn. 18), §§ 30 f., 36; M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1989, § 7. 31 Zu diesem Kriterium: R. König, in der Einleitung zu Dürkheim (Fn. 5), S. 73 ff., 78. 32 K. D. Opp, Soziologie im Recht, 1973, S. 197 ff.; Friedman (Fn. 30), S. 95 f.; Röhl (Fn. 18), §30 Nrn. 3-5. 33 U. Wesel, Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, 1985, S. 319 ff. 34 E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 3. Aufl. 1967, S. 51. 35 Ehrlich (Fn. 34), S. 63; siehe auch unten Kap. 7 I I I 2. 36 Vgl. Friedman (Fn. 30), S. 122 ff.

II. Die Probe der

i k e i t

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sondern es verständig zu ordnen und auf diese Weise das Interesse des Einzelnen m i t dem allgemeinen Interesse zu verbinden. 3 7 I n ähnlicher Weise hatte auch schon Aristoteles gerügt, daß der platonische „Staat" an der menschlichen Natur vorbeigeplant sei. 3 8 Das „selbsttätige" Funktionieren des Rechtsgehorsams hängt auch davon ab, in welchem Maße das Recht zur allgemein vertrauten und geläufigen Verhaltensregel wird. Je einfacher, übersichtlicher und beständiger das Recht ist, desto eher kann die Rechtsordnung von allen durchschaut, begriffen und nachvollzogen werden. Die Orientierungswirkung und damit auch die rechtsethische Kraft der Rechtsordnung schwindet, wenn diese aufgebläht wird, die große Linie und Übersichtlichkeit verliert und nicht mehr an überschaubaren Zielvorstellungen ausgerichtet i s t . 3 9 E i n nicht mehr v o l l überschaubares Recht w i r d zwangsläufig ein nicht mehr v o l l beachtetes Recht. I n ähnlicher Weise beeinträchtigt ein rascher Wandel, zumal ein sprunghaftes Herumexperimentieren mit den Ordnungen, die Internalisierung der rechtlichen Normen. b) Es w i r d jedoch schwerlich gelingen, den Wirkungsgrad der einzelnen Faktoren statistisch einigermaßen genau zu bestimmen. Kaum überwindbare Schwierigkeiten bereitet es schon, die Effizienz einer N o r m insgesamt zu messen. Theodor Geiger hat vorgeschlagen, die Chance der Normwirksamkeit i m engeren Sinn (er spricht von „Verbindlichkeit") durch einen Bruch zu bezeichnen: Dessen Nenner solle die Gesamtzahl der Fälle angeben, „ i n denen Normadressaten aktuell i n normtypische Situationen geraten"; der Zähler hingegen solle die Anzahl der Fälle bezeichnen, „ i n denen die N o r m sich durch Befolgung oder Reaktion auf Übertretung als wirksam erweist". 4 0 I n der Praxis läßt sich diese Wirkungsquote selbst dort nicht genau ermitteln, wo das normgemäße oder normwidrige Verhalten sich vor aller Augen abspielt, wie i m Straßenverkehr. 41 U m so größer ist die „Dunkelziffer" nicht feststellbarer Normübertretungen in weniger zugänglichen Bereichen; um so schwieriger w i r d hier also die „experimentelle" Überprüfung der Effizienz. 4 2 Eine Komplikation bei der Erforschung der N o r m Wirksamkeit ergibt sich nicht zuletzt aus dem Umstand, daß normgemäßes Verhalten nicht notwendig durch die N o r m bewirkt sein m u ß 4 3 und daß oft unsicher ist, ob es durch die N o r m oder anderweitig motiviert ist.

37

C.A. Helvetius, De l'homme, de ses facultés et de son éducation, 1772, IX 4. 38 Aristoteles, Politik, 1261 b ff. 39 Vgl. Röhl (Fn. 18), § 31. 40 Th. Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl. 1987, S. 33. 41 Beutel (Fn. 13), S. 40 f., 149 ff. 42 Röhl (Fn. 18), § 29 Nr. 2. 43 Vgl. Friedman (Fn. 30), S. 65 ff.

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Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht 2. Wirksamkeit

im weiteren Sinn

Wirksam i m weiteren Sinn ist eine N o r m dann, wenn sie sich als geeignetes M i t t e l erweist, die m i t ihr erstrebten Zwecke zu erreichen, wenn sie also nicht nur zu dem gebotenen Verhalten führt, sondern wenn dieses auch ein geeignetes M i t t e l ist, um den Normzweck zu erreichen. U m überhaupt prüfen zu können, ob eine rechtliche Regelung auch in dieser Hinsicht ein geglücktes Experiment ist, muß der Gesetzeszweck klar erkennbar sein; schon diese Bedingung ist oft nicht erfüllt. 4 4 V o r allem aber bereitet der Nachweis, i n welchem Maße dieser Zweck mittels der N o r m erreicht wird, oft unüberwindliche Schwierigkeiten. Noch einigermaßen auszählbar sind etwa die Unfallziffern i m Straßenverkehr vor und nach Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung. I n welchem Maße aber ζ. B. die rechtspolitischen Ziele einer Mitbestimmungsregelung, eines Arbeitsförderungsgesetzes, einer Neugestaltung des Schulwesens oder einer Neuordnung des Strafvollzugsrechts erreicht werden können, w i r d oft schwer zu ermitteln sein. 4 5 A u c h hier w i r d oft nicht feststellbar sein, i n welchem Maße bestimmte Ergebnisse auf die rechtliche Regelung oder aber auf andere Ursachen zurückzuführen sind; i m zweiten Fall würde das Recht einen sich ohnedies vollziehenden sozialen Wandel nur legitimierend begleiten. 4 6 Die rechtliche Wirkungsforschung stößt hier an prinzipielle Grenzen, die einer genauen Erforschung komplexer Wirkungszusammenhänge i m sozialen Geschehen gesetzt sind. 3. Vermeidung

unerwünschter

Nebenwirkungen

Z i e l eines experimentierenden Denkens hat es zu sein, Normen herauszufinden, welche nicht nur die vorausgesetzten Zwecke möglichst leicht und wirksam erreichen, sondern auch zu möglichst wenigen und geringfügigen unerwünschten Nebenwirkungen führen. 4 7 So hat man etwa i m Strafrecht aus der Erfahrung gelernt, daß Gelegenheitstäter durch den Vollzug von Freiheitsstrafen nicht selten erst zu weitergehender Kriminalität verleitet werden, und hat das Recht dementsprechend korrigiert. Ein Paradebeispiel eines mißlungenen rechtlichen Experiments war die nordamerikanische Prohibitionsgesetzgebung der zwanziger Jahr e , 4 8 die eine Verminderung des Alkoholmißbrauchs bezweckte, aber Nebenwir44 P. Noll, in: H. Albert u. a., Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 537; H. Wollmann und E.Blankenburg, in: Schreckenberger (Fn. 14), S. 84 f., 110 f.; W. Zeh, in: Grimm / Maihofer (Fn. 14), S. 202 f. 4 5 Zu den Schwierigkeiten einer Wirkungskontrolle etwa K. Eckel, in: Hellstern / Wollmann (Fn. 30), S. 83 ff.; K. König, in: Schreckenberger (Fn. 14), S. 99 ff.; Raiser (Fn. 30), S. 260 f.; vgl. auch Greenwood (Fn. 5), S. 206 ff. 4 6 Vgl. Blankenburg (Fn. 44), S. 118 f.; Zeh (Fn. 44), S. 203 ff. 47 Vgl. Raiser (Fn. 30), S. 263 ff.; Röhl (Fn. 18), § 14 Nr. 3 b. 48 Vgl. Röhl (Fn. 18), § 30 Nr. 2.

III. Die Probe der Gerechtigkeit

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kungen hatte, die den Nutzen der Regelung überwogen: Schuf sie doch Kristallisationspunkte für ausgedehnte illegale Tätigkeiten, nach denen eine breite Nachfrage bestand, und förderte so das organisierte Gangstertum. Sie schadete auch insgesamt der Achtung vor dem Gesetz, indem sie Verbote aufstellte, die keinen hinreichenden Rückhalt i n der Sozialmoral hatten, Verbote, die viele zum Verstoß reizten und deren Einhaltung überdies nicht genügend gewährleistet werden konnte; Verbote zu erlassen, die nicht wirksam durchgesetzt werden können, mindert aber, wie man weiß, generell die Bereitschaft zum Rechtsgehorsam. Manche Vorschriften bewirken i n gewissem Umfang sogar das Gegenteil von dem, was sie bezwecken. Es gibt Baumschutzverordnungen, die das Fällen von Bäumen einer bestimmten Normgröße von einer behördlichen Erlaubnis abhängig machen. Dies hat zu einem kleineren „Baumsterben" geführt, weil viele Gartenbesitzer nun Bäume, die möglicherweise irgendwann einmal lästig werden könnten, vorsorglich bereits fällen, bevor sie jene Normgröße erreichen, Bäume, die ohne jene Schutzvorschrift noch lange gegrünt hätten. E i n zu weit gehendes Mieterschutzrecht kann davor abschrecken, Mietwohnungen zu bauen, und dadurch i n einer Zeit des Wohnungsmangels insgesamt dazu führen, die Situation von W o h nungsuchenden zu verschlechtern, statt zu verbessern. E i n Scheidungsfolgenrecht m i t übertriebenem sozialen Schutzcharakter kann eine beträchtliche Zahl junger Menschen dazu bewegen, i n einer „Ehe ohne Trauschein" zusammenzuleben, m i t der Folge, daß nach einer Trennung der sozial schwächere Partner schutzloser ist als unter einem etwas „unsozialeren" Scheidungsfolgenrecht. Es gibt also eine Sozialwidrigkeit der Sozialstaatlichkeit. So hat der Gesetzgeber auch unter diesen Aspekten zu prüfen, ob sein normatives Experiment gelungen ist oder nach einer Korrektur verlangt.

I I I . Die Probe der Gerechtigkeit 1. Das Kriterium

der Konsensfähigkeit

Rechtsnormen sollen Probleme des Zusammenlebens nicht nur wirksam, sondern auch gerecht lösen. W o finden w i r aber den Prüfstein der Gerechtigkeit? Prüfungsgrundlagen für naturwissenschaftliche Problemlösungsvorschläge sind die Gesetze der L o g i k und Sinneserfahrungen, die jeder nachvollziehen kann: Nach logisch einwandfreien allgemeinen Hypothesen werden beobachtbare Erfahrungsdaten vorausgesagt. Deren Eintreten oder Nichteintreten entscheidet dann darüber, ob die Hypothese beibehalten werden kann oder aufzugeben ist. Bei der Gerechtigkeit hingegen geht es u m Fragen ethisch richtiger Verhaltensund Entscheidungswahl. Für Prüfungen, die sich hierauf richten, ist das vernunftgeleitete Gewissen der Einzelnen die letzte Instanz, zu der das Bemühen u m

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Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht

ethische Einsicht vorzudringen vermag, 4 9 ähnlich wie Sinneserfahrungen die letzte Grundlage für die Erkenntnis der Erscheinungswelt bilden. Über die Einsicht i n logische Gesetze und über Sinneserfahrungen, die zur Überprüfung naturwissenschaftlicher Hypothesen dienen, kann man sich verständigen. Aber auch in Gewissenseinsichten kann die Subjektivität in beträchtlichem Maße überwunden werden; man kann sich also auch über Gerechtigkeitseinsichten verständigen und zu einem mehr oder minder breiten Konsens gelangen. Schon Kant hatte sich j a das Gewissen als eine Instanz vorgestellt, die nicht i n reiner Subjektivität entscheide, sondern von praktischer Vernunft geleitet werde 5 0 : nach seiner Ansicht nämlich von einem formalen Vernunftprinzip, welches „objektiv d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen . . . gültig sind, den W i l l e n bestimmt"51. Die folgenden Überlegungen gehen also davon aus, daß über Gerechtigkeitseinsichten, die sich auf das Gewissen gründen, ein vernunftgeleiteter Diskurs geführt und — wenigstens für wechselnde Mehrheiten — auch eine vernunftgeleitete Einigung erzielt werden k a n n . 5 2 Z u den konsensleitenden Grundsätzen vernünftigen Entscheidens gehört es insbesondere, daß innerhalb einer Rechtsordnung die Lösungen verschiedener Rechtsprobleme widerspruchsfrei miteinander vereinbar sein müssen ( I V 1). Das Recht, als System vernünftiger Ordnung der Freiheit 5 3 , hat ferner den Freiheitsgebrauch i n verallgemeinerungsfähiger Weise zu regeln 5 4 ; die m i t dem Freiheitsgebrauch verknüpften Interessenkonflikte sind nach Grundsätzen vernünftiger Abwägung zu lösen 5 5 : V o r allem soll der Nutzen die Beeinträchtigung von Interessen und Freiheiten überwiegen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit); auch sollen vermeidbare Beeinträchtigungen vermieden werden (Übermaßverbot); auf diese Weise soll die Interessenbefriedigung i n der Gemeinschaft optimiert und so viel Freiheit wie möglich verwirklicht werden. Konsens läßt sich nicht nur über formale Prinzipien und über Abwägungsgrundsätze, sondern auch über inhaltliche Fragen erzielen. So werden, um nur ein Beispiel zu nennen, die meisten wohl darüber einig werden, daß es unbillig wäre, jemanden an einem Vertrag festzuhalten, der m i t vorgehaltener Pistole erzwungen wurde. — Insgesamt bedeutet der Rückgang auf die Basis des breitestmöglichen Konsenses also kein vordergründiges Abfragen irrationaler Empfindungen; vielmehr soll der Konsens, der die Prüfungsgrundlage für Gerechtigkeitsentscheidungen bildet, auch das Ergebnis eines Bemühens um rationale Abklärung der Meinungen sein. 4

9 Dazu unten Kap. 7. so /. Kant, Die Metaphysik der Sitten, II. Teil, 1797, S. 37 f. 51 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1786, S. 37. 52 Zippelius (Fn. 24), § 20 III; s. auch unten Kap. 7 I I 1 und 9 I I I 2. 53 Zippelius (Fn. 24), § 26 I, III, m. Nachw. 54 Dazu unten Kap. 2 I 5 und 5 V 2. 55 Hierzu insbesondere H. Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977; Vorschläge zu einer gerechten Interessenregelung finden sich auch bei J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, deutsch 1975, S. 31 f., 81, 86 ff., 104, 309.

III. Die Probe der Gerechtigkeit

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Gleichwohl können Gerechtigkeitsaussagen nicht m i t gleicher Strenge wie naturwissenschaftliche Problemlösungen geprüft werden: Deren Voraussagen können i n unmittelbarer Erfahrung beliebig vieler Menschen bestätigt oder verworfen werden: Daß ein hochgehobener und wieder losgelassener Stein zur Erde zurückfällt, kann ausnahmslos jeder nachprüfen und in seiner Erfahrung nachvollziehen. 5 6 I n Gerechtigkeitsfragen dagegen stoßen w i r bald auf Grenzen allgemeiner Einigungsmöglichkeit: Sobald es darum geht, Zwecke und Güter zu gewichten und sie gegeneinander abzuwägen, machen sich die unterschiedlichen Wertungsdispositionen der Einzelnen geltend, die ihren Grund auch in der Verschiedenheit ihrer weltanschaulichen Perspektiven ( I V 2) haben. Diese unterschiedlichen Präferenzen verhindern es, daß über die Richtigkeit aller Interessenabwägungen allgemeines Einverständnis erzielt wird. So besteht etwa in der Diskussion über den Schwangerschaftsabbruch zwar weitgehende Einigkeit über die prinzipielle Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens, wie auch darüber, daß das Selbstbestimmungsrecht der Mutter, für sich allein genommen, achtenswert sei. W i e aber i m Kollisionsfall die Interessen gegeneinander abzuwägen seien, darüber gehen die Meinungen auseinander. So muß man sich damit abfinden, daß die Überprüfung rechtlicher Problemlösungen nicht mit der gleichen Allgemeingültigkeit und Präzision 5 7 geschehen kann wie die Überprüfung naturwissenschaftlicher Hypothesen. Dies wußte bereits Aristoteles, als er schrieb, in Fragen einer gerechten Ordnung müsse man sich mit „dem Grad an Präzision bescheiden, den der gegebene Stoff zuläßt". 5 8 W o eine Übereinstimmung aller nicht erzielbar ist, stellt sich die Frage, wessen Vorstellungen darüber entscheiden sollen, ob eine rechtliche Problemlösung gelungen ist. Nach demokratischem Legitimitätsverständnis gilt jeder als eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz; demgemäß w i r d hier die größtmögliche Annäherung an den allgemeinen Konsens erstrebt. Es sollen also jene Gerechtigkeitsvorstellungen zur Geltung gebracht werden, die ihre Grundlage i m Gewissen möglichst vieler haben; dies geschieht durch das Mehrheitsprinzip. 5 9 Es ist müßig, zu fragen, ob man Gerechtigkeitsaussagen, über die ein mehr oder minder breiter, in manchen Fällen sogar ein einstimmiger Konsens erzielbar ist, als ethische „Wahrheiten" bezeichnen dürfe 6 0 . Jedenfalls rechtfertigen es Gründe praktischer Legitimität, Gerechtigkeitsentscheidungen auf der genannten Grundlage zu treffen: A u f diese Weise w i r d das erreichbare Höchstmaß bürgerlicher Selbstbestimmung respektiert; der individuellen Autonomie w i r d hierdurch

56 Freilich stecken in theorievermittelten Beobachtungen, etwa mittels einer Nebelkammer, auch konventionelle und darum problematisierbare Komponenten (vgl. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, 7. Aufl. 1989, S. 449). 57 Siehe dazu aber auch Fn. 56. 58 Dazu unten Kap. 33 Einl. 59 Dazu unten Kap. 7, 9 und 11. 60 Dazu unten Kap. 10.

3 Zippelius

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Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht

die größtmögliche Chance eröffnet, sich auch i n den politisch-rechtlichen Bereich hinein zur W i r k u n g zu bringen. Rechtliche Normen, die für möglichst viele akzeptabel sind, haben auch die besten Aussichten, allgemeinen Rechtsgehorsam zu finden, was wiederum der Effizienz des Rechts und damit auch der Orientierungsgewißheit und der Befriedungs- und Ordnungsfunktion des Rechts zugute kommt. 2. Abklärung

der Konsensfähigkeit

Was die meisten für gerecht und b i l l i g halten, ist aber nicht ohne weiteres feststellbar. Demokratische Mehrheitsentscheidungen werden oft von Interessen und nicht durchwegs v o m Gewissen der Bürger geleitet. A u c h besteht die Gefahr, daß die Mehrheitsmeinung eine vordergründige, von Interessenten manipulierte Mitläuferansicht ist. Daher stellt sich die Aufgabe, die Konsensfindung in die Bahnen vernünftiger Gerechtigkeitserwägungen zu lenken. Hierzu bedarf es institutioneller und prozeduraler Vorkehrungen, um sich Ergebnissen anzunähern, die auch noch nach gründlicher Prüfung vor dem Gewissen und Rechtsgefühl möglichst vieler Bestand haben können. Es müssen Entscheidungsinstanzen geschaffen werden, die den Interessenkonflikten möglichst neutral und sachkundig gegenüberstehen. A u c h müssen die Entscheidungen nach freiem Austausch der Argumente i n begründeter und kontrollierbarer Weise getroffen werden. 6 1 Setzt man aber voraus, daß das Gewissen der Einzelnen die letzte uns zugängliche Prüfungsinstanz für Gerechtigkeitsentscheidungen ist, so können all diese institutionellen, verfahrensmäßigen und argumentativen Vorkehrungen nur dazu dienen, abzuklären, welche Gerechtigkeitsvorstellungen geeignet sind, alle oder wenigstens die meisten zu überzeugen und auf dieser Grundlage die Zustimmung der Mehrheit des Volkes zu finden. Insgesamt und langfristig funktioniert dieses System nach der Leitidee, — unter Einschaltung mannigfaltiger Absicherungen distanzierten und rationalen Erwägens — einen Bestand von Regeln und Rechtsgrundsätzen herauszubilden, die i m ganzen von einem vernunftgeleiteten Konsens der Mehrheit getragen sind. So tastet sich in der „offenen Gesellschaft" die juristische Einsicht in einem komplizierten und vielschichtigen Prozeß von „trial and error" voran.

61

Näher hierzu unten Kap. 5 V.

IV. Die Probe der „Systemverträglichkeit"

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I V . Die Probe der „Systemverträglichkeit" 1. Verträglichkeit

mit dem rechtlichen

Kontext

Es genügt nicht, daß die einzelne Norm, die ein Rechtsproblem löst, vor dem Gewissen der Mehrheit die Probe besteht oder doch mutmaßlich bestehen könnte. Die einzelnen Rechtsnormen müssen auch miteinander vereinbar sein. 6 2 I n ähnlicher Weise hat man i n den Naturwissenschaften gefordert, einerseits seien die Vorstellungen den Sinnes Wahrnehmungen anzupassen, andererseits müßten die verschiedenen Vorstellungen auch miteinander verträglich sein. 6 3 Für das Recht ergibt sich das Erfordernis einer Konsistenz der Normen aus der Funktion des Rechts, ein Gefüge widerspruchsfrei miteinander vereinbarer Verhaltensnormen bereitzustellen. 6 4 Daher macht eine höherrangige, d. h. auf einer höheren Kompetenzenebene erlassene N o r m eine ihr widersprechende, i m Rang unter ihr stehende N o r m ungültig; gleichrangige Normen berauben sich gegenseitig der Anwendbarkeit, soweit sie miteinander i n Widerspruch stehen. Daß Normen unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Zwecken dienen, läßt sich zwar nicht vermeiden, doch sind sie in solchen Fällen so auszulegen und gegeneinander abzugrenzen, daß ein optimaler und gerechter Kompromiß zwischen den konkurrierenden Zwecken erreicht w i r d . 6 5 Daß auch i n den Wertentscheidungen des Rechts ein größtmögliches Maß an Konsistenz eingehalten wird, verlangt nicht zuletzt der Gleichheitssatz. Das Bundesverfassungsgericht hat dies i n die Worte gekleidet: Es seien in der Rechtsordnung „bestimmte Wertungen und Vernünftigkeitsraster normiert, innerhalb deren sich der Gleichheitsgrundsatz vor allem als Forderung nach Folgerichtigkeit der Regelungen, gemessen an den Angelpunkten der gesetzlichen Wertungen, zu W o r t m e l d e t " 6 6 . Dieses Bemühen um System Verträglichkeit ist nicht auf begrenzte Problembereiche zu verengen. Sie hat nicht nur die Konsistenz eng gefaßter positivistischer Systemeinheiten zu prüfen 6 7 , sondern stets auch zu fragen, ob das jeweils zu prüfende Teilsystem sich seinerseits ohne Verstoß gegen den Gleichheitssatz i n den Kontext der gesamten Rechts- und Verfassungsordnung und ihrer Leitprinzipien — und damit i n die bestehende Rechtskultur 6 8 — einfügt.

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Dazu unten Kap. 35 I I 3. Mach (Fn. 1), S. 164 ff., sprach von einer „Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander". 64 Vgl. etwa Κ Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935; vgl. auch Κ Günther, Ein normativer Begriff der Kohärenz, in: Rechtstheorie 1989, S. 163 ff. m. w. Nachw. 65 Vgl. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 10 I I I c. 66 BVerfGE 60,40; vgl. auch BVerfGE 1, 246 f.; 11, 293; 34, 115; 59,49; Ch. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, insbes. S. 20 ff., 49 ff. 67 Vgl. Degenhart.(Fn. 66), S. 14 f. 68 Dazu auch unten Kap. 26 I I 3. 63

3*

36

Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht

Gleichwohl bedeutet die Forderung nach Systemverträglichkeit keine Verpflichtung auf ein dogmatisch starr vorgegebenes System. Sie leitet zunächst als heuristisches Prinzip die Erwägung, ob eine neu gefundene Problemlösung i n einem logischen oder teleologischen Widerspruch zum schon vorhandenen Normenbestand steht. Ergibt sich ein solcher Widerspruch, dann muß das nicht notwendig dazu führen, die neue Problemlösung zu verwerfen; eine neu gewonnene Rechtseinsicht kann auch zum Prüfstein für die schon bestehenden Normen und allgemeinen Rechtsgrundsätze werden: Stellt sich heraus, daß schwerwiegende Gründe es erfordern, von der bisherigen Bewertungspraxis abzuweichen, dann gibt dies Anlaß, die widersprechenden Normen und Grundsätze des bisherigen Kontextes zu überprüfen und sie, wenn nötig, selbst zu modifizieren. 6 9 Darin w i r d sichtbar, daß die Rechtsordnung verständigerweise nur als ein offenes, variables „System" begriffen werden kann, wobei das Wort „System" hier nicht mehr bezeichnen w i l l als einen Bestand von Normen und allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die eine funktionsfähige Verhaltensordnung bilden, sich logisch nicht widersprechen und i n ihren Zwecken miteinander verträglich sind. I n dem Wechselspiel von überkommenem Bestand und neuen Problemlösungen zeigt sich die schon besprochene Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Stabilität und Orientierungsgewißheit einerseits und dem Wunsch nach Anpassung der Ordnungsvorstellungen an den Wandel der Lebensumstände und Einsichten andererseits (13). Das Bedürfnis nach Orientierungssicherheit und insbesondere nach Kontinuität des Rechts spricht dafür, die bisherige Ordnung nach Möglichkeit beizubehalten, und das heißt auch: neue Regelungen dieser womöglich anzupassen. Thomas S. K u h n hat gezeigt, daß ein ähnliches Bemühen — neu Gefundenes den herkömmlichen Denkstrukturen zuzuordnen und ihnen anzupassen — i n den Naturwissenschaften zu beobachten i s t . 7 0 Selbst dort spielt also offenbar — neben Trägheit und anderen irrationalen Gründen — auch der Orientierungswert eines einmal gewonnenen „Weltbildes" eine Rolle: Das Bedürfnis nach Stabilität und Orientierungsgewißheit drängt dazu, ein einmal gewonnenes Stück Weltorientierung nur aus schwerwiegenden Gründen aufzugeben. Dieses Bedürfnis scheint sich dort besonders nachdrücklich geltend zu machen, w o die Grundlagen einer konsistenten Weltorientierung in Frage gestellt werden.

69 Dazu auch unten Kap. 36 I 1. Ein Wechselspiel zwischen spezifischen Problemlösungsversuchen und einer schon vorhandenen „Welt" rechtlicher Leitgedanken (s. dazu auch I V 2) faßt Kaulbach (Fn. 8) ins Auge, wenn er schreibt, zum einen seien spezifische Normhypothesen auf ihre Verträglichkeit mit der „Perspektive einer Rechtswelt" zu prüfen (S. 448, 452), zum anderen sei aber jene „Perspektive" ihrerseits daraufhin zu erproben, ob ihre Folgen zu den „Rechtserwartungen" des Richters passen (S. 449 f., 453). 70 T. S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 2. Aufl. 1970, Kap. V, VIII.

IV. Die Probe der „Systemverträglichkeit" 2. Verträglichkeit

mit den Leitideen

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der Kultur

Die Lösung rechtlicher Probleme muß nicht nur m i t der übrigen Rechtsordnung, sondern auch m i t den Leitideen der jeweiligen Kultur verträglich sein: Das Bedürfnis, die unendlich komplexe W e l t überschaubar und faßbar zu machen und sie zu „begreifen", führt dazu, daß w i r uns umfassendere Bilder von unserer Welt, von der Natur des Menschen und von der Stellung des Menschen i m Kosmos machen. Kant hat diese „Architektonik" der menschlichen Vernunft beschrieben, also das Vernunftstreben, die Mannigfaltigkeit in einen Zusammenhang, i n eine „Einheit . . . unter einer Idee" zu bringen. 7 1 Insbesondere unsere „Weltanschauungen" dienen uns dazu, die Vielfalt unserer W e l t und ihrer Ordnungsprobleme auf überschaubare Vorstellungen zurückzuführen. Durch sie gewinnen Gemeinschaften umfassende Verhaltensorientierungen, die kaum entbehrlich sind: Grundideen, durch welche Menschen zusammengehalten und zusammengeführt werden. 7 2 A u f diese Integrationsfunktion von Religionen und anderen Weltanschauungen haben schon Tocqueville 7 3 und D u r k h e i m 7 4 hingewiesen. Aus den „Perspektiven" solcher Weltanschauungen werden vielfach die Regelungsprobleme einer Gemeinschaft gesehen, aus ihnen ergibt sich oft schon, welche Sachverhalte und Bedürfnisse für wichtig gehalten und überhaupt als Probleme erfaßt werden. Nach solchen Leitgedanken und Denktraditionen bemißt es sich auch, welcher Lösung die so erfaßten Probleme zugeführt werden und i n welchen Begriffen diese Lösung gesucht und gedacht w i r d . 7 5 Welches ist nun die Perspektive, aus der in einer „offenen Gesellschaft" der Rechtsbildungsprozeß betrachtet wird? Es ist die „Perspektive legitimer Perspektivenvielfalt": M a n hat gelernt, daß die Orientierungs- und Integrationsfunktion dogmatisch festgelegter Weltanschauungen eine gefährliche Kehrseite hat; sie liegt i n der Intoleranz gegenüber solchen Gemeinschaften, die ihre Probleme aus der Perspektive einer anderen Weltanschauung sehen und lösen. A u c h i m Haß entfalten die Ideen eine mächtige Integrationskraft. Angesichts dieser Konfliktsträchtigkeit weltanschaulicher Voreingenommenheiten erfordert es die Befrie71 Kant (Fn. 6), S. 860; vgl. auch F. Kaulbach, Einheit als Thema des transzendentalen Perspektivismus, in: K. Gloy / D. Schmidig (Hrsg.), Einheitskonzepte in der idealistischen und in der gegenwärtigen Philosophie, 1987, S. 15 ff. 72 Dazu unten Kap. 14. 73 A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, I I 1840, I. Teil, Kap. 2, 5. 74 E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, dt. 1981, S. 28,560 f., 571 ff. 75 Dazu unten Kap. 14 II; vgl. auch Th. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1987, S. 144 ff.; Kaulbach (Fn. 8) spricht davon, daß der Jurist die „Perspektive einer Rechtswelt . . . unter Berücksichtigung des positiven, geltenden Rechts vom Standpunkt seiner eigenen Rechtserwartung aus" entwirft (S. 452), und bezeichnet zugleich die „Perspektive einer Rechtswelt" als den „weltanschaulichen Hintergrund" rechtlicher Entscheidungen (S. 449).

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Kap. 1: Die experimentierende Methode im Recht

dung der Welt, daß weltanschauliche Selbstgewißheit einer Bereitschaft zu kritischer Prüfung weicht. So ist es geradezu zur „Weltanschauung" der „offenen Gesellschaft" geworden, eine Vielzahl „weltanschaulicher" Perspektiven für möglich zu halten und auch die umfassenden Vorstellungen, m i t denen man die Welt zu begreifen trachtet, als bloße Versuche des Erkenntnisbemühens zu verstehen, die prinzipiell kritisierbar sind. Kurz, Weltanschauungen erscheinen als Orientierungsversuche, die zwar unentbehrlich sind, aber stets einer kritischen Prüfung bedürfen, und neben denen auch andere Sichtweisen ihre Berechtigung haben können. 7 6 Dem entspricht ein Verfassungssystem, das die Grundlagen der offenen Gesellschaft — insbesondere die gleichberechtigte Würde und Meinungsfreiheit eines jeden — wahrt und in diesem Rahmen allen Bürgern eine Chance eröffnet, ihre weltanschaulichen Perspektiven auf demokratische Weise in das politische Geschehen und damit auch in die nie endende Suche nach dem richtigen Recht einzubringen. 7 7

76 Vgl. dazu auch Kaulbach (Fn. 71), S. 26 ff. 77 Vgl. BVerfGE 5, 135; 69, 344 f.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 26 I I 2.

Kapitel

2

Im Irrgarten der Gerechtigkeit Wer immer sich m i t Recht befaßt, stößt bald auf die Frage der Gerechtigkeit. Sobald w i r uns kritisch m i t einem Gesetz oder einem Richterspruch auseinandersetzen, zeigt sich, daß w i r nicht bereit sind, Recht als bloßes Produkt von Interessen und Machtverhältnissen hinzunehmen. Sobald w i r es als unbillig kritisieren, „moralisieren" w i r und erweisen damit der Gerechtigkeit eine Reverenz. Doch wie läßt diese sich fassen? M a n hat versucht, die Vielfalt der Gerechtigkeitsfragen m i t einem grundsätzlichen Begriff — gleichsam einem Schlüsselbegriff — zu erschließen. Einen solchen Schlüsselbegriff suchte man etwa in der Natur der Sache oder i n der Natur des Menschen, i n der historisch zutage getretenen objektiven Vernunft, i m größten Glück der größten Zahl, i m Prinzip der Gleichbehandlung oder in der formalen Verallgemeinerungsfähigkeit der Verhaltensregeln. Jeder dieser Versuche, das Gerechtigkeitsproblem zu lösen, sah sich Einwendungen ausgesetzt und keiner von ihnen hat i n allgemein überzeugender Weise die Probe ganz bestanden. I n rückschauender Betrachtung können w i r diese Versuche, die Frage der Gerechtigkeit zu beantworten, geradezu als einen großen Prozeß experimentierenden Denkens auffassen, in welchem der menschliche Geist es unternommen hat, prinzipielle Kriterien einer gerechten Ordnung zu finden, und dabei immer wieder das Scheitern dieser Versuche erfahren mußte. Wenn man gleichwohl, durch die Not der konkreten Situation herausgefordert, die Suche nach Gerechtigkeit nicht aufgibt, so hat dies — m i t Kant zu sprechen 1 — verständigerweise i n der Haltung des „sapere aude" zu geschehen: i n der Bereitschaft, auch an Fragen der Gerechtigkeit m i t Vernunftgründen heranzugehen, aber zugleich i m Wissen um das intellektuelle und oft auch ethische Wagnis, das in solchen Versuchen liegt.

1 /. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, Berlinische Monatsschrift, Dezember 1784. Das Wort stammt von Horaz, Epistulae, I 2, 40.

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Kap. 2: Im Irrgarten der Gerechtigkeit I . Klassische Lösungsansätze 1. Versuch: Das Natur re cht

Unter den klassischen Versuchen, auf die Frage nach Gerechtigkeit eine grundsätzliche Antwort zu geben, ist am ehrwürdigsten der naturrechtliche Ansatz. Unter Naturrecht i m weiteren Sinne versteht man vielfach ganz allgemein die vorgegebenen, von menschlicher Satzung unabhängigen Prinzipien der Gerechtigkeit. 2 I n einem engeren Sinn bezeichnet Naturrecht nur solche Gerechtigkeitsprinzipien, die — angeblich — i n der bestehenden Weltordnung überhaupt, in der Natur der Sache oder i n der Natur des Menschen selbst angelegt sind. Ich verwende den Naturrechtsbegriff hier in diesem engeren Sinn, weil nur er darauf zugeschnitten ist, dem Gerechtigkeitsproblem eine spezifische Fassung zu geben: ob man nämlich i m Seienden selbst ein Richtmaß für das Gesollte finden kann. Den Grundgedanken eines solchen Naturrechts hat Cicero 3 bündig formuliert: „ L e x est ratio summa insita i n natura". Als Beispiele solcher von der Natur vorgegebenen Ordnungen nennt das römische 4 und das christliche 5 Naturrecht die Verbindung von Mann und Frau und die Erzeugung und Aufzucht der Kinder. I m römischen Rechtsdenken war dieser Naturrechtsgedanke von der Philosophie der Stoa beeinflußt. Bei Thomas von A q u i n war er christlich-theologisch überhöht durch die Vorstellung, daß i m Naturrecht sich der weltordnende Schöpferwille Gottes offenbare und daß allenthalben i n der Schöpfungsordnung eine von Gott gestiftete und auf Gott hingeordnete Zweckbestimmung wirksam sei. 6 Die Repräsentanten des nachmittelalterlichen Naturrechts schließlich suchten das oberste Prinzip des Rechts vor allem in der Natur des Menschen, etwa i n dessen Gesellungstrieb (Grotius) und der Angewiesenheit des Menschen auf gegenseitige Hilfe (Pufendorf). 7 Die zusammenfassende Formel für diese Naturrechtsauffassung lieferte Christian W o l f f 8 in dem Satz: „ L e x naturalis est, quae rationem sufficientem in ipsa hominis rerumque essentia atque natura agnoscit." Diesem Naturrechtsdenken sind gewichtige Kritiker erwachsen. Ihr Hauptargument finden sie i n der Einsicht Kants, daß man von einem bloßen Sein nicht auf ein Sollen schließen, aus einem bloßen Faktum nicht ableiten kann, was ethisch richtig sei. I n unserer Welt existieren Polygamie und Monogamie. Aus ihrem bloßen Dasein könnte die eine soviel und sowenig wie die andere gerechtfertigt

2 Zur Vielfalt der Naturrechtsbegriffe: E. Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl. 1964; E. Fechner, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1962, S. 179 ff. 3 M. T. Cicero, De legibus, I 18. 4 Dig. I 1, 1, 3. 5 Thomas von Aquin, Summa theologica, I I I I 57, 3. 6 Thomas von Aquin (Fn. 5), I 103, 1; I I I 93, 1. 7 Nachw. bei R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 9. Aufl. 1994, Kap. 15. s Chr. Wolff, Philosophia practica, I § 135.

I. Klassische Lösungsansätze

41

werden; das Kriterium für die W a h l zwischen faktischen Alternativen kann nicht i n den Fakten selbst liegen. Deshalb heben Naturrechtstheorien aus der Fülle dessen, was tatsächlich existiert, bestimmte Gegebenheiten als die „wahre Natur" der Sache heraus, u m dann etwa zu behaupten, der wahren Natur des Menschen entspreche die Monogamie am besten. Damit trifft man aber schon eine wertende Auswahl, legt also bestimmte ethische Maßstäbe in die „natürliche Ordnung" hinein, u m sie dann wieder aus der „wahren Natur" des Menschen, der Institution oder der Sache herauszulesen. Daraus erklärt es sich, daß man, j e nach den vorausgesetzten Wertungen und dem hierdurch bestimmten B i l d der „wahren Natur" — etwa der „wahren Natur" des Menschen — naturrechtlich sehr unterschiedliche, j a einander widerstreitende Prinzipien der Gerechtigkeit ableiten kann. So gibt es naturrechtliche Begründungen des Individualeigentums ebenso wie solche des Güterkommunismus und naturrechtliche Rechtfertigungen der Monarchie ebenso wie solche der Demokratie. 9 A u c h wenn Naturrechtslehren auf theologischem Grunde ruhen 1 0 , wenn also die Welt als Schöpfungsordnung gedeutet wird, kann man aus faktischen Gegebenheiten keine Normen herleiten; denn zur Schöpfungsordnung gehören die Heiligen und die Diebe. U m einen Maßstab zu gewinnen, muß man auch hier i m faktisch Existierenden eine Auswahl treffen. Diese kann ihren Grund insbesondere in einer theologisch fundierten, normativen Aussage haben; aus ihr kann sich ζ. B. ergeben, welches der „eigentliche" Zweck, die „wahre", die vollkommene Natur des Menschen oder einer Sache sei. Solche Aussagen halten letztlich Rückfrage nach dem W i l l e n Gottes. Hier entscheidet dann in Wahrheit die Theologie und nicht die „ N a t u r " darüber, was der Gerechtigkeit als V o r b i l d und Muster dienen kann. 2. Versuch: Der philosophische

Ansatz Hegels

Die Rechtsphilosophie Hegels berührt sich mit dem Naturrechtsdenken i n einem wichtigen Punkt: A u c h sie unterscheidet etwas wahrhaft Wirkliches und damit Maßgebliches v o m bloß Zufälligen, Unmaßgeblichen. Wahrhaft w i r k l i c h — nämlich das, was in der Geschichte nachhaltig zur Wirkung komme — sei das Vernünftige. 1 1 Weltgeschichte sei die Selbstdarstellung der Vernunft, also wesentlich Geistesgeschichte. I n ihr müsse sich auch das wahrhafte Recht herausstellen. A u c h hier also das B i l d eines Heilsgeschehens, eines „Stufenganges", in welchem sich das Vernünftige enthüllen, herausarbeiten, verwirklichen soll. Seine Gestaltungen seien, so sagt Hegel, „die welthistorischen Volksgeister, die Bestimmtheit(en) ihres sittlichen Lebens, ihrer Verfassung, ihrer Kunst, Religion und Wissenschaft". 1 2 9 H. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? 1953, S. 38 f. 10 Thomas von Aquin (Fn. 5), I 5, 1; I 48, 1. h G.W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, 1821, Vorrede.

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Kap. 2: Im Irrgarten der Gerechtigkeit

Doch angesichts der bewegten Wandlungen, die etwa der Geist unseres Volkes i n diesem Jahrhundert durchleben und durchleiden mußte, klingt es wie Hohn, zu fragen, ob das eine Selbstverwirklichung der Vernunft gewesen sei. U n d sollten alle die unterschiedlichen, heute die Völker der Welt beherrschenden Geisteshaltungen Realisierungen der Vernunft sein? Hegel würde antworten, daß nicht jede beliebige völkische Gesinnung und nicht jedes beliebige Recht vernünftig seien; beides könne auch Ausdruck des Zufalls, könne faule Existenz sein. 1 3 Welches wäre dann aber, fragen w i r weiter, das praktikable Kriterium, u m das Vernünftige v o m bloß Zufälligen zu unterscheiden? Hegel erwidert: Die Weltgeschichte ist das Weltgericht. 1 4 Das heißt, es bleibt für ihn nur der zurückgewandte B l i c k , der dasjenige, was Kontinuität hatte, schulmeisterlich für vernünftig erklärt, aber auf die Gegenwart keine oder nur eine konformistische Antwort weiß. V o r allem aber läßt sich schon darüber streiten, welche Prinzipien den Gang der Weltgeschichte wirksam bestimmten. War diese w i r k l i c h „nichts als die Entwicklung des Begriffes der Freiheit", wie Hegel meinte 1 5 ? U n d wie wäre diese Freiheit genau zu bestimmen? Oder ist Geschichte vielmehr als eine Aufeinanderfolge von Klassenkämpfen zu begreifen, die i n eine klassenlose Gesellschaft münden 1 6 ? Oder vielleicht als sozialdarwinistischer Ausleseprozeß? U n d selbst wenn i m Gange der Weltgeschichte diese oder andere Prinzipien erkennbar zur W i r k u n g gekommen wären, bliebe die Frage: M i t welcher Begründung dürften diese faktischen Wirkungsschemata als Kriterien der Vernünftigkeit gelten? Wollte man das Vernünftige nur an der nachhaltigen historischen W i r k samkeit erkennen, so entnähme man, wie das Naturrecht, die Kriterien der Legitimität letztlich aus Fakten — ein Verfahren, dessen Unzulässigkeit schon beim Naturrecht zur Sprache kam. Insbesondere schwände bei dieser Betrachtungsweise die kritische Distanz, sich m i t der historischen Wirklichkeit aus individueller moralischer Einsicht „auseinanderzusetzen". Einen weiteren Einwand legt das Hegeische System selbst nahe: Es besteht eine tiefe Unversöhnlichkeit zwischen der Hegeischen Vernunftmetaphysik und der Hegeischen Dialektik, deren Kernsatz lautet: „Das Wahre ist das Ganze". 1 7 A u c h das Unbegriffene, nicht als vernünftig Einsichtige, „Sinnlose", „Zufällige", Ungerechte ist eben, auch i n historischer Perspektive, ein Moment des Ganzen.

12 G.W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, ed. Suhrkamp, 1970, S. 73. 13 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie, 3. Aufl. 1830, § 6; ders. (Fn. 11), § 212. 14 Hegel (Fn. 11), § 340. 15 Hegel (Fn. 12), S. 539 f. 16 K. Marx, F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, I und II. 17 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, 1807, Vorrede.

I. Klassische Lösungsansätze 3. Versuch: Der

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Eudämonismus

Eine sehr viel einfachere und direkte Antwort auf das Gerechtigkeitsproblem sucht der Eudämonismus zu geben: Gut ist, was das Wohlbefinden vermehrt. A u c h das Recht ist um der Menschen und ihres Wohlbefindens willen d a . 1 8 Aber schon regt sich ein erstes Bedenken: Das Recht hat j a gerade die Aufgabe, das individuelle Glücksstreben des einen gegen das des anderen abzugrenzen, es hat die Funktion, die individuellen Interessen, die miteinander i n K o n f l i k t geraten, gegeneinander abzuwägen. A u c h und gerade i m Recht ist „des einen Freud des anderen L e i d " . Solche widerstreitenden Interessen soll das Recht gerecht gegeneinander abwägen. W i l l man auch die Frage der Interessenabwägung aus dem Gesichtspunkt des Glückes beantworten, so kann die Lösung nur in der Optimierung, nur i n der Suche nach der größtmöglichen Endsumme an Glück liegen. Das ist der Grundsatz v o m größten Glück der größten Zahl, wie ihn Hutcheson 1 9 entwickelt und Benth a m 2 0 populär gemacht hat. A u c h hinter den weitverbreiteten, oft wenig durchdachten Bezugnahmen auf das „Gemeinwohl" steckt der gleiche Gedanke. Aber auch diese Formeln scheitern, und zwar schon an der Vielfalt des Glückes. Denn diese Vielfältigkeit des Glückes läßt sich nicht auf ein Normalglück, auf eine Normaleinheit zurückführen. Aber nur auf diesem Wege ließe es sich quantifizieren, so daß man es wie Mark und Pfennige addieren und subtrahieren könnte. I n welchem quantitativen Verhältnis stünde etwa die Freude der Mutter über die Genesung ihres Kindes zu der Freude eines Tennisspielers an einem gewonnenen Turnier? Der Eudämonismus mündet offenbar in Rang- und Schutzwürdigkeitsfragen, für die aber erst noch nach Bewertungskriterien gesucht werden muß. Überdies w i l l sich das moralische Bewußtsein auch beim Prinzip v o m größten Glück der größten Zahl nicht beruhigen. Ich w i l l das verdeutlichen: I n einer Gemeinschaft kann das Glück in sehr unterschiedlicher Weise — gleichmäßig oder auch ungleichmäßig — auf die Einzelnen verteilt sein. Nach der Formel v o m größten Glück der größten Zahl wären solche unterschiedlichen „Verteilungsmuster" durchaus gleichwertig, solange nur bei jedem dieser Verteilungsmuster die Summe des Glückes gleichbliebe. Hierbei könnte also das Glück des einen beliebig dem gleich großen Glück eines anderen aufgeopfert werden. W i r werden aber einwenden: E i n Gesellschaftszustand, in welchem der „Wohlstand" — als verfügbare Grundlage irdischen „Glückes" — angemessen verteilt ist, sei doch offenbar gerechter, als ein Gesellschaftszustand, in dem er w i l l k ü r l i c h

Epikur, Diogenes Laertius, X 150 ff. 19 F. Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue, 1725, Teil I I Abschn. 3 § VIII. 20 J. Bentham, An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, 1789, Kap. I 1, X V I I 2.

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Kap. 2: Im Irrgarten der Gerechtigkeit

ungleichmäßig verteilt ist; dies gälte auch dann, wenn die „Summe des Wohlbefindens" i n beiden Gesellschaften die gleiche wäre. Es geht also nicht nur u m eine Gesamtmaximierung, sondern auch um die gerechte Verteilung des „Glückes". Damit beansprucht man jedoch einen Maßstab, der nicht aus der bloßen Maximierung der Interessenbefriedigung ableitbar ist. 4. Versuch: Das Prinzip

der

Gleichbehandlung

A u c h das Prinzip angemessener Gleichbehandlung führt bald auf offene Fragen. Das gilt augenfällig für die austeilende Gerechtigkeit. 2 1 Die Grundsätze: „Jedem das Seine", und „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln" gehören zu den Luftblasen, die i m Strom der Zeiten immer obenauf sind. Es sind Formeln, die darauf warten, m i t Wertungen ausgefüllt zu werden. Denn welches sind die Unterschiede, die eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen, j a fordern? Rechtfertigt ζ. B. der Unterschied der Geschlechter eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der elterlichen Gewalt, hinsichtlich des staatsbürgerlichen Wahlrechts, hinsichtlich der Wehrpflicht, hinsichtlich der Arbeitszeitregelung? U n d welche Behandlung ist einer bestimmten Eigenschaft angemessen? Ernst Topitsch 2 2 berichtete, der Satz „Jedem das Seine" habe auch über dem Tor eines Konzentrationslagers gestanden, und er fügte hinzu: Dagegen war „ v o m rein logischen Standpunkt nichts einzuwenden". Die Formel „Jedem das Seine" ist also ausfüllungsbedürftig, sie sagt für sich alléin'wenig aus. Hierauf zielt auch die K r i t i k Kelsens: Die Formel läßt „die entscheidende Frage, was . . . jedermann als ,das Seine 4 betrachten dürfe, . . . unbeantwortet. Daher kann die Formel Jedem das Seine' zur Rechtfertigung jeder beliebigen Gesellschaftsordnung dienen, mag es sich u m eine kapitalistische oder sozialistische, eine demokratische oder autokratische Ordnung handeln." 2 3 Größere Bestimmtheit und Praktikabilität hat der Gleichheitsgrundsatz für den Bereich der ausgleichenden Gerechtigkeit. A m eindeutigsten ist w o h l der Grundsatz der Naturalrestitution: Wer ζ. B. fahrlässig eine fremde Vase zerschlagen hat, muß, wenn möglich, eine gleiche Vase als Ersatz liefern. Sobald es aber u m den Austausch verschiedenartiger Güter oder Dienstleistungen geht, entstehen bereits wieder Zweifel. Welche Güter oder Dienstleistungen sind denn einander gleichwertig? Die ganze ungelöste Problematik des gerechten Lohnes und des gerechten Warenpreises verbirgt sich hinter dieser Quantifizierungsfrage. Soll etwa der gerechte L o h n 2 4 einfach nach der aufgewendeten Arbeitszeit gemesser werden? Oder auch nach der erforderlichen Anstrengung? U n d welches wäre das

21

Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130 b ff. E. Topitsch, Die Menschenrechte, JZ 1963, S. 3. 2 3 Kelsen (Fn. 9), S. 23. 24 Vgl. hierzu Th. Hechel (Hrsg.), Der gerechte Lohn, 1963; Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 33, 46; J. Herrmann u. a., Der „gerechte Preis", 1982. 22

I. Klassische Lösungsansätze

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Maß, nach dem sich etwa körperliche und geistige Anstrengungen miteinander vergleichen ließen? Oder soll sich der L o h n auch nach den erforderlichen Fähigkeiten und Talenten richten? U n d u m wieviel sollte dann etwa die Arbeit eines Sauerbruch höher bewertet werden als die eines Klempners? Soll man ferner nur auf die geleistete Arbeit oder auch auf die Bedürfnisse des Arbeitnehmers achten, so daß etwa der Vater einer kinderreichen Familie eine höhere Vergütung bekommen sollte als ein Junggeselle? Oder soll der auf freiem Markt erzielte Preis entscheiden, d. h. die subjektive Einschätzung, welche die Tauschpartner ihren Gütern beimessen? Welche Lösung man auch wählt: Stets weist der Gleichheitsgrundsatz über sich hinaus auf Bewertungskriterien, die nicht schon in i h m selbst liegen. Ebenfalls i m Gleichheitsgrundsatz wurzelt die Goldene Regel. I n ihren geläufigsten Fassungen bestimmt sie negativ: „Was du nicht willst, daß man dir t u ' , das füg 4 auch keinem anderen zu", und positiv: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tuet ihnen auch". 2 5 Aber jeder hat andere Wünsche. Der eine hört gern Trompeten, der andere nicht. Soll daher der erste auch selber in einem Wohngebiet Trompete blasen dürfen, der zweite aber nicht? Aus dem, was der Einzelne wünscht, kann offenbar keine für alle richtige Verhaltensrichtlinie gefunden werden. 2 6 5. Versuch: Der ethische

Formalismus

Z u dem Prinzip der Gleichbehandlung steht wiederum der kategorische Imperativ Kants i n Beziehung, wenn nicht i n der Deduktion 2 7 , so doch jedenfalls i m Ergebnis. Denn der kategorische Imperativ erhebt die Verallgemeinerungsfähigkeit der Handlungsmaxime zum Kriterium ihrer Richtigkeit. Die Allgemeinheit der N o r m aber sichert jedem unter gleichen Voraussetzungen auch eine gleiche Behandlung. Damit ist w o h l eine notwendige, aber nicht schon eine zureichende Bedingung der Gerechtigkeit bezeichnet. Das heißt: Eine Direktive, die nicht verallgemeinerungsfähig ist, taugt auch nicht zum rechtlichen Richtmaß 2 8 ; andererseits verbürgt aber die Verallgemeinerungsfähigkeit allein nicht schon diese Eignung. So sind i m Streit u m die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruches verschiedene L ö sungen allgemein formulierbar; welche von ihnen die richtige ist, läßt sich nicht schon aus der Verallgemeinerungsfähigkeit der Lösung entnehmen. Daß es Privateigentum an Produktionsmitteln geben solle, ist in sich widerspruchsfrei als allgemeiner Grundsatz formulierbar; daß es keines geben solle, aber auch. Nur

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Matth. 7, 12. H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 367 f. Vgl. R. Zippelius (Fn. 7), Kap. 16. Dazu auch unten Kap. 5 V 2.

Kap. 2: Im Irrgarten der Gerechtigkeit

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wenn, sagt Hegel mit Recht, schon „vorausgesetzt ist, daß Eigentum und Menschenleben sein und respektiert werden soll, dann ist es ein Widerspruch, einen Diebstahl oder M o r d zu begehen; ein Widerspruch kann sich nur m i t etwas ergeben, das ist mit einem Inhalt, der als festes Prinzip zum voraus zugrunde l i e g t " . 2 9 Gerade i n solchen — nicht formalen, sondern inhaltlichen — Prämissen, wie sie hier bei der Anwendung des formalen Prinzips vorausgesetzt werden und wie sie auch Kant selber bei der Anwendung seines Prinzips stillschweigend voraussetzt, liegen also entscheidende Kriterien der Gerechtigkeit.

I I . Die Suche nach konsensfähigen Einsichten des Rechtsgefühls 1. Das Gewissen als Grundlage

der

Gerechtigkeitseinsicht

Lassen Sie mich den kurzen Streifzug durch einige klassische Gerechtigkeitstheorien hier abbrechen. W o können w i r i n diesem Meer der Ungewißheit einen Halt finden? Wenn die heteronomen Moralen ihre Überzeugungskraft verloren haben, bleibt als letzte Instanz, zu der unser Bemühen um moralische Einsicht noch Zugang hat, das individuelle Gewissen, also eine jener Grundlagen ethischer Einsicht, auf der die Ethik Kants beruht. Verirren w i r uns aber nicht hoffnungslos in einem Feld subjektiver Meinungen: wenn w i r in ethischen Fragen die Legitimationsgrundlage i m Gewissen — und speziell in Gerechtigkeitsfragen i m Rechtsgefühl — der Einzelnen suchen? Ist auf dieser Grundlage überhaupt ein Konsens herstellbar, auf den sich eine Gemeinschaftsordnung gründen ließe, die für viele Menschen gemeinsam gelten soll? 3 0 I n der Tat können w i r uns nicht nur über Sinneserfahrungen, sondern auch über Einsichten des Rechtsgefühls verständigen, und zwar nicht nur über das formale Vernunftprinzip, in dem Kant eine objektive Richtschnur zu finden glaubte: A u c h über inhaltliche Fragen können w i r einig werden. So wird sich ζ. B. unter vielen Menschen w o h l Einigkeit darüber erzielen lassen, daß es recht und b i l l i g sei, für einen vorsätzlich angerichteten Schaden Ersatz zu leisten, oder daß es unbillig wäre, jemanden an einem Vertrag festzuhalten, der m i t vorgehaltener Pistole erzwungen wurde, oder daß es ungerecht wäre, ein hungerndes K i n d wegen Mundraubes mit dem Tode zu bestrafen, und daß es ebenso unbillig wäre, jemanden für die Verursachung eines Schadens zu bestrafen, den er nicht durch eine willentliche Handlung, sondern ζ. B. in einem epileptischen Anfall angerichtet hat. Doch stoßen w i r bald auf Grenzen allgemeiner Einigungsmöglichkeit. Sobald es darum geht, Zwecke und Güter zu gewichten und sie gegeneinander abzuwä29 Hegel (Fn. 11), § 135. 30 Näher zu diesem Lösungsansatz unten Kap. 7.

II. Die Suche nach konsensfähigen Einsichten des Rechtsgefühls

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gen, machen sich unsere unterschiedlichen Präferenzen geltend. Diese verhindern es, daß über die Richtigkeit aller Interessenabwägungen allgemeines Einverständnis erzielt wird. So besteht etwa in der Diskussion u m den Schwangerschaftsabbruch zwar weitgehende Einigkeit über die prinzipielle Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens, wie auch darüber, daß das Selbstbestimmungsrecht der Mutter, für sich allein genommen, achtenswert sei. W i e aber i m Kollisionsfall die Güter gegeneinander abzuwägen seien, darüber gehen die Meinungen auseinander. Die Verschiedenheit unserer Präferenzen ist vermutlich zu einem Teil anlagebedingt, zu einem anderen T e i l durch persönliche Erlebnisse und die gesamte Lebenssituation beeinflußt. Schon diese unterschiedlichen Wertungsdispositionen verhindern es, daß über die Richtigkeit aller Interessenabwägungen allgemeines Einverständnis erzielt werden kann. Gleichwohl bildet sich für typische soziale Situationen ein mehrheitlich konsensfähiger Bestand von Gerechtigkeitsvorstellungen heraus, der zur gemeinschaftlichen Orientierung unentbehrlich ist. Kurz, in der Verständigung mit anderen kann Subjektivität insoweit überwunden werden, wie das zur Herstellung einer funktionsfähigen-Gemeinschaftsordnung erforderlich ist. 3 1 Nach demokratischem Legitimitätsverständnis muß nach solchen mehrheitsfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen i n wechselseitiger Kommunikation gesucht werden, u m die konkreten Gerechtigkeitsprobleme der Gemeinschaft zu lösen. A u f dieser Einstellung beruht das Prinzip der freiheitlich-demokratischen M e i nungs- und Willensbildung, das die Einzelnen in die persönliche Verantwortung und Mitentscheidung i m freien Wettbewerb der Überzeugungen r u f t . 3 2 Es ist müßig, zu fragen, ob man Gerechtigkeitsaussagen, über die ein mehr oder minder breiter, i n manchen Fällen vielleicht sogar ein einstimmiger Konsens erzielt werden kann, als ethische „Wahrheiten" bezeichnen dürfte. Jedenfalls rechtfertigen es Gründe praktischer Legitimität, Gerechtigkeitsentscheidungen auf der genannten Grundlage zu treffen: 3 3 A u f diese Weise w i r d der bürgerlichen Selbstbestimmung die größtmögliche Chance eröffnet, sich auch i n den politischrechtlichen Bereich hinein zur W i r k u n g zu bringen. A u c h finden rechtliche Normen allgemeinen Rechtsgehorsam am ehesten dann, wenn sie für möglichst viele akzeptabel sind. Das wiederum dient der Effizienz des Rechts, der Orientierungsgewißheit und damit der Befriedungs- und Ordnungsfunktion des Rechts. A u c h der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, an gleiche Fälle gleiche Bewertungsmaßstäbe anzulegen, d. h. solche, die mehrheitlich akzeptiert sind und nicht etwa von unterschiedlichen persönlichen Auffassungen der Richter abhängen. Kurz, ungeachtet der „Wahrheitsfrage" liefert mehrheitlicher Konsens i n Gerechtigkeitsfragen jedenfalls eine praktische Legitimation rechtlicher Normen.

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Näher dazu unten Kap. 9. Näher dazu unten Kap. 11 V I 2. Dazu unten Kap. 9 I I 3.

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Kap. 2: Im Irrgarten der Gerechtigkeit 2. Grundgedanken

eines „experimentierenden"

Ansatzes

A u c h unter dieser Voraussetzung bedarf es einer Methode, durch die man zu konsensfähigen Lösungen von Gerechtigkeitsfragen gelangen kann. Es erscheint als ein sinnvoller Weg, solche Lösungen zunächst in Gedanken zu entwerfen, sie dann auf ihre logische Stimmigkeit und ihre Vereinbarkeit mit der Erfahrung und dem Rechtsgefühl zu prüfen und sie, wenn nötig, zu modifizieren oder auch ganz zu verwerfen und eine treffendere Antwort zu suchen. 3 4 W i r sind dieser Methode bereits gefolgt, als w i r die großen Gerechtigkeitstheorien der Philosophiegeschichte als bloße Schritte i n einem historischen Prozeß von „trial and error" behandelt haben. A u c h bei der Suche nach konkreten Problemlösungen läßt sich ein experimentierendes Denken einsetzen: Soweit rechtliche Lösungen nicht schon aus dem Vorrat bereitliegender Antworten zu gewinnen sind, werden w i r sie zunächst versuchsweise entwerfen, dann auf ihre logische Stimmigkeit und ihre Vereinbarkeit mit der Tatsachenerfahrung und dem Rechtsgefühl prüfen und, wenn sie die Probe nicht halten, verbessern oder durch ganz andere Lösungen ersetzen. I m Grunde handelt es sich u m jene Methode, die Karl Popper zunächst für die Naturwissenschaften vorgeschlagen hat, die aber nicht auf diese beschränkt i s t . 3 5 Ihr liegt zwar nicht die Hoffnung zugrunde, „ewige Wahrheiten" zu finden, aber doch die Erwartung, durch verständiges Erwägen vergleichsweise schlechtere Problemlösungen durch vergleichsweise bessere ersetzen zu können. Dabei ist eine Eigenart des Erkenntnisfortganges i m Recht zu beachten: Erweist es sich als ungerecht, einen anderweitig bewährten Rechtsgrundsatz auf spezifische Fälle anzuwenden, so führt das meist nicht dazu, diesen Grundsatz zu verwerfen, sondern nur dazu, ihn differenzierend einzuschränken. Z u m Beispiel wehrt sich das Rechtsempfinden dagegen, den Grundsatz „pacta sunt servanda" auch auf unsittliche oder arglistig erschlichene Verträge oder auf Verträge m i t Minderjährigen anzuwenden; das führt aber nur dazu, die genannten Falltypen aus seinem Geltungsbereich auszunehmen. Ob problematische Fälle einer allgemeinen N o r m zuzuordnen oder von ihr auszunehmen sind, bemißt sich danach, ob sie jenen Falltypen gleichzubeweiten sind, die eindeutig i n den Begriffsumfang der N o r m gehören. 3 6 Solch eines typisierenden Fallvergleichs bedient sich auch das angelsächsische Fallrecht. 3 7 „Reasoning from case to case" werden hier Rechtseinsichten „experimentierend" herausgearbeitet und präzisiert: I m „distinguishing" w i r d erwogen, ob und aus welchen Gründen der vorliegende Fall mit dem vorentschiedenen Fall gleich oder ungleich zu bewerten ist; so w i r d hier das vernunftgeleitete 34 Grundsätzlich hierzu oben Kap. 1. 35 Wie schon J. St. Mill (On Liberty, 1859, Kap. 2) und K. R. Popper (Conjectures and Refutations, 2. Aufl. 1965, S. 312 ff.) gesehen haben. 36 Dazu unten Kap. 37 I I 3. 37 Dazu unten Kap. 9 I I I 2.

II. Die Suche nach konsensfähigen Einsichten des Rechtsgefühls

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Rechtsempfinden zur Quelle fortschreitender Rechtseinsicht. Zugleich w i r d aber i m Fallvergleich konsensualer Rückhalt gesucht, und zwar hier zunächst an der Fachtradition. Als Repräsentanten einer demokratischen Rechtsgemeinschaft haben Gesetzgeber und Rechtsanwender aber stets auch zu prüfen, ob ihre Entscheidungen geeignet sind, mehrheitlichen Konsens zu finden. A u f diese Weise haben sie also die von ihnen gefundene Problemlösung auf die eingangs genannte Legitimationsgrundlage „herabzuloten". 3. Die Abklärung

konsensfähiger

Gerechtigkeitsvorstellungen

Dieser Legitimationsgrundlage soll abschließend noch ein B l i c k gelten: Was die meisten für b i l l i g und gerecht halten, ist nicht ohne weiteres feststellbar. Demokratische Mehrheitsentscheidungen müssen nicht durchwegs v o m Gewissen der Bürger, sondern können ebenso von deren Interessen geleitet sein. A u c h besteht die Gefahr, daß die Mehrheitsmeinung eine vordergründige, von Interessenten manipulierte Mitläuferansicht ist. So stellt sich die Aufgabe, die Konsensfindung i n die Bahnen vernünftiger Gerechtigkeitserwägungen zu lenken. Es bedarf also einer Kultivierung der Konsensfindung. Z u diesem Zweck müssen Institutionen und Verfahren geschaffen werden, m i t deren Hilfe man zu Ergebnissen gelangt, die auch noch nach gründlicher Prüfung vor dem Gewissen und Rechtsgefühl der Mehrheit Bestand haben können: M a n braucht Entscheidungsinstanzen, die den Interessenkonflikten sachkundig und möglichst neutral gegenüberstehen. A u c h müssen die Entscheidungen nach freiem Austausch der Argumente i n begründeter und kontrollierbarer Weise getroffen werden. 3 8 A l l e institutionellen, verfahrensmäßigen und argumentativen Vorkehrungen dienen aber nach demokratischem Legitimitätsverständnis nur der Abklärung, welche Auffassungen geeignet sind, die meisten zu überzeugen. Leitidee ist die Aufgabe, Regeln und Rechtsgrundsätze herauszubilden, die v o m vernunftgeleiteten Gewissen der Mehrheit gebilligt werden können. A u c h die rechtsstaatliche, repräsentative Demokratie bleibt aber hinter dem Ideal zurück, Rechtsfragen ausschließlich auf dieser Grundlage zu entscheiden; j a sie bringt zusätzliche Macht- und Interessenstrukturen hervor. 3 9 Ihnen gegenüber überwiegt aber i n diesem Verfassungssystem die Chance, daß einseitige Interesseneinflüsse verringert und Entscheidungen dem Rechtsgewissen der Mehrheit angenähert werden. Wesentlich ist, daß konkrete Entscheidungsfindung und Rechtsentwicklung offengehalten werden für Auseinandersetzung und K r i t i k . Gerade auch darin 38 Dazu unten Kap. 5 V. 39 Vgl. unten Kap. 19 I I 1. 4 Zippelius

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Kap. 2: Im Irrgarten der Gerechtigkeit

zeigt sich der experimentierende Charakter der Suche nach Gerechtigkeit: Die gefundenen Lösungen von Gerechtigkeitsfragen müssen immer wieder in offenem Meinungsbildungsprozeß auf die Probe gestellt, der K r i t i k ausgesetzt und, wo diese berechtigt erscheint, korrigiert oder auch ganz zurückgenommen werden. So tastet sich in der „offenen Gesellschaft" die juristische Einsicht in einem komplizierten und vielschichtigen Prozeß von „trial and error" voran und bildet, unter Einschaltung mannigfaltiger Absicherungen distanzierten und rationalen Erwägens Regeln und Rechtsgrundsätze, die — langfristig und aufs Ganze gesehen — vom mehrheitlichen Konsens dieser Rechtsgemeinschaft getragen sind. Seit den Tagen, als Sokrates seine athenischen Mitbürger unsicher machte, sollte uns der Gedanke vertraut sein, daß alles grundsätzliche Wissen um die Welt und den Menschen und um die gerechte Ordnung des Zusammenlebens sich immer wieder in Frage stellen lassen muß, daß es in solchen Dingen keine Schande ist, zu irren, wohl aber eine Anmaßung, einen Irrtum für ausgeschlossen zu halten. E w i g auf der Suche nach Gerechtigkeit zu sein, sie nie endgültig und vollkommen fassen zu können und doch jeden Tag Interessenkonflikte zu einem gerechten Ausgleich bringen zu müssen, das ist die Not des Juristen. Diesen Stachel den Juristen ins Fleisch zu pflanzen, ihnen die Naivität des guten Gewissens zu nehmen, damit sie nicht mit erhobenem Zeigefinger Gesetze geben und Recht sprechen, darin liegt die vielleicht wichtigste Aufgabe jeder juristischen Bildung.

Kapitel

3

Die Entstehung des demokratischen Verfassiingsstaates als experimentierender Lernprozeß Seit i m siebzehnten Jahrhundert die Idee erwachte, daß das Wissen über die Natur und die Technik der Naturbeherrschung in einem experimentierenden Lernen fortschreiten, seit Darwin darlegte, daß die Natur selbst gleichsam experimentierend neue Lebensformen hervorbringt und diejenigen auswählt, welche die Probe des Lebens am besten bestehen, hat sich die Vorstellung verbreitet, daß Entwicklungen sich durch ein Experimentieren vollzögen. A u c h i n der Menschheitsgeschichte scheint es — neben irrationalen, uns schicksalhaft und dämonisch anmutenden Kräften — Entwicklungsschritte zu geben, die gleichfalls Züge experimentierender Lernprozesse tragen. Dieser Gedanke klingt insbesondere in der Geschichtstheorie Arnold Toynbees an. Nach seinem Vorschlag könnte Geschichte als ein Prozeß von challenge and response verstanden werden: A u f Herausforderungen, welche die Natur oder die gesellschaftliche Situation an die Menschen stellen, folgten deren mehr oder minder phantasievolle Antworten, die sich besser oder schlechter bewähren. 1 Soweit das der Fall ist, läßt sich auch der reale Fortgang der Geschichte als ein Prozeß von „trial and error" begreifen, der sich in der von Karl Popper beschriebenen Weise vollzieht: Durch Probleme herausgefordert, entwirft das Denken versuchsweise Problemantworten; diese werden auf ihre Konsistenz und empirische Bewährung geprüft und, wenn sie der Prüfung nicht standhalten, verworfen. Folgt man dieser Anregung, so kann man sich auf solche Weise insbesondere die Entstehung wichtiger Institutionen des freiheitlichen Rechtsstaates vergegenwärtigen: als ein „Herausexperimentieren" von Verfassungsstrukturen, als eine Reihe von Antworten auf Herausforderungen, die der Machtwille, die W i l l k ü r und die Dummheiten der Herrschenden immer wieder an die Menschen gestellt haben, Antworten aber auch auf die Erfahrung struktureller Fehlentwicklungen und der daraus hervorgehenden Ungerechtigkeiten und sonstigen Mißstände. Solche Reaktionen auf historische Mißhelligkeiten vollziehen sich in der Geschichte mitunter sprunghaft und explosiv, wie in der Französischen Revolution, mitunter auch als vergebliche, scheiternde Anläufe, wie nicht selten in Deutschland. ι A.Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte, 7. dt. Aufl. 1979, S. 116 ff.; von F. v. Hayek stammt der Gedanke, daß sich die lebenstauglichsten Verhaltensmuster durchsetzen; dazu oben Kap. I I I . 4*

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Kap. 3: Die Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates

Dem M o d e l l eines verfassungsgeschichtlichen Lernprozesses gleicht am ehesten die Entwicklung in England und später in Großbritannien. Hier wurden rechtsstaatliche Verfassungsinstitutionen und Rechtsgewährleistungen in einem langen, trotz aller Rückschläge kontinuierlichen historischen Prozeß herausexperimentiert. Mißstände und schlechte Erfahrungen wurden zu Anstößen, schrittweise Gewaltenbalancen und Rechtsgarantien aufzubauen und schließlich den Prototyp der rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokratie hervorzubringen.

I . Das Modell der englischen Verfassungsentwicklung I n England war die historische Herausbildung eines Rechts- und Verfassungsstaates aufs engste m i t der Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems verbunden. M a n hat behauptet, die Geschichte des englischen Verfassungsstaates sei nur ein Ergebnis vielfältiger Zufälligkeiten. Gleichwohl kann man i n der englischen Verfassungsentwicklung eine innere L o g i k entdecken, als deren Grundgesetz man den britischen Sinn für Maß und Spielregeln und insbesondere die Abneigung gegen Übertreibungen bezeichnen könnte. Diese hat ζ. B. bewirkt, daß der K a m p f gegen die monarchische Gewalt i n England nie dauerhaft darauf ausging, diese Gewalt ganz zu vernichten und sie etwa durch einen Parlamentsabsolutismus zu ersetzen, sondern nur darauf hinauslief, der Regierungsgewalt Grenzen zu setzen, die Übermacht eines Teiles zu verhindern, Konkurrenzen zu erhalten und auf diese Weise Balancen i m Spiel der politischen Kräfte zu schaffen. Aus dieser sehr komplexen Verfassungsentwicklung lassen sich stark vereinfachend folgende Entwicklungsstufen herausheben: Nach der normannischen Eroberung trat als Beratungsorgan des Königs an die Stelle des angelsächsischen witenagemots 2 die curia regis, die sich aus weltlichen Feudalherren und geistlichen Würdenträgern zusammensetzte. 3 Soweit der K ö n i g Zugeständnisse, insbesondere finanzieller Art, wünschte, die nicht schon i n den Lehensverpflichtungen lagen, gingen die Beratungen m i t den Großen des Landes von selbst in Verhandlungen über. Insbesondere festigte sich der Grundsatz, daß Abgaben, die über die bestehenden rechtlichen Verpflichtungen hinausreichten, nur m i t Zustimmung der Betroffenen erhoben werden durften. 4 Hier finden w i r also eine frühe Form des Steuerbewilligungsrechts der Betroffenen und eine Vorstufe des Budgetrechts des Parlaments. Die Magna Carta v o m Jahre 1215 bestätigte das Steuerbewilligungsrecht der Stände; die betroffenen Vasallen sollten i m Gemeinen Rat zusammentreten. 5 Schon in den folgenden Jahrzehnten 2 Dazu J. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, 1913, S. 57 ff.; K. Kluxen, Englische Verfassungsgeschichte, Mittelalter, 1987, S. 7 ff. 3 Hatschek (Fn. 2), S. 65 ff.; Kluxen (Fn. 2), S. 16 ff. 4 K. Kluxen, Geschichte und Problematik des Parlamentarismus, 1983, S. 20. 5 Magna Carta, Art. 12, 14; Text bei C. Stephenson / F. C. Marcham, Sources of English Constitutional History, 1972, Bd. I, S. 115.

I.

as

de d e s c h e n Verfassungsentwicklung

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beanspruchten die Barone jedoch eine weitergehende Kontrolle der Regierung. 6 Etwa u m die Jahrhundertmitte kam dann für die Versammlung der Großen der Name parlamentum auf. 7 E i n wichtiger Schritt i n Richtung auf eine Demokratisierung und zugleich auf die Herausbildung politischer Gegengewichte war sodann die Erweiterung der parlamentarischen Basis. Schon i n früheren Zeiten hatte der K ö n i g bei Bedarf Vertreter bestimmter Bevölkerungsgruppen geladen, die vor dem königlichen Rat Auskunft zu geben hatten. 8 Nach dem Aufstand von 1264 übernahm Simon Montfort, das Haupt der aufständischen Barone, die Regierungsgeschäfte und berief i m Jahre 1265 Vertreter des niederen Landadels (der gentry) und der Städte in das Parlament. 9 Nach der Wiederherstellung des Königtums folgte Edward I. dem Beispiel Montforts und zog schon i n das Parlament von 1268 auch Vertreter der Cities und Boroughs. Diese bildeten ein gewisses Gegengewicht gegen die Lords; zugleich lagen hier Anfänge demokratischer Repräsentanz. Seit dem M o del Parliament von 1295 wurde es üblich, Vertreter der Gentry und der Bürgerschaften m i t in das Parlament zu berufen. 1 0 Seit dem Statut von Y o r k (1322) war die Anwesenheit der Commons erforderlich. 1 1 1327 übernahmen sie eine aktive Rolle i m parlamentarischen Spiel, als sie durch eine kollektive Petition die Gesetzgebungsinitiative ergriffen. I m Zusammenhang damit begann sich die Zweiteilung des Parlaments herauszubilden: i n das House o f Lords und das House of Commons, dem die Gesetzesinitiative zuwuchs. 1 2 Gewiß war der Einfluß der Commons anfangs gering; dennoch war es ein großer Schritt, daß auf diese Weise Repräsentanten breiterer Bevölkerungsschichten, anstatt Zuflucht zu A u f ständen nehmen zu müssen, „ein gesetzliches und reguläres M i t t e l erlangt hatten, den Gang der Regierung zu beeinflussen". Die Schwäche der Rechtsstellung der Commons sollte auch „bald durch das Übergewicht ausgeglichen werden, welches das V o l k notwendig erhält, wenn es in den Stand gesetzt wird, mit Methode und insbesondere i n Übereinstimmung zu handeln". 1 3 Rückgrat des parlamentarischen Einflusses blieb der Grundsatz, daß Steuern nur erhoben werden durften, wenn sie v o m Parlament bewilligt waren. 1 4 I n einigermaßen verwickelter Weise entstand daneben das Gesetzgebungsrecht des Parlaments 1 5 , zunächst als Mitwirkungsrecht an der Königsgesetzgebung, zeit6 Kluxen (Fn. 4), S. 20 f. 7 Hatschek (Fn. 2), S. 208; Kluxen (Fn. 2), S. 65 f. s Kluxen (Fn. 4), S. 32. 9 Zum folgenden Kluxen (Fn. 4), S. 32 f.; K. Loewenstein, Der britische Parlamentarismus, 1964, S. 23 f. 10 Text von Einberufungsschreiben bei Stephenson / Marcham (Fn. 5), Bd. I, S. 159 f. h Hatschek (Fn. 2), S. 222; Kluxen (Fn. 2), S. 96, 106. 12 Loewenstein (Fn. 9), S. 28; Kluxen (Fn. 4), S. 34. 13 L. de Lolme, The Constitution of England, 4. Aufl. 1784, Buch 1, Kap. II. 14 Hatschek (Fn. 2), S. 224 ff., 383, 400 f. 15 Hatschek (Fn. 2), S. 222 f., 381 ff.; Kluxen (Fn. 2), S. 88, 123 ff.

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Kap. 3: Die Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates

weilig noch in Konkurrenz mit einer eigenständigen Verordnungsgewalt des Königs, zuletzt immer noch gehemmt durch das Recht des Königs, den parlamentarischen Gesetzesbeschluß zu Fall zu bringen, indem er — als T e i l des Parlaments — seine Zustimmung verweigerte; dieses Recht wurde letztmals i m Jahre 1707 ausgeübt und ist seither obsolet geworden. 1 6 Entscheidende Prägungen erhielt der englische Parlamentarismus dann i m siebzehnten Jahrhundert. 17 Als die beiden ersten Stuarts, James I. und Charles I., nach kontinentalem V o r b i l d eine absolutistische Regierungsweise durchzusetzen versuchten 1 8 , stießen sie auf den Widerstand des Parlaments. Charles I. hatte in verschiedenen Fällen Verhaftungen von Untertanen vornehmen lassen, weil sie sich der von ihm befohlenen Zwangsanleihe widersetzten, und hatte den Versuch unternommen, Schiffsgeld ohne Bewilligung des Parlaments zu erheben. 1 9 Diese Vorfälle nahm das Parlament zum Anlaß, rechtsstaatliche Positionen zu sichern und auszubauen. A u f Anregung Cokes richtete es eine Petition an den König, dieser möge zusichern, er werde die alten Rechte und Landesfreiheiten beachten. Dieser „Petition of Right' 4 von 1628 2 0 stimmte der K ö n i g w i d e r w i l l i g zu. Formal brachte sie die Zusage des Königs, daß Recht gewährt werden solle gemäß dem älteren Landesrecht und den Gewohnheiten. In der Sache handelte es sich aber um eine Ausweitung älterer Rechtsgewährleistungen; vor allem wurde der Begriff der freien Männer, für welche die Garantie des Art. 39 der Magna Carta (1215) galt, jetzt in einem weiteren Sinn ausgelegt und auf alle Engländer angewandt. 2 1 Die fortdauernden Auseinandersetzungen zwischen K ö n i g und Parlament führten zunächst zur Parlamentsauflösung (1629), anschließend zu einer elfjährigen Regierung ohne Parlament und schließlich — nach dem K o n f l i k t des Königs mit dem 1640 neu einberufenen Langen Parlament — zur puritanischen Revolution und in die englischen Bürgerkriege. I n diesen Jahrzehnten ging der Streit nicht zuletzt um den Grundsatz, daß die Macht des Königs rechtliche Schranken habe. Den von James I. und Charles I. erhobenen Souveränitätsansprüchen hielt Coke die These v o m Supremat des Rechts (die Rule of L a w ) entgegen. 2 2 Daß die Herrschaftsgewalt ihre Grenze an den rechtlich verbürgten Freiheiten des Volkes finde, war auch ein Hauptargument der Anklage, die man zu Beginn der puritanischen Revolution gegen den Earl of Strafford, den Hauptratgeber des 16

Loewenstein (Fn. 9), S. 63. •7 Eine Übersicht bei H. Händel, Großbritannien, Bd. I, 1979, S. 46 ff. 18 Bemerkenswert hierzu die Programmschrift James /. über „Das wahre Gesetz freier Monarchien" von 1598, Textauszug bei K. Kluxen, Die Entstehung des englischen Parlamentarismus, 1972, S. 17 f. 19 Hatschek (Fn. 2), S. 334; Loewenstein (Fn. 9), S. 45 f.; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, 1970, S. 433 ff. 20 Text bei Stephenson / Marcham (Fn. 5), Bd. I, S. 450. 21 W. S. McKechnie, Magna Carta, 2. Aufl. 1914, Neudruck 1958, S. 115, 118, 386. 22 Vgl. Kluxen (Fn. 4), S. 55 ff.

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Königs, erhob. I n einer berühmten Anklagerede 2 3 faßte John Pym dieses Prinzip in die Worte, das Gesetz sei „die Grenzlinie, das Maß zwischen der Prärogative des Königs und der Freiheit des Volkes". Das ist eine frühe Fassung des „Vorranges des Gesetzes" vor den Befugnissen der Exekutive, der heute zu den klassischen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit gehört. In dem K o n f l i k t zwischen K ö n i g und Parlament und als Antwort auf das autoritäre Kirchenregiment Charles' I. und seines Erzbischofs L a u d 2 4 setzte sich zunehmend auch die Vorstellung durch, daß die Einzelnen in ihren religiösen Gewissensentscheidungen keiner staatlichen Bevormundung zu unterstehen haben — nach dem Satze der Apostelgeschichte: „ D u sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen". Der Anspruch der Independenten auf Eigenständigkeit der Einzelnen und der Gemeinden in Religionsangelegenheiten bildete einen frühen Kristallisationspunkt für die Idee allgemeiner Menschenrechte, d. h. für den Gedanken, daß es eine unantastbare Individualsphäre gebe, über welche die Staatsgewalt prinzipiell nicht verfügen dürfe. 2 5 Tatsächlich machten sich i n jener Zeit die Leveller daran, einen Verfassungsvertrag, das sogenannte Agreement of the People, zu entwerfen (1647), in welchem man vorgesehen hatte, daß Religionsangelegenheiten und die A r t und Weise, Gott zu verehren, keiner weltlichen Gewalt anvertraut sein sollten 2 6 — eine frühe Formulierung der Religionsfreiheit. Diese Vorschrift blieb ein bloßer Entwurf, während eine ähnliche Bestimmung i m gleichen Jahr in Rhode Island Gesetz wurde. 2 7 Nach dem republikanischen Zwischenspiel und den nicht sehr ermutigenden Erfahrungen zunächst mit dem Parlamentsabsolutismus des Langen Parlaments und hernach m i t der Diktatur Cromwells wurde der Sohn des enthaupteten Charles I. als Charles II. auf den englischen Thron berufen. Der Machtzuwachs, den das Parlament seit der puritanischen Revolution gewonnen hatte, ging nun aber nicht mehr endgültig verloren. Aus dieser Epoche stammt eine der klassischen Freiheitsgarantien, die Habeas-Corpus-Akte von 1679, die Schutz vor w i l l k ü r l i chen Verhaftungen bot. Sie hatte einen unvollkommenen Vorläufer in Art. 39 der Magna Carta von 1215, deren Rechtsgewährleistung i m Laufe der Jahrhunderte auf alle Engländer ausgedehnt worden w a r . 2 8 Wiederum gaben konkrete M i ß stände den Anlaß, die Rechtsgewährleistung näher auszugestalten: Sheriffs, Kerkermeister und andere Amtsträger hielten — wie es in der Präambel zur HabeasCorpus-Akte hieß — Untertanen des Königs „ z u ihrem großen Schaden und 23 Auszugsweise abgedruckt in: J. Musulin, Proklamationen der Freiheit, 1959, S. 41 f.; dazu auch K. Kluxen, Geschichte Englands, 3. Aufl. 1985, S. 301. 24 Kluxen (Fn. 23), S. 297 f. 25 Dazu unten Kap. 25 I 5. 26 Agreement of the People, 1647, Art. IV 1; Text bei Kluxen (Fn. 18), S. 26 f. 27 J. Hatschek, Allgemeines Staatsrecht, Bd. II, 1909, S. 144 f.; Lilburne war wohl von den Ideen beeinflußt, die in den nordamerikanischen Kolonien lebendig waren, vgl. H. Rehm, Allgemeine Staatslehre, 1899, S. 225, Anm. 8. 28 Dazu oben Fn. 21 und unten Kap. 17 13.

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Verdruß i m Gefängnis fest", statt sie vor den Richter zu bringen. Dies gab nun den Anstoß zu der klassischen Formalisierung der Vorführungspflicht. Weitere rechtsstaatliche Konsequenzen wurden aus den Vorgängen gezogen, die zu der Glorious Revolution des Jahres 1688 geführt hatten. Das Parlament berief W i l h e l m I I I . von Oranien — der mit seinem Heer gerufen worden war, James II. v o m Thron zu vertreiben — und Wilhelms Gattin, die Tochter von James, zu Thronfolgern; dies geschah aber unter den Bedingungen, die man i n der Declaration of Rights formuliert hatte; auf ihr beruhte die B i l l o f Rights, die i m Dezember 1689 zum Gesetz erhoben wurde. 2 9 Diese legte unter anderem als ein wesentliches Prinzip der Gewaltenteilung fest, daß es unzulässig sei, kraft königlicher Autorität Gesetze ohne Zustimmung des Parlaments außer Kraft zu setzen oder ihre Vollziehung auszusetzen; ferner sollte es unstatthaft sein, Abgaben zum Nutzen der Krone ohne Zustimmung des Parlaments zu erheben oder ein stehendes Heer ohne dessen Zustimmung zu halten; auch sollten freie Wahlen zum Parlament und die Redefreiheit i m Parlament nicht beeinträchtigt werden. M i t einer Ausnahme waren diese und andere Gewährleistungen als Antworten auf zuvor aufgezählte Übergriffe der Krone formuliert, aus denen man so die verfassungsrechtliche Nutzanwendung zog. Wichtige staatstheoretische Folgerungen entnahm auch John Locke den politischen Erfahrungen seiner Zeit, vor allem die Forderung nach einer Gewaltenteilung als einem „balancing the power o f government by placing several parts o f it in different hands". 3 0 Nicht nur rechtsstaatliche Prinzipien i m engeren Sinn, sondern auch wesentliche Spielregeln des parlamentarischen Verfahrens wurden aus konkreten historischen Anlässen entwickelt und, wenn sie sich bewährten, beibehalten: Aus der engen Angewiesenheit der Regierung auf das Parlament — die sich aus dessen Gesetzgebungskompetenz und Budgetrecht ergab — entwickelte sich die Gepflogenheit, daß der K ö n i g bei der Bildung des Kabinetts auf den W i l l e n der Parlamentsmehrheit Rücksicht nahm und nach dem Entstehen politischer Parteiungen das Kabinett aus den Führern der Mehrheitspartei bildete. So führten die Wahlen von 1708 und 1710 zu einem Ministerwechsel, der durch Parteigruppierungen i m Parlament bedingt war. I n der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstand die Zweiteilung des Unterhauses in Anhänger der Regierung und Opposition. Dies war nicht zuletzt eine Reaktion darauf, daß Walpole als kabinettsleitender Minister den Zugang zu Ämtern und den Einfluß bei Hofe seinen Parteigängern vorbehielt. Durch diese Gliederung des Unterhauses wurde der parlamentarische Disput zu einer Pro- und Contra-Argumentation vorstrukturiert, die einem Plädieren i m Rechtsstreit nicht unähnlich war und es den Wählern erleichterte, sich mit der einen oder anderen Auffassung zu identifizieren. 3 1

29 Loewenstein (Fn. 9), S. 60 f. 30 Locke, Two Treatises of Government, I I § 107, vgl. auch I I § 143. 31 Kluxen (Fn. 4), S. 93 ff., 101.

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Der wachsende Einfluß des Parlaments auf den Fortbestand und die Bildung der Regierung zeigte sich bei der Ablösung Walpoles i m Jahre 1742. 3 2 Als Großbritannien die nordamerikanischen Kolonien verlor, wuchs i m Unterhaus die Gegnerschaft gegen den Prime Minister L o r d North; dies führte i m Jahre 1782 zu dessen Rücktritt. 3 3 Seither festigte sich das Bewußtsein, daß der Prime Minister und sein Kabinett dem Unterhaus verantwortlich seien. 3 4 Hieraus entwikkelte sich die Praxis des Mißtrauensvotums, das seit dem Sturz des Kabinetts Melbourne i m Jahre 1841 fest i n das Instrumentarium des parlamentarischen Verfahrens aufgenommen wurde. 3 5 Die politische Erfindungsgabe der Engländer fand allerdings einen Weg, auch hier verschiedene Kräfte gegeneinander ins Spiel zu bringen und die Regierung nicht ganz i n die Hand des Parlaments zu geben: Hatte doch das Unterhaus seine Gewalt nicht aus eigenem Recht, sondern v o m V o l k . Daher konnte eine Regierung, der das Parlament keinen Rückhalt mehr bot, gegen das Parlament an das V o l k appellieren. Das M i t t e l dazu boten die Auflösung des Parlaments und die Ausschreibung von Neuwahlen; das Recht hierzu ergab sich aus der Prärogative des Königs, an den sich die Regierung zu diesem Zweck wandte. Einen Präzedenzfall für dieses Verfahren hat i m Jahre 1784 der Prime Minister W i l l i a m Pitt der Jüngere geschaffen. 36 Ging es bis dahin vor allem um die Herausbildung des verfassungsmäßigen Rollenspiels und rechtsstaatlicher Institutionen — insbesondere der Rule o f L a w , der Freiheitsgarantien und der Gewaltenbalancen — so vollendete sich i m neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert die Demokratisierung des Verfassungssystems. Die Wahlen zum Unterhaus vollzogen sich anfangs auf breiterer Basis, die auch die kleineren freien Grundbesitzer einschloß. Diese Basis verengte sich später. Seit 1429 hatte i n den Grafschaften das Wahlrecht nur, wer aus freiem Grundbesitz nach Abzug aller Abgaben eine Jahresrente von mindestens 40 Schilling bezog. 3 7 Z u Beginn der Wahlrechtsreformen, die mit dem ersten Reformgesetz von 1832 einsetzten, waren nur etwa 5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung wahlberechtigt. Durch eine Reihe von Reformgesetzen wurde nach 1832 der Grundsatz der allgemeinen W a h l schrittweise verwirklicht, das uneingeschränkte Frauen Wahlrecht 1928 eingeführt, die letzte Besitzqualifikation 1948 abgeschafft. 38 Eine Demokratisierung des parlamentarischen Systems vollzog 32 Loewenstein (Fn. 9), S. 65, 73. 33 S. dazu die Aktenstücke bei Kluxen (Fn. 18), S. 52 f. 34 G. Macaulay Trevelyan, Geschichte Englands, 4. dt. Aufl. 1949, Bd. II, S. 630; Kluxen (Fn. 23), S. 474 f., 562. 35 Loewenstein (Fn. 9), S. 85 f. 36 Kluxen (Fn. 23), S. 483 f. 37 Hatschek (Fn. 2), S. 217 f. 38 Stephenson / Marcham (Fn. 5), Bd. II, S. 723,744, 805, 827, 837,921; D. Sternberger / B. Vogel (Hrsg.), Die Wahl der Parlamente, Bd. I, 1969, S. 605 ff.; Händel (Fn. 17), S. 168 f.

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sich auch durch eine Gewichtsverlagerung i m Verhältnis zwischen den beiden Kammern. Bis zum Jahre 1911 fungierte das Oberhaus als echte Zweite Kammer, konnte also ein v o m Unterhaus beschlossenes Gesetz dadurch verhindern, daß es i h m die Zustimmung versagte. Da es sich aber der progressiven Besteuerung des Besitzes und damit der historischen Entwicklung Großbritanniens zum Sozialstaat widersetzte, wurden durch die Parliament A c t von 1911 3 9 seine Kompetenzen beschränkt. Seither kann es gegen Finanzgesetze kein Vetorecht mehr ausüben und gegen sonstige Gesetze nur noch ein aufschiebendes Veto einlegen.

I I . Beispiele aus der deutschen Verfassungsentwicklung Kann sich ein rückschauender Betrachter die englische Verfassungsentwicklung i m großen und ganzen als einen erfahrungsgeleiteten Lernprozeß vorstellen, der sich in einem kontinuierlichen Wechselspiel von challenge and response vollzog, so ist demgegenüber die deutsche Verfassungsentwicklung von tiefen Brüchen durchzogen, erscheint i n vielen Schritten auch sehr viel mehr als Ergebnis gedanklicher Konstruktion und weniger als Auswertung konkreter historischer Erfahrungen. Dennoch finden sich auch hier Stufen der Verfassungsentwicklung, die sich deutlich als Antworten auf konkrete historische Herausforderungen darstellen. A l s Beispiel seien die Stein-Hardenbergschen Reformen genannt, die in anderen deutschen Ländern Vorbilder und Nachfolger fanden. 4 0 Durch diese Reformen wurden auf stille Weise wichtige Ergebnisse der Französischen Revolution übernommen. 4 1 Die sich zu Bildung und Besitz erhebende bürgerliche Gesellschaft und das autoritäre Regime des aufgeklärten Absolutismus standen in einem Gegensatz zueinander. 4 2 Aufgerüttelt durch die Niederlage bei Jena und Auerstedt, traten die Mißstände des Staatswesens dann in das helle Bewußtsein: ein unzweckmäßig gewordener Verwaltungsorganismus, eine überlebte ständische Gliederung, Zunftzwang i n den Städten und die drückende Lage der unfreien Bauern und des gutsherrlichen Gesindes auf dem Lande. Dies alles führte nicht zuletzt auch zu Gleichgültigkeit in den öffentlichen Angelegenheiten. Insbesondere wurde der Heeresdienst von den ausgehobenen Kantonisten nur als drückende Last empfunden. A u f all das sollten die Reformen eine Antwort geben. Ihre Ziele waren eine Umgestaltung des Verwaltungsorganismus und die Entfaltung der wirtschaftli39 40 Kap. 41

Text bei Stephenson / Marcham (Fn. 5), Bd. II, S. 822. Vgl. H. Mitteis/H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 17. Aufl. 1985, 39 I I 3, 45 I I I 2. Vgl. F. Härtung, Deutsche Verfassungsgeschichte, 9. Aufl. 1969, S. 239 f. 42 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. I, Nachdr. der 2. Aufl. 1975, S. 96 ff.; zum folgenden auch O. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1970, S. 298 ff.

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chen Kräfte und des Selbstbewußtseins der Nation. M i t t e l zur Erreichung dieser Ziele waren die Befreiung der Einzelnen aus Bindungen, die auf der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung lasteten und den Aufstieg hinderten; ferner sollten durch eine Selbstverwaltung in Städten und Gemeinden der Gemeinsinn für Staat und Gemeinden geweckt und die Einzelnen zu verantwortlicher Mitarbeit gewonnen werden 4 3 . I n dieser Absicht wurden die Freiheit des Grundstücks Verkehrs und die Gewerbefreiheit eingeführt. 4 4 Der Einrichtung einer begrenzten Selbstverwaltung auf unterer Ebene dienten die Städteordnung von 1808, die Kreisordnungen von 1825 -1828 und die Gemeindeordnungen, die aber erst u m die Jahrhundertmitte erlassen wurden 4 5 . A u c h unternahm man es, den Bauern zu Eigenständigkeit zu verhelfen 4 6 , was faktisch aber weitgehend mißlang 4 7 . Selbst für den Heeresdienst sollten die Bürger innerlich engagiert werden. 4 8 A u f Verfassungsebene erschien nach dem Zeitalter der Französischen Revolution eine Rückkehr zum Absolutismus alter Form nicht mehr möglich. Die Lebensluft der Aufklärung, die Leitideen der Französischen Revolution, die sozialen Reformen und nicht zuletzt die Einbeziehung der Bevölkerung i n die Befreiungskriege hatten die politische Landschaft verändert. Andererseits war aber nach den bestehenden Kräfteverhältnissen das monarchische Prinzip nicht überwunden. Den Kompromiß zwischen diesem Prinzip und den nicht mehr rückgängig zu machenden Ansprüchen auf Bürgerfreiheit suchte man i m Verfassungsmodell der konstitutionellen Monarchie; in ihr wurde die rechtliche Selbstbindung des Monarchen durch eine Verfassungsurkunde verbrieft. Einige solcher Verfassungen wurden als „oktroyierte Verfassungen" aus der Machtvollkommenheit des Monarchen erlassen, so schon die als V o r b i l d dienende französische Verfassung vom 4. 6. 1814. Andere kamen — in Annäherung an das naturrechtliche M o d e l l des Herrschaftsvertrages — als „paktierte Verfassungen" zustande: durch einen Vertrag zwischen dem Fürsten und den Repräsentanten der Stände. I n Deutschland fand das Programm des Konstitutionalismus 4 9 Ausdruck in Art. 13 der Bundesakte von 1815, in dem es hieß: „ I n allen Bundesstaaten w i r d eine landständische Verfassung stattfinden."

4 3 Bezeichnend für diese Absicht etwa das Schreiben der Minister Frhr. von Schrötter und Frhr. vom Stein vom 9. 11. 1808. 44 Edikte vom 9. 10. 1807 und vom 28. 10. 1810; dazu Huber (Fn. 42), S. 200 ff. 45 Dazu Huber (Fn. 42), S. 172 ff. 46 Edikte vom 9.10.1807, 28.10.1807 und 14.9.1811; dazu Huber (Fn. 42), S. 184 ff. 47 Huber (Fn. 42), S. 195 ff. 48 Programmatisch in diesem Sinne insbesondere die Verordnung über die Organisation der Landwehr vom 17. 3. 1813; weitergreifend Huber (Fn. 42), S. 219 f., 239 ff. 49 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, Nachdr. der 2. Aufl. 1978, S. 3 ff.; C. F. Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 5. Aufl. 1985, S. 117 ff.; Kimminich (Fn. 42), S. 327 ff.

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Die einen lernten es leichter, die anderen schwerer, auch die Staatsverfassungen auf den Wandel des Zeitgeistes und insgesamt der historischen Situation einzustellen. So finden w i r schon i m unmittelbaren Anschluß an die Napoleonische Zeit eine Verfassungsbewegung, die sich vorwiegend auf Süddeutschland erstreckte. 50 Anlaß zum Zustandekommen weiterer Verfassungen gab die Juli-Revolution von 1830. 5 1 Eines erneuten Anstoßes — durch die Februar-Revolution von 1848 — bedurften Österreich 5 2 und Preußen 53 zum Erlaß ihrer Verfassungen. Die wichtigsten verfassungsmäßigen Schranken der monarchischen G e w a l t 5 4 waren: die M i t w i r k u n g der Ständeversammlungen oder Landtage an solchen Gesetzen, welche die Freiheit der Person oder das Privateigentum betrafen, und an der Auferlegung von Steuern, ferner die Gewährleistung einer unabhängigen Rechtspflege. Vorzeichen eines Parlamentarismus lagen auch darin, daß in den konstitutionellen Monarchien für die Regierungsmaßnahmen des Monarchen eine Gegenzeichnung des Ministers vorgesehen war, der durch diese Gegenzeichnung dem Landtag i n gewissem Umfang verantwortlich wurde. In einem Jahrhundert, i n dem ein aufgeklärtes Bürgertum zunehmend Einfluß gewann, setzte sich auch jenseits verfassungsrechtlicher Verbürgungen der Gedanke einer rechtsstaatlichen Verwaltung durch, insbesondere der Gedanke, diese unter Gesetze zu stellen. Der Leitgedanke der konstitutionellen Bewegung, daß die Staatsgewalt rechtliche Grenzen haben müsse, verlangte Geltung als allgemeiner, die gesamte Staatstätigkeit bindender Grundsatz. 5 5 Das bedeutete zum einen, daß kein Verwaltungshandeln gegen Gesetze verstoßen durfte. 5 6 Z u m anderen galt i n den konstitutionellen Monarchien der genannte Verfassungsgrundsatz, daß Eingriffe in die „Freiheit der Person" und in privates „Eigentum" nur auf Grund förmlicher Gesetze zulässig seien. Zunehmend setzte sich die weite Auslegung durch, daß die „Freiheit der Person" das Recht umfasse, „ z u thun, was nicht durch Gesetz verboten ist" (v. A r e t i n ) , 5 7 so daß jeder Verwaltungseingriff, der die Bürger belastete, einer gesetzlichen Ermächtigung bedürfe. Insgesamt entstand der Begriff und das Programm eines Rechtsstaates, m i t dem Ziel, „daß mehr und mehr auch auf dem Gebiete der Verwaltung feste rechtliche Bestimmungen gegeben werden, welche der W i l l k ü r den Boden entziehen" (Gerber). 5 8 Der 50 Übersicht bei Huber (Fn. 42), S. 317 f. 51 So insbesondere für die Verfassungen Kurhessens (v. 5. 1. 1831), Sachsens (v. 4. 9. 1831), Braunschweigs (v. 12. 10. 1832) und Hannovers (v. 26. 9. 1833). 52 Verfassung vom 4. 3. 1849, aufgehoben am 31. 12. 1851; Staatsgrundgesetz vom 21. 12. 1867. 53 Verfassung vom 5. 12. 1848; revidierte Verfassung vom 31. 1. 1850. 54 Hierzu Huber (Fn. 42), S. 346 ff., 350 ff. 55 Vgl. U. Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 194 ff. 56 Vgl. etwa Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1895, Bd. I, S. 72. 57 D. Je sc h, Gesetz und Verwaltung, 1961, S. 123 ff., 131 f.; vgl. auch Scheuner (Fn. 55), S. 200 f. 58 M. Stolleis, in: K. G. A. Jeserich / H. Pohl / G. Chr. von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. II, 1983, S. 88.

II. Beispiele aus der deutschen Verfassungsentwicklung

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Verwirklichung dieses Programms diente zum einen die fortschreitende Verwissenschaftlichung des Verwaltungsrechts 5 9 , zum anderen die Einführung einer gerichtsförmigen Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns 6 0 . Der Zusammenbruch des Kaiserreichs am Ende des Ersten Weltkriegs machte eine staatliche Neuordnung notwendig. Es war der W e g frei, die Verfassungsideale von 1848 zu verwirklichen und eine freiheitliche Demokratie einzurichten. Zugleich waren aber die Lehren zu ziehen aus den Erfahrungen m i t einer zu weit getriebenen Liberalisierung des Wirtschaftslebens. Das Elend des frühindustriellen Kapitalismus hatte die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit geweckt. So verlangten die Sozialisten in den Weimarer Verfassungsberatungen eine gründliche Umgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse, stießen dabei aber auf den Widerstand der bürgerlichen Parteien; diese forderten nun — über die alten Grundrechte der Einzelpersonen hinaus — auch eine grundrechtliche Sicherung zahlreicher Institutionen wie des Erbrechts, der Familie, der Stellung der Kirchen und des Berufsbeamtentums. 61 Die Gegensätze wurden in Weimar nicht restlos ausgetragen; so blieb die Verfassung in vielem ein Kompromiß. Immerhin wurde in mehreren Vorschriften jetzt ein neuer Gegenspieler des liberalistisch verstandenen Grundrechtsgedankens sichtbar: die immer mächtiger werdende Idee einer sozialen Bindung des Einzelnen. Das Eigentum, das am ehesten als Instrument des privaten Egoismus erscheint, wurde zwar gewährleistet, jetzt aber mit dem Zusatz: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste" (Art. 153 Abs. 3 W e i m R V ) . A u c h erhielt das Reich die Ermächtigung, private und wirtschaftliche Unternehmungen, die sich für eine Vergesellschaftung eigneten, in Gemeineigentum zu überführen (Art. 156 Abs. 1 Satz 1 W e i m R V ) . Hier und in zahlreichen anderen, weniger spektakulären Bestimmungen kündigte sich gegenüber der Paulskirchenverfassung die Hinwendung zum Sozialstaat an. B e i m Neuaufbau des Staates nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte sich sehr ausgeprägt das Bestreben, die Lektion aus der Geschichte und insbesondere aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu lernen. Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft hat das Bonner Grundgesetz die Grundrechtsbestimmungen an den Anfang gestellt, u m schon damit das besondere Gewicht dieser Vorschriften zu betonen. Eine Aufwertung haben die Grundrechte aber nicht nur nach ihrer systematischen Stellung i m Grundgesetz erfahren, sondern mehr noch durch ihre wachsende Bedeutung i n der Verfassungswirklichkeit, vor allem in der verfassungsgerichtlichen, aber auch der sonstigen Rechtsprechung. Zugleich trat immer deutlicher auch i m Verständnis der Grundrechte die Wandlung des liberalistischen Staates zu einem Sozial59 Hierzu Stolleis, in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Fn. 58), Bd. III, 1984, S. 90 ff. 60 Hierzu W. Rüfner, in: Jeserich / Pohl / von Unruh (Fn. 58), Bd. III, 1984, S. 909 ff. 61 Vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. V, 1978, S. 1185 ff., 1197 ff.; Kimminich (Fn. 42), S. 491 ff.

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Staat zutage; aus den liberalistisch verstandenen Freiheiten wurden — i n Fortführung einer Entwicklung, die schon i m ersten Weltkrieg und i n der Weimarer Republik begonnenen hatte — sozial gebundene Freiheiten. A u c h in prozessualer Hinsicht wurde der Rechtsstaat weiter ausgestaltet: Dem Grundrechtsteil wurde eine Rechtsweggarantie eingefügt (Art. 19 Abs. 4 GG). Das Bundesverfassungsgericht wurde mit weitreichenden Kontrollkompetenzen zum Hüter der Verfassung bestellt (vgl. § 13 BVerfGG). A u f diese Weise verlagerte sich ein beträchtlicher T e i l der Rechts- und Verfassungsentwicklung auf die Gerichte. I m Balancesystem der Gewalten wurden Korrekturen vorgenommen. Insbesondere wurde der Staatspräsident, der am Ende der Weimarer Republik eine so unglückliche Rolle gespielt hatte, in der neuen Verfassung entmachtet, 6 2 vielleicht über das vernünftige Maß hinaus. V o n Notstandsrechten war in der Weimarer Republik ausgiebig Gebrauch gemacht worden. 6 3 Dies gab nun Anlaß, das Problem des Staatsnotstandes und damit die Grenzen möglicher und vernünftiger Verrechtlichung staatlichen Handelns neu zu durchdenken. Zunächst wurde in das Grundgesetz keine Notstandsregelung aufgenommen; eine anfangs vielumstrittene Verfassungsänderung 64 führte dann aber doch i m Jahre 1968 ein Notstandsrecht ein. Zugrunde lag die Erwägung, daß es i n jedem Staat zu Ausnahmesituationen kommen kann, die mit den traditionellen rechtsstaatlichen M i t t e l n nicht angemessen zu bewältigen sind, so daß nur die Alternative bleibt, für solche Lagen ein rechtlich wenigstens in den Grundzügen geordnetes Notrecht vorzusehen oder das Risiko einzugehen, daß die politischen Gewalten i m äußersten Notfall auf ungeschriebene Ausnahmerechte zurückgreifen. Heraus kam freilich ein verklausuliertes und dadurch nicht recht praktikables Instrument. 6 5 Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik wollte man auch ziehen durch Vorsorgen für eine Stabilisierung des parlamentarischen Systems. Dem diente die Ersetzung des rein negativen durch ein konstruktives Mißtrauensvotum (Art. 67 Abs. 1 GG). Dem diente es auch, wenn i m Wahlrecht, insbesondere durch die Einführung von Sperrklauseln 6 6 , einer übermäßigen Parteienzersplitterung vorgebeugt wurde, damit nicht wieder das Staatswesen an der Unfähigkeit des Parlaments zugrunde gehe, regierungsfähige Mehrheiten zu bilden.

62 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 30 14. 63 Stern (Fn. 62), § 52 I I I 3. 64 Stern (Fn. 62), § 52 IV. 65 Vgl. etwa Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 44 III. 66 § 6 Abs. 6 des Bundeswahlgesetzes, Sartorius Nr. 30; vgl. BVerfGE 6, 92 ff.; 51, 236 f.

II. Beispiele aus der deutschen Verfassungsentwicklung

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Erfahrungen m i t dem Niedergang der Weimarer Republik haben ferner dazu geführt, die Toleranzgrenzen der freiheitlichen Demokratie einzuengen: M a n wollte dem Mißbrauch demokratischer Rechte dort entgegentreten, w o diese zum K a m p f gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht werden. 6 7 Hier setzte sich die Einsicht durch, daß Freiheit i m Staat immer nur optimiert, aber nicht radikalisiert werden kann, daß sie also Grenzen haben muß, wenn auf Dauer möglichst viel Freiheit für möglichst viele erhalten bleiben soll, kurz, daß eine Verfassungsordnung, die sich als freiheitliche Ordnung behaupten w i l l , nur einen Spielraum der Freiheit, aber keine grenzenlose Freiheit geben kann. Der Lernprozeß der freiheitlichen Demokratie ist mit der Verfassunggebung nicht abgeschlossen. Die Demokratiekritik 6 8 artikuliert mit Recht immer von neuem Fehler und Mißstände, die i m System verblieben sind oder sich neu entwickeln, und fordert auf diese Weise fortwährend zu Korrekturen heraus. Heute richtet sich ein berechtigter und noch nicht bewältigter V o r w u r f gegen die Überrepräsentation der einflußreichen und der lautstarken Gruppen, die den demokratischen Prozeß verfälscht und partikulären Gruppen einen überproportionalen Einfluß auf staatliches Handeln g i b t . 6 9 Andere Einwände entzünden sich an der konkreten Ausgestaltung des Parteienwesens, so etwa an den Praktiken der Parteienfinanzierung 70 , sie richten sich auch gegen die zunehmende Durchdringung der Staatsverwaltung, der Gerichte und der öffentlich-rechtlichen Medien mit Funktionären und Anhängern der Parteien, die dazu führt, daß die wichtige Rollendifferenzierung zwischen unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Funktionsbereichen gestört w i r d . 7 1 A u c h durch die Ausweitung des sozialstaatlichen Engagements ergaben sich neue, bisher nicht gelöste Probleme. Die ausgedehnten Bestrebungen, soziale Gerechtigkeit und öffentliche Wohlfahrt zu verwalten, haben die Einzelnen in ein Netz staatlicher Reglementierungen verstrickt, das sie zunehmend beengt. So stellt sich auf neue Weise die Aufgabe, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen 7 2 und Modus und Maß für die Verwirklichung der égalité de f a i t 7 3 neu zu durchdenken. 7 4

67 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 6 III. 68 Vgl. etwa M. Kloepfer u. a., Das parlamentarische Regierungssystem der BRD auf dem Prüfstand, 1984. 69 Dazu unten Kap. 19 I I 2. 70 K. H. Friauf/H. H. v. Arnim/ Κ. H. Naßmacher, Parteienfinanzierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 8, 1984. 71 Dazu unten Kap. 19 I I 1. 72 Dazu unten Kap. 19 I I 3. 73 Dazu unten Kap. 26 I 5. 74 Nachträgliche Einfügung.

64

Kap. 3: Die Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates

Nicht zuletzt vollzieht sich i m Bereich der Grundrechte fortwährend ein rationaler Lernprozeß. Die weite Auslegung der Grundrechtsgarantien hat auch die Kollisionen zwischen den Freiheitsgewährleistungen vermehrt. Gerade auch dieser Umstand führt dazu, daß i n weitem Ausmaß immer von neuem — i m Wege systematischer Auslegung oder durch Vermittlung und Inanspruchnahme von Gesetzesvorbehalten — situationsgerechte Abgrenzungen der Grundrechte zu finden sind. 7 5 I n diesen und anderen Fragen muß eine fortwährende Ausgestaltung und Selbstkorrektur des politischen Systems in Gang gehalten werden. Das geschieht zum T e i l und oft unzulänglich über die öffentliche Meinung und die Rückkoppelung des Parlaments an sie. A l s der wirksamere Weg erweist sich oft der über das Bundesverfassungsgericht, das in einem an den konkreten Fragen ausgerichteten Prozeß von „trial and error" wesentlich dazu beigetragen hat und weiterhin beiträgt, das politische System zu kultivieren und Mißständen zu begegnen.

75 Dazu unten Kap. 23 II.

Kapitel

4

Auf der Suche nach dem legitimen Staat Noch immer mühen w i r uns mit der alten Frage, wie das Zusammenleben i n einer politischen Gemeinschaft gerecht zu ordnen sei. Die westeuropäische Verfassungskultur ist das Ergebnis eines langen und mitunter schmerzlichen historischen Lernprozesses, i n welchem man nach praktikablen Antworten auf diese Frage gesucht hat. 1 Es ist die Verfassungskultur einer offenen Gesellschaft, die jedem Staatsbürger ein grundsätzlich gleichberechtigtes Mitspracherecht 2 einräumt und unter dieser Bedingung auch bereit ist, sich vernünftiger K r i t i k auszusetzen und greifbare Mängel zu beheben 3 . Einige Schritte dieses Lernprozesses sollen hier dargestellt werden.

I . Demokratische Legitimität 1. Bürgerliche

Selbstbestimmung

Nach demokratischem Verständnis soll über die Legitimität der politischen Ordnung und des staatlichen Handelns der Konsens der Bürger entscheiden. Dieser soll von vernünftigen Erwägungen geleitet sein und sein letztzugängliches Kriterium i m Gewissen der Bürger haben. Schon dieses Legitimitätsverständnis zog eine Lehre aus historischen Erfahrungen: Es waren die konfessionellen Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die unsäglichen Streitigkeiten u m theologisch-weltanschauliche „Gewißheiten", die am Ende i n eine tiefe Skepsis gegen solche durch Tradition vorgegebenen autoritativen Gewißheiten 4 führten. Hinzu kam, daß zur gleichen Zeit — dem Zeitalter der Entdeckungen — die Vielfalt möglicher Weltanschauungen zunehmend i n das öffentliche Bewußtsein trat und einen Kulturvergleich aufdrängte. So fand sich der Einzelne auf sein eigenes Urteil und Gewissen zurückgeworfen.

1

Dazu oben Kap. 3. 2 Dazu unten Kap. 11 V 2. 3 Dazu oben Kap. 1. 4 Zu ihnen: H. Mitteis, H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992, Kap. 25 I I 2 (Lit.); Th. Würtenberger, Art. Legitimität, Legalität, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3 1982, S. 682 f., 686, 690, 701 ff.; R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 9. Aufl. 1994, Kap. 6 a, 7 c, 9. 5 Zippelius

66

Kap. 4: Auf der Suche nach dem legitimen Staat

Diese Erfahrungen der Epoche hat Kant für die Ethik zu Ende gedacht. Aus dem Wegfall allgemein akzeptierter, heteronomer moralischer Autoritäten folgte, daß das Gewissen eines jeden die letztzugängliche moralische Instanz ist. Der Vorstellung von der gleichberechtigten moralischen Kompetenz und Selbstbestimmung aller entsprach für den politischen Bereich die Idee der Demokratie, also der Gedanke Rousseaus, daß auch i n der politischen Gemeinschaft jeder „nur sich selbst gehorcht" und daß „das V o l k , das den Gesetzen gehorcht, auch ihr Urheber" sein m u ß 5 — ein Gedanke, der schon i n den vorangegangenen Lehren v o m Herrschafts vertrag angebahnt war, aber erst jetzt seine politische Brisanz erhielt. U m die Verbindung beider Gedanken nocheinmal deutlich zu machen: Kann niemand den begründeten Anspruch erheben, er sei i m Besitz der Wahrheit darüber, was getan werden soll, dann muß die gewissenhafte Überzeugung eines jeden gleich viel gelten. Also kann über die Legitimität staatlichen Handelns nur der Konsens der Bürger — faute de mieux ihr mehrheitlicher Konsens — entscheiden. Dieser soll von vernünftigen Erwägungen geleitet sein. Nach diesem Legitimationsverständnis sollen auch i n Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit solche Vorstellungen zur Geltung kommen, die ihre Grundlage i m Gewissen, d. h. — a u f s Recht bezogen — i m Rechtsgefühl möglichst vieler Bürger haben. Die moralische Letztentscheidungskompetenz des Einzelnen muß also nicht mit einem ethischen Formalismus verbunden sein: M i t ihr ist es sehr w o h l verträglich, daß ein Konsens über inhaltliche Gerechtigkeitsvorstellungen und rechtspolitische Ziele die Legitimationsgrundlage rechtlicher Entscheidungen bildet. 6 Hinter dieses Legitimationsverständnis w i r d man i m Grundsatz schwerlich zurückgehen können. 7 Z u der Ausformung eines demokratisch legitimierten Staates war und ist aber immer noch vieles hinzuzulernen.

2. Rechtsstaatliche

Komponenten

So hat sich sogleich gezeigt, daß der Autonomiegedanke und insbesondere das Prinzip der politischen Selbstbestimmung nicht rigoros durchführbar sind: Sie würden einstimmige Entscheidungen fordern; auf Einstimmigkeit läßt sich aber eine für viele geltende praktikable Ordnung nicht gründen. Rousseau behalf sich hier mit einer Fiktion: Schon der W i l l e der Mehrheit bringe einen Gemeinwillen zum Ausdruck, der das Gesamtinteresse aller repräsentiere; die Minderheit habe sich über das wahre Gesamtinteresse geirrt und werde durch die Gesamtheit nur dazu gezwungen, ihrem wahren Interesse zu folgen, d. h. „gezwungen, frei 5 6 7 der,

Dazu unten Kap. 5 IV. Dazu unten Kap. 7, 9 II, 10 II. Auch der moderne Kommunitarismus bietet dazu keine Alternative; vgl. H. VorlänDer ambivalente Liberalismus, Zeitschrift für Politik, 1995, S. 250 ff.

II. Strukturierung des demokratischen Prozesses

67

zu sein" 8 . Doch ist nicht einzusehen, daß etwa i n einem konfessionell gemischten Staat die wahren konfessionellen Interessen der Minderheit sich mit denen der Mehrheit decken müßten. A u c h weiß man seit Robespierre, daß sich auf den unklaren Gedanken v o m uneingeschränkten Recht eines völkischen Gemeinwillens menschenverachtende Tyranneien gründen lassen. Inzwischen ist es Gemeingut: Die Mehrheitsentscheidungen haben der Minderheit keine Lektion über das wahre Gesamtinteresse zu erteilen; vielmehr sind die von der Mehrheit Überstimmten vor der Tyrannei der Mehrheit zu schützen; insbesondere haben die Grundrechte auch als „Minderheitenschutz" zu w i r k e n 9 ; auch ist den Minderheiten die Chance offenzuhalten, zur „Mehrheit" zu werden. Es ist eine der nachdrücklichen Lehren der Geschichte, daß nur eine rechtsstaatlich strukturierte Demokratie auch eine freiheitliche Demokratie ist. So stand es schon i n den Federal Papers 1 0 und so hatten es Tocqueville 1 1 und J. St. M i l l 1 2 gelehrt.

I I . Strukturierung des demokratischen Prozesses Eine v o m Konsens ihrer Bürger getragene Rechtfertigung findet eine staatliche Ordnung insbesondere darin, daß durch sie bestimmte, wichtige Zwecke erreicht werden, wie vor allem die Gewährleistung eines befriedeten und geordneten Miteinanderlebens oder auch eines gewissen Maßes an Daseinsvorsorge und sozialer Gerechtigkeit. Insofern kommt i m Gewände der Legitimationsfrage die alte Lehre von den Staatszwecken zum Vorschein. V o n dieser soll i m folgenden aber nicht weiter die Rede sein, vielmehr von der richtigen Strukturierung der Prozesse, in denen die Entscheidungen gefunden werden. 1 3 A u c h von ihr hängt die Legitimität der Konfliktsregelungen i n einer politischen Gemeinschaft ab. V o r allem i n den folgenden Hinsichten ist die demokratische Konsens- und Kompromißsuche zu strukturieren:

1. Kultivierung

durch

Repräsentation

Erstens ist ausgewogen zu regeln, in welcher Weise und i n welchem Maße der staatliche W i l l e unmittelbar v o m V o l k oder durch dessen Repräsentanten gebildet wird. Erst ein Repräsentativsystem ermöglicht ein rechtsstaatliches „Rollenspiel". So ist es die „technische" Bedingung jeder organisierten Gewaltenbalance und Gewaltenkontrolle: Nur organisatorisch unterschiedene politische s Dazu unten Kap. 5 IV. 9 Dazu unten Kap 11 V. 10 Federalist , Nrn. 10 und 51. 11 A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, I 1835, II. Teil, Kap. 7. 12 J. St. Mill, Essay on Liberty, 1859, Kap. 1. ι 3 Was in wegbereitender, freilich auch einseitiger Weise Niklas Luhmann (Legitimation durch Verfahren, 1969) aufgewiesen hat. 5:

68

Kap. 4: Auf der Suche nach dem legitimen Staat

Gewalten kann man gegeneinander ins Spiel bringen. Auch sonst kann ein Repräsentativsystem versachlichend wirken. Insbesondere kann man hier Rollendistanz institutionalisieren, das heißt: M a n kann Entscheidungen Organen übertragen, die i n den Interessenkonflikten, über die sie entscheiden, nicht selbst engagiert sind. Elemente unmittelbarer Demokratie finden sich auch i n diesem System: nicht nur i n den Wahlen, sondern fortwährend i n Gestalt der öffentlichen Meinung: So liegt es i m Eigeninteresse der wahlabhängigen Repräsentanten, mit B l i c k auf künftige Wahlen die erkennbare Mehrheitsmeinung laufend zu beobachten und i n die Erwägungen einzubeziehen. Die Ergebnisse von Meinungsumfragen zu öffentlich diskutierten Fragen binden zwar rechtlich nicht, können i n ihrer faktischen Wirksamkeit aber weitgehend sogar die Funktion eines Volksentscheides erfüllen. Doch anders als beim Volksentscheid schieben sich bei einem durch Repräsentanten gebildeten Staatswillen „Abkühlungs- und Bedenkzeiten" zwischen die Tagesereignisse und die verbindliche Entscheidung des Volkes — hier also den „Abrechnungstag" der Wahl. A u f diese Weise eröffnet sich für die Repräsentanten eine Chance, aus besserer staatsmännischer Einsicht auch einmal entgegen den Tagesstimmungen zu handeln, i n der Hoffnung, bis zur kommenden W a h l das V o l k von der Richtigkeit dieses Handelns noch zu überzeugen. A u c h darin liegt eine der kultivierenden Leistungen des Repräsentativsystems. Bei der Verteilung der Kompetenzen zwischen V o l k und Repräsentativorganen hat das Grundgesetz sich — auf Bundesebene — in hohem Maße für repräsentative Demokratie entschieden. A u c h hier hat man aus Erfahrung gelernt: I n der Weimarer Republik war Volksgesetzgebung zulässig. Sie war aber bis zum Jahre 1932 nur i n sieben Fällen versucht worden, jedesmal ohne praktischen Enderfolg; zwei Verfahren 1 4 wurden zu Spielwiesen politischer Agitation. Zudem wollten die Väter des Grundgesetzes auch den Risiken demagogischer Lenkung des Volkswillens begegnen, die in der nationalsozialistischen Zeit zutage getreten waren. Heute, i m Zeitalter der Massenpresse und des Fernsehens, w i r k t das Repräsentativsystem auch der Gefahr entgegen, daß die „Sinn- und Weltbildproduzenten" einen nur noch durch Volksentscheide vermittelten Einfluß auf die Rechtsgestaltung gewinnen und so aus der Demokratie eine „Telekratie" wird. 2. Der Politik

ein menschliches Maß geben

Ein zweites Strukturprinzip ist eine ausgewogene Gliederung politischer und administrativer Einheiten i n „Teilsysteme". Sie findet ihren Leittypus i n „föderativen" Strukturen, die von den internationalen Zusammenschlüssen der Staaten auf der einen Seite bis zu deren Gliederung i n Länder, Regionen, Landkreise ι 4 Jene Verfahren, die auf die Enteignung der ehemaligen Fürstenhäuser (Volksentscheid vom 20.6.1926) und gegen den Young-Plan (Volksentscheid vom 22.12.1929) gerichtet waren.

II. Strukturierung des demokratischen Prozesses

69

und Gemeinden auf der anderen reichen. Aber auch Bildungseinrichtungen (wie die Universitäten) und Institutionen des Wirtschaftslebens (wie die Industrieund Handelskammern) können m i t Selbstverwaltungsrechten ausgestattet sein. Gerade durch die fortschreitende Vermassung und Bürokratisierung trat das Bedürfnis nach neuer Behausung und Beheimatung zutage, insbesondere nach Gemeinschaften, die den Einzelnen sozial und emotional einbinden, und damit auch nach einer weitestmöglichen Selbstorganisierung überschaubarer Lebensbereiche, über welche die Einzelnen i n wechselseitiger Verantwortung mitbestimmen. 1 5 I n diese Richtung weist auch die Forderung nach demokratischer Dezentralisation. Ihrer bedarf es, w e i l Demokratie ein politisches Prinzip sein soll, das viele Lebensbereiche durchformt. Dabei stellte sich i m nationalen wie i m internationalen Bereich die Aufgabe, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer Selbststeuerung der Teileinheiten und zentralen Steuerungen zu suchen. 1 6 Diese Verteilung der Regelungskompetenzen sollte grundsätzlich nach dem Subsidiaritätsprinzip geschehen: Die höhere organisatorische Einheit sollte also keine Aufgaben an sich ziehen, welche die nachgeordnete Einheit ebenso gut oder besser erledigen kann. 1 7 I m einzelnen müssen die optimale Struktur und der optimale Grad der Dezentralisation wiederu m durch Erfahrung ermittelt werden. 1 8 3. Ausgewogenheit

der sozialen

Gewalten

Z u diesen Strukturierungen der Staatsorganisation muß eine ausgewogene Repräsentation der meinungsbildenden Kräfte und der Interessengruppen hinzukommen, denen die klärende Vorformung der politischen Willensbildung obliegt 1 9 : Sie artikulieren die von ihnen repräsentierten und organisierten Interessen und Meinungen zu greifbaren politischen und insbesondere auch rechtspolitischen Programmen, die dann Gegenstand politischer und rechtlicher Entscheidungen sein können. Gehäuft i n der Gesellschaft vorhandene Interessen und Meinungen werden vor allem durch die politischen Parteien i n den politischen Prozeß hinein vermittelt. Innerhalb der Parteien, zumal der großen Volksparteien, werden auch beträchtliche Anstrengungen darauf verwendet, Konflikte zwischen einflußreichen Interessen und Meinungen abzuarbeiten und annehmbare Kompromisse zu finden, u m die Ergebnisse dann i n die Staatstätigkeit einzubringen. K r i t i k kann sich verständigerweise nicht gegen dieses Grundschema politischer Wirksamkeit, sondern nur gegen die damit verbundenen Fehlentwicklungen wenden: 15 16 17 is 19

Dazu unten Kap. Dazu unten Kap. Dazu unten Kap. Dazu unten Kap. Vgl. W. Leisner,

20. 20 V I 2. 15 I I 1, 19 I 1. 20 V I 2. Der Gleichheitsstaat, 1980, S. 205 f.

70

Kap. 4: Auf der Suche nach dem legitimen Staat Wenn die Parteien Staatsverwaltung und Gerichte mit ihren Vasallen durchset-

zen, stören sie die von der Verfassung gewollte Trennung zwischen politischen Rollen und den Rollen parteipolitisch neutraler Berufsbeamten und Richter (Art. 33 und 97 des Grundgesetzes) 20 — eine Rollentrennung, durch die sich auch ein Teil der von der Verfassung erstrebten Gewaltenbalancen verwirklichen soll. — Ein anderes Beispiel unangemessenen Parteieneinflusses bieten die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten, deren parteipolitische und parteiideologische Voreingenommenheiten und Präferenzen oft i n der Auswahl, Akzentuierung und Kommentierung von Informationen zutage treten, was nicht mit ihrer Aufgabe vereinbar ist, sich sachlich und ausgewogen mit den politischen Kräften auseinanderzusetzen. 21 Unausgewogenheiten i m politischen Kräftespiel finden sich auch außerhalb der Parteien. Massiv und lautstark zur Geltung gebrachte Interessen und Meinungen pflegen stärker berücksichtigt zu werden, als es ihrer Schutzwürdigkeit entspricht: Türen, die knarren, werden geölt. Zumal die Repräsentanten organisierter Interessen und Meinungen bringen sich oft überproportional und zu Lasten nicht organisierter Bevölkerungsteile zur Geltung. 2 2 A u c h in seinen Toleranzen bedarf der Staat fortwährender Lernbereitschaft. Die kontinuierliche Anhebung des Lohn- und Freizeitniveaus, die durch turnusmäßige „Verteilungskämpfe" bewirkt wird, führt zu einem dramatischen Verlust von Arbeitsplätzen und zu einer schleichenden Inflation; diese geht vor allem zu Lasten solcher Bevölkerungsteile, die weder ihr Einkommen selbst gestalten können, noch schlagkräftig repräsentiert werden; denn die von den Tarifgewaltigen ausgehandelten Mehrkosten werden durch Anhebung der Preise und Abgaben auf die Gesamtheit abgewälzt, zumal dann, wenn einer der Tarifpartner die „öffentliche Hand" ist. Da dank der „Verteilungskämpfe" das deutsche Lohnkosten-, Lohnnebenkosten- und Freizeitniveau i m internationalen Vergleich zu hoch ist, führt das nach den unerbittlichen Gesetzen des Marktes ferner dazu, daß Arbeitsplätze abwandern und Arbeitslose zurückbleiben. A u c h tapeziert heute mancher Oberregierungsrat — anders als in vergangener Zeit — sein Zimmer selbst und nimmt damit potentiellen Arbeitnehmern „das Brot". Wenn aber der Gesamtzweck der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) — die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu fördern — gefährdet wird, ist das Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht i n seiner gegenwärtigen Gestalt neu zu überdenken 2 3 : Dieses ist gesetzlich auszugestalten. 24 Hierbei ist nicht zuletzt darauf zu achten, daß jener Gesamtzweck gewahrt bleibt. Die dazu nötigen Korrekturen des Tarifver20 BVerfGE 7, 162; 64, 379. 21 Dazu unten Kap. 19 I I 1. 22 Dazu unten Kap. 19 I I 2. 23 Vgl. G. Kisker, Staatliche Dosierung von Gruppenkampfkraft im Arbeitsrecht, in: Festschr. f. H. Ridder, 1989, S. 227 f. 24 BVerfGE 88, 115 f.

III. Wir lernen nicht aus

71

trags- und Arbeitskampfrechts scheitern also nicht daran, daß sie juristisch nicht denkbar wären 2 5 , eher schon daran, daß sie politisch nicht realisierbar sind. 4. „Entstrüppung

" und Transparenz

Z u den noch unbewältigten Problemen des demokratischen Sozial-, W o h l fahrts- und Umweltschutzstaates gehört auch das nicht mehr durchschaubare, allgegenwärtige Gestrüpp von Normen, Steuern und Staatsleistungen. W i e schon i m alten Polizey- und Wohlfahrtsstaat steckt hinter den Reglementierungen zumeist die Absicht, die Bürger vernünftig zu ihrem Besten zu leiten. Doch wieder stellt sich heraus, daß viele vernünftige Regelungen zusammengenommen nicht selten ein unvernünftiges Ganzes ergeben. 2 6 W o h l kann der Bürger i m demokratischen Rechtsstaat — anders als i m Polizeistaat — i m Detail K r i t i k an einzelnen Normen und Vollzugsakten üben, sich i m einzelnen gegen belastende Akte wehren. I n das Gesamtsystem, das wie ein Spinnennetz die alltäglichsten Lebensäußerungen überzieht, ist er aber wie in ein Schicksal verstrickt. A u c h schon wegen seiner fehlenden Transparenz ist das System i m ganzen einer rationalen Auseinandersetzung weitgehend entzogen. 2 7 Hier zeigt sich ein weiteres Defizit der modernen Demokratie: Bedeutende Machtprozesse sind für die Bürger nicht zu durchschauen. Sie vollziehen sich übrigens weitgehend auch außerhalb des staatsorganschaftlichen Handelns i m strengen Sinn und damit auch nicht i m Lichte des Publizitätsgebotes, dem dieses unterliegt. Das gilt für Machtprozesse, die sich innerhalb der sozialen Gewalten, einschließlich der meinungsbildenden Kräfte, abspielen, mittelbar aber i n staatliches Handeln münden. Es gilt besonders auch für innerparteiliche Abläufe, einschließlich solcher „Koalitionsrunden", in denen Weichen für das Regierungshandeln gestellt werden. 2 8 I I I . W i r lernen nicht aus Kehren w i r zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück: Bei der Suche nach einer legitimen Ausgestaltung des politischen Gemeinwesens muß eine fortwährende Selbstkorrektur des politischen Systems i n Gang gehalten werden. Das geschieht zum T e i l und oft unzulänglich durch die öffentliche Meinung. Wirksamer ist oft der W e g über das Bundesverfassungsgericht, das wesentlich dazu beigetragen hat, Mißständen zu begegnen und das politische System zu kultivieren. Heute sieht sich dieses Gericht herausgefordert, auch die Grenzen 25 Vgl. BVerfGE 50, 371. 26 Dazu unten Kap. 19 I I 3. 27 W. Leisner, Der unsichtbare Staat, 1994. 28 W. Jaeger, Wer regiert die Deutschen?, 1994, S. 40 ff.; W. Schreckenberger, tionsgespräche und Koalitionsrunden, ZParl 1994, S. 329 ff.

Koali-

72

Kap. 4: Auf der Suche nach dem legitimen Staat

seiner eigenen Kompetenzen zu überprüfen, u m seine durch Weisheit errungene Autorität nicht durch fragwürdige Entscheidungen zu gefährden. 29 V o n der Fähigkeit und Bereitschaft, die Fehlentwicklungen zu korrigieren, das heißt von der Lernfähigkeit des Systems, hängt auf Dauer die Akzeptanz und damit die Legitimität und am Ende die Überlebensfähigkeit auch des demokratischen Verfassungsstaates ab.

29 Dazu unten Kap. 38 V.

Β. Legitimation in der offenen Gesellschaft

Kapitel

5

Legitimation im demokratischen Verfassungsstaat I . „Legitimation" im Sprachgebrauch von Normwissenschaft und Soziologie Die Jurisprudenz als Normwissenschaft bezeichnet mit dem Begriff der Legitimation die Frage, worin die staatliche und die rechtliche Ordnung eine zureichende Rechtfertigung finden könne. Legitimationsprobleme dieser A r t stellen sich schon i m alltäglichen Umgang mit dem Recht und dem Staat, insbesondere dort, wo einzelne Rechtsnormen als ungerecht kritisiert werden oder sich die K r i t i k sogar gegen den gesamten Verfassungszustand des Staates richtet. I n diesen Fällen nehmen w i r ausdrücklich oder stillschweigend i n Anspruch, über Kriterien einer richtigen oder wenigstens einer besseren Ordnung zu verfügen, an denen w i r die vorhandenen Ordnungen messen können. Der Begriff der Legitimation findet sich andererseits auch i n der Soziologie. Soweit diese sich als Wissenschaft versteht, welche die Wirklichkeit des sozialen Geschehens beschreibt, muß der soziologische Begriff der Legitimation einen Aspekt des tatsächlichen Funktionierens des sozialen Geschehens erfassen. Hier erhält die Frage nach der Legitimation dann den Sinn, ob und aus welchen M o t i v e n eine staatliche Ordnung von der Rechtsgemeinschaft faktisch gebilligt wird. Es geht hier also u m eine wirksame Denkgewohnheit und einen faktisch wirksamen Motivationsmechanismus der Rechtsunterworfenen. Diese soziologische Frage, ob die staatliche und rechtliche Ordnung von der Rechtsgemeinschaft akzeptiert wird, hat eine praktische politische Bedeutung: Schon machtpolitisch ist die Staatsgewalt i n beträchtlichem Ausmaß auf die Zustimmung der ihr Unterworfenen angewiesen: Oboedientia facit imperantem. Dieser herrschaftsbegründende Gehorsam muß wenigstens von einem Teil der Herrschaftsunterworfenen freiwillig geleistet werden. Vorübergehend mag hierzu die Loyalität einer herrschenden Schicht genügen, die über hinreichende Machtmittel verfügt, u m den staatlichen Anordnungen Gehorsam zu verschaffen. A u f Dauer läßt sich eine Rechts- und Herrschaftsordnung aber nur darauf stützen, daß der überwiegende T e i l der Rechtsunterworfenen diese Ordnung als richtige, billigenswerte Ordnung akzeptiert. Diese Einsicht steckt i n dem Satze Rousseaus: „ A u c h der Stärkste ist nicht stark genug, seine Herrschaft auf Dauer zu behaupten, wenn er nicht die Gewalt i n Recht und den Gehorsam in Pflicht verwandelt", 1 und ebenso in dem 1

J. J. Rousseau, Contrat social, I 3.

76

Kap.

:

e t t n

demokratischen Verfassungsstaat

kürzeren Satz, daß man nicht dauernd auf Bajonetten sitzen kann. W i r d die staatliche Herrschaftsordnung v o m überwiegenden T e i l des Volkes auf Dauer nicht akzeptiert, so w i r d der Protest gegen die Ungerechtigkeit regelmäßig früher oder später zu einem revolutionären Aufbegehren führen. 2 Die Legitimitätsfrage ist der wichtigste Treibstoff der Revolutionen, wie denn auch der deutsche Bauernkrieg, der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution alle i m Namen der Gerechtigkeit unternommen wurden. M a x Weber hat diese Sprengkraft der Gerechtigkeitsfrage bemerkt, wenn er das Naturrecht als die „spezifische Legitimationsform revolutionär geschaffener Ordnungen" bezeichnete. 3 Einer normativen Wissenschaft, wie der Jurisprudenz, genügt der soziologische Begriff der „Legitimation" nicht. Doch erscheint es denkbar, daß der tatsächliche Konsens eine staatliche und rechtliche Ordnung auch rechtfertigen kann. I n der Tat ergibt sich eine solche Verbindung zwischen faktischer Zustimmung und normativer Rechtfertigung v o m Standpunkt des ethischen Autonomiegedankens aus. Darauf ist später zurückzukommen.

I I . Legitimation in der „offenen Gesellschaft" Ich bleibe zunächst bei der Legitimität i m normativen Sinn. Hier geht es u m die richtige Verhaltens- und Entscheidungswahl: Das Recht und insbesondere die Verfassung sind normative Ordnungen, die unter faktisch möglichen Verhaltensmustern eine richtige Auswahl treffen sollen. Die Antwort auf die Frage nach der richtigen Ordnung des Handelns und Zusammenlebens war über lange historische Epochen „heteronom" vorgegeben oder wenigstens i n wichtigen Grundzügen heteronom vorprogrammiert: vor allem i n umfassenden religiösen Weltanschauungen, die von den Einzelnen nicht zu hinterfragen waren und auch nicht hinterfragt wurden. I n solchen Weltanschauungen fanden auf früheren Stufen der Kulturentwicklung auch die Normen des Rechts und der Moral ihren Platz und ihre Rechtfertigung. Aus ihnen waren diese Normen ableitbar und interpretierbar. Die Epoche weltanschaulicher Orientierungsgewißheit, in der eine umfassende Weltdeutung als vorgegebene Wahrheit akzeptiert wurde, ging i n Westeuropa i m Zeitalter der nachmittelalterlichen Glaubenskriege ihrem Ende zu. I n einer Zeit, i n der verschiedene, m i t einem Absolutheitsanspruch präsentierte, theologische und moralische „Wahrheiten" heftig aufeinandertrafen und zu blutigen Auseinandersetzungen führten, erwachte die Skepsis gegen alle heteronomen

2 Dazu auch unten Kap. 11 I I I 1 ; vgl. ferner Th. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973, S. 20 ff., 44 f., 97 ff., 160 f., 253 ff. 3 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, S. 497.

II. Legitimation in der „offenen Gesellschaft"

77

Moralen. 4 Es entstand, wie Thomas Hobbes sagte, ein tiefes Mißtrauen gegen die „zwitterhaften Lehrsätze der Moralphilosophie". 5 Aus dieser Verunsicherung zog man zwei verschiedene Konsequenzen: Hobbes folgerte, daß der souveräne Staat, um des Rechtsfriedens willen, letztverbindlich alle Fragen des Rechts zu entscheiden habe 6 : Authoritas, non Veritas facit legem. Wenn es unmöglich ist, ein lückenloses und für jeden einsichtiges System der Normen richtigen Verhaltens zu erkennen, bedarf es einer Entscheidung darüber, was Rechtens sein soll. Oder wie Radbruch sagte: „Vermag niemand festzustellen, was gerecht ist, so muß jemand festsetzen, was rechtens sein s o l l " . 7 Das ist die Wurzel und das Recht des Gesetzespositivismus. Die Begründung dafür, das staatliche Normensystem i n dieser Weise zu schaffen, lag für Hobbes i n der Überlegung, daß nur so der Rechtsfrieden gesichert werden könne; diese Sicherung wiege schwerer als alle Beeinträchtigungen, die ein solches System erwarten lasse. Der folgerichtige historische Vollzug dieses Gedankens war die Ersetzung des Naturrechts durch ein „positives" Recht, das i n staatlichen Gesetzgebungsverfahren hervorgebracht wurde. Kurz: der Maßstab richtigen Verhaltens w i r d auf Grund bestimmter Kompetenzen durch Entscheidung geschaffen. Eine zweite, ganz andere Folgerung aus dem Wegfall allgemein akzeptierter, heteronomer moralischer Autoritäten war der Autonomiegedanke: Kann niemand den begründeten Anspruch erheben, er sei i m Besitz der absolut richtigen Lösung ethischer Fragen, dann muß die Gewissensüberzeugung eines jeden gleich viel gelten. Jeder ist dann eine prinzipiell gleichzuachtende moralische Instanz. Für die Ethik hat Kant das zu Ende gedacht. 8 Für den Bereich des Rechts und des Staates führte diese Vorstellung von der gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller zu dem demokratischen Anspruch auf Mitbestimmung und Mitentscheidung aller in einem freien Wettbewerb der Überzeugungen, auch über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit. Dies eröffnet die größtmögliche Chance, daß in der Gemeinschaft, wenn nicht absolute Wahrheiten, so doch diejenigen Gerechtigkeitsvorstellungen zur Geltung kommen, die ihre Grundlage i m Gewissen und Rechtsgefühl möglichst vieler haben. Kurz, die Frage der Legitimation w i r d aus dieser Sicht zum Konsensproblem. Die beiden genannten Folgerungen haben die spätere Diskussion beherrscht: einerseits die Ersetzung von „Wahrheiten" durch Spielregeln und Kompetenzen, andererseits das Konsensprinzip. Es geht also dort um eine Legitimation durch Kompetenzen und Verfahren, hier um eine Legitimation durch Konsens. I m demokratischen Verfassungsstaat treffen beide Legitimationen zusammen.

4

Dazu auch unten Kap. 22 II. Th. Hobbes, De cive, Vorwort. 6 Hobbes (Fn. 5); ders., Leviathan, Kap. 26. 7 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, § 10, 3. 8 Dazu unten Kap. 7 I. 5

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Kap.

:

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demokratischen Verfassungsstaat

I I I . Legitimation durch Kompetenzen und Verfahren Ich bleibe zunächst bei dem erstgenannten Gedanken: bei der Entwicklung von einem religiös verankerten „Naturrecht" zum Rechtspositivismus. Diese Entwicklung hat am schärfsten — und einseitigsten — Niklas Luhmann dargestellt. V o r allem seit dem neunzehnten Jahrhundert habe sich dieser Wandel vollendet, der von einer naturrechtlich geprägten Rechtsordnung zu einem durch Gesetzgebungsverfahren geschaffenen positiven Recht führte. A n die Stelle einer Legitimation durch „Wahrheiten", die unglaubwürdig geworden waren, sei eine „Legitimation durch Verfahren" getreten. Kurz, es entstand die Legitimität der Legalität. Sie beruhe darauf, daß die in einem bestimmten rechtlichen Verfahren hergestellten Entscheidungen generell anerkannt werden. Es handle sich also u m ein S ich-Abfinden m i t den Entscheidungen, die in einem funktionierenden System hergestellt werden, ein Sich-Abfinden, das notwendig sei, u m ein solches System zu stabilisieren. A u f diese Weise vollziehe sich ein effektives, störungsfreies, zentral gesteuertes „ L e r n e n " . 9 Einer Gleichsetzung von Legitimität und positivistischer Legalität (ich lasse dahingestellt, ob sie den wahren Intentionen Luhmanns entspricht) ist aber folgendes entgegenzuhalten: A u c h in einem Zeitalter, in dem die Regelung sozialer Konflikte weitgehend auf positive Gesetze angewiesen ist, läßt sich das Legitimationsproblem nicht auf Verfahrensregeln reduzieren. Gewiß hält die Rechtsordnung Verfahren bereit, innerhalb deren Konflikte ausgetragen, und Kompetenzen, auf Grund deren sie entschieden werden. Sie dient als Schema für eine Kanalisierung und Koordination der i n der Gemeinschaft vorhandenen Interessen und Einflüsse. Aber die rechtlichen Entscheidungsverfahren laufen zum ganz überwiegenden T e i l auf inhaltliche Fragen einer billigen Konfliktsregelung hinaus, meist auf die Frage, welchen der widerstreitenden Interessen gerechterweise der Vorzug zu geben ist. Ja, die Verfahren stehen von vornherein i m Dienste dieser Aufgabe. Sie sind prozessuale Bedingungen, unter denen sich am ehesten eine inhaltlich gerechte Entscheidung erwarten läßt. 1 0 Die Legitimität hat also nicht nur prozedurale, sondern auch inhaltliche Komponenten. Dies w i r d sehr deutlich, wenn man sich klar macht, daß gerade auch in der „offenen" Gesellschaft z. B. die Achtung der Menschenwürde ein unverzichtbares inhaltliches Postulat bleibt und daß zur Legitimität des politischen Handelns nicht einfach nur die Erhaltung formaler Freiheit und Gleichheit gehören, sondern daß diese Grundsätze eine „sozialstaatliche" Auffüllung verlangen: als Forderungen, auch die ökonomischen und educatorischen Bedingungen für eine freie Entfaltung zu schaffen und eine reale Chancengleichheit herzustellen.

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Dazu unten Kap. 6 II. •o Näher dazu unten Kap. 6 III, IV.

IV. Legitimation durch Konsens

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I V . Legitimation durch Konsens Die zweite Folgerung aus dem Wegfall allgemein akzeptierter, heteronomer Autoritäten war, wie gesagt, der Autonomiegedanke, d. h. die Respektierung eines jeden als einer gleichzuachtenden moralischen Instanz: Kann niemand den begründeten Anspruch erheben, er sei i m Besitz einer absolut richtigen Lösung der Gerechtigkeitsprobleme, dann muß die Gewissensüberzeugung eines jeden gleich viel gelten. Dann ist das individuelle Gewissen die letzte Instanz, zu der unser Bemühen um moralische Einsicht vordringen kann. Die Gleichachtung aller als moralische Instanz führt zur Respektierung der individuellen Autonomie, d. h. des Anspruchs eines jeden, den Überzeugungen zu folgen, die er nach seinem Gewissen für richtig befunden hat. Diesen ethischen Einsichten K a n t s 1 1 korrespondiert für den politischen Bereich die Idee der Demokratie, also der Gedanke Rousseaus, daß auch i n der politischen Gemeinschaft jeder „nur sich selbst gehorcht" 1 2 und daß „das V o l k , das den Gesetzen gehorcht, auch ihr Urheber" sein m u ß . 1 3 Bei rigoroser Durchführung müßte der Autonomiegedanke und insbesondere das Prinzip der politischen Selbstbestimmung zum Einstimmigkeitsprinzip führen. Aber auf dieser Basis läßt sich eine für viele Menschen geltende praktikable Ordnung nicht herstellen 1 4 — weder v o m Rousseauschen, noch v o m Kantischen Standpunkt aus. Rousseau behalf sich mit der Fiktion, daß der W i l l e der Mehrheit einen Gemeinw i l l e n zum Ausdruck bringe, der das Gesamtinteresse repräsentiere; die Minderheit habe sich über das wahre Gesamtinteresse geirrt 1 5 und werde durch die Gesamtheit nur dazu gezwungen, ihrem wahren Interesse zu folgen, d. h. „gezwungen, frei zu s e i n " 1 6 . Nun, Gott schütze uns vor Systemen, die uns zwingen, „frei zu sein". K a u m jemand folgt auch noch dem schlecht begründeten Optimismus, daß es das Privileg der Majorität sei, das wahre Gesamtinteresse zu erfassen, und daß i n dem Punkte, i n dem sich die Interessen der Mehrheit decken, auch die wahren Interessen der Minderheit lägen. A u c h v o m Ansatz Kants aus gelangt man nicht zu einer Rechtsordnung, die dessen moralischem Ideal v o l l genügen würde: Selbst wenn alle, die an einem Gesetzesbeschluß beteiligt sind, nach bestem Gewissen entscheiden würden — was sie nicht tun — gingen doch die Gewissensmeinungen der verschiedenen Menschen auseinander. So hält in dem Streit, ob und nach welchen Indikationen ein Schwangerschaftsabbruch zulässig sein solle, der eine dies, der andere jenes 11

Dazu unten Kap. 7 I. Rousseau (Fn. 1), 16. 13 Rousseau (Fn. 1), I I 6. 14 Dazu unten Kap. 11 I I I 2. 15 Rousseau (Fn. 1), IV 2. 16 Rousseau (Fn. 1), 17. 12

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für gerecht; Divergenzen gibt es auch etwa darüber, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise Sterbehilfe gerechtfertigt sein könne; oder ob und i n welchem Ausmaß den Eltern ein Recht zur körperlichen Züchtigung ihrer Kinder zustehen solle; oder darüber, welche Strafen bestimmten Delikten angemessen seien; oder in der Frage nach dem angemessenen Lohn. Kurz, die Konvergenz zwischen gewissensbestimmten Meinungen und allgemeinem Gesetzesrecht läßt sich nicht v o l l verwirklichen. Das Recht, das die Freiheiten der Menschen äußerlich gegeneinander abzugrenzen hat, ist nicht als Schema völliger Koexistenz individueller moralischer Autonomie realisierbar. Kant hat denn auch zwischen Moralität und Legalität unterschieden. A u c h hat er den Gedanken der Einstimmigkeit als „eine bloße Idee der Vernunft" aufgestellt: Die Idee eines Gesellschaftsvertrages verbinde jeden Gesetzgeber, „daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten W i l l e n eines ganzen Volks haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein w i l l , so anzusehen, als ob er zu einem solchen W i l l e n mit zusammengestimmt habe". 1 7 Heute erinnern einige Überlegungen der Frankfurter Schule an diese Gedanken Kants. 1 8 U m die Gemeinschaft funktionsfähig zu erhalten, ist also das M o d e l l des allgemeinen Konsenses in verschiedenen Hinsichten zu modifizieren: Zunächst muß anstelle des einstimmigen Willens der W i l l e der Majorität als verbindlich anerkannt werden. Dies hat ohne die beschönigende Fiktion Rousseaus und i n der Erkenntnis zu geschehen, daß damit möglicherweise schutzwürdige Interessen der Minderheit unvermeidlich geopfert werden. Grundrechte haben solcher Majorisierung Grenzen zu ziehen und elementare Freiheiten, insbesondere die Menschenwürde auch der Minderheit, zu gewährleisten. 1 9 U m funktionieren zu können, muß das einfache Konsens schema nicht nur zu einem Schema der Mehrheitsentscheidung, sondern zu einem Schema repräsentativer Entscheidungsfindung abgewandelt werden: Schon Sieyès hat das m i t bekannten Erwägungen dargetan: „In dem Maße, wie die Zahl der Bürger zunimmt, wird es für sie schwierig, ja unmöglich, sich zu versammeln und die Einzelwillen einander gegenüberzustellen, sie auszugleichen und den Gemein willen zu ermitteln. . . Noch viel weniger kann ein großes Volk seinen gemeinschaftlichen Willen oder seine Gesetzgebung selbst direkt ausüben. Es wählt daher Stellvertreter und beauftragt sie, statt seiner zu wollen." 2 0

i7 I. Kant, Über den Gemeinspruch „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis", 1793, II, Folgerung, is Dazu unten Kap. 7 I 2. 19 Nachträgliche Ergänzung. Näher dazu unten Kap. 11 IV 5, V 1. 20 E. J. Sieyès, Politische Schriften, hrsg. von E. Schmitt / R. Reichardt, 1975, S. 28 ff.

V. „Abklärung" der Konsensfähigkeit durch Verfahren und Institutionen

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Aber nicht nur u m der Funktionsfähigkeit willen ist das Schema einfacher Mehrheitsentscheidung zu modifizieren. Dieses würde i n seiner ursprünglichen Gestalt oft auch die erreichbare „Gerechtigkeit" verfehlen, selbst wenn man hierunter nur die Annäherung an die Gewissensmeinung möglichst vieler versteht. Denn eine Mitentscheidung aller verbürgt nicht, daß alle nach ihrem Gewissen entscheiden. Sie läßt jedem die Möglichkeit, als bloßer Interessent zu handeln. A u c h besteht die Gefahr, daß die Mehrheitsmeinung eine vordergründige „ M i t l ä u feransicht" ist, die von Interessenten manipuliert sein kann.

V . Die „Abklärung" der Konsensfähigkeit durch Verfahren und Institutionen Es muß daher Distanz gegenüber konkretem Interessenengagement und größtmögliche Rationalität der Entscheidungen angestrebt werden. 2 1 Die Aufgabe der Distanz hat schon David Hume gesehen 22 : Wenn w i r „die Dinge aus der Ferne betrachten, . . . ziehen w i r das vor, was an sich vorgezogen zu werden verdient". Eine solche Distanz könne zum einen durch zeitlichen Abstand gewonnen werden, indem ich etwa „über eine Handlung nachdenke, die ich in Jahresfrist tun soll". Sie könne aber auch durch eine Einrichtung geschaffen werden, indem man m i t der Wahrung des Rechts „neutrale Persönlichkeiten" beauftrage, die „ k e i n oder nur ein sehr entferntes Interesse an unrechtmäßigen Handlungen" haben; hier geht es also u m Unparteilichkeit oder, modern gesprochen, um „Rollendistanz". Aus heutiger Sicht würde man ähnlich zu formulieren haben: U m Distanz gegenüber einem interessierten Engagement zu schaffen und größtmögliche Rationalität der Entscheidungen zu gewährleisten, müssen Interessenkonflikte nach geeigneten „Spielregeln" — m i t angemessenen Rollenverteilungen, womöglich von neutralen Entscheidungsinstanzen, nach rationalen Prinzipien — und unter Wahrung bestimmter Mindestpositionen der Einzelnen entschieden werden. Das läuft keineswegs auf eine bloße „Legitimation durch Verfahren" hinaus. Gefordert sind aber prozedurale Vorkehrungen i m Dienste einer größtmöglichen Annäherung an ein Ergebnis, das für möglichst viele inhaltlich konsensfähig ist, d. h. an ein Ergebnis, das vor dem Gewissen — und speziell in Gerechtigkeitsfragen vor dem Rechtsgefühl 2 3 — möglichst vieler bestehen kann. Solche Bedingungen pflegen in rechtsstaatlichen Verfassungen niedergelegt und institutionalisiert zu werden. Diese rechtsstaatlichen Verfassungsgrundsätze sind Ergebnisse eines den Tages Streitigkeiten vorweggenommenen Nachdenkens darüber, welche Prinzipien das Zusammenleben in einer Rechtsgemeinschaft bestimmen sollen. Durch sie wird ein wichtiger Faktor der Vernünftigkeit in den 21 Dazu auch unten Kap. 11 V I 2. 22 D. Hume, Treatise on human Nature, 1739/40, Buch 3 I I 7. 23 Dazu unten Kap. 7. 6 Zippelius

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politischen Prozeß eingeführt und w i r d dafür gesorgt, daß auch i n der Hitze der Tagesstreitigkeiten die Regeln eines fairen Verfahrens und die prinzipiell schutzwürdigen Rechtspositionen der Menschen, insbesondere bestimmte Grundfreiheiten, nicht mißachtet werden, und zwar auch von der Majorität nicht. 1. Eine grundlegende „Spielregel" ist das Offenhalten der Rechtsentwicklung und der politischen Entscheidungsprozesse für Auseinandersetzung und K r i t i k . Sie ergibt sich schon unmittelbar aus der Prämisse des Konsensprinzips: daß die gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz eines jeden, und damit auch dessen Meinungsfreiheit, fortwährend zu achten und zu wahren i s t . 2 4 Diese Spielregel dient zugleich der Rationalität der Entscheidungsprozesse und hat in diesen eine kritische und eine heuristische Funktion: Sie soll gewährleisten, daß —jedenfalls auf längere Sicht — relevante Tatsachen und Argumente zutage treten, die bisher verdeckt waren, und daß vor allem auch einseitige Manipulationen als solche erkannt und dargestellt werden. 2 5 2. Der Rationalität der Entscheidungen und der Distanz gegenüber konkretem Interessenengagement dient es ferner, wenn staatliches Handeln sich nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit vollzieht, also nach generellen Regeln, die schon vor Eintritt des Interessenkonflikts festgesetzt werden. Das dient der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns und damit der Rechtssicherheit. A u f diese Weise k o m m t auch der Grundsatz der Gleichbehandlung zur Geltung, und zugleich der Gedanke Kants, daß eine Entscheidungsmaxime jedenfalls nur dann richtig sein kann, wenn sie verallgemeinerungsfähig i s t . 2 6 Damit w i r d i m wesentlichen auch die Funktion erfüllt, die Rawls dem Gedankenexperiment des „ v e i l of ignorance" zugedacht hat. 2 7 Freilich liefern diese Prinzipien nur eine notwendige, aber noch keine zureichende Bedingung für die Gerechtigkeit von Entscheidungen: Nicht jede generelle Regel, nicht alles, was verallgemeinerungsfähig ist, ist allein schon aus diesem Grunde auch gerecht. 2 8 3. A u c h noch andere Erwägungsmuster können i n den Dienst vernünftiger Entscheidungsfindung gestellt werden. Z u ihnen gehören Entscheidungsanalysen. 2 9 Für Rationalität der Entscheidungen und deren Kontrollierbarkeit sorgen vor allem auch Begründungspflichten, wie sie für Gesetze, Gerichtsentscheidungen und Verwaltungsakte bestehen. Insbesondere das Bestreben, die zu findende Entscheidung i n den Kontext vergleichbarer Entscheidungen einzufügen, dient einer rationalen Abklärung ihrer Konsensfähigkeit. Dieses Bemühen u m Konsistenz der rechtlichen Problemlösun24 25 26 27 28 29

Vgl. unten Kap. 25 14. Näher dazu unten Kap. 11 V I 2. Vgl. etwa /. Kant, Metaphysik der Sitten, 1797, I, 2. Einl., § C. j. Rawls, A Theory of Justice, 1971, S. 12, 18 ff., 136 ff. R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 15 II. Dazu unten Kap. 35 I I 5.

V. „Abklärung" der Konsensfähigkeit durch Verfahren und Institutionen

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gen gehört zu den „kultivierenden" Leistungen von Repräsentativorganen. Besonders in der Rechtsprechung w i r d dieses Erwägungsmuster gepflegt. A u f diese Weise w i r d die Konsensfähigkeit zunächst einmal innerhalb der Fachtradition abgefragt. A m offenkundigsten geschieht das in Fallrechtssystemen: Hier werden Rechtseinsichten vor allem durch ein „reasoning from case to case" gewonnen, d. h. in einem Zusammenspiel geschulten Rechtsempfindens und typisierenden Fall Vergleichs. Das gleiche Erwägungsmuster findet sich aber auch i n Rechtskulturen ohne strenge Präjudizienbindung. 3 0 I n solchen Erwägungen w i r d die zu treffende Entscheidung nicht nur mit einer isoliert gesehenen Vorentscheidung verglichen, sondern nach Möglichkeit auch in den sonstigen „rechtsethischen" Kontext eingepaßt, d. h. i n die Gesamtheit der rechtsethisch relevanten Rechtsgrundsätze und Rechtsnormen, mit denen die vorliegende Rechtsfrage i m Zusammenhang steht. Z u diesem „rechtsethischen Kontext" gehören insbesondere die Wertentscheidungen der Verfassung, aber auch die „allgemeinen Rechtsprinzipien", die von Wissenschaft und Praxis herausgearbeitet und in der Fachtradition anerkannt sind. 3 1 4. Für ein „fair play" w i r d durch Verfahrensregeln gesorgt. Z u ihnen gehört der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, aber auch die Öffentlichkeit gerichtlicher, parlamentarischer und anderer Verfahren, damit jeder Betroffene seine Argumente vorbringen und jeder die erwogenen Tatsachen und Argumente kennenlernen und sich davon überzeugen kann, daß alles mit rechten Dingen zugegangen ist. 5. Wichtige Voraussetzungen dafür, daß Entscheidungsprozesse i n kontrollierter, möglichst rationaler, „kultivierter" Form ablaufen, schafft das — schon wiederholt erwähnte — Repräsentativsystem: Die Bildung von Repräsentativorganen, d. h. die Institutionalisierung ausdifferenzierter Entscheidungsrollen, ist geradezu die „technische" Bedingung dafür, ein System rechtsstaatlicher Gewaltenkontrolle einzurichten und so auch der Tyrannei zu entgehen, deren eine manipulierbare demokratische Menge fähig ist. I m Repräsentativsystem werden Entscheidungsinstanzen eingerichtet, deren rechtliche und soziale Rolle sie in eine größtmögliche Distanz zu den Interessenkonflikten setzt, über die sie entscheiden, und deren Sachkunde und Entscheidungsregeln darauf angelegt sind, die Rationalität der Entscheidungen zu verbessern. Die Funktionen distanzierter und rationaler Erwägungen werden am ehesten von den unabhängigen Gerichten erfüllt, in eingeschränkter Weise aber auch von den m i t Fachbeamten besetzten Bürokratien 3 2 und sogar von Regierungen und Parlamenten. Z u m Ausdruck kommt das für die Beamten in der Pflicht zur Unparteilichkeit und für die Parlamentarier i m Grundsatz der auftragsfreien Repräsentation. Gewiß wird die Rollendistanz für die Parlamente und teilweise auch für die Bürokratie durch vielfältige Interesseneinflüsse gemindert, zumal 30 Dazu unten Kap. 37 I I 3. 31 Dazu oben Kap. 1 IV. 32 Dazu unten Kap. 21. 6*

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i n der pluralistischen Demokratie. Doch kommen selbst i m parlamentarischen Entscheidungsprozeß rationale Elemente zur Geltung: Durch die Gliederung des Parlaments i n Regierungsfraktion und Opposition sind die parlamentarischen Auseinandersetzungen von der äußeren Form her als Austausch von Argumenten strukturiert; 3 3 disziplinierend wirkt es auch, daß die Auseinandersetzungen sich i m Lichte der öffentlichen Kontrolle und K r i t i k vollziehen. 3 4 W o die staatlichen A k t e der Kontrolle von Gerichten unterliegen, w i r d auch hierdurch die Staatstätigkeit nachdrücklich in die Bahnen des Rechts und vor allem des verfassungsrechtlich Begründbaren und Haltbaren gelenkt; daher vollziehen sich die Auseinandersetzungen der Interessen und Meinungen zum T e i l i m Gewände rechtlicher Argumentationen, i m übrigen i n dem Rahmen und in den Spielräumen, die durch das Recht abgesteckt sind. 3 5 Unter diesen Kautelen kann es als eine Aufgabe der Repräsentanten erscheinen, gleichsam stellvertretend für die Gesamtheit zu räsonieren und damit auch den Fortgang der öffentlichen Meinung in die Bahnen vernünftiger Argumentation zu lenken.

V I . Demokratische „Rückkoppelung" A l l e institutionellen, prozeduralen und argumentativen Vorkehrungen dienen aber nach demokratischem Legitimitätsverständnis nur der Abklärung, welche Auffassungen geeignet sind, die meisten zu überzeugen. Leitidee ist es, auf diese Weise rechtliche Lösungen zu finden, die vor dem Rechtsgewissen der Mehrheit des Volkes standhalten können. A u c h faktisch bleiben die Repräsentanten an die Konsensbereitschaft des Volkes gebunden. Sie müssen Entscheidungen anstreben, die geeignet sind, die Mehrheit zu überzeugen, für diese also akzeptabel sind. Andernfalls verlieren sie die demokratische „Autorität". Diese bezeichnet in ihrem subtilsten Sinn die Identifikationsbereitschaft der Bürger, d. h. deren Bereitschaft, sich auch selbst als Urheber — auctores — der von den Repräsentanten getroffenen Entscheidungen zu denken, sich also vorzustellen: „So hätte ich es auch gemacht." So stehen die Repräsentanten unter einem „Legitimationsdruck", nämlich unter der Notwendigkeit, ihre Entscheidungen vor einem „universellen A u d i t o r i u m " — wie Perelman sagt 3 6 — zum mindesten aber vor ihrer Rechtsgemeinschaft zu rechtfertigen. A u f solche Weise ist das repräsentative Handeln an die öffentliche Meinung „rückgekoppelt". 3 7 I n diesem Zusammenspiel greifen die Legitimation durch 33 34 35 36 37

Dazu oben Kap. 3 I. Nachträgliche Einfügung. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, §§ 23 I 3, 28 I I 2. Aus dem als Kap. 11 abgedruckten Aufsatz übernommen. Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 158 ff. Dazu auch unten Kap. 11 IV.

VII. Gesamtwürdigung

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Verfahren und die Legitimation durch Konsens ineinander: nämlich der „rationalisierende", „kultivierende" Anteil des repräsentativen Handelns einerseits und dessen Rückbindung an die breite Konsensbasis der Rechtsgemeinschaft andererseits. Diese Rückbindung an die Gesamtheit zeigt sich besonders bei den Regierungen und Parlamenten: Regierungen und Parlamentsmehrheiten müssen i n Auseinandersetzung nicht nur m i t der parlamentarischen Opposition, sondern auch m i t der öffentlichen Meinung laufend ihre Entscheidungen rechtfertigen. Es geht dabei nicht nur u m einen pauschalen Grundkonsens mit dem funktionierenden System, sondern u m den Konsens der Mehrheit des Volkes darüber, daß der überwiegende Teil der getroffenen Entscheidungen inhaltlich akzeptabel ist. Nur wenn Regierung und Regierungsparteien den Konsens der Mehrheit für den überwiegenden T e i l ihrer Entscheidungen finden, haben sie in einem Mehrparteiensystem die Chance, bei der nächsten W a h l wieder die Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen und damit ihre Entscheidungskompetenzen erneuert zu erhalten. Aber auch die Gerichte, zumal die hohen Gerichte, stehen unter einem durchaus realen „Legitimationsdruck" gegenüber der Rechtsgemeinschaft, nämlich für alle Fragen, i n denen die Gesetze diesen Gerichten einen eigenen Anteil an der Lösung von Gerechtigkeitsproblemen lassen. Diesen Legitimationsdruck empfinden zumal die hohen Gerichte, die darauf bedacht sind, nicht die Autorität zu verlieren. Die „Sanktion" liegt hier in dem Risiko, daß diese Gerichte m i t ihrem Ansehen auch ihren Einfluß einbüßen können, den sie auf die in der Gemeinschaft mehrheitsfähigen Rechtsauffassungen haben.

V I I . Gesamtwürdigung Der Versuch einer Gesamtwürdigung ergibt folgendes Bild: A u c h die rechtsstaatliche repräsentative Demokratie bleibt hinter dem Ideal zurück, Rechtsfragen ausschließlich auf der Grundlage des vernunftgeleiteten Gewissens der Mehrheit zu entscheiden. A u c h in ihr gewinnen persönliche Interessiertheit und manipulierte Anschauungen und Stimmungen Einfluß — auch auf die Akzeptanz der von den Repräsentanten getroffenen Entscheidungen. Zudem bringt das Repräsentativsystem seinerseits Machtstrukturen hervor, die in den Dienst einseitiger Interessen gestellt werden können. I m ganzen überwiegt jedoch die Chance, daß i m gewaltenteiligen Rechtsstaat der A n t e i l unsachlicher Einflüsse vermindert und die Entscheidungen dem Rechtsgewissen der Mehrheit angenähert werden. 3 8 Die gefundenen Lösungen rechtlicher und politischer Fragen müssen immer wieder i n offenem Meinungsbildungsprozeß auf die Probe gestellt, der K r i t i k ausgesetzt und, wo diese berechtigt erscheint, korrigiert oder auch ganz zurückge38 Aus dem als Kap. 11 abgedruckten Aufsatz übernommen.

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nommen werden. Darin zeigt sich der experimentierende Charakter der Suche nach Zielen und Wegen in Politik und Recht. A u f diese Weise tastet sich die offene Gesellschaft i n einem komplizierten und vielschichtigen Prozeß von „trial and error" voran.

Kapitel

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Legitimation durch Verfahren? 1 Es ist ein zentrales Problem der Rechts- und Staatstheorie, worin rechtsverbindliche A k t e der Staatsgewalt ihre Rechtfertigung finden. Die herkömmlichen Auffassungen gründen die Legitimation staatlichen Handelns darauf, daß es bestimmte Zwecke verwirkliche: vor allem Frieden und Ordnung gewährleiste und eine gerechte Ordnung bereitstelle, i n welcher allein die Menschen zur vollen Ausbildung und Entfaltung ihrer Persönlichkeit gelangen könnten. 2 Dem ist nun die Auffassung gegenübergestellt worden, daß systemimmanente Verfahrensstrukturen die rechtlich verbindlichen Entscheidungen legitimieren.

I . Der systemtheoretische Ansatz Diese Lehre n i m m t ihren Ausgang von der Systemtheorie, die das soziale Geschehen prinzipiell von den funktionalen Zusammenhängen her verstehen w i l l , die es bestimmen. Die Gemeinschaft stellt sich dann als ein „Interaktionssystem" dar, das heißt als ein Gefüge zwischenmenschlicher Beziehungen, als ein Zusammenhang vielfältig miteinander verflochtener Handlungsstrukturen. Es werden hier also Gedanken fortgeführt, die i m Ansatz schon i n der Beziehungssoziologie Georg Simmeis und Leopold von Wieses vorhanden waren. 3 Schon dort war die Vorstellung von dem prozeßhaften Charakter des Gemeinschaftsgefüges entwikkelt: die Auffassung, daß die Gesellschaft in den Wechselwirkungen von Individuen bestehe, daß lediglich ein funktioneller, prozeßhafter Zusammenhang zwischen den Einzelnen existiere. I n diesem Sinne hatte auch M a x Weber gemeint, soziale Gebilde seien „lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen". 4 Es blieb die Aufgabe, die Strukturen der Gemeinschaft, d. h. die konstanten Beziehungsformen zwischen den Menschen (den Elementen des Sozialgefüges) in ihrer Eigenart und i n ihrem Zusammenhang (d. h. als System) zu begreifen. 1

Es handelt sich um eine Auseinandersetzung mit dem gleichnamigen Buch von Niklas Luhmann, 1969. Die im Text enthaltenen Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch. 2 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 17. 3 G. Simmel, Soziologie, 4. Aufl. 1958, Kap. I, Kap. V I I I 2. Exkurs; L. v. Wiese, System der Allgemeinen Soziologie, 4. Aufl. 1966, 1. Hauptteil Kap. 1. 4 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Studienausgabe, 1964, S. 10.

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Kap. 6: Legitimation durch Verfahren?

Verstand man die Rechtsnormen und die durch sie begründeten Pflichten als Sinngehalte, die das menschliche Verhalten steuern, so ließ sich die Rechtsgemeinschaft als ein „sozialkybernetisches System" darstellen. Dieses wählt aus der Vielfalt der überhaupt möglichen Handlungsalternativen bestimmte aus und erklärt sie für verbindlich: I m Straßenverkehr könnte man links ausweichen und rechts überholen oder aber rechts ausweichen und links überholen, oder rechts ausweichen und rechts überholen usw.; das Straßenverkehrsrecht wählt unter diesen Alternativen aus und gebietet ζ. B., rechts auszuweichen und links zu überholen. Damit w i r d die Komplexität der faktisch überhaupt möglichen Verhaltensweisen reduziert, und zwar auf eine Weise, die einem geordneten Zusammenleben dient.

I I . Begriff und G r u n d der Legitimation Bei der Frage der Legitimation geht es der Systemtheorie darum, was dieser verbindlichen Auswahl unter den Verhaltensalternativen allgemeine Anerkennung verschaffe. Warum akzeptieren die Bürger eine Verhaltensrichtlinie (und die darin liegende Alternativenwahl) als verbindlich? Etwa deshalb, w e i l ihr nachvollziehbare inhaltliche Einsichten über die Gerechtigkeit dieser Alternativenwahl zugrundeliegen? Oder schon deshalb, weil Macht, d. h. die Chance faktischer Durchsetzung hinter der Verhaltensrichtlinie steht? Oder schließlich deshalb, weil die Verhaltensrichtlinie i n einem bestimmten Verfahren, etwa unter M i t w i r k u n g der Betroffenen, zustande gekommen ist? Die Legitimation soll darin liegen, daß bestimmte Verhaltensmuster akzeptiert werden. W i e hat man sich Begriff und Mechanismus dieser Akzeptanz zu denken? M a n kann m i t einer noch allgemeineren Frage beginnen: Was kann jemanden überhaupt veranlassen, Vorstellungen anderer Menschen zu übernehmen und sich i n seinem Denken und Handeln nach ihnen zu richten? Luhmann meint, dafür könne es verschiedene Gründe geben: entweder intersubjektive Gewißheit (= Wahrheit) oder persönliche Sympathie oder Machtunterlegenheit (S. 24). Der Grund für die Übernahme naturwissenschaftlicher oder logischer Vorstellungen ζ. B. wäre die Einsicht in deren Wahrheit. N u n beruht aber offenbar nicht jedes Akzeptieren von Vorstellungen auf solcher Wahrheit; i m Straßenverkehr rechts auszuweichen und links zu überholen ist nicht richtiger und in diesem Sinne wahrer, als links auszuweichen und rechts zu überholen. Zwischen diesen Alternativen muß einfach entschieden werden, ohne daß die größere Richtigkeit der einen oder anderen Alternativenwahl einsichtig wäre. Soviel scheint also festzustehen: daß Wahrheit, also die Nachvollziehbarkeit inhaltlicher Einsichten, nicht ausreicht, u m alle Probleme i n intersubjektiv zwingender Gewißheit zu lösen (S. 25). Ist daraus aber zu schließen, daß die W a h l von Handlungsalternativen schlechth i n keine Frage inhaltlicher Gerechtigkeitseinsicht sein könne? Sollte ζ. B. der

II. Begriff und Grund der Legitimation

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Beschluß, Angehörige einer bestimmten Rasse i n Konzentrationslager zu stecken, legitim sein, wenn er nur i n einem geordneten Verfahren gefaßt wird? Hat nicht auch inhaltliche Gerechtigkeitseinsicht beträchtlichen Anteil an einer legitimen Rechtserzeugung? Sind nicht die fallrechtlichen Rechtsordnungen geradezu aus dem Judiz, d. h. aus einem an der herrschenden Rechtsmoral orientierten Rechtsempfinden vieler Richtergenerationen hervorgewachsen, also aus konkreten Problemlösungen, die nicht zuletzt wegen ihrer inhaltlichen Überzeugungskraft i n späteren Entscheidungen übernommen wurden? Gewiß kann man hier einwenden, solche Einsichten des Rechtsgefühls würden nicht dem strengen Wahrheitsbegriff der naturwissenschaftlichen Erkenntnis genügen (S. 20). Sie besitzen nicht den Grad der Allgemeingültigkeit und nicht die Invarianz eines physikalischen Gesetzes. Aber schon Aristoteles hat gesehen, daß es verschiedene Grade von Gewißheit gibt; in ethischen Fragen müsse man sich m i t „demjenigen Grad von Bestimmtheit bescheiden, den der gegebene Stoff zuläßt". 5 U n d wenigstens einen mehr oder minder breiten Konsens darüber, was man inhaltlich als gerecht und b i l l i g empfindet, gibt es in jeder Rechts- und Kulturgemeinschaft für viele typische Situationen. Es läge nahe, den Grund der Legitimität gerade auch i n solchen intersubjektiv übereinstimmenden Einsichten des Rechtsgefühls zu suchen. 6 A u f diesen Weg läßt sich Luhmann aber gar nicht erst ein. W o r i n soll also sonst der Grund dafür liegen, daß eine Regelung akzeptiert wird? Die faktisch verbreitete Überzeugung von der Verbindlichkeit einer Vorschrift (S. 27) könnte auch auf ihrer bloßen Durchsetzungschance beruhen, also auf der hinter ihr stehenden Macht, auf der Einsicht, daß Widerstand gegen sie aussichtslos ist. I n dieser Weise wird auch ein Konzentrationslagerreglement von den Lagerinsassen als verbindlich hingenommen. Aber soll man dieses faktische Akzeptieren als Legitimation bezeichnen? Dem überkommenen Sprachgebrauch widerstrebt das. U n d auch Luhmann w i l l Zwang allein nicht schon als Legitimationsgrund anerkennen (S. 28). U m als legitim, als verbindlich hingenommen zu werden, ist auch ein Moment der B i l l i g u n g erforderlich. Worauf kann aber dieses billigende Akzeptieren positiver Normen und Entscheidungen beruhen, wenn es weder durch die bloße Durchsetzungsmacht allein begründet sein kann, noch auch, wie Luhmann meint, durch inhaltliche Gerechtigkeit und Billigkeit? W i e entsteht die Legitimität der Legalität? Luhmann antwortet: durch einen Grundkonsens, durch eine generelle Anerkennung der in bestimmten rechtlichen Verfahren hergestellten Entscheidungen, die unabhängig ist von dem Befriedigungswert der einzelnen Entscheidung. Es ist das Sich-Abfinden mit den in einem funktionierenden System hergestellten Entscheidungen, das notwendig ist, u m ein solches System zu stabilisieren (S. 29 ff.). Durch das 5 Dazu unten Kap. 33 Einl. 6 Dazu unten Kap. 7.

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Kap. 6: Legitimation durch Verfahren?

System werden i n differenzierten und aufeinander abgestimmten Entscheidungsprozessen Alternativen verbindlich ausgewählt. Die Betroffenen übernehmen diese Entscheidungen als Prämissen ihres eigenen Verhaltens und strukturieren dementsprechend ihre Erwartungen (S. 33). A u f Seiten der Rechtsunterworfenen vollzieht sich daher ein effektives, störungsfreies, zentral gesteuertes Lernen (S. 35). Dieser „Gesetz-ist-Gesetz-Standpunkt" läßt also die Abnahme bindender Entscheidungen faktisch zur Selbstverständlichkeit und zur Sache vorwurfsloser Routine werden (S. 36). Damit ist aber immer noch nicht sichtbar geworden, worin der Grund für die — wenigstens pauschal — billigende Hinnahme der Entscheidungen des Systems liegen solle. Ist er vielleicht i n der Funktionsfähigkeit des Systems als solcher zu suchen, d. h. darin, daß i n einer kompliziert gewordenen Welt überhaupt ein Gefüge koordinierten und friedlichen Zusammenlebens von Menschen zustandegebracht wird? Dann läge der wesentliche Legitimationsgrund für das Gesamtsystem etwa dort, w o ihn bereits Thomas Hobbes gesucht hat: in der Ordnung- und friedenstiftenden Funktion der organisierten Staatsgewalt. Aber hier würde sich sogleich wieder das vorhin schon aufgetauchte Bedenken erheben, das man immer schon gegen den radikalen Positivismus, gegen die einfache Gleichsetzung von Legalität und Legitimität erhoben hat: A u c h die krasse Tyrannei wäre dann legitim, sofern sie nur konsequent funktioniert und jene Koordinations- und Befriedungsfunktion wirksam erfüllt. Gegen solch eine vordergründige Gleichstellung der Legitimität m i t positivistischer Legalität bestehen altbekannte Einwände: „Eine voraussetzungslose Gleichsetzung des Rechts m i t dem Ergebnis irgendeines formalen Verfahrens wäre nur voraussetzungslose, also blinde Unterwerfung unter die reine, das heißt von jeder inhaltlichen Beziehung zu Recht und Gerechtigkeit losgelöste Dezision der m i t der Gesetzgebung betrauten Stellen, voraussetzungsloser Verzicht auf jeden W i derstand". 7 Zweifellos ist der Apparat einer rationalen, an die jeweilige Situation anpassungsfähigen Rechtsordnung eine notwendige — d. h. unerläßliche — Bedingung für die Lebens- und Funktionsfähigkeit der modernen staatlichen Ordnungen. Andererseits kann aber ein Regelungssystem nicht schon dann auf allgemeine Anerkennung rechnen, wenn es allein v o m Verfahren her geeignet wäre, effektiv, störungsfrei und konsequent zu funktionieren, sondern nur dann, wenn die produzierten Entscheidungen auch ihrem Inhalt nach der Rechtsgemeinschaft als annehmbar erscheinen; j a nur unter dieser Bedingung wird das System überhaupt auf Dauer störungsfrei funktionieren. Das beiseite geschobene Problem der Gerechtigkeit rechtlicher Entscheidungen drängt sich also immer wieder als ungebetener Gast i n die Diskussion. Augenscheinlich verliert die — auch von Luhmann nicht als zureichender Legitimationsgrund angesehene — Macht ihre Dürftigkeit nicht schon dadurch, daß sie sich in geordneten Verfahren entfaltet. 7 C. Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 278.

III. Die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen

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Dieses grundsätzliche Bedenken gegen eine Legitimation durch bloßes Verfahren vermögen auch die folgenden Darlegungen Luhmanns nicht zu beseitigen, i n denen er dann i m einzelnen zeigt, wie i n verschiedenartigen Verfahren soziale Konflikte nach systemeigenen Regeln (S. 59, 69) „kleingearbeitet" werden und durch verbindliche Entscheidungen immer wieder eine Lösung finden, die den Fortbestand des gesamten Systems ermöglicht. Hier mag es genügen, seinen Erwägungen zum Gerichtsverfahren und zum Gesetzgebungsverfahren kritisch zu folgen.

I I I . Die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen Die Last, gerichtliche Entscheidungen zu legitimieren, ist zum T e i l auf die Gesetzgebung verschoben. D e m Richter sind die rechtlichen Prämissen seiner Entscheidung durch Gesetze vorgegeben, die vorweg die Funktion übernommen haben, gesellschaftliche Einflüsse verbindlich zu kanalisieren, und den Richter auf diese Weise von solchen Einflüssen abschirmen (S. 64, 71). Z u m anderen T e i l gründet sich die Legitimität gerichtlicher Entscheidungen auf Verfahrensstrukturen, in denen man klassische Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit wiedererkennen kann, auch wenn Luhmann sie nicht als solche kennzeichnet: vor allem die Respektierung der Prozeßbeteiligten als handelnde Prozeßsubjekte ( i m Strafverfahren eine der wesentlichen Errungenschaften des reformierten Strafprozesses) und allgemeiner noch das audiatur et altera pars; ferner die Konsequenz i m prozessualen Handeln, insbesondere das Verbot des venire contra factum proprium; sodann die Unparteilichkeit des Richters; und schließlich die Öffentlichkeit des Verfahrens. I m Gewände der Systemtheorie stellen sich diese Prinzipien wie folgt dar: Soweit Entscheidungsalternativen — vor allem hinsichtlich der tatsächlichen Entscheidungsprämissen — offenbleiben, können die Beteiligten daran mitarbeiten, die eine oder andere Alternative zu eliminieren (S. 73 f.). Übernommene Rollen (S. 91 f.) und geschehene Darstellungen (S. 94) verpflichten zu Kontinuität. Die Rolle des Richters w i r d von seinen anderen sozialen Rollen (etwa als Corpsbruder oder Glaubensgenosse) ausdifferenziert (S. 64), wie überhaupt die — in einem komplizierten Sozialsystem unentbehrliche — Rollendifferenzierung zu einer Rollendistanz führt. Diese hindert daran, Rollenerwartungen des einen Bereichs (ζ. B. der Religion) ohne weiteres auf einen anderen zu übertragen, sichert also eine systemspezifische Regulierung (S. 95 f.). Dazu k o m m t die Öffentlichkeit des Verfahrens, damit auch Unbeteiligte zu der Überzeugung gelangen können, „daß alles m i t rechten Dingen zugeht, daß in ernsthafter, aufrichtiger und angestrengter Bemühung Wahrheit und Recht ermittelt werden" (S. 123). I n dieser Weise durch verbindliche rechtliche Prämissen und Verfahrensstrukturen gesichert, gelangt man i m Gerichtsverfahren zu einer Spezifizierung und Kanalisierung sozialer Konflikte: M a n verlagert sie auf eine verbale Ebene,

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Kap. 6: Legitimation durch Verfahren?

koordiniert das Verhalten durch Regeln, verhindert ein existentielles Engagement der Beteiligten und ermöglicht so die Aufrechterhaltung weiteren gesellschaftlichen Zusammenlebens. Kurz, man ersetzt die Selbsthilfe, die das soziale System gefährden würde, durch eine institutionalisierte Regelung von Konflikten (S. 100 ff.). Wieder erscheint neben den Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit auch die Befriedungsfunktion als Legitimationsgrund: Der i m Prozeß Unterlegene w i r d i n seiner Position isoliert (S. 120). Er kann nach dem Verfahren nicht mehr die gleichen Erwartungen haben wie zuvor. Das Verfahren hat ihn zur Räson gebracht, d. h. zu der Einsicht, daß seine Auffassung nicht durchsetzbar ist (S. 111 f.). Er muß seine Rechtserwartungen umstrukturieren (S. 119). A u f diesem Wege führt das Verfahren zu einer systemerhaltenden Zersplitterung und Absorption von Protesten (S. 116). Lassen sich aber auf diese Weise inhaltliche Fragen nach Gerechtigkeit ganz aus dem Gerichtsverfahren heraushalten? Gewiß steckt ein beträchtlicher T e i l der Gerechtigkeitsproblematik schon in den v o m Richter als verbindlich hinzunehmenden gesetzlichen Vorentscheidungen (auf die noch einzugehen ist). U n d i n der Tat gewinnt das gerichtliche Verfahren einen T e i l seiner Legitimität auch durch Prinzipien der Verfahrensgerechtigkeit und durch seine Befriedungsfunktion. Aber ist das alles? Es gehört heute zu den Binsenwahrheiten der juristischen Methodenlehre, daß das Gesetz die rechtlichen Prämissen der richterlichen Entscheidung nicht exakt und damit alternativenlos vorprogrammiert. Dem Richter bleibt deshalb die M ö g lichkeit und die Last, diese Prämissen selber innerhalb eines bestimmten Spielraums inhaltlich näher zu präzisieren. M a n weiß, daß die Gesetzesworte einen Bedeutungsspielraum haben, 8 innerhalb dessen der Richter die zutreffende Bedeutung auszuwählen hat. M a n weiß auch, daß diese Auswahl sich nicht nach exakten Regeln, sondern i m Wege einer mehr oder minder offenen, topischen, hermeneutischen Argumentation vollzieht. I n ihr spielt insbesondere der Typenvergleich eine Rolle, d. h. die Frage, ob der vorliegende, problematische Falltypus den zweifelsfrei unter die N o r m subsumierbaren Falltypen gleichzubewerten ist. 9 Gewiß bietet auch für solche Wertungen mitunter der gesetzliche Kontext einen A n h a l t ; 1 0 auch derartige Entscheidungen können also wenigstens in gewissen Hinsichten gesetzlich „vorprogrammiert" sein. I n vielen Fällen läßt aber das Gesetz Wertungsfragen offen. A n diesen Punkten darf der Richter aber keine willkürliche Dezision treffen. E i n System könnte nicht m i t genereller Anerkennung, also nicht einmal mit s Dazu unten Kap. 35 I; ferner etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 268 ff. 9 Dazu unten Kap. 37 I I 3. Dazu unten Kap. 33 I 2; Larenz (Fn. 8), S. 134 ff.

III. Die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen

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pauschalem Konsens rechnen, wenn es den Richtern grundsätzlich freistellte, solche Wertungsfragen nach W i l l k ü r oder auch kurzerhand aus ihrer höchstpersönlichen, vielleicht weltanschaulich gebundenen Wertperspektive zu entscheiden. A u c h der Richter sieht sich, wie jeder, der als Repräsentant dieser Gemeinschaft handelt, der generellen Erwartung ausgesetzt, daß er sich, wo immer möglich, an den i n der Gemeinschaft mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen orientiere, also die Basis größtmöglicher Akzeptanz in der Wertung suche. Das heißt aber: Er muß jenes Maß inter subjektiver Einigkeit ausschöpfen, das in Gerechtigkeitsfragen erreichbar ist. Daß inhaltliche Stellungnahmen zur Gerechtigkeit in die richterliche Entscheidung einzubeziehen sind, w i r d vielleicht noch augenfälliger in der Lückenproblematik, zumal dort, w o Wertungslücken i m Recht festzustellen und auszufüllen sind. V o n solchen Wertungslücken sprechen w i r dann, wenn das positive Recht zwar seinem Wortlaut nach ohne Ergänzung widerspruchsfrei anwendbar wäre, wenn aber der bloße Gesetzestext zu Ergebnissen führt, die dem herrschenden Rechtsgefühl i n hohem Maße widersprechen. Hier übt die Jurisprudenz „produktive K r i t i k " am Gesetz und ergänzt es. 1 1 I n dieser Weise hat man ζ. B. i m Katalog der schuldrechtlichen Anspruchstatbestände des Bürgerlichen Gesetzbuches eine Rechtsgrundlage für den Anspruch aus positiver Vertragsverletzung vermißt und sie i m Wege der Analogie eingeführt. Eine solche Ergänzungsbedürftigkeit des Gesetzes läßt sich nicht durch bloße Verfahrensstrukturen offenlegen und beheben. Insbesondere bieten diese kein Kriterium, die richtige W a h l zwischen Analogie und Umkehrschluß zu treffen, vielmehr drängt sich auch hier eine Frage der Gleichbewertung in die richterlichen Erwägungen. 1 2 Gewiß kann nicht jede dieser rechtlichen Wertungen v o m Konsens der Rechtsgemeinschaft getragen sein. I n einer kompliziert gewordenen Gesellschaft läßt sich nicht jede richterliche Rechtsfortbildung auf einen „tacitus consensus omn i u m " gründen, wie das etwa dem Ideal der Historischen Rechtsschule entspräche. Je verwickelter eine Rechtsordnung wird, je mehr dem Volke das Gewirr der rechtlichen Normenordnung zu einem Buch m i t sieben Siegeln wird, desto mehr liegt auch die Rechtsfortbildung außerhalb des Blickfeldes und damit einer aktuellen B i l l i g u n g der Rechtsgemeinschaft, und desto weniger läßt sich auch für den Bereich der Rechtsfortbildung das staatliche Leben als ein Plebiszit deuten, „das sich jeden Tag wiederholt". 1 3 A l l das enthebt aber den Richter nicht der Frage nach inhaltlichen Kriterien der Gerechtigkeit und nicht der Last, alle i h m erreichbaren Anhaltspunkte für die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen aufzusuchen, u m seine Entscheidung daran zu orientieren. Solche Anhaltspunkte bieten nicht nur die GerechtigkeitsVorstellungen, die i m überkommenen

n Dazu unten Kap. 33 II. 12 Dazu unten Kap. 26 II, 33 I I 3. 13 Vgl. R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 136.

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Kap. 6: Legitimation durch Verfahren?

Recht und i n den Grundsätzen der Rechtsprechung ihren Ausdruck gefunden haben, sondern auch die Verkehrssitte, das Gefüge der Familien und die anderen lebendig gewachsenen Institutionen des sozialen Lebens, weil und sofern diese mehrheitlich gebilligte Ordnungsstrukturen sind. 1 4 M a n w i r d zugeben, daß diese Suche nach Konsens oft Fragen offen läßt. Die gefundenen Indizien führen häufig nur zu bruchstückhaften, meist auf typische Lebensvorgänge gemünzten Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese fügen sich auch nicht zu einer harmonischen Synthese zusammen, sondern stehen nicht selten unvermittelt, j a in einem Gegensatz nebeneinander. Aber die Einsicht, daß die Suche nach Konsens in Gerechtigkeitsfragen auf Grenzen stößt, läßt die Aufgabe bestehen, Rückhalt an so viel Konsens wie möglich zu suchen. Eine Judikatur, die sich nicht i m einzelnen ständig um diesen Rückhalt bemühen wollte, würde bald auch jene generelle Zustimmung, jenen pauschalen Konsens verlieren, auf den Luhmann die Legitimität des Systems gründen w i l l . Wenn man das aber zugibt (vgl. Luhmann, S. 122 f.), dann läßt sich das Bemühen um konsensfähige inhaltliche Einsichten in Gerechtigkeitsfragen nicht aus der Legitimationsproblematik ausklammern.

I V . Die Legitimation gesetzgebender Akte Durch die Gesetzgebung werden in weitem Umfang die rechtlichen Prämissen der richterlichen Entscheidung aufgestellt. Das positive Recht enthält programmierende Entscheidungen. Es besteht aus Rechtsnormen, die durch A k t e des Gesetzgebungsorgans in Geltung und außer Kraft gesetzt werden können. Die gesellschaftlichen Wertungen, Normen und Verhaltenserwartungen werden durch Entscheidungsprozesse gefiltert, bevor sie Rechtsgeltung erlangen (S. 141). A u f diese Weise w i r d die Komplexität der faktisch möglichen Verhaltensvarianten auf die rechtlich erlaubten oder gebotenen Varianten reduziert (S. 143). Jene Dispositionsmacht über den Bestand verbindlicher Normen und damit die Positivität des Rechts ist unter komplexen und variablen Lebensbedingungen unentbehrlich (S. 144). Luhmann interpretiert das als Verlust des Naturrechts, der durch Verfahrensrecht ausgeglichen werde (S. 148). Aber auch hier melden sich Zweifel. Gewiß: Verlust des Naturrechts, soweit es sich um den Glauben an allgemeingültige und unveränderliche Prinzipien der rechtlichen Gemeinschaftsordnung handelt. Aber muß das auch den Verzicht auf jedes Bemühen u m inhaltsbestimmte Gerechtigkeit bedeuten? Ist deshalb schon jedes Streben nach konsensfähigen Lösungen inhaltlicher Gerechtigkeitsprobleme ersetzbar durch bloße Verfahrensstrukturen? Unbestritten spielen auch Verfahrensstrukturen eine wichtige Rolle bei der Herstellung einer verbindlichen Sozialordnung. Die Rechtsordnung hält Verfahi4 Dazu unten Kap. 33 I 2.

IV. Die Legitimation gesetzgebender Akte

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ren und Kompetenzen bereit, innerhalb deren Konflikte ausgetragen werden. Sie dient als Schema für eine spezifische Kanalisierung und Koordination der i n einer Gemeinschaft vorhandenen Interessen und Einflüsse. Durch Vermittlung des Gesetzgebungsverfahrens führen diese zum Erlaß von Rechtsnormen und damit zu einem Gefüge rechtlicher Verhaltensnormen, deren Einhaltung durch organisiertes staatliches Handeln gewährleistet ist. Verfahrensstrukturen allein sichern einem System aber nicht seine Legitimität, d. h. einen Grundkonsens, ein „generalisiertes Systemvertrauen" (S. 193). Luhmann müßte das aber von seinem Ansatz aus konsequenterweise annehmen. U n d i n der Tat sucht er den Legitimitätsgrund nicht in irgendwelchen „Zielformeln für gute Gesetzgebung — etwa Herstellung gerechter, richtiger, alle überzeugender Gesetze, Förderung des Gemeinwohls oder des größtmöglichen Glücks möglichst vieler" (S. 181). Für ihn kann folgerichtigerweise der Legitimationsgrund nur i n der verfahrensmäßigen Form liegen, in der die gesetzgeberische Entscheidung getroffen wird: Jede Stimme zählt, niemandes Meinung w i r d a priori für unerheblich erklärt, die Konsenschancen werden variabel gehalten (S. 196 f.). Aber kann dieses Offenhalten der Chancen nicht gerade deshalb und nur deshalb auf Konsens rechnen, weil sich damit die Hoffnung verbindet, daß man in ständiger, chancengleicher Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden Interessen und Anschauungen einem optimalen und billigenswerten Kompromiß am nächsten komme? A u c h ein anderes „Verfahrensprinzip" ist mit Gerechtigkeitsfragen befrachtet: Der gesetzgeberische Entscheidungsspielraum kann genützt werden, solche Entscheidungen zu finden, die geeignet sind, politische Unterstützung zu erhalten und zu vermehren, u m so die Entscheidungspraxis i m großen und ganzen durch Konsens zu legitimieren (S. 163,181): Schon i n den einzelnen Gesetzgebungsverfahren stellt sich die Aufgabe, Interessenkonflikte gerecht zu lösen. Politische Unterstützung der Rechtsgemeinschaft erhält der Gesetzgeber nicht für Dezisionen, die nur durch faktische soziale Einflüsse, formale Operationsregeln und systemimmanente Konsequenz bestimmt sind: M a n erwartet, daß er die kollidierenden Interessen richtig gegeneinander abwägt. Den Maßstab dafür kann er nicht in einer bloßen Verfahrensweise, w o h l aber in Gerechtigkeitsvorstellungen finden, über die in der Gemeinschaft mehrheitliche Übereinstimmung besteht. Darin, daß die politischen Organe sich auch in den einzelnen Entscheidungen an der öffentlichen Meinung zu orientieren haben, steckt ein wichtiges Stück Demokratie. Solcher Rückhalt an der öffentlichen Meinung ist auch realpolitisch relevant: Regierung und Parlamentsmehrheit bekommen in den nächsten Wahlen die Quittung für ihre Tätigkeit und sind dadurch veranlaßt, sich auch schon in ihren einzelnen Maßnahmen an der großen Linie der öffentlichen Meinung zu orientieren, 1 5 die ihrerseits durchaus kein bloßes Produkt positivrechtlicher „Selbstprogrammierung" (Autopoiesis) ist. is Dazu oben Kap. 5 VI.

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Kap. 6: Legitimation durch Verfahren?

N u n liegt freilich die Gesetzgebung — ebenso wie die richterliche Rechtsfortbildung — weitgehend außerhalb des Gesichtskreises der meisten Bürger; deren Informationsstand und Engagement in Sachen der Gesetzgebung sind oft gering (S. 191) — solange ihre Aufmerksamkeit nicht geweckt wird. Doch darf die kritische Kontrolle nicht übersehen werden, m i t der die parlamentarische Opposition und die Massenkommunikationsmittel die Gesetzgebung überwachen: Sie warten geradezu darauf, Gesetze aufzugreifen, die sich in Widerspruch zu herrschenden politischen Vorstellungen oder zum Rechtsempfinden der Mehrheit setzen, und sie in das öffentliche Bewußtsein zu rücken. Gewiß bleiben auch i m Bereich der Gesetzgebung Fragen offen, wenn nach inhaltlichem Konsens über die richtige Entscheidung gesucht wird. Gleichwohl besteht die Aufgabe fort, Rückhalt an so viel inhaltlichem Konsens wie möglich zu suchen. Nur wenn dieses Bemühen i m großen und ganzen schon i n den einzelnen Gesetzgebungsakten sichtbar wird, darf das Gesamtsystem und die jeweilige Parlamentsmehrheit auch auf jenen Grundkonsens rechnen, der, wie Luhmann meint, das staatliche Handeln legitimiert.

Kapitel

7

Das Gewissen als Legitimationsgrundlage I . Die subjektive Geltungsgrundlage ethischer Einsichten 1. Das Gewissen als letztzugängliche

Grundlage

Bestimmungsgründe richtigen Handelns können entweder die eigenen Gewissensentscheidungen des Handelnden sein oder sie können aus anderen Quellen stammen, i m Sprachgebrauch Kants also „heteronome" Bestimmungsgründe sein. Das Vertrauen i n die Tragfähigkeit heteronomer Grundlagen richtigen Handelns war i m Zeitalter Kants zutiefst erschüttert: Hobbes bekundete vor dem Hintergrund der konfessionellen Bürgerkriege se in tiefes Mißtrauen gegen die „zwitterhaften Lehrsätze der Moralphilosophie" 1 , Lessing brachte i n der „Ringfabel" die Skepsis gegen den Alleingeltungsanspruch von Religionen zum Ausdruck und Kant erklärte das moralische Bewußtsein des Einzelnen für die letzte Instanz, zu der unser Bemühen um moralische Einsicht vordringen kann: „ A l s o drückt das moralische Gesetz nichts anderes aus, als die Autonomie der reinen praktischen Vernunft". 2 Hierbei ist es eine zweitrangige Frage, ob man das moralische Bewußtsein insgesamt als „Gewissen" bezeichnet oder ob man verschiedene Komponenten dieses Bewußtseins unterscheidet und in Beziehung zueinander setzt, wie es Kant tat, wenn er etwa sagte: Der praktische Verstand gebe die Regel; die innere Zurechnung einer Tat, als eines unter dem Gesetz stehenden Falles, gehöre zur Urteilskraft; auf diese Beurteilung folge ein Vernunftschluß, der wie ein Gerichtsspruch die Handlung verurteile oder den Handelnden losspreche. Dieses Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes i m Menschen, vor welchem die Gedanken einander verklagen oder entschuldigen, sei das Gewissen. 3 Das Gewissen sei m i t h i n „die sich selbst richtende moralische Urteilskraft". 4 Anders ausgedrückt: „Gewissen ist die dem Menschen . . . seine P f l i c h t . . . vorhaltende praktische Vernunft". 5 1 Dazu oben Kap. 5 II. 2 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, S. 59. 3 I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, 1797, § 13; zum Bild der „richtenden Vernunft" als grundlegendem Paradigma in der Philosophie Kants vgl. F. Kaulbach, Vernunft und Konfliktlösung, Universitas 1983, S. 277 ff. 4 /. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 2. Aufl. 1794, S.

288.

5 Kant (Fn. 2), S. 37 f., vgl. auch S. 98 f. 7 Zippelius

98

Kap. 7: Das Gewissen als Legitimationsgrundlage

W i e auch immer man die Bestandteile des moralischen Bewußtseins näher gegeneinander abgrenzen mag, entscheidend ist, daß unser Bemühen um ethische Einsichten nicht hinter dieses Bewußtsein zurückgreifen, nicht durch unsere Bewußtseinsinhalte hindurchgreifen kann. M a g auch vielleicht ein objektives Reich „an sich" gültiger Werte und moralischer Gesetze denkbar sein, w i r könnten von ihnen immer nur wissen, was unser Bewußtsein uns von ihnen vermittelt. Also bleibt unser moralisches Bewußtsein die letzte Instanz, zu der unser Bemühen um ethische Einsichten vorzudringen vermag. Dieser „phänomenologische Vorbehalt" bedeutet also, daß ein „ D u r c h g r i f f ' durch unsere Erscheinungswelt auf „an sich" bestehende Dinge, und ebenso ein „ D u r c h g r i f f ' durch unser Wertempfinden auf „an sich" bestehende Werte nicht gelingen kann. 6 Das, was der Einzelne (nach bestmöglichem Vernunftgebrauch) für gut und b i l l i g befindet, kurz, das individuelle Gewissen, bildet also die letzte Grundlage, zu der unser Bemühen um moralische Einsicht vordringen kann. Dieser Rückgang auf die subjektive Grundlage der moralischen Einsicht bedeutet aber nur, daß jedermanns Gewissen der oberste Richter darüber ist, was er für gut und b i l l i g erkennt. Es bedeutet aber nicht, daß jeder „autonom" auch die Inhalte seiner moralischen Einsichten herstellen müsse; vielmehr gibt es auch ein billigendes „Zugreifen" auf Vorstellungen und Normen, die dem individuellen Gewissen zur Prüfung vorgelegt werden. So findet sich bei Kant ζ. B. der Gedanke, daß auch Rechtsnormen (neben ihrer Rechtsgeltung) zugleich auch moralische Geltung erlangen können, wenn sie aus Gewissensgründen gutgeheißen und aus bloßem Pflichtbewußtsein befolgt werden. 7 A l s „Rechtsgefühl" 8 soll i m folgenden bezeichnet werden: das Gewissen i n dem hier beschriebenen Sinn, also das persönliche „Für-richtig-halten", sofern es sich auf Gerechtigkeitsfragen bezieht. Wesentlich hieran ist also, daß die Erkenntnisquelle, hinter die man nicht zurückgehen kann, i m subjektiven Bewußtsein der Billigungs- oder MißbilligungsWürdigkeit gesucht wird, ähnlich wie auch die sinnlich wahrnehmbare Erfahrungswelt ihre (oder zum mindesten eine) Erkenntnisquelle letztlich i n subjektiven Sinneseindrücken hat. 2. Jeder eine gleichzuachtende

moralische

Instanz

Wenn das moralische Urteil des Einzelnen die letzte uns zugängliche Geltungsgrundlage unserer ethischen Einsichten ist, so heißt das zugleich, daß jeder eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz ist. Für den Bereich des Staates und des Rechts führt die Vorstellung von der gleichberechtigten moralischen Kompetenz aller zu dem demokratischen Anspruch auf Mitbestimmung und 6 Dazu unten Kap. 9 I I 1. 7 /. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 2. Aufl. 1798, S. 16. » Über die verschiedenen Varianten dieses Begriffs vgl. etwa E. Riezler, Das Rechtsgefühl, 3. Aufl. 1969, S. 3 ff.

II. Die Überwindung der Subjektivität im Konsens

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Mitentscheidung aller in einem freien Wettbewerb der Überzeugungen, auch über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit. 9 D e m ethischen Autonomiegedanken Kants korrespondiert also für den politischen Bereich die Idee der Demokratie, also der Leitgedanke Rousseaus, daß auch in der politischen Gemeinschaft jeder „nur sich selbst gehorcht" und daß „das V o l k , das den Gesetzen unterworfen ist, auch ihr Urheber" sein m u ß . 1 0 I n unseren Tagen hat Habermas das so ausgedrückt, daß die allgemein verbindlichen Normen einer Gesellschaft ihre legitime Grundlage i n einem „herrschaftsfreien Dialog aller mit allen" finden sollten. 1 1

I I . Die Überwindung der Subjektivität i m Konsens 1. Der Konsens als allgemeines

Schema der Vergewisserung

Wenn die Gültigkeit einer Einsicht eine subjektive Grundlage hat, so schließt das nicht aus, daß die Subjektivität überwunden werden kann: indem man sich m i t anderen über die Übereinstimmung der subjektiven Einsichten verständigt und vergewissert. Dabei ist nicht zwingend vorausgesetzt, daß diese Überwindung der Subjektivität den Grad der „notwendigen Allgemeingültigkeit" i m Sinne K a n t s 1 2 erreicht; vielmehr kann und darf m i t der Möglichkeit gerechnet werden, daß nur ein geringerer Grad von intersubjektiver Übereinstimmung erzielt w i r d . 1 3 Daß die Subjektivität i n der Verständigung mit anderen Menschen überwunden werde, dieser Gedanke ist — ungeachtet der unterstellten Erkenntnistheorie — immer wieder zur Grundlage menschlicher Weltorientierung gemacht worden. So findet sich bei Schleiermacher die Vorstellung, daß unser Wissen sich i n der Übereinstimmung der Denkenden untereinander erweisen müsse, und diese Übereinstimmung könne nur durch einen „Austausch des Bewußtseins" ans Licht gebracht werden. 1 4 L u d w i g Feuerbach schrieb, „nicht allein, nur selbander kommt man zu Begriffen, zur Vernunft überhaupt. . . Was ich allein sehe, daran zweifle ich; was der andere auch sieht, das erst ist g e w i ß " . 1 5 In der Philosophie von Jaspers bildet gleichfalls die Kommunikation mit anderen Menschen die Grundlage für die Vergewisserung des Menschen. 1 6 U n d auch für Bollnow bedeutet die Objektivität i n den Geisteswissenschaften nichts anderes als „ÜberSubjektivität", 9 Dazu auch unten Kap. 25 I 4. 10 Dazu oben Kap. 5 IV. 11 J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 125, 148 f., 153; ders., Technik und Wissenschaft als Ideologie, 8. Aufl. 1976, S. 164; dazu auch unten Kap. 16 II. ι2 /. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, 1783, §§ 18, 19. ι 3 Dazu unten Kap. 33 Einl. 14 F. Schleiermacher, Dialektik, hrsg. v. R. Odebrecht, 1942/1976, S. 154 ff., 371 ff., 458. 15 L. Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft, 1843 (ed. Suhrkamp, 1975), §41 (§42). 16 κ Jaspers, Einführung in die Philosophie, 20. Aufl. 1980, S. 25 ff., 119 f. 7*

100

Kap. 7: Das Gewissen als Legitimationsgrundlage

nämlich die „Überwindung der Subjektivität i n der Verständigung m i t einem anderen Menschen. 1 7

2. Die Konsensfähigkeit

von Gerechtigkeitsvorstellungen

Für die Rechtsphilosophie w i r d die Frage der Konsensfähigkeit von Entscheidungen, die auf das Rechtsgewissen gegründet sind, zu einem zentralen Thema; denn auf Gerechtigkeitsvorstellungen, die ihre Grundlage i n subjektiver Billigung oder M i ß b i l l i g u n g der Bürger haben, läßt sich eine Gemeinschaftsordnung nur dann gründen, wenn es gelingt, die Subjektivität zu überwinden und i n Fragen der Gerechtigkeit wenigstens zu einem mehrheitlichen Konsens zu gelangen. Die Grundlagen und Grenzen einer Konsensbildung i n Fragen des Rechtsempfindens wurden andernorts untersucht. 1 8 Das dort Gesagte sei hier nur andeutungsweise wiederholt: Wesentlich ist, daß Erfahrungen des Rechtsgefühls i n gewissem Umfang nachvollziehbar sind und daß die Konsensbildung einer — begrenzten — Rationalisierung und „Abklärung" zugänglich ist. A u f die Prüfung der Konsensfähigkeit einer Entscheidung zielt hierbei das Bemühen, diese an vergleichbaren Vorentscheidungen zu orientieren und sie auch darüber hinaus i n den „rechtsethischen Kontext", also i n die Gerechtigkeitsvorstellungen der gewachsenen Rechtsordnung einzupassen. A u f diese Weise vergewissert man sich zunächst darüber, ob die Entscheidung innerhalb der Fachtradition konsensfähig ist. Zugleich bleiben die Entscheidungsinstanzen i n der repräsentativen Demokratie an die Akzeptanz, also die Konsensbereitschaft der Mehrheit der Bevölkerung rückgebunden. So findet sich i n der repräsentativen Demokratie ein Zusammenspiel von staatsorganschaftlichem Handeln und öffentlicher Meinung, das aufs große Ganze darauf angelegt ist, i n Prozessen rationalen und distanzierten Erwägens Rechtsgrundsätze hervorzubringen, die nicht nur innerhalb der „Fachtradition", sondern auch für die Rechtsgemeinschaft insgesamt konsensfähig sind. Andererseits sind i n den meisten Gerechtigkeitsfragen die Meinungsverschiedenheiten nicht restlos zu überwinden, so daß regelmäßig nicht ausnahmslos jeder den gefundenen Lösungen eines Gerechtigkeitsproblems zustimmt. Einer Einigung sind insbesondere dadurch Grenzen gesetzt, daß Gerechtigkeitsentscheidungen regelmäßig Interessenabwägungen einschließen, daß aber die Menschen gegenüber den verschiedenen Interessen unterschiedliche Präferenzen haben. 1 9 U m zu dem praktisch benötigten Bestand an verhaltensregelnden Normen zu gelangen, muß man es daher genügen lassen, daß diese Normen wenigstens für den überwiegenden T e i l der Rechtsgemeinschaft akzeptabel sind.

O. F. Bollnow, Die Objektivität der Geisteswissenschaften und die Frage nach dem Wesen der Wahrheit, Ztschr. für philosophische Forschung, 1962, S. 17 ff. is Dazu insbes. Kap. 1 I I I 1, 5 V, 9. 19 Dazu unten Kap. 9 I I 2.

. Die „Rückseite des Spiegels" Ungeachtet der Frage, ob Gerechtigkeitsvorstellungen, die dem Rechtsgewissen der meisten entsprechen, als ethische „Wahrheiten" gelten dürfen, 2 0 gibt es Gründe praktischer Legitimität, die es rechtfertigen, Gerechtigkeitsentscheidungen auf der Grundlage des breitestmöglichen Konsenses zu treffen. 2 1 Diese Gründe reichen aus und rechtfertigen es, die Gerechtigkeitsentscheidungen einer offenen Gesellschaft auf die gleichberechtigten Überzeugungen der Bürger und faute de mieux auf die breitestmögliche Übereinstimmung dieser Überzeugungen zu gründen. So könnte die Untersuchung unter dem Gesichtspunkt praktischer Legitimität hier abgebrochen werden.

I I I . Die „Rückseite des Spiegels" Gleichwohl drängt sich die Frage auf, was „hinter" den Gerechtigkeitsvorstellungen der Einzelnen steckt, ob und inwiefern sie i n der Natur des Menschen begründet oder durch die äußeren Umstände bedingt sind: angesichts des oft tiefgreifenden Wandels aber auch merkwürdiger Konstanten in den j e vorherrschenden sozialethischen Überzeugungen. 7. Angeborene

Verhaltens-

und Wertungsdispositionen

Unter dem Aspekt der Anthropologie steht i m Vordergrund des Interesses die Frage nach solchen Hintergründen des Rechtsempfindens, die i n der menschlichen Natur liegen, insbesondere nach den Grundbedürfnissen, die dieser entspringen und i m Recht ihre Befriedigung suchen. Als solche hat man insbesondere genannt: vitale Antriebe, wie den Nahrungs-, Geschlechts-, Pflege-, Macht- und Aggressionstrieb, aber auch sublimere Bedürfnisse, wie Neugierde, Schaffensdrang, Streben nach Persönlichkeitsentfaltung, Spieltrieb, vor allem aber auch Bedürfnisse nach Sicherheit und Freiheit, insbesondere nach Stetigkeit, Gewährleistung körperlicher und geistiger Integrität, Schutz der Familienbeziehungen und des Eigentums. 2 2 Eine Vertiefung fanden diese Gedanken durch die moderne Biologie, die unsere sozialen Verhaltensmuster aus ihrer lebens- und arterhaltenden Funktion deutet. 2 3 Die Erforschung der biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens der Tiere legt es nahe, daß auch in der Biologie des Menschen bestimmte Verhaltensdispositionen angelegt sind, die wesentlichen A n t e i l daran haben, das Sozialverhalten zu regulieren. Hier lag für Konrad Lorenz „die Rückseite des Spiegels". 2 4 Für 20 Dazu unten Kap. 10. 21 Dazu unten Kap. 9 I I 3. 22 E. J. Lampe, Rechtsanthropologie, Bd. I, 1970, S. 201 ff.; E. Bodenheimer, Philosophical Anthropology and the Law, California Law Review 1971, S. 653 ff. 23 Ausführlicher dazu unten Kap. 8. 24 So der bekannte Titel seines 1973 erschienenen Werkes.

102

Kap. 7: Das Gewissen als Legitimationsgrundlage

diese Thematik führte E. O. W i l s o n den anschaulichen Begriff einer Soziobiologie e i n . 2 5 Es steht zu erwarten, daß solche angeborenen Verhaltensdispositionen subjektiv als Wertungsdispositionen in Erscheinung treten. I n diesen lassen sich also wenigstens bruchstückhafte Elemente unserer Moral und damit auch unseres „Rechtsgefühls" vermuten. Welche Verhaltensdispositionen i n der natürlichen Anlage des Menschen stekken, bleibt freilich weithin unbestimmt. Immerhin finden w i r weitverbreitete Strukturen menschlichen Zusammenlebens, ζ. B. dauerhafte Bindungen der Geschlechter i n verschiedenartigen Eheformen, eine Beschützerhaltung gegenüber den Jungen, die Respektierung wenigstens eines minimalen privaten Besitzes, das Akzeptieren mindestens informeller und zeitweiliger Führungsstrukturen. Der hohe Verbreitungsgrad solcher Verhaltens strukturen in den bekannten Kulturen, ferner die Tatsache, daß sie selbst gegenüber ideologischen Programmen „durchschlagen" und die Parallelen zu tierischen Verhaltensmustern legen es nahe, daß hier von der Biologie her manches vorgegeben ist. A u c h dieser Versuch, die Wertungsdispositionen zu „hinterfragen", läßt aber vieles offen. V o r allem fügen sich die biologisch vorgegebenen Verhaltensneigungen nicht zu einer kompletten und funktionsfähigen Verhaltensordnung zusammen. Vielmehr bedürfen die fragmentarischen naturbedingten Motivationen einer kulturellen „Überformung", insbesondere einer Ergänzung durch kulturell geschaffene Institutionen und oft auch einer normativen Korrektur. 2 6 2. Erlernte

Verhaltens-

und Wertungsdispositionen

A u c h eine kulturwissenschaftliche „Hinterfragung" vermag das Rechtsempfinden in seiner Eigenart nicht vollständig zu erklären. V o n diesem Ansatz aus w i r d man darauf hinweisen, daß das individuelle Wertempfinden auch ein Ergebnis überlieferter kultureller Vorstellungen ist, daß Suggestion und Tradition eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer konkreten Kultur und bei der Prägung des individuellen Wertbewußtseins spielen. Die Menschen wachsen i n die Verhaltensmuster und Wertungen ihres angestammten Lebensbereiches hinein; diese werden hierdurch zu Selbstverständlichkeiten ihres Verhaltens und Empfindens. 2 7 Der Einzelne verinnerlicht weitgehend die Erwartungen, denen er sich i n seiner sozialen U m w e l t gegenübersieht. Aber das erklärt weder die Ursprünge der „traditionellen" Wertvorstellungen, noch deren ständige Wandlungen, die sich immer wieder i n Auseinandersetzungen des individuellen Gerechtigkeitsempfindens mit den Traditionen vollziehen:

25 E. O. Wilson, Sociobiology, 1975. 26 Näher zu all dem unten Kap. 8. 27 Dazu auch oben Kap. 1 I I 1 a.

. Die „Rückseite des Spiegels" Fragt man nach den Ursprüngen traditioneller Verhaltensregeln, so stößt man zunächst auf Gewohnheiten des Zusammenlebens, die sich, zumal auf frühen Entwicklungsstufen, mehr oder minder „zufällig" ergeben können. Verhaltensregeln können auch den Lehren von Religionsstiftern oder Philosophen entsprungen sein, wie in den Fällen der buddhistischen, der konfuzianischen, der christlichen und der mohammedanischen Moral. A u c h das gesetzte Recht stellt Verhaltensregeln auf und kann damit auch das Rechtsgefühl „erziehen". I n diesen Fällen, insbesondere bei der Entstehung von Gewohnheiten des Zusammenlebens und bei der Schaffung positiven Rechts, werden oft auch Machtverhältnisse, Machtstreben und andere Interessen eine Rolle spielen; dies w i r d aber regelmäßig i m Zusammenhang und oft i m Widerstreit m i t dem Bemühen um eine gerechte und billige Ordnung geschehen; vielfach werden jene Faktoren nur als Randbedingungen des Gerechtigkeitsempfindens wirken. Dieses ist also selbst ein Element der Traditionsbildung und läßt sich durch jene Faktoren nicht „wegerklären". A u c h ist eine einmal entstandene „traditionelle" kollektive Moral fortwährend der Prüfung und K r i t i k individuellen Gewissens ausgesetzt und w i r d auch dadurch i m Wandel gehalten. A n den revolutionären Wendepunkten der politischen und moralischen Entwicklung findet sich regelmäßig ein gehäuftes Aufbegehren individuellen Gewissens gegen die Tradition. Kurz, die Erwartungshaltungen der sozialen U m w e l t werden nicht durchwegs ungeprüft übernommen. Das „ursprüngliche", kritische und bewegende Moment der kollektiven M o r a l kann seinerseits nicht „kulturwissenschaftlich" v o l l erklärt werden. I n der Gesamtentwicklung nicht nur der natürlichen, sondern auch der kulturell gewachsenen Bestandteile menschlicher Verhaltensordnungen hat vermutlich auch deren „Funktionsfähigkeit" eine Rolle gespielt. So erscheint es plausibel, daß das Schema der Selektion nicht nur auf die vererbten Verhaltensdispositionen anwendbar ist, sondern sich auch auf die kulturell entstandenen Verhaltensmuster und Werthaltungen erstreckt. Das bedeutet, daß sich i m großen und ganzen w o h l solche Moral- und Verhaltensregeln auf Dauer durchgesetzt haben, die den Gruppen, die sie befolgten, ( i m Vergleich zu anderen Gruppen) bessere Überlebensund Vermehrungschancen boten. 2 8

28 F. A.v.Hayek, Die drei Quellen der menschlichen Werte, 1979, S. 11 f., 16 f., 20 ff., 31; ders., Die überschätzte Vernunft, in: J. Riedl / F. Kreuzer, Evolution und Menschenbild, 1983, S. 166, 173 f.

Kapitel

8

Die „Rückseite des Spiegels" — Erträge der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft I . Der anthropologische Ansatz Unter den Fragestellungen, m i t denen man sich der Erforschung des Rechts und der staatlichen Ordnung zuwenden kann, erscheint immer noch jene nach der Natur des Menschen als fruchtbar. Ihre vielleicht einprägsamste Fassung erhielt diese Fragestellung durch Thomas Hobbes: Aus „den Elementen, aus denen eine Sache sich bildet, w i r d sie auch am besten erkannt. Schon bei einer Uhr, die sich selbst bewegt, und bei jeder etwas verwickelten Maschine kann man die Wirksamkeit der einzelnen Teile und Räder nicht verstehen, wenn sie nicht auseinandergenommen werden und die Materie, die Gestalt und die Bewegung jedes Teiles für sich betrachtet wird. Ebenso muß bei der Ermittlung des Rechtes des Staates und der Pflichten der Bürger der Staat zwar nicht aufgelöst, aber doch gleichsam als aufgelöst betrachtet werden, d. h. es muß richtig erkannt werden, wie die menschliche Natur geartet ist, wie weit sie zur Bildung des Staates geeignet ist oder nicht, und wie die Menschen sich zusammentun müssen, wenn sie eine Einheit werden w o l l e n . " 1 Diese Methode stößt indessen auf Vorbehalte: Eine Sozialordnung ist nicht aus säuberlich isolierbaren und genau bestimmbaren Elementen konstruierbar. So hat man gegen den methodologischen Individualismus eingewandt, der Mensch sei von vornherein als ein Gruppenwesen zu begreifen, so daß jede Zurückführung geschichtlich-sozialen Geschehens auf das Handeln isoliert vorgestellter Individuen zu einem verzerrten B i l d führe. 2 V o r allem hat die Rechtsanthropologie den Menschen nicht nur als Natur-, sondern auch als Kulturwesen ins Auge zu fassen. Sie hat also den B l i c k auch auf die Handlungs- und Gestaltungsspielräume zu richten, welche die Natur dem Menschen läßt. Vornehmlich geht es auch darum, was Menschen in diesen Spielräumen kulturhistorisch geschaffen haben und welche kulturellen und insbesondere moralischen Herausforderungen sich in diesen Spielräumen stellen. I n dieser Weise hat schon Kant der Anthropologie zwei Aufgaben zugewiesen: ι Th. Hobbes, De cive, 1642, Vorwort. Vgl. J. Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 1908, S. 92 ff. 2

II. Grundgegebenheiten der Soziobiologie

105

„Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll." 3 Diese Fragestellung rechnet also damit, daß die biologisch vorgegebenen Verhaltensdispositionen beim Menschen, anders als in einem Termitenstaat, sich nicht zu kompletten, starren Verhaltensprogrammen zusammenfügen, sondern nur als fragmentarische Verhaltensmotivationen wirksam werden, die nicht nur Freiräume lassen, sondern einer Ergänzung durch kulturell geschaffene Verhaltensordnungen (Institutionen) dringend bedürfen, wenn ein geordnetes Zusammenleben i n einer komplexen Gemeinschaft überhaupt möglich werden soll. 4 M i t diesen Vorbehalten bleibt es aber dabei, daß das Recht an die Realitäten gebunden ist und daß die wichtigsten dieser Realitäten die physiche und psychische Ausstattung des Menschen ist.

I I . Grundgegebenheiten der Soziobiologie M i t diesem Vorverständnis und den daraus hervorgehenden Fragestellungen wendet die Rechtswissenschaft sich an die biologisch ausgerichtete Verhaltensforschung. Deren Interesse geht zwar primär dahin, Verhaltensmuster zu beschreiben, die das Zusammenleben der Tiere regulieren. Aber von ihren Forschungsergebnissen her fällt auch Licht auf die biologischen Vorgegebenheiten jener Verhaltensmuster, die das menschliche Zusammenleben ordnen. So definierte E. O. W i l s o n die Soziobiologie als „die systematische Erforschung der biologischen Grundlagen jeglicher Formen des Sozialverhaltens bei allen Arten von sozialen Organismen einschließlich des Menschen. Sie analysiert die biologischen Vorgänge, auf denen die Organisationen solcher Einheiten wie der Verband von Eltern und ihren Nachkommen, Termitenkolonien, Vogelscharen, Pavianhorden und Jäger- und Sammlerbanden beruht." 5 Für die Rechtsanthropologie ist es zunächst von Interesse, daß schon das Zusammenleben von Tieren durch eine Vielzahl von Verhaltensmustern reguliert ist. E i n sehr geraffter Überblick über die wichtigsten von der Ethologie beschriebenen Verhaltensmuster 6 könnte zu folgender Einteilung gelangen:

3 I.Kant, Anthropologie, 2. Aufl. 1800, Vorrede; vgl. auch W. E. Mühlmann, Geschichte der Anthropologie, 3. Aufl. 1984, S. 21; M. Landmann, Philosophische Anthropologie, 5. Aufl. 1982, S. 93, 122 f., 172 ff. 4 Vgl. ζ. Β. A. Gehlen, Der Mensch, 10. Aufl. 1974, Kap. 3 ff.; ders., Moral und Hypermoral, 3. Aufl. 1973, Kap. 7. 5 E. O. Wilson, Biologie als Schicksal, 1980, S. 6. 6 Eine griffige Übersicht bei F. H. Schmidt, Verhaltensforschung und Recht, 1982, S. 69-174.

106

Kap. 8: Die „Rückseite des Spiegels"

W i r finden Verhaltensschemata, die sich unmittelbar auf die Produktion und Aufzucht eines lebenstauglichen Nachwuchses auswirken: so den männlichen Auslesewettbewerb um die Weibchen, die Inzestbarrieren, den mütterlichen Schutz- und Pflegetrieb gegenüber den Jungen, bei rudelweise lebenden Tieren auch eine Aggressionshemmung und Schutzhaltung gegenüber den Jungen des eigenen Rudels, die vielfach den jungen „Verwandten", also der eigenen „Erbmasse" zugutekommt. Daneben gibt es „energiesparende" Verhaltensmuster, deren generelles Schema sich wie folgt umschreiben läßt: Bestimmte Positionen — der Besitz eines Reviers, der Besitz eines Weibchens, die Rangstellung innerhalb der Gruppe — werden ausgekämpft. Die einmal ausgekämpfte Position w i r d dann von den Konkurrenten bis auf weiteres respektiert. A u f diese Weise ist Vorsorge getroffen, daß der soziale Frieden nicht permanent in kräfteverzehrender Weise gestört, sondern nur in zeitlichen Abständen in Frage gestellt wird. Hinzu kommen andere konfliktsregelnde Mechanismen, insbesondere die verbreitete Tötungshemmung gegenüber Artgenossen. Lebensfördernde Verhaltensdispositionen gibt es auch außerhalb dieser Funktionsbereiche. So hat man bei herdenweise lebenden Tieren so subtile Verhaltensdispositionen festgestellt wie die Bereitschaft zur Respektierung der älteren Gruppenmitglieder, die lebenswichtige Erfahrungen gespeichert haben. 7 Als Erklärungshypothese dient für all diese Fälle das Darwinsche Gesetz: Es seien solche Verhaltensmuster — genauer: die dazugehörigen Verhaltensdispositionen — herausgezüchtet worden, die den Individuen (oder doch der Verwandtschaftsgruppe), die mit ihnen ausgestattet sind, einen Selektionsvorteil boten. Angesichts des von der Biologie bereitgestellten Materials entstehen aus der Sicht der Rechtswissenschaft und der Staatslehre vor allem zwei Fragen. Erstens: M i t welchen Konsequenzen können die biologischen Vorgegebenheiten für das Recht und insbesondere die Rechtspolitik von Bedeutung sein? Zweitens: Hinsichtlich welcher menschlichen Verhaltensmuster kann m i t welcher Wahrscheinlichkeit vermutet werden, daß sie durch ein biologisches Programm mitbestimmt sind? I I I . Mögliche Konsequenzen für das Recht 1. Gäbe es auch beim Menschen naturgegebene Verhaltensdispositionen, beispielsweise zu dauerhafter Paarbindung oder zur gegenseitigen Respektierung ι W. Wickler, Die Biologie der Zehn Gebote, 5. Aufl. 1981, S. 141 f. Auf die nützliche Funktion lebender „Erfahrungsspeicher" könnte auch noch ein anderer Umstand hinweisen: Das Primatengehirn hat sich, wie wir aus dem menschlichen Alltag wissen, offenbar dahin entwickelt, daß es Jugenderinnerungen am dauerhaftesten festhält, während die neueren Erfahrungen, die geringeren Seltenheitswert besitzen, vom alten Gehirn schneller vergessen werden.

III. Mögliche Konsequenzen für das Recht

107

eines „Reviers" oder auch zur Einfügung i n bestimmte Rangordnungen, so wären von vornherein alle Staatsideologien verfehlt, die den naturgegebenen Zustand menschlichen Lebens als „institutionenlos" annähmen und alle Ordnungen menschlichen Zusammenlebens als zivilisatorische Zumutungen gegenüber der naturgegebenen menschlichen Freiheit verstünden. 2. Wären bestimmte Verhaltens schemata in einem „biologischen Programm" des Menschen unwiderstehlich festgelegt und wäre die Modulierbarkeit des menschlichen Verhaltens hierdurch beschränkt, so wäre dadurch auch der Spielraum rechtlicher Regelungsmöglichkeiten begrenzt. A n die Verhaltensforschung richtet sich hier die Frage, ob sie solche Verhaltensbarrieren für das Primatenverhalten i m allgemeinen und für das menschliche Verhalten i m besonderen aufzeigen kann. 3. Aber auch soweit dem Menschen von Natur aus nicht starre Verhaltensprogramme, sondern nur mehr oder minder beherrschbare Verhaltensneigungen zu eigen sein sollten, wären diese jedenfalls für die Effizienz des Rechts von Bedeutung: Je mehr sich das Recht mit diesen vorgegebenen Verhaltensdispositionen in Einklang hielte, desto größer wäre die Wahrscheinlichkeit bereitwilligen Normengehorsams; Rechtsnormen hingegen, die sich zu diesen in Widerspruch setzten, hätten geringere Aussicht auf dauerhaften Gehorsam. 8 Das bedeutet aber nicht schon, daß das Recht sich stets völlig „ k o n f o r m " m i t den angeborenen Verhaltensneigungen zu halten habe. Verhaltensdispositionen, die unter den Lebensbedingungen wildlebender Kleingruppen überlebensfreundlich waren und für diese Situation herausgezüchtet wurden, können unter den Bedingungen einer urbanisierten Gemeinschaft dysfunktional sein. Z u denken ist etwa an eine starke Aggressionsbereitschaft oder an einen wenig gehemmten Fortpflanzungstrieb. Solche Verhaltensneigungen bedürfen einer kulturellen Überformung und Korrektur, 9 auf dem Gebiet des Rechts also einer normativen Gegensteuerung. Hier richtet sich an die Verhaltensforschung die Frage nach verwertbaren Erfahrungsaussagen über die Modulationsfähigkeit und eine sozialverträgliche Kanalisierbarkeit naturgegebener Verhaltensneigungen. 4. Die Frage nach angeborenen Verhaltensdispositionen interessiert den Juristen auch noch in anderer Hinsicht. Es liegt nahe, daß die biologischen Programme subjektiv als Triebe, Bedürfnisse, Hemmungen und Wertungsdispositionen zum Vorschein kommen. So würde das biologische Programm der Brutpflege sich etwa in der hohen Wertung der Mutterliebe zeigen, auch in der Neigung, m i t Abscheu zu reagieren, wenn eine Mutter ihr hilfloses K i n d mißhandelt oder verkommen läßt. Hier könnten möglicherweise bruchstückhafte Elemente unseres moralischen Empfindens und damit auch unseres Rechtsgefühls liegen, wenn8 M. Gruter, Die Bedeutung der Verhaltensforschung für die Rechtswissenschaft, 1976, S. 19. 9 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §§ 8 II, 19 IV.

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Kap. 8: Die „Rückseite des Spiegels"

gleich es sehr schwierig sein wird, in diesem Bereich der Wertungen zu unterscheiden, was angeboren und was nur kulturell tradierter Bestand 1 0 ist.

I V . Die Unsicherheit der Erfahrungsgrundlagen Welche Verhaltensdispositionen in der natürlichen Anlage des Menschen stekken, erscheint schwer zu bestimmen. So stellt sich die Frage, welche Umstände ein Indiz dafür sein können, daß bestimmte Verhaltensdispositionen i m biologischen Programm des Menschen liegen. 1. E i n bei allen Primaten und weit darüber hinaus durchgängig verbreitetes Verhaltensschema, wie den mütterlichen Schutz- und Pflegetrieb gegenüber den eigenen Jungen, dürfen w i r auch i m biologischen Programm des Menschen mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten. Hingegen w i r d es zur gewagten Annahme, daß Verhaltensdispositronen, die selbst bei Primaten nur selten angetroffen werden, dem Menschen angeboren seien. 2. Für das W i r k e n „natürlicher" Verhaltensneigungen spricht es auch, wenn bestimmte Sozialgefüge — sei es auch mit einigen Abwandlungen — i n allen oder fast allen Kulturen vorkommen, auch wenn diese nicht miteinander i n Berührung stehen. I n diesem Sinne meinte Konrad Lorenz: „ W e n n w i r finden, daß gewisse Bewegungsweisen und gewisse Normen des sozialen Verhaltens allgemein menschlich sind, d. h., daß sie sich bei allen Menschen aller Kulturen i n genau gleicher Form nachweisen lassen, so dürfen w i r m i t einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie phylogenetisch programmiert und erblich festgelegt s i n d . " 1 1 3. E i n Indiz für angeborene Verhaltensdispositionen ist es auch, wenn bestimmte Sozialstrukturen sich gegen Reformversuche hartnäckig immer wieder durchsetzen. Z u denken ist etwa an die Tendenzen, feste Paarbindungen einzugehen und private Besitztümer zu begründen, und zwar auch entgegen einem entschiedenen Programm, den Sexual- und Güterkommunismus einzuführen. So hat man festgestellt, daß sogar in Kommunen, die eine Frauen- und Gütergemeinschaft auf ihr ideologisches Programm schrieben, sich faktisch immer wieder informelle Paarbindungen hergestellt haben, daß auch privater Besitz zum mindesten an Sachen des persönlichen Gebrauchs oder an einem persönlichen Schlafplatz beansprucht und von den anderen Gruppenmitgliedern respektiert worden i s t . 1 2 A u c h hier k o m m t möglicherweise das zum Vorschein, was man die universelle Grammatik menschlichen Verhaltens nannte.

io Dazu oben Kap. 7 I I I 2. h K. Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, Taschenbuchausgabe 1977, S. 228. 12 K. Mehnert, Jugend im Zeitbruch, 1976, S. 283 ff. Einfügung übernommen aus dem als Kap. 7 abgedruckten Aufsatz.

IV. Die Unsicherheit der Erfahrungsgrundlagen

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4. Fast ganz auf Vermutungen angewiesen bleibt man hinsichtlich solcher Verhaltensdispositionen, die i n der spezifischen Lebenssituation der Hominiden und der frühen Menschheitsentwicklung „herausgezüchtet" werden konnten, also in den Jahrhunderttausenden eines Jäger- und Sammlerdaseins, 13 das wahrscheinlich i n Kleingruppen verbracht wurde. I n diesem Zeitraum hat sich vermutlich jene Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der Menschen entwickelt, die durch Kommunikation und gemeinsame handlungsleitende Vorstellungen vermittelt ist. I m Zusammenhang damit wurde vielleicht auch der Grund für die Indoktrinierbarkeit und Fanatisierbarkeit der Menschen gelegt, die einst eine wirksame Voraussetzung für engagierte Gruppenunternehmungen bildete und in atavistisch anmutender Weise auch heute noch in Kriegen und Veranstaltungen des Massenzeitalters hervorbricht. Hier würde sich an die Verhaltensforschung die dem Selbstverständnis des Menschen dienende theoretische Frage richten, ob Vorformen solcher Fanatisierbarkeit schon i n vormenschlichen Sozietäten bekannt geworden sind, sodann aber auch die praktische Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen, diese Verhaltensdisposition unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt sogar Vermutungen, daß der frühzeitliche Selektionsdruck auch die Bereitschaft des Menschen gezüchtet habe, konkurrierende Gruppen von Artgenossen i n „alttestamentlicher W e i s e " 1 4 insgesamt auszurotten. Dieser von einem Biologen geäußerten A n n a h m e 1 5 lassen sich allerdings ethnologische Erfahrungen über die Vielfalt von — oft andersgearteten — Verhaltensmustern gegenüberstellen, die man bei Naturvölkern gefunden hat. 1 6 Gerade auch jene Hypothese einer maßlosen Aggressionsbereitschaft des Menschen macht es wünschenswert, die Grundlagen und Grenzen und die Kanalisierbarkeit der menschlichen Aggressivität näher zu erforschen.

13 Vgl. Ε. Ο. Wilson, Sociobiology, 1975, 4. Neudr. 1976, S. 565 ff. 14 Vgl. ζ. B. 4. Mose 31, 7 ff.; 5. Mose 20, 13 ff. is H.Mohr, Biologische Wurzeln der Ethik, 1983, S. 16 ff.; vgl. auch R. Conradt, Intergruppenaggression — ein artspezifisches Merkmal des Menschen, Universitas 1973, S. 1013 ff. ι6 Ζ. Β. E. Westermarck, Ursprung und Entwicklung der Moralbegriffe, Bd. I, 1907, S. 279 ff.; /. Eibl-Eibesfeldt, Krieg und Frieden, 1975, insbesondere S. 145 ff.

Kapitel

9

Zur Funktion des Konsenses in Gerechtigkeitsfragen I . Die Unabweisbarkeit der Gerechtigkeitsfrage Es besteht heute weitgehende Einigkeit darüber, daß das Recht einerseits w o h l durch Interessen und Machtverhältnisse mitbestimmt wird, andererseits aber nicht als deren bloßes Produkt zu begreifen ist: Einerseits werden an die Inhaber der Kompetenzen, speziell an das Parlament, Wünsche herangetragen, die Ausdruck bestimmter Interessen sind und mit anderen Interessen kollidieren. Die Gesetze (oder die sonstigen Rechtsakte) bestimmen, welche Interessen in welcher Weise und in welchem Maße verfolgt werden dürfen und Schutz genießen, und zwar in der Regel auf Kosten anderer Interessen. Die paradigmatische Formel Hecks bezeichnete die Gesetze geradezu als „die Resultanten der i n jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und u m Anerkennung ringenden Interessen materieller, nationaler, religiöser und ethischer R i c h t u n g " 1 . Andererseits böte eine bloß sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise nur ein unvollständiges Verständnis des Rechts. Nicht jede beliebige rechtliche Lösung eines Interessenkonflikts findet Zustimmung. So w i r d an einer Rechtsnorm etwa bemängelt, sie sei unsozial, gebe den einen zu viel Macht und den anderen zu wenig Mitbestimmung, sie gewähre ungleiche Bildungschancen oder anderes mehr. Sobald w i r aber das Recht als ungerecht kritisieren, stellen w i r die Frage nach einer „besseren" Alternative, verlassen w i r also die bloß deskriptive Darstellung und führen mit den Kriterien der Gerechtigkeit ethische Kategorien ein. Solches Infragestellen der bestehenden Regelungen gehört zum „Normalzustand" des Rechts, das eben kein bloßer Z w e i g der Soziologie, sondern stets auch eine moralische Wissenschaft ist. Radbruch ist so weit gegangen, zu sagen, der gesamte politische Tageskampf stelle sich als eine endlose Diskussion über die Gerechtigkeit dar. 2 Das ist w o h l übertrieben und zu optimistisch gesehen. Aber es tritt in dieser Formulierung zugespitzt jener nicht aufgebbare Anspruch zutage, die rechtlichen Lösungen i m Namen der Gerechtigkeit immer von neuem zur Diskussion zu stellen: Das Recht — das eine generelle und verbindliche ι Ph. Heck, AcP 112 (1914), S. 17. 2 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, § 9.

II. Begriff und Funktion eines „Konsenses" in Gerechtigkeitsfragen

111

Verhaltenswahl trifft — hat teil an den Legitimationsproblemen, die sich allgemein für die W a h l menschlichen Handelns stellen.

I I . Begriff und Funktion eines „Konsenses" in Gerechtigkeitsfragen Hier stellt sich die Frage, ob und wie eine Verhaltenswahl und eine Verhaltensregelung prinzipiell legitimierbar sei. Sind Verhaltens wähl und Verhaltenskritik Fragen rein subjektiver Stellungnahmen? Oder kann man über die Berechtigung solcher W a h l und K r i t i k m i t anderen Menschen sich verständigen und zu einem Konsens gelangen? U n d i n welchem Zusammenhang stehen Konsens und Legitimation? 1. Gewinnung

von „ Wahrheiten"

durch

Konsens?

Es wäre denkbar, daß sich i m Konsens der übereinstimmende Zugriff auf bestimmte, transsubjektive, moralische „Wahrheiten" darstellt, die eine Verhaltenswahl rechtfertigen können. „Wahrheit" kann aber mancherlei bedeuten 3 : etwa die „adaequatio intellectus et rei". I m Sinne dieses Wahrheitsbegriffes würde mit der „Wahrheit" ethischer Wertungen gemeint sein: die Übereinstimmung der Werteinsicht m i t „an sich seienden" Werten. Diese Position entspricht der materialen Wertethik M a x Schelers 4 und Nicolai Hartmanns 5 . Aber diese Position ist nicht haltbar: Es gelingt kein Durchgriff durch das aktuelle Wertbewußtsein auf „absolute W e r t e " . 6 Ergiebiger für unsere Überlegungen ist ein zweiter Begriff von „Wahrheit". Er bezeichnet die bloße „AussagenWahrheit": „ W a h r " i n diesem Sinne ist eine empirische Aussage dann, wenn der durch sie bezeichnete Erfahrungsinhalt durch unmittelbare Erfahrung bestätigt werden kann. Allgemeingültig ist sie dann, wenn sie i n der unmittelbaren Erfahrung beliebig vieler Menschen bestätigt werden kann. Empirische „Wahrheitsfindung" läuft dann also auf die individuelle, unmittelbare Konstatierung von Erfahrungsgegebenheiten hinaus. Dieses Verfahren gilt zunächst für die Überprüfung von Aussagen über die äußere Erfahrungswelt. Über die Wahrheit solcher Aussagen kann auf dem angegebenen Wege ein begründeter Konsens entstehen. 7 Die Aussage: „ D i e Äpfel fallen von den Bäumen

3 Ausführlicher dazu unten Kap. 10. Vgl. etwa M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. 1954, S. 108, 317 ff. 5 Vgl. N. Hartmann, Ethik, 3. Aufl. 1949, Kap. 6, 16 e, 29 e; ders. y Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis, 4. Aufl. 1949, Kap. 5 e, h, i. 6 Dazu unten Kap. 10 I 1. 7 Dazu unten Kap. 10 I 2, 3. 4

112

.

u Funktion es Konsenses in Gerechtigkeitsfragen

zur Erde herab", ist dann allgemein wahr oder „allgemeingültig", wenn sie sich i n der unmittelbaren individuellen Erfahrung aller Menschen bestätigen läßt, also „bewährt". Die Frage ist, ob auch Gerechtigkeitsaussagen intersubjektiv überprüft werden können. I n Betracht kommen etwa Aussagen wie: Es ist unbillig, ein hungerndes K i n d wegen Mundraubes mit dem Tode zu bestrafen oder als reicher Mann seine Schulden nicht zu bezahlen oder jemanden an einem Vertrag festzuhalten, der mit vorgehaltener Pistole erzwungen wurde. Der Nachvollzug solcher Aussagen i m individuellen Rechtsgefühl 8 wäre eine Bestätigung für die Billigungs- oder Mißbilligungswürdigkeit selbst, nicht bloß für die Tatsache des Weitungsaktes. 9 Für die intersubjektive Überprüfung solcher Aussagen scheint aber ein prinzipielles Hindernis zu bestehen: Die inhaltliche Übereinstimmung von Erfahrungen des Rechtsgefühls ist i m strengen Sinne nicht nachprüfbar. Doch diese Barriere gilt i n gleicher Weise auch für Sinneserfahrungen: Niemand kann strikte nachprüfen, ob die Wahrnehmungserlebnisse des einen Menschen mit denen eines anderen übereinstimmen 1 0 : Niemand kann beweisen, daß er von einer Wiese den selben Farbeindruck empfängt wie der andere oder daß seine Tonempfindung mit der Tonempfindung seines Mitmenschen übereinstimmt. Dennoch tragen w i r keine Bedenken gegen die Annahme, i n der gleichen optischen und akustischen Erfahrungswelt zu leben. Dürfen w i r aber an Erfahrungen des Rechtsgefühls strengere Anforderungen stellen als an die Sinneswahrnehmungen? 2. Grenzen der Konsensfähigkeit Die Schwierigkeit ist nicht, übereinstimmende Werterfahrungen als Fundament einer Gerechtigkeitserkenntnis anzuerkennen. Das Problem ist, eine breite Basis übereinstimmender Werterfahrungen tatsächlich zu gewinnen. I n den oben genannten Beispielen möchte vielleicht das Rechtsgefühl aller oder doch sehr vieler Menschen die Aussagen bestätigen. Aber meistens divergieren die Wertungen verschiedener Menschen, sobald zwischen verschiedenen Zwecken zu wählen und zwischen verschiedenen Interessen abzuwägen ist. So w i r d ζ. B. i n dem Streit, ob und unter welchen Bedingungen ein Schwangerschaftsabbruch freigegeben werden solle, weitgehende Einigkeit darüber bestehen, daß das ungeborene Leben wie auch das Selbstbestimmungsrecht der Mutter, j e für sich allein genommen, durchaus achtenswert seien; wie hoch aber jedes der beiden Güter zu gewichten sei und wie die Güter i m K o l l i sionsfall gegeneinander abzuwägen seien, darüber gehen die Meinungen auseinander. Das hat seinen Grund i n unseren unterschiedlichen Präferenzen für unter8

Zum Begriff des Rechtsgefühls s. oben Kap. 7 11. Dazu unten Kap. 10 I I 1. 10 Dazu unten Kap. 10 I I 3.

9

II. Begriff und Funktion eines „Konsenses" in Gerechtigkeitsfragen

113

schiedliche Güter. Diese Verschiedenheit der Präferenzen ist vermutlich zu einem T e i l anlagebedingt, zu einem anderen T e i l durch persönliche Erlebnisse und die gesamte Lebenssituation, nicht zuletzt durch weltanschauliche Voreingenommenheiten, beeinflußt. 1 1 A u f diese unterschiedlichen Weitungsdispositionen hat Eduard Spranger geradezu seine „Grundtypen der Individualität" gegründet. 1 2 Die gesellschaftlich relevanten Gerechtigkeitsfragen betreffen aber i n der Regel eine W a h l zwischen verschiedenen Interessen und eine Bestimmung des Maßes, i n welchem das eine und das andere zu verwirklichen ist, kurz, eine Abwägung zwischen verschiedenen Interessen. 13 Gerade in den praktisch relevanten Gerechtigkeitsfragen gelangt man daher regelmäßig nicht zu Aussagen, die v o m Rechtsempfinden aller Menschen bestätigt werden. Auch in dem oben definierten zweiten Sinne von „Wahrheit" lassen diese komplexen Werturteile sich also nicht allgemeingültig bestätigen. 3. Praktische

Funktionen

eines Konsenses

Angesichts dieser Unmöglichkeit, i m erforderlichen Umfang zu allgemeingültigen Wahrheiten zu gelangen, liegt es nahe, für die Entscheidung gesellschaftlich relevanter Gerechtigkeitsfragen wenigstens die breitestmögliche Konsensbasis zu suchen. 1 4 Selbst wenn durch solchen partiellen, relativen Konsens keine „Wahrheiten" erschlossen werden, erfüllt der Rekurs auf die breitestmögliche Konsensbasis praktische Funktionen, die es rechtfertigen, eine Entscheidung auf dieser Grundlage zu treffen: A u f diese Weise w i r d vor allem das erreichbare Höchstmaß bürgerlicher Selbstbestimmung respektiert. Der individuellen Autonomie wird so immerhin die größtmögliche Chance eröffnet, sich auch i n den politisch-rechtlichen Bereich hinein zur W i r k u n g zu bringen. 1 5 Das Mehrheitsprinzip bringt i n der Gemeinschaft diejenigen Gerechtigkeitsvorstellungen zur Geltung, die den meisten als akzeptabel erscheinen. Normen, die für die Mehrheit akzeptabel sind, haben auch die besten Aussichten auf allgemeinen Rechtsgehorsam, also auf Effizienz. A u f diesen Zusammenhang hat schon Marsilius von Padua hingewiesen. 1 6 Es dient zugleich der Orientierungsgewißheit, wenn das Recht den Bahnen folgt, i n denen sich die herrschenden sozialethischen Vorstellungen und die „Verkehrssitte" bereits etabliert haben. n Dazu auch Kap. 7 I I I und 14. 12 E. Spranger, Lebensformen, 8. Aufl. 1950, S. 121 ff. Der Text dieses Absatzes ist zum Teil aus dem als Kap. 7 abgedruckten Aufsatz übernommen. 13 Dazu unten Kap. 35 I I 5. 14 Vgl. C. J. Friedrich, in: Nomos V I (1963), S. 28, 31, 40 f. 15 Dazu oben Kap. 5 IV. 16 Marsilius von Padua, Defensor pacis, 1324, I Kap. 12 § 6. 8 Zippelius

114

.

u Funktion es Konsenses in Gerechtigkeitsfragen

A u c h der Grundsatz der Gleichbehandlung fordert, an gleiche Fälle gleiche Bewertungsmaßstäbe anzulegen, d. h. womöglich solche, die mehrheitlich akzeptiert sind und nicht etwa von persönlichen Auffassungen eines Richters abhängen. 1 7

I I I . Gewinnung konsensfähiger Gerechtigkeitsvorstellungen durch „trial and error" 1. Grundgedanken

eines „experimentierenden"

Ansatzes

A u c h wenn man dem Konsens i n Gerechtigkeitsfragen nicht die Aufgabe zuweist, allgemeingültige Wahrheiten zu erschließen, auch wenn er nur praktische Funktionen erfüllt — i m Recht ein M a x i m u m bürgerlicher Selbstbestimmung zu respektieren, soziale Orientierungsgewißheit zu erleichtern und die Effizienz des Rechts zu fördern — auch unter dieser Prämisse stellt sich die Aufgabe, eine Methode zu finden, durch die man in Gerechtigkeitsfragen zu konsensfähigen Lösungen gelangen und solche Lösungen kritisieren und verbessern kann. Als solche Methode soll hier ein Verfahren probierenden Denkens vorgeschlagen werden, wie es Popper zunächst für die Naturwissenschaften entworfen hat. Dort vollzieht sich der Erkenntnisfortschritt i n der Weise, daß w i r Hypothesen versuchsweise aufstellen, kritisieren, an der Erfahrung prüfen und, wenn sie dieser Probe nicht standhalten, sie verbessern oder auch ganz verwerfen und durch andere Problemlösungen ersetzen. 18 Die Methode, Problemlösungen zu versuchen, sie durch Erfahrung oder kritische Diskussion immer wieder auf die Probe zu stellen und sie erforderlichenfalls durch bessere Theorien zu ersetzen, ist, jedenfalls ihrem allgemeinen Prinzip nach, nicht auf das naturwissenschaftliche Denken beschränkt, wie schon J. St. M i l l 1 9 und K . R. Popper 2 0 gesehen haben. A u c h der Bestand an konsensfähigen Aussagen über Gerechtigkeit kann durch Erörterungen und Erfahrungen modifiziert und verbessert werden. „Unsere bestgegründeten Überzeugungen besitzen keine andere Gewähr als die einer fortwährend an die ganze W e l t gerichteten Einladung, ihre Haltlosigkeit zu erweisen. W i r d die Herausforderung nicht angenommen oder schlägt der Beweis fehl, so sind w i r immer noch weit genug entfernt von Gewißheit; aber w i r haben wenigstens alles getan, was der gegebene Zustand der menschlichen Vernunft zuläßt; w i r haben nichts versäumt, was der Wahrheit eine Chance g i b t " . 2 1 Dieser Methode liegt also zwar nicht die Hoffnung zugrunde, „ewige Wahrheiten" zu

17 is 19 20 21

Nachträgliche Einfügung. K. R. Popper, Logik der Forschung, 6. Aufl. 1975. J. St. Mill, On Liberty, 1859, Kap. 2. K. R. Popper, Conjectures and Refutations, 2. Aufl. 1965, S. 312 ff. Mill (Fn. 19).

III. Gewinnung konsensfähiger Gerechtigkeitsvorstellungen

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finden, aber doch die Erwartung, durch verständige Erwägungen vergleichsweise schlechtere Problemlösungen durch vergleichsweise bessere ersetzen zu können. 2. Die Anwendung

dieser Methode im Recht

E i n Beispiel dafür, wie die hier vorgeschlagene Methode speziell i m Recht funktionieren kann, bietet das angelsächsische Fallrechtsdenken. „Reasoning from case to case", i n einem Wechselspiel von konkretem Judiz — d.h. geschultem Rechtsempfinden — und typisierendem Fallvergleich werden Rechtseinsichten hier gleichsam „herausexperimentiert". Dabei sucht der Richter seine Entscheidung zunächst an schon getroffene Entscheidungen vergleichbarer Fälle anzulehnen. Er orientiert sich damit am Judiz der Fachkollegen und der gesamten Rechtstradition — m i t der Möglichkeit, i m „distinguishing" sein eigenes Judiz ins Spiel zu bringen. W i r finden hier ein Vorantasten von dem einen zum anderen Fall des gleichen rechtlichen Typus, das sich nie von der unmittelbaren Rechtserfahrung entfernt. Eine Schlüsselrolle bei diesem „Vorantasten" spielt der „Fallvergleich". Dieser präpariert einerseits die gemeinsamen, andererseits die unterscheidenden Merkmale der verglichenen Fälle heraus und erwägt, ob der Merkmalsunterschied — unter dem Aspekt der Gleichbehandlung gleichartiger Fälle — erheblich ist. Solches vergleichendes Denken experimentiert also gedanklich mit einzelnen Merkmalen eines Falltypus, variiert sie und prüft die Unterschiede auf ihre Erheblichkeit. Durch dieses Verfahren werden einzelne Merkmalsunterschiede als unerheblich für die Anwendung einer Regel ausgeschieden, andere Unterschiede als wesentlich erkannt. Hierdurch werden diejenigen Merkmale näher bestimmt, auf die es letztlich für die Anwendbarkeit einer Rechtsregel ankommt. A u f diese Weise werden die Regeln selbst i n ihren Merkmalen weiterentwickelt und einer fortschreitenden rechtsethischen Einsicht angepaßt. 22 Ihre eigentliche Quelle der Rechtserkenntnis haben solche fallrechtlichen Ordnungen also i m vernunftgeleiteten Rechtsgefühl, das immer wieder an Einzelfällen erprobt wird. Rückhalt w i r d aber nicht nur — durch den Fallvergleich — an der Fachtradition gesucht. Als Repräsentant einer demokratischen Rechtsgemeinschaft hat der Richter darüber hinaus die breitere Konsensbasis der Rechtsgemeinschaft i m Auge zu behalten, also stets auch zu prüfen, ob seine Entscheidung für die Allgemeinheit akzeptabel i s t . 2 3 A u c h die zweite der herausragenden Rechtsordnungen, das römische Recht, ist aus der Lösung konkreter Rechtsprobleme entstanden. Anstoß zu den Rechtsbildungen der prätorischen Praxis wie zu den Rechtsgutachten der klassischen römischen Juristen gaben konkrete Rechtsfragen, bei deren Lösung Prätor und 22

Näher dazu unten Kap. 37 I I 3. 23 Dazu oben Kap. 5 V, VI. 8:

116

.

u Funktion es Konsenses in Gerechtigkeitsfragen

Gutachter sich von ihrem geschulten Gerechtigkeitsempfinden leiten ließen. Die besondere Leistung der römischen Praxis lag freilich darin, daß sie nicht beim konkreten Judiz stehenblieb, sondern das konkret Erfaßte i n allgemeine Begriffe und Regeln brachte. 2 4 Erst durch solche Generalisierung von Rechtseinsichten w i r d das Recht so überschaubar, wie das die Orientierungsgewißheit erfordert. Erst durch solche Generalisierung w i r d auch eine angemessene Gleichbehandlung aller vor dem Recht möglich. Aber ein verallgemeinertes Prinzip, wie ζ. B. die „fides", also die grundsätzliche Pflicht zur Vertragstreue, kann sich nach den Erfahrungen des Rechtsgefühls wiederum als einschränkungsbedürftig erweisen, etwa für die Fälle sittenwidriger oder arglistig erschlichener Verträge. 2 5 A u f solche Weise lassen sich die aus den Erfahrungen des Rechtsgefühls gewonnenen Einsichten teils zu allgemeineren Grundsätzen zusammenfassen, teils wieder differenzieren und dadurch präzisieren. Eine geglückte Differenzierung gelingt übrigens nicht immer auf Anhieb. So ist Shakespeares „Kaufmann von Venedig", juristisch gesehen, die Komödie von der vergeblichen Suche nach den Ausnahmetatbeständen des sittenwidrigen Vertrages und des Schikane Verbotes. 26 Nicht nur fallrechtlich entstandene Rechtsordnungen, sondern auch die i n demokratischen Gesetzgebungsverfahren ergangenen Gesetze enthalten i m großen Ganzen einen Thesaurus von Rechtsvorstellungen, die dem Gerechtigkeitsempfinden des überwiegenden Teiles der Rechtsgemeinschaft als akzeptabel erscheinen. Pflegen sie doch, oft nach öffentlicher Diskussion, unter Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung beschlossen zu werden. Nicht selten kodifiziert die Gesetzgebung Rechtsgrundsätze, die von der Rechtsprechung i n „Caselaw-Methode" schon herausgearbeitet wurden. U n d auch das Gesetzesrecht pflegt berichtigt oder angepaßt zu werden, wenn sich herausstellt, daß es den gebotenen Rückhalt i n der öffentlichen Meinung nicht oder nicht mehr findet. So tastet sich das Rechtsgefühl i n konsenssuchender Weise bei der Erkenntnis von Recht und Gerechtigkeitsgrundsätzen — durch Fallvergleich und vergleichende Bewertungen — voran. 3. Die Unterscheidung der Gerechtigkeitsfragen von bloßer Interessiertheit W i r sind immer versucht, das für gerecht zu halten, was uns nützt. So ist auch i n einer Gesellschaft der jeweils stärkere Teil, etwa die Majorität, versucht, ihr

24 25 §§ 9 26 liegt

Vgl. P. Stein, Regulae iuris, 1966, S. 33 ff., 61 ff., 90 ff. Dazu unten Kap. 37 I I 3; vgl. auch M. Käser, Römisches Privatrecht, 9. Aufl. 1976, I I 2, 33 I V 3, 4. Daß die listige Entscheidung der Porzia den „zünftigen" Juristen nicht befriedigt, auf der Hand.

III. Gewinnung konsensfähiger Gerechtigkeitsvorstellungen

117

Interesse m i t der Gerechtigkeit zu vermengen. Die Mehrheitsmeinung ist überdies i n Gefahr, interessenbedingten Manipulationen zu unterliegen. Daher entsteht die Aufgabe, das Rechtsempfinden aus seiner engen Verbindung mit konkreter Interessiertheit und aus interessenbedingter Manipulation zu lösen, insbesondere mehrheitsfähige Gerechtigkeitsvorstellungen von bloßer Interessiertheit der Mehrheit zu unterscheiden. Doch dieses Problem wurde schon an anderer Stelle behandelt. 2 7

27

Dazu oben Kap. 5 V.

Kapitel

10

Über die Wahrheit von Werturteilen Die Gerechtigkeitsvorstellungen, die w i r nach bestem Gewissen für richtig halten, sind nicht rein formaler Natur, sondern schließen inhaltliche Wertungen ein, etwa derart, daß es b i l l i g sei, einen vorsätzlich angerichteten Schaden zu ersetzen, oder unbillig, jemanden an einem Vertrag festzuhalten, der i h m mit vorgehaltener Pistole abgenötigt wurde. Können w i r die Hintergründe solchen Rechtsempfindens aufdecken? Sprechen w i r mit den Werturteilen, die uns das Rechtsgefühl eingibt, „Wahrheiten" aus? Davon, ob und inwieweit solche Gerechtigkeitsfragen mit dem Anspruch auf „Wahrheit" gelöst werden können, hängt zu einem Teil auch der Charakter der Jurisprudenz als Wissenschaft ab. Münden doch wichtige Fragen der Interpretation, der Lückenausfüllung und vor allem auch der Rechtspolitik i n Weitungsfragen. Zunächst ist ein für diese Überlegungen geeigneter Begriff von „Wahrheit" zu finden. U n d es ist zu prüfen, ob und welche Möglichkeiten einer Bewahrheitung von Werturteilen denkbar sind. Dabei soll es, wie i n anderen Wissensbereichen, nur u m vorläufige Bewahrheitung gehen, die Auffassung Karl Poppers, daß es keine endgültigen Verifizierungen, sondern nur endgültige Falsifizierungen geben könne, also nicht berührt werden. Rudolf Carnap bestritt nicht nur die Verifizierbarkeit von Weitaussagen; er hielt sie sogar für sinnlos: „Die logische Analyse spricht... das Urteil der Sinnlosigkeit über jede vorgebliche Erkenntnis, die über oder hinter die Erfahrung greifen will. . . Entweder man gibt für ,gut' und ,schön' und die übrigen in den Normwissenschaften verwendeten Prädikate empirische Kennzeichen an oder man tut das nicht. Ein Satz mit einem derartigen Prädikat wird im ersten Fall ein empirisches Tatsachenurteil, aber kein Werturteil; im zweiten Fall wird er ein Scheinsatz; einen Satz, der ein Werturteil ausspräche, kann man überhaupt nicht bilden." 1

ι R. Carnap, Erkenntnis, Bd. 2 (1931), S. 237; vgl. auch Ch. L. Stevenson, Ethics and Language, Kap. X I I 2.

I. Zum Begriff der Wahrheit

119

I . Z u m Begriff der Wahrheit Schon ein erster B l i c k zeigt die Vieldeutigkeit des Begriffes „ W a h r h e i t " . 2 W i r müssen also festlegen, i n welchem genauen Sinne w i r das Wort gebrauchen wollen, für welchen der möglichen Wahrheitsbegriffe w i r uns also entscheiden; das hängt davon ab, i n welchem Zuschnitt der Begriff unserem Erkenntnisinteresse am besten dient. 3 1. Wahrheit als zutreffende Feststellung an sich bestehender Sachverhalte D e m alltäglichen Verständnis liegt es nahe, zu sagen: „Wahrheit" sei die Übereinstimmung dessen, was uns zu sein scheint, mit dem, was an sich ist, also die „adaequatio intellectus et r e i " . 4 Dieser Wahrheitsbegriff setzt voraus, daß ein Durchgriff durch eine bloße Erfahrungswelt auf etwas An-sich-Seiendes möglich sei. Nur mit diesem Wahrheitsbegriff ist die Auffassung der „materialen Wertethik" denkbar: Es gebe eine an sich gültige Wertordnung. Die Wandlungen der durch Werterfahrung gewonnenen Wertvorstellungen erklärten sich daraus, daß das Reich der Werte schrittweise entdeckt werde. 5 Doch mit Wertentdeckungen allein läßt sich jener Wandel nicht erklären; denn Werte, die längst entdeckt sind, erscheinen j e nach den individuellen „Vorzugstendenzen" 6 , auch j e nach den äußeren Umständen einmal mehr, einmal weniger berücksichtigenswert. 7 Indessen unterstellt die materiale Wertethik auch eine invariable Rangordnung der Werte. Zwar seien die Vorzugsregeln i n der Geschichte variabel 8 , der an sich seienden idealen Rangordnung entspreche also kein ideales Bewußtsein der Rangordnung, das aber erkläre sich aus der Begrenztheit des menschlichen Wertbewußtseins. Die geschichtlich und individuell variierende Auffassung der Rangordnung widerspreche also nicht ihrer objektiven Absolutheit. 9 2 Vgl. z. B. M. Schlick, Vierteljahresschr. f. wiss. Philos, u. Soziol., 1910, S.386ff.; K. Jaspers, Existenzphilosophie, 2. Aufl. 1956, S.28 ff.; ders., Von der Wahrheit, 1958, S.457 ff., 601 ff.; K. Ulmer (Hrsg.), in: Die Wissenschaften und die Wahrheit, 1966, S.lOff. 3 Über solche Festsetzungen vgl. H. Reichenbach, in: Readings in the Philosophy of Science (Hrsg. Feigl and Brodbeck), New York, 1953, S.93; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 1 II. 4 Vgl. auch N. Hartmann, Metaphysik der Erkenntnis, Kap. 5 h, i. 5 Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. 1954, S. 317 ff.; N. Hartmann, Ethik, 3. Aufl. 1949, Kap. 16 e; H. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 115 f.; H Hubmann, Naturrecht und Rechtsgefühl, AcP 153 (1954), S. 329 f. 6 Dazu oben Kap. 9 I I 2. 7 K. Engisch, ARSP 38 (1949/50), S. 276; W. Weischedel, Recht und Ethik, 1956, S. 25. s Scheler (Fn. 5), S. 108. 9 Scheler (Fn. 5), S. 317 f.; Hartmann (Fn. 5), Kap. 29 e.

120

Kap. 10: Über die Wahrheit von Werturteilen

Der Fehler liegt hier schon i m Ansatz: Es gibt keinen „ D u r c h g r i f f 4 durch das empirische Wertbewußtsein auf absolute Werte. Die von Scheler selbst vorausgesetzte Erkenntnisgrundlage war das i m Fühlen, Vorziehen, i m Lieben und Hassen sich aufbauende Erfassen der Werte und ihrer Zusammenhänge, ihres Höherund Niedrigerseins. 1 0 Hinter dem, was dem aktuellen Wertbewußtsein je als wertvoll und vorziehenswert erscheint, nun aber ein unveränderliches, absolutes Reich der Werte anzunehmen, ist eine unbeweisbare Hypothese. 1 1 Diese müßte zudem praktisch ganz irrelevant bleiben; denn sie bietet keinen Maßstab und kein Kriterium für die Abweichungen und Abirrungen des aktuellen Wertbewußtseins von einem „an sich seienden" absoluten Wertgefüge. Schon Kant hat darauf hingewiesen, daß es sinnlos sei, ein an sich bestehendes Objekt m i t der Erkenntnis von diesem Objekt vergleichen zu wollen; denn ich könne ein solches Objekt nur dadurch mit meiner Erkenntnis vergleichen, daß ich es erkenne. So könne „ i c h immer doch nur beurteilen: ob meine Erkenntnis v o m Objekt m i t meiner Erkenntnis v o m Objekt übereinstimme" 1 2 — woraus sich die Fruchtlosigkeit der Suche nach einer transzendenten Wahrheit ergibt. 2. Wahrheit als bloße

Aussagenwahrheit

Anders verhält es sich mit der bloßen Aussagenwahrheit. I m Sinne dieses Begriffes von „Wahrheit" meinte Thomas Hobbes: Wahr und falsch seien „ A t t r i bute der Sprache, nicht von D i n g e n " . 1 3 Auch andere, wie etwa John L o c k e 1 4 und Franz Brentano 1 5 , verstanden die Wahrheit so. Es regen sich aber sogleich Zweifel, ob es eine Übereinstimmung zwischen einer Aussage und dem behaupteten Sachverhalt geben kann. Sage ich etwa, daß Nitroglyzerin mit lautem K n a l l detoniert, so knallt weder diese Aussage noch mein Denken. W o m i t ist also der wirklich gehörte K n a l l identisch? W i e können w i r überhaupt Aussagen mit etwas Außersprachlichem vergleichen? 1 6 Das ist eine allgemeine Frage, die nicht nur für das Verifikationsproblem, sondern ζ. B. auch — i n der juristischen Methodenlehre — für das Subsumtionsproblem eine Rolle spielt. 1 7

10 Scheler (Fn. 5), S. 88, 107; vgl. auch S. 72: „Erfahrung". 11 Vgl. auch E. Spranger, Lebensformen, 8. Aufl. 1950, S. 335; R. Reininger, Wertphilosophie und Ethik, 3. Aufl. 1947, S. III, 4 f., 48 ff. 12 /. Kant, Logik, Einl. VII. 13 Th. Hobbes, Leviathan, Kap. 4. 14 J. Locke, Essays, IV Kap. 5. 15 F. Brentano, Wahrheit und Evidenz (hrsg. v. O. Kraus), 1930, S. 123 f., 131 ff., 137 ff.; hier ist allerdings nicht immer das Urteil vom Urteilen unterschieden, vgl. S. 124, 131. 16 Vgl. V. Kraft, Der Wiener Kreis, 2. Aufl. 1968, S. 109, 118 f. m. Nachw. 17 R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 16 I.

I. Zum Begriff der Wahrheit

121

Moritz Schlick hat die Wahrheit einer Aussage darin gesehen, daß sie „einen Tatbestand eindeutig bezeichnet", i h m eindeutig zugeordnet i s t . 1 8 Eine Bezeichnung könne einem Gegenstand dann eindeutig zugeordnet werden, wenn dieser ,jedesmal als der gleiche wiedererkannt wird. Also ohne Wiederfinden keine Z u o r d n u n g " . 1 9 Folgen w i r dieser Anregung, dann ist eine Aussage dann wahr, wenn der durch sie bezeichnete Erfahrungsinhalt i n der nachvollzogenen unmittelbaren Erfahrung wiedererkannt werden kann. W i e können Bezeichnungen, also Worte, eine Vermittlerrolle zwischen Erfahrungsinhalten gewinnen? Worte erhalten ihre „Bedeutung" ursprünglich dadurch, daß man bei ihrem Gebrauch auf die Erfahrungsgegebenheit hinzeigt („deutet"), die m i t dem W o r t bezeichnet sein soll, und so eine assoziative Beziehung zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten begründet. A l l e anderen Wortbedeutungen werden letztlich auf so gewonnene Bedeutungen zurückgeführt: durch Definition, d. h. durch Gleichsetzung mit solchen Begriffen, deren Bedeutung schon festliegt. Letztlich stehen so alle empirischen Begriffe, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar, für aufweisbare Erfahrungsgegebenheiten. 20 A u c h bei der „Bewahrheitung" einer Aussage w i r d also eine Identität festgestellt. Aber die gegenwärtige Erfahrung ist nicht mit der Aussage als solcher identisch, sondern m i t den Erfahrungsinhaiten, die durch diese Aussage bezeichnet und i n Erinnerung gerufen, vielleicht auch aus empirischen Elementen neu kombiniert werden. Durch Vermittlung der Sprache, also von Zeichen, w i r d Gleiches Gleichem zugeordnet. Es geht aber nicht u m eine Identität zwischen der Aussage als solcher und dem Bezeichneten; vielmehr ist eine empirische Aussage dann wahr, wenn der durch sie bezeichnete Erfahrungsinhalt mit dem aktuell erlebten oder aktualisierbaren Erfahrungsinhalt übereinstimmt. Kurz, bei der Verifizierung empirischer Aussagen geht es u m eine semantisch vermittelte Identität. 3. Intersubjektive Nachprüfbarkeit als Wahrheitskriterium? Empirische Urteil s Wahrheit, auf die w i r uns hier beschränken, hat ihr Kriterium also darin, daß ein Urteil sich empirisch — durch Sinneswahrnehmung oder andere unmittelbare Erfahrung — bestätigen läßt. Dazu gelten zwei Vorbehalte: Erstens muß nicht jede empirische Feststellung unmittelbar getroffen werden; sie kann auch abgeleitet sein, nämlich aus unmittelbaren Wahrnehmungen i n Verbindung m i t Erfahrungssätzen (Straßen und Dächer sind naß, also hat es geregnet); i n solcher Weise werden ζ. B. Indizienbeweise geführt, i n solcher is M. Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, 2. Aufl. 1925, S. 55 ff. 19 Schlick (Fn. 18), S. 63. 20 M. Schlick, Erkenntnis, Bd. 3 (1932), S. 6 ff.; Kraft (Fn. 16), S. 26, 38, 40, 77 ff.; Zippelius (Fn. 17), § 4 I m. w. Nachw.

122

Kap. 10: Über die Wahrheit von Werturteilen

Weise auch historische Wahrheiten erschlossen. Zweitens gibt die einzelne Feststellung erst i n ihrem widerspruchsfreien Zusammenhang mit anderen Erfahrungsdaten eine sichere Einsicht. Erst dadurch unterscheidet sich ζ. B. eine Sinnestäuschung von einer verifizierenden Feststellung. So ergibt etwa erst ein Zusammenhang unmittelbarer Wahrnehmungen (eine „konspektive Kontrolle"), daß ein zur Hälfte ins Wasser gehaltener Stab in Wahrheit nicht geknickt ist oder daß ein davonfahrendes Auto i n Wahrheit nicht kleiner wird, wie dies dem Auge zunächst erscheint. 2 1 Z u m Begriff der schlichten Aussagenwahrheit gehört weder die unmittelbare intersubjektive Nachprüfbarkeit, noch die jederzeitige Wiederholbarkeit der Nachprüfung. Das sind bereits Kriterien eines qualifizierten Wahrheitsbegriffs. Meine Aussage: „ I c h habe jetzt Zahnschmerzen" ist wahr oder unwahr, j e nachdem, ob ich jetzt Zahnschmerzen habe oder nicht, auch wenn außer m i r niemand das i n eigener Wahrnehmung unmittelbar nachprüfen kann. M i t diesem Wahrheitsbegriff arbeiten w i r auch i m juristischen Alltag. Z u m Beispiel ist i n einem wegen Körperverletzung angestrengten Strafprozeß die Zeugenaussage des Verletzten unwahr, wenn er Schmerzen vorgibt, die er nicht gehabt hat. Die allgemeine intersubjektive Nachprüfbarkeit ist aber das Kennzeichen allgemeingültiger Wahrheit. 2 2 A u c h dazu ist aber ein Vorbehalt geboten, der auch für die Frage einer Nachvollziehbarkeit von Werturteilen bedeutsam sein w i r d ( I I 3): I n aller Strenge kann der Nachweis intersubjektiver Nachvollziehbarkeit nicht einmal Kriterium für die Wahrheit aller Tatsachenaussagen sein: Denn für diese ist der letzte Grund empirischer Bewahrheitung die Sinneswahrnehmung (die Konstatierung von Erfahrungsgegebenheiten 23 ). Nun können w i r uns allgemein zwar darüber einigen, daß ein aufgehobener und losgelassener Stein zu Boden fällt, auch darüber, daß von einer Glocke überhaupt ein Klang ausgeht. Aber ob ein Glockenklang anderen Menschen den gleichen akustischen Wahrnehmungsinhalt vermittelt wie mir, ob sie von einer „grün" genannten Wiese genau den gleichen Farbeindruck empfangen wie ich oder ob das Anbohren eines Zahnes ihnen v ö l l i g gleichartige Wahrnehmungen vermittelt wie mir, ist intersubjektiv nicht zuverlässig nachprüfbar. 2 4 Über solche Wahrnehmungsinhalte können w i r uns dadurch einigen, daß sie i n die Struktur unserer Wahrnehmungswelt eingeordnet sind: ζ. B. als der Farbton einer Wiese, als der Klang, der von diesem Kirchturm herübertönt, als der Schmerz, der an einem Zahn unter bestimmten Vorkehrungen auftritt. Mitteilbar ist dieser Lagenort, den der Wahrnehmungsinhalt innerhalb einer solchen Struktur hat. Der qualitative Inhalt als solcher gehört 21 V. Kraft, Einführung in die Philosophie, 1950, S. 140 f. 22 Zum Konsens als allgemeinem Schema der Vergewisserung s. oben Kap. 7 I I 1. 23 M. Schlick, Gesammelte Aufsätze, 1938, S. 301 f., 308 f.; hierzu Kraft (Fn. 16), S. 112 ff. 24 Zur Frage, in welchem Sinne individuelle Wahrnehmungen als Grundlage intersubjektiver Gewißheit dienen können, vgl. A. Pap, Analytische Erkenntnistheorie, 1955, S. 55 f., 182 ff., 190 f.

II. Die empirische Grundlage von Werturteilen

123

hingegen der Privatsphäre eines jeden an. Daß auch er für verschiedene Menschen identisch sei, gehört zu den i m A l l t a g „selbstverständlichen", aber i m strengen Sinne unbeweisbaren Hypothesen. 2 5

I I . Die empirische Grundlage von Werturteilen 1. Faktizität

und Erkenntnisgehalt

der Wertungen

Welche Erfahrungsgegebenheiten können nun die empirischen Grundlagen von Werturteilen bilden? Es liegen zwei Annahmen nahe: Erstens, empirisch ließen sich nur äußere Verhaltensweisen feststellen, die das Korrelat von Wertungen seien; das ist der Standpunkt des Behaviorismus. Zweitens, Wertungen seien nur als aktuelle psychische Vorgänge erfaßbar; das ist die Ansicht des Psychologismus. W a r u m ich mich diesen Auffassungen nicht anzuschließen vermag, habe ich andernorts dargelegt. 2 6 Nur eines sei hier betont: Es besteht ein Unterschied zwischen der Feststellung, daß eine Wertung tatsächlich stattfinde, und dem Erkenntnisgehalt einer Weitung. Diese hat als empirischer Tatbestand nicht nur eine faktische Existenz, sondern auch einen spezifischen Erfahrungs- und Erkenntnisgehalt. 2 7 Gewiß kann man sich gleichsam auf die „Außenansicht" der Weitungen beschränken, also auf die bloße Feststellung, daß bestimmte Leute gewisse Verhaltensweisen etwa für gerecht, schicklich, geschmacklos oder taktvoll befinden, und kann dabei den Erkenntnisgehalt dieser Wertungen außer Betracht lassen. M i t dieser Blickrichtung w i r d etwa eine Sittengeschichte geschrieben. I n solcher Beschränkung der Frage konnte M a x Weber sagen: „ W e n n das normativ Gültige Objekt empirischer Untersuchung wird, so verliert es, als Objekt, den NormCharakter: es w i r d als »seiend', nicht als ,gültig' behandelt." 2 8 Soweit damit lediglich die Fragestellung eingeschränkt wird, ist hiergegen nichts einzuwenden. Erkenntnistheoretisch ist nichts gewonnen und nichts verloren, wenn man sich überhaupt nur für die Tatsache, daß bestimmte Wertungen vorgenommen werden, nicht aber für deren Erkenntnisgehalt interessiert. Weitungen lassen sich aber nicht nur als tatsächlich vorgenommen beschreiben, sondern auch i n ihrem empirischen Erfahrungsgehalt betrachten. Dieser liegt 25 Vgl. Kraft (Fn. 16), S. 38 ff., 155 f. 26 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 2 II. 27 Vgl. V. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Aufl. 1951, S. 198 f.; mit Recht wendet sich Κ Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1969, S. 261 f.) auch gegen die Ansicht, das Werturteil enthalte nur eine (nachträgliche) Aussage über ein „eigenpsychisches Faktum". 28 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. 1968, S. 531, vgl. auch S. 502 f.

124

Kap. 10: Über die Wahrheit von Werturteilen

darin, daß w i r bestimmte Handlungen ζ. B. als gerecht, mutig oder taktvoll, d. h. als i n j e einem spezifischen Sinne 2 9 billigens- und daher verwirklichenswert und geboten 3 0 empfinden. Dieser nachvollziehbare Erfahrungsgehalt der Wertungen — also die Billigungs- oder MißbilligungsWürdigkeit selbst 3 1 , die von anderen bestätigt werden kann — ist einerseits die Grundlage, andererseits aber auch die Grenze aller allgemeinen Werteinsicht: Einerseits handelt es sich hier nicht u m willkürliche Setzungen, sondern u m konsensfähige Erfahrungsinhalte. 3 2 Andererseits wäre es unergiebig, eine Werterkenntnis jenseits solcher erfahrbaren Inhalte unserer Wertungen zu suchen. So gelang der materialen Wertethik kein überzeugender Durchgriff durch die Werterfahrung auf ein „an sich seiendes Reich von Werten" ( I 1). A u c h die Aufdeckung rationaler Zusammenhänge zwischen grundlegenden und abgeleiteten Werturteilen (s. u. 4) führt nicht über den Bereich der erfahrbarer Wertungen hinaus, weil die Grenze der Ableitbarkeit allemal bei den j e „grundlegenden" Weitungen erreicht ist. A u f solche Werterfahrungen konnte auch der ethische Formalismus nicht verzichten: Mögen auch Gebote den Sinn moralischer „Richtigkeit" dadurch haben, daß sie m i t dem Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit auftreten 3 3 , so bleiben sie inhaltlich allemal Forderungen, die sich — m i t dem Anspruch auf Verallgemeinerungsfähigkeit — i n erfahrbaren Wertungen geltend machen. 3 4 2. Konstanten

der individuellen

Werterfahrung

Werterfahrungen gibt es nicht nur als punktuelle Erfahrungsgegebenheiten. Inhalte unserer Wertungen können wiederholt als die gleichen erfahren werden, es gibt also Konstanten individueller Weitung. So vermittelt etwa Freundestreue eine Weiterfahrung spezifischen Inhalts, und w i r können verschiedene Handlungen der Freundestreue mit B l i c k auf die Identität dieses spezifischen Inhalts der Werterfahrung miteinander vergleichen. W i r können verschiedene taktvolle Handlungen gleichfalls einander zuordnen (und sie andererseits von Akten der Freundestreue unterscheiden), weil auch sie spezifische Werterfahrungen vermitteln. 29 Zippelius (Fn. 26), § 19 II. 3° Vgl. Hartmann (Fn. 5), Kap. 18 a; zum präskriptiven Sinn ethischer Vorstellungen vgl. auch Reininger (Fn. 11), S. 27; R. M. Hare, Freedom and Reason, 1963, Kap. 2.6 ff. 31 Vgl. Reininger (Fn. 11), S. 46 f. 32 Vgl. demgegenüber H. Reichenbach, The Rise of Scientific Philosophy, 1951, Kap. 17. 33 Vgl. auch Hare (Fn. 30), Kap. 2.5, 3.1 ff., 5.4 f., 6.2 f., 6.5, 9.1. Durch dieses Kriterium unterscheidet sich ζ. B. die Aufforderung „Bring' mir bitte ein Bier" von dem Gebot „Üb' immer Treu und Redlichkeit"; andererseits ist die Maxime „Iß nur was dir schmeckt" zwar verallgemeinerungsfähig, aber kein moralisches Gebot. 34 Franz Brentano unternahm es sogar, der moralischen Richtigkeit selbst einen empirischen Sinn abzugewinnen (Grundlegung und Aufbau der Ethik, 1952, S. 145 f)·

II. Die empirische Grundlage von Werturteilen

125

Wenn es freilich darum geht, ob etwa der Treue zum hochverräterischen Freund oder der Treue zum Staat der Vorzug gebühre, oder ob und wann die Rechtssicherheit den Vorzug vor der B i l l i g k e i t verdiene, erweist sich schon die individuelle Wertung als wandelbar: Unsere Wertungsdispositionen, die sich auf unsere weltanschaulichen Voreingenommenheiten, auf unseren persönlichen Erfahrungskontext und auf unsere individuelle Veranlagung gründen 3 5 , verändern sich. I n solchen Präferenzen ist also schon die individuelle Wertung nicht konstant — wenngleich w i r für zahlreiche Interessenkonflikte, vor allem für wiederkehrende, typische Situationen, doch eine starke Kontinuität unserer Wertungen erfahren.

3. Die intersubjektive

Nachvollziehbarkeit

von Werturteilen

Neben das Problem der Invarianz tritt das der Allgemeingültigkeit, also der intersubjektiven Nachprüfbarkeit, Bewährbarkeit und damit Konsensfähigkeit 3 6 der Werturteile. Es liegt nahe, die sichere und eindeutige intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit am Beispiel der Sinneswahrnehmungen darzutun. Doch hat sich gezeigt, daß nicht einmal die intersubjektive Identität der Sinneswahrnehmungen v ö l l i g gewiß ist ( I 3). Sieht man dies ein, dann w i r d man auch an die intersubjektive Mitteilbarkeit und Nachprüfbarkeit von Werterfahrungen nicht mit Erwartungen herangehen, die sich nicht einmal für Sinneswahrnehmungen erfüllen lassen. Den so zurückgenommenen Erkenntnisansprüchen genügt die Alltagserfahrung, daß man sich i n wechselseitiger Verständigung auch über Weiterfahrungen vergewissern kann, etwa darüber, daß eine mutige Lebensrettung und ein selbstloser Verzicht überhaupt billigenswert sind, auch darüber, daß eine mutige Tat, eine selbstlose Hilfe und eine taktlose Handlung Weitungen qualitativ unterschiedlichen Inhalts auslösen, daß also diese Handlungen inhaltlich überhaupt verschieden zu bewerten sind. A u c h können w i r für die Inhalte unserer Weitungen — wie für Sinnes Wahrnehmungen — „ O r t e " in unserer Erfahrungswelt angeben: W i r können typische Verhaltensweisen bezeichnen, die Wertungen spezifischen Inhalts auslösen. Ob dabei anderen Menschen jeweils eine Werterfahrung genau des selben qualitativen Inhalts vermittelt w i r d wie mir, ist jedoch ebenso wenig, aber auch ebenso viel feststellbar, wie etwa die Tatsache, ob eine Wiese für die anderen ebenso grün ist wie für mich. W i r sind also nicht inkonsequent, wenn w i r uns i m praktischen Leben auf jenes ebenso verlassen wie auf dieses. Daß beides möglich sei, gehört zu den selbstverständlichen, aber i m strengen Sinn unbeweisbaren Hypothesen, auf denen unser tägliches Leben fußt.

35 Zippelius (Fn. 26), § 20 II. 36 Dazu Kap. 1 I I I 1, 7 II, 9.

126

Kap. 10: Über die Wahrheit von Werturteilen

Allgemein nachvollziehen lassen sich elementare Werturteile, daß etwa, j e für sich allein genommen, treues Verhalten dem untreuen, redliches dem unredlichen usw. vorzuziehen ist. Sehr bald gehen die Wertungen aber auseinander, wenn zwischen verschiedenen Interessen und Gütern abzuwägen i s t . 3 7 Gerade das sind aber Wertungen, die i m Gemeinschaftsleben die wirklich bedeutende Rolle spielen. Hier pflegen w i r nicht einmal i m (intersubjektiv vergleichbaren) Ergebnis unserer Abwägungen übereinzustimmen. Übereinstimmende Wertungen finden sich hier von Fall zu Fall meist nur bei einem Teil der Rechtsgenossen. Gerade i n den praktisch wichtigen Weitungsfragen gelangt man also regelmäßig nicht zu Werturteilen, die von allen Menschen und zu allen Zeiten nachvollziehbar sind. Darauf gründen sich alle Versuche, die für die Rechtsgemeinschaft relevanten Weitentscheidungen wenigstens auf eine qualifizierte partielle Übereinstimmung zu stützen: etwa auf das Rechtsgefühl der M e h r h e i t 3 8 oder einer tonangebenden Schicht, die sich nicht mit der numerischen Majorität decken m u ß 3 9 . 4. Die Nachvollziehbarkeit

bedingter Werturteile

Einen höheren Grad von „Allgemeingültigkeit" können bedingte Werturteile haben. Das sind abgeleitete Werturteile, die unter der Prämisse eines anderen Werturteils stehen. Der nächstliegende — triviale — Fall sind normlogisch abgeleitete Urteile: Wenn es generell zutrifft, daß gerechte Strafe Schuld voraussetzt, dann setzt auch i n speziellen Fällen, ζ. B. bei Verkehrsdelikten, gerechte Strafe Schuld voraus. V i k t o r Kraft hat sich näher mit logisch abgeleiteten Werturteilen befaßt 4 0 : Eine weitende Auszeichnung werde einem Sachverhalt dadurch vermittelt, daß er als Element einer schon weitend ausgezeichneten Klasse erkannt wird. Sie kann Allgemeingültigkeit zwar für diesen logischen Zusammenhang aber nicht für die Prämissen in Anspruch nehmen. 4 1 Immerhin kann man auf solche Weise durchsichtig machen, welche allgemeinen Weitungen man voraussetzt, was man also letztlich „ w i l l " , wenn man in concreto dieses oder jenes billigt oder fordert. Eine zweite Klasse bedingter Werturteile sind die instrumentalen. Setzt man bestimmte Ziele voraus, dann erhalten die natürlichen und soziologischen Bedingungen, die zu diesen führen, einen von diesen Zielen abgeleiteten Wert. So haben Heilmittel einen Wert, der von dem der Gesundheit abgeleitet ist; der naturgesetzliche Zusammenhang, der den Wert des Mittels bestimmt, ist allgemeiner Nachprüfung zugänglich. A u c h die Aufdeckung solcher Zusammenhänge kann jemanden darüber belehren, was er mit seiner Handlung letztlich „ w i l l " , 37 38 39 40 41

Dazu oben Kap. 9 I I 2. Dazu unten Kap. 11 IV. Vgl. Zippelius (Fn. 26), § 5 III. Kraft (Fn. 27), S. 155 ff., 212 ff.; ders. (Fn. 16), S. 170; ders. (Fn. 21), S. 104 ff. Vgl. Kraft (Fn. 27), S. 260, 262 f.

II. Die empirische Grundlage von Werturteilen

127

d. h. für welche Konsequenzen er sich m i t dieser Handlung entscheidet. Ob aber das Z i e l als solches wertvoll ist, läßt sich mit instrumentalem Denken wiederum nicht feststellen. 4 2 A u c h der Unwert einer Handlung kann von ihrer Zweckeignung abhängen; sobald ζ. B. eingesehen ist, daß Hexerei v ö l l i g ungeeignet ist, einen Erfolg herbeizuführen, erscheint sie als solche nicht mehr als strafwürdig. Schließlich können bedingte Wertungen auch in sonstiger Weise von intersubj e k t i v nachprüfbaren Sachstrukturen abhängen. M a n hat zeitweilig i n der Jurisprudenz solche Gebundenheit der Wertungen an Sachstrukturen eher i n zu großem als i n zu geringem Umfang angenommen 4 3 : Z u m Beispiel läßt sich aus der allgemeinen Finalstruktur der Handlung nicht schließen, daß die begriffliche Bestimmung rechtswidrigen Verhaltens notwendig an den spezifischen W i l lensinhalt anknüpfen müsse. Aber unbeschadet solcher berechtigten Vorbehalte können sich aus vorausgesetzten Grundsätzen der Gerechtigkeit sachbedingte Konsequenzen ergeben. Setzt man ζ. B. als Gerechtigkeitsprinzip voraus, daß jemand nur bestraft werden darf, wenn er überhaupt fähig war, anders zu handeln, dann kann eine Strafe ungerecht sein, wenn sie den gesetzmäßigen Zusammenhang nicht beachtet, der zwischen bestimmten Geisteskrankheiten und Entscheidungsunfähigkeit besteht. 5. Ergebnis Welchen Ertrag an möglicher „allgemeiner Wahrheit" können w i r einbringen? Aus dem Feld bloß subjektiver, punktueller Wertungen heben sich Inseln des intersubjektiv Nachvollziehbaren und Nachprüfbaren heraus: so vor allem elementare Wertungen, daß etwa vertragstreues, ehrliches und mutiges Verhalten — j e für sich allein genommen — ihrem Gegenteil vorzuziehen sind; ferner die Einsicht, daß logische und sachliche Strukturen unter der Voraussetzung bestimmter Wertungen allgemeingültig zu bestimmten Folgerungen führen. Zwischen solchen w o h l allgemein nachvollziehbaren und bloß höchstpersönlichen Wertungen liegt ein Bereich solcher Weitungen, i n denen sich gemeinsame Weiterfahrung wenigstens eines Teiles der Menschen ausdrückt. Aber der Bestand an Werturteilen, die allgemeingültig oder doch von einem aktuellen mehrheitlichen Konsens getragen sind, würde nicht ausreichen, u m die für das Gemeinschaftsleben unentbehrliche Orientierungsgewißheit zu verbürgen. Deshalb müssen in die „ L ü c k e n " andere Prinzipien treten: So dient schon die Kontinuität überkommener Gerechtigkeitsauffassungen der Rechtssicherheit.

42 Vgl. Weber (Fn. 28), S. 149 ff.; J.St. Mill, A System of Logic, Buch VI, Kap. 12; Reichenbach (Fn. 32), Kap. 17; Kraft (Fn. 27), S. 211, 257; ders. (Fn. 21), S. 121 f.; ders., Rationale Moralbegründung, 1963, S. 30 ff., 57 ff. 43 Wie K. Engisch überzeugend nachgewiesen hat: Zur „Natur der Sache" im Strafrecht, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Die ontologische Begründung des Rechts, 1965, S. 220 ff., 234 ff.

128

Kap. 10: Über die Wahrheit von Werturteilen

Orientierungsgewißheit kann auch mit Hilfe von Verfahrensgrundsätzen und Kompetenzen hergestellt werden: So kann eine Norm, die nach gewissen Spielregeln — etwa i n einem bestimmten Gesetzgebungsverfahren — zustande gekommen ist, als maßgebend gelten. 4 4 Doch besteht dann die Gefahr, daß die mit Kompetenzen ausgestatteten Institutionen auch das, was die Mehrheit für b i l l i g hält, durch einen Machtspruch überspielen. 45

44 Vgl. H. Welzel, An den Grenzen des Rechts, 1966, S. 25 f.; Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 143 f., je m. w. Nachw. 45 Dazu unten Kap. 11 IV 5, V I 2.

Kapitel

11

Zur Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie I . Nicht nur eine Regel der Staatsräson Die Geschichte ist erfindungsreich und verleiht oft alten, scheinbar ausdiskutierten Themen 1 neue Aktualität. Die siebziger Jahre brachten eine Welle demonstrativer Protestbewegungen gegen demokratisch beschlossene Gesetze und demokratisch legitimierte Verwaltungsmaßnahmen. I m Zusammenhang damit erhob sich erneut die Frage nach der Rechtfertigung demokratischer Mehrheitsentscheidungen. Dies geschah vor allem durch gehäufte Inanspruchnahmen eines Widerstandsrechts, auch i n der gemäßigten Form des „zivilen Ungehorsams", gerichtet gegen Gesetze und Maßnahmen, die durch die institutionell ermittelte Mehrheit der Bürger beschlossen oder mittelbar legitimiert waren. Sollen, so lautete hier die Frage, Mehrheitsentscheidungen auch dort noch binden, wo es um Existenzfragen der Nation oder auch der Einzelnen geht — etwa dann, wenn umstritten ist, ob Mehrheitsentscheidungen eine politische Gemeinschaft einem Krieg näherbringen oder die Umweltzerstörung vorantreiben? Die folgenden Überlegungen gelten nur dieser grundsätzlichen Frage, ob und m i t welchen Argumenten die rechtliche Letztentscheidungskompetenz der Mehrheit des Staatsvolkes zu rechtfertigen ist. Sie gelten insbesondere nicht bloßen Fragen politischer Klugheit. Z u dieser Unterscheidung hier nur soviel: A u c h wenn man unterstellt, daß die Mehrheit die Kompetenz haben solle, die rechtsverbindlichen Entscheidungen i n einer Gemeinschaft zu treffen, kann politische Klugheit es dieser Mehrheit 1 Zur Geschichte des Mehrheitsprinzips vgl. Ο. von Gierke , Das deutsche Genossenschaftsrecht, I I 1873, S. 478 ff., I I I 1881, S. 322 ff., 391 ff.; ders., Über die Geschichte des Majoritätsprinzips, Schmollers Jb 39 (1915), S. 565 ff.; W. Starosolskyj, Das Majoritätsprinzip, 1916, S. 1 ff., 35 ff., 105 ff.; F. Elsener, Zur Geschichte des Mehrheitsprinzips (Pars maior und Pars sanior), insbesondere nach Schweizerischen Quellen, SavignyZtschr., Kan. Abt. 42 (1956), S. 73 ff., 560 ff.; U. Scheuner, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1973, S. 13 ff.; W.Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, 1983, S. 41 ff.; H. J. Becker, Art. Mehrheitsprinzip, in: Handwb. z. Dt. Rechtsgeschichte, I I I 1984, S. 431 ff.; H. Hattenhauer, Zur Geschichte von Konsens und Mehrheitsprinzip, in: H. Hattenhauer / W. Kaltefleiter (Hrsg.), Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, 1986, S. 1 ff.; Ν. Johnson, The Majority Principle and Consensus in the British Constitutional Tradition, ebendort, S. 153 ff.

9 Zippelius

1 3 0 K a p .

11: Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

nahelegen, von ihrer Entscheidungskompetenz einen zurückhaltenden Gebrauch zu machen und auf Wünsche von Minderheiten Rücksicht zu nehmen. Hängt doch die Stabilität und Effektivität einer Rechts- und Verfassungsordnung auf Dauer auch von ihrer Akzeptanz ab, d. h. davon, daß die unter ihr Lebenden — einschließlich der relevanten Minderheiten — bereit sind, sie auch ohne allgegenwärtigen Zwang zu befolgen, weil sie sich als annehmbare Ordnung darstellt. 2 Fehlende Akzeptanz destabilisiert das politische System; und zwar sind die destabilisierenden Kräfte u m so stärker, j e größer, j e dauerhafter und j e engagierter die Gruppen sind, die sich weigern, die Entscheidungen der politischen Gemeinschaft anzunehmen. Schon aus Gründen der Staatsräson 3 sollten diese Faktoren also so klein wie möglich gehalten werden. Die Frage, ob und aus welchen Gründen die Mehrheit berechtigt sein sollte, rechtsverbindlich über Interessen- und Meinungskonflikte zu entscheiden, w i r d durch diese Überlegungen aber weder beantwortet noch überflüssig.

I I . Das Argument der Vernünftigkeit 7. Vertrauen

in den common sense

E i n alter Versuch, das Mehrheitsprinzip zu rechtfertigen, liegt i n der Erwartung, daß die Mehrheit am ehesten zu einer richtigen, vernünftigen Entscheidung gelange. Dies kann aber verständlicherweise nicht besagen, daß die jeweilige, möglicherweise sehr dünne Mehrheit gegenüber der jeweiligen Minderheit einen Vorsprung an Vernünftigkeit besäße. 4 Das wäre mit der Konzeption der Demokratie unvereinbar, die darauf angelegt ist, daß die Minderheit von heute und ihre Meinungen die Chance haben, zur Mehrheit und Mehrheitsmeinung von morgen zu werden, was offensichtlich nicht heißen kann, daß Unvernunft zur Vernunft werde. Nicht eine vorübergehende Zufallsmehrheit kann also die definitive Gewähr für die größere Vernünftigkeit einer umstrittenen konkreten Entscheidung bieten. Erhofft werden kann aber, daß der common sense, der in der Vielzahl der Menschen gesammelt ist, langfristig und aufs große Ganze gesehen, am ehesten zu vernünftigen Lösungen gelange, vorausgesetzt, daß die Ansichten der Mehrheit sich in einem offenen Austausch der Argumente bilden; darin steckt 2 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, §§ 9 I, 1612, 28 I U I ; Th. Würtenberger, Akzeptanz von Recht und Rechtsfortbildung, in: P. Eisenmann / B. Rill (Hrsg.), Jurist und Staatsbewußtsein, 1987, S. 82 ff. 3 Die Stabilität und Befriedungsfunktion des politischen Gemeinwesens spielt auch unter dem Gesichtspunkt der Legitimität eine Rolle; insoweit ist später auf sie zurückzukommen (III 1). 4 Die Anmaßung, die einer solchen Ansicht zugrunde liegt, hat Tocqueville herausgestellt: Hier werde die Gleichheitslehre auf den Geist übertragen; dies aber „greift den Menschenstolz in seinem letzten Horte an: Daher erkennt die Minderheit sie nur widerstrebend an" (Über die Demokratie in Amerika, I 1835, II. Teil, Kap. 7).

II. Das Argument der Vernünftigkeit

131

auch das Vertrauen, daß dort, wo viele an der Meinungsbildung mitwirken, eine Vielzahl von Gesichtspunkten zur Sprache kommen kann, daß Irrtümer aufgedeckt und berichtigt und daß extreme Standpunkte korrigiert werden können. Nicht die jeweilige Zufallsmehrheit wäre, so betrachtet, Bürge der Vernünftigkeit, sondern der Prozeß einer offenen Bildung der öffentlichen Meinung, an der möglichst viele beteiligt sein sollen. I n Begriffen unserer Tage könnte man dies so ausdrücken, daß die Probleme des Staates in einem Prozeß von „trial and error" zu lösen seien, an dem alle teilhaben können und sollen und dessen — revidierbare — Entscheidungen v o m Konsens der Mehrheit getragen würden. M i t diesen Vorbehalten mag dann der Satz des Aristoteles stehenbleiben: Die Menge könne vieles besser beurteilen als einer allein. 5 In diesem Sinne können insbesondere die Gedanken des Marsilius von Padua interpretiert und weitergedacht werden, wenn dieser schrieb: A l l e oder die meisten hätten gesunden Menschenverstand, Vernunft und das richtige Streben nach dem, was für den Bestand des Staates notwendig sei. 6 Wenn das V o l k nicht minderwertig sei, werde zwar jeder aus i h m ein schlechterer Richter sein als die Sachkundigen. Doch würden diese gemeinsam m i t dem Volke besser oder wenigstens nicht schlechter urteilen als allein. 7 2. Zweifel an der Vernunft der Menge Freilich bleiben manche Zweifel an der Vernunftgläubigkeit: Erstens haben die Einzelnen sehr unterschiedliche individuelle Zielvorstellungen und Präferenzen, und es erscheint unmöglich, diese Unterschiede durch Vernunftgründe restlos auszuräumen, selbst dann, wenn jeder Gerechtigkeit erstreben würde. 8 Zweitens stellt sich die Frage, ob die Mehrzahl der Menschen sich überhaupt vorwiegend v o m Streben nach Vernunft und Gerechtigkeit leiten läßt oder eher v o m Eigeninteresse. Strebt also die öffentliche Auseinandersetzung stärker zu einem gerechten Interessenausgleich oder eher dahin, den größtmöglichen Vorteil der meisten zu suchen, und zwar auch auf Kosten von Minderheiten? 9 Ist eine Volksmenge vielleicht sogar weitgehend unfähig, ihre wahren Interessen zu erkennen? 1 0 Z w e i fel daran, ob eine gerechte und vernünftige Gemeinschaftsordnung sich unvermittelt auf demokratische Mehrheitsentscheidungen gründen lasse, werden nicht zuletzt auch durch die Manipulierbarkeit und demagogische Verführbarkeit der Menschenmassen geweckt.

5 Aristoteles, Politik, 1281 b, 1286 a. 6 Marsilius von Padua, Defensor Pacis, I Kap. 13 § 3. 7 Marsilius von Padua (Fn. 6), I Kap. 13 §§4, 7. 8 Dazu oben Kap. 9 I I 2. 9 Vgl. Heun (Fn. 1), S. 87 ff. 10 J. A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 4. Aufl. Kap. 21-23. 9*

1975,

132

Kap. 11 : Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

So ist die Reihe derer, welche die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der Mehrheit bezweifelt haben, lang und ehrwürdig. Sie reicht, um nur einige Namen zu nennen, von Piaton 1 1 über B o d i n 1 2 , Goethe, Schiller 1 3 und T o c q u e v i l l e 1 4 bis i n unsere T a g e 1 5 . I n der Skepsis Goethes gegen die Kompetenz der Mehrheitsmeinung sammelte sich unbestreitbare Lebenserfahrung: „Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will".16 I I I . Argumente aus der Idee des Konsenses Es ist also nach zusätzlichen Argumenten zu suchen, welche die Diskussion u m das Mehrheitsprinzip weiterführen können. Grundlegende Argumente hat John Locke aus der Idee des Gesellschaftsvertrages gewonnen. Die Hauptgedanken dieser Idee waren: Die Gemeinschaftsordnung auf die Übereinstimmung der Mehrheit zu gründen, diene der Stabilität der Gemeinschaft und entspreche der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit der Menschen. 1. Der Konsens als stabilisierender

Faktor

A u c h für Locke stellte die Gewährleistung von Rechtsfrieden und Rechtssicherheit eine wesentliche, wenn auch nicht die einzige Rechtfertigung einer Gemeinschaftsordnung dar. Insofern hielt er sich durchaus in der Linie der Hobbesschen Staatslehre. 17 Funktionsfähig und stabil sei eine solche Gemeinschaft aber nur dann, wenn sie der jeweils stärkeren Kraft folge, und dies sei eben die Mehrheit: „Denn da eine Gemeinschaft allein durch die Zustimmung ihrer einzelnen Individuen zu handeln vermag und sich ein einziger Körper auch nur in einer einzigen Richtung bewegen kann, so muß sich notwendigerweise der Körper dahin bewegen, wohin die stärkere Kraft ihn treibt. Und eben das ist die Übereinstimmung der Mehrheit". 18 Darum sei der Einzelne durch seine Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag „verpflichtet, sich der Mehrheit zu unterwerfen". 1 9 Freilich entsteht hier die n Platon , Staat, 487 ff., Staatsmann, 297 ff. 12 J. Bodin, Six Livres de la Republique, deutsch von Β. Wimmer, Bd. II, 1986, S. 396 ff. 13 F. Schiller, Demetrius, I 1, Vers 461 ff. 14 Tocqueville (Fn. 4), Kap. 5. 15 Vgl. etwa G.Jellinek, Das Recht der Minoritäten, 1898, S. 41; J.Binder, Philosophie des Rechts, 1925, S. 301 f Ε . ν . Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, 1959, S. 407 f., 414. 16 J. W. Goethe, Sprüche in Prosa, Über Naturwissenschaft, IV. 17 J. Locke, Two Treatises of Government, I I § 95. is Locke (Fn. 17), I I § 96; vgl. dazu auch Gierke (Fn. 1, 1873), S. 480. 19 Locke (Fn. 17), I I § 96.

III. Argumente aus der Idee des Konsenses

133

Frage, ob die stärkste Kraft immer die Mehrheit sein müsse. Gibt es doch auch sehr stabile Despotien, die Ordnung und Frieden gewährleisten, ohne auf der Grundlage demokratischer Mehrheitsbeschlüsse zu handeln. Dem kann man entgegenhalten, daß zum mindesten auf längere Sicht die Stabilität und damit auch die Befriedungs- und Ordnungsfunktion eines politischen Systems nicht zuletzt auf dessen breite Akzeptanz gegründet seien; daß man, wie das Sprichwort sagt, nicht dauernd auf Bajonetten sitzen könne; die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine staatliche Ordnung akzeptiert werde, sei aber dort am größten, w o die Mehrheit herrsche. 2 0 Kann aber, so läßt sich weiterfragen, Akzeptanz nicht auch von Machthabern gelenkt und manipuliert werden? W i r brauchen jedoch diese Fragen hier nicht zu vertiefen; denn eines steht jedenfalls fest: Die ordnungstiftende Kraft und Funktionsfähigkeit eines Systems, die selbst einem Konzentrationslagerregime zukommt, reicht für sich allein nicht schon zu dessen Rechtfertigung aus. 2 1 Dies hat Locke gesehen: 2. Der Vertragsgedanke

als Ausdruck

von Freiheit

und Gleichheit

Nach dem Vertragsgedanken sollte die politische Ordnung zusätzlich gegründet sein auf die Freiheit und Gleichheit aller und auf die „Übereinkunft, m i t anderen sich zusammenzuschließen und in einer Gemeinschaft zu vereinigen". 2 2 I n einer auf freiwilligen Zusammenschluß freier und gleicher Menschen gegründeten Gesellschaft könne niemand Gewalt haben, dieser Gesellschaft Gesetze zu geben, „als durch ihre eigene Zustimmung und eine von ihr empfangene Ermächtig u n g " . 2 3 Aber dieser Vertragsgedanke läßt sich nicht rigoros verwirklichen: Schon faktisch könnten nicht alle an allen Beschlüssen mitwirken; auch stünden Unterschiede der Meinungen und Interessen einer Einstimmigkeit zumeist entgegen. Eine Gemeinschaft wäre daher höchst instabil und könnte ihrer Ordnungsfunktion nicht genügen, wenn jedermanns Zustimmung zu jeder konkreten Entscheidung erforderlich w ä r e ; 2 4 diese Feststellung erfuhr eine historische Bekräftigung durch die destruktive Wirkung, die schon das liberum veto i m polnischen Reichstag hatte. 2 5 Kurz, die politische Wirklichkeit der Volksherrschaft muß hinter dem Leitbild des restlosen, auf alle Gegenstände zu erstreckenden Konsenses zurückbleiben. W i e läßt sich gleichwohl das Erfordernis der Funktionsfähigkeit mit dem Vertragsgedanken vereinbaren? Die Antwort lautet: M a n kann grundsätzlich m i t 20 So bereits Marsilius (Fn. 6), I 9 §§ 5 ff.; dazu auch oben Kap. 5 I. 21 Dazu auch oben Kap. 6 II. 22 Locke (Fn. 17), I I §§ 4, 95; vgl. auch U. E. Gut, Grundfragen und schweizerische Entwicklungstendenzen der Demokratie, 1983, S. 62 ff. 23 Locke (Fn. 17), I I § 134. 24 Dazu auch oben Kap. 5 I V ; vgl. Locke (Fn. 17), I I § 98. 25 Dazu H. Roos, Ständewesen und parlamentarische Verfassung in Polen (15051772), in: D. Gerhard (Hrsg.), Ständische Vertretungen in Europa, 1969, S. 363 ff.

1 3 4 K a p .

11: Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

dem politischen System, i n dem man lebt, einverstanden sein, ohne darum jeder einzelnen Entscheidung dieses Systems zuzustimmen. Rechtfertigende Grundlage für die Bindung des Einzelnen ist dann sein Grundkonsens zu dem politischen System und dessen Spielregeln, nicht seine Zustimmung zu jeder konkreten Einzelentscheidung, die innerhalb dieses Systems nach dessen Spielregeln getroffen wird. Schlüssig ist diese Gesamtkonzeption aber nur dann, wenn es i n der Entscheidung jedes Einzelnen steht, ob er diesem politischen Gemeinwesen grundsätzlich angehören w i l l oder n i c h t . 2 6 Welche Folgerungen sich hieraus ergeben, w i r d später zu zeigen sein.

I V . Insbesondere das Argument der gleichberechtigten Entscheidungskompetenz aller 7. Das Gewissen als letzte moralische

Instanz?

Zunächst ist aber weiter der Frage nachzugehen, worin das Konsensprinzip seine rechtfertigende Grundlage finde. A u f den Gedanken, daß alle Bürger eine gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz i n der politischen Gemeinschaft haben sollten, führte nicht nur die schon erwähnte naturrechtliche Idee einer angeborenen Freiheit und Gleichheit. Z u m gleichen Ergebnis gelangte man auch, wenn man die Frage stellte, wer überhaupt moralisch kompetent sein könne, die Maßstäbe einer gerechten Ordnung menschlichen Zusammenlebens festzustellen. Gäbe es „heteronome" Kriterien der Gerechtigkeit und richtigen politischen Handelns und könnten erlesene Köpfe besser als andere erkennen, was gerecht und vernünftig sei, so könnten sie auch berechtigt sein, hierüber verbindlich für alle zu entscheiden. Wäre hingegen die höhere Sachkompetenz irgendwelcher Autoritäten nicht zu erweisen, so müßte die Einsicht eines jeden für gleichberechtigt gelten. M a n stößt also auf die alte Frage, ob das Gewissen jedes Einzelnen die schlechthin letzte Instanz sei, zu der unser Bemühen u m ethische Einsichten, auch u m die gerechte Ordnung der mitmenschlichen Beziehungen, vordringen kann. 2. Die Antwort

des Protagoras

Eine frühe Vorstellung dieser A r t fand sich bereits in der Lehre der Sophisten, daß „jeder einzelne Mensch für sich das Maß aller Dinge' 4 sei. 2 7 „Das Schöne und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte, das Fromme und Frevelhafte, was i n diesen Dingen ein Staat für eine Meinung faßt und dann als gesetzmäßig feststellt, das ist es nun auch für jeden i n Wahrheit; und in diesen Dingen ist nicht der eine weiser als der andere". Nichts sei schon von Natur aus recht oder 26 Jellinek (Fn. 15), S. 11. 27 Protagoras , nach Piaton, Theaitetos, 152.

IV. Argument der gleichberechtigten Entscheidungskompetenz aller

135

unrecht; „sondern, was gemeinsam vorgestellt werde, das werde immer dann wahr, wenn es dafür gehalten wird, und solange wie es dafür gehalten w i r d " . 2 8 Hier finden w i r also eine Ausprägung des Gedankens, daß die Gemeinschaftsordnung auf den Konsens zu gründen sei und daß dieser seine Quelle in den Vorstellungen der Einzelnen habe. W o aber nicht alle übereinstimmen, muß dieser Gedanke dahin führen, die notwendigen Regeln des Gemeinschaftslebens faute de mieux auf den breitestmöglichen Konsens zu gründen. 3. Die Antwort

Kants

I n anderer philosophischer Perspektive führte später die Moralphilosophie Kants dazu, die Erkenntnisquelle praktischer Grundsätze in den Einzelnen selbst zu suchen. Diese Philosophie entstand in einer geistesgeschichtlichen Lage, i n der die Ausweitung interkultureller Berührungen die Vielfalt möglicher Weltanschauungen und Moralen vor Augen führte, i n der aber auch religiöse Bürgerkriege den Glauben an eine autoritativ vorgegebene Weltanschauung und Moral erschüttert hatten. I m Streit der Konfessionen und Moralen fand sich der Einzelne auf seine eigene Vernunft und sein Gewissen zurückgeworfen, mußte also das, was er selbst nach seinem Vernunftgebrauch für gut und richtig erkennt, als letzte Grundlage gelten, zu der unser Bemühen u m religiöse und moralische Einsicht vordringen kann. Kurz, das Gewissen jedes Einzelnen — nämlich „die dem Menschen . . . seine P f l i c h t . . . vorhaltende praktische Vernunft" — erschien jetzt als letzte uns zugängliche moralische Instanz. 2 9 Das bedeutete zugleich, daß jeder eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz ist, daß also jeder eine gleichberechtigte Beurteilungskompetenz und sittliche Würde hat. 4. Demokratietheoretische

Folgerungen

Übertrug man diese Vorstellungen aus dem Bereich der Individualmoral i n den des rechtlich geordneten Zusammenlebens, so mußten sie zu dem Anspruch führen, daß alle i n gleichberechtigter moralischer Kompetenz auch über die öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit, mitzureden und mitzuentscheiden haben. 3 0 Der schon ältere Gedanke, daß die politische Ordnung auf die Freiheit und Gleichheit aller gegründet sei, und die Vorstellung Rousseaus, daß auch i n politischen Gemeinschaften jeder nur sich selbst gehorchen solle 3 1 , stellen sich so zugleich als die politische Kehrseite der Moralphilosophie Kants dar.

28 Protagoras (Fn. 27), 172. 29 Dazu oben Kap. 7 11. so Vgl. /. Kant, Zum ewigen Frieden, 2. Aufl. 1796, S. 20; siehe auch unten Kap. 25 14. 31 J. J. Rousseau, Contrat social, I 6.

136

Kap. 11 : Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

Dem Idealbild der sittlichen Autonomie und Vernünftigkeit entspräche es hierbei, durch vernünftige Auseinandersetzung zu einem ausnahmslosen Konsens zu gelangen. Kant war allerdings Realist genug, dies nur als Leitbild, als „regulative Idee" zu nehmen. 3 2 A u f den von Habermas 3 3 beschworenen vernünftigen Diskurs, auf den „herrschaftsfreien Dialog aller m i t allen", auf den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments" allein läßt sich indessen eine Gemeinschaftsordnung nicht gründen. Dies hat mehrere Ursachen: Selbst wenn alle Beteiligten sich nur von ihrem Gewissen leiten ließen, würden in Fragen der richtigen Gesellschaftsordnung die individuellen Überzeugungen oft auseinandergehen, so ζ. B. i n den Fragen des Schwangerschaftsabbruchs oder der Sterbehilfe. Hinzu kommt, daß vernünftige Argumentation die Probleme der Sozialordnung nie vollständig i n aller Breite ausdiskutieren könnte, weil die soziale Wirklichkeit unendlich komplex und ihre Probleme unerschöpflich sind. Eine Gemeinschaftsordnung kann auch schon deshalb nicht bloß auf die Überzeugungskraft vernünftiger Argumente gegründet werden, weil diese oft nicht ausreicht, die bessere Einsicht auch zur W i r k u n g zu bringen und sie gegen handfeste Interessen oder Voreingenommenheiten durchzusetzen. 5. Der Kompromiß

zwischen Ordnung

und Selbstbestimmung

Den erreichbaren Kompromiß zwischen dem Konsensgedanken und dem Bedürfnis nach friedenstiftender verbindlicher Entscheidung glaubt man i m Mehrheitsprinzip gefunden zu haben: Indem man der größtmöglichen Zahl eine größtmögliche Mitbestimmung bietet, kommt man dem Ideal einer Selbstbestimmung aller so nahe, wie es die Realitäten erlauben. Die so gefundenen Entscheidungen sichern den Rechtsfrieden und ein geordnetes Zusammenleben nur dann, wenn sie für alle, auch für die Minderheit, verbindlich sind. Meinungsverschiedenheiten, gerade auch über Gerechtigkeitsfragen und politische Zielentscheidungen, nicht selten auch über zugrundeliegende Weltanschauungen, bergen ein beträchtliches Konfliktspotential, das den Rechtsfrieden gefährdet und nicht selten i n Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen führt. U m i n dem Streit der Meinungen Ordnung und Frieden zu stiften, bedarf es der verbindlichen Entscheidung des Gesetzgebers darüber, was als Recht und Unrecht, als Gut und Böse zu gelten h a t . 3 4

32 /. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, I I (Folgerung). 33 J. Habermas / Ν. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, 1971, S. 137, 164. 34 Th. Hobbes, De Cive, Vorwort an die Leser; vgl. auch S. Eisel, Minimalkonsens und freiheitliche Demokratie, 1986, S. 83 ff.

V. Freiheitssicherungen gegen die Mehrheit

137

Die Freiheit bleibt jedoch unter der Herrschaft des demokratischen Mehrheitsprinzips nicht ungeschmälert: W e i l die Mehrheit verbindlich entscheiden muß, muß die überstimmte Minderheit notgedrungen ihren Preis an individueller Selbstbestimmung bezahlen. Dies zu bestreiten, wäre ebenso unrealistisch wie unredlich. Es gibt Ideologien, die diese unvermeidliche Einbuße an individueller Freiheit leugnen wollen. Die bekannteste von ihnen ist die Lehre Rousseaus, nach dessen Staatsvorstellung der Gemeinwille das gemeinsame Interesse aller repräsentiere. Wer gegen den durch die Mehrheit ermittelten Gemeinwillen gestimmt habe, habe sich geirrt 3 5 und werde durch die Gesamtheit nur dazu „gezwungen, frei zu s e i n " . 3 6 A l l e Tyranneien, die sich auf das uneingeschränkte Recht des völkischen Gemeinwillens gründen, sind Erben dieses unklaren Gedankens. N u r wenn man das unvermeidliche Opfer an Freiheit, das die Gemeinschaft erfordert, unverstellt i n den B l i c k treten läßt, w i r d man auch bestrebt sein, dieses Opfer i n Grenzen zu halten, insbesondere Mindestpositionen der Freiheit durch Grundrechte zu gewährleisten und Einschränkungen der Freiheit nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Obermaßverbotes zu begrenzen. So las man bereits i m Federalist: „In einer Republik ist es von großer Wichtigkeit, nicht nur die Gemeinschaft gegen die Unterdrückung ihrer Regierung zu schützen, sondern auch einen Teil der Gemeinschaft gegen die Ungerechtigkeiten des anderen Teiles zu sichern." 37

V . Freiheitssicherungen gegen die Mehrheit Die zu lösende Aufgabe lautet also: Es sind Mindestpositionen individueller Freiheit zu sichern, ohne damit die Gemeinschaftsordnung zu gefährden; sie würde aber gefährdet, wenn den Einzelnen ein jederzeit aktualisierbares „Souveränitätsrecht" gegenüber der Mehrheit zustünde, wie dies verschiedentlich behauptet wurde. 1. Grundrechte:

ein mehrheitlich

festgesetzter

Minderheitsschutz

U m den Rechtsfrieden und die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft nach den Regeln der Demokratie und damit des Mehrheitsprinzips zu erhalten, ist es also nötig, daß Einzelne oder Minderheiten sich nicht aus eigener Kompetenz über die mehrheitlich beschlossene Gemeinschaftsordnung hinwegsetzen dürfen. Doch 35 Rousseau (Fn. 31), IV 2. Ohne viel Federlesens wurde nicht selten in frühen Rechten die Mehrheitsmeinung für die einhellige Meinung ausgegeben, Gierke (Fn. 1, 1873), S. 480, differenzierend für die spätere Zeit: S. 482 ff.; Elsener (Fn. 1), S. 81 ff.; von bloßen Folgepflichten der Minderheiten berichtet hingegen Starosolskyj (Fn. 1 ), S. 105 ff. 36 Rousseau (Fn. 31), I 7; vgl. auch Gut (Fn. 22), S. 98 ff. 37 Federalist , Nr. 51, vgl. auch Nr. 10; dazu oben Kap. 4 12.

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11: Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

bleibt es mit der Ordnungsfunktion der demokratischen Gemeinschaft vereinbar, daß — nach den Festsetzungen der Mehrheit selbst — Mindestpositionen der Einzelnen definiert und für unantastbar erklärt werden. Dies geschieht insbesondere i n Gestalt verfassungsrechtlicher Grundrechtsgarantien. Einzelnen kann sogar Dispens von solchen generellen Pflichten gewährt werden, die sie nach ihrem Gewissen nicht erfüllen zu können glauben; ein Beispiel bietet das Recht, den Kriegsdienst m i t der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern. 3 8 Diese Freiheitsrechte sind verständigerweise so zu umgrenzen, daß sie nicht die gleichberechtigten Freiheiten anderer und damit auch den Bürgerfrieden gefährden. Hier hat also die Mehrheit selbst Freiheiten garantiert. Kann aber die frühere Mehrheitsentscheidung einer späteren Mehrheitsentscheidung überhaupt Grenzen ziehen? Liegt es nicht i m Wesen lebendiger Demokratie, daß sich neue Mehrheiten bilden und früher gefaßte Mehrheitsentscheidungen umstoßen? 3 9 Die Verfassungstheorie gibt hierauf die Antwort, daß es Mehrheitsentscheidungen unterschiedlicher Bindungskraft gebe: Die verfassunggebende Gewalt kann dem einfachen Gesetzgeber Grenzen ziehen. 4 0 Die m i t demokratischer Mehrheit beschlossene (und die i m demokratischen Revisionsverfahren geänderte) Verfassung i m formellen Sinn hat also eine erhöhte Bestandsgarantie, an der sich die Mehrheitsentscheidungen des einfachen Gesetzgebers brechen. 41 Wodurch läßt sich der höhere Rang der Verfassungsnormen rechtfertigen, obgleich über die Verfassung, wie über ein einfaches Gesetz, das V o l k oder die von ihm gewählten Repräsentant e n 4 2 m i t Mehrheit beschließen? Ein wichtiger Grund dafür liegt i n der Grundsätzlichkeit und dem damit verbundenen sachlichen Gewicht der Entscheidungen, die in einer Verfassung getroffen sind. Diese Entscheidungen pflegen in bewußtem Abstand zu den Tagesquerelen vorbereitet zu werden: in staatstheoretischen Beratungen, die das bestmögliche grundsätzliche Funktionieren eines politischen Systems zum Gegenstand haben. 4 3

38 Dazu unten Kap. 13 I I 1. 39 Wie es die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 24. Juni 1793 (Art. 28) aussprach: „Eine Generation kann nicht die künftigen Generationen an ihre Gesetze binden". 40 Nach überwiegender Meinung kann sie auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber Schranken setzen (K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, §§ 4 I I 2a, 5 IV 1). Wer freilich in Frage stellt, daß verfassunggebende und verfassungsändernde Gewalt voneinander unterschieden werden können (vgl. H. U. Evers, im Bonner Kommentar, Art. 79 Abs. 3 Rdn. 88 f., 133 ff. m. Nachw.), muß auch bezweifeln, daß dem verfassungsändernden Gesetzgeber rechtsverbindliche Schranken gezogen werden können. 41 Stern (Fn. 40), § 3 I I 2 c, § 5 I I I 1. 42 Dort in einer verfassunggebenden Nationalversammlung, hier in einer gesetzgebenden Körperschaft. 43 Dazu oben Kap. 5 V. Die tatsächliche Praxis der Verfassunggebung nähert sich der theoretischen Modellvorstellung von John Rawls, der vorgeschlagen hat, die Suche nach Gerechtigkeit mit der Frage zu beginnen: Welche Grundsätze würden freie und

VI. Sicherungen gegen die Unvernunft der Mehrheitsentscheidungen 2. Die Menschenwürde

als unantastbare

139

Prämisse des Systems

Die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen findet aber noch eine grundsätzlichere Grenze: Das demokratische Mehrheitsprinzip gründet sich auf den Gedanken, daß jeder eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz sei; wenn dies zutrifft, dann dürfen Mehrheitsentscheidungen legitimerweise nicht diese fundamentale Prämisse, auf der sie selbst beruhen, aufheben. Dies bedeutet, daß Mehrheitsentscheidungen prinzipiell begrenzt sind durch das Gebot, die Menschenwürde und die m i t ihr verbundene fortdauernde, gleichberechtigte M i t w i r kungskompetenz eines jeden zu achten und zu erhalten. 4 4 Folgerichtigerweise erklärt das Bonner Grundgesetz Demokratie und Menschenwürde, die wie zwei Seiten einer Münze zusammengehören, zu schlechthin unantastbaren Grundlagen des Verfassungssystems und entrückt sie jeder Mehrheitsentscheidung (Art. 79 Abs. 3 GG)

V I . Sicherungen gegen die Unvernunft und Manipulierbarkeit der Mehrheitsentscheidungen Nicht nur gegen die Tyrannei der Mehrheit hat man sich gewandt und gegen sie Freiheitssicherungen errichtet. A u c h die Unvernunft und Manipulierbarkeit der Mehrheitsentscheidungen ist ein zu diskutierendes Faktum. Diesem Thema kann man eine prinzipielle und eine gemäßigte Fassung geben. 1. Die „elitäre"

Antwort

Die prinzipielle Fassung würde auf eine schon behandelte Frage zurückführen und besagen: Die Menschen hätten grundsätzlich eine ungleiche Einsichtsfähigkeit in praktischen Fragen; diese sei mit einem gleichen Mitbestimmungsrecht nicht vereinbar. Dieser Einwand bleibt indessen die Antwort schuldig auf die entscheidende Frage, an welchen jenseits des persönlichen Gewissens liegenden Kriterien sich messen ließe, wessen praktische Einsichten und Entscheidungen die besseren und gerechteren wären. 2. Die Antwort

des demokratischen

Verfassungsstaates

Der Vorbehalt gegen die „Unvernunft der Menge" kann aber auch in gemäßigter Fassung erscheinen. Hier würde nicht bestritten, daß das Gewissen jedes Einzelnen die letzte Instanz bleibt, zu der das Bemühen um praktische Einsichten vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse annehmen, wenn sie von der Gleichheit aller Beteiligten ausgingen und die Grundverhältnisse ihres Zusammenlebens regeln wollten? J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 28, 477. 44 Zippelius (Fn. 2), § 26 I I 2; im Ergebnis ähnlich jetzt auch Eisel (Fn. 34), S. 68 f., 77 ff.

1 4 0 K a p .

11: Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

vordringen kann. W o h l aber w i r d erstens davon ausgegangen, daß die Einzelnen sich i n ihrem Handeln und Entscheiden faktisch nicht stets nach ihrem Gewissen, sondern oft nach ihren Interessen richten, zweitens davon, daß die Ansichten der Einzelnen auch durch Gründe „aufgeklärt", reflektiert und der Vernünftigkeit nähergebracht werden können. So ist es notwendig, den Mängeln vordergründiger Mehrheitsentscheidungen abzuhelfen, insbesondere der Gefahr vorzubeugen, daß demokratische Entscheidungen an bloßen Privatinteressen, manipulierten Meinungen und Tagesstimmungen ausgerichtet werden. Z u diesem Zweck müssen die demokratischen Entscheidungen „abgeklärt" werden, das heißt: Das demokratische Prinzip bedarf einer Ergänzung durch Institutionen und Grundsätze, die dazu dienen, die Entscheidungen der Vernünftigkeit näherzubringen. 45 E i n i n solcher Weise institutionalisierter Verfassungsprozeß entfernt sich notgedrungen von dem Ideal der identitären Demokratie, daß alle staatlichen Entscheidungen von der Bürgermehrheit getroffen werden sollten 4 6 , überläßt dieser aber die Pauschalabrechnung am Ende der Legislaturperiode. Nach den Spielregeln des demokratischen Verfassungsstaates sollen i n einem freien und womöglich von Vernunftgründen geleiteten Wettbewerb zwischen den sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Meinungen die Ziele der Gemeinschaft sich klären und wandeln. 4 7 I n diesen Auseinandersetzungen soll ein gerechter Kompromiß zwischen den widerstreitenden Interessen und Meinungen angestrebt werden, der nach Möglichkeit den Nutzen optimiert und auf die Interessen und Meinungen von Minderheiten Rücksicht n i m m t . 4 8 Der Kompromiß ist die Lebensform der pluralistischen Demokratie. 4 9 Rechtsstaatliche Sicherungen offener Auseinandersetzungen und öffentlicher Kontrollen liegen insbesondere i n der Gewährleistung von Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, aber auch i n der Gewährleistung der Öffentlichkeit parlamentarischer und gerichtlicher Verhandlungen und überhaupt i n dem Publizitätsgebot für staatliches Handeln. Dadurch w i r d sichergestellt, daß die einmal getroffenen Entscheidungen kritisiert und einer Korrektur zugänglich gemacht werden können und daß das politische Geschehen insgesamt als ein offener Prozeß von „trial und error" abläuft. Gerade der Verzicht auf den Wahrheitsanspruch der Mehrheitsentscheidungen 45 Ausführlicher dazu oben Kap. 5 V. 46 Vgl. W. Steffani, Mehrheitsentscheidungen und Minderheiten in der pluralistischen Verfassungsdemokratie, Zeitschr. f. Parlamentsfragen, 1986 S. 573, 581 f. 47 Vgl. BVerfGE 5, 135, 197 f., 205; 12, 125; 69, 345 f. 48 Dieses Prinzip wurde insbesondere für den Ausgleich verfassungsrechtlich gesicherter Freiheiten formuliert (Nachweise bei 77z. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 201 1). Es gilt aber ganz allgemein für den Ausgleich der Interessen und Zielvorstellungen in einer offenen Gesellschaft. Vgl. auch Würtenberger (Fn. 2), S. 98. 49 Dazu unten Kap. 19 I 2. Nachträgliche Einfügung.

VII. „Souveränitätsrechte" gegen die Mehrheit?

141

und damit verbunden das Recht politischer Minderheiten, solche Entscheidungen zu kritisieren und auf deren Änderung hinzuwirken, erhöht die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen auch für die Minderheiten, die ihnen nicht zugestimmt haben. 5 0 Das Konzept einer freiheitlichen Demokratie beinhaltet nicht zuletzt eine Absage an alle selbsternannten Besserwissenden, die in Anspruch nehmen, als eine Gegenautorität Entscheidungen in Frage zu stellen, die nach den Regeln der demokratischen Willensbildung — auch nach solchen der demokratischen Repräsentation — getroffen sind. Wer in Anspruch nimmt, den wahren W i l l e n und das bessere Ich des Volkes zu repräsentieren, muß den Beweis hierfür i n institutionalisierter Weise antreten, er muß die Überzeugungskraft seiner Argumente i m öffentlichen Meinungsstreit einsetzen und erproben, mit der Chance und dem Risiko, daß diese sich i n den kommenden Wahlen auswirken oder nicht auswirken. Wer, wie Habermas, den „eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments" ( I V 4) in einer Gemeinschaft von Bürgern zur Geltung bringen w i l l , i n der jeder dem anderen gleichzuachten ist, muß die nächsten Wahlen abwarten und zusehen, ob das, was er selbst für zwingend hält, auch alle anderen oder doch wenigstens die Mehrheit „ z w i n g t " .

V I I . „Souveränitätsrechte" gegen die Mehrheit? M a n hat neuerdings geltend gemacht, das politische System der Demokratie, einschließlich des Mehrheitsprinzips, beruhe auf einem Grundkonsens, der Grenzen habe. Diese seien dort erreicht, wo durch die Mehrheitsentscheidung eine Minderheit „sich i n fundamentalen Interessen wie denen an Überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, lebenswerte Umweltbedingungen usw. betroffen w ä h n t " . 5 1 Der Basiskonsens billige die Mehrheitsentscheidung als Methode der Konfliktsschlichtung nur für die Normallage, nicht aber auch für die Existenzfragen. 5 2 7. Wer entscheidet, was eine Existenzfrage

ist?

Hier entsteht zunächst das vordergründige Problem, wer jeweils darüber entscheiden sollte, ob i n der konkreten Situation die Grenze der Normalität überschritten w i r d und eine „Existenzfrage" betroffen ist. Da solche „Existenzfragen" je nach der historischen Situation variieren, müßte auch immer wieder neu darüber entschieden werden, wo die Grenze zwischen der Normalität und den „Existenzfragen" verläuft. Wer sollte aber hierüber befinden? 5 3 M a n wollte diese Kompeso Vgl. BVerfGE 69, 345 ff.; s. auch Eisel (Fn. 34), S. 77 ff. 51 B. Guggenberger / C. Offe , An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, S. 13. 52 Guggenberger ! Offe (Fn. 51), S. 16 f.

142

Kap. 11 : Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

tenz der Minderheit zusprechen, die den Rechtsgehorsam verweigern möchte: Sie habe darüber zu entscheiden, wann jeweils nach ihrer „Wahrnehmung" i n die „Normalität" eingegriffen werde — nämlich „ i n die Freiheit, zu leben und weiterzuleben, wie man es gewohnt i s t " . 5 4 Damit besäße sie die Letztkompetenz, subjektiv über die Bedingungen zu entscheiden, unter denen sie sich durch die Mehrheitsentscheidungen gebunden hält. 2. Wer entscheidet über Existenzfragen? Selbst wenn aber m i t mehr Überzeugungskraft bestimmt werden könnte, was „Existenzfragen" der politischen Gemeinschaft sind, bliebe zu beantworten, ob solche Fragen dem geordneten staatlichen Entscheidungsprozeß vernünftigerweise entzogen werden können. W i e sollte der soziale Friede dort gewahrt werden, wo i n der Gemeinschaft verschiedene Gruppen zusammenstoßen, deren jede die bessere Einsicht und die „Souveränitätsrechte" für sich in Anspruch n i m m t ? 5 5 Diese Frage führt auf ein schon behandeltes Thema zurück ( I V 5): Der bürgerliche Friede kann nur dann gesichert werden, wenn gerade auch in „Existenzfragen" eine verbindliche Entscheidung in einem geordneten Verfahren getroffen wird. Ja gerade in solchen Fragen erscheint es noch dringender, das Verfahren einer geregelten Konfliktsschlichtung einzuhalten, als in den „Normallagen", für deren untergeordnete Konflikte man nicht so leicht einen Bürgerkrieg führen wird. M i t anderen Worten: Wenn eine souveräne Entscheidungsinstanz i m politischen Gemeinwesen benötigt w i r d und ihre Rechtfertigung in der Friedenssicherung hat, dann bedarf es ihrer in besonderem Maße gerade auch, um über den „Ausnahmefall" zu entscheiden. 5 6 Es bleibt nur die Frage: Quis judicabit? Lehnt man die demokratische Antwort ab, daß die Entscheidung auf der Grundlage des breitestmöglichen Konsenses getroffen werden solle, so kann eine alternative Antwort nur lauten, daß die Entscheidung Einzelner oder einer Minderheit maßgeblich sein sollte, und zwar solcher Personen, die von sich behaupten dürften, einsichtiger zu sein als die anderen. Solch eine autoritäre Entscheidung der Besserwissenden, welche die Mehrheit einer Minderheit unterwerfen w ü r d e 5 7 , ist für ein demokratisches Staatsverständnis nicht akzeptabel. Zudem gefährdet sie den Bürgerfrieden; denn sie 53 Über die Vielzahl der Probleme, die man in jüngster Zeit zu „Existenzfragen" erklärt hat, vgl. S. Eisel (Fn. 34), S. 164 ff. 54 Guggenberger / Offe (Fn. 51), S. 17. 55 Vgl. H. H. Klein, Ziviler Ungehorsam im demokratischen Rechtsstaat?, in: B. Rüthers / K. Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, S. 188 f.; ders., Legitimität gegen Legalität? in: Festschr. f. K. Carstens, 1985, S. 660; G. Ress, Die Autoriät des Verfassungsrechts, in: T. Stein (Hrsg.), Die Autorität des Rechts, 1985, S. 11 ff. 56 Vgl. Klein (Fn. 55, 1985), S. 655; H. Sahner, Sozialer Wandel und Konsens, in: Hattenhauer / Kaltefleiter (Fn. 1), S. 99 f. 57 Vgl. Starosolskyj (Fn. 1), S. 93 f.; Eisel (Fn. 34), S. 53, 169 ff.

VII. „Souveränitätsrechte" gegen die Mehrheit?

143

läßt anderen die Möglichkeit, für ihre abweichenden Vorstellungen gleichfalls die bessere Einsicht i n Anspruch zu nehmen. Dieser Weg führt i n Fragen, die für existenzwichtig gehalten werden, entweder in einen „Glaubenskrieg" 5 8 oder i n die autoritäre „Glaubensherrschaft" derer, denen es gelingt, der übrigen Gemeinschaft ihre Vorstellungen aufzuzwingen. 3. Die äußerste Probe der Selbstbestimmung W i e stellt sich unter diesen Prämissen die Lage einer Minderheit dar, die zu der Ansicht gelangt, sie könne der mehrheitlich gestalteten Gemeinschaftsordnung grundsätzlich nicht folgen, kurz, wenn sie sich dem „Grundkonsens" nicht oder nicht mehr anschließen w i l l ? Hier harrt eine früher gestellte Frage der Antwort: Soll legitimerweise das Mehrheitsprinzip auch für den „Grundkonsens" selber gelten? Die Antwort muß zweigeteilt sein: Für den Beschluß der Staatsverfassung kann nicht die Zustimmung ausnahmslos aller gefordert werden 5 9 , wenn man über bestehende Meinungsverschiedenheiten hinweg zu einer funktionsfähigen staatlichen Ordnung gelangen w i l l . Zugleich aber darf niemand gegen seinen W i l l e n gezwungen werden, i n einem politischen System zu leben, m i t dem er von Grund a u f 6 0 nicht einverstanden ist. I n jedem auf Konsens gegründeten, also wahrhaft demokratischen Gemeinwesen muß darum grundsätzlich 6 1 jeder das Recht haben, diese staatliche Gemeinschaft zu verlassen. Das ist die staatsphilosophische Wurzel der Freizügigkeit, die in ihrem notwendigsten Gehalt also eine Auswanderungsfreiheit sein muß. Wenn diese von freiheitlich-demokratischen Staaten eingeräumt wurde, so bedeutete das verfassungsgeschichtlich die Abkehr von einer Verfassungsordnung, in der die Obrigkeit sich anmaßte, über Menschen wie über ein Besitztum zu verfügen und sie als Ausbeutungsobjekte und Zubehör zu behandeln. Die Auswanderungsfreiheit ist die äußerste Probe darauf, ob ein Staat noch den elementarsten Teil der politischen Selbstbestimmung seiner Bürger achtet: nämlich die Freiheit, sich von einem Staat, den er i m ganzen nicht akzeptiert, loszusagen.

58 Vgl. auch Ch. Gusy, Konsensprinzip oder Demokratie?, Ztschr. f. Politik, 1985, S. 150; Eisel (Fn. 34), S. 172 ff. 59 Vgl. Sahner (Fn. 56), S. 97. 60 Wesentlich ist insbesondere das prinzipielle Einverständnis mit der Legitimationsgrundlage der Staatsgewalt, den grundlegenden Rechtsgarantien und den fundamentalen Spielregeln, nach denen der staatliche Wille gebildet werden soll. In ähnlicher Weise hat man auch von einem System- und Spielregelkonsens gesprochen; S. Eisel, Konsens im Konflikt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1986, Β 10, S. 5. 61 Das positive Recht demokratischer Staaten pflegt gleichwohl aus schwerwiegenden Gründen — etwa zum Vollzug einer verwirkten Strafe — Ausnahmen vorzusehen, vgl. § 7 des Paßgesetzes i. d. F. v. 19. 4. 1986 (BGBl. I, S. 537).

1 4 4 K a p .

11: Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie

Insoweit kann und muß also der alte Vertrags- und Konsensgedanke, der ursprünglich das Einverständnis eines jeden bedeutete, seinen ursprünglichen Sinn bewahren. 6 2

62 Auch diese Folgerung des Selbstbestimmungsgedankens wurde von Vätern des politischen Konsensprinzips und damit der demokratischen Idee im wesentlichen schon gezogen. Vgl. S. Pufendorf, De jure naturae et gentium, 1672, V I I I 11, § 2; E. de Vattel, Le droit des gens, 1758,1 19, §§ 220 ff.; K. Th. Welcher, Die letzten Gründe von Recht und Strafe, 1813, S. 90 ff.; C. v. Rotteck, Art. Auswanderung, in: Staats-Lexikon, Bd. I, 2. Aufl. 1845, S. 793 ff.; vgl. Starosolskyj (Fn. 1), S. 95; D. D. Hartmann, Ausreisefreiheit, JöR n. F. 17 (1968), S. 441,452 ff.; F. A. Prieto Gil, Die Aus- und Einwanderungsfreiheit als Menschenrecht, 1976, S. 88 ff.; K. Graf Ballestrem, in: B. Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, S. 153 ff.

Kapitel

12

Akzeptanz durch Einsicht oder Die Erziehung zum Bürger Nach demokratischer Vorstellung und der m i t ihr verbundenen Idee v o m „mündigen Bürger" soll das politische Gemeinwesen dadurch in Funktion gehalten und legitimiert werden, daß nicht nur die Regierenden, sondern alle Bürger in weitestmöglichem Umfang Einsicht i n die wirksamen Struktur- und Ordnungsprinzipien ihres politischen Zusammenlebens gewinnen und sie akzeptieren.

I . Heranführung an Struktur- und Ordnungsprinzipien politischer Gemeinschaften 7. Der Ansatz an schon Bekanntem Das Verständnis für diese Struktur- und Ordnungsprinzipien erschließt sich am leichtesten dadurch, daß man i n ihnen Modalitäten von schon Bekanntem erkennt oder Bekanntes als Element politischer Gefüge wiedererkennt. Wesentliche Grundstrukturen und Grundprobleme des Zusammenlebens erfährt der Einzelne zunächst i n der Familie. So lassen sich manche elementare Einsichten in das Gefüge und Funktionieren politischer Verbände von den Erfahrungen her erschließen, die in der Familie gemacht werden — ganz ungeachtet der Frage, ob Staaten sich auch historisch aus Familien und Familienverbänden gebildet haben. Eduard Spranger hat dies in überzeugender Weise dargestellt 1 : So werden i n der Familie Strukturen der Über- und Unterordnung, der Macht und der Abhängigkeit erlebt. Schon hier w i r d die Vielschichtigkeit von Macht und Abhängigkeit sichtbar: Daß jemand einem anderen seinen W i l l e n wirksam aufdrängen kann, beruht keineswegs immer nur auf körperlicher Kraft oder auf der Verfügungsmacht über Sachen und Vermögen, sondern nicht minder auf geistiger Überlegenheit, Überredungskunst, j a nicht selten auch auf der Nutzung menschlicher Liebe und Zuneigung. Solche Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse werden hier auch schon in der Wechselbezüglichkeit faßbar, die zwischenmenschlichen Beziehungen regelmäßig innewohnt: Es zeigt sich bereits i n der Familie, daß auch der stärkere Partner 1

E. Spranger, Gedanken zur staatsbürgerlichen Erziehung, 4. Aufl. 1961, S. 15 ff.

10 Zippelius

146

Kap. 12: Akzeptanz durch Einsicht

i n vielen Hinsichten von anderen abhängig, daß er auch i m Verhältnis zu den Kindern in zahlreichen Bindungen und insbesondere Verantwortlichkeiten mitverflochten, daß keiner ganz frei und keiner ganz unfrei ist. Erlebt w i r d nicht nur das M i t - , sondern auch das Gegeneinander, das Ringen u m Dominanz i m Verhältnis zwischen den Ehegatten und zwischen den Generationen, die Auseinandersetzung und das Sich-vertragen. Neben den Beziehungen der Über- und Unterordnung stehen solche des Gebens und Nehmens, des Austausches und der Gegenseitigkeit. Dabei zeigt sich, daß selbst solche Austauschbeziehungen nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern m i t den Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten verflochten sind, daß etwa der stärkere T e i l aus seiner Verantwortung gegenüber dem schwächeren nicht auf strikter Gegenseitigkeit der Leistungen besteht. 2. Das Erfahren

der Komplexität sozialer und Ordnungsaufgaben

Beziehungen

Schon die einfache Erlebnissituation der Familie zeigt, daß die Struktur einer Gemeinschaft sich nicht auf ein einfaches Prinzip zurückführen, nicht aus einer einzigen Wurzel herleiten, sich also nicht „radikal" begreifen läßt, sondern von Grund auf komplex ist: I n ihr stehen verschiedene Bedürfnisse und Strukturprinzipien in spannungsreichen und veränderlichen Beziehungen zueinander. Ist dieser Sachverhalt eingesehen, drängen sich zahlreiche Beispiele auf. Fortwährend sind Freiheiten und Achtungsansprüche gegeneinander abzugrenzen: Pressefreiheit und Ehrenschutz, Interessen von Grundstücksnachbarn, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, von Mietern und Vermietern, von Käufern und Verkäufern. Gerechtigkeit zu schaffen, erscheint hier vor allem als Aufgabe, in diesen Konflikten für jede Seite das richtige Maß und den richtigen Modus der Interessen- und Freiheitsgewährleistung zu finden. Darüber hinaus stellt sich die allgemeine Frage, welchen grundsätzlichen Bedürfnissen der Staat dienen solle: dem Wunsch nach möglichst ungehinderter Ellenbogenfreiheit für alle, dem Bedürfnis nach gleichmäßiger Verteilung des materiellen Wohlstandes, dem Interesse der Bürger an politischer Mitbestimmung oder dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsfrieden. Es sind Zwecke, die sich gegenseitig teils ergänzen, teils aber auch widersprechen; und je nach der Kombination dieser verschiedenen Zwecke und nach dem Maß, in dem sie verwirklicht werden sollen, ergeben sich unterschiedliche politische Programme, i n deren Dienst sich die Parteien stellen. 2 I n einem Spannungsverhältnis stehen nicht zuletzt auch die Forderungen einerseits nach ordnenden staatlichen Eingriffen und andererseits nach Freiräumen, die der Staat zu belassen habe. Zieht sich der Staat zu sehr aus seiner Regelungsverantwortung zurück, läßt er dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte 2 Dazu unten Kap. 14 IV.

I. Struktur- und Ordnungsprinzipien politischer Gemeinschaften

147

einen zu breiten Raum, so werden diese die ihnen belassene Freiheit oft i n Unfreiheit für andere ummünzen: So haben das Arbeiterelend und andere soziale Mißstände, die sich unter dem allzu liberalen „Nachtwächterstaat" des neunzehnten Jahrhunderts ausgebreitet hatten, die Notwendigkeit sozialstaatlicher Regelungen sichtbar gemacht. Andererseits bedrängt ein Übermaß an staatlicher Regelung und Bevormundung — etwa nach dem Beispiel des absolutistischen Polizeistaates oder der totalitären Regime Hitlers und Stalins — die Freiheit in unerträglichem Maße. So sieht sich der Staat fortwährend dem Risiko ausgesetzt, zu viel Freiheit zu gewähren und damit den Mißbrauchsmöglichkeiten die Tür zu weit zu öffnen, oder zu wenig Freiheit zu lassen und damit ein elementares Bedürfnis zu ersticken. — Dabei gehört es zur staatsbürgerlichen Bildung, einzusehen, daß auch für dieses Dilemma keine einfache und auch keine abstrakte Lösung zur Verfügung steht; vielmehr ist i n den sich wandelnden Situationen durch konkrete Politik fortwährend das richtige Maß staatlicher Regelung zu suchen: die rechte Mitte zwischen einer totalitären Bevormundung einerseits und einer zu großen Liberalisierung andererseits, welche die Selbstsucht und Zügellosigkeit der Einzelnen zu einem sozialen Mißstand anwachsen läßt. 3 A u c h in der zeitlichen Dimension — i m Streit zwischen Konservativismus und Fortschrittsgedanken — stellt sich fortwährend die Aufgabe, das richtige Maß zu finden. Der Konservativismus w i l l überkommene Ordnungsmodelle möglichst erhalten: Die Verläßlichkeit der bestehenden Ordnung, ihre Kontinuität und Stabilität, kommt dem elementaren Bedürfnis nach Orientierungsgewißheit entgegen und ist Grundlage allen Disponierens. A u c h hat das Überkommene zumeist eine Probe seiner Funktionsfähigkeit schon bestanden. Andererseits erfordern technischer Fortschritt und gesellschaftlicher Wandel eine Anpassung jener sozialen und rechtlichen Ordnungsmodelle, die in ihrer überkommenen Form ihre Funktion unzweckmäßig erfüllen oder zu Schäden oder Ungerechtigkeiten führen. A u c h hierin liegt eine der Antinomien, die das Leben und Handeln bewegen und innerhalb deren ständig das zuträgliche Maß gefunden werden muß: Erstarrung w i r d auf Dauer ebensowenig ertragen wie Verunsicherung. Nur die Akzente verschieben sich: In historischer Perspektive scheinen Epochen abzuwechseln, i n denen bald Aufbruchsstimmung, bald Konsolidierungsbedürfnis vorherrschen. 3. Die Konfrontation

mit normativen

Fragen

Es leuchtet ein, daß die komplexen sozialen Beziehungen einer Regelung bedürfen, daß insbesondere für alle Beteiligten das Maß ihrer Freiheiten bestimmt werden muß und daß es hierzu nicht einfach nur einer normativen Ordnung, sondern einer richtigen Ordnung bedarf.

3 Dazu unten Kap. 19 I I 3. 10*

148

Kap. 12: Akzeptanz durch Einsicht

a) Schon u m der Orientierungsgewißheit willen — damit die Menschen ihr Handeln i n vorhersehbarer und verläßlicher Weise aufeinander einstellen können — müssen normative Verhaltensmuster geschaffen werden. Erst wenn Menschen ihren Platz i n normativ geordneten Lebensbereichen haben, befinden sie sich „ i n stabilen Gefügen" 4 . M e h r noch: Gemeinschaft bildet sich geradezu als Gefüge sinnorientierten Verhaltens, dadurch nämlich, daß Menschen ihr Handeln nach den selben Verhaltensnormen richten und es dadurch aufeinander einstellen und koordinieren. Solche Verhaltensnormen beschreiben nicht, wie Menschen sich regelmäßig verhalten (etwa, daß sie bei Regen den Schirm aufzuspannen pflegen), sondern sie schreiben vor, wie sie sich verhalten sollen (etwa, daß sie eine Geschwindigkeitsbegrenzung einhalten sollen) — selbst wenn sie dies häufig nicht tun. 5 Eine friedlich geordnete politische Gemeinschaft setzt voraus, daß die einzelnen das Verhalten regelnden Normen sich widerspruchsfrei zu einer verläßlichen Gemeinschaftsordnung zusammenfügen. Soweit dieser Zweck es erfordert, muß also die Regelungsmacht zentralisiert und arbeitsteilig geordnet sein. U m die Beachtung der Verhaltensnormen zu gewährleisten, müssen diese i n einem geordneten Verfahren durchsetzbar sein. I m wesentlichen hat diese Funktionen der staatlichen Rechtsordnung schon Thomas Hobbes erfaßt, wenn er verlangte, daß die Einzelnen sich einer Zentralgewalt unterwerfen, die Macht genug besitzt, um die Menschen zur Einheit und Einigkeit zu bestimmen. 6 b) W i r pflegen uns jedoch nicht mit jeder staatlichen Regelung zufrieden zu geben. Insbesondere weckt eine Regelung, die einseitig das Interesse des Mächtigeren auf Kosten von Schwächeren befriedigt, Kritik. Sobald w i r aber einen Rechtszustand kritisieren, werfen w i r die Frage nach dem „richtigen", gerechten Recht auf, nehmen w i r also in Anspruch, über einen Maßstab zu verfügen, den w i r an das positive Recht anlegen können. Auch hierbei ist einer Verengung der Fragestellung und einer Verkürzung der Lösungsgesichtspunkte vorzubeugen. Zur Vielfalt der Gerechtigkeitsprobleme 7 mögen hier einige Andeutungen genügen: Fragen der „Verfassungsgerechtigkeit" stellen sich hinsichtlich der i n einer Gemeinschaft auszuübenden Macht- und Regelungsbefugnisse: wie diese zu verteilen und auszuüben, zu beschränken und zu kontrollieren seien und wie der Zugang zu den Kompetenzen auszugestalten sei; zur Verfassungsgerechtigkeit gehören auch die Fragen der Rechts Staatlichkeit und insbesondere der Grundrechtsgarantien. Fragen der „ausgleichenden Gerechtigkeit" betreffen den Güterund Schadensausgleich zwischen den Mitgliedern einer Rechtsgemeinschaft, zumal auf Grund schädigender Handlungen und auf Grund von Rechtsgeschäften

4

Dazu unten Kap. 15 11b. 5 Dazu unten Kap. 13 I 1. 6 Dazu oben Kap. 5 II. 7 Ausführlicher dazu R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §§ 16 II, 29 ff.

II. Erziehung zum Bürger als Aufgabe und Mittel der Politik

149

— hier entstehen insbesondere die Fragen nach dem gerechten L o h n und dem gerechten Warenpreis. Unter dem Aspekt der „austeilenden Gerechtigkeit" geht es um die angemessene Verteilung von Lasten — etwa um das Besteuerungssystem und die Wehrpflicht — und von Ämtern und Gütern in einer Gemeinschaft; selbst für die Völkergemeinschaft gewinnt dieses Gerechtigkeitsprinzip Bedeutung und politische Brisanz: so in dem Anspruch der Entwicklungsländer, am Wohlstand der besitzenden Nationen beteiligt zu werden. Grundsätze der „Verfahrensgerechtigkeit" betreffen Verfahren, die einer geordneten Konfliktsregelung dienen oder zu einer Bestrafung führen; zu ihnen gehört das Prinzip der „Waffengleichheit" für alle Beteiligten, insbesondere der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, aber auch die Unparteilichkeit des Richters, auch die Öffentlichkeit des Verfahrens, damit jeder sich überzeugen kann, daß alles „ m i t rechten Dingen zugegangen" ist. Fragen der „Strafgerechtigkeit" gelten unter anderem der A r t und dem Maß der Strafe, der Voraussehbarkeit der Strafe (nulla poena sine lege) und den Strafzwecken: Soll die Strafe nur der Verhütung künftiger Straftaten (punitur ne peccetur) 8 oder auch, vielleicht sogar nur der Sühne dienen (punitur quia peccatum est) — so daß ζ. B. auch ein „harmlos" gewordener „ A d o l f Eichmann" noch zu bestrafen ist?

I I . Erziehung zum Bürger als Aufgabe und Mittel der Politik 1. Klassische

Ansätze

Seit der Antike erscheint die Erziehung zum Bürger als Instrument der Politik: Diesen bestimmte Vorstellungen einzupflanzen, stellt sich als wichtiges M i t t e l dar, das Gemeinwesen funktionsfähig und i n guter Ordnung zu erhalten. Bei Aristoteles findet sich der Gedanke, die Tugend des Staates gründe sich auf die Tugend der Bürger und diese beruhe auf Anlage, Gewöhnung und vernünftiger Einsicht. 9 V o n daher erscheinen Erziehung und Bildung in ihren vielfältigen Verzweigungen 1 0 zugleich als politische Aufgaben. 1 1 Fichte wollte dem Staat sogar die Aufgabe zuweisen, die Bürger zur Vernünftigkeit zu bilden und notfalls zu zwingen und durch die Vervollkommnung der Menschen sich selbst überflüssig zu machen. 1 2 Nach Kerschensteiners Meinung sollte insbesondere die Schule jene Tugenden ausbilden, von denen das Gedeihen des Staates abhängt. 1 3

8 Seneca, De ira, 119. 9 Aristoteles, Politik, 1332. 10 Aristoteles, Politik, 1336 a ff. 11 Vgl. G. Kerschensteiner, Der Begriff der staatsbürgerlichen Erziehung, 10. Aufl. 1966; Th. Litt, Die politische Selbsterziehung des deutschen Volkes, 6. Aufl. 1961. 12 R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 9. Aufl. 1994, Kap. 17 a. 13 G. Kerschensteiner, Die staatsbürgerliche Erziehung der deutschen Jugend, 10. Aufl. 1931.

150

Kap. 12: Akzeptanz durch Einsicht 2. Unterschiedliche

Ideen für Eliten und Geführte?

a) Der Gedanke, daß die Ideen über die Lenkung eines Gemeinwesens der führenden Schicht zu vermitteln seien, findet sich sehr ausgeprägt bei Piaton. Davon ausgehend, daß die Menschen unterschiedliche Anlagen haben und daß i m politischen Gemeinwesen jeder die Funktionen ausüben solle, die seinen Anlagen entsprechen 14 , gelangte er zu der Vorstellung, den Staat sollten diejenigen leiten, die zu erkennen vermöchten, was gut und vernünftig sei. 1 5 Die Erziehung der künftigen Staatslenker habe den B l i c k von den Schattenbildern der Erscheinungswelt weg auf das Wesen der Dinge und des Guten zu lenken. 1 6 Dem gemeinen V o l k stünden die Lenker des Staates gegenüber wie die Hirten der Herde, wie später der Klerus den Laien. W o es zum Besten des Volkes diene, sollten die Regierenden auch L u g und Betrug wie eine Medizin anwenden. 1 7 Später empfahlen etwa Polybios 1 8 , M a c h i a v e l l i 1 9 und V o l t a i r e 2 0 mit einem Augurenlächeln, religiöse Vorstellungen als M i t t e l zu einer verständigen Leitung des Volkes einzusetzen. b) Inzwischen verloren Autoritäten an Überzeugungskraft. 21 Die Einzelnen sahen sich zunehmend auf ihre eigene Einsicht und ihr individuelles Gewissen zurückgeworfen. Nach der Moralphilosophie Kants sollte das Gewissen jedes Einzelnen eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz sein. Dieser geistesgeschichtlichen Situation entsprach das Programm der Aufklärung, die Einzelnen aus ihrer Unmündigkeit herauszuführen, sie zu ermutigen und zu befähigen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. 2 2 Aus diesen Vorstellungen erwachsend verband sich das Programm allgemeiner Volksbildung mit der Idee der Demokratie; es sollte jetzt „jeder Bürger zum homo politicus, zum gebildeten Staatsmann, erzogen werden". 2 3 M ü n d i g gewordene Bürger sollten in gleichberechtigter Kompetenz auch über die öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit, mitreden und wenigstens an wesentlichen Letztentscheidungen teilnehmen. Nach demokratischem Legitimitätsverständnis sollen die i m Rechtssystem hervorgebrachten Normen Ausdruck der für die Mehrheit konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen und politischen Leitideen sein.

14 15 16 π is 19

Platon, Staat, 370, 433 f., 443. Piaton, Staat, 473, 484 ff. Vgl. Piaton, Staat, 517 f. Piaton, Staat, 382, 389, 414, 459. Polybios, Historien, V I 56. N. Machiavelli, Discorsi, I 11, I I I 33. 20 Voltaire, Histoire de Jenni, XI. 2 1 Siehe unten Kap. 15 I I 2. 22 Vgl. /. Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? 1784. 2 3 W. Flitner, in: A. Hunold (Hrsg.), Erziehung zur Freiheit, 1959, S. 137.

II. Erziehung zum Bürger als Aufgabe und Mittel der Politik

151

Doch entspricht auch hier die Wirklichkeit nicht dem Ideal. Mehrheitsmeinungen sind keineswegs immer Ausdruck einer vernunftgeleiteten Gewissensüberzeugung der Mehrheit, sondern oft Ausdruck bloßer Interessiertheit, unreflektierter Denkgewohnheiten oder manipulierter Vorstellungen. Das Programm, die Einzelnen aus ihrer Unmündigkeit herauszuführen, stellt sich daher in der offenen Gesellschaft als fortwährende Aufgabe staatsbürgerlicher Bildung dar. Institutionen und prozessuale Vorkehrungen sollen Rechtsprobleme i n Distanz zu konkreten Interessenverwicklungen mit Vernunftgründen „abklären", um zu Entscheidungen zu gelangen, die vor dem Rechtsgewissen der meisten standhalten können. A u f solche Weise sollen und können Repräsentativorgane, insbesondere hohe Gerichte, als „Pfadfinder" der sich entwickelnden Gerechtigkeitsvorstellungen eines Volkes wirken und haben insofern auch eine wichtige sozialpädagogische Funktion. — Ihre Entscheidungen bleiben aber nach demokratischem Legitimitätsverständnis rückgebunden an die Konsensbereitschaft der Mehrheit des Volkes: Sie sollen für diese akzeptabel sein, also — wie jede wahrhaft pädagogische Leistung — die Geführten überzeugen, so daß diese bereit sind, sich m i t jenen Entscheidungen zu identifizieren und sich als deren Urheber („auctores") vorzustellen, kurz, sie sollen von der „Autorität" des Volkes getragen sein. 2 4 Z u den Aufgaben staatsbürgerlicher Erziehung i n der offenen Gesellschaft gehört es auch, m i t dem Gedanken vertraut zu machen, daß nicht nur der politische Gegner, sondern auch man selber irren kann, daß also der Gegner nicht nur faktisch recht bekommen, sondern auch recht haben kann, und daß jedem zu mißtrauen ist, der behauptet, i m Besitze der moralischen oder politischen Wahrheit zu sein. Die freiheitliche Demokratie als die verfaßte offene Gesellschaft gewährleistet, daß der Prozeß der Diskussion und der Konsenssuche und damit die Möglichkeit einer Selbstkorrektur offengehalten w i r d — aus der Einsicht, daß auch „die Mehrheit nicht immer recht hat". Wer aber gegenüber den von der Mehrheit legitimierten staatlichen Entscheidungen in Anspruch nimmt, den wahren W i l l e n und das bessere Ich des Volkes zu repräsentieren, muß die Überzeugungskraft seiner Argumente i m öffentlichen Meinungsstreit einsetzen und erproben, mit der Chance und dem Risiko, daß diese sich in den kommenden Wahlen auswirken oder auch nicht auswirken.

24 Siehe zu all dem oben Kap. 5 V.

Kapitel

13

Recht und Moral Nie verstummt der Widerstreit zwischen dem Gewissen und dem Recht. E i n Physiker, der m i t Schrecken gewahr wird, daß seine Forschungen für Vernichtungswaffen verwendet werden können, steht vor der Frage, ob er nun entgegen seinem Gewissen seine Dienste weiterhin vertragsgemäß zur Verfügung stellen muß. Der Richter muß vielleicht entscheiden, ob ein auf der Anklagebank sitzender Arzt sich auf konfessionell bedingte Gewissensgründe berufen kann, wenn er es entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst unterließ, eine Schwangerschaft abzubrechen, und dadurch den T o d einer Patientin verursacht hat. 1 Spannungsreich sind vor allem die Fälle, in denen das Recht m i t den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden religiösen oder sittlichen Auffassungen oder m i t einem wenigstens partikulär herrschenden Ethos, ζ. B. einem Standesethos, kollidiert.

I . Die unterschiedlichen Geltungsmodalitäten von Normen und Pflichten Die Diskussion jener Fragen leidet vor allem darunter, daß nicht immer die unterschiedlichen Geltungsmodalitäten der Normen und Pflichten in ihrer Eigenart gesehen und gewürdigt werden. Unter Geltungsmodalitäten verstehe ich hier Modalitäten der Wirksamkeit. 2

ι Vgl. zu diesen Fragen F. W. Bosch und W. Habscheid, JZ 1954, S. 214, 1956, S. 297, A. Blomeyer, JZ 1954, S. 310, mit weiteren Beispielen: Entgegen der Anordnung ihres Dienstherrn lehnt es eine angestellte Apothekerin aus konfessionell bedingten Gewissensgründen ab, empfängnisverhütende Mittel zu verkaufen. Ein pazifistischer Metallarbeiter weigert sich, in dem auf Kriegsproduktion umgestellten Werk Kanonen zu fertigen. 2 Eine andere Bedeutung verbindet H. Kelsen mit dem Wort „Geltung": Diese bezeichne die spezifische Existenz einer Norm als eines Sollens. Aber dieser Geltungsbegriff beschreibt bloß das allgemeine Wesen aller objektiven Bestimmungsnormen, legt aber nicht den spezifischen Geltungsmodus des garantierten Rechts dar. Den Geltungsgrund der Normen sieht Kelsen — im Sinne einer Normlogik den „Rechts"grund jenes Sollens suchend — rein normativ, also in einer höheren Norm (Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 9 f., 196 ff.).

I. Unterschiedliche Geltungsmodalitäten von Normen und Pflichten 1. Moralische

153

Geltung

„Geltung" kann Geltung für das eigene Gewissen bedeuten. Das heißt, daß die ins Bewußtsein getretene N o r m als solche und nicht bloß die Rücksicht auf die Normsanktion als Triebfeder wirksam ist, kurz, daß man „aus Pflicht" handelt. Mitunter behält man für diese Geltungsweise den Namen der „Pflicht" vor. 3 Die Eigentümlichkeit dieser Geltungsmodalität liegt also darin, daß ein Gebot u m seiner selbst w i l l e n i m Gewissen bejaht wird. Der Pflichtinhalt kann trotzdem aus vorgegebenen Normen übernommen werden. „So gebietet die Ethik, daß ich eine in einem Vertrage getane Anheischigmachung, wenn mich der andere Teil gleich nicht dazu zwingen könnte, doch erfüllen müsse; allein sie nimmt das Gesetz (pacta sunt servanda) und die diesem korrespondierende Pflicht aus der Rechtslehre als gegeben an. Also nicht in der Ethik, sondern im lus liegt die Gesetzgebung, daß angenommene Versprechen gehalten werden müssen. Die Ethik lehrt hernach nur, daß, wenn die Triebfeder, welche die juridische Gesetzgebung mit jener Pflicht verbindet, nämlich der äußere Zwang, auch weggelassen wird, die Idee der Pflicht allein schon zur Triebfeder hinreichend sei". 4 Oder wie Radbruch sagt: „Die Moral unterwirft sich hier einer fremden Gesetzgebung . . . Sie stempelt Recht und Gerechtigkeit zu moralischen Aufgaben, überläßt aber die Feststellung ihres Inhalts einer außermoralischen Gesetzgebung".5 So kann auch eine rechtliche Verbindlichkeit zur Gewissenspflicht werden. Anders liegt es dann, wenn die Rechtsnorm nicht um ihrer selbst willen als Triebfeder des Handelns wirksam ist, sondern wenn sie befolgt wird, u m die hinter ihr stehende Sanktion zu vermeiden. I n diesem Falle wirkt sie als bloßes Zwangsrecht, als „bedingtes Müssen", dem man folgen muß, wenn man sich nicht der Sanktion aussetzen w i l l . 6 Laun w i l l einer Rechtsnorm, die sich nur durch die Zwangsandrohung Gehör verschafft, überhaupt die Qualität eines „Sollens" absprechen und in ihr eine bloße hypothetische Aussage über eine Kausalbeziehung sehen: Das positive Recht sei nur „eine Summe von Aussagesätzen über die bedingte Anwendung der Gewalt des Stärkeren". Indessen w i r d der Sinn der Rechtsnormen nicht richtig erfaßt, wenn man ihren gebietenden („Imperativischen", „präskriptiven") Charakter leugnet. Der objektive Sinn einer Rechtsnorm ist, auch wenn ich sie nicht um ihrer selbst willen gutheiße, nie der, ein theoreti3 R. Laun, Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl. 1935, S. 5 ff.; G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl., hrsg. v. E. Wolf, 1956, S. 135, 137; vgl. zur Problematik bloßer Zwangs„pflichten" auch H. Welzel, in: Festschr. f. den Deutschen Juristentag, I, 1960, S. 386 ff. 4 /. Kant, Metaphysik der Sitten I, 2. Aufl. 1798, S. 16. 5 Radbruch (Fn. 3), S. 139. Von einem „Blankoakzept" des Gewissens zu sprechen, wie das Radbruch aaO. tut, ist aber ungenau. Steht doch unser Gewissen dem positiven Recht kritisch und nicht in blinder Unterwerfung gegenüber. So mit Recht Laun (Fn. 3), S. 14, 21. 6 Laun (Fn. 3), S. 5 ff., 15, 17, 42 ff.; vgl. auch F. v. Schlabrendorff, Offiziere gegen Hitler, 1959, S. 82.

154

Kap. 13: Recht und Moral

sches Urteil über Kausalbeziehungen abzugeben. Sondern sie ist objektive Bestimmungsnorm. Das heißt, sie erhebt schon ihrem objektiven Sinn nach den A n spruch, es solle dies oder jenes getan oder unterlassen werden. 7 Sinngehalte dieser A r t können auch von außen an mich herangetragen werden und müssen nicht notwendig von m i r selbst bejaht oder gar „gesetzt" sein. Das „bedingte Müssen" ist ein gebietendes „ d u sollst — und mußt, wenn du dich nicht der Sanktion aussetzen willst — " und nicht nur eine konditionale Aussage über die Tatsache, daß eine Sanktion droht. 2. Mehrheitliche

Akzeptanz

Eine andere A r t des Geltens schwebt uns vor, wenn w i r davon sprechen, daß bestimmte Auffassungen in einer Gemeinschaft herrschen. M i t diesem Gelten ist nach demokratischem Legitimitätsverständnis gemeint, daß bestimmte objektive Sinngehalte — insbesondere Gerechtigkeitsvorstellungen — als gemeinsamer, gleicher Gedanke oder gleiche Wertung von der Mehrheit akzeptiert werden, daß also über sie in der Gemeinschaft mehrheitlicher Konsens besteht. 8 3. Staatliche

Durchsetzungsgarantie

Eine dritte Geltungsweise ist dem garantierten Recht zu eigen: die Durchsetzbarkeit durch organisierten äußeren Zwang. Der Zwangscharakter des Rechts begegnet uns schon bei Luther und Z w i n g l i ; sie haben dieser Zwangsnatur des weltlichen Rechts die das Gewissen regierenden Gebote Gottes gegenübergestellt. Luther sieht am weltlichen Recht einseitig dessen Wirkungsweise als Zwangsrecht und behält es dem geistlichen Recht vor, als Gewissenspflicht 9 zu gelten. 1 0 M a n könnte die Geltungsweise des Rechts als 7 Dazu unten Kap. 3 1 1 2 . Außer den Bestimmungsnormen, die fordern, daß etwas getan oder unterlassen werde, gibt es Ermächtigungen, solche Bestimmungsnormen zu schaffen. s Dazu oben Kap. 5 IV. 9 Es ist hier nicht der Ort, die Frage weiter zu verfolgen, ob das Gewissen autonom ist oder ob in ihm die Stimme Gottes vernommen wird, wie das altes christliches Glaubensgut ist; vgl. Jer. 31, 33; Rom. 2, 14 und 15; Augustinus, De sermone Domini in monte, II, n. 32; Thomas v. Aquin, Kommentar zum Römerbrief, II, 3; ders., De veritate, X V I I ; H.-H. Schrey, Universitas 5 (1950), S. 426: „Auch das Gewissen ist ein Anrufvernehmen, wobei nicht das eigene Ich, sondern Gott der Rufende ist". 10 Vgl. J. Heckel, Initia iuris ecclesiastici Protestantium, 1950, S. 19, 86; ders., Lex charitatis, 1953, S. 56 ff., 61, 125 ff., 133 f., 136, 139; ders., ZRG Kan. Abt. 48 (1962), S. 224 ff., 239, und zum menschlichen Kirchenrecht insbes. S. 246 ff.; mit Recht sieht S. Grundmann gerade im Fehlen des Zwangscharakters einen wesentlichen Zug des eigentlichen, von der lex charitatis getragenen Kirchenrechts, ZevKR 6 (1957/58), S. 283; AöR 84 (1959), S. 20; ZevKR 8 (1961/62), S. 338; auch H. Liermann betont in der Festschr. f. Erik Wolf, 1962, S. 118, daß die Kirche „nur geistige Macht ausüben kann und soll". Zur vergleichbaren Lehre Zwingiis: A. Farner, Die Lehre von Kirche und Staat bei Zwingli, 1930, S. 32, 37 ff., 43 f.

I. Unterschiedliche Geltungsmodalitäten von Normen und Pflichten

155

„bedingtes Müssen" kaum drastischer schildern, als es Luther i n seiner Schrift „ V o n weltlicher Obrigkeit" tat: Gott hat diejenigen, die sich nicht nach christlicher A r t halten, „unter das Schwert geworfen, daß, ob sie gleich gerne wollten, sie doch nicht tun könnten ihre Bosheit und, wenn sie es tun, daß sie es doch nicht ohne Furcht, noch mit Frieden und Glück tun können". Die zwangsbewehrte Macht der staatlichen Rechtsordnung ist es auch, die nach Hobbes Ordnung und Frieden unter den Menschen sichert und dadurch dem Staat seine Legitimation verleiht. Die zwangsweise Durchsetzbarkeit ist das Kriterium, nach dem später Thomasius das positive Recht v o m Naturrecht und v o m göttlichen Recht unterscheidet: „Cave tarnen, ne putes, legem naturalem et positivam, divinam et humanam, esse species eiusdem naturae: Lex naturalis et divina magis ad Consilia pertinet, quam ad imperia, lex humana proprie dicta non nisi de norma imperii dicitur". 1 1 U n d Kant sieht in der äußeren Erzwingbarkeit ein unentbehrliches Merkmal des Rechts. 1 2 Aber äußerer Zwang kann auch hinter anderen Verhaltensregeln, etwa hinter Konventionairegeln, stehen. A u c h sie können die Angehörigen einer Gemeinschaft etwa durch einen sehr massiven gesellschaftlichen Zwang binden, der ebenfalls unabhängig davon wirkt, ob man sich ihm unterwerfen w i l l . Das garantierte Recht zeichnet sich dadurch aus, daß es eine sichere Chance hat, i n geregelten Verfahren durch organisierten äußeren Zwang durchgesetzt zu werden. I n dieser Besonderheit 1 3 liegt die wesentliche Eigenart dieser N o r m e n 1 4 . Diese spezifische Durchsetzbarkeit unterscheidet es von allen anderen Normen. Sie unterscheidet es insbesondere von naturrechtlichen Postulaten, die nur darauf hoffen können, sich auf andere Weise, z. B. durch eine Revolution, zu verwirkli11 Chr. Thomasius, Fundamenta juris naturae et gentium, I, 5, § 34. Dazu H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 2. Aufl. 1955, S. 162 f. ι 2 Kant (Fn. 4), S. 37; ders., Über den Gemeinspruch usw., Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, ed. Vorländer, 1913, S. 97. 13 M. Weber, Rechtssoziologie, ed. Winckelmann, 1960, S. 53 ff., bezeichnete sie als „empirische Geltung". ι 4 Kelsen (Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960) bezeichnete diese Geltungsmodalität als „Wirksamkeit", über die er in seiner „Reinen Rechtslehre" folgendes schrieb: „Wirksamkeit ist als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert" (S. 212). „Eine Verfassung ist wirksam, wenn die ihr gemäß gesetzten Normen im großen und ganzen angewendet und befolgt werden" (S. 214). „ . . . es kann nicht geleugnet werden, daß eine Rechtsordnung als Ganzes ebenso wie eine einzelne Rechtsnorm ihre Geltung verliert, wenn sie aufhört wirksam zu sein . . . " (S. 216). „ . . . die Wirksamkeit der Rechtsordnung als Ganzes und die Wirksamkeit einer einzelnen Rechtsnorm sind — ebenso wie der Normsetzungsakt — Bedingung der Geltung . . . " (S. 218). Der Sache nach bekommt dadurch die „Grundnorm" der Reinen Rechtslehre aber den Inhalt: Man soll sich so verhalten, wie es diejenige Normenordnung vorschreibt, die im großen und ganzen die sichere Chance hat, befolgt und angewendet (durchgesetzt) zu werden. Zur Eigenart des organisierten äußeren Zwangs vgl. außer M. Weber (Fn. 13) auch H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1948, S. 9 ff.

156

Kap. 13: Recht und Moral

chen, eine Realisierungsmöglichkeit, die auch nicht annähernd so verläßlich und berechenbar ist wie die des garantierten Rechts. Der spezifische Geltungsmodus der garantierten Rechtsnormen kann also nicht rein normativ begriffen werden: Die sichere Chance, daß eine Norm, wenn nötig, durch organisierten Zwang durchgesetzt wird, ist ein soziologischer Tatbestand, der insbesondere bedingt ist durch das Faktum einer zuverlässig funktionierenden obrigkeitlichen Organisation. Gewiß dient das vieldeutige Wort „Recht" auch zur Bezeichnung anderer, ζ. B. kirchenrechtlicher, völkerrechtlicher und auch mancher staatlichen Normen, deren Durchsetzung nicht in jener Weise gewährleistet ist. Aber diese Mehrdeutigkeit des Namens darf nicht über die Unterschiede der Normen hinwegtäuschen. Sie ändert nichts an der Sache: daß es sich bei dem garantierten Recht um eine durch diese Gewährleistung, durch diesen Geltungsmodus ausgezeichnete besondere Normenart handelt. Eine andere Frage ist, ob es für den Begriff des garantierten „Rechts" schon ausreicht, daß es sich um Normen handelt, die eine zuverlässige Chance haben, durch organisierten Zwang durchgesetzt zu werden. Gegen eine solche Reduzierung drängen sich Einwände auf: Die Verbindlichkeit des Rechts, so wirft man ein, könne „nicht in seiner Positivität, d. h. i n der Macht, die es garantiert, gesehen werden, sondern allein in der Verpflichtung, welche das Urbild des Rechts, die Gerechtigkeit, für den Menschen besitzt". 1 5 Damit macht man geltend, das Recht müsse so beschaffen sein, daß es auch innerlich verpflichten könne. Hier lebt der alte, noch von Pufendorf vertretene Gedanke wieder auf, daß die Geltungs- und Verpflichtungskraft eines Gesetzes in der „vis conscientiis intrinsecam aliquam necessitatem iniciendi" liege. 1 6 M a n kann auch, von dem Hegeischen Gedanken der Dialektik inspiriert, aufzeigen, daß der Staat eine lebendige Rechts- und Verfassungsordnung ist und weder ein bloß abstraktes Gebilde, noch auch eine bloße Zwangsanstalt, i n der die Einzelnen in bloßer Passivität untergingen. Er ist, wie heute die Integrationslehre sagt, vorhanden in den einzelnen Lebensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind. 1 7 Unbestreitbar lebt auch, aufs große Ganze gesehen, das Recht zu einem guten Teil davon, daß es das Rechtsempfinden und den Ordnungssinn der Rechtsunterworfenen anspricht und darum 15 Ε. v. Hippel, in: „Von der Macht", 1962, S. 77; vgl. auch H. Weinkaujf, Zeitwende 23 (1951 /52), S. 95; ders., NJW 1960, S. 1690; Welzel (Fn. 3), S. 392 f. Welzel (Fn. 3), S. 385, unter Hinweis auf Pufendorf, De jure naturae et gentium, V I I I cap. 1, § 6; I, cap. 6, §§ 5 und 10. 17 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), abgedruckt in den Staatsrechtlichen Abhandlungen, 1955, S. 136. Er meint damit die dialektische Zusammenordnung des zeitlich-realen persönlichen Lebens mit dem „Reich des ideell-zeitlosen Sinnes" (S. 138). Die geistigen Lebensvorgänge werden verständlich „aus ihren objektiven geistigen Zusammenhängen — es ist eine späte Stufe des Geistes, auf der er durch die Einsicht in seine eigene Gesetzlichkeit . . . zu sich selbst kommt" (S. 142).

I. Unterschiedliche Geltungsmodalitäten von Normen und P f l i c h t e n 1 5 7 als allgemeine Regel anerkannt und aktualisiert w i r d 1 8 , während die Zuchtrute nur i m Hintergrund bereitsteht. A u c h der Gesetzgeber besitze seine hoheitliche Gewalt als Repräsentant seiner Gemeinschaft und des in ihr lebendigen objektiven Geistes. Diesem habe er „Bewußtsein, Initiative, Aktionsfähigkeit" zu verleihen. 1 9 Aber wenn man sich aus der Höhenluft großer Perspektiven in die Niederungen historischer und rechtlicher Details begibt, lehrt die Erfahrung, daß auch staatliche Normen bestehen können, die den mehrheitlich konsentierten Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen und dennoch eine sichere Chance haben, durch staatlichen Zwang durchgesetzt zu werden. Freilich entsteht in einem solchen Fall immer eine Spannung, die auf einen Ausgleich, auf eine Anpassung drängt, sei es, daß mit der Zeit jene Gerechtigkeitsvorstellungen die Rechtsnorm zu Fall bringen oder daß das Recht die Gerechtigkeitsvorstellungen umerzieht. Das hindert aber nicht, daß zunächst eine Differenz zwischen beiden auftreten kann. Die Frage, ob eine den lebendigen GerechtigkeitsVorstellungen widersprechende, aber dennoch zuverlässig realisierte Norm, eine Norm also, die keine „vis conscientiis intrinsecam aliquam neccessitatem iniciendi" besitzt, den Namen des „Rechts" oder bloß den einer Zwangsnorm verdient 2 0 , die Frage, ob es sich hierbei um „wahres" Recht handelt 2 1 , sollte nicht beirren, wenn nur die Sache klar ist: Es gibt unbestreitbar nicht nur gerechte, sondern auch ungerechte Normen, welche die verläßliche Chance haben, durch staatlich garantierten Zwang durchgesetzt zu werden. So besteht ein Bedürfnis, Normen, die i n solcher Weise garantiert sind, terminologisch zu erfassen. Wenn w i r für sie den Namen des garantierten „Rechts" verwenden, so steht dieser hier für jene klar umschriebene Sache. Jeder hat aber die „Definierfreiheit", dem Wort „Recht" auch eine andere Bedeutung beizulegen. Viele Spiegelfechtereien u m den Begriff des „Rechts" gehen darauf zurück, daß man dieses Wort bald i n dem, bald in einem anderen Sinne verwendet. Die „Naturrechtsdiskussion" verstrickt sich in Scheinprobleme, sobald sie nicht die unterschiedlichen Geltungsmodalitäten der Normen und Pflichten auseinanderhält. Die Verwischung des Unterschiedes zwischen „richtigem" und „garantiertem" Recht kann einer fruchtbaren Diskussion nur abträglich sein. Es fördert die Erkenntnis wenig, Grundsätze der Gerechtigkeit in einen Normenbegriff mit is Dazu K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 144,148 f.; ferner oben Kap. 5 I. 19 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl. 1949, Kap. 35 b. 20 Vgl. Radbruch (Fn. 3), S. 353 f.; ders., Vorschule der Rechtsphilosophie, 1947, § 11, IV; H. Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 57 f.; A. Arndt, Süddeutsche Juristenzeitung 1947, Sp. 335; ders., in: Die Wandlung 3 (1948), S. 437. 21 Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 212: „Indem das Gesetztsein die Seite des Daseins ausmacht, in der auch das Zufällige des Eigenwillens und anderer Besonderheiten eintreten kann, so kann das, was Gesetz ist, in seinem Inhalte noch von dem verschieden sein, was an sich Recht ist." Ders., Enzyklopädie, 3. Aufl. 1830, §6.

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Kap. 13: Recht und Moral

hereinzunehmen, der augenscheinlich auch realisiert werden kann, ohne daß jenen Grundsätzen genügt w i r d . 2 2

I I . Konfliktlösungen innerhalb des Rechts Konflikte zwischen garantiertem Recht und vorrechtlichen Normen und Pflichten können schon durch das Recht selbst, also rechtsimmanent, vermieden oder gelöst werden. 7. Spezielle

Konfliktlösungen

Oft findet das Recht selber für einzelne Fragen einen Weg, Konflikte mit anderen Normen und Pflichten entweder von vornherein zu vermeiden oder sie selbst zu lösen. Hier läuft dann die Kollision auf ein „Auslegungsproblem", das genau besehen oft ein Ausfüllungsproblem ist, oder auf einen innerrechtlichen Normenkonflikt hinaus. In diesen Fällen hat also das Recht selber „Einbruchsstellen" für die heterogenen Normen und Pflichten. Oft k o m m t es zu gar keinem Konflikt, weil die Rechtsnorm für vorrechtliche Normen und Pflichten „offen" ist, etwa i n dem Tatbestandsmerkmal der „guten Sitten" oder i n einem anderen wertausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriff, wie „Treu und Glauben". I n solchen Tatbestandsmerkmalen finden die in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Wertauffassungen Eingang ins staatlich garantierte Recht 2 3 und bestimmen schon den ursprünglichen Inhalt der Rechtspflichten mit, etwa der Rechtspflichten aus einem Vertrag (§ 157 B G B ) , oder die Voraussetzungen von Unterlassungspflichten ( § 1 U W G ) und von Schadensersatzansprüchen (§ 826 B G B ) . I n § 346 H G B halten Gewohnheiten und Gebräuche, die nur partikulär, nämlich i m Handelsverkehr, gelten, Einzug ins Recht. § 347 H G B stellt auf die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns, also auf eine berufsständische N o r m ab. A u c h individuelle Gewissensentscheidungen können Einfluß auf den Inhalt von Rechtspflichten gewinnen. So hat ζ. B. dann, wenn jemand eine vertragliche Leistung nach Billigkeit festsetzen darf ( § 3 1 5 B G B ) , nicht nur sein Gewissen ein Mitspracherecht, sondern er hat auch die Gewissenspflichten seines Partners zu achten, darf also ζ. B. nicht einem strenggläubigen Juden zumuten, einen Vortrag ausgerechnet an einem Samstag zu halten 2 4 .

22 Vgl. auch R. Stammler, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928, § 50; G. del Vecchio , Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1951, S. 342. 23 Das bloße methodische Prinzip der Interessenabwägung bietet zwar einen „Topos", um die Wertungsfragen aufzuschlüsseln (R. Zippelius, Wertungsprobleme, 1962, S. 75, 82), aber keine vollständige Lösung (S. 71 ff., 74 ff.). Zur Bedeutung der Interessenabwägung für die „Ausfüllung" von Generalklauseln vgl. auch H. Hubmann, AcP 155 (1965), S. 86 f.; A. Kraft, Interessenabwägung und gute Sitten, 1963, S. 39 ff., 118 ff. 24 Vgl. F. W. Bosch / W. Habscheid, JZ 1954, S. 214 ff.

II. Konfliktlösungen innerhalb des Rechts

159

Es kann aber auch sein, daß ein Rechtssatz, für sich betrachtet, m i t einer andersartigen N o r m oder Pflicht zwar in Widerstreit gerät, daß aber dieser K o n flikt durch einen anderen Rechtssatz oder Rechtsgrundsatz gelöst wird. A u f solche Weise gewinnt das „Anstandsgefühl aller b i l l i g und gerecht Denkenden" etwa i m Einwand des Rechtsmißbrauchs oder in Härteklauseln Eingang ins positive Recht. 2 5 W i r finden auch rechtliche Lösungen von Konflikten, die zwischen Rechtspflichten und individuellen Gewissenspflichten entstehen können, etwa zwischen der gesetzlichen Wehrpflicht ( § § 1 und 3 Wehrpfl.G) und dem Gewissen (Art. 4 Abs. 3 GG). Das Recht, sich nach § 242 B G B auf Gewissensgründe zu berufen 2 6 , w i r d man einem Vertragspartner jedenfalls dann versagen müssen, wenn er beim Abschluß des Vertrags „voraussehen konnte, daß aus dem Vertrag eine Verpflichtung, wider sein Gewissen zu handeln, erwachsen w ü r d e " 2 7 ; w i r d doch jemand in seiner Würde auch dadurch geachtet, daß man ihn an freiwillig eingegangenen Vertragspflichten festhält. 2 8 Darüber hinaus kann eine überindividuelle Ordnung, wie das Recht, den anderen Vertragspartner grundsätzlich nicht den Gewissensentscheidungen seines Kontrahenten schutzlos ausliefern. Daher verlangt man grundsätzlich m i t Recht, daß auch in Fällen unvorhersehbarer Gewissenskonflikte der aus Gewissen Vertragsbrüchige das Schadensrisiko tragen muß, da man das eigene Gewissen und die eigene Frömmigkeit zwar sich selber, nicht aber dem anderen etwas kosten lassen darf und s o l l . 2 9 Etwas anderes wird nur i n den Fällen gelten müssen, i n denen es auch mit dem „Anstandsgefühl aller b i l l i g und gerecht Denkenden" unvereinbar wäre, jemanden entgegen seinem Gewissen an einer bestimmten Vertragspflicht festzuhalten und i h m den vollen aus ihrer Nichterfüllung erwachsenden Schaden aufzubürden. 3 0 2. Generelle

Konfliktlösungen

Konflikte zwischen dem gesetzten Recht und anderen Normen können auch für die Rechtsordnung i m Ganzen gelöst werden. Hier geht es nicht darum, ob vorrechtliche Normen i n einzelnen positiven Rechtsnormen „Einbruchstellen" finden, sondern um die Frage, ob die Rechtsgültigkeit der positiven Gesetze 25 J. Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 329. 26 Dazu unten Kap. 25 I I 4 c; vgl. Bosch / Habscheid (Fn. 24), S. 215; dies., JZ 1956, S. 301 ff.; Blomeyer (Fn. 1), S. 311; F. Wieacker, JZ 1954, S. 466 ff.; L. Enneccerus/ H. C. Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I, 15. Aufl. 1959, § 15 I I 4 e; Κ Larenz, Schuldrecht I, 5. Aufl. 1962, S. 107, Anm. 2. 27 Bosch / Habscheid (Fn. 24), S. 215. 28 Vgl. Wieacker (Fn. 26): „Die Vertragstreue ist nichts anderes als die Bewährung der höchstpersönlichen Rechtstugend der Verläßlichkeit". 29 Blomeyer (Fn. 1), S. 312; dazu die Entgegnung von Bosch / Habscheid, JZ 1956, S. 302; vgl. auch G. Dürig, in: Festschr. f. H. Nawiasky, 1956, S. 161 f., Anm. 6. 30 Vgl. Wieacker (Fn. 26), S. 467; zu denken wäre hier auch an den eingangs erwähnten Fall des Physikers. Siehe auch unten Kap. 25 I I 4 c.

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Kap. 13: Recht und Moral

schlechthin von ihrer Vereinbarkeit mit bestimmten vorrechtlichen Normen abhängt. Das individuelle Gewissen kann nicht grundsätzlich den Vorrang vor dem Gesetz erhalten. 3 1 Dies würde, wie Welzel feststellt, „eine überindividuelle irdische Ordnung prinzipiell unmöglich machen". Denn damit erhöbe man „den Subjektivismus zum Prinzip und — i m sozialen Bereich — den Solipsismus und die Anarchie". Das Recht muß aber, „als überindividuelle Ordnung, nicht nur eine Ordnung für den Handelnden (oder Unterlassenden), sondern auch für den . . . von der Handlung (oder Unterlassung) Betroffenen sein". 3 2 Das Strafrecht zum Beispiel könnte einem Überzeugungstäter — etwa dem einleitend erwähnten Arzt — nicht die Rechtmäßigkeit seiner Unterlassung bescheinigen, ohne die Rechtsordnung überhaupt in Frage zu stellen. So beschränkt sich hier die Problematik auf Konflikte des gesetzten Rechts mit solchen Normen, die eine über das individuelle Gewissen hinausreichende Geltung besitzen. Z u denken ist zunächst daran, ob nicht Art. 20 Abs. 3 G G solche vorrechtlichen Normen in garantiertes Verfassungsrecht transformiert, wenn er vorschreibt, daß die vollziehende Gewalt nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das „Recht" gebunden ist. Der Gegensatz zwischen „Gesetz" und „Recht" legt nahe, daß m i t jenem das gesetzte Recht, m i t diesem (hier) die materielle Gerechtigkeit gemeint sei, die dann aber durch diese Verfassungsbestimmung auch Positivität erlangen würde. So versteht M a u n z 3 3 unter Recht i m Sinne des Art. 20 G G „zunächst die aus den demokratisch-rechtsstaatlichen Grundprinzipien unmittelbar ableitbaren ungeschriebenen Rechtsnormen, darüber hinaus aber alle sonstigen von der allgemeinen Rechtsüberzeugung getragenen ungeschriebenen Rechtsnormen". Das Bundesverfassungsgericht sprach von den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft". 3 4 Daß die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen zum gesetzten Recht ergänzend hinzutreten, und zwar überall dort, wo dieses auf Wertungsprobleme hinausläuft, läßt sich nicht bestreiten. 35 Das wäre auch dann der Fall, wenn es den Art. 20 Abs. 3 G G nicht gäbe. Uns führt aber diese Verfassungsbestimmung hier nicht weiter, weil sie nichts darüber sagt, was geschehen soll, wenn „Gesetz" und „Recht" ( i m Sinne des Art. 20 GG) miteinander in K o n f l i k t geraten.

31 Dazu auch unten Kap. 25 I I 2 d. 32 Welzel (Fn. 3), S. 397 ff.; zustimmend Arthur Kaufmann, in: Festschr. f. Erik Wolf, 1962, S. 371 f., unter Hinweis auch auf das Problem des Überzeugungstäters. 33 Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 11. Aufl. 1962, § 10 I I 3 d; vgl. zu diesem Problem auch H. U. Evers, Der Richter und das unsittliche Gesetz, 1956, S. 105 ff.; H. v. Mangoldt/F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, I, 2. Aufl. 1957, Art. 20, Anm. VI, 4 f.; Enneccerus/Nipperdey (Fn. 26), § 51, I I 4 b; E. Forsthojf, DÖV 1959, S. 41 ff.; Th. Maunz / G. Diirig, Grundgesetz, Art. 20, Anm. 72; A. Hamann, Das Grundgesetz, 2. Aufl. 1961, Art. 20, Anm. Β 8 a, cc; Arthur Kaufmann (Fn. 32), S. 358 ff. 34 BVerfGE 9, 349. 35 Dazu auch unten Kap. 33.

II. Konfliktlösungen innerhalb des Rechts

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W o h l aber vermag ein Gedanke Nawiaskys unsere Problematik voranzubringen. Dieser zeigt i n seiner Lehre v o m „vorrechtlichen Gesamtbild" auf, wie vorrechtliche Grundsätze der Gerechtigkeit in das positive Recht aufgenommen und dadurch i n garantiertes Recht transformiert werden können: D e m Gesetzgeber schwebt ein „Gesamtbild der zu schaffenden Ordnung vor. Diese Grundvorstellung, der dabei leitende Ideenkomplex, gibt seinem Handeln Ziel und Richtung, und alles Einzelne, was er anordnet, hat den Sinn, die Verwirklichung des tragenden Gedankens zu sichern". 3 6 A u f diese Weise werden die dem Recht zugrundeliegenden vorrechtlichen Ideen zu integrierenden Bestandteilen desselben. 37 So können auch allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit in das gesetzte Recht, insbesondere i n die Verfassung aufgenommen sein. A u c h gewohnheitsrechtlich können sie, selbst i n das Verfassungsrecht, Eingang finden. A u f solche Weise kann auch die lîadbruchsche Formel Bestandteil der garantierten Rechtsordnung werden: daß das positive Gesetz als unrichtiges Recht dann der Gerechtigkeit zu weichen habe, wenn es i n unerträglichem Widerspruch zur Gerechtigkeit steht 3 8 . Nawiasky neigt in der Tat dazu, daß dieser Grundsatz Bestandteil unserer jetzigen Rechtsordnung sei, und denkt mit recht daran, diesen Satz seinem Rang nach zu den Staatsfundamentalnormen zu zählen. 3 9 Das erscheint als ein methodisch einwandfreier Weg, die in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen i n das garantierte Recht zu transformieren und so zu einer rechtsimmanenten Lösung von Konflikten zu gelangen, die zwischen Sätzen des positiven Rechts und den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen entstehen sollten. Hingegen führt die bloße Abwägung der „Gerechtigkeit" gegen die (im positiven Gesetz zu achtende) Rechtssicherheit nicht schon für sich allein zu einer dem garantierten Recht immanenten Lösung. Schon die Gegenüberstellung von „Gerechtigkeit" und Rechtssicherheit ist mißverständlich. Ist doch die Rechtssi36 Nawiasky (Fn. 14), S. 137 f. 37 H. Nawiasky, JZ 1954, S. 719. 38 Radbruch (Fn. 3), S. 353; über sonstige Versuche, die Schranken der Verbindlichkeit positiver Gesetze aufzuzeigen, vgl. Evers (Fn. 33), S. 40 ff., insbes. S. 78 ff.; s. auch J. Ebbinghaus, Arch. f. Philosophie 4 (1952), S. 237 ff.; Kaufmann (Fn. 32), S. 364 ff.; der grundsätzliche Standpunkt der katholischen Kirche kommt sehr bündig in der Enzyklika Diuturnum Illud vom 29. 6. 1881 zum Ausdruck: „Wenn nämlich der Wille der Herrscher dem Willen und den Gesetzen Gottes widerstreitet, dann überschreiten sie das Maß ihrer Machtbefugnis und verkehren die Gerechtigkeit in ihr Gegenteil. Dann kann auch ihre Autorität nicht gelten, da sie nichtig ist, wo keine Gerechtigkeit ist" (nach der Übersetzung von H. Hürten). 39 Vgl. auch K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2. Aufl. 1959, S. 170 f., und den Hinweis auf E. Beling, in: Festgabe für Ph. Heck, M. Rümelin und Α. B. Schmidt, 1931, S. 14: „Das Volk setzt gewisse Wertungen als so grundsätzliche voraus, daß der Gesetzgeber als . . . nicht ermächtigt erscheint, Normierungen zu treffen, die gegen sie anlaufen". Ein „Rechtsnotstand", nämlich ein unerträglicher Widerstreit zwischen der bestehenden Rechtsordnung und dem herrschenden Rechtsethos kann aber auch — durch dessen Fortentwicklung — erst später entstehen. Für solche Fälle spricht Larenz (Fn. 18, S. 320) den Gerichten die Befugnis zu einer gesetzesändernden Rechtsfortbildung zu. 11 Zippelius

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Kap. 13: Recht und Moral

cherheit selber ein wesentliches Element der Gerechtigkeit; daher ist der „Widerspruch von Gerechtigkeit zur Rechtssicherheit ein Konflikt der Gerechtigkeit mit sich selbst". 4 0 Die Radbruchsche Formel allein kann nur darauf führen, ob es gerecht ist, daß das positive Recht und damit die Rechtssicherheit anderen Forderungen der Gerechtigkeit — etwa der Gleichbehandlung oder der Achtung der Menschenwürde — weiche. Sie kann also nur abwägen, unter welchen Voraussetzungen das positive Recht nicht mehr gelten sollte. Doch kann sie nicht sagen, ob ein hiernach geltungsunwürdiges Recht auch die Chance staatlicher Durchsetzung und damit seine Geltung als garantiertes Recht verloren hat. Ist das der Fall, so bedeutet das, daß — i n dieser Rechtsordnung — der Radbruchsche Grundsatz als staatlich gewährleistetes Recht in Geltung steht. So hat zum Beispiel für unsere gegenwärtige Rechtsordnung das Bundesverfassungsgericht seine Entschlossenheit erkennen lassen, ein extrem ungerechtes Gesetz für ungültig zu erklären. 4 1

I I I . Konflikte ohne rechtsimmanente Lösung 1. Ungelöste Konflikte Nicht alle Konflikte des Rechts mit außerrechtlichen Normen und Pflichten finden eine rechtsimmanente Lösung. Schon die von Nawiasky erwogene Fundamentalnorm, die den unerträglichen Widerspruch des positiven Rechts zu vorherrschenden GerechtigkeitsVorstellungen lösen soll, steht nicht immer in Geltung: Nicht in jeder Rechtsordnung besteht die gewährleistete Chance, daß solche Konflikte zugunsten der Gerechtigkeit ausgehen. Ferner bleiben, auch solange der Radbruchsche Grundsatz auf Verwirklichung rechnen kann, doch Konflikte bestehen: Fälle, in denen mehrheitlich anerkannte Grundsätze der Gerechtigkeit in einen nicht gerade unerträglichen Widerspruch zum positiven Recht treten. U n d es bleiben Kollisionen des Rechts m i t Gerechtigkeits Vorstellungen, die zwar nicht mehrheitlich anerkannt sind, aber vielleicht als Forderung einer Minderheitsreligion oder auch nur als individuelle Gewissenspflichten auftreten, ohne eine rechtsimmanente Berücksichtigung zu finden. In all diesen Fällen bedeutet das Recht für den, der sich zu jenen anderen Pflichten bekennt, zwar nur eine „heteronome" Norm, aber eben doch keine unverbindliche Norm, sondern ein Gebot, dessen Sanktionen er in K a u f nehmen muß, wenn er ihm nicht folgt.

40 G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 1947, § 10. 41 BVerfGE 3, 232 f.

III. Konflikte ohne rechtsimmanente Lösung 2. Der

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Handlungsbedarf

Je mehr aber die dem positiven Recht widersprechenden Normen die öffentliche Meinung für sich gewinnen, um so stärker w i r d die Spannung zwischen dem Recht und den entgegenstehenden Normen, um so kräftiger wird deren Tendenz, zu geltendem Recht zu werden. Diese Tendenz nähert sich ihrer Verwirklichung i n dem Maße, wie die Chance wächst, daß Staatsorgane jene bis dahin außerrechtlichen Normen ihren Entscheidungen zugrundelegen und Normen des positiven Rechts, die zu ihnen i n Widerspruch stehen, nicht mehr anwenden. Die außerrechtliche N o r m kann so zur Triebfeder einer Umgestaltung des garantierten Rechts werden. Es liegt auf der Hand, daß schwerlich der Gewissenskonflikt nur eines Einzelnen jene Chance einer Umgestaltung des positiven Rechts nennenswert vergrößern kann. Regelmäßig muß eine außerrechtliche Norm, wenn sie das Recht brechen soll, den Weg über die öffentliche Meinung oder wenigstens über die Auffassungen starker partikulärer Kräfte gehen, deren Einfluß ihr die Durchsetzung gegen das staatlich garantierte Recht ermöglicht. Diese Durchsetzung außerrechtlicher Normen gegen das garantierte Recht vollzieht sich also nicht rein begrifflich nach abstrakten Regeln der Normenkollision. W o solche Konflikte nicht schon rechtsimmanent aufgefangen werden, können sie nur i n dynamischer Weise gelöst werden 4 2 : sei es, daß der Druck der herrschenden Auffassungen eine Gesetzesänderung erreicht 4 3 , sei es, daß eine Revolution als ultima ratio die Änderung des positiven Rechts erzwingt 4 4 , oder sei es, daß sich auf dem gemächlicheren Weg eines Sinnwandels des geltenden Rechts oder der Bildung von Gewohnheitsrecht eine Umgestaltung des positiven Rechts 4 5 durchsetzt: vor allem durch das Obsoletwerden solcher Rechtsnormen, die mit den herrschenden Gerechtigkeits Vorstellungen nicht vereinbar sind 4 6 . I n

42 Vgl. auch E. Riezler, in: Festschr. f. F. Schulz, II, 1951, S. 333: „Jedes Rechtsideal strebt nach Verwirklichung, aber es ist keine unmittelbare Rechtsquelle, nur psychologischer Entstehungsgrund einer solchen." 43 Vgl. E. Riezler, Das Rechtsgefühl, 2. Aufl. 1946, S. 158 f. 44 So wurden der deutsche Bauernkrieg, der amerikanische Unabhängigkeitskrieg und die Französische Revolution im Namen des Naturrechts unternommen (vgl. die Nachweise bei H. Fehr, Die Tragik im Recht, 1945, S. 71 ff., der [aaO., S. 5] mit Recht das Naturrecht als „das Kampfrecht par excellence" bezeichnet). Nichts veranschaulicht die Dynamik eines solchen Normenkonflikts besser als der unterschiedliche Ausgang dieser Unternehmungen. Vgl. ferner: K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, I, 1892, S. 209 ff.; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck, 1960, S. 345; Coing (Fn. 20), S. 59: „Das wahre Recht ruft also zum Widerstande auf . . . gegen eine Regierung, die ihre Gewalt unter Verletzung des echten Rechts ausübt, wird zur Revolution aufgerufen"; ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 167; H. Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 40 ff. 45 Vgl. Mitteis (Fn. 44), S. 38 f. 46 Vgl. W. Wengler, Juristische Rundschau 1949, S. 70 ff. 11*

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Kap. 13: Recht und Moral

einem mit einer starken Gerichtsbarkeit gesegneten Staat w i r d sich vor allem in der Judikatur der hohen Gerichte kundtun, wann ein vorrechtliches Prinzip der Gerechtigkeit die sichere Chance, sich durchzusetzen, erlangt hat oder wann ein Satz des positiven Rechts diese Chance verloren hat. Gerade für einen „stillen" Wandel des Rechts spielt die „lebenspendende Kraft der I l l u s i o n " 4 7 eine nicht zu unterschätzende Rolle, nämlich der Illusion, ein bisher noch vorrechtliches Postulat habe schon heute Rechtsgeltung. 4 8 A u f solche Weise kann man der Rechtsgemeinschaft hinsichtlich solcher Sätze die „opinio iuris" aufreden und damit die Erstarkung zu garantiertem Recht beschleunigen helfen. Einen Instinkt hierfür erweisen diejenigen Kräfte i m Staat, die ihre Gerechtigkeitsvorstellungen in das Gewand eines „Naturrechts" kleiden und für dieses i n Vorwegnahme des Erstrebten schon jetzt Rechtsgeltung behaupten. Die Spannung zwischen dem garantierten Recht und den von ihr abweichenden, i n der Gemeinschaft lebendigen Gerechtigkeitsvorstellungen kann sich aber auch zugunsten des garantierten Rechts lösen, und zwar durch eine Umerziehung und Umbildung der vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen. Der Ordnungssinn und die Wertschätzung der Rechtssicherheit, die Macht der Gewohnheit und die „rechtfertigende Kraft des Erfolges" tun das ihre, um die von der Staatsgewalt garantierte Ordnung, falls sie sich auf die Dauer zu behaupten vermag, m i t der Zeit auch als gerechte Ordnung erscheinen zu lassen — was selbstverständlich nicht schon heißt, daß sich das Rechtsgefühl in solcher Weise alles Beliebige aufoktroyieren lasse 4 9 . Dennoch scheint sich ein Einwand gegen die hier entwickelte Ansicht aufzudrängen. Es ist eine unsere Zeit bewegende Frage, ob wir, hinter denen das Trümmerfeld einer zusammengebrochenen ungerechten Staats- und Rechtsordnung liegt, das frühere ungerechte Recht aus heutiger Sicht überhaupt als „Recht" anzusprechen haben. Können w i r post festum das, was sich in jenen Jahren als staatlich garantierte Normenordnung durchgesetzt hat, heute noch als damals geltendes „Recht" — wenn auch nicht als gerecht — bezeichnen? Können w i r die Ausnahmegesetze gegen die Juden rückblickend als einstiges „Recht" ansehen? Widersprach der Widerstand der Geschwister Scholl und anderer Märtyrer des Nationalsozialismus einem einst geltenden „Recht"? Oder waren jene Ausnahmegesetze nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch als garantiertes Recht von Anfang an ungültig? Waren die Widerstandshandlungen nicht nur moralisch, sondern auch vor dem Forum des garantierten Rechts rechtmäßig? 5 0 47 Vgl. H. Kantorowicz, in: Radbruch (Fn. 40), § 24 VI. 48 Bergbohm (Fn. 44), S. 210 f., wies auf die Rolle hin, die diese Illusion im rationalistischen Naturrecht gespielt hat: „Die ausdrückliche theoretische Behauptung war: unsere Postulate sind von Natur oder Vernunft wegen Recht, der heimliche praktische Wunsch aber: möchten sie doch zu Recht werden. Diesen letzteren durfte man so nicht aussprechen. Es blieb also nur die Zuflucht zu den halbjuristisch klingenden Thesen von der „Giltigkeit" des Naturrechts 49 Zippelius (Fn. 23), S. 173 ff., 191 f.

III. Konflikte ohne rechtsimmanente Lösung

165

Wäre das Zweite richtig, wie vielfach angenommen wird, so käme man hier nun doch zu einer rein normativen Lösung zugunsten der Gerechtigkeit. I n Wahrheit ist aber zu unterscheiden: Heute zu sagen, die antijüdischen Ausnahmegesetze seien schon damals nicht garantiertes Recht gewesen oder die Verurteilungen der Widerstandskämpfer hätten von Anfang an auch dem damals geltenden garantierten Recht nicht entsprochen, wäre eine die Entrechteten und die Hingerichteten verhöhnende Illusion. Das einzige, was eine postrevolutionäre Zeit vermag und was sie gerechtermaßen auch weitgehend tun muß, ist, die Dinge, soweit es u m die Anwendung des heute geltenden Rechts geht, auch von Rechts wegen so zu beurteilen, als ob jenes ungerechte Recht von Anfang an nicht gegolten hätte. 5 1 Aber das ist dann ein juristisches Urteil, das auf Grund eines inzwischen gewandelten garantierten Rechts abgegeben wird. A u c h angesichts des nationalsozialistischen Unrechts gilt, was Coing v o m ungerechten Gesetz sagt: I h m fehlt „die sittliche Würde; aber als Anordnung der Gewalt ausübenden und Frieden gewährenden Macht behält es die factische Geltung positiven Rechts. Erst m i t dem Sturz der Machthaber, die es erließen, fällt es. Es ist nicht nichtig, sondern kraft echten Rechts zu vernichten". 5 2 Das „Urrecht" ist, wie Emge es einmal ausdrückte, „erst zu b e w i r k e n " . 5 3 50 bleibt es dabei: Wenn das staatlich garantierte Recht mit der Gerechtigkeit in einen K o n f l i k t gerät, der keine rechtsimmanente Lösung findet, dann setzt sich nicht nach festen, abstrakten Regeln der Normenkollision ein „Vorrang" übergesetzlicher Normen vor denen des staatlich garantierten Rechts durch, sondern nur die Tat und die gestaltende Kraft lebendiger Entwicklung kann diese Spannung lösen. W o das staatlich garantierte „Recht" und die Gerechtigkeit in einen Widerstreit geraten, gilt es, zu handeln, gilt es den Einsatz für die recht verstandene Freiheit. so Vgl. zu diesen Problemen BGHSt 2, 177, 237 ff.; 3, 362 f.; BGHZ 3, 107; 9, 43 f.; U. v. 14.7.1961, NJW 1962, S. 195; AG Wiesbaden, U. v. 13.11.1945, SJZ (Süddeutsche Juristenzeitung) 1946, Sp. 36; A. Arndt, SJZ 1947, Sp. 335 f.; ders., SJZ 1948, Sp. 144; ders., NJW 1962, S. 430 ff.; A. Süsterhenn, in: Die Kirche in der Welt 1 (1947), S. 60; H. Weinkauff, in: Zeitwende 23 (1951 / 52), S. 100; ders., NJW 1960, S. 1690; E. Weigelin, ARSP 39 (1950/51), S. 117 f.; vgl. auch oben Fn. 38. Eine klar zwischen der positivrechtlichen und der ethischen Frage differenzierende Formulierung der Problematik findet sich bei H. Coing, SJZ 1947, Sp. 61 ff. 51 Zu dem korrespondierenden Problem einer Rückwirkung der Strafbarkeit, vgl. Coing (Fn. 50); ders. (Fn. 20), S. 60 f.; Riezler (Fn. 43), S. 337 f.; J. Ebbinghaus (Fn. 38), S. 239; Evers (Fn. 33), S. 129 ff. 52 Coing (Fn. 20), S. 59; vgl. auch W. Friedmann, ARSP 41 (1954/55), S. 361: „Es liegt in der Natur der Dinge, daß die gerichtliche Heranziehung des Naturrechts zur Überwindung unsittlichen positiven Rechts praktisch erst dann möglich ist, wenn eine erfolgreiche Revolution dieses entthront hat und andere Rechtsgrundsätze zur Herrschaft brachte. Solange das Recht der Diktatur galt, waren die Mörder von Juden, politischen Gegnern, Zwangsarbeitern nicht nur Helden der Bewegung, sie handelten überdies rechtmäßig, solange nur eine Art Rechtsbefehl.. . dem Mord die dünne Hülle der Gesetzmäßigkeit verlieh. Andererseits waren die Widerstandskämpfer im Sinne des damaligen Rechts Hoch- oder Landesverräter". 53 C. A. Emge, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1955, S. 354.

Kapitel

14

Weltanschauung und Rechtsgestaltung I . Die anthropologische Bedeutung kulturprägender Ideen 1. Sinnorientiertheit

als conditio

humana

A u f die Macht der römischen Kirche angesprochen, soll Josef Stalin ironisch gefragt haben, wie viele Divisionen der Papst zu seiner Verfügung habe, und von M a o Tse-Tung stammt das Wort: „ D i e politische Macht kommt aus den Gewehrläufen" I n solcher Weise neigt ein vermeintlich realistisches Staatsdenken dazu, nur i m Handgreiflichen ernstzunehmende Wirkungsfaktoren zu sehen. So hat sich auch das Staats- und Rechtsdenken insbesondere den ökonomischen und militärischen Potentialen zugewandt. Doch ist auch die Einsicht in die Macht der Ideen nie ganz verschwunden. Napoleon meinte sogar, es gebe nur zwei Kräfte in der Welt: das Schwert und die Feder; und letzten Endes werde immer das Schwert durch die Feder besiegt. 2 Die politische Gewalt religiöser Ideen zeigte sich unlängst wieder, als sich die Kraft des religiösen Fundamentalismus i m Iran entlud und eine tiefgreifende Staats- und Rechtsumwälzung bewirkte. Religionen und andere Leitbilder bieten ersichtlich eine Weltorientierung, die auch das Handeln leitet. 3 E i n Soziologe unserer Tage zog die Bilanz: „ D i e Geschichte der Welt ist wesentlich mitbestimmt worden durch die Geschichte der Weltbilder". 4 2. Die Orientierungsfunktion

umfassender Ideen

Solche Weltbilder schaffen w i r uns, um uns in einer komplizierten Welt zurechtzufinden, die Vielfalt ihrer Fakten und Ordnungsprobleme gedanklich beherrschbar zu machen. U m die Komplexität unserer Erfahrungswelt gedanklich 1

Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung, Peking 1967, S. 74. 2 Zit. nach L. Schmidt, Aphorismen, 1971, S. 103. 3 E. Durkheim , Die elementaren Formen des religiösen Lebens, deutsch 1981, insbes. S. 27 f., 558 ff., 573 ff.; Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 7. Aufl. 1978. Der Geograph E. Wirth hat jüngst darauf hingewiesen, daß kulturspezifische Leitideen auch Stadt- und Wohnkultur in hohem Maße beeinflussen: Zur Konzeption der islamischen Stadt, in: Die Welt des Islams, 1991, S. 50 ff. 4 F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften, 1985, S. 138.

I. Die anthropologische Bedeutung kulturprägender Ideen

167

zu verarbeiten, versuchen w i r nicht nur, Teilbereiche der Wirklichkeit etwa in physikalischen Gesetzen zu erfassen. W i r entwerfen darüber hinaus auch umfassende Bilder von unserer Welt, von der Natur des Menschen und von der Stellung des Menschen i n der Welt, um uns die unendlich komplexe Welt überschaubar und faßbar zu machen, sie zu „begreifen". Kant hat von einer „Architektonik" der Vernunft gesprochen und damit eine ganz allgemeine Einsicht zum Ausdruck gebracht: Unsere Vernunft ist bestrebt, die Mannigfaltigkeit in einen Zusammenhang und gleichsam „unter ein Dach" zu bringen: in eine „ E i n h e i t . . . unter einer Idee". 5 Solche umfassenden Ideen finden w i r in den je vorherrschenden „Weltanschauungen". I n deren Rahmen bilden w i r uns auch Vorstellungen über das Gesamtgefüge sozialer Ordnungen. A u c h die historischen Abläufe suchen w i r uns m i t umfassenden Vorstellungen verständlich zu machen: deuten sie etwa nach einem religiösen W e l t b i l d aus dem Walten einer Gottheit oder versuchen vielleicht, sie nach dem marxistischen Muster des Historischen Materialismus zu verstehen. I n solche umfassendere Weltbilder sind vielfältige Denkmuster, sozialethische Normen und Zielvorstellungen geringerer Reichweite integriert. Diese haben daran teil, das je vorherrschende W e l t b i l d in seinen Sinngehalten näher auszugestalten, es zu „konkretisieren". U n d indem sie sich selber wandeln, verändern sie auch unser Weltbild. I n der Menschheitsgeschichte waren es vor allem religiöse Weltbilder, die Gesamtorientierungen und damit auch ein Vorverständnis der Ereignisse und spezifischer Verhaltensnormen geliefert haben Aber auch nichtreligiöse Weltanschauungen, wie diejenige des Marxismus, konnten diese integrierende Funktion der Weltbilder erfüllen. 6 Unsere Weltbilder liefern uns aber nicht nur einheitstiftende Ideen; nicht selten ergänzen sie die Erfahrungsgegebenheiten durch Illusionen, deuteten etwa Blitz und Donner als das Walten von Göttern oder Dämonen oder legitimierten Herrscherämter durch eine vermeintlich göttliche Abkunft oder Einsetzung ihrer Inhaber. Solche Vorstellungen können zu erheblicher praktischer Wirkung gelangen; so war ζ. B. die Idee v o m Charisma des angestammten und gottgewollten Herrscheramtes jahrhundertelang ein politischer Faktor, den auch eine machiavellistisch nüchterne Politik in Rechnung zu stellen hatte.

5 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, S. 860, vgl. auch S. 502, 672 f. 6 So schrieb ein zum Marxismus Bekehrter: „Ich fand mit einem Schlag einen Religionsersatz, eine Geschichtsphilosophie, eine wissenschaftliche Methode, eine soziale Ethik, eine politische Strategie, und das alles fügte sich zu einem logisch koordinierten System zusammen". H. de Man, zitiert nach K. Low, Warum fasziniert der Kommunismus?, 4. Aufl. 1985, S. 60, vgl. auch S. 141 ff.

168

Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung 3. Die Befangenheit

in Begriffen

und Ideen

M i t allen Versuchen, die Welt i n Begriffe und Ideen zu fassen, ist eine „Befangenheit" des Denkens verbunden. Die Herausbildung und Tradition von Begriffen und umfassenderen Ideen hat zur Folge, daß wir den konkreten Tatbeständen mit einem Vorverständnis gegenübertreten, das durch diese Begriffe und Ideen geprägt ist: Z u m Beispiel werden Himmelserscheinungen von einem geozentrischen W e l t b i l d aus anders gedeutet als von dem heliozentrischen oder von dem modernen astronomischen Weltbild aus. — Menschen verschiedener Kulturen leben geradezu in unterschiedlichen „ Vorstellungsweltenin welchen versucht wird, die Erscheinungen und Ereignisse mit unterschiedlichen Denkstrukturen zu erfassen und zu verknüpfen. 7 So spielt i m Weltbild von Naturvölkern die Vorstellung magischer Kräfte und Beziehungen eine bedeutende Rolle und leitet auch das Verhalten, während i m naturwissenschaftlich geprägten Weltbild für diese Vorstellung kein Platz ist. Nach dem Selbstverständnis der „offenen", pluralistischen Gesellschaft gilt es, sich dieser Befangenheit des Denkens bewußt zu bleiben. Nach dem Leitbild einer solchen Gesellschaft erscheinen alle umfassenderen Weltorientierungen als tentativ und fragmentarisch: Sie sind tentativ, das heißt, alle Bemühungen, die Weltereignisse in Begriffe und Ideen zu fassen, gelten hier als bloße Denkversuche, die jederzeit kritisierbar und korrigierbar sind. Sie sind auch fragmentarisch, w e i l unsere Fähigkeit, die Vielfalt zu erfassen und auf Begriffe zu bringen, begrenzt ist. — Hierbei konkurrieren innerhalb der „offenen Gesellschaft" des modernen westlichen Kulturkreises Leitbilder, die unterschiedlichen Weltanschauungen entnommen sind: teils ζ. B. der christlichen Religion, teils auch etwa einem naturwissenschaftlichen Weltbild oder dem dialektischen Materialismus, oft werden auch Vorstellungen verschiedener Weltbilder vermengt. Diese Befangenheit unseres Denkens in oft fragwürdigen Vorstellungen ist i m Auge zu behalten, auch dann, wenn Fragen der staatlichen Ordnung, des sonstigen Rechts und der Gerechtigkeit mit Argumenten beantwortet werden, die vorgefundenen Ideen entnommen sind. Stets ist also die Überprüfungsbedürftigkeit unserer Begriffe und Ideen zu beachten, die Standortgebundenheit unserer Weltanschauungen und, damit zusammenhängend, die Ideologieanfälligkeit unseres Denkens. 4. Die gesellschaftlich-politische

Relevanz der Weltbilder

Weltanschaulich geprägte Ideen werden in mehrfacher Weise gesellschaftlichpolitisch relevant: Sie liefern ein gemeinschaftliches Vorverständnis und gemeinschaftliche Motivationen und Legitimationen des Handelns und erbringen dadurch eine wichtige Integrationsleistung:

7 Wegbereitend L. Lévy-Bruhl, Die geistige Welt der Primitiven, deutsch 1927.

II. Einfluß weltanschaulich geprägter Ideen auf Staats und Rechtsgestaltung 169 Erstens dienen sie dazu, die Welt zu interpretieren. Als Gesamtorientierungen schaffen sie ein Vorverständnis der Weltereignisse, von dem her diese auch gewertet werden. Besonders augenfällig w i r d das an Weltbildern, welche die Menschheit oder wesentliche Teile von ihr nach „manichäischem" Muster in ein Reich des Lichts und ein Reich der Finsternis spalteten, ζ. B. in Gläubige und Ungläubige oder i n ein marxistisches und ein kapitalistisches Lager. V o n hier aus wurden dann äußerlich gleichartige Vorgänge, etwa kriegerische Expansionsbestrebungen, verschieden interpretiert, je nachdem, ob sie von dieser oder jener Seite ausgingen: hier ein gottwohlgefälliger Kreuzzug, dort die kulturbedrohende „Türkengefahr", oder: hier die menschheitsbeglückende Weltrevolution, dort ein repressiver Imperialismus. Zweitens wirken weltanschauliche Leitvorstellungen als faktische Handlungsmotivationen. Dadurch gewinnen sie eine erhebliche praktische Bedeutung für das Geschehen. Christliche, islamische und marxistische Ideen und der aus ihnen hervorgehende Missionierungswille haben sichtbare Spuren i n der Weltgeschichte hinterlassen. Es betraf nur ein Detail solcher historischen Wirksamkeit, wenn M a x Weber meinte 8 , die Entwicklung des modernen Kapitalismus sei durch calvinistische Anschauungen gefördert worden: vor allem durch die puritanischen Vorstellungen von christlicher Selbstzucht, Rechtschaffenheit, Genügsamkeit, Arbeitsamkeit und Streben nach Erfolg, in welchem der Einzelne eine Bestätigung seiner Gottwohlgefälligkeit suchte. E i n anderes Beispiel verhaltensleitender Denkmuster liefern die hinduistischen Kastenvorstellungen, die i n Indien die Umstellung der Gesellschaftsstrukturen auf die Bedingungen des industriellen Zeitalters verzögern. Drittens legitimieren weltanschaulich geprägte Vorstellungen das Handeln; insbesondere legitimieren politische Zielvorstellungen und Gerechtigkeitsauffassungen, über welche die Mehrheit i n einem Staate sich einig wird, als Konsensgrundlage die demokratische Staatsgewalt. Indem Weltanschauungen eine gemeinschaftliche Orientierung und daraus hervorgehende gemeinschaftliche Motivationen liefern, erbringen sie zugleich eine für größere Gemeinschaften so grundlegende Integrationsleistung, daß man den Satz wagen könnte, der kulturelle Aufstieg der Menschheit hänge m i t der Entstehung gemeinschaftlicher Religionen oder anderer Weltbilder zusammen. 9

I I . Der Einfluß weltanschaulich geprägter Ideen auf die Staats- und Rechtsgestaltung I n all diesen Hinsichten werden weltanschaulich geprägte Ideen insbesondere für die Staats- und Rechtsgestaltung relevant. 8 Siehe oben Fn. 3. 9 Dazu unten Kap. 15 I 2.

170

Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung 7. Vorverständnis,

Motivation,

Legitimation

Die j e vorherrschenden „ B i l d e r in den Köpfen" und die Denktraditionen bestimmen schon darüber mit, ob gewisse Sachverhalte überhaupt als regelungsbedürftig erfaßt werden; so erschien i n Deutschland noch zu Beginn der Neuzeit — anders als heute — Hexerei als ein regelungsbedürftiger Tatbestand. Ferner bemißt sich nach jenen Leitbildern und Denktraditionen, welcher Lösung die so erfaßten Probleme zugeführt werden und in welchen Begriffen — etwa einer Strafzwecklehre — diese Lösung gesucht und gedacht wird. Besondere Bedeutung gewinnen Vorstellungen über die Zwecke des Staates und dessen erstrebenswerte Struktur: Solche Vorstellungen wirken als faktische Beweggründe für staatliche und rechtliche Gestaltungen und dienen zu deren Rechtfertigung. So sind die Programme der politischen Parteien zu einem guten T e i l gedankliche Entwürfe und Vorwegnahmen eines besseren Rechts- und Verfassungszustandes. A u c h auf diesem Wege werden Ideen zu Antrieben und Rechtfertigungen politischer und rechtlicher Veränderungen, insbesondere zu Richtlinien für die Ausgestaltung der staatlichen Verfassungsordnung und des sonstigen Rechts. Nicht nur die Inhaber der Staatsgewalt werden durch handlungsleitende Ideen zu rechtlichen Regelungen motiviert. Solche Ideen wirken zugleich i n den Köpfen der Rechtsunterworfenen als Antriebe, die Regelungen zu akzeptieren. A u f solche Weise stützen Ideen auch faktisch die Rechts- und Verfassungsinstitutionen. Die Regierenden bedienen sich denn auch solcher verhaltensleitenden Vorstellungen der Gemeinschaft, zumal der „ B i l d e r in den Köpfen der Menschen". David Hume erfaßte also — vielleicht etwas übertreibend — ein wichtiges Moment der politischen Wirklichkeit, wenn er schrieb: „Nichts erscheint. . . erstaunlicher, als die Leichtigkeit, mit der die Vielen von den Wenigen regiert werden . . . Wenn wir untersuchen, wodurch dieses Wunder bewirkt wird, finden wir, daß . . . die Regierenden sich auf nichts anderes stützen können als auf Meinungen (opinion)". 1 0 2. Die Schaffung von

Orientierungsgewißheit

Eine wichtige, auch integrierende Funktion weltanschaulicher Leitbilder liegt darin, gemeinschaftliche Orientierungsgewißheit zu schaffen. Tocqueville meinte, wenn eine Gesellschaft gedeihen solle, müßten die Bürger durch bestimmte Grundideen zusammengeführt und zusammengehalten werden. Insbesondere sei es ein Hauptvorzug der Religionen, für bestimmte Grundfragen, die den Menschen wichtig sind, eine klare, genaue und beständige Lösung zu geben, die der Menge verständlich sei. Bleibe weder i m Religiösen noch i m Politischen eine Autorität bestehen, so erschräken die Menschen bald ob der unbegrenzten Freiio D. Hume, Essays Moral, Political and Literary, ed. 1903, S. 29.

II. Einfluß weltanschaulich geprägter Ideen auf Staats und Rechtsgestaltung 171 heit. Das ständige Aufrühren aller Dinge beunruhige und ermüde sie. So sei zu bezweifeln, daß der Mensch j e eine völlige religiöse Unabhängigkeit ertragen könne. 1 1 Diese Ansicht hat auch politisches Handeln geleitet. Als Konstantin der Große sich bemühte, auf dem K o n z i l von Nicäa eine Glaubensspaltung der sich durchsetzenden, bald staatstragenden Religion zu verhindern, hat den ungetauften Kaiser vermutlich nicht Glaubenseifer, sondern eine staatsmännische Absicht bewegt. Die Wahrung der Glaubenseinheit war später nicht nur religiöses, sondern auch politisches Programm des christlichen Mittelalters. U n d als an dessen Ende der konfessionelle K o n f l i k t in einer Reihe von Bürgerkriegen aufgebrochen war, riet Thomas Hobbes, aus Sorge um staatliche Ordnung und Rechtsfrieden, man solle von Staats wegen die Meinungen lenken und über Streitfragen der Religion m i t Autorität entscheiden. 1 2 Diesen Erwägungen entspricht die Praxis der katholischen Kirche und entsprach bisher die Übung marxistischer Staaten, die Entscheidungen über die rechte Lehre oder über die politische Generallinie einer Zentralinstanz anzuvertrauen. U m die Einheit einer Weltanschauung zu sichern und Abweichungen auszuschalten oder unschädlich zu machen, kommen verschiedene M i t t e l in Betracht: etwa die Liquidierung konkurrierender Weltanschauungen, ferner deren Einschmelzung, wie etwa die Christianisierung heidnisch-religiösen Brauchtums, gelegentlich auch die Ghettoisierung weltanschaulicher Minderheiten. Bis i n die Gegenwart lag eine wichtige Abwehrstrategie gegen die Auflösung autoritativer Weltanschauungen auch in der Beschränkung der Informations- und Pressefreiheit. Schon diese wenigen Beispiele zeigen aber auch die Ambivalenz der weltanschaulichen Orientierungsgewißheit. Die unbestreitbare Integrationskraft und Stabilisierungsfunktion w i r d erkauft durch Intoleranz gegenüber andersdenkenden Mitgliedern der Gemeinschaft. Außenpolitisch liegt i m Zusammentreffen verschiedener Weltanschauungen, die keine Alternative dulden, ein gewaltiger K o n fliktsstoff: Keine Kriege und Bürgerkriege pflegen unerbittlicher geführt zu werden als Weltanschauungs- und Religionskriege. Ideen sind also unsere Götter und unsere Dämonen. Das gilt selbst für Ideen begrenzterer Reichweite. So haben nicht nur Weltanschauungen, sondern ζ. B. auch die Vorstellungen von „ N a t i o n " und „Dynastie" Zusammengehörigkeitsgefühl und Treue mobilisiert — und Schlachtfelder gefüllt. 3. Beispiele Nach diesen Feststellungen zu den grundsätzlichen Funktionen der „Bilder in unseren Köpfen" nun einige Beispiele ihres Einflusses auf die Staats- und Rechtsgestaltung.

n A. de Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, I I 1840, I. Teil, Kap. 2, 5. i2 Th. Hobbes, De cive, Kap. 17, Nr. 18.

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Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung

I n unserem Kulturkreis wirkte das Bild, das man sich einst über die Stellung von Kaiser und Papst in einer gottgewollten Weltordnung machte, tief i n die politischen Kräfteverhältnisse hinein: Einer dunklen Stelle des Lukas-Evangel i u m s 1 3 entnahm man m i t viel Phantasie die Zweischwerterlehre; sie bildete eine der wesentlichen Grundlagen für die Legitimation weltlicher und geistlicher Herrschaft 1 4 : Nach der einen Vorstellung bekam der Kaiser die Gewalt des weltlichen Schwertes unmittelbar von Gott verliehen oder von den ihn wählenden Fürsten übertragen, nach anderer Auffassung empfing er sie aus der Hand des Papstes — was diesen als Oberlehensherrn der Kaiser symbolisierte. Diese Vorstellungen waren von Einfluß auf die Machtansprüche, die erhoben wurden, und, soweit diese Machtansprüche von den Vasallen anerkannt wurden, auch von Einfluß auf die realen Machtverhältnisse. Ein anderes Leitbild war die Vorstellung, die Monarchie sei die naturgegebene Regierungsform: als A b b i l d der göttlichen Herrschaft über die W e l t 1 5 ; damit war eine Herrschaftsstruktur und Verhaltensordnung vor die Augen gestellt, i n welche sich die politischen Gemeinschaften des europäischen Mittelalters ohne nennenswerten Widerstand fügten. Dem Neuen Testament entlehnte maiv ferner die Vorstellung von der Kraft der Apostelnachfolger, zu binden und zu lösen, und auch diese Vorstellung wurde zum Politikum und war die Grundlage der politischen Wirkungskraft des Bannes, den Gregor V I I . über Heinrich I V . verhängte. U n d wenn die Wirkungsmacht des päpstlichen Bannes sich bald abnützte, weil sein taktischer Gebrauch offenkundig wurde, so war dies ein Wandel, der sich zuvörderst i m Bereich der Motivationskraft handlungsleitender Ideen vollzog. E i n drastisches Beispiel dafür, wie vorherrschende Ideen sich auf das sonstige Recht auswirken, liefern die Gotteslästerungen: W o eine religiöse Weltanschauung herrscht, erscheinen sie als religiöses Verbrechen, das Unheil auf die Gemeinschaft herabbeschwört. I n einem weltanschaulich neutralen Gemeinwesen hingegen stellen sie sich nur als Mißachtung des religiösen Empfindens von Mitbürgern dar. I n welcher Weise das europäische Recht von Gedanken der christlichen Religion mitgeprägt w u r d e 1 6 , zeigt sich auch etwa am überkommenen Ehe- und Kindschaftsrecht und am einstigen Verbot von Zinsdarlehen. A u c h der islamische Staat und sein Recht waren von Beginn an auf eine heilige Schrift gegründet. Die Gemeinschaft der Gläubigen gilt ihm als Religionsgemeinschaft und politische Gemeinschaft zugleich; der Staat und sein Recht und staatli-

13 Luk. 22, 38. 14 Literaturauswahl bei H. Mitteis / H. Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, 19. Aufl. 1992, Kap. 21 I I 3 b, 25 I I 2, 3. 15 Thomas von Aquin, De regimine principum, 112; Dante, Monarchia, I 7 f. 16 Ausführlicher dazu H. Liermann, Das kanonische Recht als Grundlage europäischen Rechtsdenkens, ZevKR 6 (1957/58), S. 37 ff.

II. Einfluß weltanschaulich geprägter Ideen auf Staats und Rechtsgestaltung 173 che Einrichtungen wie die Gerichte erscheinen geradezu als religiöse Institutionen 1 7 . Die bis in die Gegenwart reichende politische Kraft religiöser Vorstellungen zeigte sich hier, als der letzte Schah mit seinem Versuch scheiterte, die überkommenen Aufgaben und Kompetenzen der Geistlichkeit zu beschneiden und die Staatsgewalt zu säkularisieren. — A u c h i m Bereich des Islam w i r d nicht nur die staatliche Organisation, sondern das gesamte Leben der Gemeinschaft von Grundsätzen mitgeformt, die dem religiösen Weltbild angehören, so etwa die Pflicht zur Eintracht unter Glaubensbrüdern, die Pflicht, Almosen zu geben, das Verbot des Zinsnehmens, das Familienrecht, das Erbrecht und einige Gegenstände des Strafrechts. Rechtsinstitute werden weitgehend so ausgestaltet, wie es der Vorstellungswelt einer Kultur entspricht. A u f solche Weise erhalten etwa die Familienordnung, das Eigentum oder Dienst- und Arbeitsverhältnisse in unterschiedlichen Kulturen ein unterschiedliches Gepräge und sind aus unterschiedlichen Sinnhorizonten zu verstehen. Das gehört zu den Grundeinsichten der Rechtsvergleichung und der Rechtsgeschichte. So hat man aus der Sicht der Rechtsvergleichung etwa darauf hingewiesen, „daß im Westen aus der abendländischen Tradition heraus der Mensch mehr als Individuum gesehen wird und sich auch als Individuum empfindet, dessen Verhältnis zu anderen durch normierte Rechte und Pflichten definiert und abgesichert ist, während in Asien und auch in Afrika der Mensch sich mehr als Glied einer Gemeinschaft, einer Familie, auch im übertragenen Sinne, fühlt, wobei die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft einerseits Sicherheit bietet und andererseits die Verpflichtung beinhaltet, für diese Gemeinschaft nach Kräften mitzusorgen". 18 Dies w i r k t sich zum Beispiel auf das Verständnis von Dienst- und Arbeitsverhältnissen aus. A u c h die Eheschließung erhält aus dieser Sicht ein je eigenes Gepräge. E i n afrikanischer Gelehrter berichtet: „Ist die Ehe im Westen eine individuelle Angelegenheit, die allein die beiden Partner betrifft, so ist das afrikanische Modell hauptsächlich gemeinschaftsbezogen. Die Ehe ist dort nämlich kein Vertrag zwischen Partnern, sondern sie ist ein Bund zwischen zwei Gemeinschaften . . . Folglich wird die Ehe nicht einzig durch den Konsens der beiden Betroffenen gültig, sondern sie wird erst durch eine gemeinsame Verständigung mit der Sippengemeinschaft . . . möglich." 1 9 I n der afrikanischen Kultur unterliegt auch das Eigentum einer starken Sozialbindung: 17

Vgl. etwa E. Pritsch, Die islamische Staatsidee, Ztschr. f. vergleichende Rechtswissenschaft, 53 (1939), S. 35 ff.; ders., im Handbuch der Orientalistik 1. Abt., Ergänzungsband 3, 1964, S. 220; A. Th. Khouri, Einführung in die Grundlagen des Islams, 1978, S. 260 ff. • is J. Schregle, Probleme des Arbeitsrechts in der Dritten Welt, 1982, S. 20. 19 Bénézet Bujo, Afrikanische Anfrage an das europäische Menschenrechtsdenken, in: J. Hoffmann (Hrsg.), Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, 1991, S. 221.

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Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung „Der einzelne verwaltet das Eigentum letzten Endes im Namen der gesamten Gemeinschaft. So wie er das Leben nicht für sich privatisieren darf, ist es ihm verwehrt, mit dem Eigentum nach Gutdünken zu verfahren . . . Eine der Konsequenzen dieser Einstellung zum Eigentum ist, daß in manchen Gegenden der einzelne erst die Verwandtschaft zu Rate ziehen soll, bevor er sein Besitztum zu anderem Zweck bestimmt, als man dies bisher gewohnt war. Fehlt die Zustimmung der Großfamilie, dann darf er beispielsweise ein Haus oder andere Gegenstände nicht verkaufen oder vermieten, da er damit die Lebenskraft der Gemeinschaft vermindern würde." 2 0

Aus der kulturbestimmten Vorstellungswelt sind die Rechtsinstitute auch zu interpretieren: Gesetze werden durch Auslegung in den Sinnhorizont einer Kultur eingepaßt und den kulturspezifischen Leitideen angepaßt 21 . W i e das geschieht, sei kurz erläutert. Durch Auslegung werden die mehrdeutigen Gesetzesworte in der Weise präzisiert, daß man innerhalb des „Bedeutungsspielraumes" der Gesetzesworte, d. h. aus den nach dem Sprachgebrauch möglichen Wortbedeutungen eine bestimmte auswählt. Das geschieht in einem Erwägen von Gründen, die diese Bedeutungswahl rechtfertigen. Es liegt auf der Hand, daß dabei auch die vorherrschenden Ideen eine Rolle spielen. Nach demokratischem Legitimationsverständnis hat man sich die Rechtsanwender in der Rolle von Repräsentanten vorzustellen, welche bei dieser Ermittlung des Gesetzessinnes die Ziel- und Gerechtigkeitsvorstellungen zu verwirklichen haben, die in der Rechtsgemeinschaft mehrheitlich konsensfähig sind. Demnach sind etwa die Grundrechtsgarantien i m westeuropäischen Kulturkreis grundsätzlich so auszulegen, wie es dem überkommenen, mehrheitlich akzeptierten Sinn dieser Grundrechte ehtspricht. So werden diese aus der europäischen Denktraditon 2 2 vor allem als Rechte zu individueller Persönlichkeitsentfaltung verstanden. Demgegenüber war das Grundrechts Verständnis nach sozialistischem W e l t b i l d weitgehend von der Vorstellung einer Solidargemeinschaft geprägt, in welcher der Einzelne primär nicht zu seinem eigenen Nutzen, sondern „ z u m Wohle der Gemeinschaft" wirken sollte. 2 3

20 Bénézet Bujo (Fn. 19), S. 218. Dichte personale Bindungen finden wir übrigens auch in frühen Epochen der europäischen Kultur. Das legt den Gedanken nahe, daß wir in den verschiedenen Kulturen vielleicht nur auf unterschiedliche Phasen einer allgemeineren Entwicklung treffen, wie Henry Maine und andere sie beschrieben haben: auf eine fortschreitende Ablösung kompakter Gemeinschaftsbindungen durch freie Übereinkünfte von Individuen. Dazu unten Kap. 15 I I 1. 21 Th. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991. Zu welcher Perversion des Rechts der Einfluß von Ideologien auf die Auslegung führen kann, haben B. Rüthers (Die unbegrenzte Auslegung, 4. Aufl. 1991) und andere gezeigt; vgl. K. Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, S. 2536 ff. 22 Nachw. bei R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 32. 23 G. Brunner, Die Grundrechte im Sowjetsystem, 1963, S. 44, 112 ff.; R. Streinz, Meinungs- und Informationsfreiheit zwischen Ost und West, 1981, S. 97 ff.

II. Einfluß weltanschaulich geprägter Ideen auf Staats und Rechtsgestaltung 175 Gesetze i n eine andere Kultur zu übernehmen heißt, sie in deren Sinnhorizont zu verpflanzen. Daher schließt jede Rezeption zugleich einen Sinnwandel, ein „Anverwandeln", der rezipierten Rechtsinstitute ein. Die Beispiele aus der Staatsgestaltung, der Gesetzgebung und der Gesetzesauslegung zeigen übrigens, daß die kulturspezifischen Gerechtigkeits Vorstellungen einer Gemeinschaft gleichsam auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Graden der Verbindlichkeit „gerinnen" können: Schon in den Staatsverfassungen werden wesentliche Leitideen einer Rechtskultur zum Ausdruck gebracht und verfestigen sich auf diese Weise zu positivem Verfassungsrecht. Konsensfähige Ideen einer Rechtskultur geben auch den Anstoß zu einfachen Gesetzen und untergesetzlichen Regelungen und bestimmen deren Inhalte mit. U n d nicht zuletzt wirken sich solche Ideen auf die Auslegung der Rechtsnormen aus. 4. Wandel des Zeitgeistes — Wandel des Rechts A u f all den genannten Ebenen kann die Frage nach konsensfähigen Problemlösungen auch wieder „flüssig" werden: Die in einer Gemeinschaft vorherrschenden Ideen unterliegen einem ständigen Wandel, insbesondere hinsichtlich der anzustrebenden Ziele und der Lösung von Zielkonflikten. A u f solche Weise w i r d das Recht fortwährend in Bewegung gehalten: Selbst die Verfassungsstrukturen verändern sich unter dem Druck gewandelter Vorstellungen. I m England des siebzehnten Jahrhunderts bahnten sich bedeutende Wandlungen des Verfassungssystems an; sie waren nicht nur durch Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse bedingt, sondern in noch stärkerem Maße durch einen Wandel der Ideen; dieser Vorstellungswandel nahm den überkommenen Herrschaftsstrukturen ihre Kraft, indem er sie ihrer Legitimität beraubte. So hat Kurt K l u x e n darauf hingewiesen, daß in der Bewegung des englischen Independentismus die Religion zu einer inneren Angelegenheit spiritualisiert, zugleich aber die äußere Welt des Politischen säkularisiert und entzaubert w u r d e 2 4 : Die für den religiösen Bereich gewonnene Idee individueller Selbstverantwortung wurde nun auch auf das Gebiet der Politik übertragen; der Staat wurde jetzt als Ergebnis menschlicher Übereinkunft rationalisiert. Kurz, es vollzog sich der Wandel einer Monarchie von Gottes Gnaden zu einem von V o l k und Parlament eingesetzten und legitimierten Königtum. I n der Regelung der Thronfolge nach der Glorious Revolution trat das greifbar zutage. Unterhalb der Verfassungsebene findet laufend eine Anpassung des Rechts an den Wandel der mehrheitlich konsensfähigen Vorstellungen statt, werden Gesetze geschaffen, geändert oder aufgehoben, um wichtig gewordene Zwecke — heute etwa solche des Umweltschutzes — zu verwirklichen oder um zeitgemäße Konfliktslösungen, ζ. B. in Fragen des Schwangerschaftsabbruchs, zu erreichen. 24 K. Kluxen, Englische Geschichte, 4. Aufl. 1991, S. 326, 328.

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Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung

U n d innerhalb des Bedeutungsspielraumes der Gesetzesworte vollzieht sich durch veränderte Auslegung — dem „Zeitgeist" folgend — ein Sinnwandel des Rechts; denn die Gesetzesauslegung hat sich nicht nach jenen Ideen zu bemessen, die beim Erlaß des* Gesetzes* vorherrschten (entstehungszeitliche Auslegung), sondern nach den heute herrschenden Vorstellungen (gegenwartsbezogene Ausleg u n g ) 2 5 : Die Legitimitätsgrundlage des heute anzuwendenden Rechts liegt nicht in der Vergangenheit, sondern i n der Gegenwart. Für die Gegenwart ist nicht maßgebend, durch wessen Autorität das Gesetz einst erlassen wurde, sondern durch wessen Autorität es heute fortbesteht. 26 Kurz, die heutige Rechtsgemeinschaft ist legitimiert, über das überkommene Recht zu verfügen: nicht nur es aufzuheben und zu ändern; sondern auch innerhalb des „Bedeutungsspielraumes" des Gesetzes können veraltete Gerechtigkeitsvorstellungen durch zeitgemäße verdrängt werden. 2 7 Das tritt besonders bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe, etwa des Begriffs der „Sittenwidrigkeit", zutage. 2 8 E i n anderes Beispiel bietet die Eigentumsgarantie: Nach Art. 14 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes sind das Interesse des Eigentümers an privater Nutzung und Verfügung einerseits und die Interessen an einer Sozialbindung des Eigentums andererseits zu einem gerechten und optimalen Ausgleich zu bringen 2 9 ; das Ergebnis dieser Ausgleichserwägungen kann sich aber i m Laufe der Zeit verändern: bedingt durch einen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse 3 0 und insbesondere des Zeitgeistes. Ein drittes Beispiel bietet der verfassungsrechtliche Schutz der „ F a m i l i e " (Art. 6 Abs. 1 GG); hier haben Veränderungen der sozialen Gepflogenheiten und der sozialethischen Vorstellungen eine Diskussion darüber geweckt, ob und inwieweit der Schutz dieser Verfassungsgarantie heute auch auf nichteheliche Lebensgemeinschaften zu erstrecken sei. 3 1 Kurz, einem Wandel des „Zeitgeistes" w i r d der Gesetzessinn durch veränderte Auslegung angepaßt. Eine Rechtsnorm steht so — nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts — „ständig i m Kontext der sozialen Verhältnisse und der gesellschaftlich-politischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muß sich unter Umständen m i t ihnen wandeln".32

25 Vgl. K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 90 ff., 245 ff.; O. A. Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1967, S. 96 ff.; R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 4 III. 26 Th. Hobbes, Leviathan, Kap. 26. 27 Würtenberger (Fn. 21), S. 174 ff., 191 ff.; ders., Rechtsprechung und sich wandelndes Rechtsbewußtsein, in: W. Hoppe u. a. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1992, S. 545 ff.; R. Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 175 ff. 28 BVerfGE 7, 215. 29 Vgl. BVerfGE 71, 246 f.; Zippelius (Fn. 25), § 10 I I I c. 30 BVerfGE 70, 201. 31 Vgl. BVerfG 87, 264; ferner z. B. R. Zippelius, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel — Das Beispiel von Ehe und Familie, DÖV 1986, S. 809 f. 32 BVerfGE 34, 288.

III. Das Menschenbild als politische und rechtliche Leitidee

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I I I . Das Menschenbild als politische und rechtliche Leitidee Unter den weltanschaulich geprägten Vorstellungen, die das Rechts- und Staatsdenken bestimmen, verdienen zwei besonders hervorgehoben zu werden: das j e vorherrschende Menschenbild und die Vorstellungen über die grundlegenden Zwecke, in deren Dienst die politische Gemeinschaft und das Recht zu stehen haben. Ein bestimmtes Menschenbild ist zumeist Teil einer umfassenderen Ideologie. Regelmäßig hebt es i n idealtypisch zugespitzter Weise bald die eine, bald die andere unter den zahlreichen Eigenschaften des Menschen heraus. Die Menschen werden dann oft als Grundelemente einer politischen Ordnung vorgestellt, aus denen diese sich bildet und auf deren Eigenart diese Ordnung abgestimmt sein soll. V o n einem Menschenbild bestimmt war in augenfälliger Weise das Naturrecht der beginnenden Neuzeit, jenes Naturrecht, i n welchem wesentliche Leitgedanken und Legitimitätsvorstellungen des modernen Verfassungsstaates hervorgebracht wurden. 3 3 M a n versuchte dort, die naturgegebenen Grundeigenschaften des Menschen zu bestimmen, um aus ihnen allgemeine Rechts- und Verfassungsprinzipien herzuleiten. Hugo Grotius etwa sah die wesentliche Grundeigenschaft des Menschen i n einem geselligen Trieb zu einer friedlichen und einsichtig geordneten Gemeinschaft. Durch diese menschliche Natur sollten die Hauptzwecke des Rechts vorgegeben sein. Als Naturrecht erschienen dann alle Regeln, die notwendig sind, u m diese Zwecke zu erreichen. A u c h wo ein solcher naturrechtlicher Ansatz fehlt, bestimmt ein Menschenbild oft das rechtliche und politische Denken mit. V o n Bedeutung ist insbesondere, ob man die menschliche Natur eher optimistisch oder stärker pessimistisch einschätzt und ob man die rationalen oder die irrationalen Komponenten der menschlichen Natur i n den Vordergrund rückt. Je nachdem, wie solche anthropologischen Prämissen lauten, gelangt man zu unterschiedlichen Vorstellungen über eine dem Menschen angemessene, gerechte Sozialordnung. So geht etwa das demokratische Programm Rousseaus von der optimistischen Annahme aus, Menschen, die frei i n einer Gemeinschaft leben, würden ganz von selbst auch die richtigen Gesetze hervorbringen. Das V o l k als ganzes werde nicht i m Grundsätzlichen fehlgreifen, wenn es informiert sei und der Volkswille nicht durch Cliquen und Parteien verzerrt werde. Der allgemeine Wille, der sich unter diesen Voraussetzungen i m Mehrheitsbeschluß aller darstelle, werde nicht irren. 3 4 — E i n allzu optimistisches Menschenbild, zumal wenn es sich mit Vernunftgläubigkeit paart, führt in letzter Zuspitzung gelegentlich zu der anarchistischen Erwartung, daß der Staat als Instrument der Herrschaft von Menschen über Menschen überhaupt entbehrlich sei, und zu der Forderung, ihn daher abzuschaf33 Vgl. R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 9. Aufl. 1994, Kap. 13-15. 34 J. J. Rousseau, Contrat social, I I 3, IV 2. 12 Zippelius

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Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung

fen. — Der anthropologische Optimismus, gepaart mit der Vernunftgläubigkeit, man könne soziale Konflikte ausdiskutieren und nach Vernunfteinsichten regulieren, spielt auch dort eine Rolle, wo man weniger weit reichende Folgerungen zieht. So sollte das Parlament nach der Vorstellung des neunzehnten Jahrhunderts ein Forum sein, auf dem Repräsentanten des Volkes Interessenkonflikte i n verständiger Argumentation zum Ausgleich bringen. Indessen wurden Vernunftgläubigkeit und anthropologischer Optimismus durch die Erfahrungen des Alltags und der Geschichte nur allzuoft widerlegt. A u c h der anthropologische Pessimismus lieferte Richtlinien für politisches Handeln und für die Ausgestaltung von Verfassungen. Machiavelli, Hobbes, Locke, Montesquieu, Le Bon und andere haben ihre anthropologische Skepsis m i t unterschiedlichen Akzentuierungen zum Ausdruck gebracht 3 5 : V o n der natürlichen Güte des Menschen sei nicht viel zu erwarten und der Vernunft sei nicht allzuviel zuzutrauen. Insbesondere war die Hobbes'sehe Forderung nach einem staatlichen Gewaltmonopol von einer zutiefst pessimistischen Einschätzung des Menschen bestimmt. Aber auch wesentliche Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gründen sich auf Mißtrauen: Hält man den Menschen für egoistisch und machtbesessen, dann gilt es, auch die Staatsgewalt selbst zu zähmen und ausreichende Machtkontrollen i m Staate einzurichten. So entsprang die Forderung einer Gewaltenteilung und Gewaltenkontrolle schon bei Locke und später dann bei Montesquieu der realistischen Annahme, daß Menschen dazu neigen, ihre Macht auszuweiten, bis sie auf Grenzen stoßen. Kurz: Die Mutter des Rechtsstaates heißt Mißtrauen: Politische Herrschaft wurde durch rechtsstaatliche Kontrollen vermenschlicht, die ihren Grund darin haben, daß man sich nicht auf die natürliche Güte und Vernünftigkeit der Menschen verläßt. Noch eine andere anthropologische Vorstellung gewann tiefgreifenden Einfluß auf das neuzeitliche w e s t e u r o p ä i s c h e Staats- und Gesellschafts V e r s t ä n d n i s : die Hervorhebung der Individualität, der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Einzelnen. Kant lehrte, Würde und Wert des Menschen lägen geradezu in dessen Fähigkeit zu moralischer Selbstbestimmung; jeder habe daher die Autonomie jedes anderen zu achten. Hier liegt ein Ursprung des Anspruches auf Respektierung der Menschenwürde; mit ihm hängen die Ansprüche auf Gleichachtung und auf Glaubens-, Gewissens- und persönliche Entfaltungsfreiheit zusammen. Die Vorstellung, daß jeder eine den anderen gleich zu achtende moralische Instanz sei, macht auch den breitestmöglichen Konsens aller Bürger zur Legitimitätsgrundlage politischer und rechtlicher Entscheidungen und gehört dam i t zu den Quellen modernen Demokratie V e r s t ä n d n i s s e s .

35 Vgl. Zippelius (Fn. 33), Kap. 11, 12, 14, 19 b.

V. Weltanschauung und Rechtsgestaltung in der „offenen Gesellschaft"

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I V . Zielvorstellungen als politische und rechtliche Leitideen Neben dem Menschenbild spielen eine wichtige Rolle auch Vorstellungen über die grundlegenden Zwecke, i n deren Dienst die politische Gemeinschaft und das Recht zu stehen haben; auch sie kommen als politische und rechtliche Leitideen zu praktischer Wirkung. Bekannt ist die Radbruch'sehe Dreiteilung möglicher höchster Zwecke einer Gemeinschaft 3 6 : Nach dem individualistischen Leitbild soll den Einzelnen zu größtmöglicher Selbstentfaltung und größtmöglichem Glück verholfen werden. Nach einem überindividualistischen Leitbild w i r d zum wichtigsten Zweck politischen Handelns und Entscheidens etwa die Wahrung und Ausbreitung der nationalen Macht und Größe eines Staates oder ein religiöser Auftrag — ζ. B. die Ausbreitung des Islam oder die Christianisierung der Welt. Das dritte Leitbild, kulturelle Werke zu schaffen und Kunst und Wissenschaft zur Blüte zu bringen — wie dies etwa i m Athen des Perikles und i m Florenz Lorenzos des Prächtigen geschehen ist — wirkt wohl kaum als tragendes M o t i v einer aktuellen Politik; es mag aber vielleicht für eine rückschauende historische Würdigung als leitender Zweck eines Gemeinwesens vorgestellt werden. A u c h innerhalb dieser Leitideen gibt es mannigfaltige Differenzierungen. So kann innerhalb des individualistischen Hauptzweckes — Entfaltungsfreiheit, Wohlfahrt und politische Selbstbestimmung der Einzelnen zu verwirklichen — verschiedenen Teilzwecken ein unterschiedliches Gewicht zukommen: Der A k zent liegt bald stärker auf der größtmöglichen Ellenbogenfreiheit für jeden, bald stärker auf einer gleichmäßigen Verteilung der materiellen Grundlagen der Persönlichkeitsentfaltung und des materiellen Wohlstandes, bald stärker auf der demokratischen Mitbestimmung, bald auch stärker auf der Sicherung des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit. Es sind Zwecke, die sich gegenseitig teils ergänzen, teils aber auch widersprechen; und je nach der Kombination dieser verschiedenen Zwecke und nach dem Maße, in dem sie verwirklicht werden sollen, ergeben sich unterschiedliche politische Programme. Diese werden von politischen Parteien aufgegriffen und drängen so nach Verwirklichung: als Programme des Liberalismus, des Sozialismus, der demokratischen Partizipation oder eines Law-and-order-Denkens.

V . Weltanschauung und Rechtsgestaltung in der „offenen Gesellschaft" A u c h i n der „offenen Gesellschaft" spielen weltanschauliche Ideen eine nicht unbedeutende Rolle. Aber i m Staat der offenen Gesellschaft treibt man Politik und sucht man nach Gerechtigkeit aus einer „Perspektive legitimer Perspektiven36 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, § 7; ders., Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1959, § 8. 12*

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Kap. 14: Weltanschauung und Rechtsgestaltung

Vielfalt". Der Staat rechnet hier mit der Möglichkeit unterschiedlicher Weltanschauungen und identifiziert sich nicht dogmatisch mit einer von ihnen. Als die letzte Instanz moralischer Einsicht und damit auch der Gerechtigkeit gilt hier das Gewissen der Einzelnen. Daher gilt jeder als eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz. Für den Bereich des Staates und des Rechts führt diese Vorstellung zur Idee demokratischer Legitimität: zum Anspruch aller, in gleichberechtigter Kompetenz auch über die öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit, mitzureden und wenigstens an wesentlichen Letztentscheidungen teilzunehmen. 3 7 Religiöse und andere weltanschauliche Ideen können also i n den Prozeß demokratischer Meinungsbildung nur insoweit eingebracht werden, als sie die Überzeugungen von Bürgern der offenen Gesellschaft prägen; auf diesem Wege können sie auch in der offenen Gesellschaft legitimen Einfluß auf staatliche Akte gewinnen. 3 8 Die „mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeits Vorstellungen" sind übrigens nicht kurzerhand einer vordergründigen Mehrheitsmeinung zu entnehmen, die interessenbestimmt und manipuliert sein kann. U m zu erforschen, welche Entscheidungen vor dem vernunftgeleiteten Rechtsgefühl möglichst vieler Bestand haben können, muß die Konsensfähigkeit mit den Instrumenten rechtsstaatlicher Kultur „abgeklärt" werden. 3 9 Ich kehre zum Ausgangspunkt dieser Überlegungen zurück: A m Anfang stand das Bestreben, Einseitigkeiten abzuwehren, das Recht in seiner vielfältigen Bedingtheit zu begreifen. So blieb von Beginn an unbestritten, daß auch vitale Bedürfnisse, angeborene Verhaltensdispositionen, ökonomische Bedingungen und vielfältige Machtstrukturen Einfluß auf das Recht gewinnen. Die Ideen, die in einer bestimmten Kultur zu einer bestimmten Zeit i n den Köpfen der Menschen aktuell sind, sind nur einer der Faktoren, welche die Staats- und Rechtsgestaltung bestimmen, — aber eben doch ein bedeutender Faktor. Quod erat demonstrandum.

37 Dazu oben Kap. 5 IV. 38 Dazu unten Kap. 25 I I 1 a. 39 Ein wichtiges Mittel hierzu ist die Schaffung unabhängiger Entscheidungsinstanzen, die den Interessenkonflikten möglichst neutral und sachkundig gegenüberstehen und ihre Entscheidungen in rechtsstaatlichen Verfahren, insbesondere nach freiem Austausch der Argumente, in begründeter und kontrollierbarer Weise treffen. Um legitim zu sein, müssen diese Entscheidungen dann aber vor dem vernunftgeleiteten Rechtsempfinden aller oder der meisten bestehen können. Dazu oben Kap. 5 V, VI.

Kapitel

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Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel I . Die Angewiesenheit auf kulturelle Verhaltensorientierungen 1. Die Ergänzungsbedürftigkeit Verhaltenssteuerungen durch

angeborener Institutionen

Das Zusammenleben der Menschen ist, anders als das der Bienen in einem Bienenstaat, nicht schon durch angeborene Verhaltensprogramme starr und vollständig gesteuert; vielmehr lassen die i n der menschlichen Natur vorgegebenen Verhaltensdispositionen Freiräume, die einer Ausfüllung durch kulturell geschaffene Verhaltensordnungen bedürfen. So konnte man sagen, der Mensch sei „ v o n Natur ein Kulturwesen". 1 Bereits Kant hatte der Anthropologie die Aufgabe zugewiesen, nicht nur zu erforschen, „was die Natur aus dem Menschen macht", sondern auch, „was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und s o l l " 2 . a) Unbestritten bleibt, daß es auch beim Menschen angeborene Grundlagen des Sozialverhaltens gibt: elementare Motivationen, wie Geschlechts- und mütterlichen Pflegetrieb, darüber hinaus vermutlich auch komplexere Verhaltensdispositionen, wie die Bereitschaft, fremden Besitz zu achten, dauerhafte Paarbindungen einzugehen, etablierte fremde Paarbindungen zu respektieren und sich i n einmal ausgekämpfte Rangordnungen vorerst einzufügen; vielleicht hat selbst die Achtung vor älteren Gruppenmitgliedern, die nützliche Erfahrungen gespeichert haben, eine genetische Wurzel. So mochte es als reizvolle Aufgabe erscheinen, näher zu prüfen, ob und i n welchem Umfang es eine „Biologie der Zehn Gebote" gebe. W o w i r auf Sozialstrukturen stoßen, die, wenn auch m i t Abwandlungen, i n allen oder fast allen Kulturen vorkommen, liegt die Vermutung nahe, daß genetisch bedingte Verhaltensdispositionen hier am Werke waren. I n weitem Umfang bleibt es aber unbestimmt, welche Verhaltensweisen i n der natürlichen Anlage des Menschen „vorprogrammiert" und welche von ihnen Ergebnisse einer kulturellen Entwicklung sind. Weitgehend unerforscht ist es insbesondere, welche

ι A. Gehlen, Der Mensch, 7. Aufl. 1962, S. 80. 2 I. Kant, Anthropologie, 2. Aufl. 1800, Vorrede.

182

Kap. 15: Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel

Verhaltensneigungen in der spezifischen Lebenssituation der Hominiden und der frühen Menschheitsentwicklung „herausgezüchtet" wurden. 3 Unbestreitbar fügen sich die genetisch vorgegebenen Verhaltensdispositionen beim Menschen jedenfalls nicht zu einer kompletten und starren Verhaltensordnung zusammen. Vielmehr sind mit der genetischen Ausstattung des Menschen sehr verschiedene Sozialgefüge vereinbar: insbesondere all die Gesellschaftsstrukturen, die es tatsächlich i n unserer Welt gab und gibt, angefangen von den verschiedenen Sozialordnungen der Naturvölker und der nomadisierenden Viehzüchter über die Gesellschaftsmuster der feudalistischen Agrarkulturen bis hin zu jenen der westlichen Industriekultur. b) A u f die Notwendigkeit, die naturgegebenen Verhaltensdispositionen durch normative Verhaltensordnungen zu ergänzen, hat vor allem Arnold Gehlen hingewiesen: Erst die i m Laufe der Kulturentwicklung entstandenen „Institutionen" — d. h. normative Verhaltensordnungen für bestimmte Lebensbereiche — ergänzten die ererbten Verhaltensdispositionen zu jenen Verhaltensmustern, nach denen komplexere Gesellschaften funktionieren können. Erst diese normativen Verhaltensordnungen schaffen die nötige Orientierungsgewißheit und soziale Stabilität. Sie ermöglichen „eine Verhaltenssicherheit und gegenseitige Einregelung", wie sie von Instinkten allein nicht schon geleistet wird. Erst durch solche Institutionen leben Menschen „ i n stabilen Gefügen" 4 . Solche Institutionen, wie die Familien- oder die Eigentumsordnung, erscheinen als Instrumente und Absicherungen zur „Bewältigung lebenswichtiger Aufgaben" wie der Ernährung und der Fortpflanzung. Zugleich fungieren sie „als stabilisierende Gewalten und als die Formen, die ein seiner Natur nach riskiertes und unstabiles, affektüberlastetes Wesen findet, um sich selbst und u m sich gegenseitig zu ertragen". A u c h eine Stabilisierung ihres Innenlebens verdanken die Menschen solchen Verhaltensordnungen; diese ersparen es ihnen, daß sie „bei jeder Gelegenheit sich affektiv verwickeln oder sich Grundsatzentscheidungen abzwingen müssen" 5 . So verschaffen die Institutionen den Menschen eine „wohltuende Fraglosigkeit i n den Elementardaten, eine lebenswichtige Entlastung" 6 . Außerstande, alle Konflikte, mit denen uns eine kompliziert gewordene Gesellschaft konfrontiert, von Grund auf selbst zu verarbeiten und zu entscheiden, bleiben w i r darauf angewiesen, daß die bewährten Ordnungen des Zusammenlebens uns viele dieser Entscheidungen abnehmen. Nicht selten ist auch eine kulturelle Gegensteuerung — zur Korrektur naturgegebener Neigungen — erforderlich: überall dort, wo die angeborenen Verhaltensdispositionen in der heutigen Gesellschaft dysfunktional wirken. E i n Beispiel

3 Zu all dem oben Kap. 8. 4 A. Gehlen, Moral und Hypermoral, 3. Aufl. 1973, S. 96. 5 Gehlen (Fn. 4), S. 97 f. 6 Gehlen (Fn. 4), S. 98.

I. Die Angewiesenheit auf kulturelle Verhaltensorientierungen

183

bietet eine starke Aggressionsbereitschaft, die i n wildlebenden Kleingruppen einen Selektionsvorteil bot, i n der urbanisierten Gesellschaft aber als Störfaktor wirkt. 2. Die Angewiesenheit

auf eine umfassendere

Sinnorientierung

Dem Bedarf an kulturbedingten Orientierungen ist nicht schon m i t speziellen Verhaltensnormen genügt: I n der komplexen Welt, in der sich der Einzelne findet, sucht er darüber hinaus nach größeren „Perspektiven" 7 , in die sich auch die einzelnen Normen und Institutionen einordnen lassen. Allgemeiner: Er braucht Vorstellungsschemata, m i t denen er die Vielfalt der Erscheinungen, Verhaltensmuster und Vorstellungen, denen er begegnet, übersichtlich ordnen, mit denen er sich die Welt also „transparent", „begreiflich", faßlich machen kann, u m sich auch m i t seinem Verhalten auf die so begriffene Welt einzurichten. I n der Bereitstellung solcher umfassenderen Weltorientierungen liegt eine wesentliche Funktion der „Weltanschauungen", die ihre historisch wichtigste Ausprägung in den Religionen finden. Deren orientierende und integrierende Funktion übernahm i m zwanzigsten Jahrhundert für einen T e i l der Menschheit die säkularisierte „Religion" der marxistischen Welt. Innerhalb solcher Weltanschauungen finden auch die Staatsordnungen und die übrigen sozialen Institutionen ihren Platz. Solchen Weltanschauungen werden also zugleich „Leitbilder" des Handelns entnommen; dadurch entfalten sie eine wichtige Steuerungsfunktion für das soziale Geschehen, auch für das Recht und die Politik: Religiöse Anschauungen und Leitbilder haben Sozialstrukturen und ökonomische Entwicklungen mitbestimmt. Der Missionierungsdrang, der sich mit der christlichen und der islamischen Religion verband, hat i n der Weltgeschichte deutliche Spuren hinterlassen. A l s Sinn- und Verhaltensorientierungen bilden „Weltanschauungen" also mächtige Integrations- und Wirkungsfaktoren. Historisch waren es zuerst religiöse Weltbilder, die umfassende Weltorientierungen lieferten und es damit erleichterten, wenn nicht überhaupt ermöglichten, Menschen zu größeren Organisationseinheiten zusammenzufassen, in denen sich dann eine höhere Zivilisation entwickeln konnte. A u f solche Weise hängt vermutlich der kulturelle Aufstieg der Menschheit m i t der Anlage des Menschen zur Bildung von — religiösen oder religionsähnlichen — Weltanschauungen zusammen. V o n der Macht der Ideen weiß auch die Staatstheorie seit langem, und die politische Praxis hat von diesem Wissen immer wieder Gebrauch gemacht. 8

7 Vgl. F. Kaulbach, Einheit als Thema des transzendentalen Perspektivismus, in: K. Gloy / D. Schmidig (Hrsg.), Einheitskonzepte in der idealistischen und in der gegenwärtigen Philosophie, 1987, S. 15 ff.; ders., Experiment, Perspektive und Urteilskraft bei der Rechtserkenntnis, in: ARSP 1989, S. 447 ff.; ders., Philosophie des Perspektivismus, Bd. I, 1990, insbes. S. V I I I f., 1 -10. 8 Zu all dem oben Kap. 14.

184

Kap. 15: Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel I I . Auflösung und Wandel kulturbedingter Sinn- und Verhaltensorientierungen

Die Funktion kulturbedingter Sinn- und Verhaltensorientierungen — Orientierungsgewißheit zu geben und Entscheidungslast abzunehmen — zeigt sich besonders deutlich in Zeiten, in denen sie unsicher werden: Das Fragwürdigwerden der überkommenen Weltanschauungen und Institutionen und auch schon ihr allzu rascher Wandel führen oft zu einer Freisetzung des „Chaotischen i m Menschen", dessen Antriebe eben nicht schon durch Instinkte hinreichend reguliert sind. Zeiten, i n denen die überlieferten normativen Ordnungen zerbrechen, sind Zeiten der „Exzesse", d. h. des Heraustretens aus normativen Bindungen, es sind Zeiten der Exaltiertheit und der Gewalttätigkeiten. Werden die bewährten Ordnungen des Zusammenlebens zerstört oder unterliegen sie einem allzu raschen Wandel, so greift Verunsicherung um sich, die sich nicht selten in „Angst oder Trotz oder Reizbarkeit" umsetzt. Dann kommt das schon in der Biologie verwurzelte Gesetz zum Zuge, „daß soziale Unordnung Aggression gegen Gruppenmitglieder freimacht" 9 . I n unserer Epoche hat die Desorientierung — gegenwärtig besonders deutlich in den Entwicklungsländern — vor allem zwei Gründe: Z u m einen lösen sich integrierende Lebensgemeinschaften auf, zum andern geht die Einheit des Weltbildes, insbesondere die integrierende Kraft gemeinschaftlicher Religionen zunehmend verloren. 1. Die Auflösung

integrierender

Lebensgemeinschaften

Eine wichtige Rolle bei dem Verlust an Orientierungsgewißheit spielt schon die fortschreitende Auflösung jener kleineren Lebensordnungen, die den Einzelnen „beheimaten", ihn dabei auch in seinem Verhalten steuern und kontrollieren, wie es ehedem die Großfamilie tat oder in unserem Kulturkreis die Handwerkerzunft oder auch die Dorfgemeinschaft, die zugleich Kirchen- und Festgemeinde, moralische Instanz, Feuerwehr und Träger der Armenfürsorge war. Heute lassen — u m nur zwei Beispiele zunehmender Entwurzelung und schwindender sozialer Einbindung zu nennen — isolierte Kleinfamilien und die Anonymität der M i l l i o nenstädte m i t ihrer Hochhauszivilisation eine Geborgenheit i n der Familie und i n der Nachbarschaft nicht mehr in altüberkommener Selbstverständlichkeit entstehen. Diesen Wandel von „gewachsenen" Gemeinschaften, die den Einzelnen vielfältig einbinden und kontrollieren, zu einer zunehmend arbeitsteiligen, komplexen, hochorganisierten Gesellschaft haben Historiker und Soziologen wie Henry

9 Gehlen (Fn. 4), S. 100 f., unter Verweisung auf /. Eibl-Eibesfeldt, vergleichenden Verhaltensforschung, jetzt 7. Aufl. 1987, S. 577.

Grundriß der

II. Auflösung und Wandel der Verhaltensorientierungen

185

S. M a i n e 1 0 , Ferdinand Tönnies 1 1 und Emile D u r k h e i m 1 2 , wenn auch mit etwas unterschiedlichen Begriffen und m i t B l i c k auf unterschiedliche Entwicklungsstadien, beschrieben. Wesentlich erscheint die Erkenntnis, daß sich mit einer fortschreitenden funktionellen Differenzierung auch die institutionelle Verflechtung lockert 1 3 . I n den herkömmlichen, von Landwirtschaft und Handwerk geprägten Kulturen lagen die Bereiche der Familie, der Arbeit, der Freizeitbeschäftigung, des religiösen und des gesellschaftlich-politischen Engagements nahe beieinander und überschnitten sich vielfach 1 4 . Diese Bereiche rücken mit fortschreitender Industrialisierung funktionell und räumlich auseinander und erfassen die Einzelnen nurmehr selektiv i n unterschiedlichen „Rollen". A n die Stelle einer kompakten Bindung an einen überschaubaren Lebensbereich, m i t seinen integrierenden Verhaltensmustern und -kontrollen, tritt so eine Vielzahl bloß partieller, oft nur utilitaristischer Engagements in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Solche Engagements sind auch leichter auflösbar, was wiederum die Mobilität, aber auch die emotionale und institutionelle Heimatlosigkeit erhöht: Der eigenständige Bauer oder Handwerker konnte und mußte sich mit seinem H o f oder seiner Werkstatt identifizieren und fand darin seine Ehre oder sein Versagen; demgegenüber läßt eine zunehmend differenzierte Arbeitswelt nur noch wenigen die emotionale Chance und Last, sich m i t ihrem Lebenswerk zu identifizieren. Ehescheidung war in einer bäuerlichen Welt nicht nur persönliches Mißgeschick, sondern zugleich betriebliches Unglück; in der Industriegesellschaft hingegen w i r d der Arbeitsbereich des Mannes zumeist durch die Auflösung der Ehe nicht mehr betroffen; die moderne Frau ist ihrerseits für einen unabhängigen Beruf gerüstet und auch nicht mehr durch eine große Kinderzahl schicksalhaft an die Familie gebunden. I m Kommunalrecht hat man die „Entörtlichung" der sozialen Beziehungen beschrieben: Die örtlichen Gemeinschaften geraten vielfach aus dem Gefüge; die berufsbedingte Fluktuation der Gemeindebürger lockert die personelle Zusammengehörigkeit der Einwohner eines Gemeindegebietes. Die persönlichen Beziehungen sammeln sich immer weniger in der örtlichen Gemeinschaft und orientieren sich zunehmend an wirtschaftlichen, politischen, sportlichen und sonstigen, oft die Gemeindegrenzen überspringenden Interessen. 15

10 H. S. Maine, Ancient Law, 1861, Ausgabe 1972, S. 99 f. h F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887, Ausgabe 1972, insbes. S. 243 ff. 12 E. Durkheim, Über die Teilung der sozialen Arbeit, 1893, dt. 1977, insbes. S. 222 f. 13 H. Tyrell, Familie und gesellschaftliche Differenzierung, in: H. Pross (Hrsg.), Familie — wohin?, 1979, S. 23 ff. 14 Vgl. O. Brunner, „Das ganze Haus" und die alteuropäische „Ökonomik", in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, S. 107 ff. 15 Nachträgliche Ergänzung. Vgl. aus der neueren Diskussion etwa W. Brohm, Die Selbstverwaltung der Gemeinden im Verwaltungssystem der Bundesrepublik, DVB1. 1984, S. 295; R. Hinkel, Zur Situation der kommunalen Selbstverwaltung, N V w Z 1985, 226; kritisch gegenüber der behaupteten Mobilität der Bevölkerung: E. Schmidt-Jortzig,

186

Kap. 15: Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel

Wandel und Auflösung der Institutionen sind eingebettet i n einen Wandel des Weltbildes, auf den später noch näher einzugehen ist: Insbesondere „die Subjektivierung der Ehe und Familie gründet in dem allgemeinen, in der Renaissance und Reformationszeit beginnenden, seit der Aufklärung wie der Romantik sich beschleunigenden, i n der Gegenwart allumfassenden Vorgang der Subjektivierung und ,Emanzipation' " 1 6 . Ganz zu den alten Ordnungen zurückzukehren, erscheint als praktische Unmöglichkeit. Angesichts des fortdauernden Bedürfnisses nach institutioneller Einbindung stellt sich aber die Aufgabe, auch in der Industriegesellschaft die alten Institutionen, soweit sie noch integrierend wirken können, nach Möglichkeit mit neuem Leben zu erfüllen und neue Institutionen zu schaffen, welche die „beheimatenden", integrierenden und auch kontrollierenden Funktionen der alten Institutionen so gut wie möglich übernehmen können. Das bedeutet die Aufgabe, dezentralisierte, überschaubare Lebensbereiche zu erhalten und neu zu schaffen, die eine Vielfalt von Beziehungschancen und sozialen Kontrollen eröffnen. So sind die Herausbildung und Neubelebung engerer religiöser, sportlicher und anderer gesellschaftlicher Gruppierungen auch Versuche, ein soziales „Zuhause" zu finden. W i c h t i g ist insbesondere, daß die Einzelnen in einem für sie wichtigen Lebensbereich i n einer für sie fühlbaren Weise mitwirken können. Dem dient zum Beispiel die Stärkung des Eigenlebens von Gemeinden überschaubarer Größe, von Universitäten und Fakultäten und von Selbstverwaltungseinrichtungen des Wirtschaftslebens. I m Bereich der Wirtschaft geht man vielfach zu einer dezentralisierten Führung von Großunternehmen über, sogar dazu, die unternehmerische Selbständigkeit überschaubarer Unternehmensbereiche zu simulieren. A u c h die Mitbestimmung und die Mitbeteiligung von Arbeitnehmern können ein konstruktives Element i n das Sozialgefüge einbringen, wenn sie in überschaubaren Bereichen die Arbeitnehmer selbst engagieren, sie dazu bringen, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu bedenken, und sie an deren Nutzen und Risiken teilhaben lassen, kurz, wenn sie nicht zum bloßen Hebel zentraler, etwa gewerkschaftlicher Steuerung werden. Selbstverständlich darf die Forderung nach Dezentralisation nicht radikalisiert werden. Insbesondere das politische Gesamtsystem bedarf eines ausgewogenen Zusammenspiels zwischen den partikulären Kräften und hinreichend starken, zentral regulierenden Instanzen, die jenen Kräften ordnend und als Repräsentanten sozialer Gerechtigkeit und staatsmännischer Vernünftigkeit gegenübertreten. Es handelt sich also u m ein Optimierungsproblem. Indem man ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer Selbststeuerung der Teileinheiten und zentralen Steuerungen sucht, macht man zugleich Gebrauch von einer Einsicht, die allgemein

Gemeinden und Kreise vor den öffentlichen Aufgaben der Gegenwart, DVB1 1977, S. 804. i6 H. Steiger, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel, VVDStRL45 (1987), S. 67.

II. Auflösung und Wandel der Verhaltensorientierungen

187

für informations verarbeitende Systeme g i l t 1 7 : Ein Höchstmaß an Stabilität, A n passungs- und Verarbeitungskapazität ist solchen Systemen zueigen, deren Teile durch ein zentrales Regelungssystem zwar koordiniert, aber nicht starr verkoppelt sind. Das bedeutet: Die Subsysteme müssen mit einer ausreichenden Selbstregelungskapazität ausgestattet sein, kraft deren sie einen Teil der Einflüsse (Informationen), denen das Gesamtsystem ausgesetzt ist, selbst verarbeiten können, kraft deren sie auch die Möglichkeit haben, sich in begrenztem Umfang untereinander abzustimmen. Die koordinierenden Funktionen sind zweckmäßigerweise oft von einem hierarchischen Gefüge von Instanzen zu übernehmen. Beispiel eines solchen abgestuften Systemaufbaues ist die — i m weitesten Sinn verstandene, also nicht auf das Bund-Länder-Verhältnis beschränkte — „föderative" Gliederung eines politischen Systems in teilautonome Körperschaften verschiedener Ebenen: in Gemeinden, Landkreise, Bezirke (oder Regionen), Gliedstaaten und B u n d . 1 8 E i n ehrwürdiges V o r b i l d finden all diese Modelle i m Subsidiaritätsprinzip. Es betont das eigene Lebensrecht der kleineren Lebenseinheiten und verlangt, die übergeordneten Einheiten sollten nur solche Aufgaben an sich ziehen, die nachgeordnete, kleine Einheiten nicht ebenso gut oder besser erfüllen können. 1 9 In der Verwirklichung dieses Prinzips hatte bereits Aristoteles die wichtigste Vorkehrung gegen den undifferenzierten, nivellierenden Staat gesehen, und die katholische Sozialtheorie hat sich dieses Programm zu eigen gemacht 2 0 . I n diese Vorstellung fügt sich auch das von Althusius gezeichnete B i l d einer staatlichen Gemeinschaft, die sich als eine „symbiotische Universalgesellschaft" aus politischen Gemeinden, Provinzen und Regionen bilden sollte 2 1 , die ihrerseits aus Familien, kirchlichen und weltlichen Genossenschaften, Handwerkerzünften und Kaufmannsgilden bestünden 2 2 .

2. Weltanschauliche

Verunsicherung

Z u dem Verlust institutioneller „Beheimatung" tritt als weitere Verunsicherung der Verlust der Einheit des Weltbildes oder, paradigmatisch, der Verlust einer gemeinschaftlichen Religion. Dies ist die Kehrseite der weltanschaulichen „ O f fenheit" und einer uneingeschränkten Freiheit der Meinungen in einer aufgeklärten Welt, die gegenüber festgefügten Weltanschauungen skeptisch geworden ist. i7 Vgl. zum folgenden W. R. Ashby, Design for a Brain, 2. Aufl. 1976, S. 155 ff., 205 ff.; Κ. Steinbuch, Kurskorrektur, 1974, S. 30 ff. is Zum föderativen Optimierungsproblem siehe unten Kap. 20 I I 3. 19 Vgl. etwa E. Link, Das Subsidiaritätsprinzip, 1955; A. F. Utz, Formen und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, 1956; J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968. Die folgenden Sätze sind aus dem als Kap. 20 abgedruckten Aufsatz übernommen. 20 Aristoteles, Politik, 1261, 1263 b; Enzyklika Quadragesimo anno, 1931, Nr. 79. 21 J. Althusius, Politica methodice digesta, 1603 / 1614, IX 1, 3, 5; vgl. auch V 6-8, V I I 1. 22 Althusius (Fn. 21), V 1, 8; vgl. auch I I 14, 37 f., IV 1 ff., 24, 30.

188

Kap. 15: Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung im Wandel

Einen historischen Hintergrund für solche Skepsis boten in Europa die Religionskriege des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, i n denen unterschiedliche „Gewißheiten" gegeneinander ins Feld zogen. Weltweit ist die Selbstverständlichkeit der traditionellen Weltanschauungen insbesondere durch die fortschreitenden interkulturellen Beziehungen und den m i t ihnen verbundenen Kulturvergleich verloren gegangen. W o die Selbstverständlichkeit und Verläßlichkeit einer weltanschaulich fundierten Verhaltensorientierung schwindet, muß die Verhaltensordnung auf andere Grundlagen gestellt werden. 2 3 V o r eine Vielzahl konkurrierender Weltanschauungen gestellt, sieht der Einzelne sich auf seine eigene Vernunft und Gewissensüberzeugung zurückgeworfen. Aus der sicheren Führung durch eine autoritativ vorgegebene Weltanschauung entlassen, findet er sich „emanzipiert" und seiner eigenen Verantwortung überliefert. Nicht nur die Weltanschauungen, auch die nachgeordneten Leitbilder, etwa von Ehe und Familie, haben an Verbindlichkeit verloren: Die Tradition legitimiert nicht mehr aus sich selbst heraus — sondern nur noch kraft ihrer Akzeptanz — die Rechtsgestaltung. 24 Haben die autoritativ vorgegebenen Antworten auf Fragen nach der Gerechtigkeit und insgesamt nach der anzustrebenden sozialen und politischen Ordnung ihre Überzeugungskraft verloren, dann müssen in diesen Fragen die Gerechtigkeitsüberzeugungen jedes Menschen prinzipiell gleich viel gelten. — W e i l aber die Gerechtigkeitsvorstellungen und politischen Ideale der Einzelnen nicht selten einander widerstreiten, müssen als verbindliche Richtschnur des Handelns solche Normen gelten, die auf Grund bestimmter Regelungsbefugnisse nach bestimmten Spielregeln zustande kommen. Dabei stellt sich die Aufgabe, die größtmögliche Annäherung an den Konsens aller zu erstreben und zugleich die Konsensfindung — durch die Institutionen und Verfahren rechtsstaatlicher Demokratie — in die Bahnen vernünftiger Gerechtigkeitserwägungen zu lenken. I n der rechtsstaatlichen repräsentativen Demokratie treffen beide Vorstellungen zusammen: daß die verbindlichen Verhaltensrichtlinien auf Grund von Kompetenzen und Verfahren zu schaffen und daß die staatlichen Entscheidungen hierbei an die Grundlage des breitestmöglichen Konsenses zu binden sind. 2 5 W o h l kann auf diesem Wege i n der offenen Gesellschaft eine verläßliche und auch legitimierbare Verhaltensordnung hergestellt werden. Das weiterreichende Bedürfnis nach weltanschaulicher Orientierungsgewißheit und geistiger „Beheimatung" kann auf diese Weise aber nicht durchwegs befriedigt werden. Die Zumutung konkurrierender Weltanschauungen, der Verzicht auf definitive weltanschauliche „Gewißheit", das Sich-bescheiden mit der Vorläufigkeit des eigenen Weltbildes überfordert viele; das tritt insbesondere i n der fortbestehenden weltanschaulichen Fanatisierbarkeit und der damit verbundenen, weit verbreiteten Nei23 Dazu oben Kap. 5. 24 Steiger (Fn. 16), S. 67 f. 25 Zu all dem oben Kap. 5 und 11.

II. Auflösung und Wandel der Verhaltensorientierungen

189

gung zu weltanschaulicher Intoleranz zutage. So ist es fraglich, ob sich politische Gemeinschaften dauerhaft auf die Erwartung gründen lassen, daß jeder seine eigene Weltanschauung nur für ein Ergebnis seines persönlichen Erkenntnisbemühens halte und gegenteilige Überzeugungen respektiere. Die Tochter weltanschaulicher Offenheit und geistiger Freiheit heißt Unsicherheit. Gerade die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts hat aber gezeigt, daß die Unlust am Ertragen geistiger Verunsicherung als gefährliche Folge die Anfälligkeit der Massen für die Faszination charismatischer Führer und Weltanschauungen h a t . 2 6 Noch steht nicht fest, ob die freiheitliche Demokratie — als politische Organisationsform der offenen Gesellschaft — die „Natur des Menschen" nicht überfordert: nämlich seine Bereitschaft, Verunsicherung zu ertragen, und seine Bereitschaft zur Toleranz: Bisher ist diese politische Form, die der Vernünftigkeit so viel Vertrauen schenkt, historisch und regional nur eine Episode der Weltgeschichte.

26 Vgl. S. Moscoviti, Das Zeitalter der Massen, 1984.

Kapitel

16

Politik und Sachverstand I . Die Utopie vom Regime der Sachverständigen Den Traum von einem Regime sachkundiger Eliten hat schon Francis Bacon i m siebzehnten Jahrhundert, zu Beginn des „empirischen" Zeitalters geträumt. I n der von i h m entworfenen Utopie — seinem Idealstaat Nova Atlantis — wies er die führende Rolle einer Elite von Forschern und Wissenschaftlern zu: Sie sollten die Kräfte und M i t t e l der Natur erschließen und in den Dienst der Gesellschaft stellen. 1 Zweihundert Jahre später meinte Saint-Simon, die allgemeinen Interessen der Gesellschaft würden am besten von Menschen verwaltet, die dank ihrer Sachkunde den allgemeinsten und positivsten Nutzen stiften könnten. Deshalb sollte die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten — soweit es sich u m die Finanzen handele — i n die Hände der bedeutendsten „Industriellen" gelegt werden, andere als finanziell-administrative Angelegenheiten aber in die Hände der fähigsten Sachverständigen. 2 Die Souveränität beschränke sich dann darauf, jeweils nach einem Prinzip zu handeln, „das sich aus der Natur der Dinge selbst herleitet". 3 Kurz, das politische Handeln sollte eine sachverständig zu verwaltende Technik der Wohlstandsoptimierung sein. Auguste Comte, der einige Zeit Privatsekretär Saint-Simons war, wollte nicht nur die naturgegebenen Hilfsmittel der Wohlstandsmehrung, sondern das Zusammenleben der Menschen überhaupt mit wissenschaftlichen Methoden beschreiben und beherrschen. Dieses Zusammenleben werde, so glaubte er, von Erfahrungsgesetzen bestimmt. Habe man diese erforscht, so könne man auch i m sozialen Geschehen künftige Ereignisse voraussehen 4 und könne diese günstig beeinflussen oder wenigstens das Verhalten auf künftige Entwicklungen einstellen 5 : Savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir. So entstand das Programm einer Erfahrungswissenschaft v o m menschlichen Zusammenleben, oder wie Comte sagte: das

ι F. Bacon, Nova Atlantis, 1627, IV 3, in: K. J. Heinisch, Der utopische Staat, 1960. C. H. de Saint-Simon, Catéchisme des industriels, 1823/24, IV. 3 C. H. de Saint-Simon, L'organisateur, 1819/20, 11. Brief. 4 A. Comte, Discours sur l'esprit positive, 1844, Nr. 15. 5 Comte (Fn. 4), Nr. 22. 2

I. Die Utopie vom Regime der Sachverständigen

191

Programm einer „sozialen P h y s i k " . 6 Er gab ihr den Namen „Soziologie". 7 Für diesen Positivismus sollte es nicht nur eine mechanische und chemische Technik, sondern auch eine Technik der Politik und der Moral geben. 8 Kurz, auf Grund der Vorstellung, daß das gesellschaftliche Handeln insgesamt festen Erfahrungsregeln folge, bildete sich die Idee einer wissenschaftlich begründbaren P o l i t i k . 9 I m Marxismus begegnet uns eine etwas andere Vorstellung von einer wissenschaftlich zu betreibenden P o l i t i k 1 0 : Aus marxistischer Sicht soll diese sich nach den Gesetzen des Historischen Materialismus vollziehen. Als „Sachverständiger" erscheint hier der Kenner der politökonomischen Entwicklungsgesetze, zumal der Klassenkampfexperte. 11 M i t sehr viel bescheidenerem Anspruch wurde später noch einmal das Programm einer Sozialtechnik aufgenommen. Bei Eugen Ehrlich findet sich das B i l d v o m Juristen als „Sozialingenieur": I h m sei „ein Stück der Leitung der Gesellschaft anvertraut". Hier rückt der Jurist gleichsam in die Rolle des Sachverständigen: Einerseits hält er die normativen Steuerungsinstrumente i n der Hand, andererseits obliegt i h m „die Kenntnis der in der Gesellschaft wirkenden Kräfte, die geleitet werden sollen", „grade so, wie der Maschineningenieur die natürlichen Kräfte kennen muß, die die Maschine bewegen." 1 2 Populärer wurde die Vorstellung, Jurisprudenz sei Sozialtechnik, i n der amerikanischen Version Roscoe Pounds. Er prägte das Wort v o m „social engineering".13 Aufgabe dieser Sozialtechnik sei es schon bisher gewesen, so viele Bedürfnisse wie möglich unter den geringstmöglichen Opfern zu befriedigen. So berichte die Rechtsgeschichte davon, daß Interessen, Ansprüche oder Wünsche fortschreitend durch soziale Kontrolle anerkannt und befriedigt wurden; wenn es darum gegangen sei, daß Menschen die Güter genießen, die das Leben bietet, seien ungenützte Möglichkeiten immer umfassender und wirksamer eliminiert und Hemmnisse beseitigt worden. Kurz, die Geschichte berichte von einem stetig wirksameren social engineering. 1 4 Hier hat der amerikanische Sozialoptimismus einen klassischen Ausdruck gefunden.

6 7 s 9

A. Comte, Cours de philosophie positive, 1830-1842, Lekt. 46. Comte (Fn. 6), Lekt. 47. Comte (Fn. 4), Nr. 22. Comte (Fn. 4), Nr. 53. 10 H. Dahm, W. Goerdt, Art. Materialismus, historischer (insbes. Ziff. 4), Im Historischen Wörterbuch der Philosophie V, 1980. h Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 25 II. 12 E. Ehrlich, Die juristische Logik, 2. Aufl. 1925 (Neudruck 1966), S. 310. 13 R. Pound, Interpretations of Legal History, 1923, S. 141 ff., 152 f., 156 f. ι 4 R. Pound, Introduction to the Philosophy of Law, 1954, S. 47.

192

Kap. 16: Politik und Sachverstand I I . Die Unterscheidung von Zielwahl und Sachverstand

Unsere Frage lautet: I n welchem Umfang kann Sachverstand zur Lösung politischer und insbesondere rechtspolitischer Probleme beitragen? N u n sind uns i n den bisherigen Überlegungen mannigfaltige Varianten von „Sachverstand" begegnet. W i r müssen also zunächst die Frage nach der Kompetenz des Sachverstandes auf diskussionsfähige Begriffe bringen. Hierzu muß bestimmt werden, welche Bereiche des Sozialverhaltens — das den Gegenstand der Politik bildet — sachverständiger Beurteilung zugänglich sind. Könnte man Politik auf der Basis einer „sozialen Physik" betreiben, wie August Comte annahm, so hätte der Sachverstand ein weites Feld. Grundlage für diese Annahme Comtes war die Philosophie des Positivismus. Diese nahm sich vor, ein einheitliches, „monistisches" System der Wissenschaften zu entwerfen. I n diesem wollte man von den einfacheren, wahrnehmbaren Gegebenheiten und ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen 1 5 zu immer komplexeren übergehen: Ausgehend von den vergleichsweise einfachen Gesetzen der Astronomie schreite man i n diesem System zu Physik, Chemie und Biologie und schließlich, i n der Soziologie, zu den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens f o r t . 1 6 Den entscheidenden Einwand gegen dieses Gesellschaftsmodell hat neben Emile Durkheim vor allem M a x Weber geliefert: Menschliches Zusammenleben funktioniert nicht nach den Gesetzmäßigkeiten eines komplexen Naturgeschehens. I m Gegensatz zu natürlichen Abläufen w i r d menschliches Handeln auch von Wertungen und Normen geleitet. Darum ist menschliches Zusammenleben nicht zuletzt aus den M o t i v e n des Handelns zu erklären. M a n muß also die Kausalität — nämlich die handlungsleitende Kraft — sinnhafter Beweggründe m i t i n Rechnung stellen, wenn man soziales Geschehen erklären w i l l . 1 7 Kurz, Soziologie muß „verstehende Soziologie" sein. A u f der Grundlage dieses differenzierenden Gesellschaftsverständnisses war nun die Frage nach der Kompetenz des S ach ver standes neu zu stellen: Es war zu untersuchen, welche Bereiche des komplexen sozialen Geschehens wissenschaftlicher Erforschung und damit sachverständiger Beurteilung zugänglich sind und welche nicht. Die berühmt gewordene Antwort Max Webers lautet: Wissenschaft kann nur untersuchen, welche Ursachen zu welchen Wirkungen führen. Aber sie kann nichts darüber verkünden, ob bestimmte, von ihr voraussagbare Wirkungen auch erstrebenswert sind. Sie hat keine Kompetenz, selber Bewertungen vorzunehmen. Die W a h l der Ziele, die das Handeln motivieren können, und ihre Gewichtung ist nicht Aufgabe der Wissenschaft, sondern Aufgabe der Politik. Gleiches gilt für die Lösung von Zielkonflikten. Kurz: Wissenschaft kann nur

15 Comte (Fn. 4), Nrn. 12 und 18. 16 Comte (Fn. 4), Nr. 73. 17 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1976, S. 1, 7.

II. Die Unterscheidung von Zielwahl und Sachverstand

193

angeben, welche M i t t e l geeignet sind, einen vorausgesetzten Zweck zu erreichen. Die W a h l der Zwecke selbst liegt aber außerhalb des Feldes der Wissenschaft. Damit war eine Unterscheidung getroffen, die für die weitere Diskussion wichtig wurde: die Unterscheidung zwischen Z i e l wähl und sachverständiger Ermittlung der Kausalitäten, die zum Z i e l führen. Gegen die Erwartung, der Sachverstand könne insgesamt die Stelle der politischen Gewalten einnehmen, wurde so die These von der „Beschränktheit des S ach Verstandes" gestellt: Dessen Aufgabe sei es, geeignete M i t t e l für vorausgesetzte politische, wirtschaftliche oder sonstige gesellschaftliche Zwecke zu finden. Aber die W a h l dieser Zwecke selbst sei keine Frage bloßen Sachverstandes, insbesondere keine Frage eines technischen Spezialistenwissens. Die Wissenschaft gibt keine Antwort auf die Frage: „Was sollen w i r tun? W i e sollen w i r leben?" 1 8 Sobald es u m die Zwecke, Ziele, Werte geht, i n deren Dienst das technische Wissen zu stellen ist, streiten Gewissen und persönliche Weltanschauungen miteinander. Stets fordern uns verschiedene, oft miteinander unvereinbare Zwecke und Werte i n ihren Dienst, und „ w i e der Hellene einmal der Aphrodite opferte und dann dem A p o l l o n und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute." Der alte Zwist der Götter ist nicht begraben. Als letzte, miteinander u m Gefolgschaft streitende Werte entsteigen sie, „entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte . . . ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen K a m p f 4 . 1 9 Diesen K a m p f zwischen den letzten, überhaupt möglichen Standpunkten kann man nicht rational auflösen. Hier bleibt die Not und die Notwendigkeit, sich zu entscheiden. 20 So tritt neben die wissenschaftliche Aufgabe, die tatsächlichen Zusammenhänge zu erkennen, eine jenseits der theoretischen Erkenntnis stehende praktische Pflicht, für die eigenen Ideale einzutreten. 21 A n diesem Punkt haben spätere Diskussionen angesetzt. So haben Horkheimer und andere versucht, doch wieder ein Stück Rationalität auch i n die Frage der Zielwahl einzubringen: Der Mensch dürfe nicht bloß Benutzer und zugleich Gefangener seiner instrumenteilen Vernunft bleiben. So scharfsinnig die Kalkulationen des Menschen geworden seien, was seine M i t t e l angeht, so einfältig sei seine W a h l der Zwecke geworden 2 2 — hier ist das Schlagwort v o m „Fachidioten" vorbereitet: v o m Fachmann, der sich zielblind vor jeden Karren spannen läßt. Damit war die Frage gestellt, ob M a x Weber bei seiner Trennung von Zielwahl und Sachverstand die Grenzen der Rationalität nicht zu eng und streng gezogen is M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl. 1968, S. 598 f. 19 Weber (Fn. 18), S. 604 f. 20 Weber (Fn. 18), S. 608. 21 Weber (Fn. 18), S. 155, 601. 22 M. Horkheimer, Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft, (engl. 1947) dt. 1967/ 1974, S. 15 ff., 93 ff., 97. 13 Zippelius

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Kap. 16: Politik und Sachverstand

hatte, ob w i r nicht auch über die Ziele, die i n der Gemeinschaft zu verfolgen sind, und über die angemessenen Normen des Zusammenlebens m i t Vernunftgründen einig werden können. Habermas möchte das bejahen und vertraut auf die Kraft des herrschaftsfreien Dialogs. 2 3 Aber die Hoffnung, daß sich alle über die Ziele und Normen ihrer politischen Gemeinschaft zwanglos einigen würden oder doch einigen könnten, wenn sie i n vernünftige Verhandlungen einträten 2 4 , die Hoffnung, daß sich hierauf eine herrschaftsfreie Gemeinschaft gründen lasse, i n der nurmehr „der eigentümlich zwanglose Zwang des besseren A r g u m e n t s " 2 5 gälte, bleibt eine Utopie. Das zeigt schon ein kurzer B l i c k auf den politischen Alltag, i n dem viele Meinungsverschiedenheiten rational eben nicht restlos ausdiskutierbar sind: wie etwa der Streit u m den Einsatz von Atomenergie, u m die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs, u m die Grenzen zulässiger Euthanasie, u m die Steuergerechtigkeit oder um den gerechten Lohn. Gleichwohl ist zuzugeben, daß w i r in Grenzen auch über unsere Handlungsziele vernünftig miteinander reden und uns in begrenztem Umfang einig werden können. Aber das ist kein Feld, das streng wissenschaftlich erforschbar ist. Grenzen der Einigungsmöglichkeit ergeben sich nicht zuletzt aus unseren weltanschaulichen Voreingenommenheiten und unseren — auch hierdurch bestimmten — Präferenzen für die unterschiedlichen Handlungsziele (s. u. I V ) . Voreingenommenheiten und Präferenzen sind aber jedenfalls durch bloßen Sachverstand nicht auszuräumen.

I I I . Zusammenhänge zwischen Zielwahl und Sachverstand Erfolg versprechender läßt sich die Trennung von Ziel wähl und Sachverstand von einer anderen Seite her attackieren: Politisches und sachverständiges Räsonnement sind enger miteinander verflochten als es ihre idealtypische Gegenüberstellung zunächst nahelegt: Ziele rechtlichen und politischen Handelns müssen immer auch mit Rücksicht auf die geeigneten M i t t e l und auf die abzuschätzenden Nebenwirkungen gewählt werden. Besonders i n komplexen Entscheidungssituationen muß die Zielfindung selbst i n hohem Maße v o m Sachverstand geleitet sein: insbesondere von einer Situationskenntnis und von einer Kenntnis der M i t t e l und der möglichen Folgen einer Entscheidung. Zur Beantwortung der Frage, welche M i t t e l zu welchem Zweck geeignet und welche Nebenwirkungen zu erwarten sind, ist freilich nicht immer wissenschaftlich geschärfter Sachverstand, sondern oft nur gesunder Menschenverstand gefor23

Vgl. J. Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie, 8. Aufl. 1976, S. 164. J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973, S. 125; vgl. S. 148 f., 153. 25 J. Habermas, in: Habermas / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? 1971, S. 137. 24

III. Zusammenhänge zwischen Zielwahl und Sachverstand

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dert. Der Unterschied liegt in folgendem: I m ersten Fall — bei fachkundigen Prognosen — greift die produktive Phantasie auf die Erfahrungssätze einer Wissenschaft zurück, m i t deren Hilfe sie mögliche Geschehensabläufe als mehr oder minder gewiß vorhersagt. I m zweiten Fall bedient sich die vorausschauende Phantasie allgemein bekannter Erfahrungssätze und insbesondere der allgemeinen Menschenkenntnis. U n d gerade hier ist der Jurist gefordert, dem nicht nur Rechtskenntnis, sondern auch Menschenkenntnis und Welterfahrung abverlangt wird: „Iuris prudentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia", so stand es schon i m Corpus Iuris Iustinians. 2 6 I n diesem Sinne erwartete auch der schon genannte Eugen Ehrlich v o m Juristen „die Kenntnis der i n der Gesellschaft wirkenden Kräfte". A u c h dies ist also Sachverstand, und mitunter ist der unverbildete Normalverstand dem Urteil des Fachmannes überlegen. Wissen w i r doch: Studieren bildet und verbildet. Der Fachmann sieht die von i h m studierten Gegenstände schärfer, aber er verliert oft den frei umherschweifenden B l i c k für die Vielfalt möglicher Wirkungszusammenhänge. Z u m mindesten pflegt er Zusammenhänge zu überschätzen, mit denen er sich ständig beschäftigt. Spezialisierung wirkt also ähnlich wie ein Fernglas: Es schärft den B l i c k i n einer bestimmten Richtung, aber es engt das Blickfeld ein. So k o m m t es, daß unsere Epoche zunehmender Spezialisierung zugleich eine Zeit abnehmenden gesunden Menschenverstandes ist. Nehmen w i r das Beispiel des Geld Wäschegesetzes: Hier hätte man schon mit geringem Einsatz gesunden Hausverstandes voraussehen können, daß sich das organisierte Verbrechertum, das über Phantasie und Ausweichmöglichkeiten verfügt, nicht in den Maschen dieses Gesetzes verfangen würde — falls das die wahre Absicht des Gesetzgebers war. Alltägliche oder auch fachspezifische Erfahrungssätze sind nicht nur gefragt, u m die Effizienz von Normen oder konkreten Maßnahmen abzuschätzen, sondern auch, u m deren unerwünschte Nebenwirkungen — etwa Gefahren für die Gesundheit oder die U m w e l t — vorherzusehen. Für Risikoabschätzungen in technischen Bereichen sind vor allem naturwissenschaftlicher und technischer Sachverstand gefragt. Oft würde aber schon normaler Menschenverstand ausreichen, auch u m die überwiegende Nachteiligkeit mancher Vorschriften vorherzusehen. Daß es dem Gesetzgeber hieran fehlen kann, dafür bot i n den zwanziger Jahren das Mißlingen der nordamerikanischen Prohibitionsgesetzgebung ein klassisches Beispiel: Sie bezweckte eine Verminderung des Alkoholmißbrauchs und erreichte diesen Zweck auch i n gewissem Umfang. Aber sie hatte Nebenwirkungen, die den Nutzen der Regelung weit überwogen; denn sie gab Anlaß zu ausgedehnten illegalen Tätigkeiten und förderte auf diese Weise insbesondere das organisierte Gangstertum. Ein vergleichsweise harmloses Beispiel einer Fehlsteuerung war die Pauschalierung der Hörgelder an den deutschen Hochschulen. Sie beruhte

26

13*

uip. D. 1, 1, 10, 2.

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Kap. 16: Politik und Sachverstand

auf einer unzureichenden Kenntnis der menschlichen Natur und ihrer Motivationsmechanismen; nahm sie doch einen finanziellen Anreiz, attraktive Vorlesungen anzubieten: So war es w o h l kein Zufall, daß bald nach dieser Pauschalierung sogenannte „Engpässe" i m Vorlesungsbetrieb auftraten. Zur Zeit lernen w i r bei der Überprüfung unseres sozialen Arbeitsrechts eine weitere Lektion: daß die unzureichende Beachtung der ehernen Marktgesetze, die den internationalen Wettbewerb beherrschen, zu einer bedrohlichen Vernichtung inländischer A r beitsplätze führt. Manche Kausalzusammenhänge sind, so scheint es, noch gar nicht recht entdeckt. Ich nenne hier als verlockendes Neuland die Umweltschädlichkeit mancher Umweltschutzvorschriften und die Sozialschädlichkeit mancher sozialstaatlichen Bestimmungen 2 7 — von der m i t ihnen verbundenen Aufblähung der kostspieligen Bürokratien ganz zu schweigen. Ich fasse diesen Punkt zusammen: Rechtspolitische Ziele und die Instrumente zu ihrer Verwirklichung sind nicht i n idealty pi scher Isoliertheit, sondern i n einem Zusammenspiel von politischer Zielwahl und Erwägungen über Kausalitäten zu ermitteln. Juristischer, wirtschaftlicher und technischer Sachverstand und nicht zuletzt Alltagserfahrung und gesunder Hausverstand sind gefragt, u m die wirtschaftlichsten und wirksamsten juristischen und verwaltungstechnischen Instrumente zur Erreichung der Ziele zu erarbeiten, aber auch u m die positiven und negativen Neben- und Fernwirkungen offenzulegen, die der Einsatz dieser M i t t e l mit sich bringen kann. Hierbei ist die W a h l eines Zieles selbst oft mit Rücksicht auf die erforderlichen M i t t e l und auf deren schädliche Nebenwirkungen zu verändern. Je komplexer die Situation ist, desto abhängiger w i r d die Zielwahl v o m Sachverstand, insbesondere von einer Situationskenntnis und von einer Kenntnis der M i t t e l und Folgen der Z i e l Verwirklichung. Je verwickelter die Umstände der Entscheidung sind, desto größeren Anteil hat der Sachverstand an der Erarbeitung und am Vergleich der Entscheidungsalternativen. A u f solche Weise hat sich die Aufgabe der politischen Führung zunehmend von der einfachen „ Z i e l w a h l " zu einer Lenkung der Zielfindungsprozesse gewandelt.

I V . Grenzen rechtspolitischer Rationalität Grenzen der Rationalisierbarkeit sind in allen Komponenten rechtspolitischer Entscheidungen angelegt: i n der W a h l der anzustrebenden Ziele, i n der K o m p l i ziertheit der Kausalitäten, die zu diesen Zielen führen, und in den oft schwer abzuschätzenden, mitunter gar nicht ins Blickfeld tretenden schädlichen Nebenwirkungen. Rationalitätsgrenzen für die Zielwahl wurden bereits genannt. Sie ergeben sich schon daraus, daß die verschiedenen möglichen Zwecke, die in die Erwägungen 27 Dazu oben Kap. 1 I I 3.

IV. Grenzen rechtspolitischer Rationalität

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einzubeziehen sind, einer Gewichtung bedürfen. Über diese werden oft Meinungsverschiedenheiten entstehen, die sich nicht rational ausräumen lassen, vor allem deshalb nicht, weil die Menschen unterschiedliche Wertungsdispositionen haben. Diese gründen sich auf ihre weltanschaulichen Voreingenommenheiten, auf ihren persönlichen Erfahrungskontext und auf ihre individuelle Veranlagung. 2 8 Die Relativität dieser individuellen Wertungen spiegelt sich dann auch i n den Präferenzen wider, die sich i n einer Gemeinschaft häufen und dort vorherrschen; auch sie sind zeit- und situationsgebunden. 29 Der politische Tagesstreit ist oft aber nicht nur ein Streit über die Zielwahl, also über die Wünschbarkeit oder Nichtwünschbarkeit von Ergebnissen, sondern auch ein Streit über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintrittes. Bei den Prognosen eröffnet sich ein weites Feld für sachverständige Beurteilung — und für den Streit der Sachverständigen. Auch hier bleiben Unsicherheiten: Unmöglich sind exakte Prognosen oft schon wegen der Komplexität der mitwirkenden Kausalitäten. W o menschliches Handeln i n die abzuschätzenden Geschehensabläufe eingreift, liegt auch darin ein Unsicherheitsfaktor, weil Handeln nicht streng determiniert und insbesondere menschliches Versagen nicht vorausberechenbar ist. Meist sind auch nicht alle Fern- und Nebenwirkungen einer Maßnahme v o l l zu überblikken und können daher oft nur selektiv i n Rechnung gestellt werden. Kurz, Prognosen über komplexe Geschehensabläufe sind oft unsicher. 3 0 A u f dem Gebiet der Gefahrenabschätzung zeigt sich diese Unsicherheit mittlerweile auch darin, daß man nun schon drei Stufen der Ungewißheit unterscheidet: Gefahr, Risiko und Restrisiko. 3 1 A u f diese Weise scheint es immerhin gelungen zu sein, die Unzulänglichkeit menschlichen Erkenntnisbemühens unzulänglich zu systematisieren. Z u der Unsicherheit der Prognosen k o m m t die Zeitnot, die allem Analysieren Grenzen setzt. Diese Bedrängtheit des politisch Handelnden hat schon Tocqueville beschrieben 3 2 : „ D e r handelnde Mensch muß sich oft mit einem Ungefähr begnügen, weil er, wollte er in jeder Einzelheit das Vollkommene anstreben, mit seinem Vorhaben nie fertig würde. . . Die Lenkung der Welt erfolgt nicht durch weitläufige und gelehrte Beweisführungen. Da werden alle Angelegenheiten durch das rasche Erfassen einer einzelnen Tatsache entschieden, durch das tägliche Studium der wechselnden Leidenschaften der Menge, durch den Zufall des Augenblickes und durch die Geschicklichkeit i n dessen Ergreifen." I n unseren Tagen hat Luhmann daraufhingewiesen, daß unsere beschränkte Wahrnehmungs-

28 Dazu oben Kap. 10 I I 2. 29 Dazu oben Kap. 10 I I 3. 30 Dazu auch R. Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 2. Aufl. 1991, §§ 4 III, 9 III, 11 VI. 31 U. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 105, vgl. auch S. 77 ff., 450 ff. und passim. 32 A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, I I 1840, I. Teil, Kap. 10.

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Kap. 16: Politik und Sachverstand

fähigkeit und die Knappheit der Zeit auch die Fähigkeit zu rationalem Planen und Entscheiden begrenzen; auch dies wirkt selektiv „auf Sachziele, die man verfolgen, und Informationen, die man verwerten k a n n " . 3 3 A l l e diese Rationalitätsgrenzen verhindern es übrigens nicht, die verschiedenen, in Betracht zu ziehenden Faktoren, einschließlich der einfließenden Wertungen, i n ein „rationales", etwa auf einen Mehrheitsentscheid hinauslaufendes Entscheidungsverfahren einzubeziehen.

V . Folgerungen für die Kompetenzenverteilung Die Folgerung lautet: Es kann insgesamt kein „Regime der Besserwissenden", keine Politik aus der Autorität des S ach Verstandes, geben; denn dieser ist prinzipiell begrenzt: nicht nur hinsichtlich der anzustrebenden Ziele und ihrer Gewichtung, sondern auch hinsichtlich der jeweils am besten geeigneten M i t t e l und der oft unübersehbaren Fern- und Nebenfolgen, zumal der Risiken, die mit einer Entscheidung verbunden sind. I m Gegensatz zu diesen Einsichten trifft man i m Laufe der Geschichte immer wieder einmal auf einen Anspruch, aus privilegierter Einsicht politische und rechtliche Entscheidungen zu lenken. Und immer wieder galt es, solche Ansprüche zurückzuweisen. Ein Beispiel aus jüngster Zeit bot der Anspruch des Historischen Materialismus, verbindliche Direktiven zu liefern. E i n älteres Beispiel findet sich zu Beginn der Neuzeit. Damals ging es freilich nicht u m einen Anspruch des Sachverstandes, sondern u m den Anspruch, aus theologisch-weltanschaulicher Gewißheit verbindliche Vorgaben für das rechtliche und politische Handeln zu machen. Aber die Konsequenzen, die man zog, als dieser Anspruch in den konfessionellen Bürgerkriegen brüchig wurde, haben allgemeine und grundsätzliche Bedeutung erlangt. Sie bestimmen seither unser Denken 3 4 : Eine dieser Folgerungen zog Thomas Hobbes: Wenn man sich i m Streit u m die bessere Wahrheit die Köpfe einschlägt, muß u m des Rechtsfriedens w i l l e n eine souveräne Instanz letztverbindlich entscheiden, was zu tun ist: Authoritas, non Veritas facit legem. Eine zweite Folgerung war der Rückgriff auf die persönliche Autonomie und die gleichberechtigte moralische Kompetenz aller; ihr entsprach der demokratische Anspruch auf gleichberechtigte Mitbestimmung und Mitentscheidung aller i n einem freien Wettbewerb der Überzeugungen, auch über die Fragen des Rechts. Beide Vorstellungen treffen i m demokratischen Verfassungsstaat zusammen: einerseits nämlich die Vorstellung, daß auf Grund rechtsstaatlicher Kompetenzen und Spielregeln über die Fragen des Rechts verbindlich entschieden werden muß, 33 N. Luhmann, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 350. 34 Zum folgenden oben Kap. 5 II-IV.

VI. Das Aufbegehren des Sachverstandes

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u m den Rechtsfrieden zu gewährleisten — andererseits die Vorstellung, daß diese Entscheidungen auf demokratischer Grundlage zu treffen sind, also jedenfalls i m Grundsätzlichen 3 5 auf einen Konsens der Bürger gegründet sein müssen.

V I . Das Aufbegehren des Sachverstandes Wer m i t Entscheidungen nicht einverstanden ist, die auf dieser Grundlage — in rechtsstaatlichen Verfahren einer gewaltenteilig strukturierten, repräsentativen Demokratie — getroffen werden, kann und soll seine Gegenmeinung zur Geltung bringen: mit den M i t t e l n demokratischer Freiheiten, insbesondere unter dem Schutz der Meinungs-, der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit und mit der Chance, die Mehrheitsmeinung für die eigenen Anschauungen zu gewinnen. Die Erfolge der „Grünen" i n den vergangenen Jahren haben gezeigt, daß man auf diesem Wege erfolgreich u m öffentliche Zustimmung werben und einen Zugang zu staatlichen Entscheidungskompetenzen, insbesondere i n Volksvertretungen, suchen kann. A u f solche Weise darf jeder auch für seine weltanschaulichen Voreingenommenheiten werben, auch für seine Zielvorstellungen und Zukunftsängste — etwa i n den Bereichen der Atomtechnik oder der Gentechnik — und er darf seine Hoffnungen und Befürchtungen mit Hilfe sachverständiger Wahrscheinlichkeitsurteile artikulieren. Hierbei ist i n Erinnerung zu behalten, daß der politische Tagesstreit oft nicht nur ein Streit über die Wünschbarkeit oder Nichtwünschbarkeit von Ergebnissen, sondern auch ein Streit über die Wahrscheinlichkeit ihres Eintrittes ist. U n d es ist daran zu erinnern, daß die Unsicherheiten das gesamte Feld beherrschen: nicht nur die Wertung der möglichen Ergebnisse, sondern auch die Abschätzung von Wahrscheinlichkeiten und insbesondere von Schadensrisiken. Darum hält die rechtsstaatliche Demokratie daran fest, daß ein solcher Streit — auch der Streit von Sachverständigen — m i t Argumenten und auch sonst nach den Spielregeln der Demokratie auszutragen ist. Demgegenüber wollte man es noch vor kurzem unter Berufung auf bessere, oft sachverständig ausstaffierte Einsichten rechtfertigen, Widerstand und zivilen Ungehorsam gegenüber rechtsstaatlich-demokratisch getroffenen Entscheidungen zu üben, auch unter Verletzung der rechtsstaatlich-demokratischen Spielregeln. Zur Begründung hieß es, das politische System der Demokratie, einschließlich des Mehrheitsprinzips, beruhe auf einem Basiskonsens. Dieser habe jedoch Grenzen. Sie lägen dort, w o durch Mehrheitsentscheide eine Minderheit „sich in fundamentalen Interessen wie denen an Überleben, Sicherheit, Freiheit, Glück, Menschenwürde, lebenswerte Umweltbedingungen usw. betroffen wähnt". Der Basiskonsens billige Mehrheitsentscheidungen als Methode der Konfliktschlich-

35 Dazu oben Kap. 11 I I I 2.

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Kap. 16: Politik und Sachverstand

tung nur für die Normallage; für Existenzfragen hingegen sei das Mehrheitsprinzip nicht akzeptabel. 3 6 Durch den damit i n Anspruch genommenen Rechtsungehorsam lassen sich aber wirkliche oder vorgebliche „Existenzfragen" in aller Regel nicht lösen, mag man es nun zu „Existenzfragen" erklären, welches die schlimmste unter den folgenden Alternativen sei: Deutschland i n ein Morgenthauland zu verwandeln oder doch den C 0 2 - G e h a l t der L u f t weiter mit fossilen Brennstoffen anzureichern oder stattdessen Atomreaktoren zu betreiben und zu entsorgen; ob es ferner verwerflicher sei, gewisse Risiken der gentechnischen Forschung hinzunehmen oder i n diesem Bereich den Anschluß an die internationale Forschung und Biotechnik zu versäumen und weiterhin hochrangige Forschungslabors ins Ausland abwandern zu lassen: Irgendwer muß den Streit maßgeblich entscheiden, der über solche Fragen entsteht. Natürlich finden sich Minderheiten, die gern aus ihrer vermeintlich besseren Einsicht über solche und noch schwerer wiegende Konflikte entscheiden würden. Doch läßt dies anderen die Möglichkeit, für ihre abweichenden Vorstellungen gleichfalls die bessere Einsicht i n Anspruch zu nehmen. Dieser Weg führt also in Fragen, die von mehreren Gruppen für „existenzwichtig" gehalten werden, leicht i n einen mehr oder minder massiven „Glaubenskrieg". So stehen w i r wieder vor der alten Einsicht des Thomas Hobbes: Der bürgerliche Friede kann nur gesichert und das „ b e l l u m omnium contra omnes" nur verhindert werden, wenn gerade auch i n „Existenzfragen" verbindliche Entscheidungen getroffen werden. Ja gerade i n Existenzfragen oder solchen, die dafür gehalten werden, ist es besonders dringend, Konflikte in einer friedensichernden Weise zu entscheiden. A u c h diese Überlegung endet also wieder bei der schon bekannten Alternative: Die Entscheidung über die Interessen- und Meinungskonflikte ist entweder i n den Verfahren einer rechtsstaatlichen Demokratie zu treffen oder sie kann Einzelnen oder Minderheiten überlassen werden, die von sich behaupten dürften, einsichtiger zu sein als die anderen. Die zweite dieser Alternativen — ein autoritäres Regime von „Besserwissenden" — bedeutet nichts anderes als den Rückfall i n eine „Glaubensherrschaft" derer, denen es gelingt, der übrigen Gemeinschaft ihre Vorstellungen aufzuzwingen — eine Form der Befriedung, welche die Freiheitsgewährleistungen einer aufgeklärten Verfassungskultur mißachtet und den Boden der „offenen Gesellschaft" verläßt. 3 7

36 Dazu oben Kap. 11 VII. 37 Dazu oben Kap. 11 V I I 2 und Kap. 12 I I 2.

C. Machtkontrollen

Kapitel

17

Die Zähmung der englischen Staatsgewalt De Lolmes „Constitution of England" 1 Die folgende Studie gilt einem einstmals viel beachteten, heute fast vergessenen politischen Schriftsteller, der sich vornahm, die Entwicklungslinien und tragenden Elemente jenes freiheitlichen Verfassungssystems darzustellen, zu dem England sich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts entwickelt hatte, jenes Land, das ihm, dem Genfer Juristen de Lolme, eine Zuflucht bot, als er um das Jahr 1768 aus politischen Gründen seine Heimat verließ. Gewiß besaß de Lolme weder die Gedankenfülle und die Zukunftsperspektive eines Tocqueville, noch die Sensibilität für die untergründigen Stimmungen und Sehnsüchte seiner Zeit und die suggestive Darstellungskraft, über die ein Rousseau verfügte. Aber es war kein geringes Verdienst, daß er mit seinem historisch geschulten Realitätssinn den Illusionen entgegentrat, die sich in jener Zeit mit dem Ideal der Demokratie zu verbinden begannen und seither immer wieder verbunden haben. V o r vielen anderen hat er den Rauch der unmittelbaren, identitären Demokratie durchschaut und hat es ausgesprochen, daß eine große Menschenmasse nicht handeln kann, ohne das Werkzeug einer kleinen Anzahl von Personen zu sein, und daß die Gewalt des (unmittelbar engagierten) Volkes nichts anderes ist, „als die Gewalt einiger Führer, welche . . . Mittel gefunden haben, sich der

ι Erstmals in französischer Fassung als „La Constitution de l'Angleterre" in Amsterdam 1771 erschienen. Die englische Fassung, „The Constitution of England; or, An Account of the English Government: in which it is compared, both with the republican form of government, and the other monarchies in Europe", erschien erstmals 1775. Die letzte vom Verfasser besorgte (insgesamt vierte) englische Auflage erschien 1784. Deutsche Übersetzungen erschienen 1776, 1819 und 1848, letztgenannte wurde von C. F. Liebetreu besorgt. Die im folgenden angegebenen Fundstellen verweisen auf den englischen Text der Baseler Ausgabe von 1792 und in Klammem auf die deutsche Übersetzung von 1848. An diese lehnen sich auch die Übersetzungen von Zitaten verschiedentlich an. R. v.Mohl äußerte sich in seiner Geschichte der Staatswissenschaften (1855-1858, Nachdr. 1960, I S. 232, 301, I I S. 43 f.) vorwiegend kritisch zu de Lolmes Schrift. Er rügte zutreffend die ungenaue Beschreibung des wirklichen Verfassungszustandes, darüber hinaus auch Mängel in der historischen Darstellung, vergaß aber hinzuzufügen, daß de Lolme gleichwohl die großen, heute noch interessierenden Entwicklungslinien im wesentlichen richtig zeichnete. Gerade auch durch diese entwicklungsgeschichtliche Herleitung wich de Lolmes Darstellung der englischen Verfassung nicht unwesentlich von jener Montesquieus ab. Keine angemessene Beachtung schenkte v. Mohl der bemerkenswerten Demokratiekritik de Lolmes.

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Kap. 17: Die Zähmung der englischen Staatsgewalt

Leitung der Volksgewalt zu bemächtigen". 2 Daher hat de L o l m e dem Ideal der unmittelbaren Demokratie das M o d e l l eines Verfassungsstaates gegenübergestellt, in welchem die Freiheit der Bürger dadurch gesichert ist, daß die Inhaber der Staatsgewalt durch Gesetze beschränkt und durch öffentliche K r i t i k kontrolliert werden und in der ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Gewalten des Staates besteht. Da das V o l k in konkreten politischen Entscheidungen stets manipulierbar sei, habe dieses i n solchen Entscheidungen nicht selbst, sondern durch die von i h m bestellten Repräsentanten zu handeln. Dem V o l k bleibe die Rolle des kritischen Zuschauers, der seine Folgerungen bei der Neubestellung der Repräsentanten ziehen könne und solle. Den in diesen Überlegungen mitenthaltenen Gedanken der Gewaltenbalance hatte hundert Jahre zuvor bereits Locke formuliert. Anders als dieser beschränkte sich de L o l m e aber nicht darauf, ihn als staatstheoretisches Prinzip und Postulat aufzustellen. U n d anders als Montesquieu wollte er auch nicht nur den damals erreichten Verfassungszustand darstellen. I h m ging es besonders auch darum, die historischen Entwicklungsbedingungen der Kontrollen offenzulegen, die er i m England jener Tage in Funktion sah. Neben diesen grundsätzlichen und wichtigen Aussagen enthält die Schrift de Lolmes manches, was heute als antiquiert erscheinen mag, so etwa die wiederholte Behauptung, die Sicherung einer freiheitlichen Staatsform erfordere — wie i n England — eine einheitliche und starke monarchische Prärogative; den Repräsentanten des Volkes und ihren Führern müsse ein Zugriff auf die Exekutive verwehrt werden 3 . Andererseits müsse die Exekutive v o m Recht der Gesetzesinitiative ausgeschlossen bleiben. 4 Bei diesen Aussagen ignorierte de Lolme, daß sich schon zu seiner Zeit die Exekutivgewalt i n beträchtlichem Maße v o m K ö n i g zum Kabinett hin, d. h. zu dem Führer der stärksten i m Unterhaus vertretenen Partei hin, verschoben hatte, was nicht hinderte, daß das englische Staatswesen, so wie es ihm gegenübertrat, von i h m gleichwohl als freiheitlicher Staat erfahren wurde.

I . Ursachen der englischen Freiheiten Hauptthema des ersten Buches ist für de Lolme die Frage, „welche M i t t e l den verschiedenen Teilen der englischen Regierung an die Hand gegeben wurden, um sie gegeneinander auszubalancieren, und wie ihre wechselseitigen Aktionen und Reaktionen die Freiheit der Verfassung hervorbringen". 5 2

De Lolme, 3 De Lolme, des lois, X I 6. 4 De Lolme, 5 De Lolme,

S. 384 (S. 381). S. 262 f., 390 f. (S. 281, 386); ähnlich übrigens Montesquieu, De l'esprit S. 176 ff., 375 f. (S. 186 ff., 375). S. 150 (S. 160).

I. Ursachen der englischen Freiheiten 1. Das Instrument

der

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Abgabenbewilligung

Gemeingut ist die Feststellung, daß der konsequente Einsatz des Instrumentes der Abgabenbewilligung ein Hauptmittel war, die königliche Gewalt zu beschränken und unter Kontrolle zu bringen. Wichtige Punkte dieser E n t w i c k l u n g 6 waren die Magna Carta von 1215 (Art. 12, 14), die Confirmatio Cartarum von 1297 und das Statut von 1314. 7 Trotz einiger Rückschläge 8 setzte diese Entwicklung sich durch. M a n bediente sich des Bewilligungsrechts auch, um auf die Aktivitäten der Exekutive einzuwirken, 9 um den Freiheitsgarantien der Magna Carta einen wirksamen Rückhalt zu geben 1 0 und u m Einfluß auf die Gesetzgebung zu gewinnen. 1 1 2. Die breite Basis der parlamentarischen

Mitwirkung

Als eine zweite Bedingung für die Kontinuität und Durchschlagkraft der Machtkontrollen nennt de L o l m e den Umstand, daß sehr früh eine breite Basis einer parlamentarischen M i t w i r k u n g gelegt wurde, damit beginnend, daß Edward I., nach dem Beispiel des Earl of Leicester (Simon Montfort), Deputierte der Städte und Vertreter der gentry ins Parlament berief. 1 2 War auch der Einfluß dieser Abgeordneten anfangs gering, so war es doch ein großer Schritt, daß auf diese Weise die Repräsentanten des Volkes, statt die gefährliche Zuflucht zu Aufständen nehmen zu müssen, „ein gesetzliches und reguläres M i t t e l erlangt hatten, den Gang der Regierung zu beeinflussen, und somit ein Teil dieser geworden waren". Die Schwäche der Rechtsstellung dieser Deputierten sollte auch „bald durch das Übergewicht ausgeglichen werden, welches das V o l k notwendig erhält, wenn es in den Stand gesetzt wird, m i t Methode und insbesondere i n Übereinstimmung zu handeln und sich zu bewegen". 1 3 3. Gewährleistungen

individueller

Freiheiten

E i n besonders wichtiger Ansatz zu einem Rechts- und Verfassungsstaat lag auch in den Gewährleistungen individueller Freiheiten, besonders in dem Schutz gegen willkürliche Verhaftungen, wie er bereits in Art. 39 der Magna Carta zunächst für bevorzugte Personengruppen gewährleistet, dann „nach und nach 6 De Lolme, S. 26 (S. 26), nennt ausdrücklich nur das sogenannte „statutum" de tallagio non concedendo. 7 J. Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte, 1913, S. 141 f., 224 ff. s Hatschek (Fn. 7), S. 383. 9 De Lolme, S. 279 f. (S. 295). 10 De Lolme, S. 25 f., 58, 401 (S. 26 f., 59, 394). n De Lolme, S. 30 f., 45 f. (S. 30, 44); gerade hier vereinfacht aber die Darstellung de Lolmes zu stark, s. Hatschek (Fn. 7), S. 204 ff., 220 ff., 380 ff. 12 De Lolme, S. 24 (S. 24). 13 De Lolme, S. 25 (S. 25).

206

Kap. 17: Die Zähmung der englischen Staatsgewalt

auf alle Stände und Klassen des Volkes ausgedehnt" und schließlich in der Habeas-Corpus-Acte niedergelegt wurde. 1 4 Dieser Schutz gegen willkürliche Verhaftungen sei zur Hauptstütze des Unabhängigkeitsgefühles der englischen Bürger geworden. Durch ihn wurde der Exekutive ein Instrument der Gewalt aus den Händen gewunden, mit dem sie das V o l k seiner Führer berauben und all jene einschüchtern konnte, die beabsichtigen sollten, deren Stelle wieder einzunehmen, ein Instrument der Gewalt, das vielleicht die gefährlichste Bedrohung der öffentlichen Freiheit darstellte. 1 5 E i n Hauptprinzip der freiheitlichen Verfassung Englands liege auch darin, daß eine Vermutung für die Freiheit spreche. Nicht die Macht der Regierung, sondern die Freiheit der Untertanen gelte als grundsätzlich unbeschränkt: A l l e Handlungen eines Bürgers würden so lange für gesetzmäßig gehalten, wie nicht ein Gesetz, dem sie widersprechen, nachgewiesen sei. 1 6 Die Staatsgewalt sei auf solche Eingriffe beschränkt, die in einem vorhandenen Gesetz ausdrücklich bezeichnet sind. A u c h dies führt de L o l m e — ein wenig kühn — auf den A r t i k e l 39 der Magna Carta zurück, wonach der Souverän verpflichtet worden sei, „gegen einen Untertanen nicht anders vorzugehen oder vorgehen zu lassen, als auf Grund eines Gerichtsverfahrens Gleichgestellter und nach dem Rechte des Landes". 1 7 Zeitweise sei diese Bestimmung jedoch durch die Staatspraxis ihrer Wirksamkeit beraubt worden, insbesondere durch die Einsetzung der Sternkammer und durch die v o m K ö n i g beanspruchte Gewalt, durch Proklamationen Recht zu setzen. 18 Die religiösen Quellen der Bürgerfreiheit, die später bei Georg Jellinek i n den Vordergrund traten, spielten in dem Geschichtsbild de Lolmes eine geringere Rolle. Aus seiner Sicht war es vor allem die vorangegangene Infragestellung der römisch-katholischen Religion — man könnte auch sagen die Einübung in den Protestantismus — , die später dann auch die politischen Autoritäten ins Wanken brachte: Die religiösen Ideen vereinten sich durch ein sonderbares Zusammentreffen m i t der Freiheitsliebe. Der selbe Geist, der einen A n g r i f f gegen den etablierten Glauben gerichtet hatte, wandte sich jetzt der Politik zu: Die königlichen Prärogativen wurden jetzt der selben Prüfung unterworfen, der zuvor die Lehren der römischen Kirche unterzogen worden waren. 1 9

14 De Lolme, S. 21, 277 ff., 281 (S. 21, 293 f., 296 f.); in der hier benützten englischen Ausgabe ist fälschlich Art. 29 der Magna Carta zitiert, is De Lolme, S. 144 f. (S. 153). 16 De Lolme, S. 351 (S. 353). 17 De Lolme, S. 353 f. (S. 355 f.), auch hier das schon erwähnte Fehlzitat (Fn. 14). Das umstrittene „vel" wird wohl zutreffend mit „und" übersetzt. Auch wenn man den Art. 39 als eine sachlich umfassende Freiheitsgewährleistung interpretieren dürfte, so entspräche jedenfalls seine Erstreckung auf alle Untertanen erst einer sehr viel späteren Auslegung, vgl. Hatschek (Fn. 7), S. 20 f.; W. S. McKechnie, Magna Charta, 2. Aufl. 1914, Neudr. 1958, S. 115, 118, 386. is De Lolme, S. 354 (S. 356); dazu Hatschek (Fn. 7), S. 381. i9 De Lolme, S. 36 (S. 35).

I. Ursachen der englischen Freiheiten 4. Beharrlichkeit

207

und Augenmaß

Wichtige Gründe einer freiheitlichen Entwicklung sieht de Lolme gerade auch in der Beharrlichkeit, m i t der das Parlament immer wieder auf die alten Rechtspositionen zurückkam, sie bewahrte und ausbaute, ohne aber auf Dauer einen radikalen Parlamentsabsolutismus anzustreben. Der lange Atem und das Augenmaß bei der Verfolgung der Parlamentsrechte stellen sich so als entscheidende Faktoren dieser Verfassungsentwicklung dar. Der erste Z u g zeigte sich i n der Konsequenz, mit der jeweils Regierungswechsel und Umwälzungen zu „Reparaturen" verwendet wurden, nämlich dazu, Mißbräuchen abzuhelfen, die sich unter den vorigen Regierungen ausgebreitet hatten, hierbei die Verfassung auf ihre ursprünglichen Grundsätze zurückzuführen 2 0 oder, darüber hinausgehend, die freiheitssichernden Rechte auszubauen. 21 A u c h das Recht, Beschwerden vorzubringen, wurde i n großer Kontinuität und Beharrlichkeit eingesetzt, um die Staatsgewalt nach Mißbräuchen ihrer Macht wieder in ihre alten Schranken zu drängen. Ausdruck dafür sind die i m Laufe der englischen Geschichte immer wieder geforderten Bestätigungen der alten Rechte. 2 2 M i t einem übermächtig gewordenen Herrscher versuchte man in der Regel nicht die Machtprobe, sondern wartete ab, bis er das Zeitliche segnete, und arrangierte sich m i t dem Nachfolger, bevor diesem die Krallen gewachsen waren. Z u sagen, daß auf solche Weise auch nach den beiden letzten Heinrichen „die Freiheit wieder ins Leben getreten" sei, 2 3 ist aber w o h l eine allzu freundliche Beschreibung jener Zustände, die nach dem T o d Heinrichs V I I I . herrschten. W o h l aber wurden bald nach dem Tode Jakobs I. die alten Rechte zunächst wieder hergestellt. 2 4 Dann folgte jedoch ein offener Bruch. Gerade in der Folge dieser Ereignisse trat aber jener zweite Z u g hervor, die Bereitschaft nämlich, nach vorübergehenden Versuchen m i t Parlamentsabsolutismus und Diktatur zu einer gemäßigten Regierungsform zurückzukehren, i n der die beratende und die ausführende Gewalt i n verschiedenen Händen lagen. 2 5 Der Geist der Mäßigung, j a Gesetzlichkeit, begleitete später auch die Absetzung Jakobs II. und die Regelung seiner Nachfolge. Diese Gelegenheit wurde ergriffen, den Verfassungszustand zu verbessern und den zutage getretenen Mißbrauchsmöglichkeiten der Macht für die Zukunft vorzubeugen. 2 6 M a n habe die Gelegenheit aber nicht genutzt, um die vollziehende

20 De 21 De 22 De 23 De 24 De 25 De 26 De

Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme,

S. 60 f. (S. 61). S. 262 ff. (S. 280 ff.). S. 26, 377 f. (S. 26, 376 f.). S. 61 f. (S. 62 f.). S. 62 f., 265 f. (S. 63, 283). S. 39 f. (S. 38). S. 42 ff. (S. 40 ff.).

208

Kap. 17: Die Zähmung der englischen Staatsgewalt

Gewalt zu zerstückeln, sondern habe sie ungeteilt in die Hände der Thronfolger gelegt. 2 7 Gleichgültig, ob man sich dieser Darstellung de Lolmes i n allen Einzelheiten anschließt — wesentlich ist die folgende Beobachtung: I n allen anderen Staaten sei der K a m p f gegen die monarchische Gewalt darauf gerichtet gewesen, sich von dieser Macht ganz unabhängig zu machen oder sie v ö l l i g zu vernichten, in England nur darauf, der Macht des Souveräns Grenzen zu setzen. 28 I n dieser unscheinbaren Bemerkung steckt eine Beobachtung, deren Bedeutung man nicht hoch genug einschätzen kann: Den Kontrahenten nicht zu vernichten, sondern ihn nur i n seine Grenzen zu weisen, ist der Weg, Balancen zu schaffen, Konkurrenz zu erhalten und die Übermacht eines Teiles zu verhindern. Dies gilt für das Verfassungssystem, für den Bereich wirtschaftlicher Macht und für den der Außenpolitik, w o England i n seiner Politik des europäischen Gleichgewichts vielleicht am deutlichsten diese Konzeption verfolgt hat.

I I . Z u m politischen Prozeß i m englischen Verfassungssystem I m zweiten Buch führt de Lolme einige Vorzüge des englischen Verfassungssystems näher aus. Z u ihnen zählt er die angebliche Ungeteiltheit einer starken Exekutive. E i n zweiter, aus heutiger Sicht wichtigerer Punkt ist der Umstand, daß das V o l k nicht unmittelbar, sondern durch Repräsentanten an den Staatsgeschäften teilnimmt. Eine dritte, gleichfalls wichtige Feststellung betrifft die K o n trollfunktion der öffentlichen K r i t i k und die Bereitschaft zum Widerstand gegen Unrecht. 1. Die Ungeteiltheit

einer starken Exekutive

De L o l m e glaubte, eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des englischen Verfassungsstaates habe „die Größe, Stärke und Ungeteiltheit" der Exekutivgewalt gespielt. Sie habe nämlich bewirkt, daß sich die Kräfte aller Klassen des Volkes zur Sicherung der Freiheit vereint und auf den selben Punkt gerichtet hätten. 2 9 I n der königlichen Autorität habe die Gewalt des Volkes stets ein Gegengewicht gehabt. 3 0 Die Ungeteiltheit dieser Gewalt habe das Freiheitsstreben des Volkes beständig auf den selben Gegenstand gerichtet gehalten, und die Dauerhaftigkeit dieser Gewalt habe auch den Vorkehrungen, die man zu ihrer Beschränkung traf, Dauer und Regelmäßigkeit verliehen. Fortwährend hätten die Engländer ihre Augen auf jene alte Festung, die königliche Macht, gerichtet, die 27 28 29 30

De De De De

Lolme, Lolme, Lolme, Lolme,

S. 313 f. (S. 323 f.). S. 301, 340 f. (S. 315, 343). S. 285 f. (S. 300 f.). S. 155 f. (S. 165).

II. Zum politischen Prozeß im englischen Verfassungssystem

209

viele Jahrhunderte hindurch Gegenstand ihrer Furcht gewesen sei. 3 1 I n dieser Gewalt habe das V o l k sein „Carthago" gehabt, 3 2 durch das es diszipliniert wurde. Es klingt i n der Tat plausibel, daß die jahrhundertelange Kontinuität eines mächtigen Widerparts auch dem Streben der Stände und des Volks nach Sicherung ihrer Freiheit Kontinuität verlieh, während ständig wechselnde Machtkonstellationen es erschweren, eine große Perspektive der FreiheitsSicherung zu entwickeln und zu verwirklichen. Andererseits ist es fraglich, ob de Lolme diesem einen Faktor nicht zuviel Wirksamkeit zuschrieb, wenn er auch die Selbstkontrolle der beiden Häuser des Parlaments und die Beschränkung gerichtlicher Willkür im wesentlichen auf diesen Grund zurückführte. 33 Noch problematischer und mit der damaligen englischen Verfassungswirklichkeit nicht in Einklang zu bringen war es, wenn de Lolme für seine Zeit die Behauptung aufstellte, das Gegengewicht gegen die demokratischen Gewalten liege im wesentlichen in einer geschlossenen königlichen Exekutivgewalt, und die Freiheiten des englischen Volkes seien vor allem darin gegründet, daß es den Repräsentanten des Volkes nicht gelungen sei, einen Teil der königlichen Exekutivgewalt an sich zu reißen. 34 Bemerkenswert ist, daß die Grundkonzeption des de Lolmeschen Balancemodells wenig später bei der Ausgestaltung der US-Verfassung eine bedeutende Rolle spielte. Diese Grundkonzeption lautet: Einheit der vollziehenden Gewalt, Teilung der gesetzgebenden Gewalt. Die Einheit der vollziehenden Gewalt erleichtere deren Kontrollierbarkeit, w e i l dann die Kontrolle einen festen Zielpunkt und Adressaten habe. 3 5 Hingegen sollte die gesetzgebende Gewalt geteilt sein, damit man sie in Schranken halten könne. 3 6 2. Nachteile der unmittelbaren und Vorteile der repräsentativen Demokratie Besonderes Interesse verdient die frühe Auseinandersetzung de Lolmes m i t dem Rousseauschen Ideal einer unmittelbaren Demokratie. Nach diesem schien der Freiheit aller schon genügt zu sein, wenn nur alle am Beschluß der Gesetze teilgenommen haben, denen sie unterworfen sind. Aber, so meinte de Lolme, es sei ein bloßes Spiel m i t Worten, zu sagen, wer einem so zustandegekommenen Gesetz gehorche, gehorche nur sich selbst; denn: „Der Einzelne, der in einer gesetzgebenden Volksversammlung seine Stimme abgab, hat nicht das Gesetz gemacht, das in dieser Versammlung durchging; er hat nur seinen tausendsten oder gar zehntausendsten Teil zu dessen Beschluß beigetragen 31 De 32 De 33 De 34 De 35 De 36 De

Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme,

14 Zippelius

S. 166 f. (S. 175). S. 223 (S. 236). S. 291 (S. 305); vorsichtiger die Formulierung auf S. 293 f. (S. 307). S. 300, 305 (S. 314, 318). S. 165 ff. (S. 173 ff.). S. 169, 304, 307 (S. 178, 317, 319).

210

Kap. 17: Die Zähmung der englischen Staatsgewalt oder beizutragen geschienen: Er hatte keine Gelegenheit, seine Einwendungen gegen das vorgeschlagene Gesetz zu machen oder es zu prüfen oder Einschränkungen vorzuschlagen; es ist ihm nur gestattet gewesen, seine Zustimmung oder Ablehnung zu äußern." 37

N u n besteht Freiheit sicher nicht in der Teilnahme an solchen „täuschenden Zeremonien" des Beschlüssefassens, die von einigen wenigen gelenkt und manipuliert werden. Es erscheint aber als Kurzschluß, wenn de L o l m e darum nun seinen Freiheitsbegriff auf den „status negativus" einschränkt: Freiheit „ i n einer Gemeinschaft von Wesen, deren Interessen fast ständig einander widerstreiten, besteht darin, daß jeder, solange er die Person anderer achtet und ihnen ruhig gestattet, die Früchte ihres Fleißes zu genießen, sicher sein kann, auch selber die Früchte seines eigenen Fleißes zu genießen und für seine Person Sicherheit zu haben". 3 8 Frei zu sein heißt, „ i n einem Staate zu leben, in welchem die Gesetze für alle gleich sind und zuverlässig vollzogen werden". 3 9 Wer dächte nicht an das Wort v o m „Nachtwächterstaat". Teilnahme an einem Abstimmungsprozeß hingegen sei lediglich Teilnahme an der Macht, sei aber „nicht die Freiheit selbst, sondern nur ein Mittel, sie zu erlangen". 4 0 M i t diesem einseitigen Verständnis der Freiheit blieb de L o l m e noch hinter dem zurück, was immerhin schon Aristoteles als Inhalt der Bürgerfreiheit dargestellt hatte. 4 1 Dieses Freiheitsverständnis de Lolmes blieb vor allem auch unberührt von der mächtigen Idee, die i m achtzehnten Jahrhundert sich auszubreiten begann: daß die politische Freiheit von der — auch politischen — Selbstbestimmung des Menschen her zu begreifen sei. Doch greift de L o l m e hier eher i m Wort als in der Sache fehl; erkennt er doch die wichtige Steuerungsfunktion, die dem V o l k bei der W a h l seiner Repräsentanten zufällt. Unbestritten bleibt, daß die politische Selbstbestimmung und Freiheit des Menschen sich jedenfalls dort nicht verwirklicht, wo der demokratische Prozeß „zur leeren Form entartet". 4 2 Ebendies ist oft in jenen Volksversammlungen der Fall, die selber konkrete politische Entscheidungen treffen sollen. Haben doch, wie de L o l m e sagt, die meisten weder die Muße, noch den Grad an Informiertheit, wie sie zu solchen Geschäften erforderlich sind. Auch hätten nur wenige den Verstand, dessen es für die komplizierten Fragen der Gesetzgebung bedarf. Überdies sei eine Menschenmenge als solche „unfähig, zu reifen Entschlüssen zu k o m m e n " . 4 3 Denn wo V o l k sich versammelt, verläßt jeder sich auf alle anderen. Nur wenige der Versammelten haben vorher über die Gegenstände nachgedacht, 37 De Lolme, 38 De Lolme, 39 De Lolme, 40 De Lolme, 41 Aristoteles, 42 De Lolme, 43 De Lolme,

S. 188 (S. 197). S. 189 (S. 198). S. 190 (S. 198). S. 190 (S. 198). Politik, 1317 b. S. 190 (S. 198). S. 192 (S. 200).

II. Zum politischen Prozeß im englischen Verfassungssystem

211

über die sie entscheiden sollen. So w i r d dann die Mehrheit der Versammlung „durch Gründe bestimmt, deren man sich bei viel weniger ernsthaften Veranlassungen schämen w ü r d e " . 4 4 Den Nutzen aus der Lenksamkeit und Kopflosigkeit des Volkes ziehen jene, die die Versammlung einberufen, ihr die Vorschläge unterbreiten und Reden an sie halten. 4 5 Ihnen gegenüber haben die wenigen i n der Menge, die über die Fragen nachgedacht haben, keine Chance; sie „verlieren sich in dem Haufen und können ihrer schwachen Stimme in dem allgemeinen Geräusch und Wirrwarr kein Gehör verschaffen". 4 6 Den Nachteilen und Gefahren einer unmittelbaren Mitentscheidung der Volksmenge stellte de L o l m e die Vorteile gegenüber, die sich ergeben, wenn das V o l k durch von i h m bestellte Repräsentanten an den politischen Entscheidungen teilnimmt. Den Regierenden stünden dann erfahrene Männer gegenüber, denen man nicht, wie etwa der altrömischen Volksversammlung, von heiligen Hühnern etwas vorschwatzen könne. 4 7 Die Repräsentanten würden auch feste Regeln und Verfahren beobachten, die „ihre Beschlüsse w i r k l i c h zu einem Ergebnis von Überlegung und Erwägung machen können. 4 8 Z u solchen Regeln gehöre i m englischen Parlament ζ. B. die Übung, jedes Gesetz dreimal, und zwar an verschiedenen Tagen, zu lesen, sodann die Gewährleistung parlamentarischer Redefreiheit und die Garantie, für parlamentarische Äußerungen nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. 4 9 I n solch einer überschaubaren Versammlung von Repräsentanten könne auch jedes M i t g l i e d neue Gegenstände vorschlagen und Fragen zur Erwägung stellen. 5 0 Das zwanzigste Jahrhundert, das, wie kein anderes, die menschenunwürdigen Schauspiele fanatisierter und dressierter Volksversammlungen gesehen hat, bestätigt nur de Lolmes Mißtrauen gegen eine unmittelbare Beteiligung manipulierbarer Volksmengen an konkreten politischen Entscheidungen. Gewiß darf auch die Rationalität des parlamentarischen Entscheidungsprozesses nicht überschätzt werden. Gleichwohl darf nicht der Rationalitätsgewinn übersehen werden, der gegenüber einer „Demokratie versammelter Volksmassen" eintritt: schon dadurch, daß das Parlament aus einer überschaubaren Anzahl politisch informierter Persönlichkeiten besteht und daß die Verhandlungen sich in einem geordneten Verfahren abspielen. V o r allem ist aber durch die Gliederung des Parlaments in Regierungspartei und Opposition dafür gesorgt, daß die Willensbekundungen dieses Gremiums immerhin von der äußeren Form her als Austausch von Argumenten und nicht als „solidarische" Akklamationen strukturiert sind. Rationale 44 De 45 De 46 De 47 De 48 De 49 De 50 De 14*

Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme,

S. 193 S. 195 S. 195 S. 206 S. 207 S. 207 S. 208

(S. 201). (S. 202). f. (S. 203). (S. 215 f.). (S. 216). f. (S. 217). f. (S. 218 f.).

212

Kap. 17: Die Zähmung der englischen Staatsgewalt

Elemente kommen auch dadurch zur Geltung, daß die parlamentarischen Verhandlungen „äußeren" Kontrollen unterliegen, nicht zuletzt auch der Kontrolle durch eine informierte öffentliche Meinung. Gerade diese Kontrolle hält de L o l m e für den Weg, auf dem auch die Gesamtbevölkerung verständig an den Staatsgeschäften A n t e i l nehmen könne.

3. Kontrolle

durch öffentliche

Kritik

und Widerstand

Öffentliche K r i t i k und die Macht der Feder treten als wichtige Kontrollinstrumente hervor — auch dies ein geläufiger Topos der damaligen staatstheoretischen Diskussion. I n der „öffentlichen Bekanntheit aller Dinge" liege ein Zwang, der sehr dienlich sei, „alle, die Anteil an der öffentlichen Macht haben, i n den gebührenden Schranken zu halten. Da jene somit zu spüren bekommen, daß all ihre Handlungen den Blicken der Öffentlichkeit ausgesetzt sind, so dürfen sie es nicht wagen, jene Parteilichkeiten oder jene Nachsicht gegen die Unrechtmäßigkeiten bestimmter Personen zu üben oder jene Schikanen anzuwenden, deren sich ein Amtsträger nur allzu leicht schuldig macht", wenn er ohne öffentliche Kontrollen handeln k a n n . 5 1 Die Rede- und Schreibfreiheit gibt jedem ein Mittel, „seine Klagen dem Publikum vorzulegen, gibt ihm fast eine sichere Abhilfe gegen jeden A k t der Bedrückung, d e r e r ausgesetzt wurde". Kurz, „das Recht, ohne Furcht das Verhalten derer zu prüfen, die an der Spitze stehen, ist es, was ein V o l k zu einem freien V o l k e m a c h t " . 5 2 Ähnlich nannte Kant später die Freiheit der Feder das (einzige) „Palladium der Volksrechte". 5 3 Die Pressefreiheit, die i m Jahrhundert de Lolmes ihre Unschuld noch nicht verloren hatte, erschien nicht nur als Kontroll-, sondern auch als Einflußmittel des Volkes. Eine wichtige Funktion dieser Freiheit liege darin, daß sie „das V o l k wirksam i n den Stand setzt, von den M i t t e l n Gebrauch zu machen, welche die Verfassung i h m gewährt hat, u m die Schritte der Regierung zu beeinflussen". 5 4 V o r allem bedarf es der öffentlichen Information über die Vorgänge der Politik. Erst sie erlaubt dem V o l k eine verständige Teilhabe an den öffentlichen Angelegenheiten. Sie ermöglicht es, daß ein ganzes V o l k , zwar langsam, aber auf eine regelmäßige und zuverlässige Weise, die Dinge erwägt, 5 5 anders, als ein durch einen Redner aufgeregtes und zu stürmischen Beschlüssen gebrachtes V o l k . 5 6 Wenn ein V o l k sein Recht und seine Freiheit lieben und verteidigen soll, muß man ihm also die nötige Zeit lassen, zu erkennen, was Freiheit und Recht sind,

51 52 53 54 55 56

De Lolme, S. 233 (S. 252 f.). De Lolme, S. 332 f. (S. 336 f.). /. Kant, Über den Gemeinspruch usw., 1793, II. De Lolme, S. 237 (S. 258). De Lolme, S. 238 (S. 259). De Lolme, S. 239 (S. 260).

II. Zum politischen Prozeß im englischen Verfassungssystem

213

und i n seinen Ansichten darüber einig zu werden. 5 7 Kurz, die Masse des Volkes darf nicht selbst in das politische Handeln engagiert werden, sondern muß gleichsam bloß Zuschauer des politischen Spieles sein, wenn es die richtigen Vorstellungen von den Dingen erlangen s o l l . 5 8 E i n auf solche Weise auch über die Vorgänge i m Parlament informiertes V o l k besitzt dann auch eine Abrechnungsgrundlage für die kommenden W a h l e n . 5 9 E i n eigenes Kapitel widmet de Lolme der produktiven Kraft des Widerstandes i n der englischen Verfassungsentwicklung. Schon die Magna Carta sei ebenso ein Produkt des Widerstandes gewesen wie die Vertreibung Jakobs II. und die B i l l o f Rights. 6 0 Diese habe dann jedem Untertanen sogar ausdrücklich das Recht gegeben, sich m i t Beschwerden öffentlich gegen Mißbräuche der Regierung zu wenden, und habe i h m überdies Waffen zu seiner Verteidigung zugestanden. 61 A u c h der Widerstand gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt werde aber vor allem durch die Presse wirksam. Durch sie werden alle Handlungen der öffentlichen Gewalt den Blicken des Publikums ausgesetzt. A u f solche Weise bilde dann „die ganze Nation gleichsam einen einzigen reizbaren Körper, von dem man keinen T e i l berühren kann, ohne eine allgemeine Erregung hervorzurufen". 62 Aber auch auf dem Gebiete der öffentlichen K r i t i k werden i m Volke mäßigende Kräfte wirksam, wie sie schon beim K a m p f um die Rechte des Parlaments beschrieben wurden: Gewiß brächten Versammlungsfreiheit und Redefreiheit oft ein solches „Geschrei" zustande, daß man glauben sollte, die Verfassung werde bis in ihre Grundfesten erschüttert. Aber jeder, der versuchen sollte, sich solche allgemeine Gärung zunutze zu machen, finde sich unversehens wachsenden Schwierigkeiten und Hindernissen gegenüber: „Es wirkt eine geheime Kraft, welche die Dinge allmählich wieder in einen Zustand der Mäßigung und Ruhe bringt; und diese so stürmische, dem Anschein nach so tief aufgewühlte See hält beständig an bestimmten Grenzufern ein, die zu überschreiten es ihr an Kraft zu fehlen scheint." 6 3 A u c h hier ein Sinn für Maß und Grenzen, ohne den es dauerhafte Freiheit nicht geben kann.

57 De 58 De 59 De 60 De 61 De 62 De 63 De

Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme, Lolme,

S. 249 (S. 269). S. 250, 385 f. (S. 270, 382). S. 239 f. (S. 260). S. 245 (S. 264 f.). S. 246 (S. 266). S. 248 (S. 269). S. 342 f. (S. 345).

Kapitel

18

Problemfelder der Machtkontrolle I . Die grundsätzliche Aufgabe der Machtkontrolle Eine der interessantesten Fragen der Staatstheorie und vielleicht die praktisch wichtigste von ihnen lautet: W i e können i m politischen Bereich ordnungstiftende Kräfte wirksam und zweckmäßig organisiert und zugleich gefährliche Machtzusammenballungen verhindert werden? Politisch relevante Macht bildet sich in einem lebendigen Gemeinwesen i n vielen Bereichen und nimmt, wie ein Proteus, fortwährend neue Gestalten an. So entsteht das Problem wirksamer Machtkontrolle auf immer wieder neue Weise. Stichworte dafür sind die organisatorische Verteilung staatlicher Regelungskompetenzen, die Entflechtung und Ausbalancierung sozialer Gewalten, einschließlich der Medienmacht, und das internationale Gleichgewicht der Mächte. In allen Bereichen dient die Balance und Kontrolle der Gewalten einer Stabilisierung des Gesamtsystems und der Freiheitssicherung. A n innenpolitische Stabilität dachte vor allem Polybios, als er i m zweiten vorchristlichen Jahrhundert den Grund für die außenpolitischen Erfolge Roms in der römischen Verfassung zu finden glaubte 1 , die i n ausgewogener Weise Elemente des Königtums, der Aristokratie und der Demokratie in sich vereinige und dadurch Entgleisungen vorbeuge. 2 So sei es der Vorzug einer gemischten Verfassung, daß „ k e i n T e i l über Gebühr mächtig werden kann und dadurch entartet, sondern die einzelnen Machtfaktoren so gegeneinander ausgewogen sind, daß keiner ein Übergewicht erhält und den Ausschlag gibt, daß sie vielmehr i m Gleichgewicht bleiben wie auf einer Waage und die widerstreitenden Kräfte sich gegenseitig aufheben und der Verfassungszustand dadurch lange erhalten bleibt". 3 Eine außenpolitische Gleichgewichtsstrategie empfahl er zur Sicherung der außenpolitischen Handlungsfreiheit: E i n Gemeinwesen solle sich auf die Seite des Schwächeren schlagen, „damit es Übermächtigen nicht freisteht, jede ihrer Absichten widerstandslos durchzusetzen". Keinem dürfe man helfen, „eine solche Macht zu erwerben, daß man selbst seine vertragsmäßigen Rechte nicht mehr gegen ihn behaupten k a n n " . 4 ι 2 3 4

Polybios, Polybios Polybios Polybios

Historien, V I 1. (Fn. 1), V I 1 ff. (Fn. 1), V I 10. (Fn. 1), I 83.

I. Die grundsätzliche Aufgabe der Machtkontrolle

215

Fast zweitausend Jahre später wurde in Westeuropa die Sicherung der Bürgerfreiheit zu einem der großen Themen der Politik: als Antwort auf den sich ausbreitenden Absolutismus. A u c h die Gewaltenbalance wurde in den Dienst dieser Freiheitssicherung gestellt: Angesichts „der Schwäche der menschlichen Natur, die immer bereit ist, nach der Macht zu greifen", müsse man die Gewalt der Regierung dadurch ausbalancieren, daß man verschiedene Teile von ihr in verschiedene Hände legt, schrieb John Locke. 5 I m Einklang damit standen ein halbes Jahrhundert später die Überlegungen Montesquieus: Es sei eine „ständige Erfahrung, daß jeder, der Macht besitzt, zu ihrem Mißbrauch neigt: Er geht so weit, bis er auf Schranken stößt" 6 ; um eine gemäßigte Regierung zu bilden, müsse man daher „die verschiedenen Gewalten miteinander verbinden, sie ordnen, mäßigen, zum Einsatz bringen, der einen sozusagen Ballast mitgeben, damit sie der anderen widerstehen k a n n " . 7 Die Mutter des liberalen Rechtsstaates heißt also Mißtrauen gegen die Machthaber. Nicht von ungefähr haben die Pessimisten unter den Staatsdenkern i m Ergebnis die menschlichsten Staatsmodelle entworfen: W e i l sie den Machtwillen und andere moralische Unzulänglichkeiten einkalkulierten, setzten sie diesen institutionelle Schranken und sorgten für Kontrollen, während die Optimisten der Macht der Vernunft und dem Gemeinsinn mehr zutrauen, als der nüchterne Betrachter es tun darf, und dadurch nicht selten der Bedrückung den W e g weisen. Seit der Marxismus, angesichts der sozialen Mißstände des frühindustriellen Zeitalters, das große Thema der Klassenherrschaft anschlug, hat sich das Mißtrauen gegen die Macht zunehmend auch gegen die sozialen Gewalten gewandt. Dabei richten sich heute die Kontrollüberlegungen weniger auf die Eigentümer des Großkapitals und mehr auf das Management, das über dieses Kapital disponiert, aber auch auf die Funktionäre der Parteien und Verbände, nicht zuletzt die Gewerkschaftsfunktionäre, die gemeinsam m i t dem Industriemanagement durch Tarifverträge über die Lohn- und Arbeitsbedingungen breiter Bevölkerungsschichten und mittelbar auch über Preisentwicklung, außenwirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit, Investitionsbereitschaft und die Schaffung oder NichtSchaffung von Arbeitsplätzen entscheiden. Nicht zuletzt sind die Massenmedien als oft unzureichend ausgewogene, bedeutende Machtfaktoren ins Blickfeld geraten. So fordert die sich wandelnde politische und gesellschaftliche Macht immer wieder neue Gegensteuerungen heraus. Dabei ist die Antwort auf eine neu in Erscheinung tretende Konzentration sozialer oder politischer Macht nicht immer in angemessener Weise m i t rechtlichen M i t t e l n zu finden, sondern auch eine Frage politischer Kultur. A l s Aufgabe und Kunst der Politik erscheint es insbesondere, lebendige Antagonismen, wie sie sich i n jeder Gemeinschaft zwischen politischen und sozialen Kräften immer wieder bilden, zu kultivieren und ihnen 5 J. Locke, Two treatises of government, I I § 107. 6 Montesquieu, De l'esprit des lois, X I 4 . 7 Montesquieu (Fn. 6), V 14.

216

Kap. 18: Problemfelder der Machtkontrolle

mit politischen und rechtlichen Mitteln, etwa i m Tarif-, Wettbewerbs- und Medienrecht, das richtige Maß zu geben. Solche Kultivierung von Balancen, die sich i m Laufe der historischen Entwicklung von selbst anboten, war einst der Weg, auf dem sich das englische System ausgewogener Gewalten gebildet hat: So ging der K a m p f gegen die monarchische Gewalt dort nie dauerhaft darauf aus, diese zu vernichten und durch einen Parlamentsabsolutismus zu ersetzen, sondern nur darauf, der Regierungsgewalt Grenzen zu setzen und so die Übermacht eines Teiles zu verhindern und Konkurrenzen i m Spiel der politischen Kräfte zu schaffen. Mutatis mutandis erscheint dies auch heute noch als ein gangbarer Weg. So sollte man — um nur zwei Beispiele vorwegzunehmen — das innerhalb der Exekutive entstandene Kräftespiel zwischen der politischen Spitze und einem parteipolitisch neutralen Beamtentum kultivieren, statt es seitens der Parteien durch Ämterpatronage zu ruinieren; auch wäre es an der Zeit, die öffentlichen Rundfunkanstalten stärker als eigenständige Kräfte auszugestalten und v o m Parteieneinfluß abzukoppeln.

I I , Aktuelle Fragen 1. Die Funktionenteilung

im Gefüge der Staatsorgane

I m staatsorganisatorischen Bereich sind die Gewalten nicht streng nach dem klassischen Schema geteilt, und zwar historisch gesehen von Anfang an nicht. Was „Gewaltenteilung" unter dem Grundgesetz bedeutet, ist i n erster Linie aus den v o m Grundgesetz selbst vorgenommenen Kompetenzenzuweisungen zu entnehmen. Die Verfassung ist nicht verletzt, solange die in ihr vorgesehene Verteilung der Gewichte zwischen den Gewalten aufrecht erhalten bleibt, keine Gewalt ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere Gewalt erhält und keine Gewalt der Zuständigkeiten beraubt wird, deren sie zur Erfüllung ihrer typischen Aufgaben bedarf. I m Parteienstaat ist aber auf ein Problem der Gewaltenteilung kurz einzugehen: auf den „ Ü b e r g r i f f 4 der jeweils stärksten Parteien über Regierung und Parlamentsmehrheit. Dieser hat dazu geführt, daß die parlamentarische Kontrolle faktisch weitgehend auf die Opposition übergegangen ist. Deren Wirkungschancen beruhen i m wesentlichen auf dem Grundsatz „Wahltag ist Zahltag", also darauf, daß sie m i t ihrer K r i t i k und ihrem Angebot an Alternativen laufend m i t der Regierungspartei u m künftige Wählerstimmen konkurriert, womit sie eine zwar subtile, aber durchaus wirksame Kontrolle des Regierungshandelns ins Werk setzt. Eine andere, gleichfalls etwas verborgene, aber faktisch wirksame Balance hat sich ferner m i t der wachsenden Bedeutung des bürokratischen Apparates herausgebildet, eine Balance, deren Zäsur unterhalb der Kabinettsebene verläuft. 8 s Vgl. H. D. Jarass, Politik und Bürokratie als Elemente der Gewaltenteilung, 1975, S. 125.

II. Aktuelle Fragen

217

Die Konfrontation zwischen der politischen Spitze und der politisch neutralen Bürokratie, der Dialog zwischen dem letztlich entscheidungsberechtigten M i n i ster und seinen Fachbeamten sollte nach dem W i l l e n der Verfassung (Art. 33 Abs. 2 und 5 GG) zu einer sachdienlichen Abklärung der Entscheidungen führen: Der Berufsbeamte bringt, idealtypisch gesehen, ein anderes Entscheidungsverhalten in den Entscheidungsprozeß ein als der Politiker. Seine von der Verfassung vorgesehene Rolle ist es, auf Sachwissen gegründet, für einen unparteiischen Interessenausgleich zu sorgen; damit sollte insbesondere der Gefahr vorgebeugt werden, „daß Parteipolitik zu weitgehend auch in solche Verwaltungszweige getragen werde, wo sie nicht hingehöre" 9 . Zugleich leidet aber die bürokratische Entscheidung nicht selten unter der Ressortblindheit der Spezialisten, unter liebgewordenen Routinen und unter Mangel an Situationsgefühl. Demgegenüber vollzieht sich die Entscheidung des Politikers meist weniger schematisch, oft mit besserem Gespür für die Situation und insbesondere für die Stimmung der Betroffenen und der öffentlichen Meinung. Dafür krankt sie häufig an parteipolitischen Voreingenommenheiten und Rücksichtnahmen auf einflußreiche Gruppen und nicht zuletzt auch an mangelnder Vertrautheit mit den Realisierungsbedingungen. So ist das Wechselspiel zwischen politischen und fachmännischen Instanzen aus mehreren Gründen erwünscht und sollte, wie gesagt, nicht durch die fortschreitende parteipolitische Ämterpatronage zunehmend gefährdet werden. 1 0 Derzeit gewinnt auch die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit an Bedeutung. A u f sie ist später (Kap. 35 V ) zurückzukommen. 2. Die Schaffung autonomer Teilsysteme Staatliche Regelungsmacht ist nicht nur i n der Weise zu begrenzen, daß Regelungskompetenzen innerhalb der zentralen Staatsorganisation aufgeteilt werden, sondern auch dadurch, daß eine Vielfalt rechtlich selbständiger Regelungssysteme geschaffen wird. a) Föderalismus und Selbstverwaltung. Dieses Verteilungsmuster verwirklicht sich insbesondere durch Föderalismus und Selbstverwaltung. Hier verbinden sich m i t der Aufteilung und Begrenzung von Regelungskompetenzen noch andere Funktionen, insbesondere das Z i e l demokratischer Dezentralisation n , u m i n überschaubaren, bürgernahen Lebensbereichen politisches Handeln auf ein menschliches Maß zu bringen 1 2 . Zugleich erhalten politische Parteien, die i m Gesamtstaat 9 BVerfGE 7, 162 f.; 64, 379. 10 Vgl. K. Seemann, Gewaltenteilung und parteipolitische Ämterpatronage, in: Die Verwaltung, 1981, S. 133 ff.; J. Isensee, Der Parteizugriff auf den öffentlichen Dienst, in: G. Baum u. a., Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 60 ff.; siehe auch unten Kap. 20 III. u Vgl. BVerfGE 52, 112. 12 Vgl. E. Schmidt-Jortzig, Verfassungsmäßige und soziologische Legitimation gemeindlicher Selbstverwaltung, DVB1. 1980, S. 1 ff.; H. Klages, Selbstverwaltung und menschliche Selbstverwirklichung, in: Festschr. f. G. Ch. ν. Unruh, 1983, S. 41 ff.

218

Kap. 18: Problemfelder der Machtkontrolle

in der Minderheit sind, die Chance, i n einzelnen Bundesländern oder Kommunen die Mehrheit zu bilden und politische Verantwortung zu übernehmen; auf diesem Wege werden politische Minderheiten auf eine für sie annehmbare und damit konfliktentschärfende Weise in die politische Gesamtordnung integriert. M i t dem Begriff des Regionalismus 1 3 verbindet sich zudem das Ziel, ethnische Vielfalt zu bewahren. Durch das föderative Schema werden Machtbalancen gegenüber den Zentralinstanzen geschaffen; andererseits können und sollen diese ihrerseits eine Kontrolle gegen den Gruppenegoismus üben, der sich oft in den kleineren politischen Einheiten breitmacht 1 4 ; nicht zuletzt kann i m modernen Parteienstaat auf diese Weise ein Gegengewicht gegen eine parteipolitische Verkrustung einzelner Länder gewonnen werden. Sollen durch politische Dezentralisation wirklich Gewichte und Balancen geschaffen werden, so muß sich Autonomie mit Autarkie verbinden. 1 5 Länder dürfen also nicht zu Kostgängern des Bundes und Selbstverwaltungskörperschaften nicht am goldenen Zügel staatlicher Subventionen geführt werden. Was Föderalismus und Selbstverwaltung wert sind, ergibt sich nicht zuletzt aus den verfassungsrechtlich gesicherten eigenen Anteilen der Länder und der Gemeinden am Steueraufkommen (Art. 106 GG). b) Privatautonomie. Regelungsmacht kann aber nicht nur föderativ aufgegliedert oder an öffentliche Kôrperschaftèn und Anstalten delegiert, sondern auch etwa privaten Tarifpartnem und nicht zuletzt den einzelnen Bürgern selbst überlassen werden: So können die rechtsverbindlichen Interessenregelungen in weitem Umfang der Selbstgestaltung durch die beteiligten Interessenten vorbehalten werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Bürger kann sich nicht nur durch demokratische Teilhabe an staatlichen Regelungsprozessen, sondern sehr viel unmittelbarer durch „Privatautonomie" verwirklichen. Wieviel Freiheit der Einzelne i m Staate hat, bemißt sich somit auch danach, in welchem Maße die sozialen Lebensprozesse überhaupt einer staatlichen Regulierung unterworfen werden oder aber einer Selbstregelung durch Privatautonomie oder wenigstens durch „autonome" Körperschaften überlassen bleiben. Erkennt man i m Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und i m Übermaßverbot das allgemeine Prinzip, daß allen Bürgern so viel Freiheit wie möglich gewährleistet sein solle, 1 6 so sind diese Grundsätze also auch dann zu beachten, wenn 13 Hierzu etwa K. Möckl, Föderalismus und Regionalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Festschr. f. A. Gasser, 1983, S. 529 ff.; H. Lübbe, Die große und die kleine Welt, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, 1985, S. 191 ff.; D. Gerdes u. a., Regionen und Regionalismus in Westeuropa, 1987; R. Voigt, Europäischer Regionalismus und föderalistische Staatsstruktur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 3, 1989, S. 19 ff. 14 Vgl. Federalist Nr. 10. is Vgl. BVerfGE 71, 38. 16 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 3 0 1 2 .

II. Aktuelle Fragen

219

entschieden wird, ob bestimmte Lebensverhältnisse überhaupt einer staatlichen Regelung unterworfen werden sollen. Hier berührt sich das Prinzip innerstaatlicher Funktionenteilung und -begrenzung m i t dem Grundrechtsgedanken: Nach institutionellem Grundrechts Verständnis sollen bestimmte individuelle und soziale Wirkungsbereiche nach dem Programm der Grundrechte gewährleistet werden. 1 7 So ist durch Art. 5 G G nicht nur ein Individualgrundrecht, sondern zugleich ein Gefüge frei konkurrierender Massenmedien und überhaupt ein System freier Kommunikation und frei sich entfaltender Kunst und Wissenschaft garantiert. Art. 9 G G gewährleistet ein auf freien Zusammenschlüssen beruhendes Vereinswesen. Durch Art. 14 G G ist Eigentum nicht nur als „punktuelles" Element i m Privatrechtssystem garantiert, sondern zugleich als eine der Grundlagen marktwirtschaftlicher Ordnung, die auf frei verfügbarem Eigentum, darüber hinaus auch auf Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) und Berufsfreiheit, einschließlich beruflicher und gewerblicher Freizügigkeit (Art. 12 GG) beruht. c) Das politische Gemeinwesen, ein Wirkungszusammenhang von Teilsystemen. Aus dieser Sicht stellt sich das politische Gemeinwesen — unbeschadet der übergeordneten staatlichen Regelungsmacht — als ein Wirkungszusammenhang zahlreicher Teilsysteme dar, deren Funktionsbereiche auch durch Grundrechte definiert und gewährleistet sind. In der Kultivierung dieser Funktionenteilung, in der Stärkung und Förderung der Privatautonomie und solcher Teilsysteme, durch welche die Einzelnen einen überschaubaren, wichtigen Lebensbereich mitverantworten und über ihn mitbestimmen, liegt heute der wichtigste Ausweg aus der drohenden „Brave new W o r l d " , aus den vielfältigen Abhängigkeiten von einem anonymen staatlichen Apparat. 1 8 Die Schweiz bietet ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß auch eine hochorganisierte Industriegesellschaft trotz bedeutender Dezentralisation von Regelungskompetenzen funktionsfähig bleibt. Andererseits lassen die Erfahrungen mit dem i m neunzehnten Jahrhundert praktizierten Manchesterliberalismus es geraten erscheinen, den Spielraum der Privatautonomie so zu bemessen, daß diese sich nicht bis zu einem sozialen Mißstand entfalten kann. Die Zügel zentralisierter Regelung und Wirksamkeit darf der Staat auch aus anderen Gründen nicht ganz aus der Hand geben: vor allem aus Gründen normativer Rechtseinheit, für manche Verwaltungsbereiche (etwa die Verbrechensverfolgung) auch aus Gründen der Effizienz, für andere (wie die Finanz- und Wirtschaftspolitik) auch aus Gründen gebotener Ausgewogenheit nicht. So stellt sich, wie man weiß, die Frage nach Modus und Maß einer Aufgliederung der Regelungsfunktionen als Optimierungsproblem dar.

17 P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 70 ff., 96 ff.; N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 2. Aufl. 1974. ι» Dazu unten Kap. 19 I I 3.

220

Kap. 18: Problemfelder der Machtkontrolle 3. Balancen

im Bereich der sozialen

Gewalten

Das Gehäuse der rechtlichen Kompetenzen wird durch die gesellschaftlichen Kräfte m i t Leben gefüllt; sie bringen i n i h m ihre Macht auch zu rechtlicher Wirkung. Darum würde die Frage der Gewaltenbalance nur einseitig und unzureichend erfaßt, wenn man nur auf das Schema der rechtlichen Zuständigkeitsverteilung und nicht auch auf die Verteilung der gesellschaftlichen Kräfte blicken würde, die sich dieser Kompetenzen und der ihnen vom Recht belassenen Freiheiten bedienen. Gegenüber einer formalen Betrachtung tritt der ältere und fundamentalere Gedanke einer Balance der realen Gewalten wieder i n den Vordergrund. 1 9 Sollen die gesellschaftlichen Interessen und Meinungen angemessen, d. h. in der richtigen Proportion zur tatsächlichen Interessen- und Meinungssituation zur W i r k u n g kommen, dann müssen Vorsorgen für eine Ausgewogenheit der Verbands- und Medienmacht getroffen werden. Unausgewogenheit i m Bereich der sozialen Gewalten bedeutet nicht nur das Risiko eines unausgewogenen Interessenausgleichs in der Gesellschaft. A u f dem Gebiet der Massenkommunikation bedeutet sie auch die Gefahr einer Überrepräsentation partikulärer Meinungen, das Risiko einseitiger Manipulation der öffentlichen Meinung und damit eine schwere Gefährdung der Demokratie. 2 0 Daher liegt der Versuch nahe, wichtige Einrichtungen und Verbände in das Gefüge der demokratisch und rechtsstaatlich kontrollierten Institutionen des Verfassungsrechts einzubeziehen. I n der Bundesrepublik wurde er für die Parteien unternommen. Mehr oder minder bewährte Versuche, den Einfluß wichtiger Interessen ausgewogen i n das staatliche Handeln zu integrieren, finden sich ζ. B. i m französischen Wirtschafts- und Sozialrat 2 1 , i m irischen Senat 2 2 und i m bayerischen Senat 2 3 . A u c h i n den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten sollen die Rundfunkräte ein ausgewogenes Spiegelbild wichtiger gesellschaftlicher Gruppierungen bieten. 2 4 E i n nichtformalisierter, aber wichtiger Ausgleich konkurrierender Interessen findet innerhalb der politischen Parteien statt: W o große, durchorganisierte Volksparteien den politischen Prozeß beherrschen, werden wichtige Interessenkonflikte von ihnen aufgegriffen und Kompromisse angebahnt. Hierbei findet die Partei sich durch ihr Eigeninteresse gedrängt, nach Kompromissen zu suchen, die für eine größtmögliche Zahl von Wählern akzeptabel, also den hauptsächlich verbreiteten Interessen jedenfalls nicht unangemessen sind.

20 21 22 23 24

Vgl. J. Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, 1986. Dazu unten Kap. 22. Art. 69 ff. der französischen Verfassung von 1958 / 1963, Art. 15, 18 ff. der irischen Verfassung von 1937 / 1972. Art. 34 ff. der bayerischen Verfassung von 1946. BVerfGE 12, 259 ff.; 59, 258 ff.

II. Aktuelle Fragen

221

Es ist hier nicht der Ort, die sonstigen Instrumente und Vorschläge für eine Ausbalancierung und Kontrolle der sozialen Gewalten auch nur zu skizzieren. Sie betreffen teils deren Binnenstruktur. 2 5 Teils richten sie sich auf eine äußere Ausbalancierung, insbesondere auf Entflechtung 2 6 und auf Sicherung des Wettbewerbs 2 7 . Teils zielen sie darauf, den Lobbyismus und andere Verbandseinflüsse auf Staatsorgane zu kontrollieren. 2 8 4. Das Problem

des internationalen

Gleichgewichts

I n einem raschen B l i c k über die Problemfelder der Machtkontrolle darf der internationale Bereich nicht fehlen. Das alte, schon bei Polybios anklingende Thema, daß auch i m Verhältnis zwischen den Staaten allzu große Ungleichgewichte zu vermeiden sind, u m den einzelnen Staaten einen Handlungs- und Entscheidungsspielraum zu erhalten, dieser Gedanke wurde seit dem siebzehnten Jahrhundert zur M a x i m e der europäischen Außenpolitik 2 9 , er beherrschte den Wiener Kongreß und gewann seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges neue Aktualität, als die Weltherrschaft sich in den Händen zweier Großmächte konzentrierte, die j e i n ihrer Einflußsphäre die Übermacht gewannen und hier in politischen Existenzfragen den Ausschlag zu geben vermochten, wie die Schicksale Ungarns und der Tschechoslowakei drastisch zeigten. Bei Fortbestand des dualistischen Gleichgewichts bestand auch die Gefahr, daß andere Staaten zum Verhandlungsobjekt eines Interessenausgleichs zwischen den Supermächten werden konnten. Bei einer Machtverschiebung zwischen den Blöcken drohte die Gefahr, daß eine einzige Supermacht m i t einem erdrückenden militärischen Potential alle übrigen Staaten kontrollieren könnte. So stellte sich die Aufgabe, die Macht in der Welt wieder stärker auf eine Mehrzahl von Staaten und Staatengruppierungen aufzuteilen, eine Aufgabe, die vor allem in der Nixon-Kissinger-Ära in A n g r i f f genommen w u r d e . 3 0 U n d auch hier erweist sich das Problem der Machtbalance als eines der ganz großen, i n immer neuer Gestalt sich zeigenden und darum nie endgültig zu lösenden Probleme der Politik.

25 E. Boettcher u. a., Unternehmensverfassung als gesellschaftspolitische Forderung, 1968; K. Popp, Die Willensbildung innerhalb der Verbände, JöR 1977, S. 145 ff.; G. Teubner, Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, 1978; W. Leisner, Organisierte Opposition in Verbänden und Parteien? Ztschr. f. Rechtspolitik 1979, S. 275 ff. 26 V. Emmeriehl J. Sonnenschein, Konzernrecht, 3. Aufl. 1989, § 1 III. 27 V. Emmerich, Kartellrecht, 5. Aufl. 1988, §§1-3. 28 M. Schuppisser, Wirtschaftliche Interessenvertretung im Parlament? 1977; Η. Η. v. Arnim, Verfassungsfragen der Parteienfinanzierung, Juristische Arbeitsblätter 1985, S. 121 ff., 207 ff. 29 E. Kaeber, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur νοΠι 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, 1907; E. W. Gulik, Europe's classical balance of power, 1955. 30 Η. A. Kissinger, Memoiren, Bd. I, 1979, S. 29 f., 1136.

Kapitel

19

Grundstrukturen und Fehlentwicklungen des demokratischen Kräftespiels I . Grundstrukturen 1. Demokratische

Grundpositionen

Die Grundregel des demokratischen Machtprozesses sagt, daß alle Staatsgewalt v o m V o l k e ausgeht. Sie bedeutet, daß alle Bürger den Staat maßgebend mitgestalten und mit gleichem Stimmrecht 1 i n Wahlen und Abstimmungen als unmittelbar handelndes Organ in Erscheinung treten. Die zentralen Verfassungsorgane müssen durch regelmäßig wiederkehrende Wahlen demokratisch legitimiert und an den Konsens der Mehrheit rückgekoppelt sein; auch die übrigen Staatsorgane müssen ihr A m t entweder durch demokratische Wahl erhalten oder es letztlich auf solche Staatsorgane zurückführen, die durch demokratische Wahl berufen wurden. 2 Die Legitimation staatlichen Handelns ist auf die Gerechtigkeitsvorstellungen und Interessen und die daraus hervorgehenden politischen Zielvorstellungen der Mehrheit zurückzuführen. 3 Daher muß der politische W i l l e durch eine öffentliche Meinung vorgeformt 4 werden, die sich i n ständiger, freier Auseinandersetzung zwischen den sich begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen bildet, in der sich auch die politischen Ziele klären und wandeln. 5 Volksherrschaft ist nur dann eine freiheitliche Staatsform, wenn sie mit rechtsstaatlichen Rollenverteilungen, Machtkontrollen und Machtbegrenzungen nach rechtsstaatlichen Spielregeln vollzogen wird. Freiheitliche Demokratie ist also nicht einfach Mehrheitsherrschaft. Vielmehr beugt sie durch rechts staatliche Sicherungen, insbesondere durch Gewaltenteilung, gerichtliche Kontrolle staatlicher Akte, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Grundrechtsgarantien, einer Tyrannei der Mehrheit v o r . 6 ι BVerfGE 8, 64 f.; 69, 106; 82, 337 f. 2 BVerfGE 47, 275; 77, 40 f. 3 Dazu oben Kap. 11. 4 BVerfGE 8, 113. 5 BVerfGE 5, 135, 198, 205; 69, 344 ff.; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 28 II, III.

I. Grundstrukturen

223

Der demokratische Prozeß selbst ist organisatorisch i n zwei, auch unter dem Aspekt der Gewaltenteilung wichtigen Hinsichten strukturiert: zum einen durch das Zusammenwirken unmittelbar demokratischer und repräsentativer Faktoren, zum andern durch die Verteilung demokratischer Kompetenzen auf Gesamtstaat, Länder und kommunale Gebietskörperschaften. Zur Ausgestaltung der Demokratie gehört also vor allem die Regelung, in welcher Weise und in welchem Maße der staatliche W i l l e unmittelbar v o m V o l k oder durch dessen Repräsentanten gebildet wird. Nach dem Grundgesetz w i r d die Staatsgewalt v o m V o l k durch Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, i m übrigen aber „durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung" (Art. 20 Abs. 2 GG). Bei der Verteilung der Kompetenzen zwischen V o l k und Repräsentativorganen hat sich das Grundgesetz in hohem Maße für repräsentative Demokratie entschieden. Damit wollte es den Risiken demagogischer Lenkung des Volkswillens begegnen, die nicht zuletzt in der nationalsozialistischen Zeit zutage getreten waren. I m Zeitalter der Massenpresse und des Fernsehens dämpft das Repräsentativsystem auch die Gefahr, daß aus der Demokratie eine „Telekratie" wird: daß also die unzureichend kontrollierte Macht der Medien sich weiter verstärkt und die „Sinn- und Weltbildproduzenten" einen allzu direkten, nur noch durch Plebiszite vermittelten Zugriff auf die Rechtsgestaltung gewinnen. Demgegenüber ist das Repräsentativsystem geradezu die „technische" Vorbedingung jeder Gewaltenkontrolle. I n i h m sollen aber auch sonst die versachlichenden Komponenten repräsentativer Entscheidungsfindung wirksam werden: Z w i schen die Tagesereignisse und Tagesstimmungen und den „Abrechnungstag" der Wahl sollen sich „Abkühlungs- und Bedenkzeiten" schieben, innerhalb deren die Repräsentanten eine Chance haben, staatsmännisch zu handeln und die Mehrheit von der Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu überzeugen. A u c h in der repräsentativen Demokratie bleibt aber in Gestalt der öffentlichen Meinung fortwährend ein bedeutendes Element unmittelbarer Demokratie lebendig. So blicken die Repräsentanten — oft sogar allzu beflissen — nach der öffentlichen, nicht selten freilich nur nach der „veröffentlichten" Meinung und reagieren sehr empfindlich auf Politbarometer und andere demoskopische Umfragen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Durch die gebotene Rücksicht auf kommende Wahlen liegt es i m Eigeninteresse der Repräsentanten, der Mehrheitsmeinung zu folgen oder diese wenigstens gebührend in Rechnung zu stellen; auf diese Weise bleiben Regierung und Parlament ständig an die Zustimmung der Mehrheit „rückgekoppelt". So haben Meinungsumfragen zu Sachproblemen, welche die Öffentlichkeit bewegen, zwar keine Rechtsverbindlichkeit; in ihrer faktischen Wirksamkeit können sie aber einem Plebiszit recht nahe kommen und

6

Dazu oben Kap. 4 12.

224

Kap. 19: Grundstrukturen des demokratischen Kräftespiels

dessen Funktion erfüllen. Dabei lassen sie aber den Repräsentanten den Spielraum, aus staatsmännischer Erwägung kurzfristig auch einmal gegen den W i n d der öffentlichen Meinung zu segeln — m i t der schon genannten Chance, bis zur nächsten W a h l die Bevölkerung von der Richtigkeit ihrer Politik zu überzeugen, und m i t dem Risiko, es nicht zu vermögen und bei der W a h l dafür zu bezahlen. N u n zum Strukturprinzip demokratischer Dezentralisation. Ihrer bedarf es, wenn Demokratie ein viele Lebensbereiche durchformendes politisches Prinzip sein soll. Dem entspricht das deutsche Verfassungsmodell einer i n Länder und Selbstverwaltungskörperschaften „gegliederten Demokratie". 7 Dabei soll nach dem Subsidiaritätsprinzip die höhere organisatorische Einheit keine Aufgaben an sich ziehen, welche die nachgeordnete Einheit ebenso gut oder besser erledigen kann, w e i l an deren Lebensweise und Wirksamkeit die Einzelnen einen größeren A n t e i l haben können als am politischen Gesamtsystem. Die beiden genannten Strukturierungen unserer Demokratie fügen sich sinnvoll ineinander: I n dem vom Grundgesetz vorgesehenen Modell gestufter Demokratie dürfen die Länder mehr unmittelbare Demokratie praktizieren als der Bund: innerhalb des beträchtlichen Spielraums, der ihnen für die Ausformung ihrer Verfassungen gelassen ist (Art. 28 Abs. 1 GG). Diese können Volksbegehren, Volksbefragungen und Volksentscheide vorsehen, um das V o l k an der Landesgesetzgebung zu beteiligen. — Für die Gemeinden nennt das Grundgesetz selbst Möglichkeiten, unmittelbare Demokratie zu verwirklichen: So kann — nach Maßgabe der Gemeindegesetze der Länder — an die Stelle einer gewählten Körperschaft (des Gemeinderates) die Gemeindeversammlung, d. h. die Versammlung der stimmberechtigten Bürger, treten (Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG). A u c h Bürgerversammlungen m i t bloß beratender Kompetenz und andere Formen der Bürgerbefragung kann das Gemeinderecht vorsehen. Das Grundgesetz ermöglicht also schon in seiner gegenwärtigen Gestalt auf vielen Gebieten ein plebiszitäres Engagement, und zwar i n sachgerechter Zuweisung: Länder und Kommunen sind „bürgernäher" als der Bund, die hier zu entscheidenden Fragen sind oft weniger komplex und daher dem Urteilsvermögen der Bürger leichter zugänglich als Fragen der Bundespolitik, in Ländern und Kommunen wirken sich auch die Einflüsse überregionaler Medien weniger massiv aus — auf diesen Ebenen bietet das Grundgesetz beachtliche Möglichkeiten unmittelbarer Demokratie. Diese werden in der Diskussion oft übersehen, vor allem deshalb, w e i l von ihnen bisher nur wenig Gebrauch gemacht wurde. Der Ruf nach mehr unmittelbarer Demokratie sollte sich also verständigerweise zunächst darauf richten, die vorhandenen plebiszitären Möglichkeiten stärker wahrzunehmen. Dazu würde auch gehören, daß der Bund den Ländern einen angemessenen Anteil an der Gesetzgebung läßt, also seine konkurrierende Gesetzgebungs-

V BVerfGE

52, 111 f.; 79, 148 ff.; 83, 54; dazu auch unten Kap. 20 II.

I. Grundstrukturen

225

kompetenz nicht bis aufs Letzte ausschöpft. Dazu gehört ferner eine Stärkung der Selbstverwaltungsrechte, vor allem aber des Engagements der Bürger, ihre Angelegenheiten i n überschaubaren Lebensbereichen mehr als bisher i n eigene Regie und Verantwortung zu nehmen. A u f die Frage, ob Volksentscheide als Korrektiv gegen oligarchische Auswüchse der Parteienstaatlichkeit eingeführt werden sollten, ist i n anderem Zusammenhang einzugehen. 2. Insbesondere

Parteienstaatlichkeit

Es gehört zur Grundkonzeption einer demokratischen Verfassung, daß alle möglichen Interessen und Meinungen eine Chance erhalten, miteinander i n Wettbewerb zu treten und Einfluß auf das staatliche Handeln zu gewinnen. So stellt sich die Demokratie zugleich als pluralistischer Staat dar, der eine Vielfalt von Interessen und Anschauungen als konstitutive Elemente i m politischen Prozeß zur W i r k u n g kommen läßt. Zwischen den in der Gesellschaft vorhandenen, widerstreitenden Interessen und Anschauungen sollen sich Kompromisse anbahnen. Hierbei erfüllen die weltanschaulichen, die interessengebundenen und die politischen Gruppierungen die Aufgabe einer klärenden Vorformung der politischen Willensbildung: I m Widerstreit der von ihnen repräsentierten und organisierten Interessen und Meinungen kristallisieren sich überschaubare Komplexe politischer Alternativen heraus, die dann auch Gegenstand politischer Entscheidungen sein können. Eine bedeutende und kaum entbehrliche Mittlerrolle in diesem Geschehen spielen die politischen Parteien, die sich vor anderen Verbänden dadurch auszeichnen, daß sie auf Grund von Wahlen Parlamentssitze und Regierungsämter zu gewinnen suchen. Sie bilden ein wichtiges Gelenk, das die gehäuft i n der Gesellschaft vorhandenen Interessen i n den politischen Prozeß hinein vermittelt: Einerseits sind sie vielfältigen Einflußnahmen von Interessenten ausgesetzt und müssen diese weitestmöglich zufriedenstellen, u m ihre eigenen Chancen zu wahren. Innerhalb der Parteien, zumal der großen Volksparteien, werden auch schon beträchtliche Anstrengungen darauf verwendet, annehmbare Kompromisse zwischen einflußreichen Interessen und Meinungen zu finden und Konflikte abzuarbeiten. Die Ergebnisse dieser Wirksamkeiten schlagen sich dann in den vielfältigen Einflüssen nieder, welche die Parteien auf die Staatstätigkeit nehmen. Nicht selten verdrängt in diesem Geschehen die kurze Perspektive des nächstbesten Kompromisses die Vorsorge für die weitere Zukunft — ein struktureller Nachteil, der nur dann zu vermeiden ist, wenn die Wähler selbst eine weitblikkende Politik honorieren. A u c h werden i m pluralistischen Gemeinwesen die Entscheidungen nicht aus der Perspektive einer „staatstragenden" Weltanschauung getroffen, sondern ausgehandelt — doch hier überwiegt bei weitem der Vorteil: Zwar geht mit dem Verlust einer für alle verbindlichen Weltanschauung und der damit verbundenen Orientierungsgewißheit ein bedeutender Integrationsfaktor der Gemeinschaft verloren; auch w i r d die Verunsicherung und Entschei15 Zippelius

226

Kap. 19: Grundstrukturen des demokratischen Kräftespiels

dungslast, die nun einmal m i t der Freiheit verbunden ist, nicht immer leicht ertragen. Aber in der durchbürokratisierten Gesellschaft, die über die Kontrollund Beeinflussungsinstrumente unserer Zeit verfügt, ist diese pluralistische Verfassungskultur auf Dauer w o h l die einzige realistische Alternative zu einem totalitären Staat. Darum sollte man die experimentierende, oft tastende Suche nach gangbaren Kompromissen, eingeschlossen die Bereitschaft zur Selbstkorrektur, nicht als grundsätzliche Schwäche der Politik abwerten, sondern sie als Teil jenes Prozesses von „trial and error" erkennen, der die einzig mögliche Lebensform einer freiheitlichen Demokratie ist.

I I . Fehlentwicklungen Nicht diese Grundstrukturen des pluralistischen Kräftespieles, sondern die sattsam bekannten Fehlentwicklungen sind es, die unser Staatsleben belasten: das Ausufern des Parteieneinflusses, die Überrepräsentation einflußreicher und lautstarker Gruppen, aber auch das Wuchern staatlicher Regelungen und Bürokratien. 1. Das Ausufern des Parteieneinflusses Das Unbehagen am Staat hat einen Grund nicht zuletzt darin, daß der Einfluß der Parteien weitgehend unkontrolliert über die Grenzen hinaus gewachsen ist, die den Parteien von der Verfassung zugemessen wurden. Diese sollen bei der politischen Willensbildung des Volkes lediglich mitwirken. 8 Stattdessen dominieren sie heute weite Bereiche des staatlichen Lebens. Zunehmend haben sie Staatsverwaltung, Gerichte und öffentlichrechtliche Medien unter ihr Regime gebracht und sie mit ihren Funktionären und Vasallen durchsetzt. So stören sie die sinnvolle Rollendifferenzierung zwischen unterschiedlichen staatlichen und gesellschaftlichen Funktionsbereichen. Demgegenüber geht der erkennbare W i l l e der Verfassung dahin, ein Berufsbeamtentum und Berufsrichtertum als Institutionen zu erhalten, die allein auf Eignung, Befähigung und fachliche Leistung gegründet sind. 9 Das Zusammenwirken des letztlich entscheidungsberechtigten Ministers mit seinen Fachbeamten sollte zu einer sachdienlichen Abklärung der Entscheidungen führen. A u f diese Weise sollte sich auch innerhalb der Exekutive ein subtiles, aber wirksames Wechselspiel von Gewalten herausbilden, dessen Zäsur unterhalb der Kabinettsebene verläuft. I n diesem Sinn hat auch das Bundesverfassungsgericht die Rolle

s Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. 9 Art. 33 Abs. 2 GG.

II. Fehlentwicklungen

227

des Berufsbeamtentums definiert: M i t diesem habe das Grundgesetz eine Institution sichern wollen, „die gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung . . . einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen s o l l " . 1 0 Die von der Verfassung gewollte Rollentrennung w i r d durch eine inzwischen fortgeschrittene parteibezogene Politisierung der Bürokratien und Gerichte gefährdet. 11 Ein zweites Beispiel ausufernden Parteieneinflusses bieten die öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten: Es gehört zu den Grundforderungen einer freiheitlichen Demokratie, die Massenmedien „staatsfrei" zu erhalten. 1 2 Angesichts der engen Verflechtung der Parteien mit der Staatsgewalt schließt das die Forderung ein, die öffentlichrechtlichen Medien auch parteifrei auszugestalten, eine Forderung, mit der die Praxis gleichfalls i m Widerspruch steht. 1 3 Nebenbei ist daran zu erinnern, daß w i r uns hier, wie in weiten Gebieten des Beamtenrechts, i m Kompetenzenbereich der Länder befinden, in denen vielfach eine Volksgesetzgebung zulässig ist. Die demokratischen Kontrollen versagten verstandlicherweise in den genannten Fällen — wie übrigens auch in Fragen der Parteienfinanzierung; denn i m Parteienstaat lebt die demokratische „Rückkoppelung" von der Parteienkonkurrenz. W o ein „Parteienkartell" sich bildet, d. h. über die Parteigrenzen hinweg keine ernsthaft konkurrierenden Alternativen angeboten werden, findet die steuernde Entscheidung des Wählers keinen Ansatzpunkt. Hier können sich dann Parteiinteressen einigermaßen ungestört gegenüber den Meinungen und Interessen des Volkes verselbständigen. Die öffentliche K r i t i k an politischen Fehlentwicklungen — sonst professionell von der Opposition betrieben — verläuft hier, wo sie keinen institutionellen Rückhalt findet, nicht selten i m Sande. Als Korrektiv der oligarchischen Auswüchse des Parteienstaates bietet sich scheinbar der Volksentscheid an. Doch hat er sich in den Ländern, in denen er statthaft ist, gerade auch i n den genannten Fällen nicht als Heilmittel erwiesen — w e i l eben i m Parteienstaat auch Plebiszite einer Mobilisierung durch einflußreichere Parteien bedürfen. N u r dann können Volksentscheide hier wie ein reinigendes Gewitter wirken, wenn der Unmut der Bevölkerung sich hinreichend angestaut hat und einzelne Kräfte aus dem „ K a r t e l l " ausbrechen und ein Plebiszit organisieren, wie in Italien i m A p r i l 1993.

io BVerfGE 7, 162; 64, 379. h J. Isensee, Der Parteizugriff auf den öffentlichen Dienst, in: G. Baum u. a., Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 60 ff.; M. Wichmann, Parteipolitische Patronage, 1986. 12 BVerfGE 20, 99; 57, 320. ι3 Ch. Starck, Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, 1973; H. Apel, Die deformierte Demokratie, 1991, S. 60 ff. 15:

228

Kap. 19: Grundstrukturen des demokratischen Kräftespiels 2. Andere Unausgewogenheiten

im pluralistischen

Kräftespiel

A u c h andere Unausgewogenheiten i m pluralistischen Kräftespiel wecken ein Unbehagen am politischen System. Das Empfinden, daß Großindustrie, Gewerkschaften und andere soziale Gewalten ihre Interessen oft überproportional und zu Lasten anderer zur Geltung bringen, ist allenthalben lebendig. Über wesentliche Grundlagen der Volkwirtschaft und des Sozialgefüges w i r d durch nichtstaatliche Mächte verfügt, nicht zuletzt durch die Abmachungen der Tarifpartner. Diese bestimmen, dank der ihnen v o m Staat überlassenen Tarifautonomie, also Regelungsmacht, über wichtige Arbeits- und Lebensbedingungen großer Bevölkerungsgruppen. Vielleicht war es etwas überspitzt, aber es brachte das öffentliche Unbehagen auf den Begriff, wenn man gesagt hat: Die „eigentlichen politischen Entscheidungen, von denen die Existenz und das Wohlergehen der Massen abhängt . . . werden von den allmächtigen Interessengruppen . . . ausgetragen." Die Politik werde „betrieben von Parteicliquen, Professionellen und den beamteten Vertretern der Verbandsinteressen". 14 Nicht selten werden Sonderinteressen zu Lasten nicht organisierter Bevölkerungsteile durchgesetzt. So kann es zu einer unbilligen Benachteiligung derjenigen kommen, deren Interessen und Meinungen nicht oder schlechter organisiert sind und keine nachdrückliche Repräsentation i m öffentlichen Leben finden. Das Druckmittel des Streiks — einst gegen einen kapitalistischen Arbeitgeber erdacht — bekommt vielfach die Gesamtheit der Bürger zu spüren, einen Streik von Straßenbahnschaffnern etwa am stärksten sogar ein besonders schutzbedürftiger Teil der Bevölkerung. Die Gesamtheit zahlt oft auch die erstrittenen Kosten: unmittelbar da, wo die „öffentliche Hand" Arbeitgeber ist, mittelbar dort, wo Großunternehmen die Lohnerhöhungen über den Preis abwälzen. I m erstgenannten Fall stehen auf der Arbeitgeberseite auch nicht kapitalistische Gegeninteressen, sondern — ähnlich wie i n Beamtenverhältnissen — öffentliche Institutionen, die demokratisch legitimiert und in denen auch Arbeitnehmerinteressen repräsentiert sind. I m industriellen Bereich kann ein durch Verbände organisierter Interessenkampf beträchtlichen Schaden stiften, wenn etwa um nahe greifbarer tarifvertraglicher Vorteile w i l l e n die Wettbewerbsfähigkeit einer Industrie und damit langfristig auch der Wohlstand ihrer Arbeitnehmer selbst, möglicherweise sogar die gesamte Volkswirtschaft untergraben w i r d . 1 5 So drängt sich aus mehreren Gründen die Frage auf, ob nicht das Arbeitskampfrecht in seiner gegenwärtigen Gestalt — zum mindesten seine verfassungsrechtliche Gewährleistung — neu zu überdenken i s t . 1 6

14 Κ Loewenstein, AöR 77 (1951/52), S. 431. 15 Vgl. J. Dornberg, Standort Deutschland: Nicht mehr gefragt bei der Wirtschaft? in: Das Beste, 1992/7, S. 74 ff. 16 Dazu oben Kap. 4 I I 3.

II. Fehlentwicklungen

229

A u c h sonst suchen mächtige Verbände und Gruppen ihre Privilegien zu wahren. So scheitert der Abbau eines gesamtwirtschaftlich schädlichen Gestrüppes von Subventionen regelmäßig an organisierten Sonderinteressen. 17 Die Aufhebung kirchlicher Feiertage, die nur von einem verschwindenden Teil der Bevölkerung kirchlich begangen werden, stößt auf massiven Widerstand der Kirchen. Gegen Gesundheitsreformen formieren sich Ärzteschaft und pharmazeutische Industrie. U n d die fällige Auslichtung i m Gestrüpp der Bürokratien w i r d von diesen selbst nach Kräften sabotiert. Die politischen Instanzen reagieren auf lautstarke, durch die Medien nicht selten zum Spektakel erhobenen Widerstände mit oft beschämender Nachgiebigkeit. I n der Sorge, einige Prozente der Wähler zu verlieren, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit bei der Mehrheit des Volkes. Die Verbandsbürokratien spielen i n diesem Geschehen eine ambivalente Rolle: A l s Stäbe fachkundiger Sachbearbeiter können sie die von ihnen vertretenen Interessen sachkundig und zweckmäßig geltend machen. Ihre Einschaltung kann radikale und unrealistische Forderungen dämpfen und so zu einer gewissen Kultivierung der Interessendurchsetzung führen. Andererseits neigen sie nicht selten dazu, die von ihnen repräsentierten Interessen mit bürokratischer „Ressortblindheit" einseitig und rücksichtslos gegenüber fremden Interessen durchzusetzen. Mitunter w i r d das Interesse der Verbandsfunktionäre noch vor das Interesse der Verbandsmitglieder gestellt: Ein Beispiel bietet ein gewerkschaftlich mobilisierter Streik, der einen Unternehmenszweig wettbewerbsunfähig macht oder ihn zu verstärkter Automatisierung zwingt, letztlich also auf ein „Wegstreiken von Arbeitsplätzen" hinausläuft. 3. Das Wuchern von Normen und Bürokratien E i n drittes Beispiel solcher Gravamina, die unser Verfassungsleben belasten, ist das Wuchern staatlicher Normen und Bürokratien. Es hängt m i t dem Ausufern der Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit zusammen, die den Staat fortschreitend wieder, wie einst den Polizeistaat des achtzehnten Jahrhunderts, zum Vormund seiner Bürger macht. Schon damals steckte hinter den wohlfahrtsstaatlichen Reglements zumeist die Absicht, die Untertanen vernünftig zu ihrem Besten zu leiten. So stand es i n einer badischen Hofkammerordnung von 1766: „Unsere Fürstliche Hofkammer ist die natürliche Vormünderin unserer Untertanen, ihr liegt es ob, dieselben v o m Irrtum ab und auf die rechte Bahn zu weisen, sie sofort, auch gegen ihren Willen, zu belehren, wie sie ihren eigenen Haushalt einrichten sollen." 1 8 Doch die Summe wohlwollender Vernünftigkeit entpuppte sich als „Geist bureaukratischer Bevormundung und Vielregiererei" 1 9 .

17 is 19 sche

Vgl. M. Olson, Die Logik kollektiven Handelns, 1968. Nach G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Aufl. 1952, S. 59. S. Riezler, Geschichte Baierns, 1878 ff., Bd. 3, S. 779, zit. nach F. Härtung, DeutVerfassungsgeschichte, 9. Aufl. 1969, S. 66.

230

Kap. 19: Grundstrukturen des demokratischen Kräftespiels

I m liberalen neunzehnten Jahrhundert gewann man Distanz zu solcher zentral verwalteten Vernunft und Wohlfahrt. Doch das Versagen des Manchesterliberalismus belehrte erneut über die Notwendigkeit, durch staatliche Ingerenzen planend und lenkend für allgemeine Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Die Notwendigkeit, der Umweltzerstörung zu begegnen, tat ein übriges. Heute weiß man, daß die Schwierigkeit darin liegt, j e nach den wechselnden Situationen das rechte Maß staatlicher Einmischung zu finden. Doch das Augenmaß zu finden, fällt dem i m W i n d der Massenmedien stehenden demokratischen Sozial- und Umweltschutzstaat nicht leicht. Aus jeder Denkmode w i r d ein R u f nach neuen Vorschriften. So ist das Ersetzen eines morschen Baumes ein genehmigungs- und gebührenpflichtiger Vorgang geworden 2 0 , als ob die Hausgärten nicht jahrhundertelang ohne staatliche Nachhilfe üppig gegrünt hätten, als ob die Bürger und nicht die Behörden Alleen gefällt und die Flur von Hecken bereinigt hätten. Wer sich i m Auto nicht anschnallt, zahlt B u ß e 2 1 , als ob nicht eine vernünftige Vertragsgestaltung — eine drastische Senkung versicherungsrechtlicher Ansprüche — eine ausreichende Motivation liefern könnte. M u ß man mündigen Bürgern von Staats wegen vorschreiben, Wärmemesser in fremdgenutzten Wohnungen anzubringen 2 2 ? Muß an jeder zweiten Kreuzung eine A m p e l stehen? A u c h dort, wo man — nach dem Vorbild der weniger regelungswütigen Engländer — einen Kreisverkehr anlegen und den Verkehr sich selbst überlassen könnte? W o l l e n w i r es akzeptieren, daß Kommunen aus Steuergeldem Umweltkontrolleure besolden, die prüfen, ob der passende M ü l l i n der passenden Tonne l i e g t 2 3 und so den Kaffeeriechern des Polizeistaates die Müllschnüffler unserer Tage zur Seite stellen? Es beruhigt wenig, daß die Dinge heute nicht aus der Machtvollkommenheit eines Landesfürsten, sondern unter den Kautelen rechtsstaatlicher Demokratie geregelt werden und viele Regelungen, je für sich genommen, begründet erscheinen. Daß viele vernünftige Regelungen zusammengenommen ein unvernünftiges Ganzes ergeben, hat schon Tocqueville gesehen. V o n ihm stammt das B i l d einer alles besorgenden und alles betreuenden Demokratie, welche die Gesellschaft „ m i t einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften überzieht, die auch die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen". E i n solcher Staat „bricht ihren W i l l e n nicht, aber er weicht ihn auf und lenkt ihn; . . . er tyrannisiert nicht, aber er hemmt, drückt nieder, zermürbt". 2 4 Erst allmählich tritt ins öffentliche Bewußtsein, daß nicht nur der autoritäre Staat, sondern auch ein Rechtsstaat totalitäre Züge annehmen, d. h. dahin tendieren kann, das Leben einer Gemeinschaft umfassend zu 20 21 22 23 24

Vgl. Art. 9 Abs. 4, 12 Abs. 2 und 3 bay. Naturschutzges. i. d. F. v. 10. 10. 1982. § 24 StVG; §§ 21a, 49 Nr. 20a StVO. §§ 4 und 5 HeizkostenVO i. d. F. v. 20. 1. 1989, BAnz 1990 Nr. 238a. Vgl. Art. 7 Abs. 1 Satz 3, 31 bay. Abfallwirtschaftsges. v. 27 2. 1991. A. de Tocqueville , Über die Demokratie in Amerika, I I 1840, IV. Teil, Kap. 6.

II. Fehlentwicklungen

231

reglementieren. Kurz, Freiheit und Selbständigkeit der Einzelnen sind auch durch ein Übermaß staatlicher Regelung und Vorsorge bedroht. Wieviel Freiheit der Einzelne i m Staate hat, bemißt sich also auch danach, i n welchem Maße die sozialen Lebensprozesse überhaupt einer staatlichen Regulierung unterworfen werden oder aber einer Selbstregelung durch Privatautonomie überlassen bleiben. Die Dichte staatlicher Regelungen sagt nicht zuletzt etwas darüber aus, wieviel die demokratischen Obrigkeiten i n Wahrheit von der M ü n digkeit des Bürgers halten. U n d dieser antwortet auf seine Weise auf die umfassende Gängelung: Die allgemeine Bereitschaft zum Rechtsgehorsam, so hat man festgestellt, w i r d „durch einen neuen, selektiven Rechtsgehorsam abgelöst" 2 5 .

25 Th. Würtenberger,

in: W. Hoppe u. a. (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, 1992, S. 549.

Kapitel

20

Die Modernität des Föderalismus I . Das Programm einer Föderalisierung und seine Reichweite Die Idee und die Forderung eines föderativen Staatsaufbaus wurde am M o d e l l des Bundesstaates entwickelt und ausgebaut. Die Reichweite „föderativer" Strukturen i m weiteren Sinn erstreckt sich jedoch von den kommunalen Gebietskörperschaften bis hinauf zu den supranationalen Organisationen. Durch alle diese Stufen hindurch stellen sich größere politische Einheiten als Wirkungszusammenhänge politischer Teilsysteme dar. Schon innerstaatlich darf also das Programm einer gebietsbezogenen Föderalisierung nicht auf das zweistufige Bund-Länder-Verhältnis verkürzt werden. Vielmehr soll dieses Strukturprinzip auch innerhalb der Länder zur Geltung kommen. Das bedeutet, daß die i n den Bundesländern gelegenen Regionen, Landkreise und Gemeinden m i t angemessener Selbstverwaltung und den dazugehörigen finanziellen M i t t e l n auszustatten sind. Jenseits der staatlichen Ebene funktionieren die supranationalen Organisationen nach einem „föderativen" Schema i m weitesten Sinn 1 : Eine Mehrzahl von Staaten, deren Interessen sich vielfältig berühren, stehen hier in einer institutionalisierten Ordnung, die einer Regelung ihrer Interessen in gegenseitiger Verständigung und Anpassung dient. Hier w i r d für den Interessenausgleich zwischen souveränen Staaten die Technik isolierter Verträge verlassen und zu einem Schema „kooperativer Konfliktsbereinigung" übergegangen. Gegenüber dem klassischen Ausgleichs- und Regelungsschema der völkerrechtlichen Verträge haben diese „föderativen" Institutionen unbestreitbare Vorzüge: Es werden nicht mehr nur von Fall zu Fall Detailprobleme zwischen einzelnen Staaten verhandelt und geregelt. Vielmehr werden die Einzelfragen von vornherein in umfassendere Sachzusammenhänge gestellt, deren kontinuierliche Planung und Regelung A u f gabe der internationalen Organisationen ist. Diese haben nicht nur einen bilateralen Interessenausgleich, sondern eine multilaterale Koordinierung der Interessen aller beteiligten Staaten anzustreben.

ι Vgl. etwa H. Bülck, Föderalismus als internationales Ordnungsprinzip, VVDStRL 21 (1964), S. 1 ff.; P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff.

II. Die Bereitstellung überschaubarer Lebens- und Funktionsbereiche

233

Heute bündeln sich i m Programm einer „Föderalisierung" moderne und oft zugleich alte Themen der Staatstheorie. I m folgenden w i r d ein knapper Aufriß dieser Themen versucht, ohne zu übersehen, daß viele von ihnen sich überschneiden. I I . Die Bereitstellung überschaubarer Lebens- und Funktionsbereiche 7. Die Zuriickführung

politischer

Einheiten

auf ein „ menschliches Maß "

Das heute verbreitete Gefühl politischer und sozialer Entwurzelung hat einen Hauptgrund i n der fortgeschrittenen und weiter fortschreitenden Auflösung jener kleineren Lebensordnungen, die den Einzelnen „beheimaten", ihn dabei auch i n seinem Verhalten steuern und kontrollieren. 2 Der Sozialstaat hat immer neue Aufgaben der Daseinsvorsorge und der Kulturpflege in seine Regie genommen und läßt sie durch eine immer weiter anschwellende, immer unpersönlicher werdende Bürokratie besorgen. Nicht zuletzt führt auch die Intemationalisierung des Lebens dazu, daß der Einzelne sich überall ein wenig und nirgendwo ganz zu Hause fühlt. So tritt — gleichsam als Antithese zu diesen Entwicklungen — das Bedürfnis nach neuer Behausung und Beheimatung zutage, insbesondere nach überschaubaren Gemeinschaften, die den Einzelnen i n mehrfachen Hinsichten sozial und emotional einbinden und eine Vielfalt von „Zugehörigkeitserfahrungen" (Lübbe) eröffnen. Dies schließt die Forderung nach weitgehender — wenn auch nicht schrankenloser — Selbstorganisierung der kleineren Lebensbereiche ein, nach Stärkung und Schaffung von Institutionen, durch welche die Einzelnen einen für sie wesentlichen, überschaubaren Lebensbereich i n wechselseitiger Verantwortung mitbestimmen. A u f diese Weise sollen politische und administrative Einheiten auf ein „menschliches M a ß " 3 zurückgeführt werden. Da man sich in bürgernäheren Lebensbereichen stärker heimisch und zusammengehörig fühlt als in bürgerferneren, beheimatet auch das politische Gesamtsystem seine Bürger um so stärker, je mehr es das Eigenleben der kleineren Gemeinschaften kultiviert. 2. Die Erhöhung

demokratischen

Engagements

I n die gleiche Richtung drängt auch die demokratische Forderung, durch eine politische Dezentralisation den Einzelnen einen größtmöglichen Anteil an der Bildung des gemeinschaftlichen Willens und an der Regelung öffentlicher Aufga2 Dazu oben Kap. 15 I I 1. 3 Vgl. W. Kägi, Föderalismus und Freiheit, in: A. Hunold (Hrsg.), Erziehung zur Freiheit, 1959, S. 184; E. Loebenstein, Der Föderalismus — ein Instrument im Dienste der Demokratie und des Rechtsstaates, in: Festschr. f. R. Marcie, 1974, S. 847.

234

Kap. 20: Die Modernität des Föderalismus

ben zu sichern: Je kleiner eine Gemeinschaft ist, desto größer ist der relative Anteil, den jedes ihrer Mitglieder an der Bildung des gemeinschaftlichen Willens hat. Deshalb sind demokratische Partizipation und politische Entfaltungsmöglichkeit für die Vielzahl der Bürger um so größer, je mehr Entscheidungsgewalt bei Gemeinschaften niedrigerer Ebene liegt. 4 Dem entspricht es, daß das Grundgesetz das Verfassungsmodell einer „gegliederten Demokratie" 5 enthält, i n welchem die Bundesländer und die kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften wichtige Stufen darstellen. V o r allem in den Gemeinden befindet der Bürger sich in einem überschaubaren Bereich: Verwaltung und örtliche „ P o l i t i k " betreffen ihn hier i m A l l t a g unmittelbar und persönlich. A u c h kann er sich einen unmittelbaren Eindruck von den tatsächlichen Gegebenheiten und den Amtswaltern verschaffen. Nicht zuletzt kann der Einzelne sich hier mit seiner Meinung persönlich bemerkbar machen und i n einer für ihn fühlbaren Weise am demokratischen Prozeß teilnehmen. So gewinnt die Demokratie für die Mehrzahl der Bürger ihre greifbarste Gestalt in der kommunalen Selbstverwaltung. Es waren politische Gemeinwesen v o m U m fang einer Gemeinde, eines kleineren Schweizer Kantons oder einer griechischen Polis, in welchen Rousseau Demokratie allein für praktizierbar hielt, wenn er schrieb, diese Staatsform erfordere i n erster Linie „einen sehr kleinen Staat, i n dem das V o l k sich leicht kennenlernen k a n n " 6 . Das Programm der Stein'schen Reformen 7 , durch Demokratisierung kommunaler Gebietskörperschaften das Engagement der Bürger zu wecken und einem erstarrten, bürgerfernen Bürokratismus zu begegnen, ist von unverminderter Aktualität. Die Forderung nach politischer und administrativer Dezentralisation fügt sich in die umfassendere Einsicht, daß Vitalität und Innovationskraft eines politischen Systems nicht zuletzt von seiner Fähigkeit abhängen, ein Höchstmaß gemeinverträglicher Initiativen zu wecken und zu integrieren. Das kann nicht dadurch geschehen, daß Sachverstand und Initiativen zentral verwaltet werden, sondern nur i n der Weise, daß selbstverantwortliches Handeln möglichst vieler herausgefordert und sinnvoll koordiniert w i r d . 8

4 W. Brohm, Die Selbstverwaltung der Gemeinden im Verwaltungssystem der Bundesrepublik, DVB1.1984, S. 294; F. Esterbauer / E. Thöni, Föderalismus und Regionalismus in Theorie und Praxis, 1981, S. 39 ff.; P. Pernthaler (Hrsg.), Direkte Demokratie in den Ländern und Gemeinden, 1980. 5 G. Chr. v. Unruh, Gebiet und Gebietskörperschaften als Organisationsgrundlagen nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, DVB1. 1975, S. 2; BVerfGE 52, 112. 6 J. J. Rousseau, Contrat social, I I I 4. 7 Vgl. etwa den Brief vom 9. 11. 1808, in: Frhr. vom Stein, Briefe und amtliche Schriften, Bd. I I 2, 1960, S. 928 ff. s Vgl. F. O. Kopp, Die Leistungsfähigkeit des Bundesstaates, in: H. Wiesflecker / R. Novak / F. O. Kopp, Historische und aktuelle Probleme des Föderalismus in Österreich, 1977, S. 85 f.

II. Die Bereitstellung überschaubarer Lebens- und Funktionsbereiche 3. Volkswirtschaftliche

235

Optimierung

Dies gilt auch aus nationalökonomischer Sicht. Vielfalt, Situationsgemäßheit und Anpassungsfähigkeit öffentlicher Leistungsangebote sind bei dezentraler Versorgung regelmäßig höher als bei zentral gesteuerter Versorgung. A u c h lassen sich wirtschaftliche Dispositionen in dezentralisierten, überschaubaren politischen Einheiten eher durchsichtig halten als i n großen, hochkomplexen, zentral verwalteten Staaten. Dies entspricht der Forderung, Zusammenhänge zwischen Nutzen und Kosten, Empfängern und Zahlern öffentlicher Leistungen soweit wie möglich für die Betroffenen überschaubar und kalkulierbar zu machen, damit diese auch über die Verteilung der öffentlichen Güter und Lasten verständig mitbestimmen können. 9 Andererseits darf die Forderung nach politischer Dezentralisation nicht radikalisiert werden. Es gibt öffentliche Leistungsangebote — etwa i n Gestalt von Eisenbahnen, Fernstraßen, Universitäten oder Fernsehanstalten — die nicht in beliebiger Dezentralisation wirtschaftlich bereitgestellt werden können. A u c h müssen örtliche und überörtliche Leistungsangebote, etwa von Orts- und Fernstraßennetzen oder von Bildungseinrichtungen verschiedener Stufen, koordiniert wetden. Schon aus nationalökonomischer Sicht erscheint es daher wünschenswert, einen differenzierten „föderativen" Verbund zwischen unterschiedlichen Teilsystemen herzustellen, welche die öffentlichen Leistungen anzubieten und M i t t e l dafür aufzubringen haben. A u c h aus dieser Perspektive stellt sich also die Föderalisierung als Optimierungsproblem dar 1 0 . Zudem sind Fragen einer bestmöglichen politischen Organisation nicht ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten, sondern auch nach anderen staatspolitischen Zwecken zu beantworten. Einige von diesen wirken „zentrifugal", wie das Streben nach Bürgernähe, Minderheitenschutz und Machtverteilung, andere „zentripetal", so vor allem die Sorgen für Rechtseinheit, für eine angemessene überörtliche Verteilung der Staatsleistungen und insgesamt für eine überregionale Angleichung der Lebensbedingungen 1 1 .

9 W. E. Oates, Ein ökonomischer Ansatz zum Föderalismusproblem, in: G. Kirsch (Hrsg.), Föderalismus, 1977, S. 21; H. Pagenkopf Kommunalrecht, Bd. 2, 2. Aufl. 1976, S. 50 f.; H. C. Recktenwald, Ursachen für Un Wirtschaftlichkeit im Staatsbereich, in: H. Hanusch (Hrsg.), Reform öffentlicher Leistungen, 1978, S. 17 f.; ders., Markt und Staat, 1980, S. 159 ff.; Brohm (Fn. 4), S. 300. 10 Vgl. Oates (Fn. 9), S. 22 ff.; Esterbauer / Thöni (Fn. 4), S.30ff., 50 ff., 70 ff.; H. F. Wust, Föderalismus, Grundlage für Effizienz in der Staatswirtschaft, 1981. h Vgl. BVerfGE 72, 386, 397 f.; Esterbauer ! Thöni (Fn. 4), S. 79 ff.

236

Kap. 20: Die Modernität des Föderalismus I I I . Die Aufwertung von Minderheiten 1. Die Aufwertung

ethnischer

Minderheiten

Die Zurückführung politischer Einheiten auf ein menschliches Maß stärkt mit der Chance der dort lebenden Bürger, an den Entscheidungen der Gemeinschaft teilzuhaben, zugleich die Chance, in solchen Bereichen ethnische und insbesondere kulturelle Eigenarten zu erhalten und zu entfalten. So erstrebt der Regionalismus, oft geradezu als Gegenbewegung zu den einebnenden Tendenzen der modernen Z i v i l i s a t i o n 1 2 , eine multizentrale Organisierung der Staaten vor allem nach ihrer ethnischen Gliederung, u m auf diese Weise völkischen und kulturellen Minderheiten Entfaltungsraum und Eigenleben zu sichern. A u c h i n dieser Hinsicht sollen unnötige Majorisierungen vermieden werden. A u f diese Weise dient Föderalisierung auch dazu, ethnische und andere regionale Konflikte abzubauen und zu einem Kompromiß zu bringen. 1 3 Damit verbindet sich die Forderung nach angemessener wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung der Regionen: Es soll auch unabhängig von der ethnischen Frage die verbreitete regionale „Ausbeutung" beendet werden, die darin besteht, daß das i m ganzen Land erarbeitete Steueraufkommen zu Lasten der „Provinz" in weit überproportionalem Maße einer Zentralregion zufließt, sei es etwa für Zwecke der medizinischen Versorgung, der Kulturförderung oder der Verkehrserschließung. 2. Die Aufwertung

parteipolitischer

Minderheiten

Darüber hinaus dient eine politische Dezentralisation der strukturellen Vielfalt der politischen Kräfte. Die bundesstaatliche Ordnung gibt Parteien, die i m Gesamtstaat i n der Minderheit sind, die Chance, in einzelnen Gliedstaaten die Mehrheit zu gewinnen und die Regierung zu bilden. I n ähnlicher Weise gibt auch die kommunale Selbstverwaltung solchen Parteien, die i m Staat insgesamt eine Minderheit bilden, eine Chance, in Gemeinden und Gemeindeverbänden die Mehrheit zu erringen und Verantwortung zu übernehmen. A u f diese Weise werden politische Minderheiten auf eine für sie annehmbare und damit konfliktentschärfende Weise in die demokratische Gesamtordnung einbezogen 1 4 .

12 Vgl. H. Lübbe, Die große und die kleine Welt, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, 1985, S. 197 ff. .. ι 3 G. Héraud, Ethnischer Föderalismus, in: F. Esterbauer / G. Héraud/P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, 1977, S. 73 ff. 14 F. Ronneberger, Föderative Politik als Handlungssystem, in: Festschr. f. H. U. Scupin, 1973, S. 314; Esterbauer / Thöni (Fn. 4), S. 44; Brohm (Fn. 4), S. 294.

IV. Sonstige Vorteile politischer Dezentralisation

237

I V . Sonstige Vorteile politischer Dezentralisation 1. Schaffung politischer

Kontrollen

Die Verteilung der Regelungsaufgaben und -befugnisse auf verschiedene regionale Ebenen wirkt vor allem einer Machtkonzentration bei Zentralinstanzen entgegen und bringt eine Machtverteilung mit sich. Insbesondere die bundesstaatliche Aufteilung der Kompetenzen zwischen den Zentralorganen des Gesamtstaates und den Organen der Gliedstaaten wurde gezielt als Instrument einer „föderativen Gewaltenbalance" eingesetzt. Wegbereitend dafür waren die Erwägungen zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. 1 5 Dort fand sich die Einsicht, daß die Zentralinstanzen des Bundes eines Gegengewichts i n Gestalt der Gliedstaaten bedürfen, daß sie aber selbst wiederum eine Kontrolle gegen den Gruppenegoismus üben sollen, der sich oft i n den kleineren politischen Einheiten breit macht. 1 6 I m modernen Parteienstaat kann auf diese Weise insbesondere ein Korrektiv gegen die parteipolitische Verkrustung einzelner Länder gewonnen werden. Selbst gegen die „ K i r c h t u r m p o l i t i k " und den „Kantönligeist" der kleineren politischen Einheiten 1 7 biejet die Notwendigkeit, sich in größere politische Zusammenhänge einzufügen, ein heilsames Gegengewicht. 2. Gewinnung

von Sachnähe und Flexibilität

Eine wichtige Komponente des politischen Geschehens i n föderativen Zusammenschlüssen ist der Kompromiß, die kooperative Konfliktsbereinigung: Fortwährend müssen die supranationalen Organe und die nationalen Regierungen sich immer von neuem aufeinander einstellen und verständigen, ebenso wie es i m Bundesstaat die Zentralorgane und die Organe der Länder (oder deren zentrale Repräsentanz) tun müssen 1 8 . So ist die föderative Ordnung in spezifischer Weise offen für eine gegenseitige Koordination, die sich auch auf künftige Bedürfnisse und eine künftige Situation einzustellen vermag. Durch die Vielfalt politischer Entscheidungseinheiten vergrößert sich so auch die Fähigkeit des politischen Gesamtsystems, „sachnah" auf regional verschiedene Bedürfnisse zu reagieren und sich hierbei auch einem sozialen Wandel in differenzierter Weise anzupassen. Hierdurch w i r d die Verarbeitung der hochkomplexen Probleme einer Industriegesellschaft sachgemäß verteilt. Das verhindert insbesondere einen Problemstau bei den Zentralinstanzen, der zur Entstehung von Mammutbehörden und damit zu hochspezialisierten, sach- und bürgerfernen,

15 Federalist , Nrn. 31 und 51; vgl. E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, 3. Aufl. 1976, S. 104 ff.; s. auch BVerfGE 55, 318 f. 16 Federalist , Nr. 10. π Vgl. Kägi (Fn. 3), S. 187 f. ι» Loebenstein (Fn. 3), S. 865.

238

Kap. 20: Die Modernität des Föderalismus

„bürokratischen" Entscheidungen und zu starken Verzögerungen der Entscheidungen führt. 1 9 3. Gewinnung

begrenzter

„Experimentierfelder

"

Die politische Dezentralisation erleichtert es auch, in örtlicher Begrenzung und daher m i t vermindertem Risiko für den Gesamtstaat, neue Ordnungsmodelle (ζ. B. i m Hochschulbereich) zu erproben, Erfahrungen zu sammeln und zu allgemeiner Verwertung zur Verfügung zu stellen; mehr noch, sie bietet geradezu Anreize zu einem „Wettstreit . . . um bessere Lösungen, u m eine rationellere, den Bedürfnissen und Vorstellungen der Bürger bçsser entsprechende P o l i t i k " 2 0 . I n personeller Hinsicht können die kleineren politischen Einheiten als „Schule der P o l i t i k " dienen, i n welcher Politiker Verwaltungs- und Regierungserfahrung sammeln und in der sie selbst auf ihre Eignung geprüft werden können. A u f diese Weise bieten insbesondere Regierungsämter der Länder und Spitzenpositionen der Kommunalverwaltung ein geeignetes Rekrutierungsfeld für die hohen Staatsämter des Bundes 2 1 .

V . Nachteile des föderativen Systems Den Vorteilen des föderativen Systems stehen aber auch Nachteile gegenüber: Die Föderalismuskritik betont vor allem die Gefahren für die (abstrakt-normative) Rechtseinheit und für die Konformität des Verwaltungshandelns, auch Erschwernisse für die Wahrnehmung grenzüberschreitender Aufgaben, wie ζ. B. der Verbrechensverfolgung, und bei Kompetenzaufspaltungen auch die Gefahr einer Zersplitterung der politischen Verantwortung 2 2 . Ferner können i m Bundesstaat Länderkompetenzen und die Einflußmöglichkeiten der Landesregierungen auf den Bundesrat zu parteipolitischen Zwecken entfremdet werden: Nach der Absicht des Grundgesetzes sind die Länderkompetenzen und die Zuständigkeiten des von den Landesregierungen bestellten und gelenkten Bundesrates dazu bestimmt, Länderinteressen wahrzunehmen. I m Parteienstaat können sie aber statt dessen auch dazu benutzt werden, parteipolitische Opposition gegen die Bundesregierung zu betreiben, eine Gefahr, die man mit dem Schlagwort v o m „Parteienbundesstaat" 23 bezeichnet hat.

19 Kopp (Fn. 8), S. 73 ff.; ähnlich schon Oates (Fn. 9), S. 21; Esterbauer/Thöni (Fn. 4), S. 30 ff. 20 Vgl. Kopp (Fn. 8), S. 87, 92. 21 Vgl. Ronneberger (Fn. 14), S. 318; Brohm (Fn. 4), S. 294. 22 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, §§ 23 III, 31 I I 2. 23 Der Begriff des „Parteienbundesstaates" wurde von C. Bilfinger, Exekution, Diktatur und Föderalismus, DJZ 1932, Sp. 1018, geprägt. Für die BRD wurde er aufgegriffen

VI. Systemtheoretische Aspekte

239

Nicht nur als Nachteil ist es zu sehen, daß dort, wo kooperative Techniken Platz greifen, Interessenkonflikte und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Ländern und zwischen Bund und Ländern durch das umständliche und aufwendige Aushandeln von Kompromissen bereinigt werden müssen. Aus ähnlichen Gründen funktioniert auch die von einer Vielzahl pluralistischer Kräfte und einer Mehrzahl politischer Parteien bewegte Demokratie schwerfälliger als ein Einparteienstaat m i t starker Zentralgewalt. Aber die Mühe einer möglichst bürgernahen Kompromißsuche und des einvernehmlichen Interessenausgleichs w i r d dadurch aufgewogen, daß Konflikte nicht unterdrückt werden, sondern das Höchstmaß an erreichbarem Konsens erstrebt wird, so daß das Gesamtsystem und dessen Ergebnisse auf Dauer von den meisten akzeptiert werden können. 2 4 Daher erweist sich die Konfliktsbereinigung durch das Aushandeln von Kompromissen vielfach als lebenskräftiger und dauerhafter als der erzwungene Zusammenhalt partikulärer Kräfte in einem Einheitsstaat. Als Nachteil dieser Form des Interessenausgleichs bleibt aber die Gefahr des bequemsten Kompromisses und eine gewisse Neigung zum Immobilismus bestehen.

V I . Systemtheoretische Aspekte 1. Ein Modell

abgestufter

Konfliktsbereinigung

Wesentliche Züge des hier dargestellten Verfassungsprozesses föderativer Ordnungen lassen sich in einem M o d e l l abgestufter Konfliktsbereinigung zusammenfassen: I m Staat und in der Völkergemeinschaft kommen die individuellen Interessen und Meinungen regelmäßig nicht „unvermittelt" zu gesamtgesellschaftlicher, politischer Wirkung, sondern werden vororganisiert und vorverarbeitet. A l s Einheiten solcher stufenweisen Abarbeitung von Interessengegensätzen kommen neben den Interessentenverbänden auch die regionalen Ebenen — von den Gemeinden, Landkreisen und Bezirken bis zu den internationalen Organisationen — in Betracht. Die staatliche und die internationale Regulierung von Interessenkonflikten vollzieht sich in einem abgestuften Zusammenspiel von Teilsystemen verschiedener Ebenen. 2 5 So werden auch auf verschiedenen territorialen Stufen kommunale, regionale, gliedstaatliche, nationale und supranationale Interessen geklärt, i n Beziehung zueinander gesetzt und zu einem Kompromiß gebracht. Nach dem Prinzip des von W. Weber, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 3. Aufl. 1970, S. 64. Empirische Nachweise und Problemdiskussion in: G. Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat, 1976, S. 125 ff., 133 ff. Vgl. F. Kinsky, Integraler Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, in: Esterbauer/Thöni (Fn. 4), S. 65 f. 25 F. Esterbauer, Föderalismus als Mittel permanenter Konfliktregelung, 1977.

240

Kap. 20: Die Modernität des Föderalismus

„örtlichen Wirkungskreises" soll hierbei jede territoriale Einheit jene Regelungen und Vorsorgen selbstverantwortlich treffen, die nur oder doch vorwiegend ihren eigenen Wirkungskreis angehen: die also keine schutzwürdigen und erheblichen überregionalen Interessen berühren — weder durch ihre Auswirkungen, noch durch die beanspruchten Ressourcen — und insbesondere kein vorrangiges Interesse an der Rechtseinheit beeinträchtigen. Überregional erhebliche Interessen und Interessenkonflikte sollen auf derjenigen Ebene abgeklärt und zu einem Kompromiß gebracht werden, die der Reichweite dieser Interessen entspricht. 2 6 Dieses Kooperationsmuster gilt nicht nur für die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Gliedstaaten. Es ist zweckmäßigerweise auch der Leitgedanke, nach welchem innerhalb der Gliedstaaten Selbstverwaltungsaufgaben den Gebietskörperschaften verschiedener Ebenen zugewiesen werden. 2. Insbesondere die sachgerechte Verteilung der Problem- und Informationsverarbeitung Indem man ein ausgewogenes Verhältnis zwischen einer Selbststeuerung der Teileinheiten und einer zentralen Steuerung sucht, macht man Gebrauch von einer Einsicht, die allgemein für informationsverarbeitende Systeme gilt: E i n Höchstmaß an Stabilität, Anpassungs- und Verarbeitungskapazität ist solchen Systemen zu eigen, deren Teile durch ein zentrales Regelungssystem zwar koordiniert, aber nicht starr verkoppelt sind: Zwischen dem völligen Fehlen einer zentralen Systemregulierung und einer totalen zentralisierten Systemsteuerung ist ein Optimum zu suchen 2 7 . Es müssen also Subsysteme existieren, die mit einer begrenzten Selbstregelungskapazität oder Autonomie ausgestattet sind, kraft deren sie einen Teil der Einflüsse, insbesondere der Informationen, denen das Gesamtsystem ausgesetzt ist, selbst verarbeiten können; kraft deren sie aber auch die Möglichkeit haben, sich i n begrenztem Umfang untereinander abzustimmen. Selbst die erforderlichen koordinierenden Funktionen sind oft nicht i n optimaler Weise von einer Zentralinstanz zu übernehmen, sondern zweckmäßigerweise von einem hierarchischen Gefüge von Instanzen (etwa des Bundes, der Länder, der Regierungsbezirke und der Landkreise), in welchem Teilkoordinationen durch Zwischenzentren bewirkt werden, die dem Hauptzentrum nachgeordnet sind. A u c h unter diesem Aspekt erscheinen also keine radikalen Lösungen erstrebenswert. Vielmehr ist ein ausgewogener Kompromiß zwischen den Vorzügen einer Dezentralisation und den Notwendigkeiten und Vorteilen einer Gesamtordnung anzustreben. Einer zentralisierten Sachbehandlung wird man dort zuneigen, 26 Vgl. Oates (Fn. 9), S. 24. 27 W. R. Ashby, Design for a Brain, 2. Aufl. 1960/1976, 156 ff., 205 ff.; speziell zur erhöhten Problemverarbeitungskapazität föderativer Systeme: Ronneberger (Fn. 14), S. 313.

VI. Systemtheoretische Aspekte

241

wo Bedürfnisse nach normativer Rechtseinheit, nach einer Befriedigung überregionaler Interessen oder nach einer Regelung überregionaler Interessenkonflikte i m Vordergrund stehen, während andererseits die Besonderheiten einer konkreten Situation eher durch eine sachnahe, dezentralisierte Verwaltung hinreichend berücksichtigt werden können. 2 8 I m einzelnen müssen die optimale Struktur und der optimale Grad der Dezentralisation durch Erfahrung ermittelt werden. 2 9

28 Kopp (Fn. 8), S. 108 ff.; Zippelius (Fn. 22), § 141 3. 29 A. Benz, Föderalismus als dynamisches System, 1985, S. 250 ff. 16 Zippelius

Kapitel

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Das Berufsbeamtentum als „neutrale Gewalt" I . Der Interessenpluralismus und die Aufgabe eines gerechten Interessenausgleichs 1 Ein Staat funktioniert als „materielle Demokratie" vor allem dadurch, daß die verschiedenen, i n der Gesellschaft vorhandenen Interessen und Meinungen der einzelnen Bürger eine Chance erhalten, sich zur Geltung zu bringen. Z u diesem Zweck versuchen sie insbesondere, auf die verbindlichen Regelungen der Staatsgewalt Einfluß zu gewinnen. Da die Interessen und Meinungen einander oft widerstreiten und diese Widersprüche sich faktisch nicht aus der W e l t schaffen lassen, soll durch Diskussion und Konkurrenz ein Kompromiß zwischen den verschiedenen Interessen und Auffassungen angebahnt werden. So erscheint der Kompromiß als Lebensform der materiellen Demokratie und das Gemeinwohl als Ergebnis dialogisch geführter Auseinandersetzungen. Es gehört aber auch zu den Binsenwahrheiten politischer Einsicht, daß die in der Gemeinschaft vorhandenen Interessen nicht immer „verhältnismäßig", entprechend der Zahl der Interessenten und gemäß dem Grad ihrer Interessiertheit, zur Geltung gebracht werden. Schuld daran trägt vor allem die Organisierung der Interessen, die einerseits zur „ A r t i k u l a t i o n " der Interessen und Meinungen unentbehrlich ist, andererseits aber die Gefahr birgt, daß die Bestorganisierten, die Aktivsten, die ökonomisch Leistungsfähigsten einen Einfluß gewinnen, der außer Verhältnis zu ihrem tatsächlichen A n t e i l an der Gesamtheit der vorhandenen Interessen und Meinungen steht. So bringt das pluralistische „System der Bedürfnisse" ganz von selbst die Aufgabe hervor, für einen gerechten Ausgleich der Interessen zu sorgen. Dieser Zusammenhang ist — von sehr verschiedenen Ansatzpunkten aus und mit einem sehr unterschiedlichen Begriffsinstrumentarium, in der wesentlichen Einsicht jedoch übereinstimmend — immer wieder gesehen worden. So ist etwa die Interessenjurisprudenz sehr rasch über den Ansatz hinausgelangt, die Gesetze seien „die Resultanten der i n jeder Rechtsgemeinschaft einander gegenübertretenden und um Anerkennung ringenden Interessen" 2 ; gerade sie hat ι Näher zum Folgenden R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 26 II, V, § 27, m. w. Nachw.

II. Ausdifferenzierung zwischen „staatlichen" und „gesellschaftlichen" Rollen 243 auch das Problem und die Aufgabe einer gerechten Interessenabwägung in den Vordergrund gerückt. Früher und grundsätzlicher ist in der Lehre von „Staat und Gesellschaft" die Notwendigkeit gesehen worden, daß gegenüber dem „System der Bedürfnisse" eine regulierende Instanz bestehe, die nicht nur für eine formale Kanalisierung und Koordination der in der Gesellschaft vorhandenen Interessen sorgt, sondern auch deren gerechten Ausgleich gewährleistet. Diese Dialektik hat i m wesentlichen schon Hegel erfaßt: i n der Gegenüberstellung der Gesellschaft, als des Systems der Bedürfnisse, und des Staates, als einer sittlichen Institution. 3 Eine etwas andere Fassung des Problems findet sich in der Staatstheorie Lorenz von Steins: i n der Unterscheidung der Gesellschaft, als des Reiches der Sonderinteressen, und des Staates, als der Einheit des Willens aller Einzelnen, in der alle zu gleicher Freiheit erhoben werden; Prinzip des Staates sei nicht die Unterwerfung der einen unter die Sonderinteressen der anderen, sondern „die Erhebung aller einzelnen . . . zur vollsten persönlichen E n t w i c k l u n g " . 4 A u c h wer davon ausgeht, daß das Gemeinwohl in der Demokratie nicht etwas Fertiges, sondern weithin erst das Ergebnis von Auseinandersetzungen und K o m promissen ist, kommt an der Frage und der Aufgabe der Gerechtigkeit nicht vorbei 5 : I m Prozeß des Interessenausgleichs soll „Verfahrensgerechtigkeit" gewahrt werden: Es sollen Chancengleichheit und öffentliche Kontrolle der Interessenverwirklichung gewährleistet sein. Darüber hinaus besteht die Forderung, die kollidierenden Interessen „angemessen" gegeneinander abzuwägen und abzugrenzen, d. h. nach dem Maßstab von Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der Rechtsgemeinschaft für die Mehrheit konsensfähig sind. 6

I I . Die Ausdifferenzierung der „staatlichen 64 gegenüber den „gesellschaftlichen" Rollen A u c h für das moderne Staatsverständnis bleibt also die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft sinnvoll, sofern m i t ihr eine differenzierende Beschreibung „staatlicher" und „gesellschaftlicher" Funktionen und Rollen angestrebt wird. Für den staatlichen Funktionsbereich und die staatlichen Rollen, zumal für die staatlichen Regelungsaufgaben gelten andere Handlungsmaximen als für den gesellschaftlichen Bereich: Während etwa der Geschäftsmann in seiner gesell2 Ph. Heck, AcP 112 (1914), S. 17; ein ähnliches Bild bei H Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 22. 3 G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie, §§ 257 ff. 4 L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 1850, Einleitung I I 2, 3. 5 Auch E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, 5. Aufl. 1973, S. 21, spricht von einem Ausgleich, „der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht". 6 Dazu unten Kap. 35 I I 4, 5. 16*

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Kap. 21: Das Berufsbeamtentum als „neutrale Gewalt"

schaftlichen Rolle eigene und fremde Sonderinteressen verfolgen darf, solange er die v o m Recht gezogenen Grenzen einhält, darf niemand legitimerweise i n der staatlichen Rolle als Parlamentsmitglied, Beamter oder Richter Sonderinteressen gegenüber gleichrangigen Interessen bevorzugen. Dieser Grundsatz soll für die Parlamentsmitglieder durch das Prinzip der auftragsfreien Repräsentation (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) gewährleistet werden; für die Richter und Beamten findet er seine traditionelle Ausformung vor allem i n der Pflicht zu Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit. Dieser Rollendefinition entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht das Berufsbeamtentum als eine Institution bezeichnet, „die, gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyale Pflichterfüllung, . . . einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen s o l l " . 7 Die hiernach gebotene Ausdifferenzierung 8 läßt sich aber nicht für alle staatlichen Funktionsbereiche gleich wirksam durchführen. Die Parteien und damit auch die Parlamentarier bilden nach der heutigen Verfassungspraxis das wichtigste und auch unentbehrliche Gelenk, das die in Verbänden organisierten Interessen in den politischen Prozeß, insbesondere in die Gesetzesberatungen und Gesetzesbeschlüsse hinein vermittelt. So läßt sich die Rolle des Parlamentariers nicht i n gleichem Maße von interessengebundenen Rollen (ζ. B. in einer Gewerkschaft, einem Bauernverband, einer Kirche) trennen, wie das bei der Rolle eines Beamten oder Richters geschehen kann. U m so dringlicher ist es, solche Funktionsbereiche, die sich ausdifferenzieren lassen, so weit wie möglich von den Einflüssen einzelner Interessentengruppen unabhängig zu machen. Das gilt besonders für die Gerichtsbarkeit und die Bürokratie, die sich als Sachwalter unparteiischen Interessenausgleichs einsetzen lassen. Es gilt vor allem auch für die Ministerialbürokratie, die durch die sachkundige Mitplanung der Regierungsgeschäfte und durch die Vorbereitung von Gesetzentwürfen an den zentralen Regelungsprozessen des Gemeinwesens maßgebend beteiligt ist. Wegen der verhältnismäßig wirksamen Ausdifferenzierbarkeit der Bürokratie spielt diese auch i m System der realen Gewaltenbalance eine wichtige Rolle. Das Montesquieusche M o d e l l der organisatorischen Gewaltenteilung funktioniert i n der gegenwärtigen parlamentarischen Demokratie nur höchst unzureichend: denn die stärkste politische Partei oder Parteienkoalition stellt die Regierung und die Mehrheit i m Parlament und beherrscht auf diese Weise beide Organe; der parteiliche „ Ü b e r g r i f f 4 schwächt die Balance zwischen Regierung und Parlament ganz entscheidend. Wenn aber die Bürokratie parteipolitisch neutral gehalten wird, kommt mit ihr faktisch ein Element von beträchtlichem Eigengewicht ins Spiel: Die Minister sind in ihren Entscheidungen weitgehend auf die sachkundige 7 BVerfGE 7, 162. 8 Zur Lehre vom pouvoir neutre vgl. die Nachweise bei W. Wiese, Der Staatsdienst in der BRD, 1972, S. 187.

III. Institutionelle Garantien der Ausdifferenzierung

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Beratung der Ministerialbürokratie angewiesen. V o r allem aber übt diese durch Vorbereitung von Gesetzentwürfen, die verfassungsrechtlich eine bloße Hilfsfunktion darstellt, tatsächlich einen ganz erheblichen Einfluß auf den Inhalt des künftigen Rechts aus, weil ein sachkundiger und juristisch durchdachter Gesetzentwurf ein starkes sachliches Eigengewicht besitzt. Die bürokratische Macht des Sachverstandes einerseits und der politische Gestaltungswille der Regierung und des Parlaments andererseits bringen auf diese Weise eine Gewaltenbalance zustande, i n der die wesentliche Zäsur unterhalb der Kabinettsebene verläuft. Die Freihaltung der Bürokratie von Einflüssen spezifischer Interessen und Meinungen, einschließlich solcher der politischen Parteien, dient also nicht nur einem unbefangenen Interessenausgleich, sondern bringt auch einen wichtigen eigenständigen Faktor in das politische Kräftespiel ein. So ergibt sich geradezu trivialerweise das Erfordernis, die Rolle der Bürokraten nicht mit Rollen in einer politischen Partei, einem Interessentenverband, einer Kirche oder einer sonstigen Einflußgruppe zu verquicken, die besonderen Interessen oder Auffassungen verpflichtet ist. Da aber auch i n diesem Punkte die staatliche Praxis keineswegs das Selbstverständliche selbstverständlich tut, ist es heute nachgerade zu einem staatspolitischen Anliegen geworden, eine streng funktionsbezogene Auslese der Beamten — wie auch der Richter — , insbesondere der bürokratischen Elite zu fordern. Das bedeutet eine strikte Rückkehr der Praxis zu den Grundsätzen des Art. 33 GG, nämlich zu einer Auslese, die sich nur an nachprüfbare Kriterien persönlicher Eignung und fachlicher Befähigung und Leistung hält. Ausdifferenzierung, Sicherung von Unabhängigkeit und Unbefangenheit ist nach dem Gesagten jedenfalls für jene Amtsträger zu fordern, die regelnde, schlichtende, richtende Funktionen ausüben oder sie vorbereiten. Diese Forderung gilt auch für Forschung und Lehre an öffentlichen Bildungseinrichtungen. Ob sie aus anderen Gründen auch auf die Gehilfen all der untergeordneten Dienstleistungen zu erstrecken ist, die der moderne Sozial- und Versorgungsstaat anbietet, kann unter den hier untersuchten politischen Aspekten dahingestellt bleiben. 9

I I I . Institutionelle Garantien der Ausdifferenzierung Die Unbefangenheit und Unparteilichkeit der Bürokratie muß — ebenso wie die der Gerichtsbarkeit — institutionell gesichert werden. Es liegt schon i m Interesse der Unabhängigkeit, wenn die Staatsbediensteten traditionellerweise ihr A m t als Hauptberuf ausüben, für den sie angemessene Besoldung und Versorgung beziehen, die sie der Sorge für den eigenen Lebensbedarf enthebt, und neben dem sie keinen Beschäftigungen nachgehen dürfen, die Interessenbindungen m i t sich bringen. Dieser Pflicht zum vollen Engagement für den öffentlichen 9 Vgl. dazu W. Leisner, Grundlagen des Berufsbeamtentums, 1971, S. 49 ff.

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Dienst entspricht i m günstigen Fall ein — horribile dictu — elitäres Pflichtgefühl der Beamten, das den Hauptzweck des persönlichen Engagements in der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe sieht. Einer Sicherung der Unabhängigkeit dient es, die Beamten auf Lebenszeit zu ernennen, so daß sie weder nach Ermessen aus ihrem A m t entfernt werden können 1 0 , noch auch, wie die Wahlbeamten auf Zeit, ständig auf solche Gruppen Rücksicht nehmen müssen, die ihre Wiederbestellung beeinflussen können. Zugleich gewinnt man durch das Lebenszeitprinzip in der Bürokratie einen Faktor der Kontinuität und Stabilität 1 1 , der i m Wandel der Partei- und Parlamentsmehrheiten und i m Wechsel der Kabinette ein Hort der Sachkunde und Diensterfahrung ist, langfristige Planungen auch über eine Legislaturperiode hinaus konsequent verwirklichen kann und der gewährleistet, daß der Staat auch eine Folge von Kabinettskrisen überstehen kann, ohne desorganisiert zu werden. Diese rechtsstaatlichen und politischen Vorteile des Lebenszeitprinzips — die Sicherung der Unabhängigkeit und die Schaffung eines stabilen Sektors staatlicher Wirksamkeit — verlangen gewisse Einschränkungen des demokratischen Rigorismus: Es muß für diesen Funktionsbereich die Forderung zurückgestellt werden, daß alle Inhaber eines staatlichen Amtes periodisch einer demokratischen Bestätigung i m Amte bedürfen sollen. Die Unbefangenheit der Amtsführung ist auch dadurch zu sichern, daß man die Dienstverhältnisse der Beamten nicht zum Objekt organisierter Interessenkämpfe macht. Würde die Wahrung persönlicher Interessen der Beamten Verbänden und damit einem Arrangement ausgeliefert, das von den Zufälligkeiten eines nur zweiseitigen Kräfteverhältnisses bestimmt wird, bestünde die Gefahr, daß die Beamtenschaft i n die Praxis und Mentalität des Interessenkampfes hineingezogen würde. Darum sollten Dienstpflichten und Besoldung auch weiterhin durch Gesetze geregelt werden, und das heißt: unter Beteiligung aller i m Parlament vertretenen Kräfte und i m vollen Lichte der Öffentlichkeit. Übrigens verband sich m i t der klassischen Lehre v o m Beamten Verhältnis als öffentlich-rechtlichem Dienst- und Treueverhältnis von Anfang an die Vorstellung: solche Dienstverhältnisse dürften nicht der vertraglichen Disposition der Beteiligten ausgeliefert werden. 1 2 Die Unabhängigkeit der Bürokraten erfordert es auch, sie nach dem Leistungsp r i n z i p 1 3 auszulesen. Dieses Prinzip dient nicht nur der Leistungsfähigkeit der Bürokratie, sondern als „objektives", funktionsbezogenes Auswahlkriterium auch einer Ausschaltung von Interessenteneinflüssen. Die zunehmende Entwicklung io BVerfGE 8, 352; die folgenden Ausführungen nach Zippelius (Fn. 1), § 37 I I I 2. u Dazu Leisner (Fn. 9), S. 15, 18 f. 12 N. Th. Gönner, Der Staatsdienst, 1808, § 29; zur neueren Diskussion vgl. W. Schick, in: E. Forsthoff u. a., Verfassungsrechtliche Grenzen einer Reform des öffentl. Dienstrechts, 1973, S. 246 ff. m. w. Nachw. 13 Nachw. bei Wiese (Fn. 8), S. 214 ff.

III. Institutionelle Garantien der Ausdifferenzierung

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des Gemeinwesens zum „GefälligkeitsStaat" 1 4 und der damit zusammenhängende Zug zur Ämterpatronage gebieten es, zu einer streng funktionsbezogenen Auslese zurückzukehren: nicht nur für die Einstellung i n den Staatsdienst, sondern auch für den Aufstieg i n Spitzenpositionen. Nur dann schwindet für die Beamten die Versuchung, mit einflußreichen Gruppen zu paktieren, um die eigenen Chancen zu verbessern. Solange nicht institutionell gesichert ist, daß die Beamten strikte nach ihrer Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung befördert werden, wie die Verfassung es gebietet, ist auch der Lebenszeitbeamte nicht innerlich frei gegenüber den Zumutungen an seine Parteilichkeit — oder er ist es jedenfalls erst dann, wenn er keine Beförderung mehr erhoffen kann und keine Versetzung mehr zu befürchten braucht. Relativ leicht ist der Zutritt zu den Eingangsstellen des Staatsdienstes nach funktionsbezogenen Auswahlkriterien zu regulieren. Bei den juristischen „Staatskonkursen" finden zentrale Prüfungen m i t Wettbewerbscharakter statt, i n deren schriftlichem T e i l die Prüflinge anonym bleiben und deren mündlicher Teil öffentlich und unter der Kontrolle von Mitprüfern stattfindet. Die offenen Ämter der Eingangsstufe werden nach der durch die Prüfungsergebnisse ausgewiesenen fachlichen Befähigung verteilt. Das geschieht unter der — oft bestätigten — Annahme, daß in der Regel die Berufsleistung der Examensleistung entspricht: Eine Schematisierung der Auslese aufgrund von Prüfungen kann w o h l i n Ausnahmefällen zu Fehlbesetzungen führen. Aufs große Ganze gesehen bringt sie aber die bestgeeigneten Funktionäre in die leitenden Positionen, vorausgesetzt, daß das Prüfungssystem die geeigneten Beurteilungskriterien zugrundelegt und insbesondere auf die Auffassungsgabe, den „Überblick", die Urteilskraft, das Kritikvermögen und die Fähigkeit zu klaren Aussagen abstellt. Die Ämterverteilung nach Examensleistungen ist am strengsten formalisiert, wenn die Kandidaten i n der Reihenfolge ihrer Qualifikation die offenen Stellen zur Auswahl angeboten erhalten, wie in Frankreich die Absolventen der angesehenen Ecole Nationale d ' A d m i nistration; die Ämtervergabe vollzieht sich i n hinreichend objektiver Weise auch unter dem Regulativ des Gleichheitsgrundsatzes, wonach in den einzelnen Zweigen des Staatsdienstes kein Bewerber einem gleich gut oder besser qualifizierten Bewerber vorgezogen werden darf — so die Verwaltungspraxis i n der Bundesrepublik. Schwieriger ist es, auch den Aufstieg i n der Bürokratie nach überprüfbaren Kriterien funktionsbezogener Eignung, Befähigung und Leistung zu regeln. Z u diesem Zweck hatte man z. B. in Bayern, wie i n anderen Ländern der amerikanischen Besatzungszone, gesetzlich bestimmt, daß auch die Beförderungen der Beamten auf Grund von Prüfungen m i t Wettbewerbscharakter stattzufinden hätten. 1 5 Diese Vorschriften sind durch die Bürokratie von Anfang an sabotiert 14 Th. Eschenburg, Herrschaft der Verbände?, 2. Aufl. 1963, S. 32. ι 5 Art. 57, 58, 65 des Bay. Beamtengesetzes vom 28. 10. 1946; s. dazu auch C. Leusser/E. Gerner / K. Kruis, Bayerisches Beamtengesetz, 2. Aufl. 1970, Art. 105 Anm. 1.

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Kap. 21: Das Berufsbeamtentum als „neutrale Gewalt"

worden (eines der seltenen Beispiele dafür, daß ein Gesetz von seinem Inkrafttreten an obsolet wurde). Die Bürokratie hat die Vorrückungsprüfungen offensichtlich für unzumutbar und ungeeignet gehalten; letzteres nicht ganz zu Unrecht; denn es ist in der Tat schwierig, wenn nicht unmöglich, auch die charakterlichen Qualitäten, die für Führungspositionen unerläßlich sind, „ o b j e k t i v " durch Prüfungen mitzuerfassen. 16 So bleibt die Aufgabe, nach anderen Garantien einer funktionsbezogenen Auslese und anderen Abschirmungen gegen sachfremde Einflüsse zu suchen. M a n könnte an eine verstärkte Kooptation i n einer politisch neutralen bürokratischen Elite denken, etwa derart, daß ein Ausschuß von Spitzenbürokraten (ζ. B. von Ministerialdirektoren) Vorschlagslisten für die Besetzung bürokratischer Führungsposten erarbeitet, aus denen dann — ähnlich wie aus den Berufungslisten der Fakultäten — die zu Ernennenden zu entnehmen wären. Hingegen haben die bisherigen Funktionen der Personalämter und Personalausschüsse 17 nicht i m erforderlichen Ausmaß dazu beigetragen, die Elitenbildung zu versachlichen. Eine Minimallösung bietet die von seriösen Ministerien zu erwartende Praxis, daß in bürokratische Spitzenpositionen jedenfalls nicht berufen wird, wer kein Spitzenexamen abgelegt, sagen wir etwa, sich nicht unter den ersten fünf Prozent seines Examensjahrganges befunden hat. Die Barriere einer solchen „Ministerialnote" schließt zwar Opportunismus nicht aus, bringt aber wenigstens die fachliche Qualifikation angemessen mit zur Geltung. Es w i r d immer schwierig bleiben, eine Versachlichung der Bürokratenkarriere institutionell zu gewährleisten. U m so wichtiger ist es, gravierende sachfremde Einflüsse so weit wie möglich auszuschalten. Damit ist eines der Hauptärgernisse unseres Staates angesprochen, das m i t den Stichworten Ämterpatronage, Parteibuchkarrieren, Gewerkschafts-, Kirchen- oder Verbandsprotektionen bezeichnet i s t . 1 8 Es gilt, wieder eine schärfere Rollentrennung durchzusetzen. Es stellt sich die Forderung nach weitgehender Inkompatibilität der Beamtenrolle m i t Rollen nicht nur in anderen staatlichen, sondern auch in gesellschaftlichen Machtbereichen. Die Inkompatibilität gewinnt dadurch eine Bedeutung, die weit über das Feld hinausreicht, auf das man sich herkömmlicherweise beschränkt. Zur Ausdifferenzierung der Beamtenrolle dient nicht zuletzt der Grundsatz der parteipolitischen Neutralität der Beamten. 1 9 § 52 B B G und § 35 B R R G enthalten diesen Grundsatz in Form der treuherzigen Versicherung: „Der Beamte dient dem ganzen V o l k , nicht einer Partei." Pragmatischer und wirksamer sorgten auch in diesem Punkte die Briten vor, nach deren Verwaltungspraxis ein parteipolitisches Engagement dem Staatsbediensteten eher schadet als nützt (wenn man den Berichten glauben darf) und nach deren Recht den höheren Bediensteten

16 π is 19

Vgl. auch Wiese (Fn. 8), S. 223 ff. Vgl. Wiese (Fn. 8), S. 255 f. Nachw. bei Wiese (Fn. 8), S. 239 ff., ferner oben Kap. 18 I I 1 und 19 I I 1. Vgl. dazu Wiese (Fn. 8), S. 179 ff., 254 f., m. Nachw.

III. Institutionelle Garantien der Ausdifferenzierung

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eine parteipolitische Betätigung auf nationaler Ebene untersagt i s t . 2 0 Bezeichnend für die parteipolitische Neutralisierung der englischen Spitzenbürokraten ist auch die Tatsache, daß derjenige Sekretär des Schatzamtes, der den C i v i l Service dirigiert, sein A m t über den Wechsel der Kabinette hinweg behält. 2 1 Dieses Herauslösen der Bürokratie aus parteilichem Engagement und Einfluß muß weder die gute Zusammenarbeit mit den Ministern, noch die gegenseitige Achtung beeinträchtigen. 2 2 Nicht ohne Stolz berichtete Clement Attlee aus seiner Amtsz e i t 2 3 : Das erste, was ein Minister feststelle, sei, daß er sich auf die Loyalität seiner Beamten absolut verlassen könne, und wenn er sein A m t aufgebe, sei er nicht in der Lage, zu sagen, welches die privaten politischen Ansichten selbst derer seien, m i t denen er am meisten zusammengearbeitet habe. Der englische Beamte, so schließt der Politiker, dürfe überzeugt sein, „ T e i l einer Beamtenschaft zu sein, die ihresgleichen i n der Welt nicht hat" — eine Aussage, die immerhin zeigt, daß auch aus der Sicht des Politikers die Schätzbarkeit des Beamten nicht durch dessen parteipolitische Neutralität leiden muß.

20 Vgl. Eschenburg (Fn. 14), S. 11; D. Tsatsos, Die parlamentarische Betätigung von öffentlichen Bediensteten, 1970, S. 46 f.; Wiese (Fn. 8), S. 254, m. w. Nachw. 21 K. Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien, I 1967, S. 469 f. 22 Wie ich in den Jahren 1956-1963 auch noch im bayerischen Ministerialdienst beobachten konnte. Nachträgliche Einfügung. 23 Zit. nach Eschenburg (Fn. 14), S. 11; vgl. auch H. Morrison, Regierung und Parlament in England, deutsch 1966, S. 423 ff., 443 ff.; Loewenstein (Fn. 21), S. 468 f., 473 f.

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Kontrolle der Meinungsmacht I . Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit Es gehört zu den Alpträumen der Demokratie, daß ihr die Freiheit auf leisen Sohlen gestohlen wird. Die „spontanen" Akklamationen von achtundneunzig Prozent der Regierten, welche die Führer totalitärer Staaten auslösen konnten, haben hellhörig gemacht für die Psychagogen, die Seelenlenker und Weltbilderfinder, die unter freiheitlichen Verfassungsformeln Völker unfrei machten, die es gelernt hatten, Völker zu entmündigen, ohne ihnen formell das Bürgerrecht zu Wahlen und Abstimmungen zu nehmen. I n Massenpresse, Rundfunk, Fernsehen und F i l m liegen noch immer die Werkzeuge der Entmündigung bereit. Schon diese alltäglichen Überlegungen warnen davor, einer formalrechtlichen Garantie staatsbürgerlicher Rechte blind zu vertrauen. E i n formell gewährtes allgemeines, gleiches und freies Wahlrecht kann die Bürger vor relevante politische Alternativen stellen und ihnen damit ein Lenkungsmittel i n die Hand geben; es kann aber auch zur Hülse manipulierter staatsbürgerlicher Willensäußerungen werden. Hier w i r d die Spannung zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit sichtbar: Das System der Rechtsnormen ist ein Verhaltensschema, innerhalb dessen sich das Leben auf sehr verschiedene Weise entfalten kann. Die rechtlichen Möglichkeiten können auf mannigfache A r t genutzt, die v o m Recht eingeräumten Freiheiten können durch Fakten eingeengt werden: durch natürliche Gegebenheiten, durch wirtschaftliche Verhältnisse, aber auch durch eine Manipulation der Vorstellungswelt. So kann i m Zeitalter des Fernsehens und der Massenpresse die von Rechts wegen bestehende staatsbürgerlichen Befugnis, an der staatlichen Willensbildung teilzunehmen, gefährdet sein. Welche Selbständigkeit sich tatsächlich mit dem rechtlichen status activus verbindet, ist weitgehend davon bestimmt, i n welcher Weise und i n welchem Maß die öffentliche Meinung durch Massenkommunikationsmittel manipuliert wird. Die „Bilder in den Köpfen" lenken das Handeln. A l s Wähler sind w i r in unseren politischen Entscheidungen den uns zugänglichen Informationen ausgeliefert. Sind w i r falsch oder einseitig unterrichtet, so legen w i r unseren politischen Erwägungen Daten zugrunde, die unsere Entscheidungen zum Zerrbild dessen machen, was w i r bei besserer Erkenntnis der Sachlage für richtig hielten. Zudem kann unsere Einschätzung der

I. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit

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Sachverhalte dadurch beeinflußt werden, daß uns bestimmte Wertungen suggeriert werden. So kann durch konsequente Kombination solcher Manipulationen das, was der Einzelne für seine freie staatsbürgerliche Entscheidung hält, eine planmäßig gelenkte Akklamation sein. A u f die realen Schranken der Freiheit hat besonders eindringlich der Marxismus hingewiesen. So hat er nicht nur die Unzulänglichkeit einer abstrakten rechtlichen Gewährleistung der Privatautonomie angeprangert; er hat frühzeitig erkannt, wie sehr auch die demokratische Freiheit außer von ihrer formalrechtlichen Verbürgung auch von tatsächlichen Gegebenheiten abhängt, insbesondere davon, wer faktisch über die Massenkommunikationsmittel verfügt 1 — und hat sich selber dieser Erkenntnis bedient. A u c h für die westliche Verfassungslehre sind das heute Binsenwahrheiten. K a r l Loewenstein gibt ein etwas überhöhtes 2 B i l d des Sachverhalts, das aber die bestehenden Gefahren zutreffend bezeichnet: „Jetzt, wo die Masse der Machtadressaten als Wählerschaft aktiven Anteil im Machtprozeß nimmt, ist die Bildung der öffentlichen Meinung, die den Willen der Wählerschaft sowohl widerspiegelt als auch zugleich formt, der wichtigste Aspekt der Machtdynamik der heutigen pluralistischen Gesellschaft geworden. Der einzelne Wähler bezieht seine Informationen über politische und sozioökonomische Fakten — zusammen mit dem ideologischen Rüstzeug zu ihrer Beurteilung — nicht nur von . . . Regierung und Parlament, sondern in sogar weit größerem Umfang von den . . . Parteien und Interessentengruppen. . . . In der heutigen Gesellschaft sind deshalb die pluralistischen Gruppen . . . die unsichtbaren Inhaber der Macht; dazu kommen noch die Leute, die zugunsten dieser Gruppen und Interessentenverbände die Massennachrichtenmittel beherrschen und kontrollieren, durch welche die öffentliche Meinung gebildet und die Reaktion der Wähler . . . beeinflußt und gelenkt werden. Der Charakter eines politischen Systems ist infolgedessen weitgehend davon abhängig, ob der Zugang zu den Nachrichtenmitteln und deren Gebrauch unter allen Machtträgern und pluralistischen Gruppen gleichmäßig offen ist, oder ob sie in den Händen eines einzelnen Machtträgers oder einzelner privilegierter pluralistischer Gruppen konzentriert sind". 3 „In unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung redet der Leviathan mit vielen Zungen . . . Wer die Massenkommunikationsmittel beherrscht, beherrscht die Wählerschaft; wer die Wählerschaft beherrscht, beherrscht den politischen Prozeß". 4 N u n ist aber das Verhältnis zwischen Verfassungsrecht und Verfassungwirklichkeit nicht so unkompliziert, wie es zunächst scheinen könnte. Zwar kann der wirkliche Gehalt zum Beispiel des demokratischen Wahlrechts nicht kurzerhand nur aus der Verfassungsnorm entnommen werden, die dieses Recht gewährt. Andererseits bilden die begrifflichen Grenzen der Wahlrechtsgarantie aber kein rechtlich freies Tummelfeld für alle möglichen sozialen und politischen Kräfte. 1 /. Fetscher, Die Freiheit im Lichte des Marxismus-Leninismus, 4. Aufl. 1963, S. 61 f. 2 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 26 IV 2, 3. 3 K. Loewenstein, Verfassungslehre, 2. Aufl. 1969, S. 16. 4 Loewenstein (Fn. 3), S. 361.

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Kap. 22: Kontrolle der Meinungsmacht

Sondern der rechtliche Kontext, in dem diese demokratische Grundnorm steht, kann und w i r d oft Kräfte abwehren, die einer freien Bildung der politischen Meinung und Entscheidung des Bürgers i m Wege stehen. So können andere Verfassungsnormen Meinungsfreiheit und Pressevielfalt gewährleisten und eine organisierte Repräsentation von Staat und Parteien in Rundfunkanstalten verbieten, wieder andere können das Recht verbürgen, sich zu Diskussionen frei zu versammeln. A u f solche Weise kann das „Vorfeld" einer freien staatsbürgerlichen Wahl und Abstimmung rechtlich gesichert werden. Erst der Komplex von Rechtsnormen, die dieses Vorfeld ausgestalten, bestimmt über den tatsächlichen Gehalt an selbständiger und verantwortlicher Entscheidungsmöglichkeit, die der Bürger bei Teilnahme an der staatlichen Willensbildung hat; erst aus i h m ergibt sich, in welcher Weise und in welchem Umfang reale Kräfte die Freiheit der staatsbürgerlichen Willensbildung beeinträchtigen können, ohne rechtswidrig zu sein. Kurz, die Normen, die das Vorfeld freier Wahlen ausgestalten und absichern, bestimmen darüber mit, welchen rechtlich gesicherten Gehalt das Wahlrecht selbst hat. Aus dieser Sicht ist fortlaufend zu überwachen, gegen welche faktischen Einwirkungen auf die staatsbürgerliche Willensbildung rechtliche Barrieren zu errichten sind.

I I . Das Ideal freier Meinungsbildung Diese und die folgenden Überlegungen stehen unter der Voraussetzung, daß die öffentliche Meinung sich in freier Diskussion bilden solle: Die Vorstellungen der Gemeinschaft darüber, was politisch zu geschehen habe, seien in ständiger freier Auseinandersetzung zwischen einander begegnenden sozialen Kräften, Interessen und Ideen zu klären.^ Doch ist diese Prämisse nicht selbstverständlich. Epochen und Institutionen, die ihrer Sache gewiß sind, halten nicht viel davon, daß eine öffentliche Meinung sich in freier Diskussion bilde. Dort haben die Wissenden zu erkennen und das V o l k nach ihrer besseren Einsicht zu leiten. I n Piatons Idealstaat ist kein Platz für Wahlkampagnen. Der Syllabus Papst Pius I X . glaubte, daß die allen garantierte Freiheit, alle Arten und Schattierungen von Meinungen und Ansichten öffentlich bekanntzumachen, zur Verderbnis der Sitten und zur Pest des Indifferentismus führe. 6 Die kommunistische Partei vertraute auf die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis der ökonomischen und historischen Gesetzmäßigkeiten und hielt folgerichtig ebenfalls wenig von ideologischen Diskussionen. 7 Denn wer davon ausgeht, Politik auf wissenschaftlicher Grundlage zu betreiben und daher i m

5 Vgl. BVerfGE 5, 135, 198, 205; 69, 344 ff. 6 Syllabus vom 8./22. 12. 1864 Nr. 79. 7 Siehe zum folgenden, auch zu den Quellen, Fetscher (Fn. 1), S. 49 ff., 68.

II. Das Ideal freier Meinungsbildung

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Besitz der nachweislich richtigen Auffassung zu sein, kann entgegengesetzte Ansichten nur für Irrtümer halten. U n d es „wäre die höchste Tollheit, für jede falsche Auffassung eine eigene politische Partei zu konstruieren" (E. Fischer). Nach Rosa Luxemburgs geistreicher Bemerkung stellte sich deshalb das „ I c h des russischen Revolutionärs auf den K o p f , d. h. auf die von einem leitenden Organ verwaltete Erkenntnis. Kurz, wer i m Besitze der Gewißheit ist, w i r d auf das liberalistische Spiel eines Meinungsabgleichs durch Diskussion und einer Mehrheitsentscheidung darüber, welcher Konzeption zu folgen sei, m i t dem Ausdruck seiner Geringschätzung verzichten. N u n besteht aber jenes Dilemma, das schon zu Beginn der Neuzeit — in der Epoche der Glaubenskriege — die Autoritätsgläubigkeit so sehr erschüttert hat: das Angebot mehrerer „Gewißheiten", die blutig gegeneinander ins Feld ziehen. Hier und später erwies sich, daß die schreckensvollsten Partien der Weltgeschichte eine Geschichte der Unterscheidung von Gut und Böse sind.? Es ist, als laste das Verhängnis des Sündenfalls, die Anmaßung, gottähnlich Gut und Böse erkennen und unterscheiden zu wollen, auch auf der säkularen Geschichte der Menschheit. Aus dieser historischen Erfahrung und aus der zunehmenden Berührung mit anderen Kulturen erwuchs die Skepsis gegen, alle mit Autorität präsentierten „absoluten" theologischen, ethischen und politischen Wahrheiten. Die Einsicht in die Grenzen der Erkenntnis unä i n die mannigfache Bedingtheit, also Relativität religiöser, moralischer und politischer Auffassungen wurde zur Mutter der Toleranz. I n England schrieb John Locke seine Epistola de tolerantia. I n Deutschland wurde Lessings Nathan zum einprägsamen Leitbild einer Duldsamkeit, die sich über unbewiesene religiöse Lehren erhebt. I n Lessings Duplik erschien es als Los des Menschen, ewig die Wahrheit zu suchen, ohne die Gewähr, die reine Wahrheit je zu erreichen. V o r die W a h l zwischen widerstreitende heteronome „Wahrheiten" gestellt, fand der Einzelne sich auf die Entscheidung seines eigenen Gewissens zurückgeworfen — dies ist der zeitgeschichtliche Hintergrund auch der Moralphilosophie Kants und ihres Autonomiegedankens. M i t diesem Geist der Aufklärung verband sich die demokratische Freiheitsidee: die Forderung Rousseaus, daß jeder selbst beteiligt sein müsse an der Bildung des Gemein willens, dem er unterworfen ist. Diese Freiheit, in eigener Verantwortung mitzuentscheiden, einschließlich der Freiheit, sich zu irren, w i l l die freiheitliche Demokratie nicht gegen anders geartete „Freiheiten" eintauschen, die dem Einzelnen keine Alternativen lassen. So hat Gustav Radbruch 9 den Relativismus geradezu für die gedankliche Voraussetzung der Demokratie erklärt. U n d ganz i m Einklang damit äußerte Hans Kelsen: „ D e r metaphysisch-absolutistischen

8 H. H. Walz, Die biblische Botschaft von der Gerechtigkeit und unser Recht, in: Gerechte Ordnung, 1948, S. 30. 9 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, Vorwort.

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Kap. 22: Kontrolle der Meinungsmacht

Weltanschauung ist eine autokratische, der kritisch-relativistischen die demokratische Haltung zugeordnet. Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muß nicht nur die eigene, muß auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt." 1 0 M i t anderen Worten, es läßt sich kein lückenloses intersubjektiv verifizierbares System von Grundsätzen richtigen Handelns finden. Aber in jeder Gemeinschaft gibt es Gerechtigkeits- und Zielvorstellungen, die der übereinstimmenden Überzeugung vieler Mitglieder der Gemeinschaft entsprechen. Das Mehrheitsprinzip soll in der Gemeinschaft diejenigen Vorstellungen zur Geltung bringen, welche die breiteste Grundlage haben. 1 1 Nicht selten ist dem Ideal freier Auseinandersetzung der Meinungen der Optimismus beigemischt, man habe damit eine Methode gefunden, der Wahrheit wenigstens näherzukommen, man sei immerhin auf dem Wege, die einschlägigen Gesichtspunkte aufzudecken und die besseren Gründe durchzusetzen 12 , man verwende eine Methode, die Auswüchse und Übertreibungen wechselseitig auszubalancieren 1 3 . Aber das ist nicht wesentlich. Entscheidend bleibt das Verbot einer Monopolisierung des Wahrheitsanspruchs 14 , gleichgültig, ob diese kraft verbindlicher Autorität oder faktisch durch Meinungslenkung mit monopolisierten Massenkommunikationsmitteln geschieht. Das sind die Grundlagen jener Konzeption, die man geradezu zum Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts erklärt hat: einer „Herrschaft der öffentlichen Meinung, das heißt der in freier Information und öffentlicher Diskussion spontan gebildeten, der ständigen K r i t i k ausgesetzten und daher i n ständiger Fluktuation befindlichen Überzeugung der gesellschaftlichen Schichten, vor allem ihrer Führungsschichten, von dem, was als wahr, als gerecht und als schön zu gelten habe". 1 5

ίο H Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 101 ff.; s. auch dens., Was ist Gerechtigkeit?, 1953, S. 45. 11 Dazu oben Kap. 11. 12 Vgl. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. 1926, S. 9, 43 ff., 61. 13 Schmitt (Fn. 12), S. 50 f. 14 Dazu oben Kap. 11 V I 2. 15 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I I 1960, S. 310. Vgl. auch C. Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1957, S. 246: „Demokratie als Herrschaft der öffentlichen Meinung".

III. Die heutige Rechtslage

255

I I I . Die heutige Rechtslage 1. Verfassungsrechtliche

Grundlagen

I n der Bundesrepublik Deutschland sind die Prinzipien der freiheitlichen Demokratie geltendes Verfassungsrecht. A l s verfassungsrechtlich gesicherte Grundsätze stellte das Bundesverfassungsgericht sie der weltanschaulichen und politischen Alternativenlosigkeit und einem daraus folgenden politischen Dirigismus gegenüber: „Es ist eine der Grundanschauungen der freiheitlichen Demokratie, daß nur die ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den sie vertretenden politischen Parteien der richtige Weg zur Bildung des Staats willens ist — nicht in dem Sinne, daß er immer objektiv richtige Ergebnisse liefere, denn dieser Weg ist a process of trial and error . . . , aber doch so, daß er durch die ständige gegenseitige Kontrolle und Kritik die beste Gewähr für eine (relativ) richtige politische Linie als Resultante und Ausgleich zwischen den im Staat wirksamen politischen Kräften gibt". 1 6 Verfassungsrechtlich dienen der Gewährleistung freier Auseinandersetzung vor allem die Meinungsfreiheit, die Garantien einer freien Presse und eines freien Rundfunks, die Vereinigungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit. I n diesen Grundrechten und institutionellen Garantien verbinden sich liberale und demokratische Prinzipien. Sie dürfen also nicht einseitig individualistisch als Garantien freier Persönlichkeitsentfaltung verstanden werden, sondern sind nicht weniger bedeutend als Sicherungen des „Vorfeldes" demokratischer politischer W i l lensbildung. Sie gewährleisten, daß sich die öffentliche Meinung i n freier Auseinandersetzung formen kann. Sie errichten rechtliche Barrieren, u m Einwirkungen abzuwehren, die eine freie Meinungsbildung gefährden. Dadurch w i r d es von Rechts wegen erschwert, die öffentliche Meinung einseitig zu manipulieren und so die staatsbürgerlichen Rechte zur Teilnahme an der staatlichen Willensbildung faktisch zu einer Akklamation einzuengen. 2.

Monopolisierungstendenzen

Hier ist die eingangs gestellte Frage wieder aufzunehmen, ob das geltende Recht Lücken aufweist, durch welche Kräfte vordringen, die eine freie Auseinandersetzung der Meinungen ernstlich beeinträchtigen. Es geht vor allem um die Konzentration der Massenkommunikationsmittel und die mit ihr verbundene Macht über die öffentliche Meinung. Es geht u m das erwähnte B i l d , das Loewenstein von unserem Meinungsbildungsprozeß gezeichnet hat: um die Beherrschung der Massennachrichtenmittel und die Lenkung der öffentlichen Meinung durch einflußreiche Cliquen und Interessenten. 16 BVerfGE

5, 135.

256

Kap. 22: Kontrolle der Meinungsmacht

Eine gewisse Konzentration der Massenkommunikationsmittel ergibt sich schon aus wirtschaftlichen Gründen. E i n Zeitungsverlag und i n noch höherem Maße ein Film-, Rundfunk- oder Fernsehunternehmen erfordern einen erheblichen A u f w a n d an finanziellen M i t t e l n : Dies kann dann auch zu einer mehr oder minder großen Abhängigkeit der Massenkommunikationsmittel — und damit auch der Meinungslenkung — von Interessenten führen. Eine Interessenbindung der Presse kann sich insbesondere aus der finanziellen Angewiesenheit auf Inserate ergeben. V o r mehr als hundert Jahren hat der Soziologe Schäffle gemeint, die Presse sei gerade auch durch „die Rentabilität der Annonce i n Abhängigkeit von den geschäftlich kapitalistischen K r e i s e n " 1 7 geraten. Doch darf auch dieser Faktor nicht überschätzt werden. Die Abhängigkeit ist gegenseitig, und eine beträchtliche Zahl von Zeitungen kann sich durch einen großen Abonnentenstamm eine relativ starke Unabhängigkeit gegenüber einzelnen Inserenten wahren. E i n vollständigeres B i l d erhält man, wenn man über den wirtschaftlichen Aspekt — der nur eine Seite des Ganzen erfaßt — hinausgeht. Z u denken ist insbesondere auch an die immer wieder zutage getretene Gefahr, daß sich in den Massenkommunikationsmitteln Meinungscliquen einnisten, die bestimmte Partei Standpunkte oder Denkmoden überrepräsentieren. Dabei ist m i t i n Rechnung zu stellen, daß die Massenkommunikationsmittel Auswahl und Akzentuierung von Informationen und Meinungen schlechthin nicht vermeiden können: Die pluralistische Demokratie w i l l allen Bürgern eine Chance geben, ihre Interessen und Anschauungen zur Sprache und zur Geltung zu bringen. In der Auseinandersetzung der Interessen und Meinungen geht aber die Stimme des isolierten Einzelnen verloren; so ist es unvermeidlich, aus der Vielfalt der Interessen und Meinungen eine repräsentative Auswahl zu treffen. I n diesem Auswahl- und Artikulationsprozeß erfüllen die Medien die wichtige Funktion, zu einer klärenden Vorformung der politischen Willensbildung beizutragen. I m Widerstreit der von ihnen repräsentierten, zum Teil auch gelenkten Auffassungen kristallisieren sich überschaubare Komplexe politischer Alternativen heraus, die dann Gegenstand politischer Entscheidungen sein können. Durch diesen Prozeß werden die hauptsächlich vorhandenen Interessen und Auffassungen also laufend gesichtet, durch ihn erhält „die öffentliche Meinung" überhaupt erst Konturen. Selbstverständlich fordert das aber seinen Preis an Simplifizierung, an Übertreibungen und an oft unbilliger Zurücksetzung solcher Interessen und Auffassungen, die keine genügend starke Repräsentation finden, zumal sich die pluralistischen Gruppen keineswegs m i t einer abgewogenen Repräsentation ihrer Auffassungen begnügen, sondern mit Hilfe von Massenkommunikationsmitteln auch die M e i nungen von Außenstehenden zu beeinflussen suchen. Andererseits haben solche Akzentuierungen und Manöver auch ihre gute Seite: Sie wirken in Auseinandersetzung mit annähernd gleich starken Gegnern als belebende Kraft, die durch eine objektivistische, sterile Demoskopie nicht ersetzbar wäre. 17 Α. E. F. Schäffle,

Kapitalismus und Socialismus, 1870, S. 176.

III. Die heutige Rechtslage

257

Einer ausufernden Macht der Massenkommunikationsmittel zieht das Verfassungsrecht Grenzen: durch die institutionelle Garantie einer freien Presse und eines freien Rundfunks (Art. 5 Abs. 1 GG). Diese institutionelle Garantie w i r d aber erst dann verletzt, wenn die M i t t e l zur Beeinflussung der öffentlichen M e i nung so stark monopolisiert werden, daß ihre Ausbalancierung durch annähernd gleich starke konkurrierende Massenkommunikationsmittel in Frage gestellt wird: Art. 5 G G verlangt, daß ein modernes Instrument der Meinungsbildung, wie das Fernsehen, „weder dem Staat noch einer gesellschaftlichen Gruppe ausgeliefert w i r d " . 1 8 Den Modellfall eines solchen Verfassungsverstoßes fand das Bundesverfassungsgericht in der Gründung der Deutschland-Fernseh-GmbH am 25. Juli 1960. Es gibt Stimmen, die eine hinreichende Ausbalancierung der Diskussion auch i m Bereich der Presse für fragwürdig halten: Ein beträchtlicher Teil der Presse fällt durch Niveau- und Konzeptionslosigkeit als Faktor i m Prozeß politischer Meinungsbildung aus. Die Differenziertheit der verbleibenden, meinungsbildenden Presse sah schon Herbert Krüger durch Monopolisierung gefährdet: „Das bei der Pressefreiheit vorausgesetzte Heilmittel gegen Einseitigkeit und Aufdringlichkeit — die Konkurrenz zwischen mehreren, verschiedenen und selbständigen Zeitungen — entfällt immer mehr durch die Verschmelzungen und die hierdurch geschaffenen Monopole mächtiger Zeitungskonzerne". 1 9 Noch handelt es sich hier aber u m ein bloßes Menetekel: Immerhin existiert in der Bundesrepublik eine so „große Zahl von selbständigen und nach ihrer Tendenz, politischen Färbung oder weltanschaulichen Grundhaltung miteinander konkurrierenden Presseerzeugnissen", daß das Bundesverfassungsgericht zur Zeit des ersten Fernsehurteils die in Art. 5 G G garantierte Institution einer freien Presse gewahrt sah. 2 0 Solange diese Situation sich nicht wesentlich ändert, steht sie i n Einklang mit der Verfassung. 3. Abhilfen Grundsätzlich gibt es zwei Wege, einer Monopolisierung i m Bereich der Massenkommunikationsmittel zu begegnen und den Meinungsbildungsprozeß offenzuhalten: den der „Außenpluralität" und jenen der „Binnenpluralität". Eine hinreichende Außenpluralität besteht, solange eine ausgewogene Konkurrenz selbständiger Medien es gewährleistet, daß die unterschiedlichen Anschauungen, die in der Gemeinschaft gehäuft vorkommen, angemessen Ausdruck finden. Bei der Frage, ob das zutrifft, ist nicht nur ein einziger Sektor der Massenkommunikation in Betracht zu ziehen. A u c h verschiedenartige Massenmedien — Presse, Hörfunk und Fernsehen — können sich wechselseitig ergänzen is BVerfGE 12, 262. 19 H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 448 f. 20 BVerfGE 12, 261. 17 Zippelius

258

Kap. 22: Kontrolle der Meinungsmacht

und korrigieren. M i t zunehmendem Ausbau internationaler Kommunikationsnetze kann die Vielfalt von Informations- und Meinungsangeboten auch von anderen Ländern her vermehrt werden. M a n hat verschiedene Instrumente zur Diskussion gestellt, die i m Bereich der Presse eine äußere Konkurrenz gewährleisten sollen: Fusionskontrollen und Entflechtungsmaßnahmen, Auflagenbeschränkungen, Marktanteilsbegrenzungen und Subventionen zur Schaffung von „Marktgegengewichten". A l l e diese Maßnahmen haben Schwächen und Nachteile. M i t der Fusionskontrolle lassen sich solche Monopolisierungstendenzen nicht beherrschen, die durch „inneres" Unternehmenswachstum entstehen. Auflagen- und Marktanteilsbegrenzungen würden gerade diejenige Presse beschneiden, die große Resonanz findet, und aus der Sicht der Leser Informationsquellen kontingentieren, nach denen besonders starke Nachfrage besteht. Bei direkten und indirekten Subventionierungen bestehen zwei Gefahren: daß sie als weltanschaulich-tendenzielle Steuerungsiristrumente verwendet werden, und daß Steuermittel an „lahme Enten" verschwendet werden. I m Bereich von Rundfunk und Fernsehen ermöglichte es erst der Fortgang der technischen Entwicklung, die Zahl konkurrierender Programme deutlich zu erhöhen und insbesondere auch privaten Anbietern eine Chance zu geben. Wegen !: des erforderlichen finanziellen Aufwandes bleibt aber i m Bereich des Fernsehens eine „Oligarchie" der meinungsbildenden Kräfte bestehen. Soweit die Konkurrenz der Anbieter nicht gewährleistet, daß die i m Volke bestehende Meinungsvielfalt angemessenen Ausdruck findet, muß dieses Ziel auch noch m i t anderen M i t t e l n angestrebt werden. 2 1 A n die Stelle einer fehlenden externen Konkurrenz kann — begrenzt wirksam — eine interne treten: Es müssen dann die Veranstalter selbst „so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und i m Gesamtprogramm zu Wort kommen k ö n n e n " . 2 2 Eine anstaltsinterne Ausbalancierung der Meinungsgruppen funktioniert aber nur unzulänglich: Die Auswahl der Meinungsrepräsentanten muß sich notgedrungen auf die großen Gruppen beschränken. Außer den Parteien und Parlamenten findet man in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik etwa vertreten: Religionsgemeinschaften, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervereinigungen, Organisationen der Landwirtschaft, des Handwerks, der Presse, des Erziehungs- und Bildungswesens, der Universitäten, der Sportverbände, der Gemeinden und Gemeindeverbände und der Jugendorganisationen. Der organisatorische Rahmen begünstigt eine Oligarchie der meinungsbestimmenden Kräfte und damit eine Verarmung und Erstarrung. Es besteht die Gefahr, daß sich M e i nungscliquen einnisten, die unter Wahrung des Scheines von Liberalität ihre politischen Vorstellungen der Allgemeinheit zu indoktrinieren versuchen. W o 21 Vgl. BVerfGE 57, 325 f. 22 BVerfGE 12, 262 f.

III. Die heutige Rechtslage

259

— wie derzeit noch i n der Bundesrepublik — die Rundfunkgremien nicht genügend gegen den Einfluß der politischen Parteien gesichert sind, droht eine parteipolitische Polarisierung, wenn nicht einseitige Parteilichkeit. Gelingt es aber, eine einseitige Politisierung zu vermeiden, so verleitet die oligarchische Struktur andererseits leicht zu einem für alle Beteiligten bequemen Arrangement, i n welchem jedem das Feld der von i h m repräsentierten Interessen überlassen w i r d und Gegensätze verhüllt werden. Angesichts der dargelegten Risiken, die in öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sichtbar geworden sind — insbesondere der Verminderung geistiger Vielfalt, Beweglichkeit und Innovationsfähigkeit — , spielt der Gedanke, auch die Presse öffentlich-rechtlich zu organisieren, heute kaum noch eine R o l l e . 2 3 A u c h für private Presseunternehmen stellt sich aber die Frage, ob man nicht zusätzlich zu den externen Balancen noch interne Kontrollen einführen sollte, schon u m jene Interessenbindungen zu neutralisieren, in die private Presseunternehmen geraten können. Z u diesem Zweck hat man insbesondere vorgeschlagen, den Journalisten „innere Pressefreiheit" einzuräumen und sie damit von den Weisungen des Verlegers weitgehend freizustellen. Zusätzlich soll den Journalisten ein Mitspracherecht in Personalentscheidungen gewährt werden. Aber auch unter diesen Bedingungen können sich Meinungscliquen bilden. Auch ist nicht zu übersehen, daß die „demokratische" Sensibilität der Massenmedien für die Erwartungen und Wünsche der Bevölkerung beeinträchtigt wird, wenn man den Redaktionen eine zu große „ A u t o n o m i e " gegenüber dem Verleger einräumt. Denn gerade der kaufmännische K a l k ü l des Verlegers zwingt zu einer Rücksichtnahme auf die Interessenrichtungen und Meinungstendenzen der potentiellen Käufer. Hier ist das „Gelenk", über das in einer Marktwirtschaft die Bevölkerung selbst Einfluß auf das Informationsangebot gewinnen kann, das ihr gemacht wird. Eine Bilanz zur Monopoldiskussion könnte aus gegenwärtiger Sicht wie folgt lauten: Die verschiedenen Organisationsformen der Massenkommunikationsmittel bringen je ihre spezifischen Risiken einseitiger Bindungen an Interessen oder auch an Voreingenommenheiten mit sich. Solange keine anderen Wege gefunden sind, solchen Einseitigkeiten zu begegnen, erscheint die Aufrechterhaltung einer strukturellen Vielfalt i m Gesamtbereich der Massenkommunikationsmittel und ein Rückzug der politischen Parteien aus den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als der vorläufig beste Weg, eine größtmögliche Offenheit und Ausgewogenheit des Meinungsbildungsprozesses zu gewährleisten.

23 Ende 1944 hatte man in Frankreich versucht, die wichtigsten Presseorgane aus ihrer Abhängigkeit von der Privatwirtschaft zu befreien, und unternahm es deshalb, die Presse korporativ zu organisieren. Dieser Versuch mißglückte, weil er die Presse in starke Abhängigkeit von der Regierung brachte. Siehe hierzu die Verordnungen vom 30. 9. 1944 und vom 29. 1. 1945 und die Gesetze vom 11.5. 1946 und vom 2. 4. 1947. Vgl. J. H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, 1956, S. 230 f.; Loewenstein (Fn. 3), S. 364. 17=

D. Grundrechte

Kapitel

23

Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung I n seinem ersten A r t i k e l bekennt das Grundgesetz sich zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten und zieht damit (durch das W o r t „darum") eine Folgerung aus der vorangegangenen Menschenwürdegarantie: Es ist folgerichtig, daß ein Staat, der die Wahrung der Menschenwürde zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Verfassungskultur machen w i l l , auch näher ausgeformte Menschenrechte gewährleistet, durch welche zugleich der Schutz der Menschenwürde eine griffige und handhabbare Gestalt gewinnt. 1

I . Das Bekenntnis zu vorgegebenen Menschenrechten 1. Die

Vorgegebenheit

D e m Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes liegt erkennbar auch die Vorstellung zugrunde, daß es vorstaatliche Menschenrechte gebe, die nicht erst durch die Staatsgewalt geschaffen seien, zu denen sich diese folglich nur „bekennen" könne. Daß dies die Meinung des Grundgesetzes ist, ergibt sich auch aus dem Rückgriff auf die alte Redeweise von „unveräußerlichen" Menschenrechten. I n dieser Vorstellung v o m Veräußern und der „Unveräußerlichkeit" fundamentaler Rechtspositionen klingen Gedanken der naturrechtlichen Vertragstheorie an, nach welcher alle Menschen von Natur aus gewisse angeborene Rechte besäßen, „deren sie, wenn sie den Status der Gesellschaft annehmen, ihre Nachkommenschaft durch keine Abmachung berauben oder entkleiden können". 2 Die Entstehungsgeschichte des Art. 1 G G stützt diese Auslegung. 3 A u c h i n Lehre und Rechtsprechung

1 Mag deren Schutzbereich dann auch über den Kernbestand hinausreichen, der zum Schutz der Menschenwürde unerläßlich ist. Dazu unten Kap. 24 I I I 4. Vgl. auch Ch. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rdn. 84. 2 So Art. 1 der Virginia Bill of Rights vom 12. 6. 1776, in erkennbarer Anlehnung an Vorstellungen John Lockes (Two Treatises of Government, II, §§ 23, 135); ähnlich Art. 2 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. 8. 1789; vgl. auch E. Denninger, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 1 I I Rdn. 7 ff.; K. Stern, Staatsrecht, § 59 I I I ff. 3 Pari. Rat StenBer. S. 14, 21, 223; Pari. Rat Aussch. für Grundsatzfragen, 3. Sitzung, StenProt. S. 24 ff.; JöR 1 (1951), S. 42, 48 ff.

264

Kap. 23: Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung

hat die Vorstellung Eingang gefunden, daß es eine vorstaatliche Geltung von Menschenrechten gebe. 4 Dabei ist aber die Mehrdeutigkeit des Geltungsbegriffes zu beachten: „ V o r staatlich" kann die moralische Verpflichtungskraft einer N o r m sein, auch ihr sozialethischer Geltungsanspruch, nicht aber ihre Geltung als garantiertes Recht, verstanden als verläßliche Chance rechtlich normierter und organisierter Durchsetzung. Diese Durchsetzungschance verwirklicht sich durch eine funktionierende Rechtsschutzorganisation, sie ist eine Seite staatlicher Wirksamkeit und Existenz und also dem Staat nicht „vorgegeben". 5 2. Menschenrechte

als Grundlage jeder menschlichen

Gemeinschaft

Daß Menschenrechte — wie das Grundgesetz weiter sagt — „Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" seien, wäre als historische Aussage unwahr, ist als Postulat und richtungweisende Wertentscheidung aber sinnvoller Bestandteil einer freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung. M i t ihr reiht sich das Grundgesetz i n die — weiter zu entwickelnde 6 — Verfassungskultur der rechtsstaatlichen Demokratien ein. In der Aussage, daß Menschenrechte die Grundlage „jeder" Gemeinschaft sind, klingt die Einsicht durch, daß die gegenseitige Achtung von Menschenrechten und insbesondere der Menschenwürde auch das Fundament privater Gemeinschaftsbeziehungen ist. 7 Damit k o m m t ein ursprüngliches Grundrechtsverständnis wieder zum Vorschein: daß es elementare individuelle Rechtspositionen gebe, die gegenüber jedermann unverfügbar seien. 8 Es w i r d zugleich die grundsätzliche Funktion des Rechts — und damit auch der Grundrechtsgewährleistungen — sichtbar, Regeln aufzustellen, nach denen die Freiheit und Würde des einen sich mit der Freiheit und Würde der anderen vereinigen läßt. 9 Damit ist die Frage nach einer Drittwirkung der Grundrechte gestellt. Art. 1 Abs. 3 G G sagt nicht, daß diese „ n u r " die dort genannten Gewalten binden, beantwortet die Frage also nicht. A u c h das Bundesverfassungsgericht hat i n einer Leitentscheidung die Frage grundsätzlich offengelassen und hat lediglich ausge4 Vgl. BayVerfGH, VerwRspr. 2, S. 5; BadStGH, VerwRspr. 1, S. 375; 2, S. 132; BGHZ 6, 275; 9, 89; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Rdn. 73 f.; H. Weinkaujf, NJW 1960, S. 1692 ff.; H.Simon, Katholisierung des Rechtes? 1962, S. 15 ff.; J. Zajadlo, in: Der Staat 26 (1987), S. 218 ff. 5 Dazu oben Kap. 13 I 3. 6 Dazu oben Kap. 3 a. E. 7 Vgl. /. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rdn. 40; Starck (Fn. 1), Rdn. 97, 199. s J. Locke, Two Treatises of Government, I I §§ 23, 135. 9 Vgl. Art. 4 Satz 1 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. 8. 1789; J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, 1796, § 8; I. Kant, Metaphysik der Sitten, I, 2. Aufl. 1798, S. 33.

I. Das Bekenntnis zu vorgegebenen Menschenrechten

265

sprochen, daß die Grundrechte „ i n erster L i n i e " dazu bestimmt sind, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern. 1 0 Daß den Grundrechten — i m Sinne der genannten Aufgabe des Rechts, Freiheiten gegeneinander abzugrenzen — auch eine drittschützende W i r k u n g zukommt, wurde insbesondere an Hand der Menschenwürdegarantie und des Schutzes von Leben und Gesundheit herausgearbeitet. Sogar i m Verhältnis zwischen privaten Vertragspartnern ist den Freiheits- und Gleichheitsgewährleistungen der Verfassung dann Geltung zu verschaffen, wenn einer von ihnen nicht in freier Selbstbestimmung handelt. Rechtstechnisch kommt der Grundrechtsschutz zwischen den Bürgern — die drittschützende W i r k u n g der Grundrechte — mittelbar oder unmittelbar zur W i r kung: Weitgehend w i r d der Schutz grundrechtlich garantierter Freiheiten und Rechtsgüter — wie Leben, Gesundheit, Ehre und Freiheit von Zwang — etwa i n strafrechtlichen oder privatrechtlichen Schutzgesetzen gewährt und auf diese Weise durch einfache Gesetze „vermittelt". Auch bei der Auslegung der Gesetze kommen die Wertentscheidungen und der Schutzauftrag der Grundrechtsgarantien „mittelbar" zur W i r k u n g . 1 1 W o aber diese durch Gesetze und Gesetzesauslegung „vermittelte" Drittwirkung unzureichend ausgestaltet ist, wie das i m Falle des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zutraf, w i r d es von Bedeutung, daß die Grundrechte auch i m Verhältnis der Bürger untereinander unmittelbar verpflichtend wirken. Akzeptiert man eine Drittwirkung der Menschenwürdegarantie 1 1 , dann ist es folgerichtig, sie auch den spezifischen Diskriminierungsverboten und Freiheitsgewährleistungen — zum mindesten hinsichtlich ihres Menschenwürdegehaltes — zuzusprechen. 12 M a n kann solche Drittwirkung der Menschenrechte grundsätzlich bejahen, ohne zu verkennen, daß sich die Stellung des Bürgers zum Staat wesentlich von der Stellung des Bürgers zum Bürger unterscheidet: Dort ist eine mit einseitiger Regelungsmacht ausgestattete Institution dem Bürger übergeordnet. Hier dagegen herrschen grundsätzlich Gleichordnung und Privatautonomie, d. h. Selbstgestaltung der Rechtsbeziehungen; w o der Einzelne „privatautonom" über seine Rechte verfügt und Bindungen eingeht, ist dieses Selbstbestimmungsrecht weitgehend zu respektieren und der Grundrechtsschutz i n gleichem Maße zurückzuziehen (dazu unten I I 4).

io Vgl. BVerfGE 7, 204 ff. h Siehe unten Kap. 24 I I I 5. ι 2 Rechtsprechungs- und Literaturnachw. zur Drittwirkungsdiskussion etwa bei Th. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 19 I 2.

266

Kap. 23: Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung 3. Menschenrechte als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt

Die Menschenrechte — so sagt das Grundgesetz an gleicher Stelle — seien zudem Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit i n der Welt. M a n hat sich Gedanken über die außen- und innenpolitische Bedeutung dieser Worte gemacht: ob darin eine Absage an Gewalt i n den internationalen Beziehungen zu erblicken sei, vielleicht auch eine Richtlinie für das Verhalten von Staatsorganen der Bundesrepublik i m internationalen Bereich, etwa eine Verpflichtung zu einer „offensiven Menschenrechtspolitik gegenüber dritten Staaten" und eine Bindung außenpolitischen Handelns an die Verpflichtung zu Achtung und Schutz der Menschenwürde. 1 3 A u c h innenpolitische Relevanz hat man der Formel zugesprochen. 1 4 Ein unbefangener Betrachter w i r d i n dem genannten Satz zum mindesten die Erkenntnis ausgedrückt finden, daß man „ i m eigenen Haus" beginnen muß, Menschenrechte zu achten, wenn Frieden und Gerechtigkeit i n der Welt sein sollen, und daß der Frieden nicht auf sicheren Grundlagen ruht, wenn Menschenrechte nicht auch i n den internationalen Beziehungen geachtet werden. Entsprechendes gilt für die Wahrung des innerstaatlichen Friedens: Eine innerstaatliche Ordnung ist nur dann auf Dauer eine befriedende Ordnung, wenn sie auch als eine gerechte Ordnung empfunden und akzeptiert w i r d . 1 5

I I . Unverletzlichkeit der Menschenrechte Grundrechtsschutz, so könnte man sagen, sei Minderheitsschutz, nämlich Schutz elementarer Rechtspositionen auch gegen die Entscheidungen j e wechselnder Mehrheiten in den gesetzgebenden Körperschaften. 16 Da der positivrechtliche Grundrechtsschutz auf einer mehrheitlich beschlossenen Verfassung beruht, stellt sich die Frage, wie durch einen früheren Mehrheitsentscheid (der verfassunggebenden Gewalt) spätere Mehrheitsentscheidungen, auch des Gesetzgebers, begrenzt werden können. Das ist generell die Frage, wie sich der Vorrang der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetz begründen lasse. I m wesentlichen beruht er auf der gewollten und durch einen A k t der Verfassunggebung zum Ausdruck gebrachten Grundsätzlichkeit der Entscheidung über die rechtlichen 13 v. Münch (Fn. 7), Art. 1, Rdn. 41 -43; zu dieser Diskussion insbesondere Ch. Tomuschat, VVDStRL 36 (1978), S. 42 ff.; H. F. Zacher, W. K. Geck, K. Vogel, G. Roellecke, ebendort, S. 135 f., 144, 163 f., 165; ferner Denninger (Fn. 2), Rdn. 6; Starck (Fn. 1), Rdn. 98. 14 Starck (Fn. 1), Rdn. 99. ι 5 Dazu oben Kap. 5 I. 16 Dieser und der folgende Absatz sind aus dem als Kap. 19 abgedruckten Aufsatz übernommen.

II. Unverletzlichkeit der Menschenrechte

267

Fundamente, auf die sich langfristig das Zusammenleben in diesem Staate gründen s o l l . 1 7 Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und damit auch des Menschenwürdegehaltes der übrigen Grundrechte beruht darüber hinaus auf der L o g i k der Demokratie: Diese findet ihre tiefste Rechtfertigung darin, daß jeder Bürger als eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz angesehen w i r d und daher eine grundsätzlich gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz hat, wenn es darum geht, verbindlich über Gerechtigkeit und politische Zielsetzungen i n dieser Gemeinschaft zu entscheiden. Durch demokratischen Mehrheitsentscheid die Menschenwürde anzutasten und die fortwährende und gleichberechtigte Mitwirkungskompetenz von Bürgern aufzuheben, hieße also, die Prämissen zu beseitigen, auf denen die Legitimität demokratischer Entscheidungen selbst beruht. 1 8 1. Grundrechtsimmanente

Schranken

E i n Grundrecht w i r d nicht konstitutiv, d. h. rechtsändernd durch ein Gesetz eingeschränkt, das die begrifflichen Grenzen der Grundrechtsgarantie nicht überschreitet. 1 9 E i n Gesetz, das bis an diese Grenzen herangeht, greift nicht i n das Grundrecht ein, sondern legt nur die Schranken offen, die diesem Grundrecht innewohnen: auf Grund einer Auslegung, die nach allgemeinen Regeln juristischer Begriffsbestimmung 2 0 feststellt, wo Grenzen des Grundrechts liegen. Mangels entgegenstehender Anhaltspunkte ist insbesondere anzunehmen, daß der Verfassunggeber die von i h m gewährleisteten Grundrechte so verstanden wissen wollte, wie das dem überkommenen Typus dieser Freiheitsrechte entspricht (historische Interpretation). A u c h aus dem Verhältnis, i n dem die Verfassungsnormen zueinander stehen, können sich Schranken ergeben (systematische Interpretation): So können Grundrechte an anderen verfassungsrechtlich geschützten Interessen eine Grenze finden, insbesondere an den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen von Leben, Gesundheit, Glaubens-, Gewissens- und M e i nungsfreiheit anderer Menschen. 2 1 Die weite Auslegung der Grundrechtsgarantien hat auch die Kollisionen zwischen den Freiheitsgewährleistungen vermehrt. Gerade auch dieser Umstand führt dazu, daß i m Wege systematischer Auslegung immer von neuem situationsgerechte Abgrenzungen der Grundrechte zu finden sind. Dies hat unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes i n wertender Abwägung zu geschehen. A u f diesem Wege w i r d die Konkretisierung der Grundrechte zu einer fortwährenden Diskussion über die Gerechtigkeit, i n welche die 17 is 19 20 21

Dazu oben Kap. 11 V 1. Dazu oben Kap. 11 V 2. Maunz/Zippelius (Fn. 12), § 201 1. Dazu unten Kap. 35. Aus der als Kap. 25 abgedruckten Kommentierung übernommen.

268

Kap. 23: Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung

Auslegungsargumente und insbesondere das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot als Schlüsselbegriffe und Lösungsgesichtspunkte Eingang finden. 2. Schutz gegen normative Eingriffe a) Nach der Ordnung des Grundgesetzes sind Grundrechte einer Einschränkung durch einfaches Gesetz grundsätzlich entzogen; denn der Gesetzgeber ist an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3) und insbesondere an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3) gebunden. Damit ist klargestellt, daß Grundrechte nicht mehr nur „nach Maßgabe der Gesetze", vielmehr „Gesetze nur i m Rahmen der Grundrechte" gelten. 2 2 Regelnd i n den normativen Umfang eines Grundrechts eingreifen darf der Gesetzgeber nur dann, wenn ein speziell für dieses Grundrecht bestehender Vorbehalt dies erlaubt. Solche Befugnis, den Umfang eines Grundrechts mit konstitutiver W i r k u n g normativ festzulegen oder einzuschränken, kann positiv formuliert sein: als Ermächtigung, den Inhalt des Grundrechts näher zu bestimmen, ζ. B. die Berufsausübung zu regeln (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG) oder den Inhalt des Eigentums zu bestimmen (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG); ein solches Grundrecht gilt dann m i t dem Inhalt, den der Gesetzgeber i h m verleiht. 2 3 Die Ermächtigung kann aber auch negativ gefaßt sein: als Befugnis, Grundrechte einzuschränken. 2 4 Solche konstitutiven Befugnisse des Gesetzgebers sind generell begrenzt: Für Gesetze, die ein Grundrecht einschränken 2 5 , gilt Art. 19 Abs. 1 GG. — Nicht nur für Grundrechtseinschränkungen, sondern auch für „Inhaltsbestimmungen" und „Regelungen" ist die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) zu beachten. Das Bundesverfassungsgericht hat dies zwar für die Regelung der Berufsausübung verneint 2 6 und für die Bestimmung des Eigentumsinhalts i m unklaren gelassen 27 , der Sache nach aber dann doch die Wahrung des Wesensgehalts verlangt 2 8 . Die Wesensgehaltsgarantie schließt die Gewährleistung des Garantiegehaltes der Menschenwürde ein (dazu unten b), ist aber nicht einfach mit diesem „ s y n o n y m " 2 9 ; nicht jede Verletzung des Wesensgehalts eines Grundrechts muß

22 H. Krüger, Grundgesetz und Kartellgesetzgebung, 1950, S. 12. 23 Vgl. BVerfGE 31, 240; 72, 76. 24 So in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3; Art. 5 Abs. 2; 8 Abs. 2; 10 Satz 2; 11 Abs. 2; 13 Abs. 2 und 3; 17 a GG. 25 Also nicht für Inhaltsbestimmungen: BVerfGE 64, 79 f. 26 BVerfGE 13, 122. 27 BVerfGE 58, 348. 28 Vgl. BVerfGE 31, 240; 74, 214 f. 29 So aber Dürig (Fn. 4), Rdn. 81, vgl. auch Rdn. 45; s. demgegenüber J. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1958, S. 19 f.

II. Unverletzlichkeit der Menschenrechte

269

also notwendig zugleich eine Verletzung der Menschenwürde sein. 3 0 Eine zweite Komponente des Wesensgehaltes liegt i m Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und i m Übermaß verbot. 3 1 Demnach muß jede Grundrechtseinschränkung durch ein vorrangiges Interesse gerechtfertigt, nämlich aufgewogen sein; und unter mehreren Regelungsmöglichkeiten, die geeignet sind, das vorrangige Interesse zu verwirklichen, ist jene zu wählen, die das Grundrecht am wenigsten beeinträchtigt. A u f diese Weise soll die Interessenbefriedigung i n der Gemeinschaft optimiert und so viel Freiheit wie möglich verwirklicht werden. b) Durch Verfassungsrevision können die in den Art. 2 ff. niedergelegten Grundrechte eingeschränkt werden, soweit nicht Art. 79 Abs. 3 G G entgegensteht. Nach dieser Bestimmung darf sich keine Verfassungsrevision über die Aktualitätsgarantie des Art. 1 Abs. 3 G G hinwegsetzen; auch nicht über den Grundsatz des Art. 1 Abs. 2 G G , wonach die Garantie von Menschenrechten eine wesentliche Grundlage der staatlichen Gemeinschaft zu bilden hat. Damit ist zwar gesichert, daß überhaupt ein Grundbestand von Menschenrechten als unmittelbar geltendes Recht garantiert bleibt, nicht aber ist der i n den Art. 2 ff. niedergelegte Grundrechtskatalog i n allen Einzelheiten vor Verfassungsrevisionen geschützt. Als materieller Mindestinhalt ist aber gewährleistet, daß der Grundbestand an Menschenrechtsgarantien nicht hinter die Linie zurückgehen darf, die Art. 1 Abs. 1 G G zieht, daß also die „Menschenwürde" i n jedem Falle grundrechtlich gewahrt bleibt. Damit ist auch gesichert, daß jedenfalls der „Menschenwürdegehalt" der einzelnen Grundrechtsgarantien nicht durch Verfassungsrevision angetastet w i r d . 3 2 Die Frage des letztlich unantastbaren Menschenwürdegehaltes der Grundrechte ist aber noch weitgehend unbeantwortet; vieles spricht dafür, ihn eng zu fassen. 33 3. Schutz gegen Einzeleingriffe Auch vollziehende Gewalt und Rechtsprechung dürfen die von der Verfassung gewährleisteten Grundrechte nicht i m Einzelfall antasten. Das ergibt sich gleichfalls aus Art. 1 Abs. 3 und 20 Abs. 3 GG. Inwiefern der Staat und Träger mittelbarer Staatsverwaltung auch dann die Grundrechte zu beachten haben, wenn sie i n privatrechtlichen Rechtsformen handeln, ist dem Art. 1 Abs. 3 G G nicht eindeutig zu entnehmen; denn die Worte „vollziehende Gewalt" können entweder funktional oder organisatorisch verstanden werden, d. h. entweder nur die spezifisch staatlichen Funktionen oder aber die Organe der vollziehenden Gewalt i n allen ihren staatlichen wie privatrechtlichen Tätigkeiten bezeichnen. 30 Denninger (Fn. 2), Rdn. 13; v. Münch (Fn. 7), Art. 1 Rdn. 37. 31 Vgl. BVerfGE 19, 348 f.; zum Diskussionsstand: v. Münch (Fn. 7), Art. 19 Rdn. 25. 32 Th. Maunz / G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 79 Rdn. 42; v. Münch (Fn. 7), Art. 1 Rdn. 37. 33 Dazu unten Kap. 24 I I 3.

270

Kap. 23: Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung

Nach herrschender Ansicht hat die vollziehende Gewalt auch dann, wenn sie öffentliche Aufgaben in privatrechtlicher Form wahrnimmt, insbesondere i m Bereich der Daseinsvorsorge, die Grundrechte, nicht zuletzt auch den Anspruch auf Gleichbehandlung, i n vollem Umfang zu achten. Bei privatrechtlichen Tätigkeiten, die nur der erwerbswirtschaftlichen Erzielung von Gewinnen oder der Beschaffung von Gütern und Leistungen für die Verwaltung dienen, erscheint eine Bindung an Grundrechte, insbesondere eine Wahrung der Gleichbehandlung, dort angebracht, w o die Verwaltung als Anbieter oder Nachfrager eine marktbeherrschende Stellung hat. W o hingegen ein i n öffentlicher Hand befindliches Wirtschaftsunternehmen unter gleichen Wettbewerbsbedingungen wie seine privaten Konkurrenten am Rechtsverkehr teilnimmt, ginge es über den spezifischen rechtsstaatlichen Zweck der Grundrechte hinaus, wenn man die Verwaltung hier einer gleich strengen Bindung etwa an den Gleichheitssatz unterwerfen wollte, wie i m Bereich der Staatsaufgaben. Auch bei diesen privatwirtschaftlichen Tätigkeiten dürfen aber die fundamentalen Wertentscheidungen der Verfassung nicht mißachtet, Vertragspartner also ζ. B. nicht nach rassischen oder religiösen Gesichtspunkten ausgewählt werden. 3 4 I n dem Bekenntnis zu „unverletzlichen" Menschenrechten ist zum mindesten hinsichtlich ihres „unantastbaren" Menschenwürdegehaltes 35 eine Entscheidung des Grundgesetzes zu sehen, die klarstellt, daß die Menschenrechte „nicht von außen — weder v o m Staat noch von Einzelnen noch gesellschaftlichen Gruppen — angetastet werden dürfen" 3 6 . A u c h darin (siehe auch oben 12) liegt eine grundsätzliche Entscheidung für eine — unmittelbare oder mittelbare — Drittwirkung der Grundrechte. 4. Unveräußerlichkeit I n dem Prinzip der Unveräußerlichkeit der Grundrechte 3 7 steckt der schon erwähnte naturrechtliche Gedanke, daß es einen Bestand elementarer Würde, Freiheit und Gleichachtung gebe, der auch der Verfügung des Rechtsinhabers entzogen sei. Das schließt aber nicht aus, daß der Einzelne kraft seiner Autonomie Bindungen seiner Freiheit eingehen kann, die i h m die Staatsgewalt nicht einseitig von sich aus auferlegen könnte. 3 8 Eine Grenze findet die Privatautonomie daran, 34 Nachw. zu der gesamten Problematik etwa bei Starck (Fn. 1), Rdn. 142 ff.; K. Stern, Staatsrecht, §§ 72 I I I 3, 74 IV. 35 Mit dieser Einschränkung auch v. Münch (Fn. 7), Art. 1 Rdn. 38. 36 Dürig (Fn. 4), Rdn. 74. 37 Vgl. K. Friess, Der Verzicht auf Grundrechte, 1968; G. Sturm, Probleme eines Verzichts auf Grundrechte, in: Festschr. f. W. Geiger, 1974, S. 173; J. Pietzcker, Die Rechtsfigur des Grundrechtsverzichts, in: Der Staat 17 (1978), S. 527; K. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981; G. Robbers, Der Grundrechtsverzicht, JuS 1985, S. 925; A. Bleckmann, Probleme des Grundrechtsverzichts, JZ 1988, S. 57. 38 Ähnlich Denninger (Fn. 2), Rdn. 14.

II. Unverletzlichkeit der Menschenrechte

271

daß der Einzelne sich nicht der Grundlage dieser Autonomie, d. h. seiner Menschenwürde entäußern kann; damit ist auch der „Menschenwürdegehalt" der speziellen Grundrechtsgarantien einer Verfügung entzogen. Doch hat der Einzelne einen beträchtlichen Spielraum, sogar darüber zu befinden, was seiner Menschenwürde entspricht. 3 9 Jenseits dieses unverfügbaren Kernbereichs verlangt es geradezu die Achtung der persönlichen Autonomie und damit der Menschenwürde, daß man sich wirksam verpflichten kann. W i r d doch jemand i n seiner Würde gerade auch dadurch geachtet, daß man ihn i n seiner Fähigkeit, Verbindlichkeiten einzugehen, ernstnimmt, während es andererseits ein Kennzeichen des bevormundenden Staates ist, seine Bürger weitestgehend vor sich selbst zu schützen. Auch Grundrechtsbeschränkungen i n freiwillig eingegangenen besonderen Gewaltverhältnissen lassen sich damit begründen, daß jemand — unter Wahrung seiner Menschenwürde — Bindungen eingehen kann. Aus diesen Überlegungen ergeben sich insbesondere Folgerungen für das Drittwirkungsproblem: Geht man, wie hier, davon aus, daß die Schutzbereiche der Grundrechte prinzipiell auch von Mitbürgern und gesellschaftlichen Gruppen zu achten sind, so w i r d man gleichwohl dort, wo der Einzelne i n Privatautonomie über seine Rechte verfügt und Bindungen eingeht, dieses Selbstbestimmungsrecht weitgehend respektieren und den Grundrechtsschutz i m gleichen Maße zurückziehen; hingegen w i r d man den Schutz der Grundrechte stufenweise u m so stärker zur Geltung kommen lassen, j e mehr der Einzelne einer einseitigen Regelungsmacht oder auch dem Zugriff anderer Privatpersonen oder sozialer Gewalten ausgeliefert i s t . 4 0

39 Siehe unten Kap. 24 I I I 6 b. 40 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 33 II.

Kapitel

24

Die Garantie der Menschenwürde I . Geistesgeschichtliche Grundlagen A m Anfang des Grundgesetzes steht die Menschenwürdegarantie. Darin kommt der W i l l e zum Ausdruck, diesen Satz zum Ausgangs- und Mittelpunkt der Verfassungskultur zu machen, i n erklärter Antwort auf die Unmenschlichkeiten der vorangegangenen Epoche und in Anknüpfung an die Tradition einer von Christentum, Aufklärung und Liberalismus geprägten Humanität. I n erkennbarer Abkehr von dem Satz „ D u bist nichts, dein V o l k ist alles," sollte deutlich gemacht werden, daß der neu zu verfassende Staat um des Menschen w i l l e n und nicht der Mensch um des Staates w i l l e n da sei — so die ausdrückliche Formulierung in Art. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs; diese Auffassung lag auch den Beratungen des Parlamentarischen Rates zugrunde. 1 W i e andere Verfassungsnormen, so ist vor allem auch die Garantie der Menschenwürde aus dem Sinnhorizont der europäischen Rechtskultur, insbesondere aus dem hier lebendigen Menschenbild zu verstehen. 2 1. Christliche

Leitbilder

der „Menschenwürde

"

Nach christlicher Vorstellung kommt dem Menschen durch seine Gottebenbildlichkeit ein Eigenwert zu, durch den er sich von allen anderen Geschöpfen abhebt. 3 Demgemäß bekennt sich die katholische Soziallehre zur „unantastbaren 1 K. Stern, Staatsrecht, § 58 I I lc, 6; vgl. auch E. Benda, Gefährdungen der Menschenwürde, 1975, S. 8 ff., 14 f.; A. Podlech, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 11 Rdn. 9. 2 Vgl. dazu oben Kap. 14; A. Verdroß, Die Würde des Menschen als Grundlage der Menschenrechte, Europ. Grundrechte-Ztschr. 1977, S. 207 f.; F. O. Kopp, Das Menschenbild des Grundgesetzes, in: Festschr. f. K. Obermayer, 1986, S. 53 ff.; P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988. 3 Vgl. 1. Mose 1, 26 f.; 1. Kor. 11, 7; 1. Petr. 1, 15 f.; Thomas von Aquin, Summa theologica, I qu. 93; G. Söhngen, Münch. Theol. Zeitschr. 2 (1951), S. 52 ff.; J. Fuchs, Lex naturae, 1955, S. 57 ff.; Lexikon f. Theol. u. Kirche, 2. Aufl., Bd. IV, 1960, Artikel „Gottebenbildlichkeit"; Gaudium et spes, AAS 58 (1966), 1025 ff., Art. 12 ff.; L. Scheffczyk (Hrsg.), Der Mensch als Bild Gottes, 1969, m. w. Nachw.; J. Messner, in: Festschr. f. W.Geiger, 1974, S. 226 ff.; J. Höffner / L. Scheffczyk / W. Leisner, in: W.Leisner (Hrsg.), Staatsethik, 1977, S. 19 f., 77 ff., 81 ff.; /. Dalferth / E. Jüngel, in: F. Böckle u.a. (Hrsg.), Enzyklopäd. Bibliothek, Teilband 24, 1981, S. 57 ff.; M. Honecker, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981,

I. Geistesgeschichtliche Grundlagen

273

Würde der menschlichen Person" und zu der Forderung, „die Würde des Menschen zu schützen, der ein Geschöpf Gottes ist und dessen Seele Gott als sein Ebenbild geschaffen h a t " . 4 M i t der Würde der menschlichen Person proklamiert sie eine Reihe „fundamentaler Persönlichkeitsrechte: Das Recht auf Erhaltung und Entwicklung des körperlichen, geistigen und sittlichen Lebens . . . ; das Recht zur privaten und öffentlichen Gottesverehrung . . . ; das Recht zur Ehe und zur Erfüllung ihres Zweckes . . . ; das Recht zur A r b e i t . . . ; das Recht zur Nutzung der materiellen Güter i m Bewußtsein ihrer Verpflichtung und der sozialen Bindungen". 5 Soweit aber der nähere Inhalt des christlichen Würdebegriffs durch Glaubenssätze geprägt ist, die sich nicht in der allgemein anerkannten Sozialmoral durchgesetzt haben, bestehen von vornherein Bedenken, ihn verfassungsrechtlich auszumünzen. V o n christlicher Seite selbst ist in Frage gestellt worden, „ o b es w i r k l i c h genuin christlich wäre, der für Christen wie Nichtchristen gleichermaßen verbindlichen Rechtsordnung aufweisbar christliche Prägung zu geben". 6 Unabweisbar sind aber die Bedenken gegen eine Konfessionalisierung des Rechts v o m Selbstverständnis des modernen, säkularisierten Staates und v o m verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatz seiner konfessionellen Neutralität her (Art. 3 Abs. 3, 4, 33, 140 GG). Nur soweit religiöse Anschauungen die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitvorstellungen prägen, sind sie für die Auslegung des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs von Bedeutung. 2. Moralische

Selbstbestimmung

als Ausdruck

der Menschenwürde

Der zweite Hauptbegriff der in unserer Kulturgemeinschaft lebendigen Vorstellungen über die Menschenwürde ist die vernunftgeleitete moralische Selbstbestimmung. Der Gedanke, daß die Würde des Menschen in einer vernunftgeleiteten Herrschaft über sich selbst begründet sei, findet sich schon in der Antike, insbesondere in der Stoa. 7 Daß der Mensch von Natur aus frei und Selbstzweck sei, lehrte später auch Thomas von A q u i n . 8 Pico della Mirandola hob mit der vernünftigen Natur auch die Freiheit des Menschen hervor, zwischen verschiedenen Möglichkeiten eine Wahl zu treffen. 9

S. 278 f.; J. Isensee / P. Saladin/R. Spaemann, in: E.-W. Böckenförde / R. Spaemann (Hrsg.), Menschenrecht und Menschenwürde, 1987, S. 165, 280 f., 302 ff. 4 Enzyklika Mater et magistra (1961), ed. Welty, 5. Aufl. 1964, Nr. 220, 249, 65, m. w. Quellennachw. in Anm. 141. 5 Pius XII., Weihnachtsbotschaft v. 24. 12. 1942, AAS 35 (1943), S. 19. 6 H. Simon, Katholisierung des Rechtes? 1962, S. 13, vgl. auch S. 21. 7 Cicero, De officiis, I, 105 ff. 8 Thomas von Aquin, Summa theologica, I I I I 64, 2; doch lehrt Thomas, daß der Mensch dadurch, daß er sündige, diese naturgegebene Würde aufgebe. Vgl. auch Messner (Fn. 3), S. 229 f.; B. Giese, Das Würde-Konzept, 1975, S. 27 f. 9 Pico della Mirandola, De dignitate hominis, 1496, Neudruck dt. / lat. 1968, S. 28 ff. 18 Zippelius

274

Kap. 24: Die Garantie der Menschenwürde

Die vernunftgeleitete sittliche Autonomie wurde dann der Zentralbegriff der Ethik Kants: Für sie ist es das Prinzip aller Moralität, nach der eigenen Gewissensentscheidung richtig zu handeln, d. h. „nur seiner eigenen und dennoch allgemeinen Gesetzgebung" unterworfen zu sein. Darin, daß es , Jceinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt", besteht die „Würde eines vernünftigen Wesens". Eine solche autonome moralische „Gesetzgebung . . ., die allen Wert bestimmt, muß eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert haben . . . Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen N a t u r " . 1 0 Darum muß jeder in seinem Vermögen zu eigener Gewissensentscheidung geachtet, jeder muß auch als Selbstzweck respektiert werden; „der Mensch kann von keinem Menschen (weder von anderen, noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muß jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit)". Der zuletzt genannte Gedanke wurde vor allem als „Objektformel" i n die Auslegung des Art. 1 Abs. 1 G G eingeführt. Doch läßt auch dieser Versuch, den Begriff der Menschenwürde zu präzisieren, viele Fragen offen, wie schon Schopenhauer gesehen hat: Der „ v o n allen Kantianern so unermüdlich nachgesprochene Satz, ,man dürfe den Menschen immer nur als Zweck, nie als M i t t e l behandeln' n , ist zwar ein bedeutend klingender und daher für alle die, welche gern eine Formel haben mögen, die sie alles fernem Denkens überhebt, überaus geeigneter Satz; aber beim Lichte betrachtet ist es ein höchst vager, unbestimmter, seine Absicht ganz indirekt erreichender Ausspruch, der für jeden Fall seiner Anwendung erst besonderer Erklärung, Bestimmung und Modifikation bedarf, so allgemein genommen aber ungenügend, wenigsagend und noch dazu problematisch i s t " . 1 2

I I . Ausgangspunkte der juristischen Auslegung Die Interpretation des Art. 1 Abs. 1 G G darf der Verfassung nicht kurzerhand einen der vorgefundenen theologischen oder philosophischen Würdebegriffe unterlegen. Vielmehr ist der spezifische Sinn des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs nach den Regeln der juristischen Auslegung zu erschließen, für welche die überkommenen Würdebegriffe zwar richtunggebende Hinweise, aber weder präzise noch allein ausschlaggebende Kriterien liefern.

io I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1786, S. 73, 76 f., 78, 87. n Kant sagt freilich: „jederzeit zugleich als Zweck" und nicht „bloß als Mittel". 12 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I § 62; näher dazu Ν. Hoerster, JuS 1983, S. 93 ff.

II. Ausgangspunkte der juristischen Auslegung 1. Historische

275

Interpretation

Nach demokratischem Verständnis hatten die am Beschluß über das Grundgesetz beteiligten Repräsentanten den i n der Gemeinschaft herrschenden sozialethischen und politischen Vorstellungen in der Verfassung Ausdruck zu verleihen; d. h. sie hatten legitimerweise auf der Basis des breitestmöglichen Konsenses des Volkes zu handeln. So ist auch bei der Auslegung der Menschenwürdegarantie danach zu fragen, welches Leitbild unantastbarer Menschenwürde den Verfassunggebern vor Augen stand und zur Zeit des Verfassungsbeschlusses in der Gemeinschaft für die Mehrheit konsensfähig w a r . 1 3 Dieses B i l d war weitgehend von der genannten historischen Tradition bestimmt 1 4 , aus der sich als Mindestinhalt ergibt, daß jeder in seinem Vermögen zu eigener Gewissensentscheidung zu achten ist (was nicht schon bedeutet, daß er alles ausführen darf, was er für richtig hält), und daß darum jeder stets auch als Selbstzweck zu achten ist und nicht als bloßes M i t t e l zu einem Zweck gebraucht werden darf. Die so verstandene Menschenwürde war durch die vorangegangenen Unmenschlichkeiten verletzt worden, die Menschen zu bloßen Objekten herabgewürdigt hatten: durch Diffamierung, Diskriminierung, Entrechtung, Zwangsarbeit, Versklavung, Terror und Massenmorde. So liegt Art. 1 Abs. 1 G G i m Zuge von Normierungen und Proklamationen, die v o m Standpunkt der genannten Kulturtradition aus eine Antwort auf solche Verletzungen der Menschenwürde sein wollten. 1 5 Deshalb gewinnt die Menschenwürdegarantie nicht zuletzt von daher eine nähere Konkretisierung. Da die Legitimationsgrundlage des heute anzuwendenden Rechts i n der Gegenwart liegt, ist auch der inzwischen eingetretene Wandel der in der Gemeinschaft mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen bei der Verfassungsauslegung zu berücksichtigen. 1 6 Das gilt auch für die Interpretation der Menschenwürdegarantie. 1 7 2. Systematische

Interpretation

Anhaltspunkte für die Auslegung der Menschenwürdegarantie sind auch aus dem Kontext der Verfassung, also durch systematische Auslegung zu gewinnen 1 8 : 13 Dazu unten Kap. 35 I I 2. 14 Zur Anknüpfung an die christliche Tradition vgl. G. Dürig, Juristische Rundschau 1952, S. 260 f.; J. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 37; Messner (Fn. 3), S. 221 ff.; zur Anknüpfung an die sittliche Autonomie vgl. H. C. Nipper dey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, Bd. II, 2. Aufl. 1968, S. 1 f., 10; G. Dürig, AöR 81 (1956), S. 125; J. Wintrich, aaO., S. 14 f. 15 Vgl. Benda (Fn. 1), S. 15; P. Häberle, in: HdbStR, § 20 Rdn. 1. 16 BVerfGE 34, 288 f.; vgl. oben Kap. 14 I I 3 b und unten Kap. 33 I I 1. π BVerfGE 45, 229; Benda (Fn. 1), S. 15. is Allgemein zur systematischen Verfassungsauslegung: BVerfGE 28, 261; 30, 193; 55, 300. 18*

276

Kap. 24: Die Garantie der Menschenwürde

Das System der Grundrechte findet „seinen Mittelpunkt i n der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer W ü r d e " . 1 9 Daher sind zahlreiche Einzelgrundrechte i n ihrem Sinngehalt von der Menschenwürdegarantie her zu verstehen und enthalten einen „ M e n schenwürdegehalt" 2 0 : so die Diskriminierungsverbote des Art. 3 G G 2 1 , die Gewährleistungen freier Persönlichkeitsentfaltung und des Rechts auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person (Art. 2 GG) sowie die Garantien der Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Religionsfreiheit (Art. 4 GG), der Meinungsfreiheit (Art. 5 GG) und des Rechts auf Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG). A u c h der Schutz des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 10 und 13 GG) schützen i n ihrem Kernbereich ein Stück der Menschenwürde, die auch verlangt, daß dem Einzelnen ein privater Bereich gelassen wird, i n den er sich ungestört zurückziehen kann und vor Zudringlichkeiten geschützt w i r d . 2 2 Daß der Mensch nicht zum bloßen Objekt eines staatlichen Verfahrens gemacht werden darf, findet Ausdruck in der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Andererseits lassen sich aus der Ausgestaltung der Grundrechtsordnung — i m Wege eines „hermeneutischen Zirkels" — Rückschlüsse darauf ziehen, wie die Gewährleistung der Menschenwürde verstanden werden wolle. So ist ζ. B. aus Art. 2 Abs. 1 Halbs. 2, Art. 14 Abs. 2 G G und dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) zu entnehmen, daß nach dem Gesamtsystem des Grundgesetzes keine ungebundene, sondern nur eine sozial gebundene Freiheit der Selbstbestimmung gewährleistet sein soll. Die Leistungsfähigkeit der systematischen Interpretation ist aber begrenzt: Die genaue Zuordnung — ob und in welcher Hinsicht eine andere Verfassungsnorm die Menschenwürdegarantie konkretisiert — setzt ein Vorverständnis dieser Menschenwürdegarantie schon voraus. 3. Die Aufgabe fortschreitender

Konkretisierung

Als Ergebnis dieser ersten hermeneutischen Annäherung läßt sich wohl allgemeine Übereinstimmung über einen Begriffskern erzielen, wonach Würde der Eigenwert ist, der dem Menschen um seiner selbst und nicht um anderer Güter und Zwecke willen z u k o m m t . 2 3 Einigkeit besteht wohl auch noch darüber, daß m i t dieser Würde das Recht auf moralische Selbstbestimmung zu achten ist und 19 BVerfGE 7, 205; 45, 227. 20 Benda (Fn. 1), S. 12 ff. m. Nachw. 21 Vgl. auch E. J. Lampe, in: Festschr. f. W. Maihofer, 1988, S. 253 ff. 22 Hierzu auch Benda (Fn. 1), S. 19 ff. 23 Vgl. BayVerfGH 1, 32; 10, 68: „Der Mensch als Person ist Träger höchster geistigsittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert... Würde der menschlichen Persönlichkeit ist dieser. . . Wert- und Achtungsanspruch, der dem Menschen um dessentwillen zukommt".

II. Ausgangspunkte der juristischen Auslegung

277

daß es hiermit unvereinbar ist, Menschen als bloßes M i t t e l zum Zweck zu gebrauchen. 2 4 Andererseits kann die Achtung moralischer Selbstbestimmung — für Menschen, die i n Gemeinschaft m i t ihresgleichen leben und einen Anspruch auf gleiche Freiheit haben 2 5 — sicher nicht bedeuten, daß alle Gewissensentscheidungen beliebig, ohne Rücksicht auf andere, verwirklicht werden dürften: Rücksichtslose Betätigungsfreiheit wäre mit der notwendigen Wechselbezüglichkeit der rechtlich gesicherten Freiheit 2 6 unvereinbar: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum — Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten".27 Die große Unschärfe des Menschenwürdebegriffs bringt die Möglichkeit mit sich, daß i n dessen Bedeutungsspielraum verschiedene vertretbare Auslegungen miteinander konkurrieren, d. h. Auslegungen, von denen keine m i t überzeugenden Gründen widerlegbar ist. Das birgt das Risiko, daß persönliche oder nur von partikulären Gruppen getragene Vorstellungen dem Verfassungsbegriff unterschoben werden nach dem Motto: „Legt ihr's nicht aus, so legt was unter". Diese Gefahr besteht etwa in den Auseinandersetzungen darüber, ob und in welchem Umfang kontrollierte gentechische Versuche, heterologe Insemination, Sterbehilf e 2 8 oder etwa auch der einverständliche Einsatz eines Lügendetektors 2 9 gegen die Menschenwürdegarantie verstoßen. Wenn Vorgänge, die in anderen Nationen des gleichen Kulturkreises von mindestens gleich hoher rechtsstaatlicher Tradition als m i t der Menschenwürde vereinbar angesehen werden, kurzerhand als Verstöße gegen Art. 1 Abs. 1 G G erklärt werden, so mahnt dies zur Vorsicht, persönliche Standpunkte und Meinungen engagierter Gruppen nicht vorschnell als verbindliche Verfassungsauslegungen gelten zu lassen. W o die herkömmlichen Auslegungsmittel an Grenzen stoßen, verschlingen sich in den Stellungnahmen der Interpreten nicht selten rechtsdogmatische Aussagen und rechtspolitische Forderungen unlösbar ineinander. Je weiter man den Menschenwürdebegriff faßt, desto mehr w i r d er unvermeidlich m i t wandelbaren und oft nur partikulären Gerechtigkeitsvorstellungen aufgefüllt und desto stärker unterwirft man die „unantastbare" Menschenwürdegarantie auch einem Sinnwandel. Zugleich verengt man — i m gleichen Maße, wie der Begriff der Menschenwürdegarantie ausgedehnt w i r d — die Kompetenzenhoheit des Parlaments (Art. 79 Abs. 3 in Verbindung m i t Art. 1 G G ) . 3 0 A l l dies spricht 24 Zur Unschärfe selbst dieses Kriteriums s.o. I 1. 25 Vgl. W. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 61 ff. 26 Siehe unten Kap. 25 I I 2 d; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 26 I, III; vgl. auch Maihofer (Fn. 25), S. 82 ff. 27 BVerfGE 4, 15 f.; 65, 44. 28 Zu diesen Fällen unten Kap. 27. 29 Dazu R. Zippelius, im Bonner Kommentar, Art. 1 Abs. 1 und 2, Drittbearbeitung 1989, Rdn. 86.

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Kap. 24: Die Garantie der Menschenwürde

dafür, die unantastbare Grundrechtsgarantie der „Menschenwürde " (dazu unten I I I 2,4) eng auszulegen und damit die entwicklungsbedürftigen Gerechtigkeitsfragen einer Regelung durch parlamentarischen Mehrheitsentscheid offenzuhalten. Diese kann jederzeit korrigiert und einem Wandel der Einsichten angepaßt werden. Stimmt man dem zu, dann hat Art. 1 Abs. 1 G G als Grundrecht nur die elementaren Inhalte der Menschenwürde zu gewährleisten, vor allem jene, durch deren Verletzung sich die nationalsozialistische Diktatur zum Unrechtsstaat erniedrigt hatte und gegen deren Verletzung man nun unübersteigbare und auch i m Zeitablauf möglichst 3 1 stabile Schranken errichten wollte. A l s richtungweisende Wertentscheidung (dazu unten I I I 3) drängt die Verfassungsnorm aber darüber hinaus nach einer weitestmöglichen — dem jeweils herrschenden Menschenbild gemäßen — Verwirklichung der Menschenwürde. Ihre nähere Präzisierung erhielt und erhält die Menschenwürdegarantie, wie andere unbestimmte Verfassungsbegriffe, erst i m Voranschreiten einer autoritativen Verfassungspraxis. 32 Sie w i r d durch die Notwendigkeit erzwungen, über konkretere Anwendungsprobleme zu entscheiden, und vollzieht sich auf der Grundlage von Auslegungserwägungen. Diese sollen zwar, soweit möglich, auf rationaler Argumentation beruhen und sich insbesondere an den sonstigen Wertentscheidungen der Verfassung und anderen „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" orientieren, es sind Erwägungen, denen aber „auch willenhafte Elemente nicht fehlen". 3 3 Hierbei bleibt den zur Verfassungskonkretisierung berufenen Organen nicht selten ein beträchtlicher Spielraum für die nähere Präzisierung der Verfassungsbegriffe. Bei dieser spielt neben den genannten Argumenten aus der Vor- und Entstehungsgeschichte der N o r m und dem Verfassungskontext auch das vergleichende Denken eine Rolle: V o m „Begriffskern" der N o r m und den ihm zugeordneten Falltypen ausgehend, w i r d geprüft, ob der vorliegende, problematische Fall — seinem Typus nach — diesen (der N o r m schon zugeordneten) Fällen gleichzubewerten ist oder nicht, und je nachdem in den Begriffs- und Anwendungsumfang der N o r m einzubeziehen ist oder nicht. A u f diesem Wege kann der normative Typus präzisiert und weiterentwickelt werden. 3 4 Diese zuordnend-vergleichende Methode verleiht also dem Begriff der „Menschenwürde", wie anderen normativen Typen auch, eine gewisse „Offenheit" und Entwicklungsfähigkeit; so ist sie ein Weg, den Menschenwürdebegriff mit Bezug auf die Lebenswirklichkeit und die durch sie aufgeworfenen Anwendungsprobleme zu konkretisieren. 35 30 Ähnlich R. Herzog, in: H. Seesing (Hrsg.), Technologischer Fortschritt und menschliches Leben, 1987, S. 25. 31 Zur Wandelbarkeit auch der un verfügbaren Menschenwürdegarantie: BVerfGE 45, 229; E. Benda, in: E. J. Lampe (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsanthropologie, 1985, S. 26 ff. 32 Vgl. BVerfGE 65, 190 f.; 66, 138; Z. Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, 1933, S. 5 f.; M. Drath, in: VVDStRL 9 (1952), S. 94. 33 BVerfGE 34, 287 f. 34 Dazu unten Kap. 37 I I 3.

III. Rechtswirkungen der Menschenwürdegarantie

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A n der Konkretisierung der Menschenwürdegarantie wirken Gesetzgeber, Rechtsprechung, Rechtswissenschaft und nicht zuletzt demokratische Meinungsbildungsprozesse mit. Nur die institutionalisierte Konkretisierung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung gibt hierbei aber an, welche Interpretationen der Menschenwürdegarantie die Chance rechtlicher Gewährleistung erlangt haben. Anknüpfend an den schon umrissenen „Begriffskern" der Menschenwürde geht es i n diesen Konkretisierungen vor allem u m die Achtung des Eigenwertes der Persönlichkeit, die Respektierung ihres Rechts auf moralische Selbstbestimmung und darauf, auch über andere höchstpersönliche Angelegenheiten selbst zu verfügen, auch darüber hinaus um die Achtung der Privat- und Intimsphäre und schließlich darum, menschenunwürdiger Not nicht schutzlos ausgesetzt zu sein. Diese Komponenten des Menschenwürdeschutzes sind vielfältig miteinander verflochten. Soweit solche Konkretisierungen zu einem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ausgestaltet werden 3 6 , ist jedoch zu bedenken, daß dieses Recht in seinem gesamten Geltungsumfang zwar als Konkretisierung der in Art. 1 Abs. 1 enthaltenen Wertentscheidung, aber nicht notwendig auch der unantastbaren Grundrechts garantie zu verstehen ist (näher dazu unter I I I 4). Nicht selten bleibt aber die Frage offen, wie weit der indisponible T e i l des Persönlichkeitsrechts reicht, wo also die Grenzen der unantastbaren Rechtsgewährleistung des Art. 1 Abs. 1 G G verlaufen. 3 7 Insbesondere leidet die Diskussion der Schrankenproblematik 3 8 vielfach darunter, daß beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht die Schutzbereiche des Art. 1 Abs. 1 und des Art. 2 Abs. 1 G G nicht hinreichend klar voneinander unterschieden werden.

I I I . Rechtswirkungen der Menschenwürdegarantie 1. Rechtspflicht

zu Achtung

und Schutz

A l l e r staatlichen Gewalt ist die Rechtspflicht auferlegt, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. 3 9 Die Pflicht zur Achtung der Menschenwürde bedeutet, daß die Staatsgewalt diese nicht beeinträchtigen darf, daß sie insoweit also eine Unterlassungspflicht hat. Das Gebot zum Schutz der Menschenwürde verpflichtet die Staatsgewalt darüber hinaus zu positivem Handeln, zur Abwehr, 35 Hierzu BVerfGE 30, 25. 36 Vgl. BGHZ 13, 338; 24, 76 ff.; BVerfGE 54, 153 ff.; 79, 268. 37 BVerfGE 34, 248; ähnl. Herzog (Fn. 30), S. 26 f.; vgl. auch H. J. Jarass, NJW 1989, 857 ff. 38 Dazu grundsätzlich auch M.Kloepfer, in: Festschr. f. BVerfG, Bd. II, 1976, S. 411 ff.; Ch. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rdn. 21, 43. 39 Vgl. Nipperdey (Fn. 14), S. 26 ff.; I. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rdn. 27 f.

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Kap. 24: Die Garantie der Menschenwürde

wenn die Menschenwürde beeinträchtigt wird, insbesondere auch zur Abwehr von Angriffen, die von dritter Seite, sei es von Privaten oder von einer ausländischen Staatsgewalt 4 0 , k o m m e n . 4 1 Dieser Schutz kann durch Erlaß von Normen, durch Verwaltungshandeln oder durch Rechtsprechung gewährt werden 4 2 , etwa auch durch Ausweisung eines Archivbenutzers, der durch seine Äußerungen die Menschenwürde von Mitbenutzern angreift 4 3 . A u c h wenn die Menschenwürde durch inländische Staatsgewalt angetastet wird, erwächst den anderen staatlichen Organen der Bundesrepublik die Pflicht, i m Rahmen ihrer Kompetenzen die Betroffenen zu schützen. 4 4 Aber nicht nur die Abwehr von „Angriffen", sondern auch die schlichte Abwendung menschenunwürdiger Not gehört zum Inhalt dieser Schutzpflicht. Diese Verpflichtung obliegt „aller staatlichen Gewalt", d. h. dem Bund, den Ländern und allen Trägern mittelbarer Staatsgewalt in allen Funktionen der Gesetzgebung, der Regierung, der Verwaltung, der Kommandogewalt und der Rechtsprechung. 45 2. Grundrechts garantie Verschiedentlich wurde angenommen, Art. 1 Abs. 1 GG wirke nur als verpflichtende Verfassungsnorm, gewähre aber nicht zugleich ein Grundrecht 46, also kein subjektiv öffentliches Recht, dessen Durchsetzung der in seiner Menschenwürde Betroffene selber i n die Hand nehmen könne. Eben dies ist nämlich das Kriterium des subjektiven Rechts: daß derjenige, i n dessen Interesse eine N o r m besteht, auch die verbindliche Durchsetzungsinitiative hat, d. h. die Befugnis, ihre Durchsetzung rechtlich zu erwirken. Konkret stellt sich hier also die Frage, ob jemand Achtung und Schutz seiner Menschenwürde auf dem Rechtsweg (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) und insbesondere durch Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) erzwingen kann. E i n solches Recht, die Menschenwürdegarantie durch Verfassungsbeschwerde geltend zu machen, und eben damit ihre Grundrechtsqualität, hat das Bundesverfassungsgericht von Anfang an bejaht und hierbei das Recht aus Art. 1 Abs. 1 G G auch ausdrücklich als Grundrecht bezeichnet. 4 7 Dem ist die heute herrschende Meinung gefolgt. 4 8 40 W. K. Geck, in: Ztschr. f. ausi. öff. Recht und Völkerrecht 17 (1956 / 57), S. 513 ff.; ders., in: JuS 1965, S. 231. 41 BVerfGE 1, 104; vgl. auch BVerfGE 34, 281 f. 42 Vgl. BVerfGE 49, 142. 43 BVerwGE 18, 37 f.; Stern (Fn. 1), § 58 I I 6 b. 44 v. Münch (Fn. 39), Art. 1 Rdn. 29. 45 Vgl. Nipperdey (Fn. 14), S. 17 f. 46 Zu dieser Frage Zippelius (Fn. 29), Rdn. 25-27. 47 Z. B. BVerfGE 1, 343; 15, 255; 61, 137. 48 Nipperdey (Fn. 14), S. 11 ff.; Wintrich (Fn. 14), S. 31; K. Low, in: DÖV 1958, S. 516 ff.; W. Krawietz, in: GedSchr. f. F. Klein, 1977, S. 248 ff., 278 ff.; E. Benda, in:

III. Rechtswirkungen der Menschenwürdegarantie

281

Schließt man sich dieser Auffassung an, dann bildet nicht nur Art. 2 Abs. 1 G G 4 9 , sondern — gleichsam als letzte Verteidigungslinie — auch noch Art. 1 Abs. 1 G G einen „Auffangtatbestand" für solche Beeinträchtigungen der Menschenwürde, die durch das — sehr dichte — Netz der einzelnen Grundrechtstatbestände etwa nicht erfaßt werden sollten. 5 0 Damit ist sichergestellt, daß die Menschenwürde nicht nur in einer zufallsbedingten Zerlegung in einzelne Freiheitsund Gleichheitsrechte und damit möglicherweise nur lückenhaft gewährleistet w i r d . 5 1 So sieht das Bundesverfassungsgericht insbesondere die Aufgabe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts darin, „ i m Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der ,Würde des Menschen 4 (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen konkreten Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen". 5 2 Die Pflicht, Menschenwürde zu achten und zu schützen, besteht aber nicht notwendig nur gegenüber den Grundrechtsinhabern: Die Rechtslogik verlangt nicht, daß das Schutzobjekt einer Rechtspflicht stets auch Berechtigter ist (wie schon ein vergleichender B l i c k auf ein Tierschutzgesetz zeigt). So kann sich etwa aus Art. 1 Abs. 1 G G eine Pflicht ergeben, Leichen nicht industriell zu verwerten, obgleich diese keine Rechtssubjekte sind. 5 3 A u c h stellt sich die Frage, ob nach Art. 1 G G eine Schutz- und Achtungspflicht zugunsten des nasciturus besteht, unabhängig davon, ob dieser bereits ein Rechtssubjekt i s t . 5 4 3. Richtungweisende

Wertentscheidung

Über das Grundrecht auf Achtung und Schutz der Menschenwürde hinaus enthält Art. 1 Abs. 1 G G auch eine richtungweisende Wertentscheidung, die nicht nur wesentlichen Regelungen der Verfassung zugrundeliegt, sondern nach der sich auch das gesamte übrige Recht richten muß. Als solche bildet sie eine verbindliche Richtschnur für das Ermessen des Gesetzgebers und der Verwaltung, aber auch für jene Wertentscheidungen, die in die Gesetzesauslegungen und die Ausfüllung von Gesetzeslücken einfließen. 5 5

Hdb. d. Verfassungsrechts, 1983, S. 111; v.Münch (Fn. 39), Art. 1 Rdn. 27; Starck (Fn. 38), Art. 1 Abs. 1 Rdn. 18; Häberle (Fn. 15), § 20 Rdn. 74; Stern (Fn. 1), § 58 I I 5. 49 Vgl. BVerfGE 9, 343; 68, 223 f. 50 Vgl. BVerfGE 51, 105. 51 Ähnl. Z. Giacometti, in: Ztschr. f. Schweizerisches Recht 74 (1955), S. 163 ff.; Low (Fn. 48), S. 520. 52 BVerfGE 54, 153. 53 Vgl. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 1 GG Rdn. 4 Fn. 3. 54 Ähnlich Dürig (Fn. 53), Rdn. 24 Fn. 2 m. Nachw. gegenteiliger Ansichten. 55 Vgl. BVerfGE 6, 41; 27, 6; 30, 193; 32, 108; 45, 227; 50, 175; 72, 115, 170; Stern (Fn. 1), §58116.

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Kap. 24: Die Garantie der Menschenwürde

D e m Prinzip weitestmöglicher Entfaltung persönlicher Freiheit und Selbstbestimmung und damit auch größtmöglicher Verwirklichung der Menschenwürde entspricht auch der Grundsatz, daß die Freiheit jedes Einzelnen nur insoweit eingeschränkt werden darf, als vorrangige Interessen dies erforderlich machen. 4. Reichweite

beider

Funktionen

Die Menschenwürdegarantie hat somit eine Doppelfunktion: Sie gewährt nicht nur ein Grundrecht, das aus mehreren Gründen eng zu fassen ist, sondern ist zugleich richtungweisende Wertentscheidung, die über die schlechthin unantastbare Grundrechtsgarantie (Art. 1 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG) hinaus nach einer weitestmöglichen — dem jeweils herrschenden Menschenbild gemäßen 5 6 — Verwirklichung verlangt. 5 7 Diese Doppelfunktion kommt ζ. B. i n der Dogmatik des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zum Vorschein: Das Bundesverfassungsgericht hat dieses aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 G G hergeleitet, es aber gleichwohl für einschränkbar gehalten, sofern die Einschränkung erforderlich sei, u m vorrangige Interessen zu wahren (s. o. I I I 3), und der unantastbare Bereich der Menschenwürde nicht verletzt werde. Dies bedeutet: Das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 G G steht zugleich i m Dienste des Verfassungszieles, die Menschenwürde weitestmöglich zu verwirklichen, ist insoweit aber unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes einschränkbar, während der Bereich der — eng auszulegenden — Grundrechtsgarantie des Art. 1 Abs. 1 G G schlechthin „unantastbar" ist. I n ähnlicher Weise dienen auch andere Freiheitsrechte dem Verfassungsziel einer weitestmöglichen Verwirklichung der Menschenwürde, während der schlechthin unantastbare „Menschenwürdegehalt" der Grundrechte enger ist. 5. Drittwirkung Eine Theorie, die den Grundrechten unmittelbare W i r k u n g nur gegen die öffentliche Gewalt und nicht auch gegen Private zusprechen möchte, enthüllt ihre Unzulänglichkeit gerade auch dort, wo es u m den Schutz der Menschenwürde geht. Es konnte nicht länger übersehen werden, daß — zumal i m pluralistischen Staat — einseitig staatsgerichtete Grundrechte nur einen sehr unvollkommenen Schutz der individuellen Freiheit und Würde böten, die vor allem auch durch soziale Gewalten bedroht sind und auch gegen einen Machtmißbrauch von dieser Seite zu schützen sind. Aber auch darüber hinaus bedarf der Einzelne eines Schutzes dagegen, daß andere i n seine Privatsphäre einbrechen, sein „Persönlichkeitsrecht" und damit seine Menschenwürde verletzen. Solcher Schutz gegen Übergriffe der Mitbürger wird weitgehend schon durch staatliche Gesetze und deren Auslegung „ v e r m i t t e l t " . 5 8 Z u denken ist etwa an 56

Allgemein zur Funktion solcher Leitbilder oben Kap. 14. 57 Vgl. BVerfGE 51, 110. 58 Dazu oben Kap. 23 I 2.

III. Rechtswirkungen der Menschenwürdegarantie

283

Strafgesetze, die sich gegen Verletzungen der Intimsphäre oder gegen würdeverletzende Verunglimpfungen richten. A u c h durch Gesetzesauslegung k o m m t die Menschenwürdegarantie mittelbar zur Geltung: überall dort, wo sie — als „richtungweisende Wertentscheidung" — für die Auslegung (auch privatrechtlicher Rechtsnormen) und für die Ausfüllung von Gesetzeslücken als Richtschnur dient 5 9 . So ist etwa ein die Menschenwürde des Vertragspartners verletzendes Rechtsgeschäft ein Verstoß „gegen die guten Sitten" und daher nichtig (§ 138 Abs. 1 B G B ) , und eine mit der Menschenwürde unvereinbare Vertragserfüllung unzumutbar und daher nach Treu und Glauben ablehnbar (§ 242 B G B ) . Doch wirkt die Menschenwürdegarantie unmittelbar auch i m Verhältnis der Bürger untereinander verpflichtend. Dies gewinnt dort praktische Bedeutung, w o die genannte „mittelbare" Drittwirkung unzureichend ausgestaltet ist, wie das i m Falle des allgemeinen PersönlichkeitsrechfVzutraf: Daraus,-daß Art. 1 Abs. 1 G G die Menschenwürde für schlechthin unantastbar erklärt, folgt nicht nur für die Staatsgewalt, sondern für jedermann das Verbot, die Menschenwürde anderer anzugreifen. Dieses allgemeine Verbot ist durch die staatliche S c h u l p f l i c h t mit einer Rechtsgewährleistung verbunden, die von jedem Angegriffenen in Anspruch genommen werden kann; dies genügt, u m ein subjektives Recht gegenüber jedermann zu begründen. 6 0 Z u einer Pflicht „Dritter", die Menschenwürde zu achten, muß auch schon die einfache Überlegung führen, daß der Pflicht des Staates, die Menschenwürde auch gegen private Angriffe zu schützen, verständigerweise eine von jedem zu beachtende Pflicht entsprechen muß, die Menschenwürde der anderen nicht anzutasten. 61 Greifbar wird diese Drittwirkung vor allem i n dem „allgemeinen Persönlichkeitsrecht". So gelangte der Bundesgerichtshof zu der Ansicht, daß das Grundgesetz das Recht auf Achtung der Würde und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit „auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht anerkennt". 6 2 Eine solche Drittwirkung des Art. 1 G G war auch schon in den Beratungen über das Grundgesetz ins Auge gefaßt worden. 6 3 Der Schutz der Menschenwürde verlangt auch, daß jemand dort, wo seine engere persönliche Lebenssphäre und deren Grundbedingungen betroffen werden, nicht unbegrenzt den Verfügungen anderer ausgeliefert w i r d . 6 4 59 Vgl. BVerfGE 7, 205; 42, 148; 73, 269. 60 Ähnlich nun auch Starck (Fn. 38), Art. 1 Rdn. 18. 61 So wie etwa auch einer Straf Sanktion gegen Totschlag ein allgemeinverbindliches Verbot zugrunde liegen muß, andere zu töten, selbst wenn dieses nicht ausdrücklich ausgesprochen ist. 62 BGHZ 13, 338; 24, 76 ff.; ähnl. schon H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 107 ff; vgl. auch G. Küchenhojf, in: Festschr. f. W.Geiger, 1974, S. 48 ff. 63 A. Süsterhenn erläuterte im Ausschuß für Grundsatzfragen den Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG als „eine absolute Feststellung, die sich gegen jedermann wendet, sowohl gegen die staatliche Gewalt wie auch gegen jeden Privaten und gegen jede Institution" (Jahrbuch d. öff. Rechts 1 (1951), S.51). 64 BVerfGE 72, 170 f.

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Kap. 24: Die Garantie der Menschenwürde 6. Die Unantastbarkeit

der Menschenwürde

garantie

a) Daß der normative Gehalt der Grundrechtsgarantie auf Achtung und Schutz der Menschenwürde nicht durch Gesetz eingeschränkt werden darf, folgt aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 G G und — a maiore ad minus — aus Art. 79 Abs. 3 GG, wonach ihre Gewährleistung nicht einmal durch verfassungsänderndes Gesetz „berührt" werden darf. Keine Einschränkung der Menschenwürdegarantie n i m m t aber ein Gesetz oder ein sonstiger A k t vor, der nur bis an die Grenzen herangeht, die dem Rechtsbegriff der Menschenwürde innewohnen und i m Wege bloßer Auslegung offengelegt werden können. 6 5 W o die Grenzen des unverfügbaren Bestandes der Grundrechtsgarantie liegen, hat sich bisher einer präzisen generellen Feststellung entzogen. Wenn das Bundesverfassungsgericht etwa sagte, jeder müsse staatliche Maßnahmen hinnehmen, „die i m überwiegenden Interesse 4er Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebotes erfolgen, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen" 6 6 , so verbirgt sich i n dem SoweitSatz unter dem Aspekt der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 1 Abs. 1 G G gerade die entscheidende Frage. 6 7 b) Die aus der Verfassungsnormabzuleitende individuelle Rechtsstellung ist gleichfalls unantastbar. Die Menschenwürde findet sich nicht i m Katalog der verwirkbaren Grundrechte (Art. 18 Abs. 1 GG), ganz abgesehen davon, daß sich ein „Mißbrauch" der Würde schwerlich vorstellen ließe. Die Menschenwürde ist auch unverzichtbar; der Einzelne kann daher die staatliche Gewalt nicht von ihrer Pflicht dispensieren, die Menschenwürde zu achten und zu schützen. Das bedeutet aber nicht schon, daß jede Einwirkung, die ohne Einwilligung des Betroffenen dessen Menschenwürde verletzen würde, auch m i t seiner E i n w i l ligung eine Menschenwürdeverletzung enthält. Vielmehr ist zu bedenken, daß gerade die Autonomie des Einzelnen „das Herzstück dieser Würde i s t " . 6 8 Daraus folgt, daß jeder Einzelne weitgehend das Recht haben muß, selbst darüber zu entscheiden, was seiner Menschenwürde entspricht. So können etwa die freiwillige Benutzung eines Lügendetektors, eine freiwillige, persönlichkeitsverändernde Hirnoperation oder eine freiwillige Kastration mit der Menschenwürde vereinbar sein, obgleich solche Eingriffe, wenn sie nicht vom W i l l e n des Betroffenen getragen sind, dessen Menschenwürde verletzen 6 9 . Insbesondere hat der Einzelne einen Spielraum, über den Umfang des von ihm in Anspruch genommenen 65 Dazu oben Kap. 23 I I 2. 66 BVerfGE 27, 351; 34, 245 f. 67 V g l . a u c h Herzog (Fn. 30), S. 26 f . 68 Stern (Fn. 1), § 58 I I 6 c ß. 69 K. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 46 ff., 105 ff., 109 ff.; Starck (Fn. 38), Art. 1 Abs. 1 Rdn. 20.; zum Lügendetektor siehe auch oben Fn. 29.

III. Rechtswirkungen der Menschenwürdegarantie

285

sozialen Achtungsanspruches selbst zu befinden. Der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie bemißt sich also nicht zuletzt auch danach, wie der Einzelne „sich i n seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewußt w i r d " . 7 0 — A u c h in diesen Fällen bleibt aber eine Unschärfezone, innerhalb deren festzustellen ist, was i n dieser Rechtsgemeinschaft als Verstoß gegen die verfassungsrechtlich geschützte Menschenwürde zu gelten habe. Diese Konkretisierung kann sich an dem Gedanken orientieren, daß „Auswüchse autonomer Entscheidungen" 7 1 das Recht des Einzelnen zur Selbstbestimmung unbeachtlich machen, so daß die öffentliche Gewalt hier die Würde des Einzelnen auch gegen dessen W i l l e n zu schützen hat. A u c h abgesehen von den Fällen, in denen jemand selbst seinen Achtungsanspruch gegenüber der Gemeinschaft reduziert, ist die typische Situation, in der sich jemand befindet, für die Konkretisierung der Menschenwürde von Bedeut u n g . 7 2 So kann es etwa für geistig Behinderte nur einen ihrem Geisteszustand angemessenen Würdeschutz geben. 7 3 Konkretisierungen der Menschenwürdegarantie, welche die typischen Situationen der Grundrechtsinhaber — insbesondere deren autonomen Verfügungen über sich selbst — in Rechnung stellen, setzen nicht die Menschenwürdegarantie für den Einzelfall außer Kraft. Vielmehr werden die konkreten Fälle hier zum Anlaß, Inhalt und Grenzen der Menschenwürdegarantie zu bestimmen 7 4 : durch eine fallbezogene Grundrechtsinterpretation, die auch für gleichartige Fälle Geltung beansprucht. 75 Hier vollzieht sich also die Ermittlung des Inhalts und damit auch der Grenzen der Grundrechtsgarantie i m Wege einer exemplifizierenden Kasuis t i k 7 6 ; das bedeutet: Es w i r d für Fälle bestimmter A r t — also generell — näher bestimmt, ob i n ihnen die Menschenwürdegarantie verletzt ist oder nicht.

70 71 72 73 74 75 76

BVerfGE 49, 298. Stern (Fn. 1). v. Münch (Fn. 39), Art. 1 Rdn. 12; Starch (Fn. 38). E. Quambusch, in: Ztschr. f. Sozialhilfe, 1988, S. 10 ff. Th. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 20 I 1. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 16 II. Zippelius (Fn. 75), § 12 I c.

Kapitel

25

Die Glaubens- und Gewissensfreiheit I . Geschichtliche Grundlagen Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens, des Bekenntnisses und der Religion ist ein Zusammenfluß verschiedener, auf mannigfache Weise miteinander kommunizierender staatskirchenrechtlicher, geistesgeschichtlicher und verfassungshistorischer Entwicklungen und Strömungen. 1 1. Zerfall

der Glaubenseinheit

und Abbau des Staatskirchentums

Die Erklärung des Christentums zur Staatsreligion des Römischen Reichs hatte keine Vollendung des christlichen Individualismus, sondern eine Rückkehr zum antiken „Etatismus" i n Religionsangelegenheiten bedeutet, in dem nun die v o m Kaiser gebilligte und dirigierte 2 Glaubenslehre zu einem konstitutiven Element der politischen Ordnung wurde. A u c h die karolingische Reichskirche, die sächsisch-salische Kirchenherrschaft, die knapp zwei Jahrhunderte päpstlicher Vormacht und das m i t der erstarkenden Territorialherrschaft sich neu festigende Staatskirchentum hatten für eine v o m individuellen Gewissen geleitete Glaubensfreiheit keinen Raum gelassen. Selbst der Augsburger Religionsfriede (1555) 3 schuf noch keine Glaubensfreiheit, sondern nur eine „Glaubenszweiheit" 4 , gewährte nur eine Wahlfreiheit zwischen der katholischen und der augsburgischen Konfession, die zudem nicht jedermann, sondern — als Landfriedensregelung — nur den Reichsständen zugute kam, denen nun ein ius reformandi zustand (§ 15). Ansätze einer Untertanenfreiheit bestanden in dem — nach Belieben der Reichsstände zu übenden — ius 1 Siehe dazu etwa H. Bornkamm u. a., Art. Toleranz, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 1962/1986; H.Lutz (Hrsg.), Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, 1977, m. w. Nachw.; M. Hoffmann (Hrsg.), Toleranz und Reformation, 1979, m. w. Nachw. 2 Vgl. H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 1964, S. 73, 75 f. 3 Zu den staatskirchenrechtlichen Ordnungen von 1555 und 1648: H. Conrad, in: Lutz (Fn. 1), S. 161 ff.; A. v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, §§ 5, 6, m. w. Nachw.; M. Hechel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983, S. 33 ff.; ders., Gesammelte Schriften, 1989, S. 1 ff., 125 ff., bes. 134 ff., 162 ff. 4 G. Anschütz, in: HdbStR, Bd. II, S. 676 f.; M. Hechel, Gesammelte Schriften, 1989, S. 149 f.

I. Geschichtliche Grundlagen

287

tolerandi und i m beneficium emigrandi (§ 24; vgl. IPO, Art. V § 30), welches das Toleranzproblem in ein Freizügigkeitsproblem abwandelte 5 . A m weitesten drang der Toleranzgedanke i n konfessionell gemischten Reichsstädten vor, i n denen Parität herrschen sollte (§ 27). I m Westfälischen Frieden (1648) wurde das ius reformandi (IPO, Art. V § 30) auch zugunsten des reformierten Glaubens verliehen (IPO, Art. V I I ) . Die Duldung anderer Konfessionen und Religionen blieb von Reichs wegen verboten, wenngleich dieses Verbot nicht v o n allen Landesherren beachtet wurde. Für den Bereich der zugelassenen Konfessionen gab es nun von Reichs wegen auch gewisse Ansätze einer den einzelnen Untertanen gegenüber zu übenden Toleranz. I n dem Umfang, wie i m Normaljahr (1624) öffentliche oder private Religionsausübung gestattet war, sollte sie erlaubt bleiben (IPO, Art. V §§ 31, 32). A u c h i n den anderen Territorien mußte der Landesherr den Angehörigen der anderen Konfession, wenn er sie nicht zur Auswanderung zwang, die vollen bürgerlichen Rechte, die Hausandacht und ein ehrliches kirchliches Begräbnis zugestehen (IPO, Art. V §§ 34, 35, 36). Eine weitergehende Toleranz wurde erst auf Grund der inzwischen konsolidierten landesherrlichen Gewalt in verschiedenen Territorien gewährt, so insbesondere unter Friedrich II. in Preußen; dem entsprach die Regelung i m preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794: „Die Begriffe der Einwohner des Staats von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von Zwangsgesetzen sein" (§1 II H)· „Jedem Einwohner im Staat muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden" (§ 2 I I 11). „Niemand ist schuldig, über seine Privatmeinungen in Religionssachen Vorschriften vom Staat anzunehmen" (§3 I I 11). Als frühes Dokument religiöser Liberalisierung in Deutschland ist vor allem auch das österreichische Toleranzpatent v o m 13. 10. 1781 zu nennen. 6 Die Regelung des preußischen Allgemeinen Landrechts ist auch deshalb bemerkenswert, w e i l sich hier die verschiedenen Schichten der Glaubens- und Religionsfreiheit deutlich voneinander abhoben: die bereits dargestellte individuelle Glaubensfreiheit, einschließlich des Rechts zum häuslichen Gottesdienst (§ 7 I I 11), die ohne weiteres gewährt war, dann die religionsgesellschaftliche Vereinigungsfreiheit, die unter Genehmigungsvorbehalt stand (§ 10 I I 11), und das Recht s F. Werner, Recht und Toleranz, 1963, S. 5; vgl. auch E.-W. Böckenförde, in: VVDStRL 28 (1970), S. 37 f.; Heckel (Fn. 4), S. 173, 712. 6 Vgl. H. Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit, 1891, Kap. 3 ff. und die weit. Quellennachw. auf S. 298, 300 ff.; H. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, 1958, S. 55 ff., 64 ff.; W. Hamel, Glaubens- und Gewissensfreiheit, in: K. A. Bettermann / H. C. Nipperdey / U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. IV 1, 1960, S. 44 f.; Conrad (Fn. 3), S. 171 ff.; A. v. Campenhausen, in: HdbStR, § 136, Rdn. 18 ff.

288

Kap. 25: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit

zu öffentlichen religiösen Feierlichkeiten, das nur den öffentlich aufgenommenen Kirchengesellschaften zukam (§§ 17, 20 und 25 I I 11). Unter dem nachwirkenden Einfluß der Aufklärung und nach dem V o r b i l d verschiedener westeuropäischer und nordamerikanischer Rechtsgewährleistungen verwirklichte sich dann i m neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert i n Deutschland insgesamt die individuelle Glaubensfreiheit. 7 Einen wichtigen Auftakt hierzu bildete Art. 16 der Deutschen Bundesakte v o m 8. 6. 1815. § 30 der kurhessischen Verfassung v o m 5. 1. 1831 garantierte die volle Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung. A u c h Art. 12 der preußischen Verfassung v o m 3 1 . 1 . 1850 ging i n der Gewährung der religionsgesellschaftlichen Vereinigungsfreiheit und der Freiheit zur öffentlichen Religionsausübung über das preußische Allgemeine Landrecht hinaus: „Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgesellschaften (Art. 30 und 31) und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen". 8 Trotz der unleugbaren Konvergenz zwischen wachsender Glaubens- und Religionsfreiheit einerseits und zunehmender Trennung von Kirche und Staat andererseits 9 zeigte die staatskirchenrechtliche Entwicklung in Deutschland i m neunzehnten Jahrhundert, daß die Gewährung von Glaubens- und Religionsfreiheit sich durchaus vertragen konnte mit einer Staatsaufsicht über die Kirchen (iura circa sacra). A u c h i n den Kirchenartikeln der Weimarer Verfassung (Art. 137 ff.) und i m Grundgesetz (Art. 140, vgl. auch Art. 7 Abs. 3) wurde eine radikale Trennung von Kirche und Staat nicht v e r w i r k l i c h t . 1 0 2. Theologische

Gründe der

Gewissensachtung

Der theologische Anspruch auf Achtung des christlichen Gewissens beruht auf der Vorstellung, daß i m Gewissen der W i l l e Gottes i n Erscheinung trete; ? v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 23 ff. s Vgl. auch das Ges. des Nordd. Bundes v. 3. 7. 1869, später ReichsGes. v. 22. 4. 1871. Zur Entwicklung im 19. Jahrhundert: Hechel (Fn. 4), S. 382 ff.; K. Obermayer, in: Bonner Kommentar, Art. 140, Rdn. 17 ff. 9 G.Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 3. Aufl. 1919, S. 43, 46, 55: Zusammenhang zwischen dem angelsächsischen Independentismus mit der Religionsfreiheit; M. S. Bates, Glaubensfreiheit, dt. 1947, S. 560 f.; Scholler (Fn. 6), S. 85, 96; ders., Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, 1962, S. 29 f.: Verbindung der Forderung nach Gewissensfreiheit und des Postulats einer Trennung von Kirche und Staat in den Verhandlungen in der Frankfurter Paulskirche (1848) und in der Weimarer Nationalversammlung (1919); Hamel (Fn. 6), S. 54; H.Krüger, Allg. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 49. 10 Vgl. A. Erler, Kirchenrecht, 5. Aufl. 1983, Kap. 32 ff.; Obermayer (Fn. 8), Rdn. 28 ff.; v. Campenhausen (Fn. 3), §§ 10 I, 13 ff., 26.

I. Geschichtliche Grundlagen

289

dies ist altes jüdisches und christliches Glaubensgut. 1 1 Allerdings offenbare sich Gott nicht i n jedem Gewissen. So w i r d die Tatsache, daß die Gewissensmeinungen voneinander abweichen, vereinbar m i t dem Ausschließlichkeitsanspruch, den das Evangelium für sich selbst erhebt. 1 2 „ D e m Evangelium eignet . . . Bewußtsein der einzigen und ausschließlichen Wahrheit und daher Intoleranz". 1 3 Allenfalls sind „Toleranz und Religionsfreiheit ein Dulden des I r r t u m s " . 1 4 Freilich soll zum Glauben niemand gezwungen werden. Schon Luther schrieb: „ Z u m Glauben kann und soll man niemand zwingen". Die weltliche Gewalt erstreckt sich nicht über „der Seelen Gedanken und Sinne". Es ist „ein freies Werk um den Glauben, dazu man niemand kann z w i n g e n " . 1 5 A u c h die katholische Kirche erkennt heute die Glaubensfreiheit als Prinzip des Rechts a n . 1 6 3. Philosophische

Gründe der

Gewissensachtung

Wurzeln der Gewissensachtung und Toleranz liegen vor allem i n der Philosophie der Aufklärung, i m philosophischen Relativismus und in einer auf Gewissensautonomie gegründeten Ethik. Diese hatten wichtige Gründe zum einen in der zunehmenden Berührung mit anderen Kulturen, zum andern darin, daß i n den religiösen Auseinandersetzungen des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts widerstreitende theologisch-naturrechtliche „Gewißheiten" gegeneinander ins Feld zogen. Der Unmut hierüber führte einerseits zum Gesetzespositivismus Hobbes'scher Prägung, der anstelle inhaltlicher „Wahrheiten" die Sicherung der Ordnung und des Friedens als Höchstwert proklamierte. 1 7 Andererseits entsprang aus der neu erwachten Skepsis gegen absolute theologische, ethische und politische „Wahrheiten" der Gedanke der Toleranz. 1 8 Es wiederholte sich der weltanschauliche Relativismus einer aufgeklärten Spätkultur, wie er früher schon einmal aus den — geradezu friderizianisch anmutenden — Worten des Mailänder Toleranzedikts (313) gesprochen hatte, „daß die Freiheit der Religion nicht zu versali Jer. 31, 33; Rom. 2, 14 und 15; Augustinus, De sermone Domini in Monte, I I n. 32; Thomas von Aquin, Kommentar zum Römerbrief, II, 3; ders., De ventate X V I I ; Gaudium et spes, AAS 58 (1966), S. 1025 ff., Art. 16; Artikel „Gewissen", in: Religion in 1 Geschichte Gegenwart, 3. Aufl.Apg. 1957 / 1986. 2 "Es ist inund keinem andern Heil": 4,ff.12; vgl. auch Joh. 14, 6; Gal. 1, 9. 13 P. Althaus, Toleranz und Intoleranz des Glaubens, Theol. Aufsätze, I I 1935, S. 112; vgl. auch Hechel (Fn. 4), S. 1159 ff. 14 K. Weinzierl, Archiv f. kath. Kirchenrecht 132 (1963), S. 60; allgemein zum Verhältnis von Religion und Toleranz vgl. auch J. Kühn, Toleranz und Offenbarung, 1923; A. Hartmann, Toleranz und christlicher Glaube, 1955, S. 62 ff., 118 ff.; G. Mensching, Toleranz und Wahrheit in der Religion, 1955; E. G. Rüsch, Toleranz, 1955; Hamel (Fn. 6), S. 39 ff.; E.-W. Böckenförde, in: Lutz (Fn. 1), S. 404 f.; Hechel (Fn. 4), S. 1154 ff. 15 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 2. Abschn.; vgl. aber auch H. Hoffmann, Reformation und Gewissensfreiheit, 1932, S. 11 ff. 16 Vgl. c. 747 § 2 CIC: „Niemand hat das Recht, Menschen gegen ihr Gewissen zur Annahme des katholischen Glaubens zu zwingen"; ferner Böckenförde (Fn. 14), S. 409 ff. 17 Dazu oben Kap. 5 II. is Dazu oben Kap. 22 II. 19 Zippelius

290

Kap. 25: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit

gen, sondern es dem W i l l e n und der Entscheidung eines jeden überlassen bleiben muß, seinen Gottesdienst nach seinem Ermessen einzurichten", und daß es allen erlaubt sei, „derjenigen Religion zu folgen, der sie wollen, damit die Gottheit . . ., welche sie auch sei, sich uns als gnädig und gewogen erzeige". Ä h n l i c h versteht auch die heutige Staatsrechtslehre „unter Toleranz das Hinnehmen von Auffassungen und Entscheidungen . . ., und zwar in der Weise, daß w i r der Person, die die Auffassung vertritt oder die Entscheidung gefällt hat, die gleiche Achtung entgegenbringen, als wenn sie anders gedacht oder gehandelt hätte. Das Hinnehmen ist also mehr als ein bloßes D u l d e n " . 1 9 V o r eine Vielzahl verschiedener Weltanschauungen und heteronomer Verhaltensmaximen gestellt, erschien dem Einzelnen nun das eigene Gewissen als letzte Instanz, zu der sein Bemühen um moralische Einsicht vorzudringen vermochte. 2 0 Dies rief den Einzelnen in persönliche Verantwortung und Selbstbestimmung. 4. Demokratietheoretische

Folgerungen

Der Autonomiegedanke Kants, nach welchem das Gewissen jedes Einzelnen die letzte uns zugängliche moralische Instanz ist, steht in engem Zusammenhang m i t der Idee demokratischer Legitimation. Bedeutet er doch, daß jeder eine dem anderen gleichzuachtende moralische Instanz sei, daß also jeder eine gleichberechtigte moralische Beurteilungskompetenz und Würde habe. Übertrug man diese Vorstellung aus dem Bereich der Individualmoral in den des rechtlich geordneten Zusammenlebens, so mußte sie zu dem Anspruch führen, daß alle in gleichberechtigter moralischer Kompetenz auch über die öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere über die Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit, mitzureden und mitzuentscheiden haben. Die Demokratie erscheint dann als jene Staatsform, in der das Recht und die politische Willensbildung ihre Wurzeln letztlich in vernunftgeleiteten Gewissensentscheidungen der einzelnen Staatsbürger haben sollten, als die Staatsform, die sich auf Gleichachtung und gleichberechtigte Mitwirkungsbefugnis jedes Bürgers gründen soll und der individuellen Autonomie die größtmögliche Chance eröffnet, sich auch in den rechtlich-politischen Bereich hinein zu entfalten. 2 1 Da die politische Willensbildung ihre Wurzeln auch und gerade in Gewissensentscheidungen der Einzelnen hat, gewinnt schon die Gewissensfreiheit über die bloße Sicherung des status negativus hinaus eine konstitutive F u n k t i o n . 2 2 So hat man mit Recht die Verflochtenheit der auf Gewissen gegründeten Autonomie und der Demokratie hervorgehoben: M i t der Gewährleistung der 19 Th. Maunz, Toleranz und Parität, 1953, S. 5; vgl. auch BVerfGE F. Werner Recht und Toleranz, 1963. 20 Siehe oben Kap. 7 I. 21 Dazu oben Kap. 11 IV. 22 Dazu oben Kap. 11 I V 4.

12, 6; 32, 106;

I. Geschichtliche Grundlagen

291

Menschenwürde und der Gewissensfreiheit hat sich das Grundgesetz für einen Staatstypus entschieden, „der von der Freiheit des Bürgers ausgeht und auf seiner Gewissensentscheidung aufbaut". 2 3 „Erst dadurch . . . wird die Autonomie, die Selbstbestimmung, die Freiheit des Bürgers respektiert, daß er an der Setzung des Rechtes, dem er untersteht, als Mitbestimmender (zumindest potentiell) teilh a t " . 2 4 Der „innere Zusammenhang zwischen Demokratie und Gewissensfreiheit beruht darauf, daß das freie Gewissen immer auch ein souveränes sein muß, m i t der Folge, daß Gewissensfreiheit als Grundrecht des status negativus immer die Tendenz hat, in ein aktives Staatsbürgerrecht des status activus umzuschlagen . . . So ist vor allen anderen Grundrechten das Grundrecht der Gewissensfreiheit berufen, nicht Grenze, sondern Grund des Staates zu sein". 2 5 Hinter dem Ideal bleiben die Realitäten notgedrungen zurück: Vielfach divergieren schon die Gewissensüberzeugungen; faute de mieux sucht man daher i m Mehrheitsprinzip die größtmögliche Annäherung an den Konsens aller. A u c h zwingt der demokratische Prozeß die Bürger nicht, stets nach ihrem Gewissen zu handeln, sondern gestattet ihnen, als Interessenten oder auch als Mitläufer manipulierter Meinungen zu entscheiden; darum müssen institutionelle und prozedurale Vorsorgen getroffen werden, um die Konsensfähigkeit „abzuklären" und zu Entscheidungen zu gelangen, die geeignet sind, die meisten zu überzeugen und so die Zustimmung der meisten zu finden. 2 6 5. Grundrechtsschutz

der Glaubens- und Gewissensfreiheit

Nicht nur für unser Verständnis demokratischer Legitimität, sondern auch für die Entstehung der Menschenrechte bildete die Glaubens- und Gewissensfreiheit einen der wichtigen Kristallisationspunkte, wobei der Streit um den historischen Primat dieses Grundrechts 2 7 von geringer Bedeutung ist. Gerade in Glaubensstreitigkeiten und Glaubensverfolgungen, wie sie i m sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert West- und Mitteleuropa mit Unruhe erfüllten, mußte mit der Forderung, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, auch das Postulat unüberschreitbarer Schranken der Staatsgewalt in das allgemeine Bewußtsein rücken. Der von den Levellern ausgearbeitete Entwurf des Agreement of the People v o m 28. 10. 1647 bestimmte, „that matters of religion and the ways 23 Maunz (Fn. 19), S. 9. 24 w. Kägi, in: ZfSchweizR 1956, 841 a, 842 a. 25 H. Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit, 1962, S. 31 f. 26 Dazu oben Kap. 5 V. Obenstehender Text ist zum Teil aus der als Kap. 24 abgedruckten Abhandlung übernommen. 27 Vgl. zu dieser Frage: Jellinek (Fn. 9); H. Rehm, Allg. Staatslehre, 1899, S. 247 f.; N. Paulus, Protestantismus und Toleranz im 16. Jahrhundert, 1911, S. 350 ff., 362 ff.; G. A. Salander, Vom Werden der Menschenrechte, 1926, insbes. S. 67 ff., 83 ff.; G. Ritter, in: Hist. Ztschr. 169 (1949), S. 237 ff.; H. Welzel, in: Festschr. f. R. Smend, 1952, S. 387 f.; J. Bohatec, England und die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechte, 1956, S. 13 ff.; Hornel (Fn. 6), S. 40 ff.; Scholler (Fn. 6), S. 36 ff. 19=

292

Kap. 25: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit

o f God's worship are not at all entrusted by us to any human power, because therein we cannot remit or exceed a tittle of what our consciences dictate to be the m i n d o f God without w i l f u l sin" (Abschn. I V 1). I n dem von Roger W i l l i a m s und seinen Getreuen geschaffenen Gemeinwesen Providence sollte nach dem Gründungsvertrag die Religion überhaupt nicht Gegenstand der Gesetzgebung sein, entsprechend der Lehre von Williams, daß alle Staaten ihrem Wesen nach auf das weltliche Gebiet beschränkt seien und sich in geistliche Dinge nicht einzumischen haben, daß alle Gewissen und Kulte, christliche und heidnische, sich frei entfalten sollten und gegen sie nur m i t geistigen Waffen gestritten werden dürfe. 2 8 L o c k e 2 9 und andere verkündeten die Religionsfreiheit als Menschenrecht. So wie i m Mittelalter die weltliche Gewalt eine Grenze an der organisierten Kirche fand, so sollte, dem aufkommenden Individualismus der Neuzeit gemäß, der Staat nun eine Schranke an den Glaubensentscheidungen der individuellen Gewissen finden, wobei dieser Anspruch auf Gewissensachtung aber nicht nur theonome, sondern auch säkulare Wurzeln hatte. Noch in einigen — nicht in allen — nordamerikanischen Declarations o f Rights stand die Glaubensfreiheit i m Vordergrund. 3 0 Seither gehört die Glaubens- und Gewissensfreiheit zum festen Bestand der Grundrechtskataloge. 31

I I . Ausgestaltung unter dem Grundgesetz 1. Die weltanschaulich-religiöse

Neutralität

des Staates

„Das Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 G G sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 W R V in Verb. m. Art. 140 G G dem Staat. . . weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse". 3 2 28 Jellinek (Fn. 9), S. 47 f. 29 J. Locke , A Letter concerning Toleration, 1689. 30 Jellinek (Fn. 9), S. 56 f.; Hamel (Fn. 6), S. 42 m. w. Nachw. 31 Vgl. etwa Art. 1 der Amendments zur nordamerikanischen Bundesverfassung von 1791; Art. 10 der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789; Art. 5 der französischen Verfassung von 1814; Art. 14 der belgischen Verfassung von 1831; Art. 7 der französischen Verfassung von 1848; §§ 144-148 der Paulskirchenverfassung von 1849 — mit Hervorhebung der Freiheit, sich von kirchlichen Handlungen oder Feierlichkeiten fernzuhalten; Art. 12 der preußischen Verfassung von 1850; Art. 135, 136 WRV; Art. 124 der UdSSR-Verfassung von 1936; Art. 52 der UdSSR-Verfassung von 1977 —jeweils mit Hervorhebung der Freiheit zu antireligiöser Propaganda; Art. 39 der DDR-Verfassung von 1968/ 1974; Art. 18 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948; Art. 9 der Europ. Menschenrechtskonvention von 1950; Art. 18 des Bürgerrechtspaktes von 1966. 32 BVerfGE 19, 216; vgl. auch BVerfGE 12,4, 54; 18, 386; 19, 8; 35, 375 f.; U. Scheuner, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 7 (1959/60), S. 230 f.; K.Hesse, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 11 (1965), S. 354 ff.; K. Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtli-

II. Ausgestaltung unter dem Grundgesetz

293

a) Indifferenz? K r ü g e r 3 3 sieht Kennzeichen staatlicher Neutralität darin, daß der Staat die Auffassung eines religiösen Glaubens nicht seinen Maßnahmen, ζ. B. seiner Ehegesetzgebung, zugrunde zu legen habe. Nun ist aber solche rigorose Indifferenz schwerlich realisierbar. Gewährleistet doch das Grundgesetz jeden Glauben und jedes Bekenntnis auch mit der Konsequenz, daß diese in ihrer Pluralität i n dem sozialen und politischen Machtprozeß wirken und damit auch die Rechtswirklichkeit mitgestalten können. Hier zeigt sich die Unmöglichkeit, Staat, Religion und Weltanschauung restlos zu entflechten. 3 4 Weltanschauliche Neutralität bedeutet also in einem pluralistischen Staat keine rigide staatliche Indifferenz gegenüber religiösen Vorstellungen. Insbesondere darf staatliches Handeln religiöse Lehren berücksichtigen, aus denen „große Teile des Volkes die Maßstäbe für ihr sittliches Verhalten entnehmen' 4 . 3 5 In dem demokratischen Prozeß „ständiger geistiger Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen" 3 6 können auch Glaubensvorstellungen der Bürger Anteil an der Bildung des Staatswillens gewinnen. 3 7 Der Grundsatz staatlicher Neutralität mündet damit i n die Aufgabe, den Einzelnen ungeachtet ihrer Weltanschauung gleichberechtigt gleiche Entfaltungs- und demokratische Mitwirkungschancen zu lassen. 38 Doch muß sich der Grundrechtsschutz darin bewähren, daß er auch demokratische Mehrheiten hindert, religiösen oder weltanschaulichen Minderheiten „ihren religiös-weltanschaulichen Standpunkt zu oktroyieren". 3 9 Ein durch weltanschauliche Einflüsse mitgeprägtes Gesetz darf also insbesondere die Glaubens-, Gewissens·, Bekenntnis- und Religionsfreiheit anders Eingestellter nicht antasten. Der Staat darf aber auch nicht Monopol- oder Vorzugsrechte zugunsten einer Religion oder Weltanschauung als solcher einräumen 4 0 und hierdurch den Grundsatz der Gleichbehandlung verletzen. Ferner dürfen einer Religionsgesellschaft keine Hoheitsbefugnisse gegenüber Personen verliehen werden, die ihr nicht angehören. 41 Nach diesen Grundsätzen werden die Schranken der Glaubens- und Gewissensfreiheit ζ. B. nicht schon damit durchbrochen, daß in staatlichen Schulen weltanschaulich-religiöse Unterrichtsinhalte angeboten werden, sofern das unter Orienches Prinzip, 1972, insbes. S. 129 ff., 236 ff.; s. demgegenüber Hamel (Fn. 6), S. 77 ff. und die Nachweise von Konfessionalisierungstendenzen bei H. Simon, Katholisierung des Rechtes? 1962, 15 ff. 33 Krüger (Fn. 9), S. 49. 34 Dazu oben Kap. 14. 35 BVerfGE 6, 434 f.; vgl. auch BVerfGE 69, 344 ff. 36 BVerfGE 5, 135. 37 Hesse (Fn. 32), S. 359 f.; Schiaich (Fn. 32), S. 259 ff. 38 Dazu oben Kap. 14 V. Ähnlich R. Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 4, Rdn. 21 f. 39 v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 96. 40 Ähnlich Hesse (Fn. 32), S. 359; zur Frage legitimer Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften vgl. D. Ehlers, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 32 (1987), S. 173 ff. 41 BVerfGE 19, 216.

294

Kap. 25: Die Glaubens- und Gewissensfreiheit

tierung an den Wünschen der Schüler oder ihrer Erziehungsberechtigten geschieht; 4 2 dem entspricht die verfassungsrechtliche Ausgestaltung (Art. 7 Abs. 2 und 3 GG). — Andererseits verbietet es das Prinzip der konfessionellen Neutralität und insbesondere die Achtung der Glaubens- und Gewissensfreiheit, daß der Staat weltanschaulich geprägte Unterrichtsinhalte aufdrängt. 4 3 b) Insbesondere Parität. Der überkommene Begriff der „Parität" bedeutet Gleichbehandlung in „Religionssachen". I n Annäherung hieran kann man heute die Parität als Gleichbehandlung i m Bereich der Bekenntnis- und Kultusfreiheit bestimmen. 4 4 Insbesondere gilt eine gleiche Freiheit der Religionsausübung „für alle Religionsgemeinschaften, ohne Rücksicht auf ihre Größe, ihre Bedeutung oder ihre L e h r e n " . 4 5 Dieses Gebot der Gleichbehandlung gilt zugunsten der Einzelnen 4 6 wie auch zugunsten der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften 4 7 . Aus einem eng verstandenen Paritätsgebot einer „Gleichbehandlung (nur) i m Bereich der Bekenntnis- und Kultusfreiheit" könnte man die Auffassung ableiten, es stehe „ v ö l l i g i m Belieben des Staates, ob und mit welchen Kirchen er Verträge abschließen w i l l " 4 8 , auch die Ansicht, ein Anspruch auf Beteiligung in Staatsorganen (ζ. B. i m Bayerischen Senat) oder in Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts (ζ. B. in Rundfunkanstalten) könne nicht auf das Prinzip der Parität gestützt werden 4 9 . Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz reicht aber weiter. So kann es unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 1 G G verfassungswidrig sein, soziologisch gleichartige und gleichbedeutende Religionsgesellschaften etwa bei der Einräumung von Mitwirkungsrechten unterschiedlich zu behandeln. A u c h der allgemeine Gleichheitssatz gebietet aber nicht, daß der Staat i n allen beliebigen Hinsichten „alle Religionsgesellschaften schematisch gleichbehandelt". Vielmehr sind — nach einem allgemeinen Gedanken des Gleichbehandlungsprinzips — „Differenzierungen zulässig, die durch tatsächliche Verschiedenheiten der einzelnen Religionsgesellschaften bedingt s i n d " . 5 0 Nicht aber dür-

« Vgl. BVerfGE 6, 339, 355. Kritisch: E. Fischer, Trennung von Staat und Kirche, 3. Aufl. 1984, S. 288 ff.; Simon (Fn. 32), S. 35 f. « Vgl. Maunz (Fn. 19), S. 11. 44 Vgl. Hechel (Fn. 4), S. 116 ff., 227; Herzog (Fn. 38), Rdn. 22. 45 K. Hesse, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 3 (1953/54), S. 196; in diesem Sinne auch BVerfGE 32, 106. 46 Für sie kommt es vor allem in Art. 3 Abs. 3, 4 Abs. 1 und 2, 33 Abs. 3 GG und in Art. 136 WRV in Verb. m. Art. 140 GG zum Ausdruck. 47 Vgl. Hechel (Fn. 4), S. 121, 255. 48 So — obiter — BVerfGE 19, 12; vgl. demgegenüber W. Beulke, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 6 (1957/58), S. 152. 49 Hornel (Fn. 6), S. 98. 50 BVerfGE 19, 8; vgl. auch Hesse (Fn. 45), S. 188 ff.; v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 42; Hechel (Fn. 4), S. 276 ff., 295 ff.

II. Ausgestaltung unter dem Grundgesetz

295

fen Religionsgesellschaften lediglich mit Rücksicht auf ihre Glaubensinhalte unterschiedlich behandelt werden.

2. Ausgestaltung

des Grundrechtsschutzes

Die Achtung des Gewissens und die hierauf gegründete Selbstbestimmung der Bürger bildet nicht nur die Legitimationsgrundlage demokratischer Mehrheitsentscheidungen (s. ο. I 4). Das Grundgesetz gewährleistet eine weitestmögliche Achtung von Gewissenspflichten zugleich als individuelles Grundrecht, über das nicht durch einfachen Mehrheitsentscheid verfügt werden kann. Art. 4 Abs. 1 und 2 G G schützt christliche und nichtchristliche Glaubens- und Gewissensentscheidungen und Religionsausübungen 5 1 , auch das Bekenntnis zu areligiösen (etwa skeptischen) und antireligiösen Weltanschauungen 5 2 . Das folgt nicht nur aus dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 G G („Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses") und aus Art. 140 G G i n Verb. m. Art. 136 W R V , sondern auch aus der gesamten Entwicklungsgeschichte der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Deutschland 5 3 . Hingegen w i r d man die bloße weltanschauliche Gleichgültigkeit, hinter der gar kein Bemühen um Gewinnung einer Weltanschauung steht, nicht als möglichen Inhalt eines geschützten Glaubens- oder Gewissensbekenntnisses anzusehen haben 5 4 ; doch soll auch der Indifferente gegen dirigistische Einflußnahmen geschützt sein. a) Insbesondere der Begriff des Glaubens. Die Formulierung des ersten Vatikanischen Konzils, daß w i r i m Glauben durch göttliche Gnade das von Gott Geoffenbarte für wahr halten, nicht bloß „ w e i l w i r die innere Wahrheit der Dinge mit dem natürlichen Licht der Vernunft durchschauten" 5 5 , darf als gemeinchristliche Auffassung gelten. 5 6 I m konfessionell neutralen Staat ist aber der Begriff des Glaubens, wie derjenige der Religion, nicht auf christliche Vorstellungsinhalte beschränkt. Andererseits gewährleistet die Glaubensfreiheit nach ihrem geistesgeschichtlichen Gehalt nicht das Fürwahrhalten jedes beliebigen Meinungsinhalts, sondern nur Glauben i n jenem engeren Sinn, den Kant fides sacra genannt hat, nämlich die als verpflichtend empfundene „Annehmung der Grundsätze einer R e l i g i o n " 5 7 . Hierbei erstreckt sich der Begriff des Glaubens nicht nur auf die

51 BVerfGE 32, 106. 52 BVerfGE 12, 3 f.; HessStGH, NJW 1966, 33 f.; Weinzierl (Fn. 14), S. 48. 53 v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 93. 54 Ähnlich auch U. K. Preuß, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1984, Art. 41, Rdn. 18; a. Α. ν. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 44; zweifelnd Herzog (Fn. 38), Rdn. 55. 55 Artikel „Glaube", in: Lexikon f. Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1957 ff. 56 Vgl. auch den Artikel „Glaube", in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 1957 ff. / 1986; v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 42.

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Glaubensinhalte der großen Weltreligionen, sondern auch auf jene der Minderheitenreligionen 5 8 und sogar auf vereinzelt auftretende Glaubensüberzeugungen 59 , wobei die Abgrenzung gegenüber nichtreligiösen Weltanschauungen nicht immer zweifelsfrei erscheint 6 0 . Angesichts destruktiver Neigungen mancher religiösen Sekten gewinnen die später zu erörternden Schranken des Grundrechts besondere Bedeutung. b) Insbesondere der Begriff des Gewissens. Als Gewissensentscheidung bezeichnete das Bundesverfassungsgericht — i n berechtigter Distanz zu spezifischen Weltanschauungen — „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung . . ., die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte". 6 1 Die Gewissensentscheidung kann immer nur auf eigenen Erwägungen beruhen, mag auch die Anregung von außen kommen: Wenn jemand „etwas ihm Vorgesagtes ohne innere Überzeugtheit und Bindung nur nachredet, . . . hat er sich nicht i n seinem Gewissen entschieden". 6 2 Da der Verfassungsgrundsatz der Gewissensfreiheit nicht nur theonome Wurzeln hat, kommen als relevante Gewissensmotivationen nicht nur religiöse, sondern alle Gründe in Betracht, die zu einer sittlichen Verpflichtung führen. 6 3 Gewissensentscheidungen können nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts auf „unbewußten oder bewußten gefühlsmäßigen Bindungen, undogmatischer, individueller sittlicher Überzeugung oder auf religiösen Vorstellungen", „auf vernunftmäßigen Überlegungen, auf weltanschaulichen Grundsätzen und auf einer ernsten politischen Überzeugung" beruhen. 6 4 Gewissensgründe sind aber immer nur solche, die an den Kategorien des sittlich Guten und Bösen orientiert sind, nicht aber ζ. B. bloße politische 6 5 , familiäre oder wirtschaftliche 5v /. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 2. Aufl. 1794, S. 247; Herzog (Fn. 38), Rdn. 66. 58 BVerfGE 32, 106; vgl. auch v. Campenhausen, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 25 (1980), S. 135 ff.; I. v. Münch, Grundgesetz und Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 4 Rdn. 58 ff.; J.Müller-Volbehr, in: JZ 1981, S. 41 ff.; W. Schatzschneider, in: BayVBl. 1985, S. 321; W. Franz, in: DVB1. 1987, S. 727 ff.; T. Guber, „Jugendreligionen" in der grundgesetzlichen Ordnung, 1987. 59 BVerfGE 33, 28 f. 60 Obermayer (Fn. 8), Rdn. 36 ff.; ders., in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 27 (1982), S. 257 ff.; v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 42 f.; vgl. auch den Artikel „Religion", in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 1957 ff. / 1986. 61 BVerfGE 12, 54 f.; 48, 173. 62 BVerwGE 13, 171; vgl. auch oben Kap. 7 1 1 ; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 21 IV. 63 BVerwGE 1, 246; ähnl. BVerwGE 14, 147; H. Kipp, in: Festschr. f. W. Laforet, 1952, S. 101 f.; J.Schreiber, in: DÖV 1954, S. 39 f.; Böckenförde (Fn. 5), 68 ff.; U. Scheuner, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 15 (1970), S. 248, 252; Herzog (Fn. 38), Rdn. 125. 64 BVerwGE 7, 245 ff.

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Gründe, aus denen keine sittliche Verpflichtung resultiert. Keine Gewissensgründe sind alle Motivationen, die nicht unmittelbar innerlich verpflichten, so daß also „bloße Unlustgefühle, gefühlsmäßige Vorurteile oder Aufwallungen, Zweckmäßigkeits- und verstandesmäßige Überlegungen" (für sich allein) „nicht den Begriff der Gewissensentscheidung erfüllen". 6 6 E i n irrendes Gewissen ist jedenfalls v o m Kantschen Gewissensbegriff aus „ein Unding"; denn „ i n dem Bewußtsein: ob ich in der Tat glaube Recht zu haben . . ., kann ich schlechterdings nicht irren, weil dieses Urteil oder vielmehr dieser Satz bloß sagt: daß ich den Gegenstand so beurteile" 6 7 ; oder, wie Fichte es ausdrückte, das Gewissen kann nicht eines Irrtums überführt werden, weil es „das unmittelbare Bewußtsein unseres reinen ursprünglichen Ich (ist), über welches kein anderes Bewußtsein hinausgeht; das nach keinem anderen Bewußtsein geprüft und berichtigt werden kann; das selbst Richter aller Überzeugung ist, aber keinen höheren Richter über sich anerkennt" 6 8 . c) Die freie Bildung von Glaubens- und Gewissensentscheidungen. Die internen Vorgänge der Glaubens- und Gewissensentscheidungen als solche sind einem unmittelbaren rechtlichen Zugriff ohnehin entzogen. Diesem sind nur Verhaltensweisen zugänglich, die i n Erscheinung treten. Gegenstand rechtlicher Absicherung kann es hiernach nur sein, einerseits unzulässige Einflußnahmen auf die Glaubens- und Gewissensentscheidungen abzuwehren, andererseits die freie Betätigung solcher Entscheidungen zu gewährleisten. Nicht jeder Einfluß auf die Bildung individueller Glaubens- und Gewissensentscheidungen ist aber verboten; in seinem gesamten Erziehungs- und Bildungsprozeß ist der Einzelne auf tradierte moralische Vorstellungen angewiesen, an denen er sich orientieren kann und m i t denen er sich auseinandersetzen muß. I m Wege systematischer Interpretation ist aber anzunehmen, daß jedenfalls solche Einflußnahmen auf Glaubens- und Gewissensentscheidungen gegen Art. 4 Abs. 1 G G verstoßen, die mit der Achtung des Menschen als einer zu moralischer Selbständigkeit berufenen Persönlichkeit, d. h. mit seiner Menschenwürde unvereinbar sind. Insofern kann also „auch die Gestaltung der inneren Überzeugung Gegenstand einer Rechtsgarantie sein". 6 9 Insbesondere setzen Glaubens- und Gewissensfreiheit freien Zugang zu den Grundlagen eigener Glaubens- und Gewissensentscheidungen voraus. So hat man zutreffend m i t B l i c k auf die Glaubens- und Religionsfreiheit festgestellt: „ N u r 65 U. Scheuner, in: Der deutsche Soldat in der Armee von morgen, 1954, S. 255, 274, 281; K. Brinkmann, Grundrecht und Gewissen, 1965, S. 193, m. w. Nachw. 66 BVerwGE 7, 248; vgl. auch Hamel (Fn. 6), S. 104. 67 I. Kant, Über das Mißlingen aller philos. Versuche in der Theodicee, 1791, Schlußanmerkung; ähnl. ders., Metaphysik der Sitten, Tugendlehre, 1797, S. 38. 68 J. G. Fichte, System der Sittenlehre, 1798, § 15 Corollaria 1. Vgl. auch H. Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949. 69 Vgl. Th. Mayer-Maly, in: Österr. Archiv f. Kirchenrecht 1954, S. 247.

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soweit er die verschiedenen religiösen Lehren vergleichen kann, ist der einzelne w i r k l i c h frei, zu entscheiden, welche Lehre seines Erachtens die richtige ist. Innerhalb einer Welt, i n der nur eine religiöse Belehrung und keine andere gestattet ist, besteht keine Freiheit des religiösen Gewissens". 7 0 Gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit verstieße insbesondere ein weltanschaulicher Dirigismus, der — durch Fehlinformationen 7 1 , drohende „Gehirnwäschen" und ähnliches — darauf zielte, die Einzelnen an der selbstverantwortlichen Bildung eigener Glaubens- und Gewissensentscheidungen zu hindern. Prozessuale Ermittlungen verletzen die Gewissensfreiheit des Beschuldigten, wenn sie diesen nicht als eine moralisch über sich selbst bestimmende Persönlichkeit achten, also etwa durch Mißhandlungen, „Plauderdrogen" oder Hypnose seine Fähigkeit lähmen, sich nach eigenem Gewissen zur Aussage oder zur Aussageverweigerung zu entschließen. 72 d) Die Verwirklichung von Glaubens- und Gewissensentscheidungen. Es sind nicht nur unzulässige Einflußnahmen auf die Bildung von Glaubens- und Gewissensentscheidungen abzuwehren. V o r allem ist auch die Verwirklichung solcher Entscheidungen i n weitestmöglichem Umfang zu gewährleisten. N u n können sich Glauben und Gewissen weitgehend schon auf Grund spezifischer Gewährleistungen zur Geltung bringen. Eigens gewährleistet sind insbesondere die Bekenntnisfreiheit, d. h. die Freiheit, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen der M i t w e l t kundzutun, ferner die Religionsausübung, auch soweit sie über ein bloßes Bekennen hinausgeht, und die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Geschützte Betätigungsformen, sich seinem Glauben und Gewissen gemäß zu verhalten, sind sodann die religiöse Erziehungsfreiheit und das Recht der Eltern, über die Teilnahme ihrer Kinder am Religionsunterricht zu bestimmen (Art. 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 GG), ferner das Recht des Lehrers an öffentlichen Schulen, nicht gegen seinen W i l l e n zum Religionsunterricht verpflichtet zu werden (Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG). Damit verwandt ist das Recht, nicht zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen zu werden (Art. 140 G G in Verb. m. Art. 136 Abs. 4 W R V ) . A u c h i m Gewände anderer Grundrechte kann sich die Betätigung von Glaubens· und Gewissensentscheidungen vollziehen. So wird die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) oft auf Glaubens- und Gewissensentscheidungen gegründet sein. Diese können sich auch etwa durch Meinungsäußerung (Art. 5 GG), Eingehung einer Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG), Kindererziehung (Art. 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 GG), W a h l und Ausübung eines Berufes (Art. 12 GG) oder durch Ausübung demokratischer Mitwirkungsrechte verwirklichen. 70 Rdn. 71 72

Th. Tsatsos, in: Festschr. f. C. Schmitt, 1959, S. 249; ähnlich Preuß (Fn. 54), 16. Vgl. Scholler (Fn. 6), S. 207 f. Vgl. Scholler (Fn. 6), S. 146 ff.; Hornel (Fn. 6), S. 85.

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Ungeachtet dieser vielfältigen Wege, Glaubens- und Gewissensentscheidungen ins Werk zu setzen, w i l l das Bundesverfassungsgericht — in Übereinstimmung mit dem überwiegenden Teil der Lehre 7 3 — dem Art. 4 Abs. 1 G G darüber hinaus grundsätzlich die Freiheit entnehmen, Glaubens- und Gewissensentscheidungen in die Tat umzusetzen. 7 4 I n einer Rechtsgemeinschaft kann aber nicht jedes Handeln nach eigenem Gewissen — einschließlich beliebiger „Überzeugung s verbrechen" — freigestellt sein. Wollte man jedem volle Freiheit geben, alles zu tun und zu lassen, was er nach seinem Gewissen für richtig hält, so würde man damit eine für viele gemeinsam geltende Ordnung prinzipiell unmöglich machen. 7 5 M i t der Glaubens- und Gewissensfreiheit kann verständigerweise also nicht jeder beliebige V o l l z u g von Gewissensentscheidungen, einschließlich möglicher Überzeugungsverbrechen freigestellt sein. Folgt man der Meinung des Bundesverfassungsgerichts, dann muß man daher i m Wege der Auslegung die Grenzen der Glaubens- und Gewissensfreiheit ermitteln, jenseits deren Gewissensentscheidungen nicht in Widerspruch zum sonstigen Recht verwirklicht werden dürfen. Vorausgesetzt ist dabei, daß überhaupt eine ernsthafte und als zwingend empfundene Gewissenspflicht auf dem Spiele steht. Das überzeugendste Indiz für das Vorliegen einer wahrhaften und zwingenden Gewissensmotivation liegt in der Regel in der Bereitschaft, für die eigene Gewissensentscheidung auch erheblichere Nachteile in K a u f zu nehmen. Die Grenzen, innerhalb deren solche Gewissensmotivationen — auch in Widerspruch zu sonstigem Recht — zu achten sind, lässen sich i m Wege der historischen und vor allem auch der systematischen Interpretation gewinnen. Darauf ist später zurückzukommen. Schon hier sei aber grundsätzlich folgendes vorweggenommen: W o immer ein Weg sich finden läßt, zugleich dem Recht und dem Gewissen des Einzelnen Genüge zu tun, muß dieser W e g gewählt werden. Und: Es erscheint billig, daß man in einem Interessenkonflikt die eigene Gewissensüberzeugung auch und sogar zuvörderst sich selbst „etwas kosten läßt" (s. dazu auch unten 4 c ) . 7 6 Soweit aber eine schwerwiegende Gewissenspflicht Vorrang vor einer sonst bestehenden Rechtspflicht verdient, ist der durch sie motivierte und begrenzte „ z i v i l e Ungehor7

3 A. Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 35 ff.; Böckenförde (Fn. 5), S. 50 ff.; Ohermayer (Fn. 8), Rdn. 57 ff.; Preuß (Fn. 54), Rdn. 41 ff. (mit Einschänkungen); v.Münch (Fn. 58), Rdn. 22, 27; U. Steiner, in: JuS 1982, S. 158, 161; Ch. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1985, Art. 4 Rdn. 37; H.Bethge, in: HdbStR, §137 Rdn. 14; H.Jarass / B. Pieroth, Grundgesetz-Kommentar, 1989, Art. 4 Rdn. 8; Herzog (Fn. 38), Rdn. 111, 129 ff. entscheidet sich bei der Glaubensfreiheit anders als bei der Gewissensfreiheit. 74 BVerfG 78, 395. 75 Dazu oben Kap. 13 I I 2. 76 Vgl. hierzu auch J. Rawls , Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 404: „Man muß etwas dafür bezahlen, andere davon zu überzeugen, daß unsere Handlungen nach sorgfältiger Erwägung eine ausreichende moralische Grundlage in den politischen Überzeugungen der Gesellschaft haben."

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sam" durch Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes legalisiert, i m strengen Sinn also kein Rechtsungehorsam. 77 Gegenüber freiwillig übernommenen Verpflichtungen können Gewissenspflichten nur ganz ausnahmsweise geltend gemacht werden (s. u. 4 c). Denn die Achtung der individuellen Autonomie und damit der Menschenwürde fordert, jemanden in seiner Fähigkeit, Verbindlichkeiten einzugehen, ernst zu nehmen und ihn daher an freiwillig eingegangenen Bindungen festzuhalten — Bindungen, die der Staat nicht einseitig von sich aus seinen Bürgern auferlegen dürfte. e) Berechtigte. Zur Frage, ob auch juristische Personen, ζ. B. Kirchen und kirchliche Einrichtungen, sich auf Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen können, ist folgendes zu erwägen: Wenngleich juristische Personen selbst keinen Glauben haben können, läßt es doch der Wortsinn zu und legt es die historische Interpretation nahe, unter „Glaubensfreiheit" (wenn man sie schon als Betätigungsfreiheit begreift) auch die Freiheit des organisatorischen Zusammenschlusses zu gemeinsamer Religionsausübung, d. h. zur Praktizierung objektiver Glaubensinhalte, zu verstehen und darum auch juristischen Personen, deren Zweck hierauf gerichtet ist, dieses Grundrecht zuzusprechen. Hingegen sind das Gewissen und die Inhalte von Gewissensentscheidungen höchstpersönliche Angelegenheiten, die einer rechtlichen Organisierung widerstreben. Daher ist das Grundrecht der Gewissensfreiheit auf juristische Personen nicht anwendbar. 7 8 3. Glaubens- und Gewissensfreiheit als richtungweisende Wertentscheidung Art. 4 G G gewährt nicht nur subjektive Schutz- und Abwehrrechte, sondern ist auch Teil der von der Verfassung proklamierten Wertordnung. V o n dieser empfangen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung Richtlinien und I m pulse; an ihr hat sich insbesondere der Richter zu orientieren, wenn er wertausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe zu interpretieren oder Gesetzeslücken auszufüllen hat. 7 9 Durch Art. 4 G G ist die Toleranz i n Gewissens-, Glaubens- und Weltan77 In der Literatur findet sich der Satz „daß alle Handlungen, die die Merkmale des Begriffs des zivilen Ungehorsams erfüllen, zugleich in den Schutzbereich von Grundrechten fallen" (R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat?, in: Festschr. f. H. U. Scupin, 1983, S. 592 f.). Dieser Satz ist indessen umzukehren: Handlungen, die sich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Freiheitsgewährleistungen halten, sind weder „ziviler Ungehorsam", noch sonstiger „Widerstand", auch dann nicht, wenn sie mit einem einfachen Gesetz in Widerspruch zu stehen scheinen; denn „ungehorsam" kann man nur einer gültigen Norm sein. Soweit aber ein Gesetz mit einer verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantie in Widerspruch steht, ist es ungültig. Das folgt aus dem Vorrang der Verfassung. Handlungen, die in den Schutzbereich von Grundrechten fallen, erfüllen also gar nicht den Begriff des zivilen „Ungehorsams". 78 BVerwGE 64, 199. 79 Allgemein dazu etwa BVerfGE 7, 205; 73, 269; 81, 254 f. Siehe auch oben Kap. 1 IV 1.

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schauungsfragen zum Bestandteil der Wertordnung des Grundgesetzes geworden. Daraus ergibt sich, daß der Staat „den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten d a r f ' 8 0 , es i h m mithin verwehrt ist, allein mit Rücksicht auf die dogmatischen Inhalte etwa eine Differenzierung zwischen schutzwürdigen und nicht schutzwürdigen Religionen und Religionsgemeinschaften vorzunehmen. Allerdings besteht dort, w o rechtliche Wertentscheidungen zu fällen sind, eine nicht ganz auflösbare Aporie zwischen dem Prinzip der konfessionellen Neutralität des Staates und dem demokratischen Erfordernis, sich an den für die Mehrheit konsensfähigen Wertvorstellungen zu orientieren, die nicht zuletzt auch von den Lehren der Religionsgemeinschaften mitbestimmt sind (s. o. I I 1 a). 4. Drittwirkung a) Grundsätzliches. 81 Nach dem überkommenen, aber heute ins Wanken geratenen Grundrechtsverständnis richten sich Glaubens- und Gewissensfreiheit, K u l tusfreiheit und religionsgesellschaftliche Vereinigungsfreiheit ausschließlich gegen die öffentliche Gewalt. E i n Grundrechtsschutz gegen die „sozialen Gewalten", z. B. gegen die Regelungen der Tarifvertragspartner, ist aber unabweisbar, wenn die individuelle Freiheit nicht in Gefahr geraten soll. A u c h wo sonst jemand einer überlegenen oder einseitigen privaten Regelungsmacht, etwa dem Erziehungsrecht eines anderen ausgeliefert ist, verlangen Glaubens- und Gewissensfreiheit angemessene Berücksichtigung. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit liegt auch i m Schutzbereich des auf Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 G G beruhenden allgemeinen Persönlichkeitsrechtes, das auch privatrechtlichen Schutz (§ 823 Abs. 1 B G B ) genießt; so gewährt das Zivilrecht insbesondere „einen umfassenden Schutz gegen alle unberechtigten Eingriffe in das Recht auf freie religiöse und sittliche Betätigung, das wie kein anderes Ausfluß der Menschenwürde ist und daher zu den Persönlichkeitsrechten gehört". 8 2 Schließlich hat das Verständnis der Grundrechtsordnung als einer Richtschnur für alle juristischen Wertentscheidungen (s. o. 3) den Grundrechten eine mittelbare Drittwirkung eröffnet. Der Grundrechtsschutz ist aber grundsätzlich gegenüber solchen Bindungen zurückzunehmen, die freiwillig eingegangen wurden (s. o. 2 d). b) Richtung gegen Religionsgesellschaften. Die Aussage von Anschütz 8 3 , die Glaubens- und Gewissensfreiheit verbiete staatliche, nicht kirchliche Intoleranz, bedarf demnach heute der Einschränkung. Erlaubt ist auch unter dem Grundgesetz so BVerfGE 12, 4. si Dazu auch oben Kap. 23 I 2; 24 I I I 5. 82 H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 214 f. 83 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Aufl. 1933, Art. 135 Anm. 7.

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die Intoleranz der Religionsgesellschaften gegenüber den eigenen Mitgliedern, die diese Bindung freiwillig in Kauf nehmen (indem sie von einer Austrittsmöglichkeit keinen Gebrauch machen). 8 4 Hingegen verbietet es Art. 4 G G auch den Religionsgesellschaften, die Glaubens- und Religionsfreiheit Außenstehender zu beeinträchtigen. 85 So stünde ζ. B. ein von Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften veranstaltetes Kesseltreiben gegen eine konfessionelle oder weltanschauliche Minderheit, das sich fühlbarer sozialer Nötigung bedient, i n Widerspruch zu der v o m Grundgesetz vorgezeichneten Gemeinschaftsordnung und würde eine staatliche Gewährleistungspflicht zugunsten der Religionsfreiheit der Minderheit auslösen. Sofern mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit zugleich die Menschenwürde angetastet wird, ist eine Schutzpflicht auch aus Art. 1 Abs. 1 G G herzuleiten. I m Verhältnis einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu ihren Mitgliedern konzentriert sich deren Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit i m wesentlichen auf die rechtliche und faktische Möglichkeit, jederzeit aus dieser Gemeinschaft auszutreten 86 , während es herkömmlich zum Grundkonsens freiwilliger Mitgliedschaft gehört, sich für deren Dauer auch Beeinflussungs- und Disziplinierungsversuchen solcher Gemeinschaften auszusetzen 87 . Solche Beeinflussungen sind aber dann verfassungswidrig und lösen eine staatliche Schutzpflicht aus, wenn sie — trotz der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft — die Menschenwürde verletzen (Art. 1 Abs. 1 G G ) . 8 8 Sie sind rechtswidrig, sofern sie durch andere, für alle geltende staatliche Gesetze (etwa durch Strafgesetze gegen Freiheitsberaubung, Nötigung oder Körperverletzung) verwehrt sind. c) Mittelbare Drittwirkung. Eine mittelbare Drittwirkung der Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit äußert sich i m Zivilrecht vor allem auch darin, daß die Auslegung der Rechtsbegriffe sich an den Wertentscheidungen der Verfassung für die Grundrechte zu orientieren hat (s. o. 3 ) . 8 9

84 So auch Herzog (Fn. 38), Rdn. 50. 85 Herzog (Fn. 38), Rdn. 49. 86 H. Weber, in: Ztschr. f. evang. Kirchenrecht 17 (1972), S. 406 f. 87 Eine innerkirchliche Geltung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verneinen grundsätzlich Herzog (Fn. 38), Rdn. 50; v. Münch (Fn. 58), Rdn. 51; Preuß (Fn. 54), Rdn. 33; Starck (Fn. 73), Rdn. 68. Für eine generelle Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 1 GG innerhalb der Religionsgemeinschaften: Brinkmann (Fn. 65), S. 149 f. (gegen die h. M.). Allgemein zur Grundrechtsgeltung innerhalb der Religionsgesellschaften: Weber (Fn. 86), 386 ff.; K. Hesse, in: Festschr. f. W. Weber, 1974, 447 ff.; K.-H. Kästner, in: JuS 1977, S. 715 ff. 88 BVerfGE 12, 4; Herzog (Fn. 38), Rdn. 50; v. Münch (Fn. 58), Rdn. 52. 89 Vgl. zum folgenden F. W. Bosch und W. Habscheid, in: JZ 1954, S. 213 ff.; dies., in: JZ 1956, S. 301 ff.; F. Wieacker, in: JZ 1954, S. 466 ff.; Hild. Krüger, Recht der Arbeit, 1954, S. 365 ff.; Hamel (Fn. 6), S. 66 f., 74 ff.; A. Kraft, in: AcP 163 (1964), S. 472 ff., insbes. 482 ff.; Habscheid, in: JZ 1964, S. 246 ff.; Herzog (Fn. 38), Rdn. 144 ff.; U. Diederichsen, in: Festschr. f. K.Michaelis, 1972, S. 36 ff.; Steiner (Fn. 73), 164 f.; Preuß (Fn. 54), Rdn. 48 f.; Starck (Fn. 73), Rdn. 71 ff.; D. Reuter, Betriebsberater 1986, 388 ff.

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So spielt insbesondere die Frage eine Rolle, inwieweit die Erfüllung von Rechtspflichten nach „Treu und Glauben" (§ 242 B G B ) aus Gewissensgründen abgelehnt werden darf: ob ζ. B. die Angestellte einer Buchhandlung es aus Gewissensgründen ablehnen darf, religionsfeindliche Bücher zu verkaufen, ob eine angestellte Apothekerin sich aus Glaubensgründen weigern darf, empfängnisverhütende M i t t e l zu verkaufen, oder ob ein pazifistischer Arbeiter es ablehnen darf, in einem auf Waffenproduktion umgestellten Unternehmenszweig an der Waffenherstellung mitzuwirken. Dieses Problem läßt sich nicht auf eine einfache Abwägung zwischen der Gewissensfreiheit und dem Arbeitgeberinteresse zurückführen. Treu und Glauben verbieten eine schikanöse Handhabung eines Vertrages und verlangen daher, auf den Vertragspartner Rücksicht zu nehmen, wenn nichtbelastende „Ausweichmöglichkeiten" zur Verfügung stehen, ζ. B. die gewissensbeschwerenden Teilfunktionen reibungslos von Arbeitskollegen des Verpflichteten übernommen werden können. I n allen anderen Fällen w i r d das Recht aber einem Vertragspartner die Berufung auf Gewissensgründe regelmäßig dann versagen, wenn er beim Vertragsabschluß „voraussehen konnte, daß aus dem Vertrag eine Verpflichtung, wider sein Gewissen zu handeln, erwachsen w ü r d e " . 9 0 Hier gewinnt der Gedanke der Selbstbindung Bedeutung: Jemand w i r d i n seiner Menschenwürde gerade auch dadurch geachtet, daß man ihn in seiner Fähigkeit, Verbindlichkeiten einzugehen, ernstnimmt. A u c h darüber hinaus kann das Recht einen Vertragspartner nicht grundsätzlich den Gewissensentscheidungen seines Kontrahenten schutzlos ausliefern. Daher erscheint es als billig, daß auch i n Fällen unvorhersehbarer Gewissenskonflikte der aus Gewissen Vertragsbrüchige grundsätzlich das Schadensrisiko trägt 9 1 und also das eigene Gewissen i n erster Linie sich selbst etwas kosten lassen muß. Gleichwohl kann es auch Fälle geben, in denen es mit Treu und Glauben unvereinbar wäre, jemanden entgegen seinem Gewissen an einer Vertragspflicht festzuhalten und ihm den aus ihrer Nichterfüllung erwachsenden Schaden aufzubürden. So würde man ζ. B. einem Naturwissenschaftler, der mit Schrecken bemerkt, daß seine Forschungsergebnisse in unvorhersehbarer Weise zu verheerenden Vernichtungswaffen benützt werden können, nicht gegen sein Gewissen zwingen können, seine Forschungen dienstvertragsgemäß fortzuführen oder einen ihn ruinierenden Schadensersatz zu zahlen. A u c h die Anwendung anderer wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe muß sich an der grundgesetzlichen Wertordnung orientieren, die hier weitgehend in der Tradition der überkommenen „guten Sitten" steht. So verstößt etwa ein Rechtsgeschäft, durch das sich jemand um wirtschaftlicher Vorteile willen zum Konfessionswechsel verpflichtet, „gegen die guten Sitten" (§ 138 Abs. 1 B G B ) und ist daher nichtig. 9 2 Die Frage, ob eine religiöse Verfehlung oder ein Wechsel 90 Bosch und Habscheid, in: JZ 1954, S. 215. 91 Vgl. A. Blomeyer, in: JZ 1954, S. 311 f. 92 Vgl. Kraft (Fn. 89), S. 483; vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE

12, 4 f.

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von Religion oder Weltanschauung ein „wichtiger Grund" für eine Kündigung (§ 626 B G B ) ist oder diese wenigstens als sozial gerechtfertigt (§ 1 KSchG) erscheinen läßt, muß ebenfalls den hohen Rang der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Rechnung stellen. Sie wird i n der Regel nur dann zu bejahen sein, wenn nach dem Vertragsinhalt eine bestimmte Glaubenshaltung oder Weltanschauung für die Erfüllung des Vertragszweckes vorausgesetzt ist. 9 3 5. Schranken des Grundrechts a) Grundrechtsimmanente Schranken. W i e schon gesagt, gelten auch für Art. 4 G G grundrechtsimmanente Schranken 9 4 , d. h. Schranken, die durch Auslegung zu ermitteln sind. Es w i r d also nach den allgemeinen Regeln juristischer Begriffsbestimmung festgestellt, wo Grenzen des Grundrechts liegen. E i n Gesetz, das bis an diese Grenzen herangeht, greift nicht in die Grundrechte des Art. 4 G G ein, sondern legt nur die Schranken offen, die diesem Grundrecht innewohnen. I m Wege historischer Auslegung ist insbesondere anzunehmen, daß durch die Religionsfreiheit diejenige Glaubensbetätigung gewährleistet sein sollte, „die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet h a t " . 9 5 Die systematische Interpretation 9 6 ergibt, daß die Grundrechte aus Art. 4 Abs. 1 und 2 G G eine Grenze insbesondere an den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen von Leben, Gesundheit, Glaubens-, Gewissens- und M e i nungsfreiheit anderer Menschen findet: So kann etwa die Freiheit der Religionsausübung durch Vorschriften zur Bekämpfung von Feuer-, Einsturz- oder Seuchengefahr insoweit eingeschränkt werden, als dies zum Schutz von Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 GG) zwingend erforderlich erscheint. 9 7 Das elterliche Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) und das Recht der Erziehungsberechtigten, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen (Art. 7 Abs. 2 GG), begrenzen die Rechte des Kindes aus Art. 4 GG. Die Glaubensund Gewissensfreiheit des einen findet auch an der gleichen Freiheit des anderen eine Schranke: „ A r t . 4 G G schützt den einzelnen nicht nur gegen die Intoleranz seiner Mitmenschen, sondern verpflichtet ihn auch, ihnen gegenüber die gleiche Duldsamkeit zu erweisen, die er für seine eigene Überzeugung in Anspruch n i m m t " . 9 8 Die Pflicht zur Toleranz bestimmt also die Grenzen des eigenen

93 Vgl. BAG, NJW 1978, S. 2116 ff.; 1980, S. 2211 ff.; 1981, S. 1228 ff.; 1983, S. 2603 f. 94 Dazu oben Kap. 23 I I 1. 95 BVerfGE 12, 4; 24, 246; im Ergebnis ebenso Herzog (Fn. 38), Rdn. 111. 96 BVerfGE 52, 246 f.; vgl. Bethge (Fn. 73), Rdn. 26 ff. 97 Ähnlich Herzog (Fn. 38), Rdn. 112, 154. 98 BVerwGE 15, 137; vgl. auch BVerfGE 12, 4; ferner die vergleichbare Problematik in BayObLG, NJW 1961, S. 1581 f.

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Rechts. 9 9 — Werden in dieser Weise Grundrechtsgrenzen aus den wechselseitigen Beziehungen von Verfassungsnormen ermittelt, so sind hierbei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot zu beachten. b) Einschränkungsvorbehalte. Einschränkungsermächtigungen hingegen, die dem Gesetzgeber die Befugnis einräumen, das Grundrecht m i t konstitutiver W i r kung einzugrenzen, behält Art. 4 G G weder in Abs. 1 und 2,.noch auch — für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung — in Abs. 3 Satz 2 vor. W o h l aber können auf Grund des Art. 140 G G in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 W R V Beschränkungen der Religionsfreiheit stattfinden: I n der Bestimmung, daß die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht beschränkt werden 10 °, liegt allerdings kein uneingeschränkter Gesetzesvorbehalt, der dazu ermächtigen würde, bürgerliche und staatsbürgerliche Pflichten nach Belieben und ohne Rücksicht auf die Religionsfreiheit zu begründen. Vielmehr dürfen solche Rechtspflichten nur unter Berücksichtigung der wertsetzenden Bedeutung des Art. 4 G G begründet werden. 6. Glaubens-

und Gewissensfreiheit

als Ausdruck der Menschenwürde

Lenkt man abschließend den B l i c k noch einmal auf die Stellung der Glaubensund Gewissensfreiheit i m Gesamtsystem der Verfassung, so tritt die Nähe zur Menschenwürdegarantie deutlich hervor: Aus der Sicht des Autonomiegedankens soll m i t der Gewissensfreiheit die moralische Selbstbestimmung gesichert werden; in einem theonomen W e l t b i l d findet sich i m Gewissen ein Widerschein göttlichen Wirkens; unter beiden Aspekten erscheint die Gewährleistung der Gewissensfreiheit als die wohl unmittelbarste Konkretisierung der Menschenwürdegarantie, die der Verfassunggeber an die Spitze des Grundgesetzes gestellt hat, um — nach den Worten des Bundesverfassungsgerichts — damit zum Ausdruck zu bringen, daß die Ordnung des Grundgesetzes ihren „Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde" finden sollte 1 0 1 .

99 Vgl. O.Bachof in: JZ 1966, S. 167. 100 Starck (Fn. 73), Rdn. 46 ff., stellt stattdessen auf die Worte ab, daß diese Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit nicht „bedingt" werden; er kommt aber im wesentlichen zum gleichen Ergebnis; vgl. auch M. Stolleis, in: JuS 1974, S. 772 ff.; Preuß (Fn. 54), Rdn. 29 f.; v. Campenhausen (Fn. 6), Rdn. 82. 101 BVerfGE 7, 205; 45, 227. 20 Zippelius

Kapitel

26

Der Gleichheitssatz Über die Gleichbehandlung als Rechts- und Gerechtigkeitsprinzip ist in Jahrtausenden nachgedacht 1 , selbst über den Gleichheitssatz der Verfassung sind Bände geschrieben 2 worden. Es kann hier also nicht darum gehen, die Problematik der Gleichbehandlung zu erschöpfen, sondern nur darum, einige Aspekte auszuwählen, die in der gegenwärtigen Verfassungssituation als vorzugsweise diskussionswürdig erscheinen.

I . Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches M i t dem Anspruch auf Gleichheit w i r d Verschiedenes erstrebt: gleiche Teilhabe an der Staatsgewalt, rechtliche Gleichbehandlung durch die Staatsgewalt, Angleichung der realen Lebensbedingungen und, m i t all dem verbunden, gleiche Freiheit. 1. Gleiche Teilhabe an der Staatsgewalt Das gleiche Recht aller Staatsbürger, durch Wahlen, Abstimmungen und Zugang zu allen öffentlichen Ämtern an der Staatsgewalt teilzuhaben (Art. 33 Abs. 1 und 2, Art. 38 GG), ist der Fundamentalsatz der Demokratie. 3 Schon in dieser

ι Nachweise etwa bei J. Binder, Rechtsphilosophie, 1925, S. 343 ff., 367 ff.; H. Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, 1941; E. Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 29 ff.; R. Dahrendorf, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 2. Aufl. 1966; K. Engisch, Auf der Suche nach der Gerechtigkeit, 1971, S. 147 ff.; O. Dann, Gleichheit und Gleichberechtigung, 1980. 2 G. Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. 1959; K. Hesse, Der Gleichheitsgrundsatz im Staatsrecht, AöR 77 (1951 /52), S. 167 ff.; H.P.Ipsen, Gleichheit, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte II, 1954, S. 111 ff.; E.-W.Bökkenförde, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgabe des Richters, 1957; W. Hill, Gleichheit und Artgleichheit, 1966; H. Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, 1969; A. Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971; G. Dürig, in: Maunz / Dürig, Grundgesetz, Art. 3; Ch. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz I, 3. Aufl. 1985, Art. 3; M. Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbotes, 1987; s. auch die Literaturauswahl bei Starck (aaO.), S. 413-417. 3 R.Herzog, in: Maunz /Dürig, Art. 20 I I Rdn. 6 ff.; K.Stern, Staatsrecht, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 18 115 d.

I. Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches

307

Hinsicht war die Realisierung des Gleichheitssatzes von der je herrschenden Geisteskultur geprägt. So war die Vorstellung staatsbürgerlicher Gleichberechtigung der Antike vertraut 4 , hingegen war i m mittelalterlichen W e l t b i l d hierarchisch gegliederter Ordnungen der Geburts- und Berufsstände und der kirchlichen Weihe- und Jurisdiktionsgewalten kein Platz für gleiche Mitwirkungsrechte aller, bis dann i n einem großen Wandel der Ideen wesentlich erscheinende Unterschiede wieder unwesentlich wurden und neben die Lehre vom allgemeinen Priestertum die Vorstellung von der ursprünglichen politischen Gleichberechtigung aller Bürger trat. Dieser Gedanke gewann seine neuzeitliche Gestalt i n der Lehre v o m Herrschaftsvertrag 5 , d. h. von der Konsensgrundlage staatlicher Herrschaft. Er beherrschte dann die erste Phase der Französischen Revolution als Forderung nach gleichberechtigter politischer Repräsentation des Dritten Standes 6 und leitete damit eine neue Epoche der europäischen Verfassungsgeschichte ein. Ihre tiefste ethische Rechtfertigung findet die Idee, daß jeder Bürger gleichberechtigt an einer Gemeinschaftsordnung mitzuwirken habe, in der Vorstellung Kants, jeder sei eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz; denn das vernunftgeleitete Gewissen der Einzelnen bilde die letzte Grundlage, zu der unser Bemühen um moralische Einsicht und insbesondere um Gerechtigkeit vorzudringen vermag. 7 Diese Idee verlieh der unaufhaltsam sich ausbreitenden Demokratie ihre Legitimität, motivierte die Gleichstellung aller Staatsbürger, verdrängte die einem allgemeinen und gleichen Wahlrecht entgegenstehenden Besitzqualifikationen, verwirklichte damit den „Gedanken des homogenen Bürgertums" (E. Kaufmann) und führte schließlich auch zur staatsbürgerlichen Gleichstellung der Geschlechter. 8 Die Frage, wie weit der Gedanke des homogenen Bürgertums zu verwirklichen sei, ist auch heute noch lebendig. Dies zeigt der — hier nur anzudeutende — Streit darüber, ob und i n welchem Maße Gastarbeiter an der Bildung des politischen Willens ihres Gastlandes teilhaben sollten. 9

4 Ausführlich dazu Dann (Fn. 1), S. 31 ff.; vgl. auch Podlech (Fn. 2), S. 53 ff. 5 Nachw. zu Althusius, Grotius, Spinoza, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Christian Wolff und Rousseau bei R. Zippelius, Geschichte der Staatsideen, 9. Aufl. 1994, Kap. 13, 14 a, 15 a, b, e; weitere Nachw. bei Dann (Fn. 1), S. 93 ff. 6 E. Schmitt, Repräsentation und Revolution, 1969, S. 147 ff., insbes. S. 171 ff., 209 f.; die aus dem Geist der Aufklärung geborene Gleichheitsschwärmerei hatte sich schon vor der Revolution vorbereitet, aufscheinend etwa im Vereins- und Logenwesen des gebildeten Bürgertums und in der Idee einer universitären Gelehrtenrepublik; Dann (Fn. 1), S. 100 ff., 121 ff. 7 Dazu oben Kap. 11 IV 3, 4; vgl. auch Dann (Fn. 1), S. 153 ff. 8 Vgl. die Übersichten bei Dann (Fn. 1 ) über die national-demokratischen Bewegungen im Vormärz (S. 192 ff., 198 ff.), die Diskussionen über die Wahlrechtsgleichheit in den Jahren 1848 / 49 (S. 200 ff.) und den Kampf um die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frauen (S. 236 ff.). 9 Aus der neueren Diskussion etwa H. Quaritsch, Staatsangehörigkeit und Wahlrecht, DÖV 1983, S. 1 ff.; G. Hoffmann, Die „kleine Einbürgerung", in: GedSchr. f. W. Mar20*

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz 2. Rechtliche

Gleichbehandlung

durch die Staatsgewalt

Neben dem gleichen Recht aller Staatsbürger auf Teilhabe an der Staatsgewalt steht das allgemeine Menschenrecht, von Seiten der Staatsgewalt gleich wie die anderen behandelt zu werden. a) Der Gleichheitssatz, ein die gesamte Staatsgewalt bindendes Gerechtigkeitsprinzip. Manche Ursprünge dieses Gedankens berühren sich m i t denen politischer Gleichberechtigung, so i n den Gleichheitsideen der Antike ( I 1), die i n der Renaissance neu belebt wurden. 1 0 Daneben finden w i r in den Städten des Mittelalters frühe Ansätze bürgerlicher Rechtsgleichheit. 1 1 Der Anspruch auf Gleichachtung vor dem Recht wurzelt aber auch i m christlichen Gedanken der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen 1 2 und i n der Vorstellung einer Gleichheit der Menschen vor Gott; diese spielte in mittelalterlichen Reformideen eine bedeutende Rolle, besonders bei Marsilius und später bei Luther; umgemünzt i n die Vorstellung weltlicher Gleichheit aller Menschen murrte sie dann i m Bauernkrieg gegen die Privilegien des A d e l s . 1 3 Eine andere Entwicklungslinie lief von der konfessionellen Gleichberechtigung der Reichsstände und dem ius emigrandi der Untertanen über die Ausweitung der Toleranz zur konfessionsunabhängigen bürgerlichen Gleichberechtigung. 1 4 A m Ende dieser Entwicklung stand der Verfassungsgrundsatz, daß jeder i n gleicher Menschenwürde mit gleichen Rechten vor dem Forum des Rechts stehe, gleich ob er hoch oder niedrig geboren, Katholik oder Protestant, Jude oder Christ, Weißer oder Schwarzer, M a n n oder Frau sei. Hinter jedem der Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 G G steht die historische Überwindung einer vorangegangenen Diskriminierung. Ging es Ende des achtzehnten Jahrhunderts vor allem um die Überwindung der Standesunterschiede und der religiösen Diskriminierungen und war noch für die Weimarer Verfassung die Aufhebung der Standesvorrechte ein Thema, neben das nun die Gleichstellung der Geschlechter tens, 1987, S. 85 ff., 96; Α. Bleckmann, Das Nationalstaatsprinzip im Grundgesetz, DÖV 1988, S. 437 ff.; H. J. Papier, Verfassungsrechtliche Probleme des Ausländerwahlrechts, und W. Däubler, Der Ausländer als Untertan? in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 24, 1988, S. 37 ff., 41 ff. io Dann (Fn. 1), S. 90 ff. h Dann (Fn. 1), S. 85 ff. 12 Brunner (Fn. 1), S. 40. 13 Dann (Fn. 1), S. 69 ff., 73 ff., 78 ff. 14 Die Parität kam zunächst im Reich den Ständen, später in den Einzelstaaten den Religionsgesellschaften zugute; die Untertanen wurden zuerst nur durch das beneficium emigrandi aus dem starren Gewissenszwang entlassen, erfuhren dann unter dem Einfluß der Aufklärung zunehmend aber auch eine konfessionsunabhängige bürgerliche Gleichberechtigung (M. Heckel, im Handbuch des Staatskirchenrechts, Bd. I, 1974, S. 451 ff.), in die schließlich auch die Juden einbezogen wurden: Dann (Fn. 1), S. 124 ff., 167 Anm. 83. Zugleich setzte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die generelle Forderung nach einer Gleichheit vor dem Gesetz unaufhaltsam durch: Dann (Fn. 1), S. 129 f., und insbesondere zur Reformgesetzgebung in Deutschland S. 166 ff.

I. Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches

309

trat, so standen bei Schaffung des Grundgesetzes der Schutz vor rassischer und völkischer Diskriminierung und die Vollendung der Gleichberechtigung von M a n n und Frau i m Vordergrund. Nach heute w o h l unbestrittener Ansicht verpflichtet der Gleichheitssatz auch den Gesetzgeber. 15 Dies findet eine verbreitete, aber schwache Begründung i n Art. 1 Abs. 3 GG; schwach deshalb, weil diese Bestimmung den Begriffsinhalt der „nachfolgenden Grundrechte" voraussetzt, aber nicht umgestalten, mithin auch das „ v o r dem Gesetz" schwerlich in ein „durch das Gesetz" verwandeln soll. Gewichtiger ist es, daß i n der Entstehungsgeschichte des Art. 3 G G der W i l l e zum Ausdruck kam, auch den Gesetzgeber zu verpflichten. 1 6 Ausschlaggebend ist aber, daß der Gleichheitssatz als ein die Rechtsordnung durchdringender „Fundamentalsatz" nur dann zur W i r k u n g kommt, wenn bereits die Entscheidungen des Gesetzgebers, die das übrige staatliche Handeln „programmieren", an den Gleichheitssatz gebunden sind. Der Auftrag, die Menschen „durch das Gesetz" gleich zu behandeln, würde freilich, wenn man ihn nur formal begriffe, schon durch die generalisierende Gleichbehandlung der gesetzlich bezeichneten Tatbestände verwirklicht. 1 7 Eine über diese Selbstverständlichkeit hinausreichende Funktion erhält er erst als Verpflichtung zur Gerechtigkeit, 1 8 insbesondere als Verpflichtung darauf, daß jede Ungleichbehandlung einen zureichenden, gerechten Grund haben müsse 1 9 . Darauf, wie dieses problematische Richtmaß praktikabel werden kann, w i r d später einzugehen sein. Ohne diesen Auftrag zur Gerechtigkeit würde auch schon das Gebot, alle Menschen „ v o r dem Gesetz" gleich zu behandeln, nur eine Trivialität zum Ausdruck bringen: daß nämlich das Gesetz auf jeden, den sein Tatbestand bezeichnet, anzuwenden ist, und zwar in gleicher Auslegung, und daß von einem gesetzlich eingeräumten Ermessen gleichmäßiger Gebrauch zu machen ist. Als Gerechtigkeitsprinzip verstanden, kann der Gleichheitssatz aber auch für Gesetzesauslegung und Ermessensgebrauch eine wichtige Leitfunktion erhalten.

15 So schon zu Art. 109 Abs. 1 WRV Leibholz (Fn. 2), S. 34; E. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz, VVDStRL 3 (1927), S. 5 f.; zum heutigen Diskussionsstand: Th. Würtenberger, in: U. Karpen (Hrsg.), The Constitution of the Federal Republic of Germany, 1988, S. 71 ff. 16 Starck (Fn. 2), Rdn. 2. 17 Vgl. W. Schaumann, Gleichheit und Gesetzmäßigkeitsprinzip, JZ 1966, S. 721 ff.; G. Müller, im Kommentar zur Schweizerischen Bundesverfassung, Bd. 1, 1988, Art. 4 Rdn. 6 ff. 18 Grundlegend Kaufmann (Fn. 15), S. 9 f.; vgl. auch M. Kloepfer, Gleichheit als Verfassungsfrage, 1980, S. 29 f. Podlech (Fn. 2) hält überhaupt nur Ungleichbehandlungen für begründungsbedürftig, S. 45 ff., 51, 59; vgl. auch Dürig (Fn. 2), I Rdn. 277, 316 ff.; M. Kriele, Kriterien der Gerechtigkeit, 1963, S. 91 ff.; Kloepfer (Fn. 18), S. 27 f.

310

Kap. 26: Der Gleichheitssatz

Die Verwaltung ist an den Gleichheitssatz auch dort gebunden, wo sie öffentliche Aufgaben in privatrechtlicher Form erfüllt 2 0 ; so ist sie auch i n diesen Bereichen Sachwalter der Gerechtigkeit. Selbst wenn sie erwerbswirtschaftlich oder zu Beschaffungszwecken am Privatrechtsverkehr teilnimmt, darf sie jedenfalls die Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 G G nicht mißachten. Ob sie i m übrigen einer umfassenden Bindung an den Gleichheitssatz oder nur den gleichen Bindungen wie eine Privatperson unterliegt, ist umstritten; doch kommen die theoretischen Widersacher hier zu weitgehend übereinstimmenden konkreten Folgerungen. 2 1 b) Gleichbehandlung auch durch Private? I n gewissen Bereichen berührt das Pflichtengefüge der Grundrechte auch die Rechtsbeziehungen unter Privaten. Doch stellen die Grundrechtswirkungen sich hier sehr viel komplizierter dar als gegenüber dem Staat. 2 2 So ist eine unmittelbare Drittwirkung des Gleichheitssatzes grundsätzlich dort nicht anzunehmen, wo die Einzelnen ihre Rechtsbeziehungen privatautonom gestalten. A u c h wo Private lediglich über ihre Rechte — etwa durch Testament — verfügen und hierbei nicht regelnd in schutzwürdige Positionen anderer eingreifen, besteht keine Drittwirkung des Gleichheitssatzes. W o aber Einzelne der Verfügungsmacht anderer, insbesondere sozialer Gewalten, ausgeliefert sind, muß eine Bindung an den Gleichheitssatz wirksam sein. So ist etwa i m Tarifrecht Lohngleichheit für gleiche Leistung zu wahren; wo ein Angebotsmonopol für lebenswichtige Güter oder Dienstleistungen existiert, fordert der Gleichheitssatz einen Abschlußzwang zu allgemeinen Bedingungen. 2 3 Der Sozial- und Wohlfahrtsstaat läßt es sich angelegen sein, auch noch darüber hinaus dem sozial Schwächeren den Grundrechtsschutz des Gleichheitssatzes zu Lasten der Privatautonomie zu gewähren. Die Grenz- und Streitfälle liegen hier vor allem auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, wo man etwa die einleuchtende Meinung findet, daß zwar das gesetzliche Gebot, Männer und Frauen für gleiche Arbeit gleich zu entlohnen, Ausfluß des Gleichheitssatzes sei, 2 4 die Abschlußpflicht aus § 61 l a Abs. 1 B G B den Gleichheitssatz aber allzusehr zu Lasten der Privatautonomie strapaziere 25 . W o private Ungleichbehandlung — etwa durch rassische Diskriminierung — die Menschenwürde verletzt, tritt die staatliche Pflicht ein, diese

20 Starck (Fn. 2), Rdn. 188 m.Nachw. 21 Vgl. einerseits Dürig (Fn. 2), I Rdn. 497 ff.; Starck (Fn. 2), Rdn. 189, andererseits D. Ehlers, Verwaltung in Privatrechtsform, 1984, S. 218 ff.; jeweils m. w. Nachw.; zum schweizerischen Recht vgl. D. Thürer, Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, 1987, S. 454 f. 22 Vgl. W. Rüfner, Drittwirkung der Grundrechte, in: Gedächtnisschr. f. W. Martens, 1987, S. 220 ff.; speziell zum Gleichheitssatz: J. Salzwedel, Gleichheitsgrundsatz und Drittwirkung, in: Festschr. f. H. Jahrreiß, 1964, S. 339 ff.; Thürer (Fn. 21), S. 455 ff.; Müller (Fn. 17), Rdn. 22 f. 23 Starck (Fn. 2), Rdn. 194 ff. 24 Dürig (Fn. 2), I Rdn. 516; ähnlich Starck (Fn. 2), Rdn. 229. 25 w. Schmitt Glaeser, Die Sorge des Staates um die Gleichberechtigung der Frau, DÖV 1982, S. 384; Starck (Fn. 2), Rdn. 227.

I. Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches

311

gegenüber jedermann zu schützen (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 G G ) . 2 6 M i t diesen kurzen und nur exemplarischen Andeutungen zu diesem Thema muß es hier sein Bewenden haben. 3. Angleichung

der realen

Lebensbedingungen

a) Die Forderung nach realer Angleichung. Die Herstellung von Rechtsgleichheit Schloß i n gewissem Umfang auch eine soziale Angleichung ein. Wenn m i t dem R u f nach égalité auch der nach fraternité 2 7 erhoben wurde, so bedeutete das, daß aus Hochgeborenen Gleichgeborene werden sollten, wie auch die Beseitigung religiöser Diskriminierung, insbesondere die Judenemanzipation, und später die Gleichberechtigung von Mann und Frau eine soziale Gleichstellung einschlossen. A u c h dies fügte sich in den großen Z u g der historischen Entwicklung: Der W i l l e , die sozialen Schranken niederzureißen, der bereits zu Cromwells Zeit den Levellern ihren Namen verliehen hatte 2 8 , rebellierte 1789 gegen das schicksalhafte Hineingeborensein i n eine rechtlich fixierte soziale Rolle, in einen Adels-, Bürger- oder Bauernstand oder in das Ghetto einer verfemten Religionsgemeinschaft, aber auch gegen die starren Bindungen der Zünfte; diese Bewegung setzte sich in Deutschland etwa in den Stein-Hardenbergschen Reformen fort und fand einen Ausklang in Art. 109 der Weimarer Verfassung 2 9 . Der R u f nach fraternité richtete sich aber nicht nur auf die Beseitigung rechtlich festgeschriebener sozialer Ungleichheiten und auf formale Gleichberechtigung. I m revolutionären Frankreich wurde aus den Mittel- und Unterschichten die Forderung laut, auch über eine bloß rechtliche Gleichstellung hinauszugelangen zu einer égalité de fait. Babeuf forderte „Wohlstand für alle, Unterricht für alle, Gleichheit, Freiheit und Glück für a l l e " . 3 0 Diese Ausgestaltung des Gleichheitsprinzips ließ sich insbesondere durch die Überlegung stützen, daß ungleichmäßige Anhäufung von Wohlstand oft nicht nur einem persönlichen Verdienst, sondern auch dem Glück, nicht selten auch der Rücksichtslosigkeit und vor allem der M i t w i r k u n g anderer Menschen zuzuschreiben sind; selbst die persönliche Tüchtigkeit ist wenigstens zum T e i l nur unverdientes Ergebnis einer ererbten, glücklichen Veranlagung. So erschien es nur als gerecht, die fortune zu korrigieren. Trotz der genannten Anläufe zur Beseitigung von Standesunterschieden und religiöser Diskriminierung und mancher Bemühungen um sozialen Ausgleich 3 1

26 Dazu oben Kap. 24 I I I 1 und die Beispiele bei Salzwedel (Fn. 22), S. 349 ff. 27 Zur Parole „Liberté! Egalité! Fraternité!" vgl. W. Schieder, Art. Brüderlichkeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, 1982, S. 565 f. 28 Vgl. Encyclopaedia Britannica, 1959, Art. Levellers; Dann (Fn. 1), S. 107 ff. 29 Vgl. Dann (Fn. 1), S. 164 ff. zur deutschen Reformgesetzgebung und S. 207 f. zur Diskussion über die Abschaffung des Adels. 30 Zit. nach Th. Ramm, Die großen Sozialisten, Bd. I, 1955, S. 162; vgl. auch Dann (Fn. 1), S. 140 ff.; W. Leisner, Der Gleichheitsstaat, 1980, S. 46 ff., und zur Gegenwart S. 143 ff.

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz

scheiterte dann aber i m Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts die V e r w i r k l i chung einer „materiellen Gleichheit" — teils an der konservativen Gegenströmung gegen den Gleichheitsidealismus 3 2 , teils auch an dem Wunsch, in Reaktion auf den Polizei- und Wohlfahrtsstaat nunmehr „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (W. v. Humboldt) und so eng wie möglich zu ziehen 3 3 , bis dann aus dem Arbeiterelend und aus dem Spott über den „Nachtwächterstaat" und seine erhabene Gesetzesgleichheit 34 sich erneut die Forderung nach der égalité de fait erhob und sich jetzt unter dem Namen der Sozialstaatlichkeit verwirklichte. 3 5 Inzwischen hat sich, v o m Zeitgeist getragen 3 6 , der Schwerpunkt der Gleichheitsproblematik geradezu in die Fragen der Sozial- und Bildungspolitik verlagert. Dieser historische Hintergrund und der systematische Zusammenhang m i t der Sozialstaatsklausel rechtfertigen es, dem Art. 3 G G ein Gebot auch zur Herstellung realer Chancengleichheit zu entnehmen. Gewiß lassen sich daraus keine einklagbaren Rechte auf staatliche Bereitstellung bestimmter Leistungsangebote ableiten 3 7 ; diese hängen v o m Wandel der Bedürfnisse und der j e verfügbaren Ressourcen ab, so daß der Legislative und der Exekutive stets ein Spielraum für sie bleiben m u ß . 3 8 W o aber der Sozialstaat Güter und Leistungen, etwa i n Gestalt von Bildungseinrichtungen, zur Verfügung gestellt hat, gibt der Gleichheitssatz dem Einzelnen ein Recht, an ihnen teilzuhaben. 3 9 Auch hier gehen Rechts- und Chancengleichheit konform. Darüber hinaus wirkt das Gebot, Chancengleichheit zu schaffen, als verbindliche Staatszielbestimmung und ist Teil des m i t dem Gleichheitssatz verknüpften Gerechtigkeitsauftrages (s. u. I I 3 b ) . 4 0 b) Die faktische Tendenz der Demokratie zu realer Angleichung. Ungeachtet solcher grundrechtsdogmatischen Überlegungen drängt demokratische Mehrheitsherrschaft auch schon als faktisches Wirkungsschema zu einer Angleichung

31 E.R. Huber, Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 254 ff.; Dann (Fn. 1), S. 219 ff.; ders. (Fn. 8). 32 v. d. Marwitz, Jarcke, Gentz, Haller, Treitschke u. a.; vgl. Dann (Fn. 1), S. 171 ff., 214 ff. 33 Vgl. Dann (Fn. 1), S. 185 ff.; die wichtigsten Stichworte für die Epigonen des 19. Jahrhunderts lieferte Adam Smith in seiner „Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Wohlstandes der Nationen", 1776, vgl. insbesondere I V 9. 34 Zu jenem F. Lassalle, Arbeiterprogramm, 1862, zu dieser A. France, Le lis rouge, 1894, Kap. 7. 35 Κ. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl. 1984, S. 882 ff.; H. F. Zacher, in: HdbStR I, 1987, S. 1062 ff. 36 Th. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1987, S. 195 ff., 172 ff. 3v Nachw. zur Diskussion bei R. Stettner, Der Gleichheitssatz, BayVBl. 1988, S. 552. 38 Vgl. BVerfGE 33, 333 ff.; auch Dürig (Fn. 2), I Rdn. 175 ff. 39 Vgl. Starck (Fn. 2), Rdn. 100; I. v. Münch, Grundgesetzkommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Vorb. zu Art. 1 -19, Rdn. 17 ff.; Müller (Fn. 17), Rdn. 21. 40 Th. Maunz / R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, §§ 14 14, 18 I 2; vgl. F. Schoch, Der Gleichheitssatz, DVB1. 1988, S. 869 f.

I. Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches

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der realen Lebensverhältnisse — freilich nur so weit, wie die Egalisierungsinteressen der Mehrheit reichen; sie w i r k t also nicht notwendig einer Unterprivilegierung stabiler, etwa rassischer oder religiöser Minderheiten faktisch entgegen. Die egalisierende Kraft der Demokratie verwirklicht sich nicht nur über die Gesetzgebung, sondern auch als soziologisches Wirkungsschema: W i r finden eine Angleichung des Denkens, des Strebens nach materiellem Wohlstand und selbst des Mitempfindens. 4 1 V o r allem w i r d v o m Mehrheitswillen und -interesse eine gleichmäßige Teilhabe an Gütern erstrebt und durch ein System von Steuern, Sozialabgaben und staatlichen Leistungen verwirklicht. Der heutige Staat der westlichen Industriegesellschaft steht als Steuer- und Leistungsstaat i m Dienste der égalité de f a i t . 4 2 E i n Unbehagen am Gleichheitsstaat läßt sich nicht unterdrücken: Tocqueville schrieb der Gleichheit eine Tendenz zur Radikalisierung zu, w e i l der A n b l i c k von Ungleichheiten um so unerträglicher sei, je seltener und damit augenfälliger diese würden. 4 3 Walter Leisner hat die Frage gestellt, ob und inwieweit insbesondere den Umverteilungen überhaupt ein Gerechtigkeitsstreben oder bloß der Gedanke zugrundeliege, daß zahlen soll, wer zahlen k a n n . 4 4

4. Gleiche

Freiheit

Die Fragen vertiefen sich, wenn man den Beziehungen zwischen Gleichheit und allgemeiner Freiheit nachgeht. 4 5 Nach Kant sollte es die Funktion des Rechts sein, die W i l l k ü r der Menschen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit und eben damit gleichmäßig gegeneinander abzugrenzen. 46 Die Konvergenz von Freiheit und Gleichheit zeigt sich nicht zuletzt i n den verfassungsrechtlichen Freiheitsgarantien, unter denen die Menschenrechte jedem und die Bürgerrechte allen Deutschen gleichermaßen bestimmte Freiheitsrechte gewährleisten.

A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, I 1835, II. Teil, Kap. 7; I I 1840, II. Teil, Kap. 10, III. Teil, Kap. 1, 12, 17. 42 Vgl. H. J. Papier, in: E. Benda u. a., Hdb. d. Verfassungsrechts 1983, S. 646. 43 „Der Haß der Menschen gegen das Vorrecht wächst in dem Grad, wie die Vorrechte seltener und kleiner werden." „Sind die gesellschaftlichen Bedingungen alle ungleich, so fällt keine noch so große Ungleichheit kränkend auf; wogegen der kleinste Unterschied inmitten der allgemeinen Gleichförmigkeit Anstoß erregt; deren Anblick wird um so unerträglicher, je durchgängiger die Einförmigkeit ist. Daher ist es natürlich, daß mit der Gleichheit selber die Liebe zu ihr unaufhörlich zunimmt; indem man sie befriedigt, steigert man sie." Tocqueville (Fn. 41), I I 1840, IV. Teil, Kap. 3. Die Existenz unterprivilegierter Minderheiten bleibt jedoch, wie gesagt, mit der Mehrheitsherrschaft vereinbar. 44 Leisner (Fn. 30), S. 189 ff. 45 Vgl. etwa Cicero, De re publica, I 47; J. Locke, Two Treatises of Government, I I § 4; Leibholz (Fn. 2), S. 21 ff.; Leisner (Fn. 30), S. 32 ff.; Ch. Gusy, Der Gleichheitssatz, NJW 1988, S. 2506 f.; D. Suhr, Gleiche Freiheit, 1988, S. 5 ff. 46 /. Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. 1798, S. 33; ähnlich J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts, § 8.

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz

Einen Freiheitsbezug hat aber auch die Forderung nach Angleichung der realen Lebensbedingungen und -chancen: Tatsächliche Entfaltungsfreiheit ist mitbedingt durch Bildung und Besitz, wie schon Fichte und Lorenz von Stein bemerkt haben. 4 7 U n d nach dem sozialpolitischen Versagen des Manchester-Liberalismus m i t seiner weit getriebenen gleichen rechtlichen Freiheit konnte Gerhard Leibholz feststellen, „daß der tiefere Sinn der fortschreitenden politischen und gesellschaftlichen Egalisierung nur sein kann, die durch die Freiheit unfrei Gewordenen m i t Hilfe der Gleichheit wieder in die Lage zu versetzen, von der Freiheit einen vernünftigen Gebrauch zu machen". A u f diese Weise sollten „die durch die Freiheit Depossedierten wieder i n den Besitz der Freiheit gelangen". 4 8 A u c h u m der realen Freiheit willen muß also eine reale Chancengleichheit i n der Generationenfolge immer wieder neu hergestellt werden, nicht zuletzt aus der Sicht des konsequenten Liberalismus, der jedem den L o h n seiner eigenen Leistung und nicht den L o h n der Leistungen seiner Vorväter zukommen lassen w i l l . Zur Herstellung solcher Chancengleichheit gehört es auch, daß Hilfen geboten werden, u m ungünstige, milieubedingte Startbedingungen in der Schule während einer angemessenen Anlaufzeit auszugleichen. Ein eigenes Gesicht bekommt in der pluralistischen Gesellschaft das Problem der realen Freiheit und Gleichheit, die hier oft weniger durch individuelle Konkurrenten als durch Verbandsmacht und Massenmedien gefährdet werden. Es ist eines der großen Themen der pluralistischen Demokratie, Ungleichgewichten in der Repräsentanz der Interessen und Meinungen zu begegnen und womöglich institutionell zu gewährleisten, daß die in der Gemeinschaft vorhandenen Interessen und Meinungen so zur Geltung kommen, wie es der Zahl der Interessenten und dem Gewicht ihrer Interessen angemessen i s t 4 9 , ohne hierdurch die Chancen und Antriebe eines freien Wettbewerbs zu zerstören. 5. Fragen des Maßes Probleme der égalité de fait haben deutlich gemacht, daß das Verhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit nicht das einer geradlinigen Konvergenz, sondern das Verhältnis komplizierter und auch spannungsreicher Verstrickungen i s t . 5 0 So macht eine rigorose Verwirklichung gleichmäßiger Güterverteilung und W o h l fahrtsvorsorge den Staat zum allgegenwärtigen Administrator der Gleichheit und

47 Fichte (Fn. 46), § 18; ders., Der geschloßne Handelsstaat, I Kap. 1; Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 1850, Einl. IV 2, 3. 48 G. Leibholz, Verfassungsstaat — Verfassungsrecht, 1983, S. 25. 49 Vgl. BVerfGE 12, 262 f.; M. Bullinger, Freiheit und Gleichheit in den Medien, JZ 1987, S. 257 ff.; w. Nachw. bei R. Zippelius, Allg. Staatslehre, 12. Aufl. 1994, §§ 26 V, VI, 28 IV 4. 50 Vgl. Dürig (Fn. 2), I Rdn. 120 ff.; Kloepfer (Fn. 18), S. 46 ff.; M. Kriele, Freiheit und Gleichheit, in: E. Benda u. a., Hdb. d. Verfassungsrechts 1983, S. 133 ff.

I. Zielrichtungen des Gleichheitsanspruches

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bedrängt die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Der Leviathan ist auch dann bedrückend, wenn er die Züge einer M i l c h k u h annimmt. 5 1 Wenn der wachsende Ausbau der Sozialstaatlichkeit eher mit Staatsverdrossenheit statt mit zunehmender Staatsbejahung beantwortet wird, so weist das auch darauf hin, daß i m Menschen ein mit der Selbstachtung eng verbundenes Bedürfnis nach Selbständigkeit und wenigstens begrenzter Autarkie steckt, daß der Einzelne innerhalb bestimmter Grenzen gefordert sein w i l l , für sich und seine Nächsten zu sorgen und einzustehen. Die Aufgabe, der Egalisierung das richtige Maß zu geben, stellt sich aber nicht nur m i t B l i c k auf die Freiheit. A u c h unter dem Aspekt der Gleichheit selbst müßte ein soziales System als ungerecht und auf Dauer unannehmbar erscheinen, in welchem etwa die Einkünfte aus Sozialhilfe das durch einfache Arbeit erzielbare Einkommen überstiegen 52 — daher das „Abstandsgebot" in § 22 Abs. 3 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes. A u c h pragmatische Einwände erhöben sich gegen eine übertriebene Egalisierung jener Ungleichheiten, die der Lohn persönlicher Leistung sind; beseitigt sie doch den wichtigsten Anreiz, Leistungen zu erbringen, die auch der Gesellschaft nützen — eine Einsicht, die sich auch marxistische Staaten zunehmend zu eigen machten. 5 3 Ein egalisierendes Bildungssystem schließlich, das die Unterschiede individueller Bildungsfähigkeit und Strebsamkeit ignorierte, würde den nationalen Bildungsstandard nach unten nivellieren. 5 4 Doch sind es nicht nur pragmatische Überlegungen, die hier eine Rolle spielen: Es ist tief in der menschlichen Natur begründet, daß der Einzelne die mit Risiken verbundene Chance sucht, sich i m Leben zu bewähren und sich vor anderen hervorzutun. 5 5 Überall dort, wo i m Namen der Gleichheit die Herausforderung persönlicher Tüchtigkeit, die Entfaltung der Individualität oder die Belohnung persönlicher Leistung allzusehr beschnitten werden, wo etwa die egalisierende Ausgestaltung des Bildungssystems so weit getrieben wird, daß es den individuellen Begabungen und Entfaltungswünschen nicht mehr angemessen Rechnung

A. Gehlen, Moral und Hypermoral, 3. Aufl. 1973, Kap. 8. Schon Tocqueville hat das beunruhigende Bild der alles besorgenden wohlfahrtsstaatlichen Demokratie gezeichnet: einer allgewaltigen bevormundenden Macht, die allein dafür sorgt, die Genüsse der Bürger zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen, eine umfassende, ins einzelne gehende, regelmäßige, vorsorgliche und milde Gewalt; Tocqueville (Fn. 41), I I 1840, IV. Teil, Kap. 5 und 6; vgl. auch Dürig (Fn. 2), I Rdn. 148 ff. 52 Zu der steuerrechtlichen Überhöhung dieses Problems: U. H. Schneider, Zur Verantwortung der Rechtswissenschaft, JZ 1987, S. 697. 53 Vgl. etwa Art. 13 und 14 der UdSSR-Verfassung von 1977/ 1988. 54 Vgl. Dürig (Fn. 2), I Rdn. 36, 107 ff. Es erscheint — mit Dürig zu sprechen — geradezu geboten, den Wettbewerb um unterschiedliche „Zielchancen" zu fördern und seine belebende Kraft zu nützen, um einen möglichst hohen Sockel von „Ausgangschancen" für alle zu gewinnen; vgl. Dürig (Fn. 2), I Rdn. 113, 140, 170. 55 Vgl. K. Obermayer, Sozialstaatliche Herausforderung, 1984, S. 11.

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz

trägt, 5 6 regt sich das Unbehagen an der Gleichheit. Es gehört zur Dialektik des Gleichheitssatzes, daß dieser m i t der gleichen Achtung der Menschenwürde, mit der Gleichberechtigung ohne Ansehen der religiösen und politischen Anschauungen, auch eine gleiche Freiheit gewährt, anders zu sein als andere. 57 Gleiche Achtung der Menschenwürde bedeutet Wahrung der Eigengesetzlichkeit jeder Person, auch ihrer Besonderheit und ihres Rechts, sich anders zu entfalten als andere, aber auch ihrer Pflicht, für sich selbst einzustehen, bedeutet auch die Chance zum Außergewöhnlichen. A u f solche Weise gewinnt in einer Epoche weitgetriebener égalité der Satz Kants wieder an Leuchtkraft, daß „die Ungleichheit unter Menschen (die) reiche Quelle so vieles Bösen, aber auch alles Guten" sei. 5 8 So notwendig es i m Gange der Geschichte war, die verkrusteten, rechtlich fixierten Ungleichheiten zu beseitigen und auch den realen Ungleichheiten, die aus einem Übermaß der Freiheit hervorgehen, Grenzen zu setzen, so dringlich ist es, auf der anderen Seite die Charybdis radikaler Egalisierung zu meiden. So laufen die subtilen Beziehungen wechselseitiger Angewiesenheit aufeinander und antagonistischer Spannung zueinander, in denen Freiheit und Gleichheit stehen, auf die Aufgabe hinaus, das rechte Maß zu finden: Unter dem einen Gesichtspunkt erscheint sie als Aufgabe, die Freiheit des einen gegen die Freiheiten der anderen vernünftig abzugrenzen, eine Aufgabe, die i m wesentlichen schon Kant gestellt hat. Unter dem Aspekt der Gleichheit stellt sie sich als Aufgabe, das richtige Maß der Gleichheit, 5 9 insbesondere der égatité de fait zu finden, also als Aufgabe der justitia distributiva. I n beiden Fällen handelt es sich u m die Frage der Gerechtigkeit, die unter verschiedenen Aspekten gestellt und begrifflich angegangen wird, in beiden Fällen geht es, nach einem noch älteren Verständnis der Gerechtigkeit, u m die Aufgabe, das Gemeinwesen in die rechte Ordnung zu bringen, 6 0 eine Aufgabe, die prinzipiell nicht schematisch ein für allemal lösbar, sondern i m Wandel der historischen Situation fortwährend neu aufgegeben ist, als eine täglich herausgeforderte Aufgabe und Kunst der Politik.

I I . Fragen gerechter Gleichbehandlung I n die begriffliche Struktur der Gerechtigkeitsfragen, die sich mit dem Gleichheitssatz verbinden, führt die einfache Überlegung, daß dieser wegen der Vielfalt

56 Vgl. BVerfGE 34, 183 f., 187 ff.; 75, 62 f.; Dürig (Fn. 2), I Rdn. 95 ff. 57 A. Arndt, Gedanken zum Gleichheitssatz, in: Festschr. f. G. Leibholz, Bd. II, 1966, S. 185. 58 /. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, Berlinische Monatsschrift, 1786, S. 20 f. 59 Vgl. BVerfGE 5, 206; Dürig (Fn. 2), I Rdn. 182. 60 Vgl. Piaton, Staat, 443 ff.

II. Fragen gerechter Gleichbehandlung

317

der Menschen und Lebenssachverhalte nur auf eine Gleichbehandlung des „ Ä h n l i chen" hinausläuft, das sich in wichtigen Merkmalen gleicht, in anderen unterscheidet. Kurz, rechtliche Gleichbehandlung „ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkte". 6 1 Hieraus ergeben sich zwei Themen, die einer Erörterung bedürfen: Das erste betrifft den Umstand, daß Gleichbehandlung in eine Spannung zur Vielgestaltigkeit des Lebens tritt (1). Das zweite betrifft die Frage, nach welchen Kriterien sich die genannten Abstraktionen, also die Gleich- und Ungleichbehandlungen vollziehen sollen (2). 1. Gleichheitssatz

und Lebenswirklichkeit

I n der spannungsreichen Beziehung zur Lebenswirklichkeit ist eine Paradoxie des Gleichheitssatzes begründet: Gerechtigkeit verlangt Gleichbehandlung. Generalisierende Gleichbehandlung führt aber zu Ungerechtigkeit; denn sie bedeutet Abstraktion, Absehen von der Lebensvielfalt und Lebensfülle, sie mißt Fälle, die sich nur i n einzelnen Hinsichten gleichen, m i t gleicher Elle und verfehlt dadurch immer wieder die Aufgabe, der Vielgestaltigkeit des Lebens gerecht zu werden. So verfährt das Recht, u m praktikabel zu sein, schon in den alltäglichsten Dingen typisierend 6 2 und knüpft ζ. B. den Eintritt der Volljährigkeit nicht, wie es sachlich geboten wäre, an einen bestimmten Grad persönlicher Reife, sondern an ein Lebensalter, in welchem diese Reife zumeist eintritt; so w i r d Ungleiches gleich behandelt. I n anderen Fällen führt der Schematismus des Rechts zu einer unterschiedlichen Behandlung von sachlich nah Beieinanderliegendem; es setzt harte Zäsuren, wo das Leben fließende Übergänge hat. 6 3 I m Zeitablauf zeigt sich das insbesondere dort, wo die individuelle oder die generelle Rechtssituation sich an einem Stichtag ändert. 6 4 So steht auf der einen Seite der Satz M a x Ernst Mayers: „ W e r . . . Normen sät, kann keine Gerechtigkeit ernten", 6 5 und die Aristotelische Forderung, generelle Normen dort, wo sie der Vielgestaltigkeit des Lebens nicht gerecht werden, durch Billigkeit zu korrigieren. 6 6 A u c h die Gnade i m Strafrecht hat man aus dieser Spannung von genereller N o r m und Einzelfallgerechtigkeit gedeutet „als die Korrektur des als unvollkommen erkannten Gesetzes i m einzelnen F a l l e " . 6 7

61 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, §§4, 9; Nef (Fn. 1), S. 10 ff.; A. Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 2. Aufl. 1982, S. 29 ff. 62 Vgl. ζ. B. BVerfGE 31, 130 f.; 65, 354 f.; w. Nachw. bei Schoch (Fn. 40), S. 879 f.; dazu auch unten Kap. 37 I I 1. 63 Dazu unten Kap. 37 I 3. 64 Vgl. BVerfGE 15, 202; 24, 228; 49, 275; M. Gubelt, in: I. v. Münch, GrundgesetzKommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 3 Rdn. 27; Starck (Fn. 2), Rdn. 21. 65 M. E. Meyer, Rechtsphilosophie, 1922, S. 82, vgl. auch S. 79. 66 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137 b; Nachw. zur Aktualität dieses Problems bei Starck (Fn. 2), Rdn. 18. 67 R. v. Jhering, Der Zweck im Recht, 5. Aufl. 1916, Bd. I, S. 333.

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz

A u f der anderen Seite drängt nicht nur das Bedürfnis nach Rechtssicherheit, sondern auch der Gleichheitssatz selbst zur Generalisierung. A u c h wenn das Gesetz durch Billigkeitsentscheidungen berichtigt wird, bleibt man nicht beim Einzelfall stehen. Billigkeitsentscheidungen korrigieren zwar eine zu stark verallgemeinernde Norm, wenden sich gegen eine Gleichbehandlung des Ungleichen und streben eine Lösung an, die den Besonderheiten des vorliegenden Falles gerecht wird. Aber zugleich erheben sie den Anspruch, auf gleichartige — spezifische — Fälle i n gleicher Weise anwendbar zu sein. Selbst das Begnadigungsrecht hat in unserer Zeit nach solcher Verrechtlichung gedrängt. 6 8 Kurz, selbst B i l l i g keitsentscheidungen laufen — entgegen verbreiteter M e i n u n g 6 9 — nicht auf Einzelfallgerechtigkeit, sondern auf eine sachgerechte Differenzierung des Normensystems hinaus, darauf nämlich, zwar in zunehmender Subtilität, aber generell, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln.70 Diese dem Gleichheitssatz innewohnende Dialektik, einerseits einzuebnen, andererseits dort, wo er auf ungleiche Verhältnisse trifft, zu sachbezogenen normativen Unterscheidungen zu führen, ist ein die Rechtsentwicklung insgesamt beherrschendes, viele Rechtsbereiche durchdringendes Lebensprinzip. Der Grundsatz, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, bringt eine Polarität zum Ausdruck, verleiht dem Recht gleichsam die innere Unruhe, fortwährend zu prüfen, i n welchen Hinsichten und in welcher Konkretion Ungleichheiten zu beachten sind und in welcher Abstraktion von ihnen abzusehen ist. Diese Fragen nach der angemessenen Abstraktionsrichtung und Abstraktionshöhe bilden den Leitfaden, nach dem ζ. B. die Antwort darauf zu suchen ist, an welche Gemeinsamkeiten die Selbstbindung des Ermessens anzuknüpfen und bei welchen Unterschieden sie zu enden habe. 7 1 In dieser Weise läßt sich auch die Anpassung des Rechts an den Wandel der tatsächlichen Verhältnisse mit Hilfe des Gleichheitssatzes begrifflich strukturieren: 7 2 Bedeuten doch Gleichbehandlung und Kontinuität i m Wandel der Verhältnisse ein fortschreitendes Absehen von sich entwickelnden faktischen Unterschieden, und es fragt sich, von wann ab es wichtiger wird, ein Gesetz, eine Gesetzesauslegung 73 oder eine Ermessensausübung 7 4 solchem Wandel anzupassen, als die Kontinuität zu wahren.

68 Vgl. BVerfGE 25, 365; 45, 243; O. Bachof, Über Fragwürdigkeiten der Gnadenpraxis, JZ 1983, S. 469 ff., insbes. S. 471, 473. 69 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1982, S. 363 ff. m. Nachw., aber auch S. 368. 70 Dazu unten Kap. 37 I I 3; R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §§ 24, 40. 71 Nachw. bei Gubelt (Fn. 64), Rdn. 33; F. Ossenbühl, in: Erichsen / Martens, Allg. Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1988, § 7 IV 4 d, bb. 72 Dürig (Fn. 2), I Rdn. 196 ff., 212. 73 Daß Gleichheitssatz und Rechtssicherheit auch zu einer Bindung an eine einmal gewählte — vertretbare — Gesetzesauslegung führen, wird zunehmend anerkannt; vgl. BFH, BStBl. 1964 III, S. 558 f.; BGHZ 85, 64; vgl. auch K. Larenz, Methodenlehre der

II. Fragen gerechter Gleichbehandlung

319

Einem Wandel unterliegen aber nicht nur die tatsächlichen Verhältnisse, sondern auch die gesellschaftlich-politischen Anschauungen und mit ihnen der Beurteilungsmaßstab, aus dem sich ergibt, was als wesentlich zu gelten habe. A u c h die das Denken beherrschenden Ideen sind ein T e i l jener Lebenswirklichkeit, an deren Fortgang und Wandel die rechtlichen Gleich- und Ungleichbehandlungen anzupassen sind. Z u ihnen gehören das je vorherrschende Menschenbild, die politischen Zielvorstellungen und insgesamt die von einem V o l k akzeptierten Gerechtigkeitsvorstellungen. 75 Sie bieten wesentliche Orientierungen dafür, an welche Merkmale Gleich- oder Ungleichbehandlungen anzuknüpfen haben. I m großen ganzen ging der Z u g der neueren Entwicklung dahin, daß vordem wichtig Erscheinendes, wie Stand, Konfession und Religion, Rasse und Geschlecht, vor dem Forum des Rechts zunehmend unerheblich wurden. Heute stellt sich die Frage, ob und in welcher Richtung und Ausgestaltung die rechtlichen Gleichstellungen und die faktischen Angleichungen weitergetrieben oder neue Pifferenzierungen angestrebt werden sollten; ob etwa Gastarbeiter in den staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten den Deutschen gleichgestellt, ob die Chancen i m Bildungswesen wieder nach einem strenger gehandhabten Leistungsprinzip vergeben werden sollten oder in welcher Stufung Einkommen und Vermögen besteuert und so zu einem sozialen Ausgleich herangezogen werden sollten. 2. Kriterien

der

Gleichbehandlung

a) Der Gleichheitssatz als Schlüsselbegriff. Der Gleichheitssatz richtet sich also nicht auf eine beliebige „Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkte", sondern führt auf eine Gerechtigkeitsfrage: Rechtlich zu vergleichen heißt, Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszustellen und zu prüfen, von welchen Merkmalen die erwogene Rechtsfolge gerechterweise abhängen sollte. 7 6 A u f diese Weise erhält die Gerechtigkeitsfrage einen spezifischen begrifflichen Zuschnitt, ohne damit aber schon gelöst zu sein. 7 7 M i t

Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 412 ff., und die Nachw. bei R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 13 II. Zu den Grenzen dieser Bindung: BVerfGE 2,401 ; 19, 47 f.; 34, 288. 74 Dürig (Fn. 2), I Rdn. 446 ff.; H. Maurer, Allg. Verwaltungsrecht, 6. Aufl. 1988, § 24 Rdn. 23. 75 Dazu oben Kap. 15. 76 W. Geiger, in: Ch. Link (Hrsg.), Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, 1982, S. 100. Nach einer zunehmend sich durchsetzenden Formulierung des Bundesverfassungsgerichts ist der Gleichheitsgrundsatz dann verletzt, wenn Fälle gleich behandelt werden, zwischen denen so gewichtige Unterschiede bestehen, daß sie gerechterweise unterschiedlich behandelt werden müssen oder wenn Fälle ungleich behandelt werden, zwischen denen keine Unterschiede bestehen, die gewichtig genug wären, die unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen, vgl. BVerfGE 71, 58 f., 271; w. Nachw. bei R. Maaß, Die neuere Rechtsprechung des BVerfG zum allgemeinen Gleichheitssatz, N V w Z 1988, S. 14 ff.; zu Divergenzen zwischen den Formulierungen beider Senate: Schoch (Fn. 40), S. 875 f.

320

Kap. 26: Der Gleichheitssatz

anderen Worten: Der Gleichheitssatz dient als ein „Schlüsselbegriff', der Gerechtigkeitsfragen in der beschriebenen Weise erschließt, als ein Prinzip, das in Gesetzgebung und Rechtsanwendung die Gerechtigkeitserwägungen i n spezifischer Weise strukturiert. Der Gleichheitssatz weist also über sich hinaus: A n welche Merkmale eine Ungleichbehandlung zu knüpfen sei — und zwar unter dem Aspekt einer bestimmten N o r m — , hängt von zusätzlichen Kriterien ab: Die Ungleichbehandlung muß einem legitimen Regelungszweck dienen; sie muß hierbei den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbotes genügen, und das heißt: durch den Normzweck aufgewogen werden und ein geeignetes und erforderliches M i t t e l sein, um diesen zu erreichen. 7 8 Die Legitimität des Regelungszweckes bemißt sich hierbei nach den spezifischen Gerechtigkeitsprinzipien, die den zu ordnenden Lebensbereich beherrschen. 79 A n welche Merkmalsunterschiede eine Regelung in geeigneter und auch sonst verhältnismäßiger Weise anknüpfen kann, um den Regelungszweck zu erreichen, richtet sich nach den Sachgesetzlichkeiten dieses Lebensbereiches. 80 Andererseits dürfen Unterschiede, die nach dem Normzweck zu einer Ungleichbehandlung führen müßten, nur dann vernachlässigt werden, wenn das Bedürfnis nach Generalisierung die Einbuße an Sachgerechtigkeit aufwiegt (s. ο. I I l ) . 8 1 Die genannte Bindung an Gerechtigkeitsprinzipien spezifischer Lebensbereiche zeigt sich ζ. B. bei der Frage nach der Wahlrechtsgleichheit; sie verweist auf Kriterien politischer Legitimation: Nur wenn und weil man voraussetzt, daß in Wahlen die Idee demokratischer Legitimität, also die Gleichachtung aller Bürger, weitestmöglich zu verwirklichen sei (s. ο. I 1), gebührt jedem Bürger streng und formal gleiches Stimmrecht. 8 2 Oder: W e i l es legitim ist, eine sachkundige und von Protektion unabhängige Amtsführung zu erstreben, kommt es für den Zugang zu öffentlichen Ämtern auf Unterschiede funktionsbezogener Eig77 Die Funktion von Begriffen und Grundsätzen, als Lösungsgesichtspunkte, Topoi, als diskussionsleitende Instrumente der Argumentation zu dienen, haben für die Jurisprudenz vor allem Viehweg und Perelman beschrieben: Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974, §§ 3, 8; Ch. Perelman, Juristische Logik als Argumentationslehre, 1979, §§58 ff.; vgl. zur Vorstellung problemerschließender „Schlüsselbegriffe" auch R. Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 22, 41, 60 f., 82 ff.; E. Denninger, Verfassungsrechtliche Schlüsselbegriffe, in: Festschr. f. R. Wassermann, 1985, S. 288 ff. 78 Vgl. Kloepfer (Fn. 18), S. 61 ff.; E. Stein, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 1984, Art. 3, Rdn. 50 ff.; Müller (Fn. 17), Rdn. 31 f.; C. Robbers, Der Gleichheitssatz, DÖV 1988, S. 750 f.; Schoch (Fn. 40), S. 874; R. Wendt, Der Gleichheitssatz, NVwZ 1988, S. 784 f.; zu den oben verwendeten Begriffen: Maunz ! Zippelius (Fn. 40), § 13 I I I 6. 79 Vgl. Kloepfer (Fn. 18), S. 34 f. so Vgl. Zippelius (Fn. 70), § 7 III, IV. 81 Kriterien dafür gibt BVerfGE 63, 128, an. 82 BVerfGE 51, 234; H. H. v. Arnim, Der strenge und der formale Gleichheitssatz, DÖV 1984, S. 85 ff.

II. Fragen gerechter Gleichbehandlung

321

nung, Befähigung und Leistung, und nur hierauf, an. A n welche Merkmale Unterschiede der steuerlichen Belastung anknüpfen dürfen, 8 3 hängt davon ab, welches legitime Steuerzwecke sind, wie diese zu gewichten und welches verhältnismäßige und insbesondere geeignete M i t t e l sind, um die Zwecke zu erreichen; unter diesen können neben der Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs auch die Herbeiführung einer ausgewogenen Vermögensverteilung, ferner etwa familien-, gesundheits-, umweit- oder siedlungspolitische Ziele eine Rolle spielen; 8 4 wenn und weil durch das Steuersystem auch sozial nützliches Handeln ermutigt werden soll, ist nicht schematisch an die Höhe des Einkommens und Vermögens, sondern auch an die Umstände des Vermögenserwerbs anzuknüpfen. 8 5 Neben diesen Problemen verteilender Gerechtigkeit stehen solche des Ausgleichs: W o Einzelne i m Vergleich m i t anderen ungleich belastet wurden, haben Entschädigungen das Sonderopfer auszugleichen, 86 Gebühren sollen einen Ausgleich für beanspruchte Leistungen schaffen; 8 7 hier münden die Gleichheitserwägungen i n die Fragen, ob stets ein voller Ausgleich anzustreben 88 und wie gegebenenfalls dessen Gleichwertigkeit zu bestimmen sei. b) Die Legitimationsbasis. Gerechtigkeitsfragen, die in solcher Weise durch vergleichende Erwägungen strukturiert wurden, sind auf einer bestimmten Legitimationsbasis zu entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht verwies hierzu mit Recht auf die „fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft". 8 9 Damit wurde jene Entscheidungsgrundlage genannt, von der aus in einer offenen Gesellschaft überhaupt Fragen der Gerechtigkeit zu lösen sind. 9 0 Welche Merkmalsunterschiede unter einem bestimmten rechtlichen Gesichtspunkt erheblich oder unerheblich sind, bleibt innerhalb der rationalen Erwägungsstrukturen und Entscheidungsverfahren einer rational nicht weiter auflösbaren Gewichtung überlassen. 91 I n der repräsentativen Demokratie werden diese Konkretisierungen des Gleichheitssatzes zwar durch die Institutionen und in den Verfahren der Gesetzgebung und der Rechtsprechung verbindlich ausgeformt; doch müssen die Repräsenta-

83 BVerfGE 65, 354; 66, 223; 74, 199 f.; vgl. Starck (Fn. 2), Rdn. 58 ff. 84 Vgl. BVerfGE 74, 200; F. Klein, Gleichheitssatz und Steuerrecht, 1966, S. 168 ff.; W. Knies, Steuerzweck und Steuerbegriff, 1976, §§ 17 ff.; H. W. Arndt, Gleichheit im Steuerrecht, N V w Z 1988, S. 790 f.; zu dem hierdurch eröffneten Dispositionsspielraum: D. Birk, Steuerrecht I, 1988, § 7 Rdn. 16 ff.; Schock (Fn. 40), S. 881 f. 85 P. Kirchhof, Die Kunst der Steuergesetzgebung, NJW 1987, S. 3219 f. 86 BGHZ 6, 280. 87 BVerfGE 20, 270; Starck (Fn. 2), Rdn. 84 ff. 88 Zu Differenzierungen vgl. BVerfGE 24, 420 f.; 46, 285; Maunz / Zippelius (Fn. 40), § 28 I I 6 und 7. 89 BVerfGE 9, 349; 42, 72; ähnlich BVerfGE 32, 268; vgl. auch Hesse (Fn. 2) S. 214; Podlech (Fn. 2), S. 79. 90 Dazu oben Kap. 5 IV. 91 Dazu unten Kap. 35 III. 21 Zippelius

322

Kap. 26: Der Gleichheitssatz

tivorgane Entscheidungen anstreben, die für die Mehrheit des Volkes akzeptabel sind. 9 2 Innerhalb des gewaltenteiligen Repräsentativsystems selbst stellt sich dann die Frage, in welchem Ausmaß neben den Gesetzgebungsorganen auch die Gerichte berufen sein sollen, über Konkretisierungen des Gleichheitssatzes zu entscheiden und damit einen Schlüssel zu dessen Ausgestaltung i n der Hand zu halten. Diese Frage spielt insbesondere eine Rolle, wenn die Grenzen abzustecken sind, die für die richterliche Normenkontrolle, aber auch für eine Gesetzesergänzung und -korrektur durch Lückenausfüllung und restriktive Auslegung gelten. I n all diesen Fällen sprechen gute Gründe für eine strikte Beachtung der Gesetze: Indem diese staatliches Handeln generell regeln, gewährleisten sie immerhin formal eine Gleichbehandlung und beugen individueller W i l l k ü r vor (s. o. I 2 a). Eine genaue Befolgung der Gesetze dient zudem der Rechtssicherheit. Darüber hinaus erscheint es als organadäquat 93 , daß auch die inhaltlichen Gerechtigkeitsfragen, die mit der Konkretisierung des Gleichheitssatzes verbunden sind, primär vom Gesetzgeber beantwortet werden; denn dieser trifft seine Entscheidungen in lebendigerer Auseinandersetzung m i t der öffentlichen Meinung und daher mit stärkerer demokratischer Rückbindung als die Gerichte. A u c h würden diese in den politischen Tagesstreit hineingezogen und in ihrer auf Neutralität gegründeten Autorität gefährdet, wenn sie vertretbare Gleichheitsentscheidungen des Gesetzgebers umstoßen oder korrigieren wollten. Daher können ungerechtfertigte Gleich- oder Ungleichbehandlungen nur aus schwerwiegenden Gründen, denen breiteste Akzeptanz sicher ist, eine richterliche Verwerfung von Gesetzen rechtfertigen; 9 4 auch zu „offenen", d. h. v o m Gesetzeswortlaut abweichenden 9 5 Rechtsfortbildungen ist der Richter nur dann ermächtigt, wenn diese durch schwerwiegende Gründe des „Rechts" (Art. 20 Abs. 3 GG), etwa durch unabweisbare Wertentscheidungen der Verfassung geboten sind. 9 6 92 Dazu oben Kap. 5 VI; Würtenberger (Fn. 36), S. 169 f., 188 ff., 192 f. 93 Zu diesem Begriff: Zippelius (Fn. 49), § 31 I I 3. 94 Näher dazu unten Kap. 38 V. Unter der Weimarer Verfassung wurde die Frage, ob der Richter ein Gesetz am Maßstab des Gleichheitssatzes prüfen dürfe, kontrovers diskutiert. Gerhard Anschütz und andere verneinten sie, auch deshalb, weil sie eine daraus hervorgehende Politisierung der Justiz befürchteten; G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1933, Art. 109, Anm. 2 V. Erich Kaufmann bejahte die Frage, doch sollte „der Richter nur die Verletzung gewisser äußerster Grenzen rügen" dürfen; Kaufmann (Fn. 15), S. 19; damit zeichnete er die Linie vor, der das Bundesverfassungsgericht gefolgt ist. Aus der neueren Judikatur etwa BVerfGE 52, 280 f.; 65, 354; 68, 250; 71, 58 f.; vgl. auch Ipsen (Fn. 2), S. 166 f., 184; Dürig (Fn. 2), I Rdn. 297 ff.; H. H. Rupp, Art. 3 GG als Maßstab verfassungsgerichtlicher Gesetzeskontrolle, in: Festschr. f. d. Bundesverfassungsgericht, 1976, Bd. II, S. 364 ff.; Schoch (Fn. 40), S. 876 f. 95 Nach der herrschenden Ansicht bildet der nach dem Sprachgebrauch mögliche Wortsinn die Grenze der Auslegung: BVerfGE 71, 15; K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 83, 150, 236 f.; Larenz (Fn. 73), S. 307 f., 329; Zippelius (Fn. 73), § 9 I I a.

II. Fragen gerechter Gleichbehandlung

323

Der Gesetzgeber selbst ist durch diesen judicial self-restraint aber weder aus der Pflicht noch aus dem faktischen Legitimationsdruck entlassen, auch innerhalb des i h m verbleibenden Spielraums das jeweils erreichbare Maß gerechter Gleichbehandlung und sachangemessener Differenzierung anzustreben und nicht nur schlechthin unvertretbare Ungleichbehandlungen zu vermeiden. Diesen Gerechtigkeitsauftrag auch der politischen Instanzen faßte Gustav Radbruch i n die idealistisch zugespitzten Worte, daß der „gesamte politische Tageskampf . . . sich als eine endlose Diskussion über die Gerechtigkeit" darstelle. 9 7

3. Konkretisierung

des Gleichheitssatzes

durch den rechtlichen

Kontext

Ihren wichtigsten und griffigsten Ausdruck finden die für die Mehrheit konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen in einer demokratisch beschlossenen oder doch akzeptierten Verfassung und i m sonstigen Recht. Diese i n der gesamten Rechtsordnung zum Ausdruck gekommenen Gerechtigkeitsgedanken spiegeln die Rechtskultur dieses Volkes wider — die Historische Rechtsschule würde gesagt haben: in ihnen komme der Geist des nationalen Rechts zum Vorschein. Sie können durch systematische Auslegung der Verfassung hervorgeholt und durch systemgerechte Gesetzgebung und Rechtsfortbildung weitergedacht werden. Hierbei ist insbesondere der Gleichheitssatz als Leitgedanke einsetzbar und erfährt dadurch selbst eine Konkretisierung. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in die Worte gekleidet: Es seien in der Rechtsordnung „bestimmte Wertungen und Vernünftigkeitsraster normiert, innerhalb deren sich der Gleichheitsgrundsatz vor allem als Forderung nach Folgerichtigkeit der Regelungen, gemessen an den Angelpunkten der gesetzlichen Wertungen, zu Wort meldet 4 '. 9 8 a) Spezifische Gewährleistungen einer Gleichbehandlung. Der Gleichheitssatz erfährt innerhalb des Grundgesetzes aber auch schon einige ausdrückliche Konkretisierungen: 9 9 durch die spezifischen Gleichheitsgarantien des Art. 3 Abs. 2 und 3 und des Art. 33 Abs. 1 - 3 , das gleiche Wahlrecht (Art. 38 Abs. 1 Satz 1; 28 Abs. 1 Satz 2) und die Gleichheit öffentlicher Dienstleistungspflichten (Art. 12 Abs. 2); auch die Gewährleistungen des gesetzlichen Richters und das Verbot von Ausnahmegerichten (Art. 101 Abs. 1) stehen i m Dienst der Gleichbehand96 BVerfGE 34, 287 ff.; 65, 190 ff. Auch muß der Gesetzeswortlaut wenigstens die Möglichkeit offenlassen, daß der Gesetzgeber den problematischen Fall nicht genügend bedacht und ihn deshalb in seiner Regelung nicht angemessen berücksichtigt hat. Hat der Gesetzgeber den Fall jedoch unzweideutig geregelt, wie im Beispiel der Selbstbedienung mit apothekenfreien Waren (BVerfGE 75, 179 ff.), dann bleibt nur der Ausweg verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle; vgl. auch BVerfGE 38, 49. 97 Radbruch (Fn. 61), § 9. 98 BVerfGE 60, 40; vgl. auch BVerfGE 1, 246 f.; 11, 293; 34, 115; 59,49; Ch. Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976, insbes. S. 20 ff., 49 ff.; Starck (Fn. 2), Rdn. 33 ff. 99 Vgl. Th. Würtenberger (Fn. 15), S. 78 ff. 21

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz

lung. Die spezifischen Gleichheitsgarantien gehen dem allgemeinen Gleichheitssatz v o r . 1 0 0 Einige dieser Bestimmungen dulden unbestreitbar schlechthin keine Ausnahme, wie das Verbot von Ausnahmegerichten. Hinsichtlich anderer Diskriminierungsverbote gehen die Meinungen auseinander: Das Bundesverfassungsgericht w i l l die Unterscheidungsverböte des Art. 3 Abs. 2 und 3 G G nicht starr anwenden, verlangt aber, daß eine Abweichung durch schwerwiegende Argumente gerechtfertigt werde. 1 0 1 Die Gegenmeinung w i l l „jede Anknüpfung an die dort genannten Merkmale" ablehnen; 1 0 2 mit dieser Ansicht wären Vorschriften des generellen Frauenarbeitsschutzes 103 oder auch das Homosexuellenurteil 1 0 4 schwerlich vereinbar; 1 0 5 hingegen soll auch nach dieser zweiten Ansicht ein Mutterschutzgesetz aufrechterhalten werden aus der Erwägung, dieses knüpfe gar nicht an das Geschlecht, sondern an die Mutterschaft a n , 1 0 6 was auch schon nach Art. 6 Abs. 4 G G legitim wäre. Geht man m i t dem Bundesverfassungsgericht davon aus, daß die spezifischen Differenzierungsverbote nicht starr anzuwenden seien, so kann ζ. B. auch trotz der Art. 3 Abs. 3 und 33 Abs. 3 G G die Konfession ein Eignungskriterium für einen Lehrer an einer Konfessionsschule sein, 1 0 7 während man mit starren Vorgaben nur die Ansicht vertreten könnte, hier dürfe es nicht auf das religiöse Bekenntnis des Pädagogen, sondern lediglich auf seine Bereitschaft ankommen, bestimmte religiöse Anschauungen den Kindern zu vermitteln, A n schauungen, die ihm persönlich vielleicht fremd sind — eine nicht gerade lebensnahe Konstruktion. b) Systematische Verfassungsauslegung. Sieht man von diesen leges speciales ab, so sind Kriterien zur Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes insbesondere durch systematische Auslegung, d. h. aus dem sonstigen Kontext der Verfassung zu gewinnen. 1 0 8 So ist aus dem Zusammenhang des Gleichheitssatzes m i t der Menschenwürdegarantie 1 0 9 das Verbot herleitbar, Unterscheidungen vorzunehmen, die dem B i l d des Grundgesetzes von der Menschenwürde zuwiderlaufen; diese Grenze menschenunwürdiger Diskriminierung ist jedoch unscharf. 1 1 0 Hinweise für die Konkretisierung des Gleichheitssatzes ergeben sich ferner aus loo BVerfGE 9, 128; 12, 163; von „Anwendungsfällen" spezifischen Inhalts sprechen BVerfGE 34, 98; 41, 413. ιοί BVerfGE 52, 374; w. Nachw. bei Sachs (Fn. 2), S. 330 ff.; ähnlich Gusy (Fn. 45), S. 2508. 102 Sachs (Fn. 2), S. 429, 493. 103 F. Gamillscheg, in: Link (Fn. 76), S. 82; vgl. Sachs (Fn. 2), S. 356 ff. 104 BVerfGE 6, 422 ff. 105 Vgl. Sachs (Fn. 2), S. 348, 376 ff. 106 Podlech (Fn. 2), S. 92; vgl. auch Sachs (Fn. 2), S. 349 ff. ιόν BVerfGE 39, 368. los Vgl. Gubelt (Fn. 64), Rdn. 3, 23; Robbers (Fn. 78), S. 753 f. 109 Dürig (Fn. 2), I Rdn. 3, 5 ff., 315. no Dazu oben Kap. 24 II 3.

II. Fragen gerechter Gleichbehandlung

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dem Zusammenhang m i t den Freiheitsgewährleistungen. So darf die Ausübung eines Freiheitsrechts grundsätzlich nicht Anlaß einer nachteiligen Behandlung sein. 1 1 1 Aus dem Zusammenhang des Gleichheitssatzes mit dem Sozialstaatsprinz i p 1 1 2 ergibt sich eine Staatszielbestimmung, ungerechtfertigte soziale Ungleichheiten auszugleichen, und ein Recht, an bestehenden öffentlichen Leistungssystemen teilzuhaben (s. ο. I 3 a). Andererseits ergibt sich eine Rechtfertigung bestimmter Differenzierungen etwa aus Art. 6 Abs. 1 und 4 und aus Art. 33 Abs. 2 G G . 1 1 3 Ferner folgt aus der Bundesstaatlichkeit, daß i n gewissem U m f a n g 1 1 4 in Bereichen, für die den Ländern die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz zusteht, ungleiche Gestaltungen zulässig s i n d 1 1 5 ; entsprechende Differenzierungen werden m i t den Selbstverwaltungskompetenzen (insbesondere durch Art. 28 Abs. 2 GG) in K a u f genommen. 1 1 6 c) Konkretisierung aus dem sonstigen Kontext. Als Ausdruck der Rechtskultur gibt auch der Kontext des einfachen Rechts Anhaltspunkte für die Konkretisierung des Gleichheitssatzes. Insofern könnte man mit Walter Leisner 1 1 7 in der Tat von einer „Gesetzmäßigkeit der Verfassung" sprechen. Wenn der Gesetzgeber etwa i m Abgabenrecht Gleichheitsprobleme löst und dadurch den Gleichheitssatz fortschreitend konkretisiert, so sollen seine Problemlösungen systemgerecht sein, d. h. sich in den Kontext der Verfassung, aber auch des sonst geltenden Rechts logisch und teleologisch widerspruchsfrei einfügen: Durch die Forderung nach Kontinuität und Konsequenz gewinnen seine Lösungen von Gleichheitsproblemen Rückhalt i m bestehenden Recht und bilden ihrerseits Anhaltspunkte für eine gleichartige Lösung künftiger Gleichheitsprobleme. So kommt der Gleichheitssatz gleichsam auf einer Metaebene noch einmal zur Wirkung. Dieses Bemühen u m Systemgerechtheit ist nicht auf begrenzte Problembereiche zu verengen; sie hat nicht nur die innere Widerspruchsfreiheit eng gefaßter positivistischer Systemeinheiten zu prüfen, 1 1 8 sondern stets auch zu fragen, ob das jeweils zu prüfende Teilsystem sich seinerseits ohne Verstoß gegen den Gleichheitssatz in den Kontext der gesamten Rechts- und Verfassungsordnung einfügt. 1 1 9 Indessen m Kloepfer (Fn. 18), S. 49; M. Sachs, Der Gleichheitssatz, Nordrh. Westf. Verwaltungsblatt 1988, S. 296. 112 Nachw. bei Sachs (Fn. I l l ) , S. 297. 113 Vgl. BVerfGE 13, 296, 298 f.; 75, 357. 114 Grenzen ergeben sich insbesondere aus länderübergreifenden Grundrechten und aus Art. 33 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGE 33, 352 ff. 115 Vgl. BVerfGE 33, 352; 51, 58 f. m. w. Nachw.; 76, 73; Schoch (Fn. 40), S. 870 f. ne BVerfGE 21, 68; Dürig (Fn. 2), I Rdn. 233 ff., 244 f.; Kloepfer (Fn. 18), S. 22; Starck (Fn. 2), Rdn. 165 ff. 117 W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964. π» Rupp (Fn. 94), S. 383 f., m. w. Nachw. 119 Vgl. Dürig (Fn. 2), I Rdn. 16, 311 ff., 357; Degenhart (Fn. 98), S. 14 f.; Starck (Fn. 2), Rdn. 37 f., 41; Wendt (Fn. 78), S. 782.

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Kap. 26: Der Gleichheitssatz

darf der Systemgedanke nicht überspannt werden; er dient zunächst als heuristisches Prinzip dazu, logischen und teleologischen Widersprüchen auf die Spur zu kommen und bedeutet auch dann keine starre Verpflichtung zur Konsequenz, 1 2 0 sondern nur die Verpflichtung, an der bisherigen Bewertungspraxis dann festzuhalten, wenn ein Abweichen von ihr nicht gerechtfertigt wird, und zwar m i t Argumenten, die schwerer wiegen als die entgegenstehenden Gründe, die für eine konsistente Gleichbewertung sprechen. Nicht nur das Denken des Gesetzgebers, sondern auch das richterliche Denken ist durch das Prinzip der Gleichbehandlung mitgeformt, sogar in so hohem Maße, daß man m i t einiger Übertreibung sagen könnte, der Gleichheitssatz sei die Seele der juristischen Hermeneutik. A m augenfälligsten tritt das i m vergleichenden Denken des angelsächsischen Fallrechts zutage, wo der Richter zu prüfen hat, ob der ihm vorliegende Fall einem vorentschiedenen hinreichend ähnlich ist, i h m nämlich i n den Merkmalen gleicht, an welche die Vorentscheidung i n ihren tragenden Gründen anknüpft, oder ob der neue Fall sich durch Merkmale unterscheidet, die zu einer ungleichen Behandlung führen müssen. 1 2 1 Der deutsche Richter praktiziert solches analogische Denken insbesondere bei der Lückenausfüllung. Hier dient i h m der Gleichheitssatz schon zur Aufdeckung der Gesetzeslücken: Er stößt auf einen nicht geregelten Fall, für den eine gleichartige Regelung als angemessen erschiene, wie sie für< ähnliche Fälle getroffen wurde, kurz, er findet wesentlich Gleiches als ungleich behandelt. A u f diese Weise deckt der Gleichheitssatz Inkonsequenzen in den Wertentscheidungen der Rechtsordnung auf und dient so der Systemgerechtheit und der „Einheit des Rechts". 1 2 2 Daran schließt sich dann aber noch die Frage, ob die entdeckte Ungleichbehandlung nur zu einem Appell an den Gesetzgeber führen darf, den Mangel de lege ferenda aus der Welt zu schaffen, oder ob dieser so schwer wiegt, daß der Richter ihn schon de lege lata durch einen Analogieschluß beheben darf (2 b). Durch diesen w i r d dann zugleich der Gleichheitssatz konkretisiert: Es w i r d nämlich in Gestalt einer „exemplifizierenden K a s u i s t i k " 1 2 3 bestimmt, daß gewisse Fälle — etwa die positiven Vertragsverletzungen — über den Gesetzeswortlaut hinaus den gesetzlich geregelten Fällen gleichzubehandeln sind. Ein Gegenstück findet sich in der restriktiven Auslegung, die hinter dem Wortsinn des Gesetzes deshalb zurückbleibt, weil dieses die Generalisierung zu weit getrieben und wesentlich Ungleiches gleich behandelt h a t . 1 2 4 Selbst in der alltäglichen Gesetzesauslegung spielt das vergleichende Denken eine Rolle: W o der mögliche Wortsinn und die historischen und logischen Auslegungskriterien eine W a h l lassen, läuft die Auslegung oft auf die Frage hinaus, 120 Dazu oben Kap. 1 IV 1; vgl. Gusy (Fn. 45), S. 2508; Robbers (Fn. 78), S. 755 f. 121 N. MacCormick, Legal Reasoning and Legal Theory, 1978, S. 185 f., 190 f., 219 ff. 122 Vgl. Larenz (Fn. 73), S. 358 ff.; Zippelius (Fn. 73), § 11 I b. 123 Zippelius (Fn. 73), § 12 I c. 124 Larenz (Fn. 73), S. 375 f.

II. Fragen gerechter Gleichbehandlung

327

ob der vorliegende, problematische Fall unter dem Gesichtspunkt des Gesetzeszweckes jenen Fällen gleichzubewerten ist, die zweifelsfrei der N o r m unterfallen. 1 2 5 4. Die Dynamik

des Gleichheitssatzes

Gesetzgeber und Rechtsanwender denken nicht nur am Leitfaden des Gleichheitssatzes die i m überkommenen Recht niedergelegten Gerechtigkeitsgedanken nach, sondern finden sich durch die Unvollständigkeit der vorliegenden Lösungen und durch deren Reformbedürftigkeit fortwährend herausgefordert, an der Weiterbildung des Rechts und der Gerechtigkeit mitzuwirken — justitia semper reformanda — wenngleich dem Rechtsgestaltungswillen des Gesetzgebers durch die Verfassung, dem des Richters auch durch das einfache Recht die schon genannten Grenzen gesetzt sind (2 b). W o Gesetzgeber und Richter die für sie offengelassenen Fragen der Gleichbehandlung entscheiden, nehmen sie daran Anteil, den Gleichheitssatz zu konkretisieren und damit die lebendige Rechtskultur dieser Gemeinschaft weiterzubilden. I m Fluß der Zeit findet sich der Jurist hier in einem immer wieder neuen Szenarium von Bedürfnissen, Nöten und Machtsituationen und von Ideen, die i h m bald als überzeugender Ausdruck neu gewonnener Einsicht erscheinen, bald ihn i m Zweifel lassen, so daß er nach seinem persönlichen Rechtsgewissen, in Grenzfällen auch in einem rechtsethischen Wagnis entscheiden muß, ungewiß, ob er die bessere Gerechtigkeit gefunden hat. Das Ideal i m Herzen, bleibt dem Juristen das Los, für immer nach der vollkommenen Verwirklichung der Gleichheit nur zu suchen; in immer wieder neue Realisierungen der Gleichheit sich verliebend, ist er dazu bestimmt, ein ewig ruheloser D o n Juan der Gerechtigkeit zu sein.

125 Vgl. Engisch (Fn. 95), S. 57 f.; Kaufmann (Fn. 61), S. 37 ff.; Zippelius (Fn. 73), §§ 121, 16 II.

Kapitel

27

Anfang und Ende des Lebens als juristisches Problem M i t dem Beginn und dem Ende des menschlichen Lebens verbindet sich eine Fülle von Rechtsproblemen, die hier nur in großen Zügen umrissen werden sollen. I n der Frage, in welchem Umfang die Verfassungsordnung eine Achtung menschlichen Lebens gebietet, bestehen manche Unsicherheiten; vor allem zeigt sich das Risiko, daß dort, wo die verläßliche Auslegung auf Grenzen stößt, persönliche Wertvorstellungen der Verfassung unterschoben werden.

I . Manipulationen des beginnenden Lebens Z u untersuchen sind zunächst Einwirkungen, die zur Entstehung menschlichen Lebens führen, insbesondere Fragen der künstlichen Insemination, der extrakorporalen Befruchtung, der Tragmutterschaft und, als Traum oder Alptraum der Zukunft, Fragen der Genmanipulation. Die homologe Insemination w i r d von der herrschenden Meinung als unproblematisch angesehen. Die heterologe Inseminiation soll hingegen nach gewichtiger Meinung gegen die Menschenwürde, also gegen Art. 1 Abs. 1 G G verstoßen. 1 Dabei w i r d die Frage offen gelassen, wessen Menschenwürde (des Vaters, der Mutter oder des noch gar nicht vorhandenen Kindes) durch diesen Vorgang verletzt sein soll, einen Eingriff, der regelmäßig doch einem reiflich überlegten und tiefen Wunsch der künftigen Mutter entspringt. A u c h daß ein K i n d den Vater nicht kennt, ist in der Menschheitsgeschichte nicht neu und läßt sich wohl nicht ohne weiteres als Verletzung des Grundrechts auf Achtung der Menschenwürde qualifizieren. Rechtspolitisch könnte — auf der Ebene einfachen Rechts — erwogen werden, den Samenspender aus seiner Anonymität zu holen und so dem K i n d die Ermittlung seines Vaters zu ermöglichen. Doch hat nach herkömmlichem Recht der Anspruch auf Kenntnis der eigenen Abstammung manche faktischen und rechtlichen Grenzen, so daß die Frage berechtigt erscheint, ob diese gerade bei der heterologen Insemination durchbrochen werden sollen. 2 1 Zum Stand der Diskussion: /. v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Rdn. 32; Ch. Starck, in: Verhandlungen des 56. Dt. Juristentages, Bd. I, 1986, S. A 21 ff.; D. Coester-Waltjen, ebendort, S. Β 45 ff. 2 Vgl. P. Gottwald, Recht auf Kenntnis der biologischen Abstammung? in: Festschr. f. H. Hubmann, 1985, S. 111 ff.; Starck (Fn. 1), S. A 23 ff.; Coester-Waltjen (Fn. 1), S. Β 68 f.

II. Eingriffe in das Leben

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Die extrakorporale Befruchtung 3 als solche wirft als bloße medizinische Zeugungshilfe ähnliche Fragen wie die sonstige Insemination auf. E i n zusätzliches Problem ergibt sich, wenn überzählige Keimlinge hergestellt und, falls nicht benötigt, beseitigt werden; 4 hier stellt sich die Frage, ob bereits Leben vorliegt, das unter dem Rechtsschutz der Verfassung steht. Solange die Entwicklung der Keimlinge noch der eines befruchteten Eies vor der Einnistung gleicht, w i r d man rechtlich ebenso entscheiden können wie i m Falle der Empfängnisverhütung durch Verhinderung der Nidation. Tragmutterschaft 5 kann nach bisherigen Erfahrungen zu beträchtlichen seelischen Bindungen der Tragmutter an das von ihr geborene, biologisch aber zu anderen Eltern gehörende K i n d führen. Eine Antwort auf die damit gestellten Fragen läßt sich wiederum nicht aus der Verfassung ableiten. W o h l aber stellt sich das rechtspolitische Problem, ob den seelischen und zwischenmenschlichen Konflikten durch ein gesetzliches Verbot der Tragmutterschaft vorgebeugt oder ob „mündigen Bürgern" die Abschätzung und private Bewältigung solcher Konflikte überlassen bleiben sollte. Juristisch noch ganz ungelöst sind die Fragen der Genmanipulation, 6 die einerseits vielleicht einmal die Chance einschließt, die Weitergabe von Erbkrankheiten zu beenden, andererseits aber den V o r w u r f einer Hybris auf sich zieht, mit welcher der Mensch aus seiner Rolle als Geschöpf oder wenigstens aus den biologischen Vorgaben seines Schicksals auszubrechen trachtet. M i t herkömmlichen Kategorien des Rechts ist diesen grundlegend neuen Fragen nicht befriedigend beizukommen: Ob man in solchen Eingriffen eine Verletzung der Menschenwürde oder gerade einen Ausdruck der Menschenwürde sehen möchte, ist Frage des weltanschaulichen Standpunktes. A u c h hier ist nicht die Rechtsdogmatik, sondern die Rechtspolitik gefordert, und das heißt i n der offenen Gesellschaft: letztlich das vernunftgeleitete Rechtsgewissen der Mehrheit. 7

I I . Eingriffe in das Leben Unter den Eingriffen in das menschliche Leben gehören vor allem Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch und Sterbehilfe zu den bewegenden The3 Hierzu etwa U. Jüdes (Hrsg.), Invitro-Fertilisation und Embryotransfer, 1983; Coester-Waltjen (Fn. 1), S. Β 15 ff., 103 ff. 4 Η. Ο Stendorf, Experimente mit dem „Retortenbaby" auf dem rechtlichen Prüf stand, JZ 1984, S. 595 ff.; E.Deutsch, Der Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutze der Embryonen, Ztschr. f. Rechtspolitik, 1986, S. 242 ff.; E. Fechner, Menschenwürde und generative Forschung und Technik, JZ 1986, S. 658 ff.; Starck (Fn. 1), S. A 32 ff. 5 Vgl. Starck (Fn. 1), S. A 39 ff.; Coester-Waltjen (Fn. 1), S. Β 116 f. 6 Aus einem fast unübersehbaren Schrifttum: U. Köbl, Gentechnologie zu eugenischen Zwecken — Niedergang oder Steigerung der Menschenwürde? in: Festschr. f. H. Hubmann, 1985, S. 161 ff.; Fechner (Fn. 4), S. 660 ff.; Starck (Fn. 1), S. A 46 ff.; W. Graf Vitzthum, Menschenwürde und Humangenetik, Universitas, 1986, S. 810 ff. 7 Dazu oben Kap. 5 IV.

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Kap. 27: Anfang und Ende des Lebens als juristisches Problem

men unserer Zeit. Der Jurist hat diese Eingriffe daran zu messen, ob sie gegen eine rechtliche Gewährleistung menschlichen Lebens verstoßen. Wichtigste Grundlagen juristischer Erwägungen sind hier die Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) und die Gewährleistung des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG). Eine allgemeine Garantie des Rechts auf Leben mit dem Rang einfachen Gesetzesrechts findet sich daneben i n Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Widerspiegelungen des Rechts auf Leben enthalten sodann insbesondere die Strafbestimmungen über Tötungsdelikte. I n den genannten Fällen stellen sich Fragen nach dem Beginn und dem Ende und nach den verschiedenen Graden der Schutzwürdigkeit des Lebens. Die Entwicklung des Individuums von der Befruchtung der Eizelle bis zum Gehirntod ist ein Kontinuum, das, abgesehen von der Geburt und katastrophalen Gesundheitsschädigungen, fließende Übergänge aufweist. Das Recht aber bemüht sich um schärfere Zäsuren. 8 1. Eingriffe

am

Lebensbeginn

So ist zu entscheiden, i n welchem Zeitpunkt und mit welcher Intensität der rechtliche Schutz des beginnenden Lebens einsetzen soll — m i t Befruchtung der Eizelle, mit deren Einnistung oder nach A b l a u f einer Frist innerhalb der Schwangerschaft — und w o insbesondere die Trennlinie zwischen Abtreibung einerseits und Kindstötung, M o r d und Totschlag andererseits zu ziehen ist. Bei solchen rechtlichen Grenzziehungen waltet ein erhebliches Maß an gesetzgeberischem Ermessen, innerhalb dessen unterschiedliche Grade der Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens abzuwägen sind gegen andere Interessen, etwa gegen das Interesse der Mutter daran, nicht ein in Notzucht erzeugtes oder ein schwer geschädigtes K i n d austragen zu müssen. Abzuwägen ist aber auch, von welcher Entwicklungsstufe an das Leben des Keimes überhaupt dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter vorgehen, d. h. von welchem Zeitpunkt an überhaupt eine rechtswidrige Abtreibung vorliegen soll. a) Ob ein Embryo i n allen seinen Entwicklungsstufen bereits unter dem Schutz der Menschenwürde garantie steht, ist nicht unproblematisch. 9 Das Bundesverfassungsgericht war der Ansicht, daß er deren Schutz jedenfalls v o m 14. Tag nach der Empfängnis an genieße: „ W o menschliches Leben existiert, kommt i h m Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewußt ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an i m menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen". 1 0 Dieser Auffassung könnte man die Tatsache zugrundelegen, daß

s Dazu auch Kap. 26 I I 1, 37 I I 1. 9 Dazu auch oben Kap. 24 I I 3.

II. Eingriffe in das Leben

331

schon die befruchtete Eizelle das vollständige genetische Programm eines Individuums enthält. Einer solchen biologistischen Betrachtungsweise kann jedoch entgegengehalten werden, daß i n jeder Körperzelle eines Menschen das vollständige genetische Programm dieses Menschen steckt; unter diesen Zellen befinden sich möglicherweise auch totipotente und daher in Zukunft vielleicht sogar einmal „klonungsfähige": Sollte darum auch jede dieser Körperzellen Träger der Menschenwürde sein? Fraglich erscheint vor allem auch, ob jedes Stadium der Mensch werdung auch schon ein „Mensch" ist, wie A r t i k e l 1 Absatz 1 G G das voraussetzt. Das Gericht ging davon aus, daß die Entwicklung eines Individuums von der Befruchtung der Eizelle bis zum Gehirntod ein Kontinuum darstelle. Doch bestehen unbestreitbar zwischen den Endpunkten solcher Entwicklungen — wie zwischen einem Hühnerei und einem Huhn — qualitative Unterschiede. 11 Darf man eine Würde, die auf die Fähigkeit zu moralischer Selbstbestimmung oder auf Gottebenbildlichkeit gegründet w i r d 1 2 , einer befruchteten menschlichen Eizelle in gleicher Weise zusprechen wie etwa einem Bundesverfassungsrichter? Muß der Organismus, der sich erst zum Menschen entwickelt, sich dem B i l d des Menschen nicht wenigstens angenähert haben 1 3 , u m als „Mensch" i m Sinne der Menschenwürdegarantie zu gelten und deren Schutz zu genießen? Wer dem Embryo in allen Entwicklungsstufen Menschenwürde zuspricht und zugleich Würdeschutz m i t Lebensschutz identifiziert, müßte übrigens einen Schwangerschaftsabbruch auch dann für unzulässig halten, wenn er notwendig ist, u m das Leben der Mutter zu retten; denn das Grundgesetz erklärt die Menschenwürde für schlechthin unantastbar (Art. 1 Abs. 1 Satz 1, 79 Abs. 3 GG); ein unantastbares Gut darf aber keinem anderen Gut aufgeopfert werden. 1 4 Verzichtet man hingegen auf diese dogmatischen Ausgangspunkte, dann müssen auch ethische, embryopathische und sogar soziale Indikation nicht notwendig gegen Art. 1 Abs. 1 G G verstoßen. 15

io BVerfGE 39, 41; in diesem Sinne auch R. Guardini, Das Recht des werdenden Menschenlebens, 1949, S. 17 ff., 26, 29; H. C. Nipperdey, in: Neumann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, Bd. II, 2. Aufl. 1968, S. 4; G. Dürig, AöR 81 (1956), S. 126; J. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 15; W. Waldstein, Das Menschenrecht zum Leben, 1982, S. 92 ff.; v. Münch (Fn. 1), Art. 1 Rdn. 6; v. Mangoldt / Klein / Starck, Art. 1 Abs. 1 Rdn. 14; a. A. A. Podlech, in: Alternativkommentar zum GG, Art. 1 I Rdn. 58. u Vgl. N. Hoerster, JuS 1989, S. 172 ff.; G. Jerouschek, JZ 1989, S. 279 ff.; A. Lübbe, Ztschr. f. Politik 1989, S. 141 ff., 144 ff. 12 Dazu oben Kap. 24 I, II. 13 Vgl. dazu etwa auch Lübbe (Fn. 11), S. 148; Hoerster (Fn. 11), S. 174 f., lehnt auch dies als Kriterium für ein Lebensrecht ab. 14 Vgl. indessen die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 39,48 f.) vorgenommenen Interessenabwägungen. is Vgl. W. Brugger, in: NJW, 1986, S. 896 ff.

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Kap. 27: Anfang und Ende des Lebens als juristisches Problem

b) Interpretiert man den Begriff der Menschenwürde mit der gebotenen Zurückhaltung, dann verlagert sich i n Grenzfragen der Schwerpunkt der verfassungsrechtlichen Diskussion zu Art. 2 Abs. 2 GG, der ausdrücklich das „Recht auf Leben" gewährleistet. Doch bleiben auch hier Unsicherheiten der Auslegung. „Das Recht auf Leben", sagt das Grundgesetz, hat „jeder". „Jeder" heißt aber doch wohl: „jeder Mensch". So bleibt auch hier die Frage, ob jeder Embryo ein „Mensch" ist. Bejaht man diese durchaus problematische Frage, behandelt man also jedes Stadium der Mensch werdung als Menschen, dann verbietet Art. 2 Abs. 2 G G freilich nicht nur „staatliche Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, d. h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren", auch gegenüber der Mutter. Doch bleibt dann die weitere Frage, unter welchen Bedingungen Art. 2 Abs. 2 G G die Staatsgewalt verpflichtet, gerade eine Strafsanktion als M i t t e l des Lebensschutzes einzusetzen. Nach A u f fassung des Bundesverfassungsgerichts ist das dann, freilich auch nur dann der Fall, wenn ein wirksamer Schutz des Lebens auf andere Weise nicht zu erreichen i s t . 1 6 U n d anders als Art. 1 Abs. 1 erlaubt es Art. 2 Abs. 2 GG, das Leben des Embryos gegen höherrangige Interessen, insbesondere gegen Leben und Gesundheit der Mutter, abzuwägen. 1 7 c) Faßt man die verfassungsrechtlichen Erwägungen zusammen, so ergibt sich: Bei Auslegung der Menschenwürdegarantie stehen wir, sobald w i r den Kernbereich entwürdigender Diffamierung, Entrechtung, Zwangsarbeit, Versklavung und Terrorisierung verlassen, auf schwankendem Boden. Hier unterliegt man dann leicht der Versuchung, dort, wo eine verläßliche Auslegung nicht mehr möglich ist, der Verfassung persönliche Standpunkte zu unterlegen. Etwas griffiger ist die Verfassungsgewährleistung des Lebens. Doch bleiben auch hier weite und nicht sicher einzugrenzende Auslegungsspielräume, insbesondere hinsichtlich der Fragen, i n welchem Augenblick aus Stufen der Menschwerdung ein Mensch (ein „Jedermann") w i r d und ob und unter welchen Bedingungen die Verfassung den Staat verpflichtet, zum Schutz des Lebens das M i t t e l der Strafe einzusetzen. d) Diesen verfassungsrechtlichen Überlegungen sei die rechtspolitische Prognose hinzugefügt, daß die immer bedrohlicher werdende Übervölkerung der Erde irgendwann zu einem „Paradigmenwechsel" in der Frage der Geburtenbeschränkung führen werde. Hintergrund dieser Vermutung sind einerseits die Kurve steilen Wachstums der Weltbevölkerung und andererseits die Kurve der vorhersehbaren Erschöpfung fossiler Energiequellen, die aller Voraussicht nach in 200 bis 300 Jahren eintreten wird. Es liegt nahe, daß schon aus dem Zusammen16 BVerfGE 17 BVerfGE

39, 42, 44 ff. 39, 48 ff.

II. Eingriffe in das Leben

333

treffen dieser beiden Kurven — von anderen Aspekten der Verelendung durch Übervölkerung und von der Umweltbedrohung abgesehen — Katastrophen hervorgehen werden, denen gegenüber die Schrecken unseres Jahrhunderts zurücktreten. Dem — auch in die Diskussion geworfenen — Gedanken, w i r hätten uns u m die Moralität der nächstliegenden Handlung, nicht aber um das ferner liegende W o h l der Welt zu kümmern, läßt sich entgegenhalten: Nach dem Grundsatz „fiat pietas, pereat mundus" zu handeln, ist nicht einmal moralisch. Wenn diese Einsichten stärker i n das öffentliche Bewußtsein treten, w i r d man w o h l auch außerhalb Chinas zu neuen Stellungnahmen nicht nur zum Kindergeld, sondern auch zur Empfängnisverhütung und selbst zum Schwangerschaftsabbruch kommen — i n Rückkehr zu einem Gedanken des Aristoteles: w o eine Übervölkerung drohe, solle man überzählige Früchte abtreiben, bevor „Gefühl und Leben" in sie k o m m e . 1 8 Thomas von A q u i n hat diesen Gedanken übernommen. 1 9 Den heutigen Erkenntnissen angepaßt könnte er etwa lauten, ein Abbruch sei in ein möglichst frühes Entwicklungsstadium zu verlegen, in welchem das Vermögen der Schmerzempfindung i m Embryo noch nicht angelegt i s t 2 0 , wie das etwa durch Anwendung der „Pille danach" möglich ist. 2. Eingriffe

am Lebensende

A u f der anderen Seite des Kontinuums stehen Fragen der erlaubten Beendigung menschlichen Lebens. 2 1 Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit hat sich hier vor allem der Sterbehilfe zugewandt. Unter dem Aspekt des Art. 1 Abs. 1 G G ist hier zunächst zu prüfen, ob die Menschenwürde eine Selbstaufgabe des eigenen Lebens verbietet. Auszugehen ist davon, daß es nicht notwendig die Würde verletzt, wenn das eigene Leben aus freiem Entschluß aufgegeben wird. Dies ist für solche Fälle unbestritten, in denen das eigene Leben hochrangigen anderen Gütern aufgeopfert wird, etwa von Polizeibeamten, Bergwachtangehörigen oder Feuerwehrleuten, wenn sie ihr Leben einsetzen, um fremdes Leben oder auch etwa unwiederbringliche Kulturgüter zu retten. A u c h ohne solchen Einsatz für fremde Güter erscheint aber das wohlerwogene Aufgeben des eigenen Lebens nicht als würdeloses Handeln, das den Staat aufrufen dürfte, die Menschenwürde des Einzelnen gegen diesen selbst zu schützen. >8 Aristoteles, Politik, 1335 b. 19 Thomas von Aquin, In quattuor libros sententiarum, in I I I sent., dist. 3 qu. 5 Art. 2; vgl. auch G. Jerouschek, Abtreibungsverbot und Rechtsgeschichte, in: D. Berg u. a. (Hrsg.), Würde, Recht und Anspruch des Ungeborenen, 1992, S. 66 ff. 20 Dazu K. D. Bachmann, Zur Problematik der prä- und postnatalen Schmerzempfindung, in: D. Berg u. a. (Fn. 19), S. 138 ff. 21 Nachw. zum gegenwärtigen Stand der Diskussion bei A. Eser, in: A. Schönke/ H. Schröder, Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1985, Vorbem. vor §§ 211 ff., Rdn. 21 ff., 33 ff.; v. Münch (Fn. 1), Art. 2 Rdn. 40 ff.

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Kap. 27: Anfang und Ende des Lebens als juristisches Problem

Dies entspräche der Vorstellung eines paternalistischen Staates, der dem Einzelnen nicht die moralische Kompetenz zugesteht, über höchstpersönlichen Fragen, die seine Existenz betreffen, selbst zu entscheiden. V o n der Frage, ob Selbsttötung gegen die Menschenwürde verstößt, ist die Frage zu unterscheiden, ob es die Achtung menschlicher Würde und Selbstbestimmung möglicherweise sogar gebietet, einen wohlerwogenen Entschluß zu diesem letzten und äußersten Schritt, wie ihn die Legende vom T o d des Empedokles verklärt, zu respektieren. 22 Diese durchaus diskussionswürdige Frage wird, abgesehen von dem noch zu erörternden Problem der Ablehnung ärztlicher Behandlung, in unserem Kulturkreis zur Zeit zwar überwiegend verneint. Doch bleibt der Stachel: ob es nicht in Wahrheit doch die letzte Probe der menschlichen Würde sei, „sich i m Äußersten selbst den T o d geben zu können": „Daß der Mensch, nur der Mensch sich das Leben nehmen kann in hellem, reinem Entschluß, ohne Trübung durch Affekt, vielmehr sich selber treu, darin liegt seine Würde. A l l e Despotien, alle Kirchen, alle Gewalt, die von Menschen über Menschen ausging, den Anspruch erhebend auch auf ihre Seele, haben den Selbstmord perhorresziert: hier bezeugt sich die Freiheit des Einzelnen, des Menschen als Menschen, der sich der Unterdrückung und dem vernichtenden Leiden entzieht". 2 3 Auch unter dem Aspekt des Art. 2 Abs. 2 G G ist die Frage der Beendigung des eigenen Lebens zu erörtern. Nach herrschender Ansicht ist i h m kein Recht zu entnehmen, über das eigene Leben zu verfügen. 2 4 Eine andere Frage ist es, ob Art. 2 Abs. 2 GG, seinem Wortlaut gemäß, nur ein Recht auf Leben begründet oder ob i h m auch eine Pflicht zum Leben zu entnehmen ist und ob er dem Staat ein Recht gibt oder sogar eine Pflicht auferlegt, einer Selbsttötung generell 2 5 oder wenigstens in besonderen Fällen entgegenzutreten, dies insbesondere dort, wo die Fähigkeit des Einzelnen zur Selbstbestimmung aus Gründen verminderter Zurechnungsfähigkeit oder einer Irreleitung durch Affekte herabgesetzt i s t 2 6 oder 22 Vgl. W. Uhlenbruch, Recht auf den eigenen Tod? Zeitschr. f. Rechtspolitik, 1986, S. 14 f.; E. Lungershausen, Suizidales Handeln, Fundamenta Psychiatrica, 1988, S. 168 ff.; s. auch die den eigenen Tod vorbereitende Schrift von W. Kamiah, Meditatio Mortis, 1976. 23 K. Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, 3. Aufl. 1984, S. 474; ähnl. Kamiah (Fn. 22), S. 19 ff.; W. Uhlenbruch, (Fn. 22), S. 209 ff., 214 f.; U. Klug, in: Festschr. f. W. Maihofer, 1988, S. 244 f.; krit., auch zum „Bilanzsuizid", Lungershausen (Fn. 22), S. 168 ff., 177 f.; zur Problematik der Motivationslage auch Ρ. Schölmerich, in: H. Lübbe u. a., Anfang und Ende des Lebens als normatives Problem, 1988, S. 37 ff. 24 G. Dürig, in: Th. Maunz / G. Dürig, Art. 2 I I Rdn. 12; v.Münch (Fn. 1), Art. 2 Rdn. 41. 25 Vgl. F.-L. Knemeyer, in: VVDStRL 35 (1977), S. 253 ff.; H. Ostendorf, Das Recht zum Hungerstreik, 1983, S. 82 ff.; V. Götz, Allg. Polizei- und Ordnungsrecht, 8. Aufl. 1985, Rdn. 100; B. Drews / G. Wache / Κ. Vogel / W. Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, § 14; R.Herzog, in: Evang. Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Art. Selbstmord II; A.Eser, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. IV 1988, Art. Selbsttötung V; D.Lorenz, in: HdbStR, § 128 Rdn. 62.

II. Eingriffe in das Leben

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auch dort, wo sich jemand unfreiwillig, etwa als Strafgefangener, i m Verantwortungsbereich des Staates befindet und ζ. B. durch einen Hungerstreik sein Leben i n Gefahr bringt. 2 7 I n diesem Felde mannigfacher Unsicherheiten hat sich das geltende Strafrecht immerhin auf folgende Positionen festgelegt: Es hat die Selbsttötung straffrei gelassen. Grundsätzlich hat auch niemand eine Rechtspflicht, sich in ärztliche Behandlung zu begeben. 28 Aus dem Recht des Patienten, eine Zwangsbehandlung abzulehnen, folgt, daß kein strafbarer A n g r i f f auf sein Leben vorliegt, wenn eine lebensverlängernde Behandlung auf seinen Wunsch unterlassen wird. Das muß auch dann gelten, wenn ein Selbstmordversuch fehlgeschlagen ist und der Patient es bei klarem Bewußtsein ablehnt, einen rettenden Eingriff vornehmen zu lassen. 29 Aus der Straffreiheit der Selbsttötung folgt, daß auch die Beihilfe zu ihr nicht strafbar ist. Damit ist aber nicht schon entschieden, daß etwa der Arzt einem Patienten — die Rede ist hier von einem frei und verantwortlich handelnden Patienten — die tödliche Dosis aushändigen dürfe, j a es ist nicht einmal entschieden, daß er eine Selbsttötung tatenlos geschehen lassen dürfe. Vielmehr beginnt auch hier ein Juristenstreit, darüber nämlich, ob jemand, der eine Garantenstellung für den Tötungswilligen hat, wie der Arzt, überhaupt als bloßer Gehilfe an dessen Handlung teilnehmen kann oder notwendigerweise stets Täter i s t 3 0 . Geht man jedoch davon aus, daß niemand eine Pflicht hat, sich i n ärztliche Behandlung zu begeben, so muß man folgerichtigerweise auch annehmen, daß jemand seinen Arzt — etwa durch Bitte u m ein M i t t e l zur Selbsttötung — aus der Behandlungspflicht und Garantenstellung entlassen kann, und zwar definitiv, also auch für die Zeit, in welcher der Patient anschließend das Bewußtsein verliert. Es bleibt dann nur noch die weniger gravierende Streitfrage, ob jeder Suizidversuch ein Unglücksfall i m Sinne des § 323 c StGB sei, der jedem eine Pflicht zur Hilfeleistung auferlegt. 3 1 Insgesamt stellt sich die Frage, inwieweit es mit der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers für die Straflosigkeit der Selbsttötung vereinbar sei, deren Nichtverhinderung zu bestrafen. 32 W i e aber wenn ein Arzt die Behandlungspflicht übernommen hat und der unrettbar kranke, leidende Patient unfähig ist, den Wunsch zum Abbruch der 26 Zu diesem Fall: BayVerfGH, E. v. 16. 12. 1988, BayVBl. 1989, S. 205 ff. 27 Vgl. z. B. W. Michale, Recht und Pflicht zur Zwangsernährung bei Nahrungsverweigerung in Justizvollzugsanstalten, 1983, S. 161 ff.; Ostendorf (Fn. 25), S. 106 ff.; S. Weichbrodt, in: NJW 1983, S. 311 ff.; v.Münch (Fn. 1), Art. 2 Rdn. 42; Podlech (Fn. 10), Rdn. 55. 28 K. Engisch, in: Festschr. f. E. Dreher, 1977, S. 312; v. Münch (Fn. 1), Rdn. 44; von dem Sonderfall einer Zwangsernährung Strafgefangener kann hier abgesehen werden. 29 Engisch (Fn. 28), S. 316 ff., 322. 30 Vgl. Eser (Fn. 21), Rdn. 36 ff. und § 216, Rdn. 10 f. 31 Vgl. D. Dölling, Suizid und unterlassene Hilfeleistung, NJW 1986, S. 1011 ff. 32 Vgl. Eser (Fn. 21), Rdn. 43.

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Behandlung zu äußern? Die Menschlichkeit fordert hier, daß der Arzt nach pflichtgemäßem Ermessen eine gnadenlose Lebensverlängerung abbrechen dürfe, wenn nicht ein gegenteiliger Wunsch des Patienten anzunehmen ist. Andererseits gebietet die rechtsstaatliche Vorsicht allenthalben, dem Ermessen zu mißtrauen; dieses Mißtrauen wendet sich hier gegen den A r z t . 3 3 In diesem K o n f l i k t entscheidet sich die überwiegende Strafrechtslehre dafür, daß angesichts eines nahe bevorstehenden, unabwendbaren Todes der Arzt nicht mehr alles aufbieten muß, was die medizinische Technik gestattet, um den Eintritt des Todes noch geringfügig aufzuhalten, wenn nicht der Patient oder dessen Angehörige einen solchen Einsatz verlangt haben. 3 4 E i n „Patiententestament" kann hier dem Arzt Hinweise geben, wohin der W i l l e des Kranken nach dessen grundsätzlicher Lebenshaltung tendiert. 3 5 Der lebensverkürzenden Sterbehilfe durch Unterlassen steht die Sterbehilfe durch aktives T u n gegenüber. Die schmerzlindernde Verkürzung der Agonie w i r d man als straffreie ärztliche Versorgung anzusehen haben. Jede früher einsetzende Tötungshandlung ist aber nach geltendem deutschen Strafrecht strafbar, auch dann, wenn der Patient ernstlich darum bittet ( § 2 1 6 S t G B ) . 3 6 Das Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 GG) zwingt aber den Gesetzgeber nicht, diese Vorschrift uneingeschränkt aufrechtzuerhalten; es wäre wohl zulässig, eine auf Verlangen des Kranken gewährte aktive Sterbehilfe straffrei zu lassen, wenn sie ausschließlich dazu dient, das Leiden zu verkürzen und der baldige T o d des Patienten als unabwendbar erscheint. 3 7 Nach geltendem Strafrecht bestehen also Unterschiede zwischen einer Sterbehilfe durch Tun und einer solchen durch Unterlassen. Doch selbst die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen bereitet dem Juristen Schwierigkeiten. Das Nichtanschließen des Patienten an ein lebensrettendes Gerät wäre ein klarer Fall von Unterlassen. Aber das Abschalten des Gerätes macht Kopfzerbrechen: Sollen w i r es als T u n qualifizieren, w e i l es eben ein Handgriff ist, der den T o d des Patienten herbeiführt, oder aber als Unterlassen, das heißt als Nichtfortsetzung der weiteren Behandlung; und wenn als Tun, dann als ein Handeln, das billigerweise nicht strenger beurteilt werden darf, als wenn die rettende Behandlung gar nicht versucht, sondern unterlassen worden wäre? 3 8 Diese Spitzfindigkeiten beleuchten einmal mehr, wie fragwürdig immer wieder die Versuche sind, den Grenzsituationen des Lebens mit den Begriffsinstrumenten des Rechts gerecht zu werden. 33 A. Eser, in: A. Auer u. a. (Hrsg.), Zwischen Heilauftrag und Sterbehilfe, 1977, S. 76 ff. 34 Vgl. Eser (Fn. 21), Rdn. 29. 35 Vgl. Uhlenbruck (Fn. 22), S. 215. 36 Eser (Fn. 21), Rdn. 23 ff. 37 Ähnlich der Alternativentwurf Sterbehilfe; s. hierzu A. Eser, Freiheit zum Sterben — Kein Recht auf Tötung, JZ 1986, S. 795; vgl. auch Uhlenbruck (Fn. 22), S. 214 f. 38 Vgl. Eser (Fn. 21), Rdn. 31 f.

Kapitel

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Widerstand gegen die Tyrannei und im demokratischen Rechtsstaat Die Geschehnisse, die sich m i t einem Gedenken an den „Widerstand der Weißen Rose" verbinden, sind vertraut. I m Jahre 1942 hatte sich an der Universität München eine studentische Widerstandsgruppe gebildet, deren geistiger Mittelpunkt der Volksliedforscher Kurt Huber war und dem die Studenten Christoph Probst, Alexander Schmoreil und Hans und Sophie Scholl angehörten. Diese Gruppe rief in einer Reihe von Flugblättern zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Willkürherrschaft auf. I n einem der Flugblätter hieß es: „Jeder muß, seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt, in dieser letzten Stunde sich wehren, so viel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand — Widerstand — , wo immer ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist. Vergeßt nicht, daß ein jedes Volk diejenige Regierung verdient, die es erträgt". 1 I n einem anderen Flugblatt: „Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt... Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niederen Machtinstinkten einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr! Der Tag der Abrechnung ist gekommen, der Abrechnung der deutschen Jugend mit der verabscheuenswürdigsten Tyrannis, die unser Volk je erduldet hat. Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen hat" 2 A m 18. Februar 1943 wurden die Geschwister Scholl bei der Verteilung dieses Flugblattes i n der Münchener Universität beobachtet. A m 22. Februar fand in München der Prozeß vor dem Volksgerichtshof gegen sie und ihren Freund Christoph Probst statt. Die Angeklagten wurden u. a. wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt und am gleichen Tage hingerichtet. Der Widerstand der „Weißen Rose" ist das gleichnishafte Beispiel für ähnliche Fälle, die ι /. Scholl, Die weiße Rose, 1955, Neudr. 1961, S. 58 f. 2 /. Scholl (Fn. 1), S. 151 f. 22 Zippelius

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Kap. 28: Widerstand gegen Tyrannei und im demokratischen Rechtsstaat

nicht i n gleichem Ausmaß i n das Licht der Öffentlichkeit traten, wie etwa der Fall jenes Mannes, der an einem öffentlich zugänglichen Platz einen Zettel niederlegte m i t der Aufschrift „ H i t l e r ist ein Massenmörder und an diesem Kriege schuld", und der deshalb wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde 3 . Diese Ereignisse sollen den Hintergrund bilden, einige Minuten über die Frage des Widerstandes nachzudenken. Es handelt sich um ein Wort, m i t dem sich sogleich vielfältige und sehr unterschiedliche Bilder und Gedanken verbinden: Da ist der gewaltlose, fast scheue, nur auf die Macht des Wortes vertrauende, geistige Widerstand der „Weißen Rose" gegenüber einer erbarmungslosen totalitären Tyrannei — ein Widerstand m i t inadäquaten Mitteln. Dann sind da die Fälle des gewaltsamen Widerstandes gegen eine Tyrannei, letztlich der Tyrannenmord, wie er i m Widerstand des 20. Juli 1944 versucht wurde. Wieder eine andere Kategorie des Widerstandes ist der letzte, fast aussichtslose, verzweiflungsvolle K a m p f u m das nackte Überleben, wie er i m Warschauer Ghettoaufstand von 1943 ein schreckenvolles Beispiel fand. 4 U n d es gibt schließlich Fälle gewaltsamen Widerstandes gegen staatliche Entscheidungen i n einem demokratischen Rechtsstaat, etwa nach dem Muster der Widerstandshandlungen gegen die Frankfurter Startbahn West. Es liegt auf der Hand, daß zwischen dem Widerstand i n den erstgenannten Fällen und dem Widerstand der letztgenannten A r t Unterschiede bestehen. I n cien Fällen des Widerstandes gegen die Tyrannei existierten keine rechtsstaatlichen und demokratischen Verfahren zur Kontrolle und Korrektur der staatlichen Machtverhältnisse und Entscheidungen, insbesondere keine erlaubten M ö g lichkeiten, i n öffentlicher Auseinandersetzung der Ansichten und Argumente auf die öffentliche Meinung Einfluß zu nehmen; auch für die Existenzfragen der Nation fehlte es an der Möglichkeit, i n öffentlicher Auseinandersetzung der Meinungen nach dem breitestmöglichen Konsens in rationaler Weise Rückfrage zu halten und das staatliche Handeln auf diese Grundlage zurückzuführen. I m nationalsozialistischen Deutschland blieb als einzige Möglichkeit, die Herrschaft des Despoten zu beenden, nur der Tyrannenmord. Ganz anders i m demokratischen Rechtsstaat. Hier fällt der K a m p f m i t geistigen Waffen — auf den sich der Widerstand der Weißen Rose beschränkte — von vornherein nicht unter den Begriff des Widerstandes; sondern die geistige Auseinandersetzung, auch die K r i t i k an den Regierenden, ist hier geradezu ein konstruktives Element des politischen Lebens. Hier, i m demokratischen Rechtsstaat, gehört vor allem auch die Ablösung der Regierenden zum politischen Alltag, auch die Chance, daß politische Randgruppen u m öffentliche Zustimmung werben und auf diesem 3 Nach G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105 ff. 4 Vgl. H. G. Adler, Geist und Grenzen des Widerstandes, in: R. v. Voss (Hrsg.), Von der Legitimität der Gewalt, 1978, S. 24, 36.

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Wege die Ablösung der Regierenden betreiben und selber Zugang zur Macht gewinnen. Während in der Tyrannei der gewaltlose wie der gewaltsame Widerstand sich einfach daraus erklärt, daß hier kein anderer gangbarer Weg besteht, die Stimme der Vernunft gegen das staatliche Unrecht zu Gehör zu bringen, ist es nicht ohne weiteres einsichtig, welche Ursachen i m demokratischen Rechtsstaat zu gewaltsamen Widerstandshandlungen gegen die Staatsgewalt führen. Diese Gewalttätigkeiten können gelegentlich ein bloßes Abreagieren aufgestauter Gewaltbereitschaft sein, die auf beliebigen Ursachen — etwa persönlichen Frustrationen — beruhen kann und der jedes Objekt recht ist. Zumeist w i r d jedoch auch der gewaltsame Widerstand i n der Demokratie Argumente für sich anführen, etwa Argumente, wie sie gegen den Bau von Kernkraftwerken oder den Ausbau von Flugplätzen bestehen können. N u n ist aber der demokratische Rechtsstaat seiner Struktur nach darauf angelegt, solchen Argumenten eine Wirkungsmöglichkeit zu lassen. M a n darf für sie werben, um die Mehrheit der Bevölkerung für sie zu gewinnen; diese Möglichkeit ist sogar ausdrücklich durch die demokratische Verfassung gewährleistet, insbesondere durch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, einschließlich des Rechts zu friedlichen Demonstrationen. Welche Gründe für gewaltsamen Widerstand gibt es also in einem politischen System, das sich für Argumente offenhält und ihnen politische Wirksamkeit verschafft, sofern sie nur die Mehrheit des Volkes zu überzeugen vermögen? E i n Grund ist die Ungeduld, die nicht den langen A t e m hat, um zur Durchsetzung der eigenen Argumente oder auch Rechte die politischen Wirkungsmöglichkeiten oder auch Rechtswege auszuschöpfen, die zu ihrer Durchsetzung zur Verfügung stehen. U n d es bedarf in der Tat oft der Ausdauer, um dem Übermut der Ämter und öfter noch ihrer Dummheit und Gedankenlosigkeit wirksam zu begegnen. Besonders mühselig und langwierig ist es, Meinungen und politische Kräfte zu mobilisieren, um den Strukturmängeln unseres Systems, etwa der Bürokratisierung, oder eingefahrenen Mißständen entgegenzuwirken. So dauerte es ζ. B. viele Jahre, bis aus ersten mahnenden Stimmen, wie Rachel Carsons „Silent Spring", ein wirksamer Umweltschutz hervorging. Die Demokratie ist ein langsam und schwerfällig lernendes System, gerade auch deshalb, weil sie viele zu Worte kommen, Argumente austauschen und Interessen zum Ausgleich kommen läßt, um schließlich einen Kompromiß zu finden, der für die Mehrheit annehmbar ist. Die — oft mühsame — Suche nach Kompromissen ist die Lebensform der offenen Gesellschaft. A u f der Einsicht in diesen Sachverhalt und auf der Bereitschaft, Toleranz und Geduld, diesen demokratischen Prozeß zu akzeptieren, beruht die Überlebensfähigkeit dieser politischen Kulturform. E i n zweiter Grund für gewaltsamen Widerstand in der Demokratie ist die Absicht, die „Propaganda der Tat" zu nutzen. Presse und Rundfunk haben ein 22*

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Interesse daran, über das Spektakuläre zu berichten, insbesondere nach dem M o t t o „Schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten" (d. h. sind gut zu verkaufen). So kann man durch Veranstaltung eines Spektakels die Medien als Stimmkraftverstärker benützen. E i n dritter — und zwar der fundamentalste — Grund für gewaltsamen Widerstand liegt darin, daß man sich mit dem demokratischen Prozeß und der darin gebildeten Mehrheitsmeinung nicht abfinden w i l l , daß also diejenigen, die diesem Staat Widerstand leisten, sich selbst i m Besitze der besseren Wahrheit glauben und diese notfalls auch m i t Gewalt durchsetzen wollen. W o immer i n einem demokratischen Rechtsstaat gewaltsamer Widerstand aus dieser Mentalität geleistet wird, sollte man hellhörig werden: Solche Gewalttätigkeiten gehören zu den Fingerabdrücken der werdenden und der ausgewachsenen Tyrannen. Politische Gewalttätigkeiten sind insbesondere die Instrumente, mit denen ideologisch aufgeladene Bewegungen und die ihnen zugehörigen totalitären Herrschaftsansprüche sich an die Macht zu bringen und an der Macht zu halten suchen. Sie gehören „ z u den bevorzugten Mitteln, m i t deren Hilfe eine totalitäre Bewegung zu ihrer Machtergreifung' und zur Befestigung ihrer Macht gelangt, was man beim Studium des Entstehens der Sowjetunion und nicht weniger deutlich beim Erkämpfen und Erschaffen des national-sozialistischen Staates beobachten k a n n " . 5 I n diesen Fällen verläßt also der gegen den Staat geübte Widerstand grundsätzlich den Boden der „offenen Gesellschaft"; denn in dieser w i r d prinzipiell m i t der Möglichkeit gerechnet, daß nicht nur der politische Gegner, sondern auch man selber irren kann, daß man nicht selber, sondern der Gegner recht hat und faktisch recht bekommt. I n der offenen Gesellschaft herrscht somit die Vorstellung, daß jeder Einzelne eine dem anderen gleich zu achtende moralische und demokratische Instanz sei, und es herrscht ein tiefes Mißtrauen gegen jeden, der glaubt, er habe die Wahrheit gepachtet. Dies ist das Fundament der Demokratie und des demokratisch, d. h. von der Gesamtheit der Bürger legitimierten und kontrollierten Staats willens. Da nicht i n allen Fragen der restlose Konsens aller Bürger herstellbar ist, sucht dieses System die größtmögliche Annäherung an den Konsens aller i m Mehrheitsprinzip, auch wenn man weiß, daß die Mehrheit nicht „immer recht hat", also auch auf die Gefahr hin, daß die Mehrheit mitunter weniger einsichtig oder weniger gerecht entscheidet, als eine Minderheit oder ein Einzelner dies i m Einzelfall vielleicht tun würde: Denn nach welchen heteronomen, d. h. v o m Gewissen des Einzelnen ablösbaren Kriterien sollte entschieden werden, wer über die „bessere Wahrheit" verfügt? V o r allem gewährleistet die Demokratie auch, daß durch Diskussion und Konsenssuche die Möglichkeit einer Selbstkorrektur offengehalten wird, daß insbesondere die Menschenwürde und Mitwirkungskompetenz eines jeden erhalten bleibt und der Wahrheitsanspruch nicht durch Leute monopolisiert wird, die sich nicht damit abfinden wollen, daß die Mehrheit anders denken und entscheiden darf, als sie es für richtig halten. 5 Adler (Fn. 4), S. 25.

Kap. 28: Widerstand gegen Tyrannei und im demokratischen Rechtsstaat Aus der Eigenart der freiheitlichen Demokratie als der verfaßten offenen Gesellschaft ergibt sich auch, welchen Widerstand diese nach ihrem Selbstverständnis akzeptieren kann und sogar muß: nicht den Widerstand gegen einzelne rechtsstaatlich und demokratisch beschlossene Maßnahmen, wohl aber den W i derstand gegen politische Gewalten, die das Grundschema einer freien und offenen, rechtsstaatlich gesicherten, gewaltlosen Austragung von Meinungsverschiedenheiten abschaffen möchten. I n diesem Sinne hat man auch das i m Grundgesetz verbürgte Widerstandsrecht ausgelegt 6 : Es darf nur in einem die freiheitliche demokratische Grundordnung bewahrenden Sinne ausgeübt werden, und auch dies nur, wenn alle von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfe so wenig Aussicht auf wirksame Abhilfe bieten, daß die Ausübung des Widerstandes das letzte verbleibende M i t t e l zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Rechts ist. Wenn allerdings die Zerstörung der bisherigen Rechtsordnung schon so weit gediehen ist, w i r d selbst dieses i n der Verfassung niedergelegte Widerstandsrecht kein „garantiertes Recht", sondern nur noch Appell und Kampfparole, nur noch Legitimation ohne Rechtsgewährleistung sein. Die Formel „Legitimation ohne Rechtsgewährleistung" gilt auch v o m Widerstand gegen die Tyrannei. Ja sie gilt hier in noch höherem Maße. U n d damit komme ich zu einem wichtigen Punkt: Widerstand gegen die Tyrannei ist lebensgefährlich, oft nicht nur für die Handelnden, sondern auch für Familie und Freunde. 7 Die Tyrannei erkennt man auch daran, daß sie mit dem Schwert oder der Guillotine auf Widerstand reagiert. Schon Schillers Teil saß nicht i n der bequemen Stube des Naturrechtsprofessors, sondern riskierte Freiheit und Leben, als er gegen die Tyrannenmacht hinaufgriff „ i n den H i m m e l und holt 4 herunter seine ew'gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst". Der Widerstand gegen die Tyrannei erhält seinen Ernst und seine Würde gerade dadurch, daß der Handelnde sein Leben für seine Überzeugungen wagt. U n d hier stoßen w i r auf einen weiteren Gegensatz zwischen damals und heute: M a n kann jene, die für ihren gewaltlosen Appell an das Gewissen hingerichtet wurden, nicht in eine Reihe stellen m i t gewalttätigen Protestierern, die heute mit Stahlkugeln und Pflastersteinen gegen gerichtsförmig und demokratisch kontrollierbare Entscheidungen der Staatsgewalt und gegen deren Polizisten vorgehen, Polizisten, denen Hartgummigeschosse in die Hand zu geben man sich scheut. Hier gleicht der „Widerständler" dem Zerrbild jenes Toreros, der sein Mütchen an der gutmütigen M i l c h k u h kühlt. Ich komme zu einer letzten Frage: Selbst der Widerstand gegen die Tyrannei schließt, wenn er zur Gewalt greift, nicht nur ein persönliches Risiko, sondern oft auch ein moralisches Wagnis ein. Gewiß gilt das nicht in den Fällen, in denen 6 Vgl. Th. Maunz IR. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 45 IV. 7 Adler (Fn. 4), S. 31.

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der Widerstand das verzweiflungsvolle Aufbäumen geschundener Menschen gegen ihre Peiniger ist. Wer wollte den Warschauer Ghettoaufstand von 1943 an einem moraltheologischen Gutachten messen? 8 I n anderen Fällen erhebt sich aber für den, der den Widerstand gegen die Tyrannei erwägt, die schwierige Frage, wann immer das staatliche Unrecht ein so unerträgliches Maß erreicht, daß es schwerer wiegt als der Unfrieden und die Opfer, die ein gewaltsamer Widerstand m i t sich bringen; i n die Erwägungen ist auch die historische Erfahrung einzubeziehen, daß der W e g von Widerstand und Revolution oft ins Ungewisse und nicht ganz selten i n eine neue Tyrannei geführt hat. Für Luther, den manche für den deutschen Untertanengeist mitverantwortlich machen, lag das Problem des Widerstandsrechts i m Spannungsfeld zwischen dem Satz des Römerbriefes: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hàf \ und andererseits dem Wort aus der Apostelgeschichte: „ D u sollst Gott mehr gehorchen als den Menschen". Hiernach bestimmte er die Grenzen des bürgerlichen Gehorsams: „ W i e , wenn denn ein Fürst unrecht hätte, ist ihm sein V o l k auch schuldig zu folgen? Antwort: Nein. Denn wider Recht gebührt niemand zu tun; sondern man muß Gott (der das Recht haben w i l l ) mehr gehorchen als den Menschen". Aber es war ein entsagungsvoller, gewaltloser Widerstand, den Luther hier vor Augen hatte: „Der Obrigkeit soll man nicht widerstehen mit Gewalt, sondern nur m i t dem Bekenntnis der Wahrheit; kehrt sie sich daran, ist es gut; w o nicht, so bist du entschuldigt und leidest Unrecht um Gottes W i l l e n . " 9 Calvin vertrat die Ansicht, selbst einer ungerechten Obrigkeit, die „der Zorn Gottes über das Land ist", sei man Gehorsam schuldig; aber die Grenze dieses Gehorsams gegen Menschen liege dort, w o er zum Ungehorsam gegen Gott würde. 1 0 Bei B o d i n 1 1 und Hobbes 1 2 , die in den religiösen Bürgerkriegen ihrer Zeit die tiefe Not einer friedlos gewordenen bürgerlichen Gemeinschaft erfahren mußten, stand die Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Staates weit i m Vordergrund; für sie schied ein aktives Widerstandsrecht gegen die ordnende Staatsgewalt aus. A u c h noch Kant, der von jenen Bürgerkriegen schon zeitlichen Abstand gewonnen hatte, räumte in einem K o n f l i k t zwischen der staatlichen Ordnung und den Idealen der Vernunft dem Rechtsfrieden den Vorrang ein; die Widersetzlichkeit gegen die Staatsgewalt zerstöre die Grundfeste des Gemeinwesens; auch gegen eine tyrannische Staatsgewalt bleibe dem Untertanen daher Widerstand nicht als Gegengewalt erlaubt; sondern nur die Macht der Feder, das kritische Argument, wollte Kant als Widerstand gelten lassen. 13

s Adler (Fn. 4), S. 36. 9 M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, 1523, III. 10 J. Calvin, Institutio Christianae Religionis, 1536, IV 2 0 2 4 f f u J. Bodin, Six livres de la Republique, I I Kap. 5. 12 Th. Hobbes, De cive, Kap. V, 7. 13 /. Kant, Über den Gemeinspruch, Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793, II.

Kap. 28: Widerstand gegen Tyrannei und im demokratischen Rechtsstaat Es ist hier nicht zu diskutieren, ob w i r uns der einen oder anderen dieser Vorstellungen anzuschließen hätten, es war nur deutlich zu machen, daß i m gewaltsamen Widerstand ein schwieriges moralisches Problem steckt. Das wußten gerade jene, die sich unter Einsatz ihres Lebens zum Widerstand gegen die Tyrannei entschlossen. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer 1 4 , der i m Anschluß an das Attentat v o m 20. Juli 1944 verhaftet und später i m Konzentrationslager Flossenbürg ermordet wurde, schrieb schon m i t B l i c k auf die bloße Verweigerung des bürgerlichen Gehorsams: „ D i e Verweigerung des Gehorsams in einer bestimmten geschichtlichen, politischen Entscheidung der Obrigkeit kann ebenso wie diese Entscheidung selbst nur ein Wagnis auf die eigene Verantwortung hin sein. Eine geschichtliche Entscheidung geht nicht in ethischen Begriffen auf. Es bleibt ein Rest: das Wagnis des Handelns."

14 Nach W. Dress, in: A. Kaufmann / L. E. Backmann (Hrsg.), Widerstandsrecht, 1972, S. 323.

E. Verantwortlichkeit

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Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit „Verantwortung" bedeutet dem Wortsinne nach, ebenso wie das englische W o r t „responsibility", daß man Antwort zu geben habe auf Fragen, die einem vorgehalten werden, und zwar Fragen, die sich auf die Korrektheit des Handelns beziehen, nämlich auf ein Versagen vor einem Sollen l . Wegen anderer Tatsachen, etwa wegen seiner Hautfarbe oder wegen seiner Dummheit, kann man zwar benachteiligt, nicht aber i m herkömmlichen Sprachsinne zur Verantwortung gezogen werden. Verantwortlich i m moralischen Sinn kann man nur für etwas sein, was man vermeiden konnte. Die Frage der moralischen Verantwortlichkeit ist daher mit der Frage des Determinismus verknüpft. M a n hat viel darüber gestritten, ob es Entscheidungsfreiheit, als Bedingung moralischer Verantwortlichkeit und Schuld, überhaupt gebe 2 und ob sie notwendige Bedingung auch für den strafrechtlichen Schuldvorwurf sei (s. u. I). Außer Frage steht aber, daß i n verschiedenen anderen Rechtsbereichen die Wortbedeutung der „Verantwortlichkeit" nicht auf den moralischen V o r w u r f schuldhaften Abweichens von einer N o r m begrenzt ist, sondern weit darüber hinaus reicht und oft nur die Zurechnung eines Schadens oder einer sonstigen Situation — das Einstehenmüssen für diese — bedeutet: A u c h wer nicht schuldhaft gegen Normen verstoßen hat, kann i m Sinne des Schadensersatzrechts oder auch i m Sinne des Polizeirechts verantwortlich gemacht werden. So kann man etwa davon sprechen, daß der Eisenbahnunternehmer für Schäden verantwortlich sei, die aus der Betriebsgefahr der Bahn hervorgegangen sind, oder der Eigentümer einer Sache für die Störung, die von dieser ausgeht. Der Begriff der Verantwortung hat also augenscheinlich verschiedene funktionsbezogene Bedeutungsvarianten: Es gibt insbesondere moralische, strafrechtliche, schuldrechtliche und politische „Verantwortung"; diese können unterschiedliche Bedeutungsinhalte haben, j e nach den verschiedenen Lebensbereichen und Problemen, denen sie zugeordnet sind. I . Strafrechtliche Verantwortung D e m ursprünglichen Wortsinn nahe kommt die strafrechtliche „Verantwortung". Wer strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wird, dem w i r d vorgehalten, ι Κ Larenz, Richtiges Recht, 1979, S. 93. Dazu unten Kap. 32.

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Kap. 29: Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit

daß er anders gehandelt habe als er handeln sollte und, nach unbefangenem Verständnis, auch handeln konnte. Aber schon über die letztgenannte Voraussetzung gibt es unterschiedliche Ansichten. Die einen nehmen den Satz „nulla poena sine culpa" in seinem strengen Sinn und sind der Meinung, jemand könne nur strafbar sein, wenn er auch i m Sinne moralischer Verantwortlichkeit schuldig geworden sei, 3 was voraussetzt, daß er die Wahlfreiheit hatte, sich so oder anders zu verhalten. Dem steht die Ansicht gegenüber, ein Strafrecht sei auch ohne Lösung des philosophischen Freiheitsproblems sinnvoll. 4 Wieder andere sind der Meinung, auch wenn man von einer Wahlfreiheit des Menschen ausgehe, müsse man aus Gründen der Praktikabilität vor der Aufgabe resignieren, i n jedem Einzelfall den Nachweis zu führen, daß der Täter i n der konkreten Handlungssituation Herr seiner M o t i v e war. 5 Während zu der genannten Frage eine facettenreiche, hier nicht weiter auszubreitende Diskussion besteht, 6 soll ein anderer Aspekt strafrechtlicher Verantwortung etwas stärker ins Licht gerückt werden: Gegenstand des strafrechtlichen Vorwurfs ist ein verbotenes Geschehen. Verboten und i n diesem Sinne rechtswidrig kann jedoch nur sein, was prinzipiell verbietbar ist. Verbietbar, d. h. einer normativen Steuerung zugänglich, ist aber nur menschliches Tun oder UnterlassenJ Verbietbar ist zwar ein erfolgsbezogenes, ζ. B. finales oder gefährliches T u n oder Unterlassen, nicht aber der anschließende tatsächliche Eintritt des Erfolges. Wenn zwei auf jemanden mit Tötungsvorsatz schießen, haben beide gegen das gleiche Verbot — Tötungshandlungen vorzunehmen — verstoßen: der eine, dessen Schuß tödlich trifft, und der andere, dessen Schuß fehlging. Eine Mutter, die ihr K i n d i n der Nähe eines Abgrundes spielen läßt, ohne daß etwas passiert, hat gegen die gleiche Obhutspflicht verstoßen, wie eine andere, deren K i n d sich hierbei zu Tode stürzt. Gleichwohl w i r d i m ersten Beispiel der eine Täter wegen vollendeten, der andere wegen versuchten Tötungsdelikts zur

3 Vgl. A. Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 127 ff., 208 f., 263 ff.; E. Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 11 ff., 395 ff. Die Annahme einer Charakteroder besser: Lebensführungsschuld (vgl. K. Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, 2. Aufl. 1965, S. 44 ff.) verschiebt das Freiheitsproblem nur auf die vorangegangenen Lebensentscheidungen, in denen der Charakter schrittweise „verantwortlich" gebildet wird. 4 H. Blei, Strafrecht, Allg. Teil, 18. Aufl. 1983, § 47; P. Bockelmann, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit, ZStW 75 (1963), S. 388 ff.; C. Roxin, Zur jüngsten Diskussion über Schuld, Prävention und Verantwortlichkeit im Strafrecht, in: Festschr. f. P. Bokkelmann, 1979, S. 297 f.; w. Nachw. bei Dreher (Fn. 3), S. 43 ff. 5 H. Henkel, Die Selbstbestimmung des Menschen als rechtsphilosophisches Problem, in: Festschr. f. K. Larenz, 1973, S. 22 ff. 6 Vgl. Dreher (Fn. 3), S. 29 ff. 7 Dazu unten Kap. 30 I und 31 II; ferner D. Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunwert im Unrechtsbegriff, 1973, S. 137 f.; Ch. Mylonopoulos, Über das Verhältnis von Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, 1980.

I. Strafrechtliche Verantwortung

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Verantwortung gezogen, i m zweiten Beispiel die eine Mutter wegen fahrlässiger Tötung, die andere jedoch nicht verantwortlich gemacht, obwohl in jedem Vergleichspaar jeweils gegen die gleiche Verhaltensnorm mit gleicher Schuld verstoßen wurde. M a n w i r d also i m Strafrecht nicht nur für sein Verhalten, sondern auch für den tatsächlichen Eintritt eines schädlichen Erfolges, der jenseits des normativ steuerbaren Verhaltens liegt, mit zur Verantwortung gezogen. Unter dem Gesichtspunkt moralischer Verantwortlichkeit ist es aber schwer einzusehen, warum der versuchte Totschlag milder bestraft werden kann als der vollendete 8 und warum fahrlässiges Verhalten oft nur dann strafbar ist, wenn es zu einem Schaden geführt hat. 9 Mögliche Antworten könnten sein 1 0 : E i n Strafrecht, das generalpräventive Zwecke mitverfolge, müsse auch auf den Eindruck abstellen, den eine Tat hinterlasse; ein schadenstiftendes normwidriges Verhalten mache aber regelmäßig einen stärkeren Eindruck der Rechtsnormverletzung in der Öffentlichkeit als ein schadlos bleibendes. 1 1 Wenn das K i n d in den Brunnen gefallen sei, müsse ein Exempel statuiert werden; wenn kein Unglück geschehen sei, brauche das Strafrecht nicht zu reagieren. Darf aber ein die Täterpersönlichkeit würdigendes Strafrecht solche sozialpädagogischen Gesichtspunkte zum Anlaß nehmen, die unglückliche Mutter, deren K i n d zu Tode gekommen ist, als warnendes Beispiel an den Pranger zu stellen, die ebenso unvorsichtige aber, deren K i n d nicht zu Schaden kam, straflos ausgehen lassen? Eine zweite Antwort könnte lauten, daß die zur Rechtswahrung berufenen Behörden praktisch außerstande seien, jede Unvorsichtigkeit, die zu einem strafrechtlichen Erfolg führen könnte, aufzuspüren und zu verfolgen 1 2 ; diese unverblümte, pragmatische Antwort ließe die moralische Fragwürdigkeit des Strafensystems unbestritten. Gänzlich unbeantwortet bliebe hier aber die Frage, warum die versuchte Tat milder bestraft werden könne als die vollendete (§ 23 Abs. 2 StGB). Eine dritte Antwort könnte besagen, nach der Lebenserfahrung spreche eine tatsächliche Vermutung dafür, daß hinter einer erfolgverursachenden Handlung i m großen und ganzen ein intensiverer Deliktsw i l l e 1 3 oder eine gröbere Unvorsichtigkeit stecke als hinter einem unschädlich bleibenden normwidrigen Verhalten. Dürfte sich aber ein Strafrecht, das der Individualität des Täters gerecht werden soll, mit solchen pauschalen Vermutun8 H. H. Roeder, Die Erscheinungsformen des Verbrechens, 1953, S. 13, verweist hierzu auf den Satz Hadrians: „in maleficiis voluntas spectatur, non exitus". 9 Vgl. A. Wimmer, Das Zufallsproblem beim fahrlässigen Verletzungsdelikt, NJW 1958, S. 521 ff. 10 Zum folgenden insbes. Zielinski (Fn. 7), S. 200 ff. u H. H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 3. Aufl. 1978, § 49 I I 3, V 2; Zielinski (Fn. 7), S. 208. 12 Vgl. Zielinski (Fn. 7), S.210f.; H. Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, 1961, S. 21. 13 H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, § 241 5 b.

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Kap. 29: Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit

gen zufrieden geben? Eine vierte, moralisch fragwürdige, aber ungeschminkte Antwort könnte lauten, daß das Strafrecht nicht nur der Schuld des Täters angemessen sein müsse, sondern daß i n ihm auch noch ein atavistisches Element stecke, Rache für einen Erfolg zu nehmen; Blut fordere eben Vergeltung, w o ein gänzlich gleichartiges Verhalten, das schadlos geblieben sei, keine oder nur eine geringere Strafe verlange. 1 4 Diese Neigung, oft erst dann, wenn etwas schiefgegangen ist, einen Sündenbock zu suchen, spielt auch bei der politischen Verantwortung eine Rolle. Dort ist auf dieses Thema zurückzukommen.

I I . Schuldrechtliche Schadensverantwortung Schon die strafrechtliche Verantwortung greift also über die Kategorien moralischer Vorwerfbarkeit hinaus. U m so mehr gilt das für die schuldrechtliche Schadensverantwortung. Diese entscheidet m i t über die Frage, wie ein Schaden zwischen einem Geschädigten und dem Schädiger gerecht zu verteilen sei. Aber diese Frage läßt sich nicht aus dem Gesichtspunkt persönlicher Vorwerfbarkeit allein lösen; denn auch für den Fall, daß die Verursachung des Schadens niemandem persönlich vorzuwerfen ist, muß geregelt werden, wer den Schaden letztlich trägt. Daß dies stets der Geschädigte sein müsse, wenn der Schädiger nicht vorwerfbar gehandelt hat, ist durchaus nicht zwingend. Nur eine Vermengung strafrechtlichen und schuldrechtlichen Denkens könnte zu diesem Schluß verleiten. I n Wahrheit geht es jedoch i m Schuldrecht nicht um eine Vergeltung vorwerfbaren Verhaltens, sondern um ein Problem der ausgleichenden Gerechtigkeit. I n deren Rahmen kann es aber durchaus angemessen sein, daß selbst das Risiko für unverbotenes Verhalten v o m Schädiger und nicht v o m Geschädigten zu tragen ist, so etwa nach dem Grundsatz der Gefährdungshaftung das Risiko, das m i t dem erlaubten Halten eines Tieres oder mit dem erlaubten Betrieb einer Eisenbahn verbunden ist. Wer erlaubterweise und daher ohne persönlichen Vorwurf, vielleicht sogar i m öffentlichen Interesse, Gegenstände, von denen Gefahren ausgehen, in die Gemeinschaft einbringt, muß billigerweise den Schaden tragen, der von diesen Gegenständen verursacht wurde. Erich Kaufmann 1 5 hat diese Haftungsfälle zutreffenderweise der ausgleichenden Gerechtigkeit zugeordnet. Manche Ähnlichkeiten m i t diesen Fällen hat die Haftung des Schuldners für einen Erfüllungsgehilfen (§ 278 B G B ) . A u c h hier braucht der i n Anspruch Genommene selber nichts Unerlaubtes getan zu haben und auch hier w i r d er für 14 Vgl. A. Köhler, Der Vergeltungsgedanke und seine praktische Bedeutung, 1909, S. 20 f.; F. Bauer, Das Verbrechen und die Gesellschaft, 1957, S. 140; Zielinski (Fn. 7), S. 207. 15 E. Kaufmann, Das Wesen des Völkerrechts, 1911, S. 226; J. Esser ordnete demgegenüber bei Zufallsschäden die Ausgleichspflicht des Schädigers gegenüber dem Geschädigten der distributiven Gerechtigkeit zu (Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, 1941, S. 73).

II. Schuldrechtliche Schadensverantwortung

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eine Risikosituation verantwortlich gemacht, die er geschaffen hat und aus der er einen Vorteil zieht: hier nämlich dadurch, daß er sich eines anderen zur Erfüllung seiner schuldrechtlichen Verbindlichkeiten bedient 1 6 ; und auch hier geht die Schädigung aus einem Lebensbereich hervor, den er, wenn auch nicht i n jeder konkreten Situation, so doch i m großen und ganzen unter seiner Kontrolle hat — ein Zurechnungsgrund, auf den auch i n anderem Zusammenhang (s. u. I I I ) noch zurückzukommen ist. Wenn es schon angemessen sein kann, den Schaden für erlaubtes Verhalten auf den zu überwälzen, aus dessen Gefahrenbereich er hervorgegangen ist, dann kann das gleiche erst recht für Fälle gelten, i n denen der Schaden durch unerlaubtes Handeln, aber ohne persönliche Schuld verursacht wurde. So erheben sich keine grundsätzlichen Bedenken, wenn die Ausgleichsregelungen der §§ 827 Satz 2, 829 B G B nicht voraussetzen, daß die Schädigungshandlung persönlich vorwerfbar ist. Wenn die Rechtsordnung i m übrigen Kinder oder Personen, die bei der Schädigungshandlung geistesgestört waren, von der Schadensersatzpflicht freistellt, so geschieht das mit Rücksicht auf die besondere Schutzwürdigkeit dieser Personen, nicht aber deshalb, w e i l Schadensersatzpflicht prinzipiell an ein Verschulden des Schädigers anzuknüpfen hätte. I n den meisten Fällen setzt das Zivilrecht aber für das Entstehen einer Schadensersatzpflicht voraus, daß der Schädiger unerlaubt, vorsätzlich oder fahrlässig und mit persönlicher Verantwortungsfähigkeit gehandelt hat. Gründe dafür liegen teils in der genannten Rücksicht auf die besondere Schutzwürdigkeit nicht verantwortungsfähiger Personen, teils w o h l auch darin, daß das Schadensersatzrecht rechtshistorisch gemeinsame Wurzeln mit dem strafrechtlichen Deliktsrecht hat. Wenn das Schadensersatzrecht an die persönliche Steuerungsfähigkeit des Verhaltens anknüpft, so erfüllt es damit zugleich eine wichtige sozialpädagogische Funktion; denn auf diese Weise bietet es einen nachdrücklichen Anreiz, nach besten Kräften Schädigungen anderer zu vermeiden. Freilich ist auch für die Regelfälle des Schadensersatzrechts das Verschuldensprinzip nicht strikte durchgeführt. So ist m i t der Fahrlässigkeit nicht notwendig ein Verschulden bezeichnet. Der Begriff der i m Verkehr „erforderlichen" Sorgfalt (§ 276 Abs. 1 Satz 2 B G B ) stellt — anders als der strafrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff — nicht darauf ab, ob der Schädiger nach seinen persönlichen Fähigkeiten auch in der Lage war, diese Sorgfalt aufzubringen, vielmehr nur darauf, welches Verhalten in bestimmten Situationen generell geboten ist, d. h. wie sich jeder zu verhalten hat, der sich i n einer gleichen sozialen Rolle i n einer gleichartigen Lage befindet. M i t dieser Typisierung ist aber eine generelle Verhaltensrichtlinie bezeichnet; daß eine solche objektiv verletzt worden sei, ist streng genommen eine Aussage über die Rechtswidrigkeit, nicht über die Schuldhaftigkeit des Verhaltens. 1 7

16 Larenz (Fn. 1), S. 111 f. 17 Dazu unten Kap. 3112.

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Kap. 29: Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit

Spricht man i n allen genannten Fällen gleichwohl davon, daß der Schädiger für den Schaden „verantwortlich" sei, so besagt das lediglich, daß die rechtliche Terminologie den Bedeutungsinhalt dieses Wortes über den der moralischen wie auch der strafrechtlichen Vorwerfbarkeit hinaus ausgedehnt hat. Es ist also festzuhalten, daß mit dem gleichen Wort nicht kurzerhand eine gleiche Sachaussage zu verbinden ist und daß insbesondere das Schadensersatzrecht ein andersartiges Gerechtigkeitsproblem betrifft als das Strafrecht.

I I I . Verantwortung für einen kontrollierbaren Lebensbereich Ein verbreitetes Zurechnungsschema ist die pauschale Verantwortung für einen kontrollierbaren Lebensbereich 1 8 ohne Rücksicht auf ein konkret nachweisbares schuldhaftes Fehlverhalten. Schon i n Fällen der Gefährdungshaftung und bei der Haftung für den Erfüllungsgehilfen konkurriert dieses Zurechnungsschema m i t anderen Zurechnungsgründen. Es spielt eine wichtige Rolle bei der öffentlichrechtlichen Verantwortlichkeit, insbesondere bei der „Polizeipflichtigkeit" für eine Störung oder Gefahr, die von einer Sache ausgeht. So ist polizeipflichtig nicht nur, wer eine abzuwehrende Störung oder Gefahr verursacht hat, sondern, wenn diese Gefahr oder Störung von einer Sache ausgeht, auch der Eigentümer und der Inhaber der tatsächlichen Gewalt über die Sache, und zwar beide wegen der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeit, auf die gefahrbringende Sache einzuwirken. 1 9 Die Verantwortlichkeit für einen kontrollierbaren Lebensbereich begegnet uns etwa auch wieder bei der politischen Verantwortung eines Ministers für sein Ressort; auf diese ist gleich noch zurückzukommen.

I V . Politische Verantwortlichkeit Bei der politischen Verantwortlichkeit gibt es, ähnlich wie i m Schadensersatzrecht, rechtsgeschichtlich frühe Berührungspunkte mit einem strafrechtlichen Deliktsrecht. Aber auch hier geht es der Sache nach i m wesentlichen u m ein andersartiges Problem als bei der strafrechtlichen Verantwortung, vor allem u m politische Kontrolle: A u f frühen Entwicklungsstufen waren politische, strafrechtliche und zivilrechtliche Verantwortung oft miteinander verquickt. 2 0 Der podestà der italienischen is Vgl. Larenz (Fn. 1), S. 109. 19 K. H. Friauf, in: I. v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 1988, S. 235 f. 20 Zum folgenden: U. Scheuner, Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: Festschr. f. G. Müller, 1970, S. 385 ff., und M. Herberger, Art. Ministerverantwortlichkeit, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. III, 1984.

IV. Politische Verantwortlichkeit

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Stadtrepubliken mußte sich nach A b l a u f seiner Amtszeit eine Weile für gegen ihn zu erhebende Klagen zur Verfügung halten. I n England verbanden sich noch i m siebzehnten Jahrhundert politische und strafrechtliche Verantwortung, bis dann, mit der Entstehung der parlamentarischen Regierungsform, Instrumente erfunden wurden, eine spezifisch politische Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedem zur Geltung zu bringen. Hamilton unterschied in einem Beitrag zum „Federalist" klar zwischen einer Bestrafung und einer politischen Verantwortung, die lediglich zum Verlust des Amtes führen solle. 2 1 I n England setzte sich i m Anschluß an den Sturz von L o r d North und dann verstärkt nach der Reform von 1832 die Idee der spezifischen parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung durch. 2 2 Daneben erhielten sich, gleichsam als Erinnerungsstücke einer früheren Entwicklungsstufe, in manchen Verfassungen noch die Institute einer Minister- und einer Präsidentenanklage. Anzumerken ist, daß die Instrumente parlamentarischer Kontrolle nicht nur dazu dienen, Regierungsmitglieder politisch zur „Verantwortung" zu ziehen. So dient etwa die Pflicht der Regierung, dem Parlament auf Interpellation hin Rede und Antwort zu stehen, schlicht auch dem Informationsbedürfnis des Parlaments. Selbst einem Mißtrauensvotum liegt möglicherweise kein vorwerfbares normwidriges Verhalten der Regierung zugrunde, sondern einfach der Umstand, daß die Parteiungen i m Parlament sich verändert haben und dessen Mehrheit nicht mehr bereit ist, dem politischen Kurs der Regierung zu folgen. Politische Verantwortlichkeit i m herkömmlichen, engeren Sinn setzt jedoch, wie die Verwaltungsverantwortung, voraus, daß der zur Verantwortung Gezogene sich innerhalb seines Aufgaben- und Kompetenzenbereichs fehlerhaft verhalten hat; dazu gehört auch, daß er überhaupt einen Spielraum hatte, anders zu handeln. 2 3 A u c h eine Kollektivverantwortlichkeit der Kabinettsmitglieder für ein fehlerhaftes Handeln der Regierung ist denkbar, sofern der V o r w u r f gegen den Einzelnen sich wenigstens darauf gründen kann, daß er die Regierungspolitik mitgetragen habe, statt von seinem A m t zurückzutreten. 2 4 I n den genannten Fällen bleibt der Kern des Sinnes ethischer Verantwortung erhalten. M a n hat es geradezu als ein „allgemeines Prinzip organisationsrechtlicher Gerechtigkeit" bezeichnet, daß die organschaftliche Verantwortlichkeit auf eigenes Handeln und Unterlassen des Organwalters begrenzt sei. 2 5 Diese Grundsätze gelten herkömmlicherweise auch für die Verantwortung, die einen Behördenleiter, insbesondere einen Minister, für die Fehler eines ihm unterstellten Amtswalters trifft; auch hier beschränkt sich nach überkommener 21 The Federalist, Nr. 70. 22 G. Macaulay Trevelyan, Geschichte Englands, 4. deutsche Aufl., 1949, Bd. II, S. 630; K. Kluxen, Geschichte Englands, 3. Aufl. 1985, S. 474 f., 562. 23 D. Wilke, Über Verwaltungsverantwortung, DÖV 1975, S. 511. 24 Vgl. K. Vogel, Zur Verantwortlichkeit leitender Organ waiter, in: Festschr. f. F. Schack, 1966, S. 188. 25 Vogel (Fn. 24), S. 189. 23 Zippelius

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Kap. 29: Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit

Meinung die Verantwortlichkeit des Behördenchefs auf eigenes zurechenbares Verhalten i m Rahmen seiner Zuständigkeit. Er soll daher nicht jede einzelne Pflichtwidrigkeit seiner Untergebenen zu vertreten haben, sondern für eine Pflichtwidrigkeit oder einen sonstigen Mißstand erst dann verantwortlich werden, wenn er über diese unterrichtet w u r d e 2 6 oder sich bei gebotener Sorgfalt unterrichten mußte. I n der neueren Entwicklung des Parlamentarismus finden sich gelegentlich aber auch Ansätze, die Ministerverantwortung über diesen Rahmen hinaus auszuweiten und einen Minister für Fehler eines ihm unterstellten Amtswalters auch dann verantwortlich zu machen, wenn er diesen sorgfältig für seinen Funktionsbereich ausgewählt, seiner Aufsichtspflicht genügt und sich auch sonst keines persönlichen Mißgriffs schuldig gemacht hat. Die unterschiedlichen Auffassungen wurden in der Debatte des Deutschen Bundestages v o m 3. 9. 1985 2 7 einander gegenübergestellt: Bundesinnenminister Zimmermann folgte der traditionellen Anschauung: „In einer arbeitsteiligen und stufenmäßig aufgebauten Verwaltung kann sich die persönliche Verantwortlichkeit eines Bundesministers außer auf seine eigenen Handlungen und Entscheidungen nur auf die sachgerechte Organisation seines Geschäftsbereichs und auf die Geeignetheit der Maßstäbe bei der Auswahl der Mitarbeiter erstrecken, die er mit besonderen Aufgaben betraut." Dem hielt Oppositionsführer Vogel ein anderes Verständnis der parlamentarischen Verantwortung entgegen: Diese sei „nach gefestigter parlamentarischer Übung unabhängig von der Frage des persönlichen Fehl Verhaltens. Die politische Verantwortung ist ein Grundelement des demokratischen Parlamentarismus und der politischen Hygiene. Die politische Verantwortung erfordert den Rücktritt, wenn ein schwerwiegendes Ereignis im Zuständigkeitsbereich eines Ministers das Vertrauen in die Amtsführung seines Ressorts erschüttert hat." Freilich blieb hier die Frage offen, welche Handlungen, abgesehen von einem persönlichen Fehlverhalten, das Vertrauen in die „Amtsführung" erschüttern könne. — Einen wenig griffigen Standpunkt nahm der Abgeordnete Hirsch ein: Er erinnerte einerseits an die Auffassung, die Reinhold Maier schon im Jahre 1954 in einer Bundestagsdebatte vorgetragen hatte, daß nämlich ein Minister auch ohne persönliches Verschulden eine parlamentarische Verantwortung habe und haben müsse. Gerade dies unterscheide ihn von seinen nachgeordneten Mitarbeitern, daß er nicht die Bemühung schulde, sondern den Erfolg. Andererseits warnte Hirsch davor, eine Mißerfolgshaftung des Ministers zum allgemein verpflichtenden Prinzip zu erheben, da dies den Minister zum Spielball fremder Entscheidungen und unwägbarer Zufälligkeiten mache. 26 Nachw. bei Vogel (Fn. 24), S. 186 f. 27 Auszüge aus dieser Debatte finden sich in der Zeitschrift „Das Parlament", 1985, Nr. 37, S. 8 ff.

IV. Politische Verantwortlichkeit

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Überlegt man, welche Gründe dafür sprechen könnten, einen Minister ohne Rücksicht auf persönliches Fehlverhalten parlamentarisch zur Verantwortung zu ziehen, so drängt sich zunächst ein Vergleich mit der Haftung des Schuldners für seine Erfüllungsgehilfen auf (s. o. I I ) ; eine völlige Gleichsetzung dieser Fälle würde jedoch über wesentliche Unterschiede hinweggehen: Der Schuldner bedient sich des Erfüllungsgehilfen in seinem persönlichen Interesse und sucht ihn i n der Regel selbst aus. Der Amtschef leitet eine Behörde i m öffentlichen Interesse, findet deren personelle Zusammensetzung bei seinem Amtsantritt schon vor und kann über diese während seiner Amtszeit nur begrenzt verfügen. E i n anderer — irrationaler — Grund, einen Behördenchef ohne Rücksicht auf sein Verschulden für ein Fehlverhalten seiner Mitarbeiter zur Rechenschaft zu ziehen, könnte i n dem Bedürfnis liegen, für ein spektakuläres Mißgeschick einen „Sündenbock" zu haben: M a n ist geneigt, ein öffentliches Versagen möglichst griffig zuzurechnen, was in der Praxis oft bedeutet, es einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zuzuschreiben. A u c h tendieren w i r dahin, Verantwortung einfach als Preis der Macht — nicht notwendig zugleich auch als Preis einer persönlichen Schuld — von den „Mächtigen" einzufordern. 2 8 Dies alles w i r d durch die Tendenz verstärkt, das staatliche Handeln vermittels der Massenmedien einer — die Strukturen vereinfachenden — plebiszitären Kontrolle zu unterstellen. 2 9 Es ist denkbar, daß aus einem dieser Gründe sich die dargelegte Pauschalierung der Ministerverantwortlichkeit durchsetzt. Daß dies, wie jede Entindividualisierung der Zurechnung, eine Vergröberung der Verantwortlichkeit bedeuten würde, liegt auf das Hand.

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Vgl. auch P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 91 f. K. Eichenberger, Die politische Verantwortlichkeit der Regierung im schweizerischen Staatsrecht, in: Festschr. f. H. Huber, 1961, S. 121. 29

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Kapitel

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Erfolgsunrecht oder Handlungsunrecht? Wer sich i m Straßenverkehr verkehrsrichtig verhält und hierbei einen Körperoder Sachschaden eines anderen verursacht, hat nicht rechtswidrig gehandelt. Das ist das bemerkenswerte, die überkommene Lehre zum Widerspruch herausfordernde Ergebnis, zu dem der Große Zivilsenat des Bundesgerichtshofes 1 gekommen ist. Der Widerspruch ist denn auch nicht ausgeblieben. So hat man eingewandt, Verkehrsrichtigkeit und Rechtmäßigkeit dürften nicht gleichgesetzt werden. M i t der Feststellung der Verkehrsrichtigkeit eines Verhaltens — das zu einer Körperverletzung führte — sei nur gesagt, daß es nicht verkehrspolizeiwidrig war und nicht gegen das öffentliche Verkehrsrecht verstieß. Damit sei jedoch die Frage nach der bürgerlichrechtlichen Rechtmäßigkeit noch nicht beantwortet. Nach bürgerlichem Recht sei aber eine Körperverletzung stets rechtswidrig, wenn kein besonderer Rechtfertigungsgrund vorliege. Dafür sei es gleichgültig, ob der Verletzte m i t seinem Verhalten, das zur Körperverletzung führte, gegen die Verkehrsregeln des öffentlichen Rechts verstieß oder nicht. 2 Für die zivilrechtliche Rechtswidrigkeit soll es demnach entscheidend auf die eingetretene Körperverletzung ankommen. — Demgegenüber war der Bundesgerichtshof der Ansicht, für das Urteil der Rechtswidrigkeit gebe der Erfolg keinen ausreichenden Grund her, da es „die zum Erfolg führende Handlung nicht unberücksichtigt lassen" dürfe.

I . Der Gegenstand des Unrechtsurteils Was ist also Gegenstand des Unrechtsurteils: der eingetretene Erfolg, das vorausgehende menschliche Verhalten oder der Gesamtvorgang, der beim Tun beginnt und beim Erfolg endet? 3 Rechtswidrig ist, was i m Widerspruch zu Rechtsnormen — also zu objektiven Geboten, Verboten (oder Ermächtigungen zu deren Erlaß) 4 — steht. I m Widerspruch zu Geboten und Verboten kann nur stehen, was geboten und verboten ι BGHZ 24, 21. 2 Κ Α. Bettermann, NJW 1957, S. 986. 3 Dazu unten Kap. 31, Einl. 4 Siehe dazu etwa R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 1. Nachträgliche Einfügung.

II. Der Erfolgseintritt und die Erfolgsbezogenheit des Handelns

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werden kann, i m strengen Sinn also nur ein Willensakt: Objektive Sinngehalte — wie rechtliche Gebote — können nur dadurch zu Ursachen für ein äußeres Geschehen werden, daß sie zu einem Willensentschluß motivieren. N u r so können sie Wirkungen in der Außenwelt hervorbringen. W e i l Willensentschlüsse einerseits durch Gebote bestimmbar und andererseits wirkende Ursachen sind, stellen sie das Verbindungsglied dar, über das der Gesetzgeber reale Wirkungen i m äußeren sozialen Dasein durch ein Gebot hervorbringen oder durch ein Verbot verhindern kann. Wenn die Gewehrkugel den Lauf verlassen hat, kann kein Verbot ihren Flug noch hemmen; dieser liegt außerhalb des Geschehens, das durch Rechtsnormen gesteuert werden kann. Deshalb kann er auch nicht i m Widerspruch zu ihnen stehen. Kurz, welcher Vorgang rechtswidrig sein kann, bemißt sich nach der prinzipiellen, von Natur aus vorgegebenen Wirkungsmöglichkeit objektiver Gebote: Objektiv kann nur verboten werden, daß jemand schießt, nicht aber, daß die Kugel trifft. M i t einer Willensbetätigung, die durch Normen motivierbar ist, steht die Körperbewegung, die durch sie ausgelöst wird, in erlebtem und besonders engem Zusammenhang. Das mag es rechtfertigen, zu sagen: Rechtsnormen gebieten und verbieten „Handlungen". Damit aus diesem unscharfen Sprachgebrauch kein Fehler entsteht, sind dann aber aus dem Begriff rechtswidriger „Handlungen" die Fälle auszuscheiden, in denen eine Körperbewegung nicht einen auf sie gerichteten Willensakt verwirklicht. 5 Die Unrechtsmerkmale einer Tat sind also — als Merkmale des verbotenen Vorganges — schon i m Augenblick des Handelns festgelegt. 6 M a n w i r d deshalb noch einen Schritt weiter gehen müssen als der Bundesgerichtshof, der bei der Entscheidung über die Rechtswidrigkeit die zum Erfolg führende Handlung „nicht unberücksichtigt lassen" wollte: Das Unrechtsurteil ist allein über das Verhalten zu fällen. Rechtswidrig ist die Vornahme einer verbotenen oder die Unterlassung einer gebotenen Handlung.

I I . Der Erfolgseintritt und die Erfolgsbezogenheit des Handelns Selbstverständlich löst das rechtswidrige und gegebenenfalls auch schuldhafte Verhalten allein keine Schadensersatzpflicht aus; es muß auch einen Schaden verursacht haben: Das rechtswidrige Verhalten ist nur eine unter mehreren A n 5 Keine rechtswidrigen „Handlungen" sind also Bewegungen unter dem Einfluß unwiderstehlicher Gewalt und Reflexbewegungen, wie sie ζ. B. bei einem Krampfanfall ausgeführt werden. Fehlhandlungen sind zwar durch einen Willensakt verursacht, aber auch hier ist die Körperbewegung nicht Realisierung eines auf sie gerichteten Willensaktes; wenn jemand durch Stottern eine Silbenverbindung zustandebringt, die einen beleidigenden Sinn hat, fehlt es also ebenfalls an einem Willensakt, der mit der Rechtsordnung in Widerspruch steht. 6 R. Zippelius, NJW 1954, S. 1837.

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Kap. 30: Erfolgsunrecht oder Handlungsunrecht?

spruchsvoraussetzungen. Aber i m Bereich der „unerlaubten Handlungen" 7 ist es eben eine Anspruchsvoraussetzung: Der Schadensersatzanspruch entsteht hier nur, wenn die ursächliche Handlung rechtswidrig war, d. h. i m Widerspruch zu einem Verbot vorgenommen wurde. Könnte man aber nicht sagen: Rechtswidrig sei eben die Handlung, von der man rückblickend feststellt, daß sie einen Schaden verursacht hat? A u c h dann würde j a das Unrechtsurteil nur über die Handlung gefällt. Diese wäre von Anfang an rechtswidrig und würde i n ihrer Rechtswidrigkeit nur erst nachträglich, nämlich an Hand des verursachten Erfolges erkannt. Demgegenüber ist folgendes zu bedenken: Gebote oder Verbote, die menschliches Zusammenleben sinnvoll regeln sollen, müssen so beschaffen sein, daß sie i m Augenblick des Handelns eine Richtschnur sein können. Nicht sinnvoll wäre es aber zum Beispiel, i m Gefolge der ( i m Zivilrecht ohnehin nicht herrschenden) Bedingungstheorie zu bestimmen, verboten sei jedes Verhalten, das eine Bedingung für einen Körperschaden setzt. Denn niemand kann wissen, ob nicht eine gewöhnliche Handlung zu einem solchen Erfolg führt. Selbst wer friedlich in seinem Gärtchen einen Haselnußstrauch pflanzt, kann nicht absehen, ob nicht ein Raufbold einmal einen Prügel davon abschneidet. Wollte man zuverlässig vermeiden, Normen dieser A r t zu übertreten, dürfte man keine Lebensregung wagen — und liefe sogar dann Gefahr, eine verbotene Unterlassung zu begehen. Solche Normen wären für den Handelnden bloße Orakel, die oft erst nach geschehenem Unglück erkennen ließen, ob man ihnen entgegengehandelt hat. So gilt es, auch durch rechte Auslegung der Schadensersatz- und Strafvorschriften eine Verhaltensordnung zu finden, die i m Augenblick des Handelns eine sinnvolle Richtschnur sein kann. Wer seine Handlungen nach dieser einrichtet, handelt nicht rechtswidrig. Gewiß w i r d man aber zur Definierung rechtswidrigen Verhaltens oft auf seine ex ante erkennbare Erfolgsbezogenheit zurückgreifen: auf seine Gefährlichkeit (Relevanztheorie) oder seine Finalität (finale Handlungslehre) oder auf die Verletzung einer Sorgfalt, die zur Wahrung eines Rechtsgutes erforderlich ist. Eine solche „Erfolgsbezogenheit" der Gebote und Verbote liegt nahe, weil die Rechtsordnung eine Schutzordnung für Rechtsgüter ist. 8 Immer ist dann aber die erfolgsbezogene Gefährlichkeit oder Finalität oder Unvorsichtigkeit ein Merkmal des rechtswidrigen Verhaltens selbst. Das Unrechtsurteil w i r d damit also nicht auf den tatsächlichen Geschehensablauf ausgedehnt, der sich an das Verhalten anschließt. Deshalb w i r d man ζ. B. der Relevanztheorie 9 den Vorzug vor anderen A d äquanzlehren geben, w e i l sie zwischen dem haftungsbegründenden „Rechtswidrigkeitszusammenhang"

und der Kausalität unterscheidet. Diese Unterscheidung

7 Im ursprünglichen Text stand ungenau „Verschuldenshaftung 4'. s F. v. Liszt , in: Ztschr. f. d. ges. Strafrechtswiss. 6 (1886), S. 673. 9 Vgl. E. Mezger, Strafrecht, Lehrbuch, 3. Aufl. 1933, S. 122 ff.; BGHZ 3, 267; K. Larenz, in: NJW 1955, S. 1011.

II. Der Erfolgseintritt und die Erfolgsbezogenheit des Handelns

359

w i r d sehr deutlich durch den Hinweis, daß die Adäquanz i m Strafrecht v o m Standpunkt einer objektiven Versuchslehre aus nicht nur Merkmal der vollendeten, sondern auch der versuchten Tat sei. 1 0 Nur am Rande ist hier zu vermerken, daß m i t Erfolgsrelevanz allein das rechtswidrige Verhalten für viele Lebensbereiche nicht zureichend zu umgrenzen ist: Eisenbahn- und Straßenverkehr und viele lebenswichtige Betriebe würden in unzuträglicher Weise gehemmt, wenn man in ihrem Bereich alle Handlungen verbieten wollte, bei denen Sachbeschädigungen und Körperverletzungen „nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit" 1 1 liegen. So haben sich etwa für den Straßenverkehr differenzierte Regeln darüber herausgebildet, wie man sich zu verhalten hat, um die dort typischen Gefahren auf das zuträgliche und vertretbare Maß zu beschränken: Vorschriften der Straßenverkehrsordnung und Grundsätze, welche die Rechtsprechung durch Auslegung dieser Rechtsnormen und bei näherer Bestimmung der i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 Abs. 1 Satz 2 B G B ) entwickelt hat. Wer diese Sorgfalt beachtet, handelt nicht i m Widerspruch zu rechtlichen Geboten; entsteht aus solchem Verhalten Dritten gleichwohl ein Schaden, dann haftet er folglich nicht nach Vorschriften, die ein „rechtswidriges" Verhalten voraussetzen — möglicherweise aber nach Regeln, welche die Risikoverteilung nicht an ein verbotenes Handeln knüpfen 1 2 .

ίο K. Engisch, Die Kausalität als Merkmal strafrechtlicher Tatbestände, 1931, S. 59,

61.

u RGZ 152, 401; 169, 91. 12 Dazu oben Kap. 29 II.

Kapitel

31

Die Rechtswidrigkeit von Handlung und Erfolg I n der traditionellen Strafrechtsdogmatik herrschte die Meinung, rechtswidrig sei der Gesamtvorgang, der beim T u n oder Unterlassen beginnt und beim tatbestandlichen Erfolg endet. Diese Auffassung war oft schon durch den Handlungsbegriff präjudiziert. So umfaßte bei v. Liszt / Schmidt der Begriff der „Handlung" auch die Veränderung in der Außenwelt, bei den Straftaten also den tatbestandlichen Erfolg, der mit der Handlung in Kausalzusammenhang steht. 1 Die Rechtswidrigkeit erschien als ein Merkmal dieses gesamten Vorganges. 2 Ä h n l i c h baute Mezger sein Strafrechtssystem auf. A u c h hier wurde das Unrechtsurteil über das Verhalten und den hierdurch verursachten Erfolg gefällt. 3 Selbst für Welzel waren die Kausalität und die tatbestandliche Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung Teilmomente der rechtswidrigen Handlung. 4

I . Rechtswidrigkeit als Widerspruch zu einem rechtlichen Gebot 1. „Rechtswidrigkeit"

ein mehrdeutiger

Begriff

Was Gegenstand des Unrechtsurteils sein kann, hängt davon ab, was man unter Rechtswidrigkeit versteht. Bezeichnet man als rechtswidrig das, worauf man kein Anrecht hat 5 , kann rechtswidrig auch ein Vermögens vorteil (§ 263 StGB) sein 6 . Nennt man rechtswidrig einen Vorgang, zu dessen Duldung man nicht verpflichtet ist 7 , so kann „rechtswidrig" i n diesem Sinne auch der A n g r i f f eines Tieres 8 sein (§ 53 — j e t z t § 32 — StGB). Wieder etwas anderes ist gemeint, wenn man als rechtswidrig das bezeichnet, was objektiven Geboten zuwiderläuft. ι F. v. Liszt IE. Schmidt, Strafrecht I, 26. Aufl. 1932, S. 154, 157 f. 2 v. Liszt I Schmidt (Fn. 1), S. 144, 174. 3 E. Mezger, Strafrecht, Lehrbuch, 3. Aufl. 1933, S. 89, 95; ders., Kurzlehrbuch I, 7. Aufl. 1957, S. 43, 47. 4 H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 6. Aufl. 1958, S. 40, 56 f. 5 RGStr. 5, 352; 26, 354; 44, 203. 6 Vgl. E. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 170. 7 R. Frank, Strafgesetzbuch, 18. Aufl. 1931, § 53,1; H. Jagusch, in: Leipziger Kommentar Bd. I, 8. Aufl. 1957, § 53,2 f; A. Schönke / H. Schröder, Strafgesetzbuch, 8. Aufl. 1957, §53,112; Mezger (Fn. 3), Kurzlehrbuch, S. 115; vgl. auch v. Liszt / Schmidt (Fn. 1), S. 195 Anm. 5. s Jagusch (Fn. 7), § 53, 2 b.

I. Rechtswidrigkeit als Widerspruch zu einem rechtlichen Gebot

361

M a g sein, daß sich zu diesen verschiedenen Bedeutungen der Rechtswidrigkeit ein Oberbegriff finden und dessen Daseinsberechtigung nachweisen läßt. Das enthebt aber nicht der Notwendigkeit, den Begriff der Rechtswidrigkeit da, wo er i n einem spezifischen Sinn verwendet wird, i n seiner Bedeutung scharf zu erfassen und richtig anzuwenden.

2. Der Verstoß gegen ein Gebot als allgemeines

Deliktsmerkmal

Hier soll als „rechtswidrig" bezeichnet werden, was i n Widerspruch zu einem rechtlichen Gebot steht, nach welchem etwas geschehen oder unterbleiben soll. Dieser Begriff der Rechtswidrigkeit hat i n der allgemeinen Deliktslehre eine zentrale Bedeutung: M a n macht sich nur strafbar, wenn man etwas Verbotenes tut oder etwas Gebotenes unterläßt. Häufig, insbesondere immer bei den „unerlaubten" Handlungen, knüpft auch die Schadensersatzpflicht daran an, daß man einem rechtlichen Gebot zuwiderhandelt. Die Frage nach den rechtlichen Geboten, die i n den gesetzlichen Tatbeständen enthalten oder von ihnen vorausgesetzt sind, hat einst Bindings Normentheorie in den Vordergrund gerückt. I m Anschluß an Binding bezeichnet man den Verstoß gegen diese Gebote als Rechtswidrigkeit und verwendet die „Rechtswidrigkeit" i n dieser Bedeutung als systematischen Grundbegriff des Deliktsrechts. 9 Dabei werden die Gebote als objektive Gebote und nicht (wie von der subjektiven Unrechtslehre 1 0 ) als aktueller Bewußtseinsinhalt verstanden. Gebote — d. h. Normen, die fordern, daß etwas geschehen oder nicht geschehen soll — kann man auch als objektive Bestimmungsnormen (nicht zu verwechseln m i t den subjektiven Bestimmungsnormen der subjektiven Unrechtslehre) bezeichnen. A l s solche sind sie zugleich objektive Bewertungsnormen: Was geboten wird, w i r d damit gutgeheißen und dem Verbotenen w i r d ein Unwert beigelegt. 1 1 Wesentlich ist aber: Sie beschreiben nicht, sondern schreiben v o r . 1 2 Oft verweilt die richterliche Erwägung bei der Frage, was geboten, erlaubt oder verboten ist. Bei Auslegung des § 230 StGB kam sie ζ. B. zu dem Ergebnis, ein Hauseigentümer brauche nicht ständig, solange Schnee auf dem Hausdach liegt, durch Forträumen des Schnees oder durch Absperren des Bürgersteigs dafür zu sorgen, daß durch Herabfallen des Schnees kein Passant verletzt w i r d . 1 3 9 Frank (Fn. 7), S. 1; v. Liszt /Schmidt (Fn. 1), S. 106, 174; E. Kohlrausch /R. Lange, Strafgesetzbuch, 41. Aufl. 1956, S. 10. 10 Vgl. insbesondere A. Hold v. Ferneck, Die Rechtswidrigkeit I, 1903. Auch die Bindingsche Lehre von der „Normadresse" wird nicht geteilt (vgl. Κ Binding, Die Normen und ihre Übertretung I, 3. Aufl. 1916, S. 45; ders., Handbuch des Strafrechts I, 1885, S. 158 f.; Kritik: A. Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, 1878, S. 92 ff.). 11 E. Husserl, Logische Untersuchungen I, 4. Aufl. 1928, S. 41. 12 Dazu oben Kap. 13 I 1. 13 RG in DR 1942, 1759.

362

Kap. 31 : Die Rechtswidrigkeit von Handlung und Erfolg

Die Regel, die das Gericht hier — bei Auslegung des Fahrlässigkeitsbegriffs — aufgezeigt hat, gibt an, was jedem i n einer vergleichbaren Lage durch diese Strafrechtsnorm geboten oder nicht geboten, welches Verhalten also rechtmäßig und welches rechtswidrig i s t 1 4 . Diese Entscheidung tritt hier als Schritt i n der strafrechtlichen Gesamtwürdigung der Tat hervor. U m die Frage, was erlaubt oder verboten ist, geht es auch dann, wenn zu entscheiden ist, ob eine Handlung durch einen besonderen Grund — etw£ durçh Notwehr — gerechtfertigt ist. Die Frage nach dem normwidrigen Verhalten schält sich deutlich auch bei den „unechten Unterlassungsdelikten" heraus: Rechtswidrig i m Sinne des § 212 StGB verhält sich nicht jeder, der den T o d eines anderen hätte abwenden können, sondern nur, wer eine Handlung unterläßt, die ihm durch diese N o r m geboten war, u m den Erfolg abzuwenden. Bestraft w i r d er nach dieser Bestimmung aber nur dann, wenn die gebotene Handlung den Erfolg abgewendet hätte. 1 5 Es stellen sich also zwei verschiedene Fragen: ob jemand das durch die N o r m Gebotene unterlassen hat und ob das gebotene Handeln den Erfolg abgewendet hätte — zuerst die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Unterlassens, dann die Frage nach dessen Ursächlichkeit. Kurz, wegen eines unechten Unterlassungsdeliktes w i r d jemand bestraft, wenn man die i h m gebotene Handlung nicht hinzudenken kann, ohne daß der Erfolg entfiele.

I I . Das Verhalten als Gegenstand des Unrechtsurteils Rechtswidrig in dem hier umschriebenen Sinn kann nur sein, was gegen Gebote verstoßen kann. I m Widerspruch zu diesen kann aber nur das menschliche Verhalten stehen. 1 6 Die Unrechtsmerkmale einer Tat — als Merkmale des verbotenen Vorganges — sind daher schon i m Augenblick des Verhaltens festgelegt. Der Kausalablauf, der sich an das Verhalten anschließt, und ein dadurch ausgelöster Erfolg gehören deshalb nicht mehr zu dem verbotenen (und in diesem Sinne „rechtswidrigen") Vorgang: Rechtswidrig (= verboten) ist nur, daß jemand auf einen anderen schießt, aber nicht, daß die Kugel den anderen trifft, auch nicht, daß der andere verblutet und stirbt. A u c h die Schuldfrage konzentriert sich auf das Verhalten: Es ist das „ T u n oder Unterlassen. . ., das einen V o r w u r f gegen den Täter begründet". 1 7 Es bedeutet kein Bekenntnis zur subjektiven Unrechtslehre, zu sagen: Ein Gebot könne nur dadurch wirksam werden, daß es jemandem ins Bewußtsein tritt und er das von i h m erfaßte Gebot befolgt. Die subjektive Unrechtslehre h Welzel (Fn. 4), S. 113 m. Nachw. 15 Mezger (Fn. 3), Kurzlehrbuch, S. 74, 76 f. 16 Dazu oben Kap. 301 im Anschluß an R. Zippelius, NJW 1954, S. 1837. π BGH in VRS 5, 284 = Lindenmaier / Möhring Nr. 16 zu § 222 StGB; BGH, in: NJW 1958, S. 149.

III. Die Erfolgsbezogenheit der Verhaltensnormen

363

faßte Gebote als aktuelle Bewußtseinsinhalte, als psychische Motive, auf. 1 8 So war für sie „das Recht nicht etwas, was neben den Menschen besteht. . . , es ist psychologischer Natur und nur i n den Köpfen der Menschen gegeben". 1 9 Folgerichtig mußte sie auch für die Frage, was dem Recht zuwider sei, auf die „psychologische Natur" des Rechts hinweisen, das eben nur als M o t i v i m Verpflichteten angesehen w u r d e . 2 0 Pflichtwidrig handelte man also nach dieser Lehre, wenn die individuellen M o t i v e i m Kampfe mit dem v o m Recht gegebenen M o t i v die Oberhand behielten. 2 1 Die Frage, auf welchem Wege ein Gebot überhaupt wirksam werden kann, ist aber auch für die objektive Unrechtslehre sinnvoll. Diese geht davon aus, daß das Gebot selber nicht psychologischer Natur ist, daß es nicht aktuelle Vorstellung, sondern dem Bewußtsein als möglicher Bewußtseinsinhalt vorgegeben ist. Sie faßt somit Gebote als Gegenstände („Objekte") des Bewußtseins auf. Das objektive Gebot besteht also für den Einzelnen auch dann, wenn es ihm noch nicht „ z u m Bewußtsein gekommen", noch nicht Inhalt seiner Bewußtseinsakte — und i n diesem Sinne für ihn noch nicht „aktuell" — geworden i s t . 2 2 Wenn gesagt wird, ein objektives Gebot könne nur dadurch wirksam werden, daß es einem Menschen ins Bewußtsein trete und er das von ihm erfaßte Gebot durch T u n oder Unterlassen befolge, so ist damit auch nicht behauptet, daß jemand nur dann rechtswidrig handle, wenn i h m das Gebot i m Einzelfall vor Augen gestanden habe. Sondern es ist damit die prinzipielle Wirkungsmöglichkeit objektiver Gebote dargelegt. E i n objektives Gebot ist nur dann sinnvoll, wenn es sich i m Rahmen dieser prinzipiellen Wirkungsmöglichkeit hält. Sinnlos wäre also ein objektives Gebot, das etwa bestimmen würde: „ W i r d ein Stein gegen eine Fensterscheibe geworfen, so soll er sie nicht treffen". Denn es kann nicht auf den Kausalablauf einwirken, der an die Handlung anschließt. Sinnvoll ist es, wenn es sagt: „ M a n soll nicht mit Steinen auf Fensterscheiben werfen".

I I I . Die Erfolgsbezogenheit der Verhaltensnormen Noch einen anderen Einwand gilt es abzuwehren: Das Deliktsrecht ist eine Schutzordnung für Lebensgüter. 2 3 Die Gebote und Verbote des Deliktsrechts sollen Rechtsgüter schützen. Diese „Erfolgsbezogenheit" geht nicht verloren, wenn man das Verhalten zum Gegenstand der Gebote und zum Gegenstand des

ι» Vgl. Holdv. Ferneck (Fn. 10), S. 12. 19 Holdv. Ferneck (Fn. 10), S. 98. 20 Holdv. Ferneck (Fn. 10), S. 374. 21 Holdv. Ferneck (Fn. 10), S. 281 f. 22 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §4111. Nachträgliche Einfügung. 23 F. v. Liszt, in: Ztschr. f. d. ges. Strafrechtswissenschaft 6 (1886), 673; v. Liszt/ Schmidt (Fn. 1), S. 4.

364

Kap. 31 : Die Rechtswidrigkeit von Handlung und Erfolg

Unrechtsurteils erklärt. Denn dadurch w i r d ein Erfolg, auf den sich eine W i l lensbetätigung richtet, oder ein Gut, für das sie gefährlich ist, für die Bestimmung des Unrechts nicht belanglos. Aber für diese sind sie nur insoweit von Bedeutung, als sie die Eigenart der Handlung selbst (ζ. B. ihre Gefährlichkeit oder ihre Intention) bestimmen. Welches Verhalten die in den Deliktstatbeständen enthaltenen Normen verbieten — das auf einen Erfolg gerichtete (finale), das objektiv unvorsichtige oder das für ein bestimmtes Rechtsgut gefährliche Handeln — w i r d man verschieden beantworten, je nachdem, ob man es m i t einem vorsätzlichen oder fahrlässigen Delikt zu tun hat und ob man sich der finalen Handlungslehre oder der Relevanztheorie anschließt. Welches Verhalten i m einzelnen verboten ist, insbesondere auch das Problem, wie die objektive Unvorsichtigkeit oder Gefährlichkeit 2 4 der Handlung näher zu präzisieren ist, ist logisch eine sekundäre Frage. Hier soll lediglich festgehalten werden, daß nur das Verhalten Gegenstand des Unrechtsurteils sein kann. M a n kommt auch nur dann zu einer praktikablen Lebensordnung, wenn man die Gebote und Verbote am Verhalten orientiert und von hier aus den Erfolgsbezug bestimmt. Je nach der Theorie, der man sich anschließt, kann man also verbieten: eine Handlung vorzunehmen, die auf den Tod eines anderen Menschen gerichtet ist; oder eine Handlung, die das Leben anderer Menschen gefährdet; oder bei seinen Handlungen die Sorgfalt außer acht zu lassen, die nach verständigem Urteil zur Wahrung fremden Lebens erforderlich ist. Gebote sind nur dann eine sinnvolle Richtschnur, wenn man i m Augenblick des Handelns erkennen kann, ob man ihnen zuwiderhandelt. Der Satz „rechtswidrig (= verboten) ist es, eine Bedingung für den T o d eines anderen Menschen zu setzen", ist kein sinnvolles Gebot, weil man seine Handlungen nicht danach ausrichten kann; denn kein Mensch kann wissen, ob nicht irgendeine gewöhnliche Handlung eine Bedingung zu einem tatbestandlichen Erfolg ist, weder der Eisenbahnbeamte, der eine Fahrkarte verkauft, noch der Kaufmann, der eine Schachtel Streichhölzer abgibt. Wollte man zuverlässig vermeiden, rechtswidrig in diesem Sinne zu handeln, dann dürfte man kaum eine Lebensregung wagen.

I V . Die Einordnung des tatsächlichen Erfolgseintrittes Schließlich könnte man noch einwenden, das Tötungsverbot laute eben: „ D u sollst nicht töten". Einen Menschen habe man aber nur dann getötet, wenn der Erfolg eingetreten sei. Deshalb sei das Tötungsverbot erst dann übertreten, wenn das Opfer tot sei. Wer so argumentiert, erliegt der Tücke der Sprache. Worte wie „töten", „beschädigen", „verletzen" umfassen in ihrer Bedeutung ein Handeln und den Erfolg. „ E r hat getötet, verletzt, beschädigt" bedeutet, „er hat durch sein 24 Zur Frage, von welchen Standpunkten aus die Gefährlichkeit ermittelt werden kann, vgl. die verschiedenen Varianten der Adaequanztheorie bei Mezger (Fn. 3), Lehrbuch, S. 117 ff.

V. Zusammenfassung

365

Handeln den Erfolg bewirkt". Für das bloße T u n fehlt es an einem treffenden Ausdruck. Deshalb dient zur Bezeichnung des verbotenen Tuns ein Wort, welches das Tun zwar m i t einschließt, aber in seiner Bedeutung noch mehr umgreift. Stünde das W o r t i n einem bloßen Verbot, so würde es aber nur das Verhalten bezeichnen, w e i l man gar nichts anderes gebieten oder verbieten kann. Wer auf einen anderen Menschen m i t Tötungswillen schießt und ihn nicht trifft, verstößt gegen dasselbe Verbot, wie jemand, der schießt und trifft: Beide haben dadurch, daß sie auf einen anderen Menschen geschossen haben, gegen das gleiche Verbot gehandelt, das lautet: „ D u sollst nicht töten" (d. h. keine Tötungshandlung vornehmen). Einem anderen ein Schlafmittel i n den W e i n zu schütten, u m ihn der Bewegungsfreiheit zu berauben, ist von Anfang an nach § 239 StGB verboten. Es w i r d nicht erst nachträglich dadurch verboten, daß der andere den W e i n trinkt und in den Schlaf sinkt. Das Trinken und das Schlafen gehören nicht zu dem verbotenen Vorgang. W o h l aber w i r d der Täter erst dann nach § 212 StGB strafbar, wenn der — hier durch das Wort „töten" mitbezeichnete — Erfolg eintritt; wegen eines vollendeten Erfolgsdeliktes wird nur bestraft, wenn das verbotene (!) und schuldhafte Handeln nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele. Der Aufbau des Deliktes ist hier also nicht anders, als beim unechten Unterlassungsdelikt (s. ο. I 2). Die Gesamtwürdigung, daß ein Delikt vorliegt, das zu bestrafen ist oder zur Wiedergutmachung verpflichtet, ist eine komplexe Wertung. Sie schließt mehrere Urteile ein: das Urteil, daß der Täter etwas generell Verbotenes getan hat (Unrecht), und i m Strafrecht das Urteil, daß i h m dies vorzuwerfen ist (Schuld). Das Gesetz kann darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen aufstellen: Das strafrechtliche Sühnebedürfnis kann durch den tatsächlichen Eintritt der Folgen des Verhaltens entstehen oder verstärkt werden. Eine zivilrechtliche Schadensersatzpflicht setzt voraus, daß ein Schaden entstanden ist. Diese Folgen des Handelns sind aber Tatbestandsmerkmale, die außerhalb des rechtswidrigen Vorganges liegen. 2 5

V . Zusammenfassung 1. Gegenstand von objektiven Geboten kann nur das Verhalten sein. Versteht man unter Rechtswidrigkeit den Widerspruch zu solchen objektiven Geboten, so kann auch rechtswidrig nur das Verhalten sein. 2. Bei den Erfolgsdelikten ist der tatsächliche Eintritt des tatbestandlichen Erfolges ein Tatumstand, der außerhalb des verbotenen Verhaltens liegt, auf den sich aber i m Augenblick des Handelns der Vorsatz richten oder die Fahrlässigkeit beziehen muß. 25 Zum Sinn solcher Tatbestandsmerkmale siehe oben Kap. 29 I.

366

Kap. 31 : Die Rechtswidrigkeit von Handlung und Erfolg

3. Wegen eines vollendeten Erfolgsdelikts kann man nur bestrafen, wenn man die verbotene (!) und schuldhafte Handlung nicht hinwegdenken kann, ohne daß der Erfolg entfiele, oder wenn man die gebotene (!) und schuldhaft unterlassene Handlung nicht hinzudenken kann, ohne daß der Erfolg entfiele. 4. A u c h für die Schadensersatzpflicht aus unerlaubter Handlung genügt nicht die bloße Kausalität eines Verhaltens, sondern es muß ein verbotenes Verhalten den Schaden verursacht haben (Die herkömmliche Adäquanztheorie verbirgt eine solche Unrechtskomponente, die zum Verhalten gehört, i m Kausalitätsbegriff).

Kapitel

32

Zum Problem der Willensfreiheit Darf ich ausführen, was ich will? ist die Frage der rechtlichen und der moralischen Freiheit. 1 Kann ich ausführen, was ich w i l l ? ist die Frage der Handlungsund Realisierungsfreiheit. Habe ich einen Spielraum, frei zu wählen, was ich wollen werde? ist die Frage der Willensfreiheit. Nur mit ihr befassen sich die folgenden Überlegungen. Die Willensfreiheit spielt i m Recht vor allem dort eine Rolle, wo dieses an persönliche Verantwortlichkeit anknüpft, besonders also i m Strafrecht. Strafe i m herkömmlichen Sinn setzt Vorwerfbarkeit voraus, die n u r 1 besteht; wenn man anders handeln konnte als man gehandelt hat. 2 Gäbe es keinen Spielraum, sich zwischen verschiedenen Möglichkeiten und M o t i v e n frei zu entscheiden, wäre also das menschliche Verhalten kausalgesetzlich oder durch Motivation lückenlos und streng determiniert, dann bliebe für einen Schuldvorwurf ebensowenig Raum wie für persönliche Reue und Vergeltung. Jemanden für sein Handeln zu bestrafen, wäre dann ebenso ungereimt, wie wenn man ihn etwa für eine Erbkrankheit bestrafen wollte. Für eine deterministische Theorie, die der Strafe keine Vergeltungsfunktion zuschreiben kann, wäre „Strafrecht" also nur als Präventionsrecht möglich. Androhung und Vollzug von „Strafe" könnten dann freilich immer noch die Funktion haben, künftiges Handeln zu motivieren (Theorie des psychischen Zwanges). 3 Eine solche Theorie verstünde die Voraussetzungen der Zurechnungsfähigkeit — also die Erreichung eines bestimmten Lebensalters, das Fehlen von Geisteskrankheit usw. — als bloße Bedingungen „normaler" Motivierbarkeit. 4 Den Maßstab der „Normalität" gäbe hierbei die überwiegende Zahl erwachsener Menschen ab. Kurz, ohne Entscheidungsfreiheit und Schuld wäre ein solches „Strafrecht" allemal ein bloßes Maßnahmerecht. 5 Die Freiheit, zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten aus eigener geistiger Initiative zu wählen, könnte aus zwei Gründen ausgeschlossen sein: 1

Zur Wechselbezüglichkeit dieser Freiheiten siehe oben Kap. 23 12, 24 I I 3. 2 Dazu oben Kap. 29 I. 3 P. A. v. Feuerbach, Revision der Grundsätze und Begriffe des positiven peinlichen Rechts, Tl. II, 1800, S. 94 ff., 110 f., 138 f. 4 Vgl. E. Dreher, Die Willensfreiheit, 1987, S. 50 f. 5 Folgerichtig F. v. Liszt, Strafrechtl. Aufsätze, Bd. 2, 1905, S. 52; Dreher (Fn. 4), S. 18 ff.

368

Kap. 32: Zum Problem der Willensfreiheit

zum einen dadurch, daß alles reale Geschehen lückenlos und i n strenger Geltung des Kausalgesetzes durch natürliche Ursachen bewirkt würde; zum andern dadurch, daß — ohne Rücksicht auf naturgesetzliche Kausalitäten — das Handeln durch eine unentrinnbare Gesetzlichkeit der subjektiv erlebten Motivation determiniert wäre. I . Das Problem des naturgesetzlichen Determinismus Die erstgenannte Frage des Kausaldeterminismus betrifft nicht nur die Schuldfrage, sondern hat noch eine grundsätzlichere Bedeutung für das Recht: Wenn alles reale Geschehen streng und lückenlos nach Naturgesetzen determiniert wäre, dann wäre es eine bloße Illusion, durch Rechtsnormen, d. h. verhaltensleitende Sinngehalte, etwas steuern zu wollen, das Recht wäre dann nur Schall und Rauch. Rechtliche Gebote haben überhaupt nur dann eine Funktion, wenn das Gebotene nicht schon kausalgesetzlich determiniert ist. Sie haben ihre praktische Bedeutung gerade darin, daß sie etwas fordern, was nicht ohnehin real notwendig geschieht. Eine Gebotsnorm steht also „unter einem Gesetz des unzureichenden Grundes. I n ihr eben ist das gefordert, was seinen zureichenden Grund nicht hat." Das Sollen und der es verwirklichende W i l l e können sinnvoll nur dort „einsetzen, w o die Bedingungsketten noch unvollständig sind". 6 Ohne solche Einwirkungsmöglichkeiten wäre das Recht nur eine belanglose Begleiterscheinung unabänderlicher Kausalprozesse. Popper nannte diese Vorstellung „den Alptraum des physikalischen Deterministen": Hiernach könnten „alle unsere Gedanken, Gefühle und Anstrengungen keinen praktischen Einfluß darauf haben, was in der physikalischen W e l t geschieht: sie sind, wenn nicht bloße Einbildungen, bestenfalls überflüssige Nebenprodukte („Epiphänomene") der physikalischen Ereignisse". 7

1. Apriorische

Geltung des Kausalgesetzes?

Kant nahm an, daß die Kategorie der Kausalität a priori für alle Erscheinungen gelte, daß sie Bedingung jeder möglichen Erfahrung sei. A u c h menschliche Handlungen, als wahrnehmbare Erscheinungen betrachtet, stünden dann unter dem strengen Gesetz von Ursache und Wirkung. Aus dieser Sicht könnte es keine Willensfreiheit geben; denn wie sollte ein Einbruch in das Gefüge der Kausalitäten möglich sein? M a n hat zwar erwogen, ob sich diese Frage nicht doch i m Sinne Kants lösen lasse, indem man annahm, der Kausalzusammenhang könne zwar nicht abbrechen, aber er könne zusätzliche Determinanten aus dem Bereich des Sollens und der Willensentscheidung aufnehmen. Der Kausalzusammenhang könne also durch eine neu anhebende Kausalreihe — durch eine möglicherweise vom Sollen 6 N. Hartmann, Möglichkeit und Wirklichkeit, 2. Aufl. 1949, Kap. 33 d. 7 K. R. Popper, Objektive Erkenntnis, dt. 1973, S. 242.

I. Das Problem des naturgesetzlichen Determinismus

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motivierte Willensentscheidung — eine zusätzliche Determination erfahren. I n die natürlichen Kausalzusammenhänge könne also aus einer anderen Schicht eine neu beginnende Determinante hineinwirken. Hierdurch sei Freiheit i m positiven Verstände möglich. 8 Wenn aber w i r k l i c h alle Erscheinungen a priori unter der Kategorie der Kausalität stehen, dann ist nicht nur das Abbrechen einer begonnenen Kausalität, sondern auch das Hinzutreten einer neu beginnenden Kausalreihe unmöglich; dann hat nicht nur jede Ursache eine Wirkung, sondern auch jede W i r k u n g ein sie vollständig determinierendes Bündel von Ursachenketten. Es ist dann nicht einzusehen, wie der Neubeginn einer Kausalreihe und damit eine Überdetermination der vorhandenen Kausalprozesse möglich sein soll. Kant war hier v ö l l i g konsequent: Es „sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkür bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten. In Ansehung dieses empirischen Charakters gibt es also keine Freiheit". 9 N u r die Annahme, daß sich hinter den Erscheinungen ein unerkennbares D i n g an sich verberge, macht i h m die Freiheit zwar nicht erkennbar, aber doch wenigstens denkbar. Wenn ich den Menschen nicht als Erscheinung, nicht als Phänomenon betrachte, sondern ihn als D i n g an sich, als Noumenon denke, kann ich ihn als frei vorstellen. „Nach seinem empirischen Charakter würde also dieses Subjekt, als Erscheinung, allen Gesetzen der Bestimmung nach, der Kausalverbindung unterworfen sein, und es wäre sofern nichts als ein Teil der Sinnenwelt, dessen Wirkungen, so wie jede andere Erscheinung, aus der Natur unausbleiblich abflössen . . . Nach dem intelligibelen Charakter desselben aber (ob wir zwar davon nichts als bloß den allgemeinen Begriff desselben haben können) würde dasselbe Subjekt dennoch von allem Einflüsse der Sinnlichkeit und Bestimmung durch Erscheinungen freigesprochen werden müssen". 10 Das ist also der Schlüssel zu dem bekannten Satz: „Man kann also einräumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wirkende äußere Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, und dennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei." 1 1 8 N. Hartmann, Ethik, 1925, Kap. 68; ähnlich, aber ohne Voraussetzung des Kantschen Apriorismus: K. R. Popper, J. C. Eccles, Das Ich und sein Gehirn, dt. 2. Aufl. 1982, S. 640 ff. 9 /. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, S. 577 f. 10 Kant (Fn. 9), S. 568 f. u /. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 1788, S. 177 f.

24 Zippelius

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Kap. 32: Zum Problem der Willensfreiheit

Fraglich bleibt, wie unter diesen Voraussetzungen Freiheit — als wirkende Freiheit — überhaupt denkbar sei. K a n t 1 2 meinte, man könne eben die Kausalität eines Subjekts „auf zwei Seiten betrachten, als intelligibel nach ihrer Handlung, als eines Dinges an sich selbst, und als sensibel nach den Wirkungen derselben, als einer Erscheinung i n der Sinnenwelt". W i e freilich die Kausalität eines „ D i n ges an sich" zu begreifen sei, wie die Handlung des Subjekts, als D i n g an sich gedacht, zur Erscheinung werde, wie also der „Freiheit Realität verschafft" und aus Freiheit ein der Erfahrungswelt zugehöriges Ergebnis bewirkt werde: all das w i r d von der Kantschen Erkenntnistheorie her nicht einsichtig. Undurchsichtig bleibt es auch, wie ein streng determinierter Kausalprozeß der Erscheinungswelt und eine als frei vorgestellte Handlung auf ein und dasselbe empirische Ergebnis hinauslaufen können. 2. Bloß empirische

Geltung des Kausalgesetzes?

Nach der Erkenntnistheorie Kants werden die Zusammenhänge in unserer Erfahrungswelt durch das erkennende Bewußtsein selbst hergestellt; unter dieser Voraussetzung beherrschen sie a priori, notwendig und lückenlos die gesamte W e l t der wahrnehmbaren Erscheinungen, so daß auch jede wahrnehmbare Handlung streng und lückenlos determiniert sein müßte. Diese Erkenntnistheorie ist aber nicht die einzig denkbare. Ihr kann man die Ansicht gegenüberstellen, daß unsere Erfahrungswelt ihre Zusammenhänge nicht durch ein konstitutives Bewußtsein erhält, sondern daß sie vorgegebene Strukturen aufweist, die unser Bewußtsein lediglich wahrnimmt. Unter dieser Voraussetzung besäßen w i r hinsichtlich dieser Strukturen nur ein Erfahrungswissen, nicht aber wären sie uns m i t apriorischer Notwendigkeit gewiß. 1 3 Kurz, das Kausalgesetz hätte dann nur eine empirische Geltung. Sein — einstweiliger — Geltungsbereich würde unter dieser Voraussetzung nur so weit reichen, wie die Annahme strenger Kausalitäten durch nachvollziehbare Erfahrung bestätigt wird. Gegen die Annahme strenger und lückenloser Determiniertheit des menschlichen Handelns und damit letztlich auch gegen die Erkenntnistheorie Kants hat schon der gescheite Lichtenberg ins Feld geführt: „Wir wissen mit weit mehr Deutlichkeit, daß unser Wille frei ist, als daß alles, was geschieht, eine Ursache haben müsse. Könnte man also nicht einmal das Argument umkehren und sagen: Unsere Begriffe von Ursache und Wirkung müssen sehr unrichtig sein, weil unser Wille nicht frei sein könnte, wenn die Vorstellung richtig wäre?" 14

12 Kant (Fn. 9), S. 566. 13 W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 6. Aufl. 1978, S. 357 f. h G. Ch. Lichtenberg, Sudelbücher, Heft J Nr. 790.

I. Das Problem des naturgesetzlichen Determinismus

371

Setzt man also voraus, daß das Kausalgesetz nur eine empirische Geltung habe, so wäre Willensfreiheit nur dann ausgeschlossen, wenn der empirische Beweis strenger Determiniertheit menschlichen Handelns geführt würde, etwa durch neurophysiologische Untersuchungen, die nachwiesen, daß das Gehirn wie ein Computer arbeite, und daß die Entscheidungen eines Menschen durch chemische und physikalische Prozesse zwangsläufig herbeigeführt würden und daher so berechenbar seien, wie eine „ M o n d - oder Sonnenfinsternis" — mag auch der Mensch diese Entscheidungen subjektiv als frei getroffen empfinden. Wer die naturgesetzliche Determiniertheit des Handelns empirisch beweisen w i l l , hat aber die Beweislast für verschiedene Vorgänge: Er muß die Wirksamkeit von Sinngehalten aus ihren naturgesetzlichen Begleitvorgängen erklären. So wäre ζ. B. durch physikalische und chemische Kausalzusammenhänge einsichtig zu machen, warum so unterschiedliche optische oder akustische Reize geschriebener oder gesprochener Worte wie: „Schließe die T ü r ! " , „Shut the door!" und unvorhersehbar viele Kombinationen von Wörtern, die den gleichen Sinn ausdrücken, die gleiche Handlung auslösen. N u n kann man sich etwa an Hand von Sprachübersetzungs- oder Schachcomputern verdeutlichen, daß ζ. B. Sprach- oder Spielregeln — d. h. Regeln für nichtkausale, sinnvolle Verknüpfungen — durch Computer darstellbar sind und daß m i t diesen Regeln operiert werden kann. A l l dies geschieht auf der Basis und m i t Hilfe der i m Computer ablaufenden Kausalprozesse. Kurz, auch sinnverhaftete Regeln sind als „software" auf kausale Weise m i t den i m Basissystem ablaufenden Kausalprozessen verknüpfbar. 1 5 Der Vertreter eines Kausaldeterminismus hätte darüber hinaus nachzuweisen, wie auf physikalisch-chemische Weise aus einer unübersehbaren Vielfalt physikalisch-chemischer Vorgänge i m Gehirn die Synthesen einer persönlichen Vorstellungswelt, 1 6 das Bewußtsein der Einheit der Persönlichkeit 1 7 und überhaupt das Bewußtsein seiner selbst entstehen. Nicht zuletzt muß der naturwissenschaftliche Determinist sich damit auseinandersetzen, daß das Bewußtsein über eine kreative Einbildungskraft verfügt. Durch sie kann es künftiges Handeln planen und zu diesem Zweck Modelle künftiger Ereignisse entwerfen und gegeneinander abwägen. Diese gedanklichen Entwürfe können auf die Entscheidungen zurückwirken und das Handeln leiten. 1 8 Der 15 Ähnlich F. Seiteiberger, Neurobiologische Grundlagen der menschlichen Freiheit, in: W. Böhme, Mensch und Kosmos, 1981, S. 36. 16 Vgl. / . C. Eccles, in: Popper / Eccles (Fn. 8), S. 436, 449, 559, 604 f.; daß auch Eccles das Leib-Seele-Problem nicht überzeugend zu lösen vermochte, ist verschiedentlich bemerkt worden, vgl. Dreher (Fn. 4), S. 312 ff. π Vgl. K. Popper, in: Popper / Eccles (Fn. 8), S. 156, 583. ι 8 Vgl. Seiteiberger (Fn. 15), S. 35 ff.; vgl. auch dens., Neue Aspekte und Erkenntnisse der Gehimforschung: Freiheit und Verantwortung des Menschen, Universitas 1980, S. 687: „Die Freiheit liegt . . . nicht so sehr in der letztlichen Wahl einer von mehreren 24*

372

Kap. 32: Zum Problem der Willensfreiheit

Determinist müßte dartun, daß auch diese Leistungen kreativer Einbildungskraft nur die subjektiven Erscheinungsformen (die psychisch erlebte „Innenansicht") notwendig ablaufender physikalisch-chemischer Kausalitäten sind.

I I . Das Problem des Motivationsdeterminismus M a n kann die Frage des Determinismus aber auch m i t B l i c k auf die Bewußtseinsinhalte selbst stellen und die Frage der zugrundeliegenden physikalischchemischen Gehirnvorgänge offen lassen: U m die Entscheidungsfreiheit auszuschließen, würde es genügen, wenn datf Handeln durch eine unentrinnbare Gesetzlichkeit der subjektiv erlebten Motivation vorherbestimmt wäre. M a n könnte also annehmen, ein Willensentschluß sei, wenn schon nicht durch naturgesetzliche Kausalitäten, so doch durch Gefühle und Vorstellungen vollständig determiniert, er gehe gleichsam als Resultante aus dem Kräfteparallelogramm der gerade wirksamen M o t i v e hervor, so daß aus gleichen M o t i v e n unter gleichen Umständen notwendig immer der gleiche Entschluß folge. 1 9 Das Freiheitsbewußtsein wäre dann nur die — nicht realisierbare — Vorstellung anderer Handlungsmöglichkeiten, etwa i m Sinne der Äußerung Hoches: „Das Freiheitsbewußtsein verwechselt fortwährend die Vorstellung der Möglichkeit mit der Wirklichkeit; die Tatsache, daß eine andere Willensentscheidung denkbar gewesen wäre, w i r d i h m zu der Sicherheit, daß sie dem Individuum i m gleichen Maße möglich gewesen w ä r e . " 2 0 Schon Schopenhauer hatte j a geschrieben, der Mensch habe „eine vollkommene Wahlentscheidung vor dem Thiere voraus, welche auch oft für eine Freiheit des Willens in den einzelnen Thaten angesehen worden, obwohl sie nichts Anderes ist, als die Möglichkeit eines ganz durchgekämpften Konflikts zwischen mehreren Motiven, davon das stärkere ihn dann m i t Nothwendigkeit bestimmt." 2 1 Die Annahme einer strikten Verursachung des Handelns durch Gefühle und Vorstellungen überträgt jedoch die Unausweichlichkeit der Determination, wie sie i n der Außenwelt — zwischen einer beobachtbaren physikalischen oder chemischen Ursache und ihrer W i r k u n g — feststellbar ist, auf den Prozeß der Handlungsmotivation, der sich i m Bewußtsein abspielt. Es ist aber nicht bewiesen, daß man das subjektiv erlebte Motiviertwerden und Entscheiden nach einem Kausalmodell konstruieren dürfte, das aus der Wahrnehmung bestimmter Naturvorgänge gewonnen ist. Das Verhältnis zwischen einer Vorstellung (etwa von einer Pflicht) und der hierdurch motivierten Handlung ist nicht ohne weiteres Möglichkeiten in der betreffenden Entscheidungslage, sondern in der Kreation der zur Wahl stehenden Alternativen." 19 Vgl. W. Windelband, Über Willensfreiheit, 2. Aufl. 1905, S. 74 ff.; M. Danner, Gibt es einen freien Willen? 4. Aufl. 1977. 20 A. Hoche, Die Freiheit des Willens, 1902, S. 23. 21 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1859, § 55; vgl. auch dens., Die beiden Grundprobleme der Ethik, 1841, Teil I.

III. Die positive Existenz der Freiheit

373

m i t dem Verhältnis zwischen natürlichen Kräften gleichzusetzen. Insbesondere gibt es keinen schlüssigen Beweis dafür, daß solche Motivation sich mit gleicher Zwangsläufigkeit vollziehe wie die Verursachung wahrnehmbarer Naturvorgänge. Nichts steht der alltäglichen Anschauung entgegen, daß der Mensch die Fähigkeit habe, „zu Meinungen ein freies Verhältnis einzunehmen, sie distanziert zu betrachten und zu prüfen, ehe man sie sich zu eigen macht oder verwirft oder bis auf weiteres in der Schwebe h ä l t " . 2 2 Ist also schon die strikte Determiniertheit des Handelns durch „natürliche" Ursachen bisher nicht bewiesen, so erst recht nicht ihre strikte und lückenlose Determiniertheit durch Bedürfnisziele und andere handlungsleitende Vorstellungen. Daher erscheint es zum mindesten als möglich, daß der Einzelne ζ. B. die Entscheidungsfreiheit hat, Pflichten zu erfüllen oder zu verweigern. Es wäre also denkbar, daß i n dieser Entscheidung zu den vorhandenen Kausalitäten und zu den motivierenden Normen noch eine „dritte Determinante" hinzutritt, d. h. ein Bestimmungsfaktor, der sich von den natürlichen Ursachen und den motivierenden Sinngehalten unterscheidet und ihnen gegenüber ein „kategoriales N o v u m " darstellt. 2 3

I I I . Die positive Existenz der Freiheit Ist eine solche „dritte Determinante" nicht widerlegt, der Beweis ihrer Unmöglichkeit nicht geführt, so ist damit selbstverständlich nicht schon dargetan, daß es Freiheit auch w i r k l i c h gibt. Der Versuch, die Wahlfreiheit experimentell nachzuweisen, müßte versagen. Würde er doch voraussetzen, daß man eine „Person als genau dieselbe Individualität wiederholt i n die gleiche konkrete Situation versetzen könnte und dann beobachten könnte, ob einmal ein anderes Handeln herausspringt" als i m vorhergehenden Fall. Aber hier wirkt schon das Gedächtnis als Störfaktor, der eine Wiederholung des Experiments unter v ö l l i g gleichen Bedingungen verhindert. Schon durch die Erinnerung an die frühere Situation, die frühere Entscheidung und deren Folgen ist der zum zweiten M a l vor die „gleiche" Entscheidung gestellte Mensch nun anders beschaffen als bei der ersten Entscheidung. 2 4 Geht man davon aus, daß die Freiheit, zwischen verschiedenen Verhaltensalternativen zu wählen, bisher weder strikt bewiesen noch widerlegt ist, so stellt sich die Frage, ob eine größere Plausibilität für eine strenge Determiniertheit des Handelns oder für eine — durch die Umstände begrenzte — Wahlfreiheit spricht. Gute Gründe für eine Plausibilität solcher Wahlfreiheit — keinen „Beweis" für 22 M. Forschner, Willensfreiheit als philosophisches Problem, in: Fundamenta Psychiatrica, 1988, S. 133; vgl. auch Dreher (Fn. 4), S. 357 ff. 23 Hartmann (Fn. 8), Kap. 80 g, 82 b, 83 f. 24 K. Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit, 2. Aufl. 1965, S. 23.

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Kap. 32: Zum Problem der Willensfreiheit

die Willensfreiheit — hat Nicolai Hartmann angeführt. 2 5 Er sieht eine Bestätigung für das Vorhandensein der Willensfreiheit i m Bewußtsein der Selbstbestimmung und in den Tatsachen der Verantwortung, der Schuld und der Reue. Schon das Bewußtsein der Selbstbestimmung muß einen Grund haben; dieser muß freilich nicht notwendig i n der wirklichen Selbstbestimmung liegen; er könnte auch i n der Undurchschaubarkeit des eigenen Motiviertwerdens gesucht werden. Immerhin: Gerade auch das, was i n einem Konfliktfall „die Verzweiflung des gewissenhaft Suchenden ausmacht. . ., ist der stärkste Hinweis, daß hinter den Tatsachenkomplexen von Verantwortung und Zurechnung persönliche Freiheit als reale Macht steht". 2 6 Zumal das Schuldbewußtsein und die Reue legen mittelbar Zeugnis von einer vorausgegangenen Selbstbestimmung ab. Sie sind nicht einfach Ausdruck dessen, daß jemand sich als Ursache eines von ihm angerichteten Schadens erkennt. Wenn jemand i n einem epileptischen Anfall einen anderen verletzt, dann weiß er sich zwar als Ursache der Verletzung, fühlt sich aber nicht schuldig. Er bedauert allenfalls, aber er bereut nicht. Schuldbewußtsein und Reue stellen sich nur dann ein, wenn er die Verletzung durch willentliches Handeln herbeigeführt hat. Diese spezifischen Bewußtseinszustände spiegeln also eine besondere, nämlich als vermeidbar gedachte Verursachung wider. A u c h ist eine Selbsttäuschung über diese Vermeidbarkeit nicht sehr wahrscheinlich; denn sie stünde geradewegs i m Widerspruch zu der natürlichen Tendenz, sich zu entlasten. Freilich sind Willensentscheidungen und Wahlfreiheit nicht als Gegenstände greifbar. Hier kommt eine Seite unserer Existenz zum Vorschein, die sich prinzipiell einer „Verobjektivierung" entzieht; es wird sichtbar, daß unser Sein sich nicht restlos in gegenständlicher, „objektiver" Erkenntnis erfassen läßt: Die wahrnehmende und entscheidende Tätigkeit des Subjekts selbst kann i m letzten Grunde niemals zum „ O b j e k t " — d. h. der Bewußtseinstätigkeit „gegenübergestellt" — werden. Das unmittelbare Erleben des eigenen Handelns, Liebens, Hassens und Vorstellens selber ist etwas grundsätzlich anderes als das Erfassen eines Gegenstandes. 27 Desgleichen ist die erlebte Einheit des individuellen Bewußtseins kein „Gegenstand" unseres Bewußtseins. A u c h wenn w i r über uns selbst reflektieren, uns also zum Objekt unserer Betrachtung machen, stehen w i r schon wieder als Subjekt diesem Objekt unserer Selbstbetrachtung gegenüber, können die Subjektivität aus diesem Prozeß also nicht ausschalten, uns daher nie restlos verobjektivieren; 2 8 sondern i m letzten Grund seiner betrachtenden und entscheidenden Tätigkeit kann das Subjekt sich nur i m V o l l z u g erleben. Wer sich das eigene Entscheiden und den eigenen Erkenntnisprozeß wie Abläufe der gegenständlichen Erfah25 Hartmann (Fn. 8), Kap. 76-80. 26 Hartmann (Fn. 8), Kap. 80 g. 27 M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. 1954, S. 385. 28 K.Jaspers, Einführung in die Philosophie, 22. Aufl. 1983, S. 25.

III. Die positive Existenz der Freiheit

375

rungswelt vorstellt, macht damit Erfahrungsgegebenheiten seiner Objektwelt zum umfassenden Erklärungsmodell und überträgt dieses auch auf Vorgänge, die grundsätzlich nicht seiner Objektwelt zugehören. 2 9 Kurz: das Subjekt und seine Tätigkeit kann sich selbst grundsätzlich nicht nach dem M o d e l l „gegenständlicher", d. h. der Wahrnehmungswelt entnommener Erkenntnisse vollständig begreifen. A u f das Problem der Willensfreiheit angewandt bedeutet dies: Es wäre grundsätzlich verfehlt, einen „objektiven" Beweis für oder gegen die Entscheidungsfreiheit führen zu wollen, weil eben diese Freiheit sich nicht durch gegenständliche Einsicht, sondern nur i m Handeln und Entscheiden selbst zeigt oder, wie Jaspers sagt, weil der Entschluß als solcher „erst i m Sprunge" i s t 3 0 , ich mir der Freiheit also nur i m Existieren gewiß bin, nicht i m Betrachten, sondern i m Vollziehen. 3 1 Es bleibt jedoch der schon ( I 2) erörterte Vorbehalt: Für den Betrachter ist zwar nicht das eigene Handeln, wohl aber das Handeln anderer Menschen Wahrnehmungsgegenstand. Sollte der empirische Nachweis gelingen, daß alle Handlungen anderer Menschen, einschließlich der ihnen zugrundeliegenden „kreativen" Einbildungkraft, lückenlos und streng naturgesetzlich determiniert sind, und sollten diese gleichwohl ihr Handeln als „frei" empfinden, so müßte in analoger Weise w o h l auch das eigene Entscheiden als nur scheinbar frei begriffen werden.

29 Ähnlich E. Schrödinger, Der Geist der Naturwissenschaft, Eranos-Jahrbuch 14 (1946), S. 491. 30 K.Jaspers, Philosophie, 3. Aufl. 1956, Bd. II, S. 181. 31 Jaspers (Fn. 30), S. 185.

F. Zur Methode der Rechtsanwendung

Kapitel

33

Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung V o n Benjamin Cardozo, dem großen amerikanischen Richter, stammt das Wort: I n jeder richterlichen Entscheidung, i n welcher die Frage irgendwie offen sei, stecke eine Philosophie v o m Grund und Z i e l des Rechts; diese sei der eigentliche Schiedsrichter, auch wenn sie nur verhüllt i n Erscheinung trete. 1 Diese Aussage leuchtet unschwer ein, wenn man das Recht als „objektiviertes menschliches Leben" versteht, wie dies Luis Recaséns Siches getan hat. 2 Menschliches Leben und Handeln ist immer zweck- und wertbestimmt: W i r bewerten und kritisieren die Ereignisse der Welt, ziehen dies oder jenes vor und werden durch solche Präferenzen i n unserem T u n motiviert. Dabei finden w i r uns ständig herausgefordert, die Richtigkeit unserer W a h l zu begründen, d. h. unser Handeln zu rechtfertigen. W e i l das Recht eine Ordnung des Handelns ist, hat es teil an diesen Legitimationsproblemen des Handelns. Es verlangt nach einer Rechtfertigung seiner Verhaltensrichtlinien, und zwar nach einer konsensfähigen Legitimation, die für alle oder doch die meisten akzeptabel ist. Oder, wie es Luis Recaséns Siches formuliert hat: „Die Regeln des Rechts sind praktische Instrumente, die von Menschen konstruiert sind, um mit diesen Instrumenten bestimmte Wirkungen in der sozialen Wirklichkeit herbeizuführen, genauer gesagt, Wirkungen, die als wünschenswerte Zwecke erfaßt worden sind". 3 Dieser Funktion des Rechts sei eine besondere A r t von L o g i k angemessen: eine L o g i k , welche die praktischen Fragen menschlichen Lebens betreffe, eine L o g i k vernünftiger Argumentation. 4 Recaséns Siches trifft sich in diesem Punkte m i t der „Logique juridique" Chaim Perelmans. Bei dieser „ L o g i k " geht es also darum, die Richtigkeit von Entscheidungen zu begründen, d. h. i n konsensfähiger Weise zu verteidigen. 5

ι B. Cardozo, The Growth of the Law, New Haven 1924, Abschn. II. L. Recaséns Siches, Vida Humana, Sociedad y Derecho, 2. Aufl., México 1945, Kap. I 14 ff.; vgl. auch L. Legaz y Lacambra, Rechtsphilosophie, 1965, S. 265 ff., 659. 3 L. Recaséns Siches, in: H. Hubien (Hrsg.), Le Raisonnement Juridique, Brüssel 1971, S. 130. 4 Recaséns Siches (Fn. 3), S. 131; vgl. auch M. Reale, O direito corno experiencia, Sao Paulo 1968, Kap. I I I 10, IX 9 f. 5 Der folgende Absatz ist aus dem als Kap. 36 abgedruckten Aufsatz übernommen. 2

380

Kap. 33: Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung

Die einzelnen Sätze, die in solche Argumentationen eingeführt werden, um gegeneinander abgewogen zu werden, brauchen nicht immer allgemeingültig i m strengen Sinn zu sein. Aristoteles stellte sich als Gegenstände dialektischer Erörterung Sätze vor, die „allen oder den meisten oder den Weisen und von den Weisen entweder allen oder den meisten oder den angesehensten glaubwürdig erscheinen, ohne (für die gemeine Meinung) unglaubwürdig zu sein". 6 Zumal für ethische Untersuchungen müsse man sich m i t „demjenigen Grad von Bestimmtheit bescheiden, den der gegebene Stoff zuläßt". 7 U n d i n der Tat gelangt die Legitimation von Entscheidungen i n ihren Elementen und in ihren Ergebnissen oft nicht über diesen Gewißheitsgrad des „Meinungsmäßigen" hinaus. Solchen Legitimationsfragen sei hier für den engen Bereich der juristischen Methodenlehre an Hand einiger Beispiele nachgegangen. Diese werden zunächst der Problematik der Gesetzesauslegung i m engeren Sinn, anschließend dem Fragenkreis der Gesetzeslücken entnommen.

I . Rechtsphilosophische Aspekte der Gesetzesauslegung 7. Auslegung

mündet in rechtsphilosophische

Fragen

Schon in der Auslegung, die das Gesetz i n seinem Sinn ausschöpfen möchte, verzahnen sich semantische Fragen und Legitimationsprobleme. I n ihrem ersten Schritt geht die Gesetzesauslegung v o m Wortsinn aus. Dabei stößt sie auf die semantische Unschärfe der Wortbedeutungen: Solche Unschärfe haben offensichtlich Wörter wie „Treu und Glauben" oder „Sittenwidrigkeit". Aber auch ein Wort, das schlichte Erfahrungstatbestände (wie Wald, Fahrzeug oder Bauwerk) generell bezeichnet, pflegt mehr oder minder mehrdeutig zu sein. 8 So stellt sich die Aufgabe, innerhalb dieses Bedeutungsspielraumes die richtige Auslegungsvariante zu finden. Dazu bedient man sich geläufiger Auslegungskriterien: Gewisse Anhaltspunkte gibt die Entstehungsgeschichte der Norm. Andere bietet der gesetzliche Kontext: M a n versucht also, aus den sprachlichen und gedanklichen Zusammenhängen, in denen das einzelne Gesetzeswort steht, dessen Bedeutung zu präzisieren. Einschränkungen der wählbaren Wortbedeutungen können sich insbesondere aus logischen Beziehungen ergeben: Eine Vorschrift ist so zu interpretieren, daß Widersprüche zu höher- oder gleichrangigen Normen womöglich vermieden werden. A u c h von den voraussichtlichen Entscheidungsfolgen her können Auslegungsargumente gewonnen werden; zu diesem Zweck untersucht und vergleicht man, welche Auswirkungen die eine oder andere Interpretation

6 Aristoteles, Topik 104 a. 7 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1094 b; vgl. H. Kuhn, in: Zeitschr. f. Politik 1965, S. 101 ff. 8 Dazu unten Kap. 35 I.

I. Rechtsphilosophische Aspekte der Gesetzesauslegung

381

(und die daraus folgende Entscheidung) auf sozialethisch relevante Interessen und Zwecke hat. Was ich hier aber zeigen möchte, ist dies: A l l diese Auslegungskriterien führen für sich allein oft nicht zu einer eindeutigen und scharfen Abgrenzung der zutreffenden Wortbedeutung. Sie bieten lose zusammenhängende Argumente, die sich möglicherweise ergänzen und verstärken, möglicherweise aber auch einander widerstreiten. Das eine Argument kann mehr für diese, das andere stärker für jene Auslegung sprechen. So erinnert die Situation des Interpreten nicht selten an jenes Bild, das Luis Recaséns Siches gebraucht hat: an die Situation der Jungfrau, die von mehreren Jünglingen umworben wird und nun nicht recht weiß, für wen sie sich entscheiden soll. Kurz: Die hermeneutische Argumentation läßt oft eine Frage, eine Wahlmöglichkeit offen. Sie zieht verschiedene Argumente in Betracht und wägt sie gegeneinander ab, hat also topische Struktur. 9 Topisches Erwägen pflegt Alternativen und Argumente für eine mögliche Lösung aufzubereiten, aber das letzte Entscheidungskriterium nicht zu bieten. 1 0 Sehr deutlich w i r d das ζ. B. in der interessenjuristischen Analyse. Sie legt dar, welche Interessen auf dem Spiele stehen, welchen Interessenkonflikt das Gesetz lösen w i l l , welche Interessen daher i n Betracht zu ziehen sind. Aber am Ende steht man dann vor der offenen Frage, wie die einzelnen Interessen genau zu gewichten und folglich gegeneinander abzuwägen und abzugrenzen sind. Gleichwohl sind die hermeneutischen Argumentationen, die sich innerhalb des Auslegungsspielraumes der Gesetzesworte entfalten, keine ziellosen Denkprozesse. Vielmehr erhalten sie eine Richtung durch die Entscheidung über das Auslegungsziel: Die Erwägungen werden oft zu einem anderen Ergebnis gelangen, wenn man ζ. B. in einem autoritären Herrschaftssystem das Z i e l anstrebt, den subjektiven Vorstellungen des Gesetzgebers möglichst nahe zu kommen, und werden ein anderes Resultat haben, wenn man einer der objektiven Auslegungstheorien folgt, nach denen eine Auslegung zu wählen ist, die einem „objektiv vernünftigen" Gesetzeszweck gerecht wird. Grundgedanke für eine Rechtfertigung objektiver Auslegungstheorien w i r d sein, daß Gesetzgeber und Richter als Repräsentanten solcher Auffassungen entscheiden sollen, die für diese Rechtsgemeinschaft als vernünftig zu gelten haben. Diese Grundbehauptung läßt sich i n unterschiedlicher Weise präzisieren. E i n Hegelianer etwa würde sagen, i m Recht, wie i m Geist eines Volkes überhaupt, verwirkliche sich die Vernunft, die sich i m Weltgeschehen entfalte; auch Gesetzgeber und Gerichte seien Mittler in diesem Prozeß. 1 1 Nicolai Hartmann würde i m Gesetz schlicht eine Objektivation des „objektiven Geistes" erblicken, ohne 9 Vgl. etwa H. Coing , Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 17, 22 f., 46, 50. 10 Dazu unten Kap. 35 III. u G.W. F. Hegel, Philosophie der Weltgeschichte (ed. Hoffmeister), Einl. B, a, c.

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Kap. 33: Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung

zugleich den Anspruch einer Vernunftmetaphysik zu erheben. 12 A u c h er würde daraus ableiten, daß der Machthaber v o m Geist der Gemeinschaft getragen bleibe und i h m „Bewußtsein, Initiative, Aktionsfähigkeit" zu verleihen habe. 1 3 Eine dritte Begründung für eine „objektive" Gesetzesauslegung liefert die demokratische Doktrin: I n der repräsentativen Demokratie bildet die öffentliche Meinung, bilden insbesondere die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitvorstellungen ein wichtiges Element unmittelbarer Demokratie. Dieses demokratische Element soll durch die Strukturen des Repräsentativsystem hindurchscheinen. Die Repräsentativorgane sollen zwar nicht jeder beliebigen Schwankung der öffentlichen Meinung folgen, aber sie haben sich an die große Linie der mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen zu halten und ihnen i n ihren Gesetzen und Richtersprüchen Ausdruck zu verleihen. 1 4 So sind in einer repräsentativen Demokratie unter den möglichen Gesetzesbedeutungen diejenigen zu wählen, die den mehrheitsfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft am nächsten kommen. Ich breche diese fragmentarischen Erwägungen über das richtige Auslegungsziel hier ab. Andere mögen mit anderer Begründung sich für ein anderes Auslegungsziel entscheiden. Hier ging es darum, jenen rechtsphilosophischen Bezug der Auslegung aufzuzeigen, der dann liegt, daß die hermeneutische Argumentation durch das Auslegungsziel eine Richtung erhält und sich dadurch als eine ziel- und funktionsgebundene Argumentation darstellt. 1 5 2. Anhaltspunkte für die mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen W o die Leistungsfähigkeit der Auslegungskriterien an ihre Grenzen gelangt, w o also die Auslegungsargumente eine W a h l offen lassen, läuft die Interpretation in aller Unmittelbarkeit wieder auf die ursprüngliche Aufgabe des Rechts hinaus, eine möglichst gerechte Problemlösung zu finden. A n solchen Punkten der Auslegungserwägungen w i r d man also unvermittelt auf mehrheitlich konsensfahige Gerechtigkeitsvorstellungen verwiesen, und es stellt sich die Frage, wie man diese „operationabel" machen könne. Wichtige Anhaltspunkte bieten die Rechts- und Gerechtigkeitsgrundsätze der Verfassung 1 6 , die überkommenen Normen des übrigen Rechts und damit zugleich die Rechtstradition, in die eine N o r m sich einreiht, auch die Erkenntnisse der Rechtsprechung und die anerkannten Prinzipien der Verwaltung, insgesamt also der „rechtsethische Kontext", in welchem — m i t der Historischen Rechtsschule zu sprechen ι2 N. Hartmann, Das Problem des geistigen Seins, 2. Aufl. 1949, Kap. 44 c, 57. 13 Hartmann (Fn. 12), Kap. 35 b. 14 Dazu oben Kap. 5. 15 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 39 III. 16 Dazu oben Kap. 24 I I I 2; 25 I I 3.

I. Rechtsphilosophische Aspekte der Gesetzesauslegung

383

— der „Geist des nationalen Rechts" zum Ausdruck kommt. D e m liegt die Annahme zugrunde, daß sich — wenigstens i n der großen Linie der Rechtsentwicklung — solche Rechtsauffassungen durchsetzen und erhalten, die in dieser Gemeinschaft mehrheitlich konsensfähig sind. Hier vollzieht sich insofern ein „hermeneutischer Zirkel", als dem Recht selbst Kriterien für die Auslegung des Rechts entnommen werden. Einen weiteren Anhalt finden w i r i n der Verkehrssitte und in den lebendig gewachsenen Institutionen des sozialen Lebens, weil und sofern diese Ausdruck einer Sozialmoral sind, die in der Rechtsgemeinschaft mehrheitlich akzeptiert wird. Wegen dieser normativen Komponente zwischenmenschlicher Beziehungen ist daher die „humanarum rerum n o t i t i a " 1 7 eine wichtige Grundlage auch der Rechtserkenntnis. I n dieser Weise kann z. B. das Gepräge, das die Familie in unserer Kulturgemeinschaft hat, Anhaltspunkte für die Auslegung einer familienrechtlichen Vorschrift liefern. Hierher gehören auch die „standards", die der angloamerikanischen Judikatur als Hilfsmittel der Rechtsfindung dienen. A u c h sie sind normativ wirkende Leitbilder, an denen sich das soziale Verhalten orientiert: so etwa „der Standard des ordentlichen Kaufmanns, des lauteren Wettbewerbs, der erlaubten Presseberichterstattung, der Verkehrssicherheit, der Arbeitsloyalität". 1 8 Ich breche hier ab und verfolge die Frage nicht weiter, ob solche mehrheitlich konsensfähigen Vorstellungen einen „Wahrheitsgehalt" besitzen. Denn der Rückgriff auf den breitestmöglichen Konsens i n der Wertung ist legitim, auch ohne Rücksicht darauf, ob er „Wahrheiten" erschließt: Schon die praktische Notwendigkeit, menschliches Verhalten friedlich zu koordinieren, erfordert Lösungen gesellschaftlich relevanter Gerechtigkeitsprobleme. Hierfür die breitestmögliche Konsensbasis aufzusuchen, rechtfertigt sich schon aus den besprochenen demokratischen Gründen. Ich lasse auch die Frage offen, wie dort zu entscheiden ist, wo die herrschenden sozialethischen Vorstellungen Lücken und Widersprüche aufweisen und keine zuverlässige Orientierung bieten. Hierzu nur die Andeutung, daß die Interpretation i n solchen Grenzfällen auf ein rechtsethisches Wagnis und einen Entwurf künftiger Sozialgestaltung hinauslaufen kann und sich von hier aus Fäden zur Philosophie des Existenzialismus spinnen, wie dies Erich Fechner in eindrucksvoller Weise dargetan hat. 1 9

π Ulpian, Dig. 1, 1, 10, 2. is J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 2. Aufl. 1964, S. 97. Der oben stehende Text und die Nachweise sind zum Teil aus dem als Kap. 35 abgedruckten Aufsatz übernommen. 19 E. Fechner, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1962, S. 248 ff.; Zippelius (Fn. 15), § 22.

384

Kap. 33: Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung I I . Rechtsphilosophische Aspekte der Lückenausfüllung 7. Die mehrheitlich

konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen als kritische Instanz

A l s weiteres Beispiel rechtsphilosophischer Rechtsfindungsprobleme seien einige Aspekte der Lückenausfüllung ins Gedächtnis gerufen. 2 0 Hier befinden w i r uns auf einem Feld, auf dem die Jurisprudenz schon nicht mehr i m strengen Sinn dogmatisch ist, sondern „produktive K r i t i k " am Gesetz übt. Sie greift hier über den Gesetzeswortlaut hinaus, d. h. über die möglichen Wortbedeutungen, die nach dem Sprachgebrauch dieser Rechtsgemeinschaft m i t diesen Gesetzesworten überhaupt verbunden werden können. 2 1 Eine Lücke pflegen w i r dort anzunehmen, wo der Wortlaut des Gesetzes entweder zu eng ist und dadurch regelungsbedürftige Fälle ungeregelt läßt oder aber solche Fälle miterfaßt, die richtigerweise aus der Regelung auszunehmen wären; i m zweiten Fall vermissen w i r eine Ausnahmebestimmung. Solche Ergänzungsbedürftigkeit nehmen w i r an, wenn der Gesetzestext zu Ergebnissen führt, die den mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen. Diese dienen hier als kritische Instanz. A n ihr enthüllt sich die Unvollständigkeit des Gesetzes. Die vorausgegangenen Erwägungen haben gezeigt, daß die Auslegungskriterien gedankliche Instrumente i m Dienste einer gerechten Lösung von Rechtsproblemen sind. Die Lückenproblematik macht nun sichtbar, daß die Gesetzesnormen als Ganzes in vergleichbarer Weise funktionsgebunden sind: Wenn sie ihrer Funktion nicht genügen, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, erscheinen sie uns als ergänzungsbedürftig. Die Feststellung, daß eine Gesetzeslücke vorliege, beginnt oft damit, daß man auf einen nicht geregelten Fall stößt, für den eine gleichartige Regelung, wie sie für gesetzlich geregelte Fälle besteht, als angemessen erschiene. M a n findet also wesentlich Gleiches als nicht gleich behandelt. A u f diese Weise bekommt die Lückenfeststellung insbesondere die Funktion, Inkonsequenzen aufzudecken, die sich i n den Wertentscheidungen der Rechtsordnung finden, und ihrer Beseitigung den Weg zu ebnen. I m Recht bereits angelegte Rechtsgedanken werden auf solche Weise für wesentlich gleichartige Fälle zur Wirkung gebracht. So werden durch Lückenausfüllung Regelungszweck und Gerechtigkeitsgedanken des Gesetzes zu Ende gedacht. Der Gesetzeswortlaut kann auch Fälle umfassen, welche die N o r m gerechterweise nicht mit erfassen dürfte; hier findet man wesentlich Ungleiches gleich behandelt und stellt als „ L ü c k e " das Fehlen eines Ausnahmetatbestandes fest. 20 Der folgende Text ist zum Teil aus dem als Kap. 38 abgedruckten Aufsatz übernommen. 21 Dazu unten Kap. 35 I.

II. Rechtsphilosophische Aspekte der Lückenausfüllung

385

I n diesen Fällen kann es legitim sein, wesentlich Ungleiches aus dem Anwendungsbereich der N o r m herauszunehmen, sei es durch Einführung einschränkender Tatbestandsmerkmale („Restriktion") oder eines gesonderten Ausnahmetatbestandes. 2. Normenstrenge

oder konkrete

Gerechtigkeit?

Das kritische Aufdecken der Ergänzungsbedürftigkeit ist aber nur ein erster Schritt. Die Feststellung, daß das Gesetz ungerecht wirkt, kann zu zwei unterschiedlichen Folgerungen führen: Sie kann entweder auf eine bloße rechtspolitische Forderung an den Gesetzgeber hinauslaufen, das Gesetz zu verbessern; dann handelt es sich nur u m eine „ L ü c k e " de lege ferenda. Oder der Richter kann berufen sein, die Lücke schon de lege lata selber zu schließen. Ob das erste oder das zweite der richtige W e g sei, hängt — von anderen Hindernissen einer Gesetzesergänzung abgesehen 22 — von einer weiteren Überlegung ab: Es geht u m den Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit — eine der grundlegenden Antinomien des Rechts. Die Rechtssicherheit fordert eine strikte Beachtung des formalisierten Rechts, und sie verbindet sich in dieser Forderung m i t dem Grundsatz der Gewaltenteilung, der solche Rechtsergänzungen grundsätzlich dem Gesetzgeber vorbehalten hat. D e m gegenüber steht die Forderung materieller Gerechtigkeit, daß die Rechtsprechung auf der Höhe der aktuellen Rechtsmoral stehe und zum mindesten groben Ungerechtigkeiten zuvorkomme. W i e der Widerstreit zwischen diesen Prinzipien zu lösen sei, auf diese Frage hat man nicht zu allen Zeiten die gleiche Antwort gegeben. Gerade an diesem Punkte hat jede juristische Epoche ihre eigene „Rechtsphilosophie". Diese bestimmt das Recht oft bis i n die einzelnen Gerichtsentscheidungen hinein: Entweder geht der Zug stärker zum jus strictum, zum Formalismus und damit zur Rechtssicherheit, oder er geht mehr zur aequitas, zur zeit- und situationsgemäßen Gerechtigkeit. Das fortwährende Pendeln zwischen diesen Polen kann man durch die ganze Rechtsgeschichte hindurch verfolgen, wie Hermann Kantorowicz das i n einem berühmt gewordenen Aufsatz getan hat. 2 3 Hier, wie anderwärts, zeigt sich die unauflösliche, ständig lebendige und wirksame Spannung zwischen konkreter Gerechtigkeit einerseits und formaler Normenstrenge und Rechtssicherheit andererseits. 3. Insbesondere

das Problem

der

Analogie

Ich komme zu einem letzten Beispiel rechtsphilosophischer Bezüge der Hermeneutik. A u c h dieses entnehme ich dem Themenkreis der Gesetzeslücken, nämlich der Problematik des Analogieschlusses. M a n hat oft versucht, die logische Struk22 Dazu unten Kap. 38 IV. 23 H. Kantorowicz, Die Epochen der Rechtswissenschaft, abgedruckt bei G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1965, § 24. 25 Zippelius

386

Kap. 33: Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung

tur dieses Schlusses zu analysieren 2 4 , und stieß gerade auch hier auf die Grenzen der Logik. Schon früh hat man darauf hingewiesen, daß nicht m i t rein logischen M i t t e l n entschieden werden kann, ob ein Analogie- oder ein Umkehrschluß am Platze sei. M a n hat herausgestellt, daß hier „der vieldeutige Begriff der Ähnlichkeit zum Angelpunkt des Schließens" werde. Ein Analogieschluß, so sagt man, sei dann gerechtfertigt, wenn der nicht geregelte, problematische Fall m i t dem geregelten Fall „diejenigen Momente gemeinsam hat, auf denen die rechtliche Regelung beruht" oder, so ein anderer Formulierungsvorschlag, wenn beide Fälle i n den Merkmalen übereinstimmen, die für die rechtliche Regelung wesentlich sind 2 5 . Diese und ähnliche Formulierungen — die „relevante Ähnlichkeit", die „Gemeinsamkeit der Merkmale, auf denen die Regelung beruht", die „Übereinstimmung in den für die Regelung wesentlichen Merkmalen" — laufen alle auf eine Wertung hinaus. A u c h wenn man dem Analogieschluß m i t den Werkzeugen der formalisierten L o g i k zu Leibe rückt, stößt man am Ende wieder auf die Unvermeidlichkeit der W e r t u n g . 2 6 I m Analogieschluß präpariert das vergleichende Denken für den geregelten und den nicht geregelten Fall die übereinstimmenden Merkmale einerseits und die unterscheidenden Merkmale andererseits heraus. Anschließend ist abzuwägen, ob die gemeinsamen Merkmale genügen, die verglichenen Falltypen gleich zu behandeln, oder ob die Merkmalsunterschiede zu einer verschiedenen Behandlung führen müssen. So enthüllt sich der Analogieschluß als Anwendungsfall des Gleichheitsgrundsatzes, für den sich stets die Frage stellt, welche Merkmale wesentlich dafür sind, um zwei Fälle gleichzubehandeln, und welche Unterschiede zu einer unterschiedlichen Behandlung führen müssen. 2 7 A l l e Züge und Probleme der Gleichbehandlungsproblematik begegnen uns i m Analogieschluß wieder. Dazu gehört die Tatsache, daß die Frage der Gleichbehandlung sich immer problemspezifisch — d. h. unter dem Gesichtspunkt des jeweils zu lösenden Rechtsproblems — stellt. A u c h auf die Relativität — also die Zeit- und Kulturbedingtheit der Antworten, die man auf das Gleichheitsproblem zu geben pflegt — treffen w i r beim Analogieschluß. Die i m Analogieschluß zutage getretene A r t und Weise juristischen Erwägens finden w i r ganz allgemein auch i n der angelsächsischen Methode des „distinguishing". Hier geht es darum, ob der vorliegende Fall einem zuvor entschiedenen Fall hinreichend ähnlich ist, und zwar „ i n relevant respects". 28 Es wird, ähnlich 24 Vgl. die Übersicht bei U. Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. 1966, S. 102 ff.; Κ Engisch, Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl. 1971, S. 142 ff. 25 Engisch (Fn. 24), S. 143 f., 256. 26 Vgl. u. Klug (Fn. 24), S. 122 f.; hierzu R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 18 I I c; zum gleichen Ergebnis kommt O. Weinberger, in: Festschr. f. W. Wilburg, 1975, S. 447. 27 Dazu oben Kap. 26 II. 28 Vgl. etwa H. L. A. Hart, The Concept of Law, Oxford 1961, S. 123 ff.

III. Zusammenfassung

387

wie i m Analogieschluß, gefragt, ob der vorliegende Fall dem rechtlich vorentschiedenen Fall in den Merkmalen gleicht, an welche die Vorentscheidung in ihren tragenden Gründen anknüpft. Übrigens läßt sich fallvergleichendes Denken auch bei der Gesetzesauslegung anwenden, hier innerhalb des Bedeutungsspielraumes der Gesetzesworte: U m zu entscheiden, ob ein problematischer Fall i n den Anwendungsumfang der N o r m einzubeziehen ist, kann man ihn mit solchen Fällen vergleichen, die zweifelsfrei von der N o r m erfaßt werden, und man kann fragen, ob er diesen „klaren" Fällen gleichzubewerten ist oder nicht. A u f all diesen verschiedenen Wegen taucht also die Gleichbehandlungsproblematik und damit ein elementares Prinzip der Gerechtigkeit i m Hintergrund der hermeneutischen Erwägungen auf. Fast liegt es nahe, zu sagen, das Prinzip der Gleichbehandlung des Gleichen sei die Seele der juristischen Hermeneutik. Es ist vor allem dieses fundamentale Gerechtigkeitsprinzip, m i t dessen Hilfe sich die Juristengenerationen Schritt für Schritt vorangetastet haben, wenn es darum ging, den Anwendungsbereich der rechtlichen Normen zu präzisieren und zu entwickeln.

I I I . Zusammenfassung A u c h hier breche ich ab und fasse das Grundsätzliche zusammen: Die Gesetze selbst und die Instrumente der Gesetzesauslegung haben Funktionen, die sich i n letzter Instanz nur rechtsphilosophisch bestimmen lassen. Diese Funktionsgebundenheit wirkt sich auch i n der Jurisprudenz des Alltags aus. Sie zeigt sich besonders deutlich an dem Punkte, w o zwischen mehreren zur Diskussion stehenden Auslegungskriterien und Auslegungsalternativen eine W a h l zu treffen ist. U n d sie zeigt sich bei der Aufdeckung „unechter" Lücken und bei der Lückenausfüllung selbst. So könnte am Ende dieser Überlegungen ein ähnlicher Satz stehen, wie an ihrem Beginn: Welche Auslegung jemand wählt, hängt davon ab, welche Rechtsphilosophie er hat.

Kapitel

34

Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft? Wer immer sich m i t Jurisprudenz befaßt, dem stellt sich bald die berühmte Frage Kirchmanns nach ihrer Wertlosigkeit als Wissenschaft. Nicht selten vollzieht sich die geistige Entwicklung, die jemand als Jurist durchläuft, i n einem Schwanken zwischen einer Über- und einer Unterschätzung der rationalen Elemente der juristischen Tätigkeit. Dieser individuelle Bewußtseinsprozeß findet ein Gegenbild i n der Wissenschaftsgeschichte der Jurisprudenz, i n deren Verlauf man kritisch abzuklären versuchte, i n welchem Ausmaß man i m Bereich des Rechts zu überprüfbaren Einsichten gelangen kann. So schätzte man die Rationalität der Rechtsanwendung bald sehr gering ein, bald machte man sich von ihr übertriebene Vorstellungen. Solch hochgespannte Erwartungen fand man insbesondere bei manchen Vertretern der Begriffsjurisprudenz. Aber auch i n die Rechtsinformatik wurde gelegentlich die allzugroße Hoffnung gesetzt, man könne die Tätigkeit des Richters, wenn nicht ganz, so doch zu einem beträchtlichen Teil datenverarbeitenden Maschinen überlassen. Die ältere Frage, ob der Richter wie ein Automat funktionieren könne, wurde hier also durch die Frage ersetzt, ob der Automat wie ein Richter arbeiten kann. — I n diese Frage wurde bereits i n der Auseinandersetzung mit der Begriffsjurisprudenz hineingeleuchtet. I n idealtypischer Zuspitzung hat Gustav Radbruch das Programm dieser Begriffsjurisprudenz wie folgt umschrieben: Der Richter solle „aus positivem Recht irtit rein intellektuellen M i t t e l n ohne eigene Wertung die Antwort auf jede juristische Fragen finden". 1 Diese Vorstellung, daß dem Richter eine rein reproduzierende, unschöpferische Aufgabe zukomme, war aus einem rigoristischen Verständnis der Gewaltenteilung hervorgegangen. Nach einem geflügelten Wort Montesquieus sollte der Richter nur der M u n d sein, der die Worte des Gesetzes ausspreche, ein willenloses Wesen, das weder die Schärfe noch die Strenge des Gesetzes mildern könne. 2 So wurde die Jurisprudenz von der stolzen Höhe, die ihr das römische Recht zugedacht hatte, von der Höhe einer „ars boni et aequi", einer „divinarum atque humanarum rerum notita, justi atque injusti scientia" hinabgewiesen, und der Jurist wurde zu einem bloßen „Gehorsamskünstler", der die feinsten Willensregungen des Gesetzgebers zu erkennen und zu befolgen verstand. 3 ι G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1959, § 25. 2 Montesquieu, De l'esprit des lois, X I 6. 3 K. G. Wurzel, Das juristische Denken, 1904, S. 33.

Kap. 34: Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft?

389

Sehr früh regten sich aber Zweifel an der Durchführbarkeit dieses Programms. M a n zeigte auf, daß die Gesetzesworte unscharf sind und Zweifel offen lassen 4 , daß auch das System der Normen lückenhaft i s t 5 und daß alle diese U n v o l l k o m menheiten nicht durchweg m i t rein logischen Überlegungen und auch sonst nicht i n zwingender Weise ausgeräumt werden können: Wenn etwa ein Forstgesetz von einem W a l d spricht, so bleibt die Frage offen, v o m wie vielten Baum ab ein Baumbestand ein W a l d ist. Wenn ein K i n d vor Beginn der Geburt getötet wird, handelt es sich u m eine Abtreibung, wenn es nach Beginn der Geburt getötet wird, hingegen um M o r d oder Totschlag. Aber i n welcher Sekunde beginnt die Geburt? Schon bei solch alltäglichen Auslegungen der Gesetze steht der Richter auf schwankendem Boden, besonders deutlich bei der Auslegung wertausfüllungsbedürftiger Rechtsbegriffe, etwa dann, wenn das Gesetz sittenwidrige Rechtsgeschäfte für nichtig erklärt. N o c h unsicherer w i r d das Geschäft des Richters, wenn dieser entscheiden soll, ob das Gesetz eine Lücke aufweise und ob und in welcher Weise diese auszufüllen sei. So drängt sich die Annahme auf, daß die richterliche Entscheidung oft auf einer Wertung beruhe oder jedenfalls mitberuhe. Gewiß sucht der Richter die Unschärfe der Gesetzesworte mit Hilfe rationaler Auslegungskriterien zu überwinden. Er legt das Gesetz zunächst nach dem konventionellen Sprachsinn aus, sucht logische Widersprüche zu anderen Normen zu vermeiden, beurteilt die einzelne N o r m nach ihrem Standort i m Gesetz und stellt auch noch andere systematische Erwägungen an, um den Sinn der Gesetzesworte zu präzisieren, er forscht nach dem Gesetzeszweck und zieht die Vor- und Entstehungsgeschichte einer N o r m zu ihrer Präzisierung heran. Aber diese verschiedenen Anhaltspunkte führen oft i n verschiedene Richtungen, und es gibt keine gesicherte Rangordnung unter den Auslegungskriterien. Oft lassen sich, j e nachdem, welchem dieser Auslegungskriterien w i r größeres Gewicht beimessen, unterschiedliche Ergebnisse begründen, so daß sich in der Praxis das Verfahren bemerkbar macht, von Fall zu Fall diejenigen Kriterien zu bevorzugen, die zum befriedigenden Ergebnis führen. 6 Den Anspruch, auf solche Weise Rechtsergebnisse zu deduzieren, hat bereits Gustav Radbruch verspottet: „Die Lehre nun davon, wie man den Anschein erweckt, das Gesetz auszulegen, wo man in der Tat dem Gesetz unterlegt, ist die juristische Hermeneutik". 7 Erst einmal auf diese Bahn geraten, führte die K r i t i k rasch zu Übertreibungen in der anderen Richtung: Sind die Auslegungskriterien nicht überhaupt bloß dienstbare Geister der richterlichen Wertung? I n diesem Sinne glaubte etwa die Freirechtslehre, der Richter treffe überhaupt seine Entscheidung zuerst gefühls4

Dazu unten Kap. 36 I 3. 5 Dazu oben Kap. 33 II. 6 Dazu unten Kap. 35. 7 G. Radbruch, Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 22 (1906), S. 364 f.

Kap. 34: Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft? mäßig und suche erst hernach die Gründe. Hermann Kantorowicz hat gemeint, der Jurist verfahre i m Grunde fast immer ähnlich wie der ehrwürdige Bartolus, von dem man berichtet, er habe zuerst seine Entscheidungen getroffen und sich dann von seinem Freunde Tigrinus die zu ihnen passenden Corpus-Juris-Stellen aufweisen lassen. 8 Radbruch übertrug diesen Gedanken auf die Auslegungsinstrumente: „Das Auslegungsmittel wird erst gewählt, nachdem das Ergebnis schon feststeht, die sogenannten Auslegungsmittel dienen in Wahrheit nur dazu, nachträglich aus dem Text zu begründen, was in schöpferischer Ergänzung des Textes bereits gefunden war, und wie diese schöpferische Ergänzung auch lauten mag, immer steht das eine oder das andere Auslegungsmittel, der Schluß aus der Ähnlichkeit oder der Umkehrschluß, zu ihrer Begründung bereit". 9 Eine vielbeachtete Renaissance fanden diese älteren Gedanken i n der Schrift Joseph Essers über Vorverständnis und Methodenwahl. 1 0 Inzwischen war man also auf die andere Seite des Meinungsspektrums gelangt. Die Sorge, hierbei doch das K i n d m i t dem Bade ausgeschüttet zu haben, führte zu einer erneuten Besinnung auf die rationalen Anteile der Rechtsanwendung. Der spanische Rechtsphilosoph Recaséns Siches und der belgische Logiker Perelman haben die eigentümliche Rationalität praktischer Erwägungen hervorgehoben: Das R e c h t — a l s eine Ordnung des Handelns — verlangt nach einer mehrheitlich konsensfähigen Legitimierung seiner Verhaltensrichtlinien. Den praktischen Fragen des menschlichen Lebens und damit auch der Funktion des Rechts, zu erstrebenswerten Wirkungen i n der sozialen Wirklichkeit zu führen, sei, so meinte Recaséns Siches, eine L o g i k vernünftiger Argumentation angemessen. 11 I n ähnlicher Weise beschrieb Perelman die juristische L o g i k als eine L o g i k argumentativer Auseinandersetzung, i n welcher Problemlösungen für praktische Fragen gesucht und gerechtfertigt werden, i n der es insbesondere darum geht, die Richtigkeit von Entscheidungen in konsensfähiger Weise zu verteidigen. Diese Argumentation wende sich an ein Auditorium, dessen Zustimmung sie gewinnen müsse, diese Argumentation füge sich ein i n einen sozialen Rahmen m i t seinen Traditionen, seinen Verfahren, etwa seinen Regeln des fair play, und mit den Wertvorstellungen und Vorurteilen einer bestimmten Gesellschaft. Nicht zuletzt müsse die Argumentation auch geeignet sein, die Entscheidungen i n das geltende Rechtssystem zu integrieren. 1 2

s Gnaeus Flavius, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 20 f. 9 G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 9. Aufl. 1952, S. 161. 10 J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 2. Aufl. 1972. 11 Dazu oben Kap. 33 I; eine Übersicht über neuere Konzepte einer Rationalität des Verhaltens (Habermas, Schelsky, Luhmann) bei W. Krawietz, in: Rechtstheorie 15 (1984), S. 434 ff. 12 Ch. Perelman, Über die Gerechtigkeit, 1967, S. 132 ff., 149 ff.; ders., Juristische Logik als Argumentationslehre, 1979, §§49 ff.

Kap. 34: Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft?

391

A u f die juristische Auslegung angewandt heißt das: Hier ist eine Auswahl unter verschiedenen Bedeutungsvarianten zu treffen, die m i t dem Gesetzeswortlaut verbunden werden können. Diese Bedeutungswahl stellt sich als Lösung eines praktischen Problems dar, die auf eine sachgemäße und gerechte Verhaltensregelung gerichtet ist und m i t Argumenten gerechtfertigt werden muß. Diese Rechtfertigung hat eine formale Seite, insofern sie sich i n bestimmten Denkformen, insbesondere unter Beachtung der Regeln der L o g i k , vollzieht; und sie hat eine konsensuale Seite, insofern sie Übereinstimmung über die in die Auslegung einfließenden Zielvorstellungen und sonstigen Wertungen und über die erzielten Ergebnisse sucht. Für diese Rechtfertigung konnte man zum T e i l altbewährte Auslegungsargumente einsetzen. Eines von diesen, das teleologische Argument, hat eine rationale Grundlage in Prinzipien der staatlichen Funktionenteilung: Gewältehteilung dient der geregelten Begrenzung staatlicher Macht; wer sie wünscht, muß auch wollen, daß der Rechtsanwender die Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers respektiert. W i e diese näher zu bestimmen sind, ist aber umstritten. Die „subjektive" Auslegungstheorie fragt nach den tatsächlichen Vorstellungen der Personen, die den Gesetzesbeschluß fassen. Demgegenüber geht die „objektive" Auslegungstheorie davon aus, daß die am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten als Repräsentanten handeln; diese müssen sich aber legitimerweise nach den Gerechtigkeitsvorstellungen richten, die i n der Rechtsgemeinschaft für die Mehrheit konsensfähig sind. Folgt man diesem Argument, dann hat die Auslegung den Zweck des Gesetzes so zu bestimmen, wie er diesen mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen am besten entspricht. Der Rechtsanwender steht auch insoweit i m Dienste legitimer Repräsentation. So steckt i n dieser scheinbar einfachen Auslegungserwägung eine „Philosophie" über die repräsentative Demokratie. Andere Auslegungskriterien gründen sich auf die Idee der „Einheit des Rechts": Es ist eine Auslegung anzustreben, bei der die interpretierte N o r m sich logisch widerspruchsfrei in das übrige Recht einfügt, bei der aber auch der Zweck der Gesetzesnorm auf die Zwecke der übrigen Rechtsnormen abgestimmt w i r d und widerstreitende Normzwecke zu einem optimalen und gerechten Kompromiß gebracht werden. 1 3 Wichtige Auslegungsargumente werden ferner durch ein vergleichendes Denken gewonnen. Dieses spielt eine beherrschende Rolle i m angelsächsischen Fallrecht, wo sich dem Richter immer wieder die Frage stellt, ob der jetzt zu entscheidende Fall einem schon früher entschiedenen Fall hinreichend ähnlich ist, d. h. ob er i h m gerade in den Merkmalen gleicht, an welche die Vorentscheidung in ihren tragenden Gründen anknüpft. Vergleichendes Denken spielt aber auch i m kontinentalen Recht eine bedeutende Rolle, am augenfälligsten i m Analogie13 Vgl. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 10 III.

392

Kap. 34: Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft?

schluß, bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken. Aber auch die Gesetzesauslegung bedient sich dieses Erwägungsmusters, wenn sie etwa fragt, ob ein problematischer Fall den Fällen gleichzubewerten ist, die zweifelsfrei i n den Begriffsumfang der N o r m einzubeziehen sind. A u c h hier ist der leitende Gedanke, daß wesentlich Gleiches gleich behandelt werden soll. Gerade auch dieses Beispiel läßt das Zusammenspiel von L o g i k und Wertung i m Recht hervortreten: Die L o g i k hat zunächst die gemeinsamen und die unterscheidenden Merkmale der verglichenen Fälle gegenüberzustellen. Die L o g i k hat auch Anteil daran, den Normzweck zu präzisieren, unter dem die beiden Fälle zu vergleichen sind. Sie gelangt aber an das Ende ihrer Leistungsfähigkeit, wenn abschließend zu erwägen ist, ob die gefundenen Unterschiede gewichtig genug sind, eine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen, oder ob die gemeinsamen Merkmale eine gleiche Behandlung der Fälle verlangen. So lassen also die rationalen Kriterien immer wieder Spielräume für ein Wägen und Wählen. Kurz, die juristische Argumentation ist w o h l rational strukturiert, aber nicht rational streng determiniert. Soweit Wertungsfragen rational nicht weiter auflösbar sind, kann das argumentierende Denken nur darauf zielen, den breitestmöglichen Konsens zu gewinnen. U n d da hierbei i m Spielraum des logisch Zulässigen ein möglichst gerechtes Ergebnis zu suchen ist, läuft das Konsenserfordernis darauf hinaus, daß das Ergebnis vor dem Rechtsgewissen möglichst vieler Bestand haben solle. A u c h hier führt der W e g in weitere Fragen: Kann das Gewissen der Rechtsgenossen die letzte Legitimationsgrundlage für die Gerechtigkeitsentscheidungen einer Gemeinschaft bilden? W i e kann hierbei die Subjektivität überwunden und Konsens gefunden werden? Welche Möglichkeit besteht, hierbei übereinstimmendes Gerechtigkeitsempfinden von Äußerungen bloßer Interessiertheit und manipulativer Einwirkungen zu unterscheiden? Hier muß es sein Bewenden damit haben, auf diese Fragen einen raschen B l i c k zu werfen. 1 4 Es konnte in dieser knappen Skizze nur darum gehen, anhand einiger Beispiele juristischen Argumentierens etwas v o m Lebensgefühl des Juristen zu vermitteln, das zwischen Selbstgewißheit und Einsicht in die Unzulänglichkeit schwebt: Es schließt einerseits das Vertrauen ein, m i t rationalen M i t t e l n ein wenig Ordnung i n das Chaos zu bringen, und andererseits die Einsicht, daß am Ende immer auch ein Rest bleibt, der so unberechenbar ist, wie das Leben selbst. 1 5

14 Dazu oben Kap. 7 und 9. 15 In ähnlichem Sinne auch F. Bydlinski, Die normativen Prämissen der Rechtsgewinnung, in: Rechtstheorie 16 (1985), S. 9, 12, 14.

Kapitel

35

Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß Das Recht hat die Funktion, Fragen richtiger Verhaltenswahl und Verhaltenssteuerung zu lösen: so, daß diese Lösung sich in konsensfähiger und konsensbegründender Weise rechtfertigen läßt. A u c h die herkömmlichen Kriterien der Gesetzesauslegung sind Instrumente i m Dienste dieser Aufgabe.

I . Verbale Ausgangsbasis und Spielraum der Gesetzesauslegung Die Aufgabe einer Gesetzesauslegung stellt sich, weil die Gesetzesworte in aller Regel mehrdeutig sind, so daß präzisiert werden muß, welche Bedeutung einem bestimmten W o r t i n einer bestimmten N o r m richtigerweise beizulegen ist. 1 Schon Hermann Kantorowicz hatte behauptet, ein Gesetz habe „nicht weniger Lücken als Worte", schon deshalb, w e i l die Rechtsbegriffe neben „festbestimmten Begriffskemen" auch „schwimmende Konturen" haben, die für die Rechtsanwendung Fragen offenlassen. 2 Philipp Heck übernahm diese Vorstellung i n seiner Unterscheidung von Begriffskern und Begriffshof der Rechtsbegriffe. 3 I n der angelsächsischen Rechtstheorie begegnet uns der gleiche Gedanke wieder i n der Gegenüberstellung der „glatten Fälle, i n denen die Allgemeinbegriffe keiner Interpretation zu bedürfen scheinen", und der anderen Fälle, i n denen „es nicht klar ist, ob sie anwendbar sind oder nicht". Allgemeinbegriffe wiesen eine „uncertainty at the borderline" auf. 4 Wörter, die Erfahrungstatbestände generell bezeichnen, sind deshalb mehrdeutig, weil ihre Bedeutung exemplarisch und auf assoziative Weise eingefühlt und eingeübt wird: nämlich durch Hinweis („Deuten") auf Gegenstände, die durch diese Wörter bezeichnet werden. 5 Fast alle Gesetzeswörter geben daher eine inexakte Information, bieten also einen Spielraum möglicher Wortbedeutungen.

1

Die folgenden Sätze sind aus dem als Kap. 36 abgedruckten Aufsatz übernommen. Gnaeus Flavius , Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 15. 3 Ph. Heck, Gesetzesauslegung und lnteressenjurisprudenz, 1914, S. 46, 173; ders., Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, 1932, S. 52, 60; vgl. auch K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 108 f. 4 H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 123 ff. 5 Nachträgliche Einfügung. Näher dazu R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, §§41, 911. 2

394

Kap. 35: Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß

Bei der Auslegung i m strengen Sinn w i r d die Problemlösung innerhalb des Bedeutungsspielraums 6 der Gesetzesworte gesucht. 7 Er bildet die „Auslegungsbasis" für die weiteren hermeneutischen Überlegungen. Die Frage nach den Grenzen des Bedeutungsspielraums zielt darauf, welche Bedeutungen einem W o r t gerade noch beigelegt werden können, und zwar nach dem Sprachgebrauch der Rechtsgemeinschaft — soweit das Gesetz nicht durch eine Legaldefinition oder andere ergänzende Normen eine abweichende Begriffsbestimmung eingeführt hat. 8 Der Bedeutungsumfang eines Wortes umfaßt also die Fülle aller Wortbedeutungen, die i n einem idealen L e x i k o n dieser Gemeinschaft zu diesem Stichwort aufzuführen wären. W i l l die Jurisprudenz diese Grenze des „möglichen Wortsinnes" überschreiten, so kann das nicht durch Interpretation, sondern nur durch gesetzesergänzende oder gesetzesberichtigende Rechtsfortbildung geschehen. 9

I I . Rechtfertigende Auslegungsargumente 1. Auslegung

als

Legitimationsproblem

Innerhalb des Bedeutungsspielraums der Gesetzesworte ist diejenige Bedeutungsvariante zu wählen, die dem W o r t gerade i n der vorliegenden N o r m richtigerweise zukommt. Diese W a h l ist durch zureichende Gründe zu rechtfertigen. Die dahingehende Argumentation bezieht wichtige Gründe aus den Funktionen des Rechts, eine widerspruchsfreie und orientierungssichere Verhaltensregelung zu schaffen, welche die gesellschaftlich relevanten Interessen gerecht und nutzbringend befriedigt. Indem man dem Recht diese Funktionen zuweist, stellt man es in den Dienst konsensfähiger Ziele — ohne daß hier der Anspruch erhoben werden soll, mit den eben genannten Zielen einen vollständigen und definitiven Katalog von Gründen zu geben, die eine Auslegung rechtfertigen können: Erfordernisse logischer Konsistenz und praktischer Orientierungsgewißheit verlangen, daß die „Einheit des Rechts" gewahrt wird: daß also das Auslegungsergebnis sich logisch und teleologisch widerspruchsfrei in den Kontext wenigstens der gleich- und höherrangigen Normen einfügt. Das Bedürfnis nach Orientierungsgewißheit läßt es sogar als wünschenswert erscheinen, gleiche Wörter womöglich gleich auszulegen (Einheitlichkeit der Terminologie). V o r allem ist auch ein gerechtes und zugleich möglichst nutzbringendes Auslegungsergebnis anzustreben.

6 Dazu Kap. 33 I 1, 36 I 3. 7 Vgl. Engisch (Fn. 3), S. 82 f., 104,150; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 309 f.; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, 1977, S. 294 ff. » Dazu Zippelius (Fn. 5), §§ 6, 9 I. 9 Dazu Kap. 33 I I und 38 IV.

II. Rechtfertigende Auslegungsargumente

395

Die Auslegung muß ferner die Funktionenteilung i m Staat i n Betracht ziehen: Die Unterwerfung des Rechtsanwenders unter die Regelungskompetenz des Gesetzgebers gebietet es, dessen Regelungszweck zu verwirklichen. 1 0 I m Dienste dieser grundsätzlichen Auslegungsziele stehen verschiedene Hilfsargumente: Sie stammen teils aus der Vor- und Entstehungsgeschichte der Norm, teils aus deren Kontext, teils aus Erwägungen über die Entscheidungsfolgen, d. h. darüber, welche realen Konsequenzen die W a h l der einen oder der anderen Interpretation haben wird. E i n wichtiges Instrument der Konsistenz- und Gerechtigkeitserwägungen ist der Typenvergleich: Er bringt i m Bereich von Auslegung und Lückenausfüllung den Gleichheitsgrundsatz zur Geltung. 1 1 Auslegungsargumente können sich teils ergänzen, teils auch widerstreiten. Z u m Beispiel gerät das Interesse an einheitlicher Terminologie nicht selten in K o n f l i k t m i t dem Bestreben, eine Lösung zu finden, die der spezifischen Gerechtigkeitsproblematik der vorliegenden N o r m möglichst angemessen ist; so steht etwa das W o r t „fahrlässig" in einer Schadensersatzvorschrift i m Dienste ausgleichender Gerechtigkeit, in einer Strafrechtsnorm i m Dienste der Strafgerechtigkeit, und ist, je auf diese Funktionen bezogen, unterschiedlich zu interpretieren. 12 I n einem Widerstreit der Argumente besteht zwar keine streng rationale Rangordnung, doch ziehen bestimmte Argumente der Auslegung Grenzen: Diese hat sich innerhalb des möglichen Wortsinnes zu halten (s. ο. I). — Grundsätzlich ist auch keine Auslegung zulässig, die einer eindeutig erkennbaren Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidung des Gesetzgebers klar widerspricht, also keine Auslegung, durch welche der Rechtsanwender seine eigene rechtspolitische Entscheidung an die Stelle der gesetzgeberischen setzt. — Soweit hiernach möglich, ist eine Auslegung zu vermeiden, bei welcher die auszulegende N o r m i n Widerspruch zu höher- oder gleichrangigen Normen gerät und deshalb ungültig oder unanwendbar ist. 1 3 Innerhalb des damit abgesteckten Feldes läßt aber die hermeneutische Argumentation oft eine Frage und Wahlmöglichkeit offen. Hier ist es legitim, W a h l und Gewichtung der verschiedenen Auslegungsargumente von dem Bestreben nach einer möglichst gerechten Problemlösung leiten zu lassen, also von der Frage, welche von mehreren — nach den Regeln der Kunst „vertretbaren" — Interpretationen zu der gerechtesten Lösung führt.

10

Dieses klassische „teleologische" Auslegungskriterium betrifft also nur eines von mehreren Zielen, die bei der Auslegung eine Rolle spielen. 11 Auf ihn soll im folgenden aber nicht näher eingegangen werden; s. dazu unten Kap. 37 I I 3. 12 Nachträgliche Einfügung. Dazu R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 39 I I I 2. 13 Dazu unten Kap. 38 III.

396

Kap. 35: Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß

Unter gewissen Bedingungen können i m Interesse einer gerechten Problemlösung selbst die genannten Grenzen überschritten werden 1 4 : So ist unter bestimmten Voraussetzungen eine „Lückenergänzung" möglich, also eine Rechtsfindung, die nicht v o m Gesetzeswortlaut gedeckt — damit freilich auch nicht mehr „Gesetzesauslegung" ist. Unter den Voraussetzungen eines legitimen Sinnwandels darf sich die Rechtsanwendung auch behutsam von den erkennbaren Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers entfernen. 2. Argumente

aus dem Regelungszweck

Spätestens seit Jhering ist die Einsicht geläufig: Wenn der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhalten verbindlich vorschreibt, w i l l er damit bestimmte Zwecke erreichen. 1 5 Dabei übt er ein Regelungsermessen aus: hinsichtlich der anzustrebenden Ziele und deren Abgrenzung und hinsichtlich der Zweckmäßigkeit der juristischen Mittel, die zur Erreichung dieser Ziele eingesetzt werden. Den gesetzlichen Regelungen liegt also ein von rechtspolitischen Zielen bestimmtes M o d e l l einer Steuerung sozialer Prozesse zugrunde. 1 6 Nicht nur die subjektive Auslegungstheorie muß sich für die Zweck- und Zweckmäßigkeitserwägungen des Gesetzgebers interessieren. A u c h die objektive Auslegungstheorie 1 7 muß davon ausgehen, daß der Gesetzgeber die Kompetenz hat, .sich durch Gesetz für den einen oder anderen Zweck zu entscheiden und die A r t und Weise seiner Verwirklichung zu regeln. Es entspricht der Funktionenteilung i m gewaltenteiligen Stäat, daß der Rechtsanwender diese Entscheidung des Gesetzgebers respektiert. A u c h die objektive Auslegungstheorie muß also zur Kenntnis nehmen, daß einem Gesetz die Entscheidung bestimmter Menschen für bestimmte Zwecke zugrunde liegt. Diese Entscheidung steht i m parlamentarischen Staat der Mehrheit der Abgeordneten zu, die am Gesetzesbeschluß teilnehmen. Wer aber nach der objektiven Auslegungstheorie den Sinn der gesetzgeberischen Entscheidung ermittelt, denkt sich den Gesetzgeber i n der Rolle eines Repräsentanten, der sich legitimerweise nach den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden (d. h. mehrheitlich konsensfähigen) sozialethischen und politischen Vorstellungen zu richten hat: dessen Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen daher so zu interpretieren sind, als seien sie i n dieser legitimen Weise getroffen. Wenn hier der Rechtsanwender sich anschickt, die Tätigkeit des Gesetzgebers „ i n sich künstlich zu wiederholen" 1 8 , dann sucht er also nach solchen Gedanken, Zu den beiden folgenden Problemen oben Kap. 33 I I 1 und 14 I I 3. is R. v. Jhering, Der Zweck im Recht, insbes. Vorrede zur 1. Aufl. 1877; vgl. auch W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. III, 1976, S. 242 ff., 273 ff. 16 In diesem Sinne bereits E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 164; ders., Die juristische Logik, 1918, S. 309 f.; R. Pound, Interpretations of Legal History, 1923, S. 151 ff. 17 Zur „subjektiven" und „objektiven" Auslegung Zippelius (Fn. 5), § 4 II. is So die berühmte Formel F. C. v. Savignys, System des heutigen römischen Rechts, I, 1840, S. 213.

II. Rechtfertigende Auslegungsargumente

397

die der Gesetzgeber — als Repräsentant der Gemeinschaft und der i n ihr mehrheitlich konsensfähigen Vorstellungen — denken mußte oder wenigstens denken durfte, als er die N o r m erließ. 1 9 Der Rechtsanwender steht auch insoweit i m Dienste legitimer Repräsentation. Einen wichtigen Hinweis auf den Regelungszweck bildet oft die rechtliche Tradition, i n die das Gesetz sich einreiht, und das durch diese Tradition bedingte Leitbild, das dem Gesetzgeber vermutlich vor Augen stand. Nawiasky sprach v o m „Gesamtbild der zu schaffenden Ordnung" und von einer „Interpretation i m Sinne des vorrechtlichen Gesamtbildes oder der tragenden vorrechtlichen Gesamtidee". 2 0 Wichtige Anhaltspunkte für den Gesetzeszweck liefern vor allem auch die Gesetzesbegründung und die Protokolle der Gesetzgebungsverhandlungen. Nicht zuletzt gibt der Text des Gesetzes selbst — etwa seine Präambel oder der Standort einer N o r m i m äußeren System des Gesetzes — Hinweise auf dessen Zweck. So liefern der historische und der gesetzliche „ K o n t e x t " wichtige Hilfsargumente, um — in mehr oder minder scharfen Umrissen — den Gesetzeszweck zu ermitteln. Unsicherheiten ergeben sich auch daraus, daß mit dem Wandel der mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen auch der Sinn des Gesetzes sich wandeln kann — oft innerhalb des Spielraums, der von vornherein für eine Präzisierung des Gesetzeszweckes verbleibt, wenn nötig aber auch in begrenzter Abweichung von den erkennbaren Absichten des Gesetzgebers; doch darf der Interpret sich dann nicht über das erforderliche Maß v o m ursprünglichen Gesetzeszweck entfernen, u m die Kontinuität des Rechts möglichst zu wahren und sich nicht unnötigerweise i m Funktionsbereich der Gesetzgebung zu betätigen. 2 1 3. Argumente

der

„Rechtseinheit"

Z u den Zielen legitimer Rechtsfindung gehört es auch, eine widerspruchsfreie und orientierungssichere Verhaltensregelung zu schaffen und auf diese Weise die „Einheit des Rechts" zu wahren: Das Auslegungsergebnis soll sich also logisch und teleologisch widerspruchsfrei i n den Kontext wenigstens der gleichund höherrangigen Normen einfügen. 2 2 Das Bedürfnis nach Orientierungsgewißheit läßt es sogar als wünschenswert erscheinen, gleiche Wörter womöglich i m gleichen Sinne zu verstehen. Logische Auslegungsargumente spielen insbesondere dort eine Rolle, w o verschiedene Normen auf ihre widerspruchsfreie Vereinbarkeit untersucht werden: Entstehen bei gewissen Auslegungen Widersprüche, bei anderen nicht, dann sind 19 In ähnlichem Sinne meinte schon Savigny (Fn. 18), S. 39, 44, der Interpret müsse sich den Gesetzgeber als „Vertreter des Volksgeistes" denken. 20 H. Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 1948, S. 136. 21 Dazu oben Kap. 14 I I 3. 22 Dazu oben Kap. 1 I V 1; Engisch (Fn. 3), S. 79, 83 f., 160 ff.

398

Kap. 35: Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß

nach Möglichkeit solche Auslegungen zu wählen, welche die Widersprüche vermeiden; denn Widerspruch zu einer gleichrangigen N o r m führt zur Unanwendbarkeit wenigstens einer von ihnen, Widerspruch zu einer höherrangigen N o r m zur Ungültigkeit der nachrangigen. So sind insbesondere Gesetze „verfassungsk o n f o r m " 2 3 und Verordnungen „gesetzeskonform" auszulegen. Oft spielen freilich i m Verhältnis verschiedener Normen zueinander nicht logische, sondern teleologische Erwägungen die Hauptrolle: Es geht dann u m die Aufgabe, die verschiedenen Rechtsnormen womöglich so auszulegen, daß sie nicht widerstreitenden Zwecken dienen oder daß für die Verwirklichung konkurrierender Zwecke ein Kompromiß gefunden wird, der als gerecht erscheint und mit dieser Bedingung den Nutzen optimiert. 2 4

4. Argumente

der Gerechtigkeit

Das Recht hat die Aufgabe, Interessenkonflikte gerecht zu lösen. D e m entspricht es, W a h l und Gewichtung konkurrierender Auslegungsargumente von der Frage nach der Gerechtigkeit leiten zu lassen. I n der Regel hat das i m Rahmen dessen zu geschehen, was sich „ i n den Grenzen des möglichen Wortsinnes" hält, logisch möglich ist und nicht dem eindeutig erkennbaren Regelungszweck des Gesetzgebers zuwiderläuft. Das Ziel, zu gerechten Problemlösungen zu gelangen, kann jedoch, wie gesagt (s. o. 1), von Fall zu Fall schwerwiegend genug sein, u m einen Sinnwandel von Gesetzen zu rechtfertigen; es kann sogar dazu führen, durch gesetzesergänzende und -berichtigende Rechtsfortbildung die Grenzen des Gesetzeswortlautes zu verlassen. Welche Argumente für die Frage der Gerechtigkeit einsetzbar sind, wie man das Gerechtigkeitsproblem „operationabel" machen und w o man Anhaltspunkte für die maßgebenden Gerechtigkeitsvorstellungen finden könne, kann hier nur angedeutet werden: Die wichtigsten Anhaltspunkte ergeben sich aus dem „rechtsethischen K o n text" der Rechtsordnung, i n deren Sinn- und Wertungszusammenhang die auszulegende N o r m einzufügen i s t . 2 5 A u c h die „historische" Auslegung — die Frage nach der Rechtstradition, nach dem „historischen Kontext", in den die vorliegende N o r m sich einreiht — liefert Anhaltspunkte für die in der Rechtsgemeinschaft konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen. So gewinnt sie nicht nur als Hinweis auf die Zwecke des Gesetzgebers, sondern auch unter dem Aspekt der Gerechtigkeit Bedeutung. 2 6 Orientierungen findet die Suche nach einer gerechten Ausle-

23 24 25 26

Dazu unten Kap. 38. Vgl. Zippelius (Fn. 5), § 10 I I I c. Dazu oben Kap. 33 I 2. Nachträgliche Textergänzung.

II. Rechtfertigende Auslegungsargumente

399

gung auch i n der Verkehrssitte und in den lebendig gewachsenen Institutionen des sozialen Lebens. 2 7 5.

Entscheidungsanalysen

Die Gesetzesinterpretation hat sich als ein argumentativer Auswahl- und Entscheidungsprozeß dargestellt, der sich an verschiedenen Zielen orientiert. Es stellt sich die Frage, welche Interpretation diese Ziele i n gerechter und optimaler Weise verwirklicht, und zwar unter Wahrung der unverzichtbaren Ziele und, soweit nötig, unter Zurückstellung weniger schwerwiegender Ziele. Erwägungen dieser A r t fügen sich i n das allgemeine Schema der Entscheidungsanalysen: Bei ihnen geht es generell darum, die Vielfalt der Faktoren sichtbar zu machen, die i n zielorientierten Entscheidungen eine Rolle spielen. Das erleichtert es, über Interessenkonflikte rational zu diskutieren. 2 8 Z u diesem Zweck ist vorweg eine möglichst umfassende Übersicht über die Güter zu gewinnen, auf die sich die erwogene Entscheidung einerseits positiv, andererseits negativ auswirken kann. Die „Wünschbarkeit" oder „Nichtwünschbarkeit" der Auswirkungen einer bestimmten Interpretation läßt sich zunächst gesondert für jedes der betroffenen Güter feststellen. Das sollte i n möglichst konsensfähiger Weise geschehen. Eine Rolle spielt hierbei das Gewicht, das einem betroffenen Gut als solchem (ζ. B. der Ehre) i m Vergleich zu anderen m i t zu erwägenden Gütern (ζ. B. der Pressefreiheit) zukommt; für diese Wertung enthält oft die Rechtsordnung selbst Anhaltspunkte. V o n Belang ist ferner, wie schwer dieses Gut (ζ. B. die Ehre) i m vorliegenden Fall möglicherweise betroffen wird. Neben der grundsätzlichen „Wünschbarkeit" oder „Nichtwünschbarkeit" der Entscheidungswirkungen spielt es auch eine Rolle, m i t welcher Wahrscheinlichkeit die Entscheidung diese Wirkungen herbeiführen w i r d . 2 9 Aus den Faktoren „Wünschbarkeit" (oder „Nichtwünschbarkeit") und „Wahrscheinlichkeit" ergibt sich so hinsichtlich jedes betroffenen Gutes eine abschätzbare Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Entscheidung. Hier hat also die vielgenannte „Folgendiskussion" ihren Platz: Für die W a h l zwischen verschiedenen Auslegungsalternativen ist es nicht zuletzt von Bedeutung, zu welchen realen Konsequenzen die eine und die andere Interpretation führt — und welche dieser Konsequenzen billigerweise vorzuziehen ist.

27 Dazu oben Kap. 33 I 2. 28 Vgl. Engisch (Fn. 3), S. 129 f.; H. Hubmann, Wertung und Abwägung im Recht, 1977, insb. S. 16 ff., 20 ff., 145 ff. 29 Vgl. dazu auch oben Kap. 16 IV.

400

Kap. 35: Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß

Die Gesamtwürdigung, die der Entscheidung zugrunde zu legen ist, hat also nicht nur nach der Nutzenmaximierung, sondern nach einer gerechten Lösung des Interessenkonflikts zu fragen. Sie hat dabei die Summe der Vor- und Nachteile i n Betracht zu ziehen, insbesondere die Anzahl und das Gewicht der positiv und der negativ betroffenen Güter. Eine bestimmte Entscheidungsalternative w i r d eine bestimmte Summe von Vor- und Nachteilen i n sich vereinen. M a n kann dann diese Entscheidung modifizieren (das heißt, Entscheidungsalternativen vergleichen), so lange, bis sich ein angemessenes Verhältnis, nämlich ein optimaler und gerechter Kompromiß zwischen den Vor- und Nachteilen ergibt („Verhältnismäßigkeit"). Findet sich hierbei eine Möglichkeit, die erstrebten Zwecke zu erreichen, ohne andere Interessen zu beeinträchtigen, so bietet sich vorzugsweise diese Lösung a n . 3 0 Jedenfalls sollte aber kein Interesse stärker beeinträchtigt werden, als das zur Wahrung anderer (vorrangiger) Interessen erforderlich ist („Übermaß verbot").

I I I . Offene Fragen Auslegungsargumente stellen kein exaktes Instrumentarium zur vollständigen Lösung aller Auslegungsfragen dar. Oft lassen sie einen Entscheidungsspielraum und damit eine W a h l offen. A u c h der Versuch einer Rationalisierung durch „Entscheidungsanalysen" hat prinzipielle Grenzen, schon wegen der unumgänglichen Gewichtung der kollidierenden Interessen. Zwar sollte auch diese Gewichtung auf der Grundlage eines möglichst breiten Konsenses geschehen: aus den schon genannten Gründen der Gleichbehandlung, der Rechtssicherheit und der Repräsentation. 31 Aber w i r haben unterschiedliche Wertungsdispositionen, die sich nicht rational auflösen lassen. Die Relativität unserer individuellen Wertungen spiegelt sich dann wider i n der Unsicherheit über die in einer Gemeinschaft mehrheitlich konsensfähigen Präferenzen. Die Suche nach konsensfähigen Richtlinien für die v o m Gesetz offengelassenen Rechtsprobleme führt oft nur zu mehr oder minder bruchstückhaften, meist auf typische Lebensvorgänge gemünzten Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich meist nicht zu einer harmonischen Synthese zusammenfügen, sondern nicht selten unvermittelt, j a in einem Gegensatz nebeneinanderstehen, wie zum Beispiel die Ziele möglichst freier Persönlichkeitsentfaltung einerseits und sozialer Rücksichtnahme andererseits oder der Wunsch nach gesichertem und frei verfügbarem Eigentum einerseits und das Interesse an sozialer Gebundenheit, Entziehbarkeit und Sozialisierbarkeit des Eigentums andererseits. W i e immer der gerechte Ausgleich zwischen dem einen und dem anderen Zweck zu finden sei, wie der optimale und gerechte Kompromiß zwischen widerstreitenden Interessen auszusehen habe, das sind Fragen, die nicht immer in 30 Sie entspräche auch einem Postulat der „Pareto-Optimalität"; vgl. V. Pareto , Manuel d'Economie Politique, 2. Aufl. 1927, V I 32 ff., Appendice 89. 31 Dazu oben Kap. 9 I I 3.

III. Offene Fragen

401

mehrheitlich konsensfähigen Vorstellungen eine greifbare Antwort finden. A u f Schritt und Tritt w i r d sichtbar, daß auch das Ethos unseres Kulturkreises ein vielschichtiges und lückenhaftes Gebilde ist, das von ungelösten Antinomien nicht frei ist. Auslegungsfragen — und gleiches gilt für Lückenausfüllungen — führen auf solche Weise den Rechtsanwender immer wieder auf Entscheidungen, für die kein eindeutiges Richtmaß verfügbar ist, und lassen ihm nur die Wahl, nach persönlichem Rechtsgefühl, persönlichen Zweckmäßigkeitserwägungen oder auch in einem rechtsethischen Wagnis zu entscheiden. Trotz solcher verbleibenden irrationalen Elemente der juristischen Entscheidungen ist es sinnvoll, die Möglichkeiten rationaler Argumentation auszuschöpfen: Diese fügt die Suche nach der richtigen Auslegung i n ein Feld methodischer Überlegungen ein und trägt so dazu bei, die richterliche Wertung zu disziplinieren. A u f solche Weise gliedern sich die juristischen Erwägungen nach rationalen Gesichtspunkten 3 2 und werden durch rationale Erwägungsmuster strukturiert. Die „Auslegungskriterien" bewähren sich hier als diskussionsleitende Instrumente der Argumentation, als „Schlüsselbegriffe", die Auslegungs- und letztlich Gerechtigkeitsfragen erschließen, indem sie ihnen einen spezifischen begrifflichen Zuschnitt geben, ohne sie dann aber restlos lösen zu können. 3 3

32 Vgl. N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1972, S. 286. 33 Nachträgliche Textergänzung. Zur Vorstellung problemerschließender „Schlüsselbegriffe" s. o. Kap. 26 I I 2 a. 26 Zippelius

Kapitel

36

Der Denkansatz am konkreten Problem Die Topik ist zu einem Modebegriff der Rechtswissenschaft geworden. E i n Grund dafür ist w o h l der Zauber des Halbverstandenen. E i n wichtigerer Grund liegt darin, daß der Namen der T o p i k für ein w i r k l i c h bedeutendes wissenschaftstheoretisches Programm steht: für den Denkansatz am konkreten Problem, statt am dogmatischen System. I h m gegenüber spielt die klassische Topik, als Technik der Argumentation, eine eher untergeordnete Rolle. So hat Nicolai Hartmann, der jene grundsätzliche Frage bewußt gemacht hat, mit keinem Wort die Topik erwähnt. 1

I . Der Vorrang der konkreten Erkenntnis 1. Gegen den systematischen

Dogmatismus

Der Denkansatz am konkreten Problem ist dem angelsächsischen Recht geläufiger als dem deutschen. Er steht i m Gegensatz zum systematischen Dogmatismus. Dieser geht von einer Gesamtkonzeption — etwa von einer bestimmten Naturrechtsvorstellung, einer materialistischen Weltanschauung oder von einem ethischen Formalismus — aus und sucht von hier aus eine Lösung der Einzelprobleme, die sich i n der Praxis stellen. Solcher Dogmatismus ordnet die konkreten Probleme der Konsequenz des Systems unter: schon durch die Auswahl und den Zuschnitt der Probleme, durch die Unterdrückung und Verbiegung nonkonformer Probleme und durch die oft gewaltsame Herleitung der Problemlösung aus der Gesamtkonzeption — dies alles sind vertraute Züge des philosophischen und des ideologischen Dogmatismus. Nicolai Hartmann hat die Eigenart des systembefangenen Dogmatismus umrissen: „Die Probleme führen nicht auf die Einheit des Ganzen hin, der Forscher folgt ihnen nicht um ihrer selbst willen — getreulich, wie sie ihn führen. Seine Aufgabe ist nicht, sich führen zu lassen, sondern seinerseits die Gedankenmasse auf ein vorgestecktes Ziel hinauszuführen, die vorweggenommene Einheit des Ganzen zu beweisen. Er kann das Eigenleben der Probleme nur so weit gelten lassen, als es dieser Einheit konveniert. Sie haben nur dem Systemgedanken zu dienen, ihn durch1 N. Hartmann, Kantstudien, 1924, S. 162 ff.; vgl. auch H. Kuhn, in: Ztschr. f. Politik 1965, S. 116 f.

I. Der Vorrang der konkreten Erkenntnis

403

zuführen und zu sichern. Die Folge ist die Selektion der Probleme unter dem Gesichtspunkt des Systems, die Vergewaltigung ihrer Eigengesetzlichkeit. Die Konsequenz des Systems hat die Konsequenz der Probleme verschlungen, sie beschnitten, gestutzt." 2 Hartmann hat diesem Dogmatismus ein Denken gegenübergestellt, das den Einzelproblemen nachgeht, ohne sich die hierbei ergebenden Einsichten durch eine vorgefaßte Gesamtkonzeption beschneiden zu lassen. Es läßt schlicht gelten, was es findet, auch wenn sich die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen nicht nach einem vorgestellten Systementwurf zueinanderfügen. Ja gerade solche Unstimmigkeiten werden bedeutsam als Hinweise darauf, daß und i n welcher Hinsicht der Systementwurf den Dingen nicht gerecht w i r d und einer Ergänzung oder Modifikation bedarf. Einer solchen Betrachtungsweise liegt die Einsicht in die Unvermeidlichkeit offener Fragen zugrunde, die Einsicht also, daß das menschliche Erkenntnisbemühen nicht i n einem dogmatischen System seine Erfüllung und seinen Abschluß finden kann, sondern sich immer wieder genötigt sieht, über den jeweiligen dogmatischen Bestand hinauszugreifen. Die Absage an den systembefangenen Dogmatismus ist auch eine Absage an jenen Denkstil, der die Komplexität des Konkreten auf ein antizipiertes Prinzip oder eine antizipierte einfache Grundtatsache reduzieren möchte. Hier bewährt sich der Doppelsinn des „Reduzierens": Das Zurückführen ist zugleich ein Einengen, ein Verkürzen. Solche Reduzierung erfaßt immer nur Teilaspekte des Konkreten. A n diesem Punkt begegnen sich die K r i t i k am systembefangenen Dogmatismus, Erkenntnisse der Ideologiekritik und Einsichten der Hegeischen Dialektik („Das Wahre ist das Ganze" 3 ). Die Eigenart eines am konkreten Problem ansetzenden Denkens und seine Bedeutung für die Jurisprudenz hat schon Philipp Heck beschrieben: 4 „Der Forscher sucht zunächst das Problem möglichst bestimmt als offene Frage zu erfassen. Dann werden von dieser Grundhaltung aus die verschiedenen denkbaren Lösungen und die Anhaltspunkte für jede von ihnen hervorgeholt und angeschaut. Den Schluß bildet die Abwägung der Anhaltspunkte für und wider die verschiedenen Lösungen und dadurch die schließliche Entscheidung." Aber er hat auch bemerkt, daß diese „einzelnen Grundelemente, die Konfliktsentscheidungen, . . . sich nun voneinander nicht isolieren" lassen, und hat zugleich den Systembezug und die Systembedingtheit der einzelnen Problemlösungen gesehen: „Bei jeder Konfliktsentscheidung kann der gesamte Inhalt der Rechtsordnung eingreifen." „Die Probleme begegnen uns als Problemkomplexe und die Entscheidungen als Entscheidungsgruppen 2 Hartmann (Fn. 1), S. 163 ff. 3 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 4 I. 4 Ph. Heck, Begriffsbildung und lnteressenjurisprudenz, 1932, S. 149 f. 26*

404

Kap. 36: Der Denkansatz am konkreten Problem „Jeder für die Normfindung erhebliche Zusammenhang ist zu ermitteln. Werden die gemeinsamen Elemente erkannt und in der Darstellung zusammengefaßt, so ergeben sich Gruppenbegriffe von immer wachsender Allgemeinheit. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die vorhandenen sachlichen Beziehungen in der Form eines Begriffsgebäudes, eines Begriffssystems darzustellen." 2. Verbleibende

Bedeutung systematischen

Denkens

Gleichgültig, ob man Heck nun i m einzelnen folgen w i l l oder nicht, und unbeschadet der heute trivial gewordenen Einsicht, daß sich die Rechtsordnung nicht als Axiomensystem darstellen läßt 5 , behält das systematische Denken seine Bedeutung 6 — als eine unter mehreren Denkweisen, die zur Lösung juristischer Fragen eingesetzt werden. Eine Systematisierung ist in verschiedener Hinsicht möglich. Als klassifizierende ζ. B. ordnet sie Normen oder Rechtsbegriffe nach gemeinsamen und unterscheidenden Merkmalen: so etwa bei der Klassifizierung der dinglichen Rechte. Als geltungstheoretische gliedert sie die Normenordnung nach dem Gesichtspunkt des Geltungsgrundes: als „Stufenbau" der Normenordnung. 7 A l s teleologische ordnet sie Normen einander nach der Zweck-Mittel-Relation zu; ein Beispiel bietet die Zusammenfassung der Veifahrensvorschriften, die unmittelbar oder mittelbar der Verfahrensbeschleunigung, der Wahrheitsfindung usw. dienen. A u c h die Prüfung der Normenordnung auf Widersprüche 8 setzt Normen zueinander i n Beziehung und erweist sich als eine Modalität des systematischen Denkens. Dieses erfüllt in der Jurisprudenz die in mehrfacher Hinsicht wichtigen Aufgaben, die Widerspruchsfreiheit und Übersichtlichkeit der Normenordnung zu gewährleisten: Logisch-systematisches Denken hat dafür zu sorgen, daß sich die einzelnen Rechtssätze widerspruchsfrei zueinanderfügen. Es hat auch die einzelnen Normen zu einem möglichst transparenten Normengefüge zusammenzuordnen und eine einfache Darstellung der Rechtsordnung zu ermöglichen. Beides dient der Orientierungsgewißheit und damit der Rechtssicherheit. Zudem macht das systematische Denken sichtbar, welche allgemeinen Grundsätze notwendigerweise vorausgesetzt werden, wenn spezifische Normen eines bestimmten Inhalts gelten sollen 9 , und dient damit der axiologischen Konsequenz der Rechtsordnung. Es hilft schließlich, in gleichartigen Fällen gleiche oder ähnliche Rechtsgrundsätze anzuwenden und damit das Prinzip der Gleichbehandlung zu verwirklichen. 5 Vgl. U. Diederichsen, in: NJW 1966, S. 699 f.; N. Horn, in: NJW 1967, S. 602, 605. 6 Vgl. K. Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Studium Generale 1957, S. 173 ff. m. w. Nachw.; Κ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 133 ff.; L Raiser, in: NJW 1964, S. 1203 f.; Diederichsen (Fn. 5). 7 Dazu unten Kap. 38 I 1 b. s Dazu oben Kap. 35 I I 3. 9 Vgl. etwa V. Kraft, Wissenschaftliche Wertlehre, 2. Aufl. 1951, S. 155 ff., 212 ff., 263; G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 1947, § 8 III.

405

I. Der Vorrang der konkreten Erkenntnis

Zudem macht sich die grundsätzliche Systematisierungstendenz des erkennenden Bewußtseins geltend, also die von Kant beschriebene „architektonische" Natur der Vernunft, die darauf angelegt ist, alle Erkenntnisse zu betrachten „als gehörig zu einem möglichen System". 1 0 W i e soll man sich aber das Zusammenspiel von systematisierendem Denken und einem vorrangigen Bemühen um konkrete Erkenntnis vorstellen? Die systematische Einheit kann dann nur als projektierte, nur als versuchsweiser konstruktiver Entwurf genommen werden, der unter dem Vorbehalt jederzeitiger Modifikation steht: Wenn die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen es fordern, ist also die Gesamtkonzeption zu ändern; nicht darf diese umgekehrt zum Prokrustesbett der konkreten Erkenntnis werden. 1 1 Die Naturwissenschaften haben sich längst daran gewöhnt, ihren Prinzipien und Deutungsmodellen einen solchen bloß hypothetischen Charakter beizumessen. Sie gelten — wenn w i r Formulierungen Poppers gebrauchen wollen — als „vorläufig unbegründete Antizipationen", „Einfalle", „Gesichtspunkte", mit denen wir, sie immer wieder aufs Spiel setzend, die Natur einzufangen suchen. Sie stehen also unter dem Vorbehalt jederzeitiger Verwerfung oder Modifikation für den Fall, daß die konkrete Erfahrung ihnen widerstreitet. Der Fortschritt zu einer umfassenderen Theorie vollzieht sich auf quasi-induktivem Wege; man konzipiert und überprüft zunächst Theorien von geringerer Allgemeinheitsstufe und erst darauf aufbauend und an eine bestimmte Problemsituation anknüpfend, die umfassenderen, allgemeineren Theorien. 1 2 W o konkrete Einsichten die letztlich entscheidende Erkenntnisgrundlage bilden, kann das Ziel systematischer Bemühungen also nicht ein starres, sondern nur ein „offenes" System sein, das darauf angelegt ist, laufend ergänzt und modifiziert zu werden. 3. Rechtsentwicklung

durch vergleichendes

Denken

A l s wichtiges Instrument einer an den konkreten Problemen ansetzenden Rechtsentwicklung erweist sich der typisierende Fallvergleich. 1 3 Wehrt sich ζ. B. das Rechtsempfinden dagegen, den Grundsatz „pacta sunt servanda" auch auf unsittliche oder arglistig erschlichene Verträge oder auf Verträge mit Minderjährigen anzuwenden, so ist der Grundsatz diesen Einsichten anzupassen, indem die genannten Falltypen aus seinem Geltungsbereich ausgenommen werden. Das entscheidende Kriterium dafür, ob problematische Fälle dem allgemeinen Grund-

io /. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl. 1787, S. 502; dazu auch oben Kap. 14 I 2. u Dazu oben Kap. 1 IV 1. 12 Κ R. Popper, Logik der Forschung, 2. Aufl. 1966, S. 7 f., 71, 221 ff.; vgl. auch dens., Was ist Dialektik? in: E. Topitsch, Logik der S oziai Wissenschaften, 3. Aufl. 1966, S. 262 f.; E. Topitsch, ebenda, S. 22. 13 Dazu unten Kap. 37 I I 3.

406

Kap. 36: Der Denkansatz am konkreten Problem

satz zuzuordnen oder von i h m auszunehmen sind, ist die Frage: ob sie, ihrem Typus nach, jenen Falltypen gleichzubewerten sind, die zum „Begriffskern" der N o r m gehören. Diese Struktur des Erwägens ist den Fragen der Interpretation und der Analogie gemeinsam. 1 4 Rechtsgrundsätze bedürfen oft einer differenzierenden oder auch generalisierenden Entwicklung ihres Anwendungsbereiches, u m sie den sich verfeinernden Rechtseinsichten anzupassen. Rechtsbegriffe bedürfen auch schon wegen der semantischen Unschärfe der Gesetzesworte 15 einer Präzisierung ihres Bedeutungsumfanges. Dank seiner fallvergleichenden Methode bietet das angelsächsische Fallrecht ein besonders bemerkenswertes Beispiel einer Rechtsentwicklung, die sich primär dem konkreten Problem und seiner einleuchtenden Lösung verpflichtet w e i ß . 1 6 Wer i n diesem Recht zweifelhafte Fälle zu lösen habe, müsse, so hat man gesagt, eine Wahl zwischen offenen Alternativen treffen. Diese Wahl gehe darum, „einer Reihe von Fällen einen neuen Fall hinzuzufügen". Sie habe sich danach zu richten, „ o b der vorliegende Fall dem klaren Fall in ,relevanten' Hinsichten hinreichend' ähnlich" sei. 1 7 Hier bilden konkrete Einsichten das Kriterium für die Richtigkeit allgemeiner Grundsätze; nicht sind umgekehrt diese Grund und Grenze der konkreten Einsicht. L i einer am Case-Law gebildeten juristischen Denktradition wurzelt auch die Reserve Edmund Burkes gegenüber allem abstrakten Räsonieren in Ethik und Politik; denn i m Leben der Gemeinschaft seien alle Dinge unterschiedlich gemischt und zu einer unendlichen Vielgestaltigkeit geformt, je nach dem Temperament jeder Gemeinschaft und den Umständen, unter denen sie lebt. 1 8

I I . Topik Theodor Viehweg hat vorgeschlagen, für die Lösung der konkreten Probleme die Topik fruchtbar zu machen. 1 9 Sie ist als Technik der Problem-"Erörterung" dazu bestimmt, solche Argumentationsweisen und Argumente aufzudecken, die für die Problemlösung erheblich sind und i m Spiel der Diskussion „eine Rolle spielen" können. Sie soll erkennen helfen, „ w o das Problem steckt" und welches die Kriterien seiner Lösung sein können. 14

Schon K. Larenz hat auf die methodische Homogenität von Interpretation und Analogie hingewiesen, in: Festschr. f. K. Olivecrona, 1964, S. 385 f., 404. 15 Dazu oben Kap. 35 I. 16 Dazu oben Kap. 9 I I I 2. π H.L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, S. 123 ff.; vgl. auch die Bemerkung Κ. N. Llewellyns (Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, S. 79 Anm. 1) über das Verhältnis des „festen Gehaltskerns" zu dem „flüssigen Grenzraum" eines Rechtssatzes und über die „Tendenzen", welche die Richtung der Begriffsfixierung bestimmen. is Nach W. Hennis, Politik und praktische Philosophie, 1963, S. 54 f. i9 Th. Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 3. Aufl. 1965.

II. Topik

407

Die Topik i m Sinne der klassischen R h e t o r i k 2 0 wollte Fundstellen für Fragen und Argumente liefern, wie es etwa der bekannte Topoikatalog „quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando" tat. Geläufiges Beispiel aus der juristischen Praxis sind etwa die Schemata zur Prüfung der Zulässigkeit einer Klage (Zulässigkeit des Rechtsweges, sachliche Zuständigkeit, örtliche Zuständigkeit usw.) und ihrer Begründetheit (ex contractu, quasi ex contractu, ex delicto usw.). Ja man könnte, zugespitzt, die gesamte Rechtsordnung als den Topoikatalog der Juristen bezeichnen. M a n habe, so veranschaulichten Quintilian und Erasmus von Rotterdam die topische Methode, gleichsam Tür für Tür abzuklopfen, ob sich etwas herauslocken lasse. So enthüllt sich die rhetorische Topik, die Technik des „per omnes locos tractare", als gute, alte, hausbackene Bekannte. 1. Zugriff

auf schon Bekanntes

Die i m strengen Sinne topische inventio ist also kein freies Entwerfen und Erfinden; sondern sie findet in der konkreten Problematik eine schon bekannte Einsicht, N o r m oder Frage wieder, die sich i m vorliegenden Fall als erheblich erweist. 2 1 Topisch ist das Argument aus der Schublade, das Argument, das bereits seinen Ort, seinen topos hat. A u c h Francis Bacon hat das topische Denken in dieser Weise beschrieben: Es sei aus schon bereitliegenden Kenntnissen das hervorzuholen, was auf die Angelegenheit zutreffen könne, die wir gerade untersuchen. 2 2 Ä h n l i c h hat V i c o es charakterisiert: Es seien „alle loci, an denen Argumente bereitliegen, wie die Buchstaben des Alphabets zu durchlaufen"; dies vermittle „die Fähigkeit, aus dem Stegreif zu sehen, was jeweils in der vorliegenden Sache geeignet ist, zu überzeugen". 2 3 Kant faßte die Sache ebenso auf und hielt bekanntlich nicht viel von der „ T o p i k des Aristoteles, deren sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, u m unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für seine vorliegende Materie schickte". 2 4 Kurz, i m topischen Denken geht es darum, schon gemachte Einsichten für das konkrete Problem zu aktualisieren. So entdecken w i r in i h m jene fundamentale Erkenntnisstruktur wieder, die Moritz Schlick, von einer ganz anderen Fragestellung herkommend, i n den Mittelpunkt seiner Erkenntnislehre gerückt hat: daß Erkennen ein Wiederfinden — ein Erkennen als dies oder jenes — ist. 2 5 I n der Diskussion von Gerechtigkeitsfragen dient die topische Denkweise dazu, die Urteilsgrundlagen, die für das konkrete Problem relevant werden können, 20 Nachweise bei E. Mertner, in: Festschr. f. O. Ritter, 1956, S. 185 ff. 21 Vgl. auch J. Stroux, Römische Rechtswissenschaft und Rhetorik, 1949, S. 61 f. 22 F. Bacon, De dignitate et augmentis scientiarum, V, 3; die englische Fassung, Advancement of Learning, Everymans Library, S. 127 ff., weicht in der Ausführlichkeit und in Nuancen der Formulierung etwas ab. 23 G. B. Vico, De nostri temporis studiorum ratione, Abschn. III. 24 Kant (Fn. 10), S. 324 f. 25 Dazu unten Kap. 37 I 1.

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Kap. 36: Der Denkansatz am konkreten Problem

möglichst vollständig aufzufinden und „ i n Betracht zu ziehen": erstens den zu beurteilenden Sachverhalt, diesen zutreffend und in seiner wahren Struktur, zweitens die Beurteilungskriterien, diese möglichst vollständig und in ihren nachprüfbaren Zusammenhängen. Unter dem zweiten Aspekt spielen die „Ideen" des Rechts eine Rolle: Billigkeit, Gleichheit, Rechtssicherheit und die möglichen Zwecke der Rechtspolitik. 2 6 Unter den Beurteilungskriterien dient als problemerschließender Topos auch der Grundsatz der Interessenabwägung. Diesen hat Hubmann wiederum aufgegliedert 2 7 : Für die Interessenabwägung spielen insbesondere eine Rolle: der Rang der gegeneinander abzuwägenden Interessen, die Interessenhäufung, die größere oder geringere Gefahr oder Nützlichkeit für ein Gut und die Intensität, m i t der Güter i n Mitleidenschaft gezogen werden. Für das Auffinden von Rechtsproblemen und Lösungsmodellen sind auch Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte von heuristischem Wert. Darauf hat besonders M a x Salomon hingewiesen: „Rechtsvergleichung ist Vergleichung von Lösungen eines einheitlichen Problems . . . So wird die einzelne Problemlösung, und mehr noch werden die Lösungen in ihrer möglichst umfassenden Gesamtheit zu einem Paraklet. Nicht nur, daß die reichliche Fülle möglicher Lösungen es erleichtert, eine andere Lösung zu finden; ihnen kommt heuristischer Wert vor allem um deswillen zu, weil sie allererst ermöglichen, das Problem selbst ins Auge zu fassen." 2 8 Es gilt also, zur Lösung des Einzelfalles solche schon vorhandenen Einsichten und Normen hervorzuholen, die ihn betreffen, oder, anders angewendet, den Einzelfall als Anwendungsfall schon vorhandener Einsichten oder Normen zu erkennen. Dies aber ist ein Geschäft der Urteilskraft, von der Kant sagte, daß sie „ein besonderes Talent sei, welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein w i l l " . Regeln, die von fremder Einsicht entlehnt sind, könne man auch einem Dummen einpfropfen — bis zur Gelehrsamkeit. Aber sich dieser Einsichten richtig zu bedienen, sei eine Naturgabe, die sich durch Beispiele aber schärfen lasse. 29 2. Produktiver

Gebrauch der Topik

N u n ist in der neueren Diskussion auch eine Verbindung zwischen Topik und Forschungsdenken behauptet, allerdings nicht hinreichend geklärt worden. Die entscheidende Frage lautet hier, ob topisches Denken sich in der bloßen Reproduktion bereitliegenden Wissens erschöpft oder ob es auch einen produktiven Gebrauch dieser Denkweise gibt. Schon die Anwendung allgemeiner Einsichten auf ein konkretes Problem geht über ein bloßes Reproduzieren hinaus. Der Zugriff 26 27 28 29

Vgl. Radbruch (Fn. 9), §§ 7 ff. H. Hubmann, Grundsätze der Interessenabwägung, AcP 155 (1956), S. 97 ff. M. Salomon, Grundlegung der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, S. 33. Kant (Fn. 10), S. 171 ff.

II. Topik

409

auf vorhandene Kenntnisse kann aber ersichtlich auch dem forschenden Denken und Fragen die Richtung weisen und jenes Wissen i m Erkenntnisprozeß nutzbringend einsetzen. Bei Bacon ist diese Einsicht i m Ansatz vorhanden: 3 0 Nicht nur das Hervorholen vollständig bereitliegender Kenntnisse gehört zu dem „ready use o f knowledge", sondern vorhandene Kenntnisse werden auch zum Finden neuer Einsichten gebraucht, sie können unsere Fragestellung lenken und die Punkte bezeichnen, auf die es für die Untersuchung und das Entdecken neuer Einsichten ankommt. Genauer gesagt: Für das konkrete Problem bieten die bereitliegenden Einsichten hier kein vollständiges Lösungsmodell, sondern nur einzelne Teilerkenntnisse, die auf das Problem zutreffen und für seine Lösung eine Rolle spielen können, aber der Ergänzung durch eine noch zu erforschende neue Einsicht bedürfen. So hat z. B. Fresnel zur Lösung der Frage, ob das Licht Wellennatur habe, schon vorhandene Erkenntnisse über die Spiegelreflexion und über die Interferenz von Wellen zu Hilfe genommen; die dadurch eröffneten Alternativen wurden aber erst durch das Experiment entschieden. Wenn in der Jurisprudenz die Frage zu prüfen ist, ob aus einem sittenwidrig herbeigeführten rechtskräftigen Urteil vollstreckt werden dürfe, unternehmen w i r die Lösung wiederum nicht aufs Geratewohl, sondern verwenden schon geläufige Einsichten: über die Funktion der Rechtskraft und über die Notwendigkeit, Rechtssicherheit gegen materielle Gerechtigkeit abzuwägen. Wenn w i r ein Interpretationsproblem zu lösen haben, ziehen w i r geläufige Auslegungskriterien i n Betracht. 3 1 Offenkundig erschöpft sich der Erkenntnisprozeß nicht i m topischen In-Betracht-Ziehen von Lösungsgesichtspunken und möglichen Lösungsmodellen. Schon logische Feststellungen — etwa, daß verschiedene zur Diskussion stehende Gesichtpunkte logisch voneinander abhängen oder sich gegenseitig ausschließen — sind nichttopische Aussagen. Über die Wahl zwischen den topisch in Betracht gezogenen Alternativen entscheidet i n den Naturwissenschaften die empirische Bestätigung oder Falsifikation. I m Recht wird die Entscheidung etwa zwischen mehreren zur Diskussion stehenden Auslegungskriterien oft davon bestimmt, welches von ihnen zu der Lösung führt, die das Rechtsgefühl am meisten befried i g t . 3 2 Hier wie dort kommen also nichttopische Erkenntnisweisen hinzu. M i t fortschreitender Erkenntnis entstehen immer wieder neue Topoi. A u c h das hat Bacon gesehen. „ A r s inveniendi adolescit cum inventis." Wenn w i r einen Weg entlanggehen, gewinnen wir nicht nur das Stück des Weges, das w i r zurückgelegt haben, sondern können auch den noch vor uns liegenden Weg deutlicher überschauen; ebenso erhellt jede Stufe des Fortschritts in einer Wissenschaft das Folgende. Es entstehen neue Einsichten, die für die Lösung neuer Fragen eine Rolle spielen können. 30 Bacon (Fn. 22). 31 Vgl. Stroux (Fn. 21), S. 26 ff., und das Beispiel auf S. 42 ff.; H. Coing , Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959. 32 Dazu oben Kap. 1 I 3, I I I 1; 33 I 1; 35 I I 4.

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Kap. 36: Der Denkansatz am konkreten Problem 3. Grenzen der topischen

Methode

Grenzen der topischen Methode liegen schon i n ihrer instrumentalen Funktion. Sie ist eine Technik, die lediglich aufdecken hilft, welche bereitliegenden Einsichten und Fragen von Fall zu Fall eine Rolle spielen können, ohne aber — als bloße Technik des Erörterns — für sich allein schon die zureichende Begründung für die Lösung zu geben. Das juristische Denken ist methodisch nicht homogen. Das topische, also umherschauende, prämissensuchende Denken ist nur eine unter den Denkweisen der Jurisprudenz. Anteil an der Lösung juristischer Fragen hat neben und i m Wechselspiel m i t der topischen Methode insbesondere das systematische Denken, das Urteile, Normen und Begriffe zueinander i n Beziehung setzt, und nicht zuletzt die Prüfung denkbarer Lösungen auf ihre Vereinbarkeit m i t dem Rechtsgefühl. A u c h ist das topische Denken selbst nicht i n jeder Hinsicht systemfremd. 3 3 Es w i l l Argumente und Fragen zur Verfügung stellen und vollzieht sich um so geläufiger, je übersichtlicher diese systematisch geordnet bereitstehen.

33 Vgl. Stroux (Fn. 21), S. 41, 61 f.; Mertner (Fn. 20), S. 194 ff.

Kapitel

37

Typisierendes Denken I . Die Eigenart typisierender Betrachtung 1. Die „anschauliche

" Basis der Typenbildung

Die Frage nach dem typischen Geschehen rührt zweifellos an eine fundamentale Erkenntnisstruktur. Denn — so hat es Thomas M a n n formuliert — dem „Menschen ist am Wiedererkennen gelegen; er möchte das Alte i m Neuen wiederfinden und das Typische i m Individuellen". 1 Moritz Schlick war der Ansicht, daß in solchem Wiederfinden des Gleichen überhaupt der Angelpunkt allen Erkennens liege, daß Erkennen ein Wiederfinden, ein Erkennen als dies oder jenes, sei. 2 Aus der Anschauung entsteht ein Typus als „Kongruenztypus": durch Festhalten der Merkmale, die bei verschiedenen Gegenständen wiederkehren und sich decken, und durch Verschwinden der nur vereinzelt auftretenden Eigenschaften. Dieser Vorgang vollzieht sich gewöhnlich in der Vorstellung des Beobachters. Kant spricht davon, daß die Einbildungskraft „ein B i l d gleichsam auf das andere fallen zu lassen und, durch die Kongruenz der mehreren von derselben Art, ein Mittleres herauszubekommen wisse". 3 M a n versucht, diesen Vorgang mit technischen M i t t e l n — durch Übereinanderkopieren von Photographien — nachzuahmen. So hat man bei der Erforschung von Konstitutionstypen ζ. B. Bilder von Leptosomen übereinanderkopiert, u m auf diese Weise die wiederkehrenden Merkmale herauszuheben, die singulären Merkmale zurücktreten und dadurch den Typus des Leptosomen sichtbar werden zu lassen. 4

1 Zitiert nach Κ Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 258. 2 Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, 2. Aufl. 1925, S. 6 ff., 46 f., 76 f.; auch im topischen Denken wird diese Erkennisstruktur sichtbar, dazu oben Kap. 36 I I 1. 3 /. Kant, Kritik der Urteilskraft, 2. Aufl. 1793, § 17. 4 Vgl. E. Kretschmer, Körperbau und Charakter, 25. Aufl. 1967, S. 411. Ästhetisch gesehen verwirklicht dieser Kongruenztypus bemerkenswerterweise nicht nur einen Durchschnittswert, sondern eine Annäherung an ein ästhetisches Ideal; die photographische Technik hat hier offenbar durch das Festhalten der wiederkehrenden und das Weglassen der singulären Merkmale eine der wesentlichen Leistungen nachgeahmt, die sich sonst in der Vorstellung des Künstlers vollziehen.

412

Kap. 37: Typisierendes Denken

E i n Typus kann auch „konstruiert" sein — in dem Sinne, daß er ζ. B. nicht einfach eine i m Leben vorgefundene durchschnittliche Verhaltensweise, sondern etwa ein erwünschtes, vorbildliches Verhalten darstellt; auch dann knüpft er aber „an Eigenschaften an, welche an wirklichen Richtern, Ärzten, Vätern usw. tatsächlich festgestellt werden können, wenn vielleicht auch nicht insgesamt und in dieser Vollkommenheit", so daß man sagen konnte, auch solche Typen würden „mehr gefunden als erfunden". 5 I n dieser Genealogie unterscheiden sich Typen nicht von empirischen Allgemeinbegriffen. A u c h diese werden durch das Festhalten der wiederkehrenden und das Absehen von den singulären Merkmalen gebildet. Edmund Husserl hat diesen Vorgang so beschrieben: „Daß alle Gegenstände der Erfahrung von vornherein als typisch bekannte erfahren werden, hat seinen Grund in der Sedimentierung aller Apperzeptionen und ihrer habituellen Fortwirkung auf Grund assoziativer Weckung. Assoziation stellt ursprünglich passiv die Synthesis des Gleichen mit dem Gleichen her, und das nicht nur innerhalb eines Feldes der Präsenz, sondern auch durch den ganzen Erlebnisstrom und seine immanente Zeit und alles in ihr je Konstituierte hindurch. Es konstituieren sich so Synthesen des Gleichen mit dem Gleichen, das assoziativ geweckt und dann in die Einheit einer vergegenwärtigenden Anschauung zusammengebracht werden kann." 6 „Die Interessenrichtung auf das Allgemeine, auf die Einheit gegenüber der Mannigfaltigkeit, geht" auf „das in der Deckung der einzeln erfaßten Gleichen sich passiv vorkonstituierende, sich auf Grund der Deckung abhebende Eine, Identische". 7 „Die Möglichkeit der Bildung von Allgemeingegenständlichkeiten, von ,Begriffen 4 reicht demnach so weit, als es assoziative Gleichheitssynthesen gibt". 8 Das identische Allgemeine — der Begriff — w i r d hierbei von Husserl nicht als bloßer T e i l der individuellen Gegenstände verstanden 9 , sondern als ideales Sein, „das keine wirkliche Existenz entsprechender Einzelheiten voraussetzt" 1 0 . W i e man sich auch zu dieser Frage der Idealität des „Allgemeinen" stellen mag, sie ist jedenfalls für Typus und Begriff gleich zu beantworten; ein Unterschied zwischen Typus und Begriff ist hierauf nicht zu gründen. E i n anderer Unterscheidungsversuch sieht die Hauptleistung des Begriffs i m Begrenzen; hingegen sei dem Denken in Typen die Inhaltsangabe, das Umfassen von Denkinhalten, eigentümlich. 1 1 A u c h diese Gegenüberstellung überzeugt nicht: Die Begriffsmerkmale empirischer Begriffe bezeichnen gleichfalls be-

5

A. Koller, Grundfragen einer Typuslehre im Gesellschaftsrecht, 1967, S. 30. 6 E. Husserl, Erfahrung und Urteil, 1939, § 81, a. 7 Husserl (Fn. 6), § 81, b. s Husserl (Fn. 6), § 82. 9 Husserl (Fn. 6), § 81, b. 10 Husserl (Fn. 6), § 82. u K.H. Strache, Das Denken in Standards, 1968, S. 42 f.

I. Die Eigenart typisierender Betrachtung

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stimmte Erfahrungsinhalte und die begriffliche Abgrenzung geschieht durch A n gabe solcher inhaltsbestimmenden Merkmale. U n d wie sich die Auswahl von Typusmerkmalen danach bemißt, welchem Zweck, welcher Funktion, insbesondere welchem Erkenntnisinteresse ein Typus dienen soll, so ist auch die Auswahl der Merkmale eines Begriffs eine Frage der Zweckmäßigkeit und richtet sich nach der Funktion, welcher der Begriff dient. 1 2 E i n Unterschied zwischen typisierendem und begrifflich subsumierendem Denken liegt aber i n der Anwendungsweise. So nennen w i r ζ. B. einen Menschen „typisch leptosom", „typisch deutsch" oder einen „typischen Stubengelehrten" und meinen damit, daß bei i h m die Merkmale dieses Typus nicht nur überhaupt vorkommen, sondern gegenüber anderen, untypischen Merkmalen vorherrschen, während das subsumierende Denken lediglich danach fragt, ob die Begriffsmerkmale überhaupt erfüllt sind. 2. Die „Ganzheitlichkeit"

des Typus

Eine Eigenart des Typus hat man zutreffend darin gesehen, daß er eine Ganzheit, eine Gestalt darstelle. 1 3 Wenn sich auch der Typus als wiederholt Antreffbares, als etwas mehrmalig Gegebenes, als etwas Allgemeines darstellt, „so wäre es doch irrig, nun umgekehrt anzunehmen, jedwedes Allgemeine sei ausnahmslos auch als ,Typus' anzusprechen. Vielmehr erhellt..., daß es sich immer nur um ganzheitliches Allgemeines (universalia), m. a. W. um mehrmalige Ganzheiten handelt, die mit der Bezeichnung ,Typen' belegt werden: so ist das als Typus geltende Allgemeine ,mittelalterliche Stadt' ebenso ein Ganzes, wie etwa der ,Verbrecher' oder der ,Schizothyme' typologisch eine Eigenschaftsganzheit (,Merkmalskomplex') darstellt", während einzelne allgemeine Eigenschaften, wie ζ. B. oval, grün, mutig, für sich allein keine Typen sind. 1 4 Für wiederkehrende Merkmalskombinationen und deren Wirkungszusammenhänge besitzen Gestalttypen — die zunächst intuitiv erfaßt werden — einen heuristischen W e r t . 1 5 Ernst Kretschmer hat das für seine charakterologische Typenlehre einprägsam beschrieben: I n der lebenden Natur „heben sich an ganz bestimmten Stellen Gruppierungen heraus, die uns immer wieder anschaulich begegnen und auffallen; erfassen w i r sie exakt, so zeigt sich, daß w i r hier Schnittpunkte häufiger zusammen vorkommender Merkmalsgruppen, korrelative Konzentrate, getroffen haben" 1 6 ; was innerlich zusammengehöre, trete gerade 12 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, § 1 II. 13 Kretschmer (Fn. 4), S. 409 ff.; Engisch (Fn. 1), S. 247 ff., 260; Κ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 334; ders., in: Festschr. f. M. Glockner, 1966, S. 159; Koller (Fn. 5), S. 18 ff. 14 J. E. Heyde, Typus, in: Studium Generale, 1952, S. 235 ff., 237 f. 15 H. J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, in: Studium Generale, 1952, S. 195 ff., 197. 16 Kretschmer (Fn. 4), S. XI.

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Kap. 37: Typisierendes Denken

durch Gruppenkorrelationen hervor. 1 7 Die Erkenntnis hält sich an den nach seinen Merkmalen analysierten und bestimmten Typus, also an den Typus als Merkmalskomplex. Doch vor Einsatz des analytischen Denkens läßt sie sich von Intuition leiten, ganz i m Sinne Goethes: „Bewährt den Forscher der Natur ein frei und ruhig Schauen, so folge Meßkunst seiner Spur mit Vorsicht und Vertrauen." Dabei mag die tiefergreifende Frage dahingestellt bleiben, ob nicht — über die heuristische Funktion intuitiv ganzheitlichen Erfassens hinaus — überhaupt eine „gnoseologische Priorität ,des Ganzen vor den T e i l e n 4 " besteht 1 8 , ob also die Erfassung des Typus als unzergliederter Einheit eine grundsätzliche erkenntnismäßige Priorität vor dem analytischen Erfassen der einzelnen Merkmale besitzt. Jedenfalls bedeutet aber das analytische Herausheben der einzelnen Merkmale einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt gegenüber dem intuitiv ganzheitlichen Erfassen. Mitunter sieht man den entscheidenden Schritt v o m bloß Bekannten zum Erkannten überhaupt darin, daß eine Typusganzheit — die zunächst nur intuitiv unzergliedert erfaßt wurde - — nach ihrer Struktur und ihren einzelnen Merkmalen analysiert und bestimmt; w i r d . 1 9 Erst dadurch w i r d der Typus geeignet, wissenschaftliche Erkenntnis und Systembildung zu fördern, was die bloße A n schauung nicht vermöchte, da sie i m Grunde nicht mitteilbar i s t . 2 0 Die Eigenart, die m i t dem W o r t „Ganzheitlichkeit" unscharf umschrieben wird, erwçijst sich so beim entwickelten Typus als dessen Strukturiertheit: I m Typus werden die Merkmale nicht als bloße Summe, sondern als ein bestimmtes Merkmalsgefüge erfaßt. Aber auch i n diesem Festhalten der Struktur liegt kein charakteristisches Unterscheidungsmerkmal zwischen Typus und Allgemeinbegriff. Der Gegenmeinung liegt die Vorstellung zugrunde, ein Allgemeinbegriff sei eine bloße „Summe von Merkmalen 4 4 und er entstehe durch „Festhalten der isolierten Merkmale als solcher und ihre einfache A d d i e r u n g " . 2 1 Aber das ist eine sehr eigenwillige Auffassung des Begriffs: Sie geht an der seit Piaton überkommenen Vorstellung der Idee vorbei und ebenso an der Husserlschen Deutung der Begriffsbildung als Wesensschau 22 . Legt man jedoch zugrunde, daß m i t Gestaltbegriffen — wie „Mensch 4 4 , „Haus" oder „Rose" — immer ein Merkmalsgefüge und kein Brei von Merkmalen gemeint ist, so bildet auch die Struktur kein stichhaltiges Kriterium, durch das sich Typen von Begriffen unterscheiden würden. Der Typus

π Kretschmer (Fn. 4), S. 418. is Heyde (Fn. 14), S. 238. 19 Heyde (Fn. 14), S. 238 f. 20 Larenz (Fn. 13, 1960), S. 335, 338. 21 Vgl. Koller (Fn. 5), S. 17 ff. m. w. Nachw. 22 Vgl. F.Überweg, System der Logik, 4. Aufl. 1874, §58; B. Erdmann, Logik, 3. Aufl. 1923, §§ 164, 166.

I. Die Eigenart typisierender Betrachtung

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steht i n dieser Hinsicht in einem Gegensatz nur zu solchen Begriffen, die bloß einzelne isolierte Merkmale — wie etwa lang, kalt oder schwarz — erfassen. 23 3. Die „Offenheit"

des Typus

M a n hat das typisierende Denken gefeiert als Befreiung aus den spanischen Stiefeln starrer Begrifflichkeit 2 4 , aus dem harten Entweder-Oder der Begriffsanwendung 2 5 . Naturwissenschaftler wie Juristen erfahren immer wieder die Unangemessenheit der Begriffe. „Während die Eigenschaften der Objekte, die die Erfahrung uns darbietet, durch stetige Reihen möglicher Zwischenformen kontinuierlich, ohne scharfe Grenzen, miteinander verbunden sind, stellen die wissenschaftlichen Begriffe ihrer Funktion nach starre Formen dar, die scharfe Grenzen ziehen, wo fließende Übergänge bestehen, und die daher niemals zu einer angemessenen Darstellung unserer Erfahrungsbefunde m i t ihrer mannigfaltigen Kontinuität zu führen vermögen". 2 6 A u c h Radbruch sah i m traditionellen begrifflichen Denken „ein ,Trennungsdenken 4 , das die Ganzheit des Lebens zersetzt und zerstört", das „durch die fließenden Übergänge des Lebens scharfe Grenzen" zieht 2 7 ; er glaubte aber, man müsse „diese Inadäquanz der juristischen Begriffe zur W i r k l i c h k e i t " weitgehend in K a u f nehmen: „aus Gründen der »Praktikabilität 4 , d. h. der zweifelsfreien Anwendung des RedjJfë, alsQ der Rechtssicherheit" 2 8 . Gleichwohl muß i n Wirklichkeits- und i n Normwissenschaften nach Wegen gesucht werden, quantitativen Abstufungen Rechnung zu tragen: I n den Wirklichkeitswissenschaften hängt die Prognose typischer Geschehensabläufe, i n den Normwissenschaften die Bewertung auch von quantitativen Fragen ab. Den Meteorologen interessiert auch der Grad der Luftfeuchtigkeit und die Stärke einer Luftbewegung für seine Wettervorhersage. Der Kriminologe muß für seine Prognose der Rückfallgefahr auch den Grad ζ. B. der Arbeitsunlust, Zielstrebigkeit, Ausdauer, Beeinflußbarkeit oder Intelligenzschwäche seines Probanden in Rechnung stellen. 2 9 Bei der Normanwendung ist etwa zu berücksichtigen: der Grad der aufgewandten Sorgfalt für die Frage, ob ein Schaden fahrlässig verursacht wurde; das Maß der Roheit für die Frage, ob eine Tötung grausam war; der 23 Zur Unterscheidung der konkreten Begriffe (ζ. B. „Rose") von den abstrakten Begriffen (ζ. B. „rot") vgl. B. von Freytag-Löringhoff, Logik, 3. Aufl. 1961, S. 24 ff. 24 Heyde (Fn. 14), S. 244. 25 Engisch (Fn. 1), S. 242 ff.; vgl. auch Koller (Fn. 5), S. 21 ff. 26 C. G. Hempel / P. Oppenheim, Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, 1936, S. 1. 27 G. Radbruch, Klassenbegriffe und Ordnungsbegriffe im Rechtsdenken, Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, 1938, S. 46, 29; dazu auch oben Kap. 26 I I 1. 28 Radbruch (Fn. 27), S. 49. 29 Vgl. etwa F. Exner, Kriminologie, 3. Aufl. 1949, S. 309 f.; W. Sauer, Kriminologie, 1950, S. 353 ff.

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Kap. 37: Typisierendes Denken

Trunkenheitsgrad für die Frage, ob der Täter schuldunfähig war; und das Maß der Beschränkung wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit für die Frage, ob ein sittenwidriger Knebelungsvertrag vorliegt. A u c h in anderer Hinsicht müssen erfahrungswissenschaftliche und normative Regeln flexibel gehalten werden: Die Frage nach ihrer Anwendbarkeit kann auch für den Fall entstehen, daß bestimmte, i n ihnen bisher vorausgesetzte Merkmale überhaupt fehlen. Der Mediziner mag zu entscheiden haben, ob ein typischer oder ein atypischer Krankheitsverlauf zu erwarten ist, wenn ein sonst übliches Krankheitssymptom fehlt. Der Jurist kann vor der Frage stehen, ob eine N o r m analog auch auf einen solchen Fall anzuwenden ist, der nicht alle Tatbestandsmerkmale dieser N o r m erfüllt. Ob eine Erfahrungsregel oder eine N o r m trotz gradueller oder qualitativer Merkmalsunterschiede 3 0 anwendbar ist, diese Frage kann nicht durch streng logische Identifikation — die i n diesen Fällen eben nicht möglich ist — , sondern nur durch zuordnend-vergleichendes Denken gelöst werden. Dabei hängt die Anwendbarkeit der Regel je von dem spezifischen Problem ab, das mit Hilfe der Typisierung gelöst werden soll. Handelt es sich u m eine Typisierung innerhalb einer Erfahrungsregel — ζ. B. u m ein Krankheitsbild — , dann lautet die Frage, ob und in welchem Maße die vorliegende Modifikation die Wahrscheinlichkeitserwartung, die sich an die Erfahrungsregel knüpft, mindert oder erhöht. Handelt es sich um eine Typisierung innerhalb einer juristischen Norm, dann stellt sich die Frage, ob der vorliegende Fall dem nonnierten Typus gleichzubewerten ist. Es ist diese zuordnend-vergleichende Methode, die dem Typus die gesuchte Offenheit 3 1 und Entwicklungsfähigkeit verleiht: Es handelt sich u m eine vergleichende Erprobung, ob eine Regel auch auf einen modifizierten Fall anwendbar ist, das heißt, ob bestimmte graduelle oder qualitative Abweichungen v o m Ausgangstypus irrelevant für die Anwendbarkeit der Regel sind. Durch die positive Entscheidung hierüber w i r d der Typus selber modifiziert; denn es w i r d dadurch näher bestimmt, welche Merkmale für die Anwendbarkeit einer bestimmten Regel wesentlich sind. Diese Modifikation und Präzisierung vollzieht sich, wie es von den Rechtsbegriffen her vertraut ist, i n einem Erkenntnisschritt, der anläßlich der Anwendungsprobleme vonstatten geht. Kurz, der eigentliche Grund für die Unterscheidung zwischen der Starrheit und der Offenheit und Entwicklungsfähigkeit einer Regel liegt darin, ob sie nach der Methode strenger Identifikation oder aber nach der Methode abwägend vergleichender Zuordnung der Anwendungsfälle gehandhabt wird.

30 Es handelt sich also um das Problem einer „Variabilität und Graduierbarkeit der Merkmale", Engisch (Fn. 1), S. 242. 31 Vgl. etwa G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 7. Neudruck 1960, S. 39; Larenz (Fn. 13, 1960), S. 343; Koller (Fn. 5), S. 22.

I. Die Eigenart typisierender Betrachtung

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Wiederum liegt der wesentliche Unterscheidungsgrund aber nicht in einem Gegensatz zwischen Typus und B e g r i f f . 3 2 Denn auch Begriffe lassen sich nicht nur mit der Anwendungsregel strenger Identifikation, sondern ebenso mit der eines vergleichend-zuordnenden Denkens verknüpfen. Das Zweite zeigt sich augenfällig bei der Anwendung von Begriffen mit schwimmenden Konturen, mit einem „Begriffshof 4 , von Begriffen also, deren Umfang erst noch durch Zuordnung oder Ausscheiden spezifischer Arten von Fällen näher zu präzisieren ist. Durch dieses vergleichende Verfahren werden einzelne Begriffsmerkmale als für die Begriffsanwendung unwesentlich ausgeschieden, andere als für die Anwendung wesentlich herausgehoben. Solange ein Begriff i n dieser Weise angewendet wird, wandelt er sich also, erscheint er als Begriff mit einem „unbestimmten Horizont noch unbekannter typischer M e r k m a l e " 3 3 . D e m Bestreben, Begriffe den konkreten Einsichten sachgerecht anzupassen, steht das Bedürfnis nach eindeutigen Orientierungen gegenüber. Dieses verlangt nach einer Festlegung der Begriffsinhalte, damit klar ist, welche Gegenstände mit genau welchen Merkmalen ein bestimmter Begriff bezeichnet. Das Bemühen, den Sinn von Begriffen festzulegen, stößt freilich schon auf eine semantische Grenze; denn Wortbedeutungen, die Erfahrungsgegenstände generell bezeichnen, sind prinzipiell unscharf. 3 4 Der Anwendung fest definierter Begriffe ist als Methode das streng identifizierende Denken zugeordnet. D o c h auclieinTypus — der als solcher nicht notwendig unbestimmter ist als ein B e g r i f f 3 5 — läßt sich i n dieser Weise anwenden: Legt man fest, daß eine Regel stets und nur dann anwendbar sei, wenn die i m Typus genau bezeichneten Merkmale vorliegen, dann „verwandelt" sich scheinbar der offene Typus in einen geschlossenen, von dem Larenz sagt: „Unter einen g e schlossenen Typus' können, ebenso wie unter einen abstrakten Begriff, ,Fälle' subsumiert, und es können für alle diese Fälle genau die gleichen Regeln aufgestellt werden." 3 6 Genau genommen liegt aber der entscheidende „Wandel" in der Anwendungsmethode, während der Sinn und der praktische Nutzen einer grundsätzlichen Gegenüberstellung von Begriff und Typus selbst immer fragwürdiger wird. Näher in das Verhältnis zwischen streng identifizierendem und zuordnendvergleichendem Denken einzudringen, erfordert der Zweck dieser Untersuchung nicht. Es mag insbesondere dahingestellt bleiben, ob beide prinzipiell verschieden sind oder ob zwischen ihnen nur ein gradueller Unterschied besteht, so daß das identifizierende Denken nur ein Grenzfall des vergleichend-zuordnenden wäre. 32 Vgl. demgegenüber aber Radbruch (Fn. 27), S. 46; Wolff (Fn. 15), S. 200 ff.; Koller (Fn. 5), S. 15, 21 f., 27. 33 Husserl (Fn. 6), § 83, a. 34 R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, §§ 4 I, 9 II. 35 Vgl. auch Heyde (Fn. 14), S. 246. 36 Larenz (Fn. 13, 1960), S. 344. 27 Zippelius

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Kap. 37: Typisierendes Denken

Z w e i Möglichkeiten eines theoretischen oder praktischen Gebrauchs von T y p i sierungen sei hier nachgegangen: der Anknüpfung von Normen und von Prognosen an Typen.

I I . Die Verwendung von Typen in Normen 1. Normative

Typen

M a n kann wirklichkeitswissenschaftliche und normative Typen unterscheiden. Jene dienen der Beschreibung von Erfahrungsgegebenheiten, diese bezeichnen etwas Seinsollendes und bilden einen Wertmaßstab des Gegebenen. 37 Eine scharfe Trennung besteht jedoch nur zwischen dem Gesamtsinn von Normen und W i r k lichkeitsaussagen, nicht auch i n allen Elementen, die diesen Sinn konstituieren. Z u m Beispiel haben Leitbilder, an denen sich Verhalten orientieren soll — etwa das Leitbild eines Handelsbrauches — einen normativen Sinn; der Typus, der hier zum normativen Tatbestand erhoben wird, ist aber aus einem Lebensstil gewonnen, der sich als faktisch geübte Verhaltensweise herausgebildet hat. 3 8 2. Anwendungsweisen Der Gesetzgeber kann den Typus eines Verhaltens vorschreiben oder verbieten und ihn so zu einem normativen Tatbestand erheben. Die Rechtsanwendung kann — von solchen normativen Typen ausgehend — in einem Feld normativer Unsicherheit durch Fallvergleich über die Anwendbarkeit einer Rechtsnorm entscheiden: durch die vergleichende Abwägung, ob eine bestimmte graduelle oder qualitative Abweichung v o m Ausgangstypus erheblich oder unerheblich für die A n wendbarkeit der N o r m ist (s. u. 3). Diese Methode, sich in einem Feld normativer Unsicherheit durch Leitfälle und Typenvergleich zu orientieren, ist zur Konkretisierung nicht nur des gesetzlichen Tatbestandes, sondern auch der Rechtsfolge verwendbar. So kann man ζ. B. in dem breiten Spielraum, den viele Strafgesetze der richterlichen Strafzumessung lassen, zu einer typisierenden Differenzierung gelangen: M a n kann sich etwa 37 Jellinek (Fn. 31), S. 34 ff. " 38 Eingehend über das Verhältnis von rechtlichem Typusbegriff und empirischer Typizität Engisch (Fn. 1), S. 272 ff.; vgl. auch W. Sauer, Juristische Methodenlehre, 1940, S. 156 ff.; Larenz (Fn. 13, 1960), S. 336. Eine Verbindung von Sachaussage und normativem Gehalt findet sich auch bei Viktor Kraft: Wertaussagen seien in eine deskriptive Sachaussage und eine damit verbundene wertende Stellungnahme zu zergliedern. Zu spezifischen Wertaussagen würden wir dadurch gelangen, daß wir bestimmte Arten sachlicher Beschaffenheiten oder Beziehungen mit einer Wertauszeichnung verbänden (Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 2. Aufl. 1951, S. 15 ff., 21). Die Differenzierung im Inhalt der wertenden Stellungnahmen selbst kommt hier wohl zu kurz (Zippelius [Fn. 12], § 19 II); doch trifft es zu, daß der Sinn von Wertaussagen auch durch die darin bezeichneten Sachverhalte, ζ. B. den bewerteten Typus faktischen Verhaltens, mitkonstituiert wird.

II. Die Verwendung von Typen in Normen

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eine Reihe zunehmend schwerer werdender Fälle von Straßenverkehrsgefährdung vorstellen, wie sie nach der Lebenserfahrung typischerweise vorkommen; dem leichtesten Fall sei die niedrigste angedrohte Strafe angemessen, dem schwersten Fall die an der Obergrenze des Strafrahmens liegende Strafe. A n typischen Leitfällen dieser Reihe lassen sich andere Fälle messen. 39 M i t anderen Worten: Für die Strafzumessung lassen sich typisierende Kombinationen solcher Tatmerkmale aufstellen, die für die Strafhöhe erheblich sind. Damit gewinnt man Leitfälle für eine Fallvergleichung. Das erleichtert es einerseits, in verschiedenen Gerichtsverfahren für gleichartige Fälle gleiche Strafen auszusprechen, und andererseits — durch differenzierende Heraushebung der Unterschiede des konkreten Falles v o m Leitfall — die i m Einzelfall maßgebenden Strafzumessungsgründe zu präzisieren. A u f diese Weise gelangt man innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens zu einem typengebundenen „Raster" abgestufter Strafen. I m Gegensatz zu einer vordergründigen Anwendung von Straftaxen, die unter Vernachlässigung der besonderen Umstände des Einzelfalles an irgendein isoliertes Merkmal (etwa den Blutalkoholgehalt) eine bestimmte Strafhöhe k n ü p f t 4 0 , ist diese typengebundene Methode der Fallvergleichung darauf angelegt, von Fall zu Fall die Gründe und Kriterien der Strafzumessung weiter zu differenzieren. I m Bereich des Schadensersatzrechts kann man auf ähnliche Weise zu einer Schmerzensgeldtabelle gelangen. 3. Die Entwicklung

normativer

Typen

Normative Typen werden insbesondere durch spezifizierende Abgrenzung fortentwickelt 4 1 : dadurch, daß der Anwendungsumfang einer Norm durch Zuordnen oder Ausscheiden spezifischer Falltypen näher bestimmt wird. Als Vergleichsbasis dienen Fälle, auf welche die N o r m zweifelsfrei anzuwenden ist. E i n Beispiel böte das an einem Vergnügungspark angebrachte Verbot, „Fahrzeuge" zu benutzen. Ausgangs- und Vergleichsbasis für eine weitere Präzisierung dieser N o r m wären zweifelsfreie Fälle, wie das Fahren m i t Lastkraftwagen, Personenautos und Motorrädern. Fälle, deren Zuordnung oder NichtZuordnung zu erwägen ist, wären etwa das Fahren mit handbetriebenen und mit motorisierten Krankenstühlen, m i t Fahrrädern, Kinderfahrrädern, Rollern, Kinderdreirädern oder Rollschuhen. E i n anderes Beispiel bietet der Grundsatz „pacta sunt servanda". I h m unterfallen sicher die alltäglichen Verträge zwischen Erwachsenen, die einer normalen Willensbildung und -betätigung fähig sind. Auszugrenzen wären aber Verträge, die arglistig erschlichen oder unsittlich sind oder mit Minderjährigen geschlossen wurden, Verträge also, für welche die reguläre Vertragsbindung gerechterweise nicht gelten sollte. 39 Vgl. Radbruch (Fn. 27), S. 47, 50. Krit.: H. J. Bruns, Strafzumessungsrecht, 1967, S. 47 ff., vgl. auch H. v. Weber, Die richterliche Strafzumessung, 1956, S. 23 f. 41 Dazu auch oben Kap. 9 I I I 2. 40

27*

420

Kap. 37: Typisierendes Denken

Die Frage, ob der problematische Fall den „klaren" Fällen gleichzubewerten i s t 4 2 , ist, soweit möglich, nach den mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen zu entscheiden; w o dieser Maßstab versagt, kann die Gleich- oder Ungleichbewertung unvermeidlich zur „gewagten Entscheidung" werden. 4 3 Diese Frage der Gleichbewertung stellt sich stets unter dem Aspekt des jeweiligen Gerechtigkeitsproblems, das eine N o r m zu lösen hat; die Richtung der Entwicklung normativer Typen ist also je durch dieses Problem bestimmt. Diese Struktur des Erwägens ist den Fragen der Interpretation und der Analogie gemeinsam. 4 4 Liegen die problematischen Fälle noch innerhalb des möglichen Wortsinnes, innerhalb des „Bedeutungsspielraums" der Norm, dann handelt es sich um Interpretation, liegen sie außerhalb, um Analogie oder Umkehrschluß. 4 5 Ist über eine Zuordnung entschieden, dann können die so gewonnenen Präzisierungen eines Rechtsgrundsatzes ihrerseits wieder zur Ausgangs- und Vergleichsbasis weiterer Differenzierungen werden. So kann es — unter dem Aspekt des Minderjährigenschutzes — als richtig erscheinen, den Vertrag m i t einem Minderjährigen, in Abweichung von der genannten Ausnahmeregel, doch als ohne weiteres gültig zu behandeln, wenn er diesem lediglich einen rechtlichen Vorteil bringt. Durch fortschreitende Differenzierungen gewinnen auch einzelne Rechtsbegriffe fortschreitend genauere Konturen. So können etwa mit einfacheren Grundtypen unsittlicher Verträge spezifische Fälle verglichen werden, ob sie ihnen unter dem Aspekt der Rechtsunwirksamkeit gleichzubewerten sind. Fälle, deren Zuordnung auf diese Weise geklärt wurde — ζ. B. Verträge zu unzüchtigen Zwecken, KnebelungsVerträge, vertragliche Zusicherung des Religionswechsels gegen Entgelt — werden wiederum Vergleichsbasis für neue Fälle. So werden fortschreitend spezifische Merkmale gefunden, von denen die Anwendbarkeit der N o r m abhängt. Für diesen Erkenntnisfortgang liegt ein B i l d nahe, das Llewell y n für die fallrechtliche Rechtsfortbildung gebraucht hat: das B i l d von einem Ast, dessen Zweige i m Wachstum begriffen sind. 4 6 Andererseits gelangt man durch Weglassen unerheblicher Merkmale zu Generalisierungen. Auch dazu dient die Methode abwägend vergleichender Zuordnung. So werden i m Analogieschluß bestimmte i n der Norm bezeichnete Merkmale — als unerheblich für deren Anwendung — außer acht gelassen: spezifische Merkmale, die zwar in der N o r m vorausgesetzt sind, aber i m Anwendungsfall 42 Dazu oben Kap. 26 II, 33 I I 3; vgl. Larenz (Fn. 13, 1960), S. 220 f., 288 f.; ders. (Fn. 13, 1966), S. 160 f.; R. Zippelius, Wertungsprobleme, 1962, S. 33. 43 Siehe oben Kap. 36 14; Zippelius (Fn. 12), §§ 21 I, 22. 44 Auf die methodische Homogenität von Interpretation und Analogie hat schon K. Larenz hingewiesen (Festschr. f. Olivecrona, 1964, S. 385 f., 404). 45 Der Text dieses Absatzes ist aus dem als Kap. 36 abgedruckten Aufsatz übernommen. 46 Κ. N. Llewellyn, Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, S. 79.

III. Typisierende Erfahrungsregeln

421

fehlen. Allgemein formuliert: Indem man für die Anwendung einer N o r m einen Falltypus einem anderen als gleichwertig erachtet, erkennt man die unterscheidenden spezifischen Merkmale für unerheblich und nur die gemeinsamen Merkmale für rechtserheblich. A u f diese Weise gelangte man ζ. B. anläßlich der Frage, ob für positive Vertragsverletzungen Schadensersatz zu leisten sei, von den spezifischen Fällen der schuldhaften Unmöglichkeit und des Verzugs zu dem allgemeinen Typus einer Schädigung des Partners durch schuldhafte Verletzung schuldrechtlicher Pflichten. Wieder ist es also die Anwendungsweise — die Methode vergleichend zuordnenden Denkens — die den normativen Typen ihre Entwicklungsfähigkeit, auch ihre Anpassungsfähigkeit an fortschreitende Gerechtigkeitsvorstellungen verleiht. 4 7

I I I . Typisierende Erfahrungsregeln Typische Kombinationen empirischer Faktoren lassen sich i n Erfahrungsregeln verwenden, die mit Wahrscheinlichkeit Prognosen über einen Geschehensablauf gestatten. Für solche Erfahrungsregeln besteht ein weites Anwendungsfeld, von der Kriminologie bis etwa zur Meteorologie. Für das politische Handeln hat schon Machiavelli vorgeschlagen, Erfahrungsregeln aus solchen Ereignissen der Vergangenheit zu entnehmen, die gegenwärtigen Vorgängen entsprechen. 48 Georg Jellinek fand: Aus Typen ließen sich „ i m Einzelfalle m i t großer Wahrscheinlichkeit bestimmte Folgerungen für das Leben des individuellen staatlichen Phänomens ableiten. Gleicher Typus deutet auf analoge Gestaltung der so beschaffenen Bildungen auch für die Zukunft hin. Wenn man von den Lehren der Geschichte spricht, so hat man damit — bewußt oder unbewußt — das typische Element in den menschlichen Dingen vor Augen. Nur weil unter ähnlichen Bedingungen Ähnliches sich wiederholt, kann überhaupt die Geschichte zur Lehrmeisterin werden." 4 9 Nutzen und Grenzen typisierender Erfahrungsregeln lassen sich an einem Beispiel zeigen: Nach geschichtlichen Erfahrungen ist die durch eine Versammlung regierte Demokratie dafür anfällig, zu einer Machtkonzentration zu führen. 5 0 Ihr V o r b i l d fand sie in der Regierung jenes Konvents, den die französische Verfassung von 1793 vorgesehen hatte. Das Entwicklungsgesetz der Konventsregierung zeigte sich i m Entstehen der Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses, aus der dann die Diktatur M a x i m i l i a n Robespierres hervorging, der den Vorsitz i m Wohlfahrtsauschuß führte: I n einer Versammlung, die regieren soll, bildet sich 47

Zum experimentierenden Charakter dieser Methode siehe oben Kap. 9 III. «s N. Machiavelli , Discorsi I, 39; 111,43. 49 Jellinek (Fn. 31), S. 41. 50 Vgl. Κ. Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, S. 75 ff.

422

Kap. 37: Typisierendes Denken

regelmäßig eine Führungsclique, welche die Entscheidungen trifft und der Versammlung sagt, was diese w i l l oder zu wollen hat. Es ist dann eine Frage der Umstände, ob sich in diesem Direktorium die Mitglieder einigermaßen die Waage halten oder ob es einem gelingt, die Macht in dieser Führungsgruppe und damit diktatorische Gewalt i m Staat an sich zu reißen. — A u c h i n der Sowjetunion war nach dem Verfassungstext die höchste staatliche Gewalt i n der Hand einer v o m V o l k gewählten Versammlung vereinigt. Faktisch konzentrierte sich auch hier die politische Führung i n einem kleinen Führungsgremium. — Eine K o n ventsregierung finden w i r aber auch in der Schweiz. Es entspricht der genannten Erfahrungsregel, daß die politische Führung sich i n hohem Maße bei der Bundesregierung sammelt. Gleichwohl hat sich hier eine freiheitliche Demokratie erhalten. Das ist verschiedenen Gründen zuzuschreiben: unter anderem dem Mehrparteiensystem, durch das sich Gegengewichte zwischen politischen Gruppierungen bilden, ferner der starken unmittelbaren Beteiligung des Volkes an der Gesetzgebung und nicht zuletzt der Mentalität und der politischen Tradition des Schweizer Volkes. — So kann eine typisierende Betrachtungsweise zwar gewisse Regelmäßigkeiten i m politischen Prozeß aufzeigen. Aber stets können die Besonderheiten der Umstände den Geschehensablauf verändern. Die Kriminologie bedient sich — unter verschiedenen Gesichtspunkten 5 1 — typisierender Erfahrungsregeln. Unter generalpräventivem Aspekt interessiert sie sich für generell zu vermeidende typische Verbrechensursachen. 52 Unter spezialpräventivem Aspekt stellt sich vor allem die Aufgabe, das künftige Verhalten eines Delinquenten zu prognostizieren, besonders die Rückfallgefahr und deren Symptome zu erkennen. 5 3 7. Die Aufstellung

typisierender

Erfahrungsregeln

Die Suche nach Erfahrungsregeln fügt sich in das wissenschaftstheoretische Programm, einzelne Zusammenhänge aus der Komplexität des Ganzen herauszulösen und in methodisch geübter Einengung des Blickfeldes die Frage auf die Gesetzmäßigkeit dieser Zusammenhänge zu richten. 5 4 Doch sind der isolierenden Methode i m Bereich der Sozialwissenschaften Grenzen gesetzt: durch die K o m plexität der wirksamen Bedingungen, die Unberechenbarkeit der M o t i v e und den Spielraum, der für Willensentscheidungen bleibt. Statt eng umrissener Kausalzusammenhänge gilt es hier typische Konstellationen wirksamer Faktoren zu erfassen, die mit Wahrscheinlichkeit bestimmte Geschehensabläufe erwarten lassen. Die Fruchtbarkeit eines Typus w i r d durch seine Eignung bestimmt, die Ausgangsbedingungen eines adäquaten Kausalzusammenhangs zu bezeichnen und auf 51 52 53 54

E. Mezger, Kriminologie, 1951, S. 148. Exner (Fn. 29), S. 253 ff. Exner (Fn. 29), S. 306 ff. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 1 I I 1.

III. Typisierende Erfahrungsregeln

423

diese Weise eine Erfahrungsregel zu konstituieren. 5 5 Es gilt also, in diesem Typus — möglichst vollständig und zugleich möglichst einfach — diejenigen Bedingungen zusammenzufassen, welche die i n Frage stehenden Wirkungen erwarten lassen. Für das versuchsweise Aufstellen typisierender Erfahrungsregeln gibt es zwei Wege: Einerseits legt schon die Lebenserfahrung mehr oder minder unscharf typische Konstellationen und Abläufe nahe ( I 2): I n der lebendigen Wirklichkeit fallen wiederkehrende Konstellationen und Geschehensabläufe auf und werden zunächst intuitiv erfaßt. Das intuitiv Erfaßte weist auf echte Kausalitäten hin, die sich hinter ihm verbergen. Andererseits spielt das versuchsweise antizipierende Denken, das gedankliche Entwerfen eines mutmaßlichen Geschehensablaufs und Wirkungszusammenhangs — das Popper überhaupt an den Anfang wissenschaftlicher Theorienbildung rücken w i l l 5 6 — auch bei der Suche nach typisierenden Erfahrungsregeln eine Rolle. Beide Verfahren der Hypothesenbildung werden sich oft verbinden. 5 7 2. Die Verbesserung

typisierender

Erfahrungsregeln

Eine i n erster hypothetischer Annäherung gewonnene Erfahrungsregel läßt sich anschließend verbessern, wenn es gelingt, durch Auswechselung oder graduelle Modifikation von Typusmerkmalen die Wahrscheinlichkeitserwartung oder die Einfachheit und Praktikabilität der Regel zu erhöhen. Es ist die fallvergleichende Methode, die nicht nur den normativen Typen, sondern auch typisierenden Erfahrungsregeln ihre Entwicklungsfähigkeit verleiht. I n beiden Bereichen geht sie von einem bestimmten Typus aus und prüft modifizierte Fälle darauf, ob die Abweichungen v o m Ausgangstypus für die Anwendbarkeit der Regel erheblich sind. Hier wie dort vollzieht sich das „Experimentieren" m i t Typen durch Auswechselung oder graduelle Abwandlung von Typusmerkmalen. Verschieden ist aber das Kriterium, nach dem sich bemißt, ob die Modifikation für die Anwendbarkeit der Regel erheblich ist: Bei Normen geht es um eine Frage der Gleichbewertung, bei Erfahrungsregeln hingegen darum, ob die Abwandlung von Typusmerkmalen die Wahrscheinlichkeitserwartung oder die Einfachheit und Praktikabilität der Regel erhöht oder mindert. Die Entdeckung bisher übersehener typischer Bedingungen führt zu einer zunehmenden Differenzierung der Erfahrungsregel. So gewinnen ζ. B. Wetterregeln dadurch zunehmend an Wahrscheinlichkeitserwartung, daß man in sie außer 55 Über den Zusammenhang zwischen Typizität und Adäquität vgl. Engisch (Fn. 1), S. 277 f., 283. 56 κ. R. Popper, Logik der Forschung, 2. Aufl. 1966, S. 7 f., 71, 221 ff.; vgl. dens., Was ist Dialektik, in: E. Topitsch, Logik der Sozial Wissenschaften, 3. Aufl. 1966, S. 22; M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Halbb., § 1 I 6. 57 Vgl. Hempel / Oppenheim (Fn. 26), S. 83 ff., 93.

424

Kap. 37: Typisierendes Denken

dem Luftdruck auch die Luftfeuchtigkeit, die Überlagerungsverhältnisse von Luftschichten und andere Witterungsbedingungen einbezieht. Die Zuverlässigkeit kriminologischer Erfahrungsregeln wächst in dem Maße, wie es gelingt, Simplifizierungen zu überwinden und die Vielfalt der kriminologischen Faktoren i n ihrer typischen Verflochtenheit aufzudecken. 5 8 Vereinfacht eine Erfahrungsregel die typische Ausgangssituation zu stark, läßt sie relevante Faktoren unberücksichtigt und weichen darum die tatsächlichen Geschehensabläufe von ihr ab, so können solche Abweichungen dazu führen, bisher übersehene Faktoren zu entdecken. Das Versagen der Regel w i r d dann zum Schrittmacher des Erkenntnisfortganges, der sich durch eine Modifikation des Regeltypus vollzieht. Kurz, die Wahrscheinlichkeitserwartung einer Regel erhöht sich, wenn i n ihr die wirksamen Faktoren, einschließlich der typischen Störfaktoren, möglichst vollständig erfaßt sind. Unter diesem Aspekt liegt der Fortschritt darin, daß man zu differenzierten Typisierungen gelangt. — Andererseits liegt die Einfachheit typisierender Erfahrungsregeln i m Interesse der Denkökonomie; vor allem sind alle Faktoren auszuscheiden, die für den geprüften Geschehensablauf unerheblich sind. — Treten die Forderungen nach Vollständigkeit und Einfachheit in einen Widerstreit, ist nach einem optimalen Ausgleich zwischen ihnen zu suchen. So wird man untergeordnete Faktoren, womöglich solche, die sich ausbalancieren, vernachlässigen, soweit die Praktikabilität der Erfahrungsregel das erfordert. Je zuverlässiger bestimmte Faktoren stets i n einer bestimmten Konstellation auftreten, je invariabler bestimmte Merkmalszusammenhänge also sind, desto eher darf die Handhabung der Erfahrungsregel auf wenige signifikante Merkmale abstellen, desto praktikabler w i r d sie also.

58 E. Seelig, Lehrbuch der Kriminologie, 2. Aufl. 1951, S. 41.

Kapitel

38

Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen I . Argumente für eine verfassungskonforme Auslegung der Gesetze 1. Die Verfassung als Kontext der Gesetze a) Der Diskussion um die verfassungskonforme Auslegung liegt die Tatsache zugrunde, daß Gesetzesnormen i n unterschiedlicher Weise ausgelegt werden und bei der einen Auslegung i n Einklang m i t der Verfassung stehen, bei der anderen in Widerspruch zu ihr geraten können. A l l e Auslegung geht v o m BedeutungsSpielraum der Gesetzesworte aus: Aus der Vielzahl der Bedeutungen, die nach dem Sprachgebrauch dieser Rechtsgemeinschaft überhaupt mit den Gesetzesworten verbunden werden können (d. h. innerhalb des möglichen Wortsinns liegen), sind nach den Regeln der Hermeneutik diejenigen auszuwählen, die den Gesetzesworten i n der vorliegenden N o r m richtigerweise zukommen. Diese Auswahl vollzieht sich i m Wege einer Argumentation, mit deren Hilfe Auslegungsalternativen präzisiert und Argumente für und gegen die eine oder andere Auslegung erwogen werden. 1 Wichtige Auslegungsargumente liefert die Überlegung, daß die einzelne Gesetzesnorm i n einem Kontext, einem Sinnzusammenhang, nicht nur m i t den übrigen Bestimmungen des gleichen Gesetzes, sondern der gesamten Rechtsordnung steht. Die einzelnen Bestimmungen stehen i n der Wechselbeziehung zusammenhängender Äußerungen, die gegenseitig ihre Bedeutung erhellen. Insbesondere sind sie nach Möglichkeit so auszulegen, daß sie nicht nur logisch, sondern auch teleologisch widerspruchsfrei zusammen bestehen können, daß sie also auch nicht widerstreitenden Zwecken dienen oder daß widerstreitende Zwecke wenigstens in optimaler und gerechter Weise aufeinander abgestimmt werden. 2 Schon aus diesem einfachen Gedanken der Einheit des Rechts ergibt sich die Forderung, ein Gesetz womöglich so auszulegen, daß es auch mit den Verfassungsbestimmungen logisch zusammenbestehen kann und mit den Zwecksetzungen der Verfassung nicht in Widerspruch gerät. ι Dazu oben Kap. 35. Dazu oben Kap. 35 I I 3; vgl. W. D. Eckardt, Die verfassungskonforme Gesetzesauslegung, 1964, S. 14, 44 f.; H. Bogs, Die verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen, 1966, S. 22 f., 25 f. m. w. Nachw. 2

426

.

erfassungskonforme Auslegung

Gesetze

b) Die Verfassung ist überdies nicht nur gleichrangiger, sondern vorrangiger Kontext der einzelnen Gesetzesnormen. Dieser Gedanke w i r d üblicherweise in eine „Stufentheorie" des Rechts gekleidet. 3 Nach dieser sollen nachrangige Normen nicht nur ihre Geltungsgrundlage in einer höherrangigen Ermächtigungsnorm finden, sondern das höherrangige Recht soll auch den Inhalt der nachrangigen Normen in wichtigen (selbstverständlich noch abgrenzungs- und ausgestaltungsbedürftigen) Grundprinzipien vorprogrammieren, so wie das (in sehr viel engerer Bindung) für das Verhältnis zwischen Gesetz und Rechtsverordnung in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 G G ausdrücklich vorgesehen ist. A u c h in der These, Verfassungsrecht werde weitgehend durch Gesetzesrecht konkretisiert, findet diese Vorstellung Ausdruck. 4 Speziell für die Grundrechtsnormen konstatiert Art. 1 Abs. 3 G G ausdrücklich die vorrangige und unmittelbar bindende Pflicht, diese Normen bei Gesetzgebung und Rechtsanwendung, also auch bei der W a h l der Auslegung, zu beachten und zu verwirklichen. 5 Die Entscheidungen der Verfassung darüber, welche Güter i n dieser Rechtsgemeinschaft zu wahren und welche Ziele durch staatliches Handeln zu respektieren oder auch positiv anzustreben sind, diese Verfassungsentscheidungen, mag man sie als „Staatszielbestimmungen", „Wertentscheidungen" oder wie auch immer benennen, bilden somit Richtlinien auch für die Gesetzesauslegung. 6 Diese Richtschnur gilt besonders für die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe 7 , etwa des Begriffs der „Erheblichkeit" in § 7 Abs. 1 Buchst, a des Paßgesetzes 8 , des Begriffs der „guten Sitten" in § 826 B G B 9 , des Begriffs des „wichtigen Grundes" in § 121 Abs. 1 S t P O 1 0 oder des Begriffs der „Glaubhaftmachung" in § 45 Abs. 2 Satz 1 StPO 1 1 .

3 H Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 228 ff., 239; siehe auch oben Kap. 23 II; vgl. ferner M. Imboden, Normenkontrolle und Verfassungsinterpretation, in: Festschr. f. H. Huber, 1961, S. 138, 142; H. Michel, Die verfassungskonforme Auslegung, JuS 1961, S. 276; Bogs (Fn. 2), S. 17 ff.; D. Ch. Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 46; J. Schmidt-Salzer, Vorkonstitutionelle Gesetze, verfassungskonforme Auslegung und ungeschriebene unbestimmte Rechtsbegriffe, DÖV 1969, S. 98; krit. W. Henke, in: Der Staat 1964, S. 436 ff. 4 Vgl. etwa P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 2. Aufl. 1972, S. 175, 184 f., 197 ff. Die terminologische Frage, ob man angesichts des beträchtlichen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums auch hier von „Konkretisierung" sprechen sollte (hiergegen J. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975, S. 184), ist ohne großen Belang. s Vgl. Bogs (Fn. 2), S. 24. 6 BVerfGE 6, 41; 7, 205 ff.; 12, 124 f.; 13, 325; 18, 92; 25, 55; 32, 109 f.; 35, 114, 362; 37, 65 f., 152 f.; siehe auch oben Kap. 1 I V 1. 7 Maunz/ Dürig/ Herzog, Grundgesetz, Art. 1 Rdnr. 132 f.; Bogs (Fn. 2), S. 137 ff. s BVerfGE 6, 42 f. 9 BVerfGE 7, 206, 215. 10 BVerfGE 36, 273 f. u BVerfGE 37, 96 ff., 101 ff.

I. Argumente für eine verfassungskonforme Auslegung der Gesetze 2. Das Argument

der Normerhaltung

(„favor

427

legis")

E i n zusätzliches Argument für eine verfassungskonforme Auslegung ergibt sich aus der Sicht der Normenkontrolle. Unter diesem Aspekt steht die Gültigkeit einer N o r m auf dem Spiel, wenn sie nicht widerspruchsfrei m i t der Verfassung zusammen bestehen kann. Nicht nur darum, weil die Verfassung „vorrangiger Kontext" ist, sondern auch i m Interesse der Normerhaltung w i r d so die Verfassungskonformität zum ausschlaggebenden Auslegungsargument, hinter dem die anderen Auslegungsargumente grundsätzlich zurückzutreten haben 1 2 — allerdings mit den noch zu erörternden Einschränkungen, daß der Normenkontrollrichter hierbei nicht unzulässigerweise gesetzgeberisches „Regelungsermessen" ausüben und daß er v o m möglichen Wortsinn nur unter sehr engen Voraussetzungen durch Rechtsergänzung abweichen darf. Wenn überhaupt „eine Auslegung möglich ist, die i m Einklang mit dem Grundgesetz steht, und das Gesetz bei dieser Auslegung sinnvoll bleibt", dann ist diese Auslegung zu wählen und das Gesetz nicht für verfassungswidrig zu erachten. G i l t doch allgemein der Grundsatz, „daß ein Gesetz nicht für nichtig zu erklären ist, wenn es i m Einklang m i t der Verfassung ausgelegt werden kann; denn es spricht nicht nur eine Vermutung dafür, daß ein Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sondern das i n dieser Vermutung zum Ausdruck kommende Prinzip verlangt auch i m Zweifel eine verfassungskonforme Auslegung des Gesetzes"; doch darf „dabei nicht der Gesetzeszweck außer acht gelassen werden". 1 3 A u f solche Weise ist von der Absicht des Gesetzgebers das M a x i m u m dessen aufrechtzuerhalten, was nach der Verfassung aufrechterhalten werden k a n n . 1 4 Zur Begründung dieses „normerhaltenden", „konservierenden" Prinzips 1 5 kann man den Gedanken der Rechtskontinuität (also der Rechtssicherheit) und die Vermutung für ein verfassungskonformes Funktionieren der Gesetzgebung (also die „Vermutung für das Reguläre") anführen; darüber hinaus auch noch folgendes: A u c h i m Verhältnis der Staatsfunktionen untereinander, also auch für Übergriffe einer Kontrollinstanz auf das Gebiet der gesetzgeberischen Regelungskompetenzen gilt ein „Übermaßverbot". A u c h ist es nützlich, i m weitestmöglichen Umfang eine funktionierende Normenordnung aufrechtzuerhalten und ein normatives Vak u u m zu vermeiden. 1 6 12

Krit. J. Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, 1966, S. 62 ff. 13 BVerfGE 2, 267, 282; 12, 61; 31, 132; 32, 383 f.; 36, 271. 14 BVerfGE 8, 34; 9, 200; 33, 70. is Vgl. Imboden (Fn. 3), S. 138 ff.; Michel (Fn. 3), S. 276; F. Schach, Die verfassungskonforme Auslegung, JuS 1961, S. 270 f.; W. Fuß, Zur richterlichen Prüfung von Gesetz und Gesetzesanwendung, in: Festschr. f. F. Schack, 1966, S. 16 ff.; Göldner (Fn. 3), S. 44 ff., 73 f. 16 Michel (Fn. 3), S. 276.

.

erfassungskonforme Auslegung

Gesetze

Daß eine N o r m nicht für verfassungswidrig zu erklären ist, wenn die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung besteht, ergibt sich ohnedies auch aus dem formalen Gegenstand der Normenkontrolle: Gegenstand solcher Normenkontrolle ist die N o r m i m vollen Umfang ihrer Auslegungsmöglichkeiten. Die bloß faktische Möglichkeit, unter den denkbaren Auslegungsalternativen neben verfassungsmäßigen auch verfassungswidrige zu wählen, rechtfertigt es nicht, die N o r m selbst für nichtig zu erklären. 1 7 Wenn i n ihrem denkbaren Auslegungsspielraum verfassungsgemäße und verfassungswidrige Alternativen liegen, so verpflichtet die vorrangige Bindung an die Verfassungsnormen den Rechtsanwender dazu, eine verfassungskonforme Alternative zu wählen. M i t anderen Worten, es besteht ein normatives „Verbot", die verfassungswidrigen Auslegungsalternativen zu wählen. 1 8 Dieses führt aber nicht zu einer „Teilnichtigerklärung" der N o r m — hinsichtlich jener „verbotenen" Auslegungsalternativen. 1 9 Anders liegt es dann, wenn eine N o r m nach ihrem klaren, nicht anders auslegbaren Wortlaut i m Widerspruch zu einer Verfassungsnorm steht (hierzu unter I V ) .

I I . Der mögliche Wortsinn als Grenze „verfassungskonformer Auslegung" Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, das Bemühen u m eine verfassungskonforme Auslegung finde zwei Schranken: den Gesetzeswortlaut und den Zweck, den der Gesetzgeber eindeutig mit seiner Regelung verfolgt hat. 2 0 Was die erste dieser Schranken betrifft, so kann Auslegung i m technischen Sinn nach w o h l herrschender Meinung nicht über die Grenzen des möglichen Wortsinnes des Gesetzes hinausgehen. Der mögliche Wortsinn ist damit auch Grenze der verfassungskonformen Auslegung. 2 1 Allerdings leidet die Abgrenzungspraxis des Bundesverfassungsgerichts darunter, daß in ihr nicht immer ganz klar wird, was das Gericht selbst unter dem Wortsinn — als Grenze der Auslegung — verstanden wissen w i l l : den vollen Umfang der in dieser Sprachgemeinschaft möglichen Wortbedeutungen (also den lexikalisch möglichen Wortsinn) oder einen durch den juristischen Sprachgebrauch schon begrenzten Bedeutungsum-

17 BVerfGE 3, 406; 19, 5, 16. is Zur Verbindlichkeit der Ablehnung bestimmter verfassungswidriger Interpretationen durch das Bundesverfassungsgericht vgl. Bogs (Fn. 2), S. 95 ff., 125 f.; J. Berkemann, in: AöR 1974, S. 69 f. 19 H. Spanner, Die verfassungskonforme Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 1966, S. 532 f., 536. 20 BVerfGE 2, 282, 398; 4, 351; 8, 28, 34, 41; 9, 200; 10, 80; 18, 111; 19, 247, 253; 20, 218; 21, 305; 25, 305; 38, 49; Spanner (Fn. 19), S. 510 ff.; Bogs (Fn. 2), S. 67 ff. 21 Dazu oben Kap. 35 I.

III. Das „Regelungsermessen" des Gesetzgebers

429

fang. 2 2 „Gänzlich ungeniert" zeigte sich das Bundesverfassungsgericht, wenn es in einer Entscheidung feststellte: „ A m Wortlaut einer Norm braucht der Richter aber nicht haltzumachen." Die Interpretation sei „Methode und W e g " , die nicht „durch den formalen Wortlaut des Gesetzes begrenzt" sei. 2 3 Die Fragen der Interpretation und der Rechtsergänzung sind hier nicht mehr i m wünschenswerten Maß voneinander getrennt. Ist der mögliche Wortsinn Grenze der Auslegung, so ist er doch nicht Grenze einer legitimen Rechtsfortbildung durch Lückenausfüllung. Hierauf w i r d später ( I V ) zurückzukommen sein. Wenn aber Auslegung und Lückenausfüllung nicht hinreichend getrennt werden, kann es geschehen, daß man sachlich einleuchtende Ergebnisse unter dem angreifbaren Gesichtspunkt der Auslegung zu gewinnen sucht, die sich richtigerweise unter dem Aspekt legitimer Rechtsergänzung ergeben würden. 2 4

I I I . Das „Regelungsermessen" des Gesetzgebers als Grenze „verfassungskonformer Auslegung" Die Grenze legitimer Gesetzesauslegung wäre auch dort überschritten, w o ein Gericht mit seiner Entscheidung i n unzulässiger Weise ein dem Gesetzgeber vorbehaltenes Regelungsermessen ausüben würde. Wäre eine verfassungskonforme Interpretation nur durch dieses M i t t e l erreichbar, so ist die N o r m für verfassungswidrig und daher nichtig zu erklären.

22 Im einen Fall sah das Gericht es ζ. B. als unzulässig an, unter „obersten Landesbehörden" die Landesregierungen zu verstehen, weil nach der herkömmlichen deutschen Gesetzessprache (nicht aber nach dem deutschen Sprachgebrauch schlechthin) mit diesem Ausdruck stets die deutschen Landesminister bezeichnet worden seien (BVerfGE 11, 83 f.). In einem anderen Fall hingegen nützte es in einer fast listig anmutenden Weise den vollen sprachlichen Umfang aus, entgegen dem Sinn, den nicht nur die überkommene Praxis, sondern auch jeder Unbefangene den im Zusammenhang gelesenen Gesetzesworten entnahm. Diese lauteten: „Gegen die Entscheidung des Kreisrechtsausschusses (Stadtrechtsausschusses) . . . kann wahlweise Verwaltungsbeschwerde an den zuständigen Regierungspräsidenten oder Klage im Verwaltungsstreitverfahren erhoben werden. Der eine Rechtsbehelf schließt den anderen aus." Nach der gerichtlichen Interpretation dieses Gesetzes sollte dennoch zunächst Verwaltungsbeschwerde und anschließend verwaltungsgerichtliche Klage gegen die Beschwerdeentscheidung zulässig sein, weil nach dem Wortlaut die Wahl der Verwaltungsbeschwerde nur die gleichzeitige Erhebung der verwaltungsgerichtlichen Klage ausschließe (BVerfGE 9, 199 f.; krit. Ch. F. Menger, in: Verwaltungsarchiv 1959, S. 389; Schach [Fn. 15], S. 273 f.; auch unter dem Aspekt einer Verfälschung des erkennbaren Gesetzeszweckes lassen sich gegen diese Entscheidung Bedenken erheben). 2 3 BVerfGE 35, 278 f.; anders BVerfGE 71, 115; s. auch die Nachweise in Fn. 37; krit. zu BVerfGE 35, 278 f.: H. U. Erichsen, in: Verwaltungsarchiv 1974, S. 103. 24 Ein Beispiel dafür bietet der vielerörterte Fall der Zusprechung des Armenrechts im Klageerzwingungsverfahren (BVerfGE 2, 340 f., ähnlich BVerfGE 30, 88 ff.).

430

.

erfassungskonforme Auslegung

Gesetze

Diese Schranke gilt nicht nur für die Gesetzesauslegung, sondern auch für die darüber hinausgehenden Rechtsfortbildungen ( I V ) . 1. Die grundsätzliche

Funktion

des gesetzgeberischen

Regelungsermessens

Der Gesetzgeber wählt zwischen möglichen Regelungsmodellen aus und läßt sich hierbei von bestimmten Zielvorstellungen und Zweckmäßigkeitserwägungen leiten. Dabei übt er ein Regelungsermessen aus: hinsichtlich der Auswahl und Abgrenzung der Regelungsziele und der Zweckmäßigkeit der juristischen Mittel, die für diese Ziele eingesetzt werden. Nicht nur die subjektive, sondern auch die objektive Auslegungstheorie muß davon ausgehen, daß jeder gesetzlichen Regelung eine Entscheidung für bestimmte Zwecke und für die A r t und Weise ihrer Verwirklichung zugrunde l i e g t . 2 5 Übergriffe der Rechtsprechung auf das Gebiet solcher Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen sind, von den gleich noch zu besprechenden Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nicht legitim: Das Gericht übernähme damit eine Funktion, die nach dem Gewaltenteilungsprinzip dem Gesetzgeber zusteht. Dessen Kompetenz, rechtspolitisches Regelungsermessen zu üben, ist auch demokratisch besser legitimiert und oft auch sachlich besser fundiert als es die Regelungskompetenz eines Gerichts wäre (organadäquate Funktionenverteilung 2 6 ; dazu unter V). 2. Generell zulässige richterliche

Präzisierungen

und Modifikationen

Die gesetzgeberischen Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen sind aber keine exakten und starren Daten: Sie sind nicht exakt, sondern innerhalb beträchtlicher Grenzen auslegungsfähig und auslegungsbedürftig. Welche Ziele ein Gesetz verfolgt und welche Zweckmäßigkeitsentscheidungen es getroffen hat, ist aus ihm selbst (etwa seiner Präambel) und seiner Entstehungsgeschichte meist nur in mehr oder minder unscharfen Umrissen zu entnehmen. Sie sind auch keine starren Daten. Wenn die Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen eines früheren Gesetzgebers den heute herrschenden sozialethischen Vorstellungen nicht mehr entsprechen, sind sie gemäß diesen Vorstellungen umzuinterpretieren — innerhalb der Grenzen, die gleich noch zu nennen sind. Die Rechtfertigung für einen solchen Sinnwandel der Gesetze ist darin zu suchen, daß die Legitimitätsgrundlage des heute anzuwendenden Rechts nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart liegt. 2 7 Diese Einsicht verbirgt sich

25 Dazu oben Kap. 35 I I 2. 26 R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 12. Aufl. 1994, § 31 I I 3. 27 Dazu oben Kap. 14 I I 3.

III. Das „Regelungsermessen" des Gesetzgebers

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w o h l auch hinter der Aussage, daß bei älteren Gesetzen der W i l l e des Gesetzgebers als Auslegungskriterium an Gewicht verliere. 2 8 Freilich darf sich die Rechtsanwendung auch i n diesen Fällen nicht mehr als nötig von den erkennbaren Zielund Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers entfernen, schon u m der Rechtskontinuität willen, aber auch, u m sich nicht unnötigerweise i m Funktionsbereich der Gesetzgebung zu betätigen. Soweit das Bemühen um eine verfassungskonforme Auslegung sich i n dem damit bezeichneten Rahmen — generell zulässiger richterlicher Präzisierungen und Modifikationen gesetzgeberischer Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen — hält, stellt es keinen unzulässigen Übergriff in das gesetzgeberische „Regelungsermessen" dar. 3. Das Überschreiten

dieser Grenzen

Die damit bezeichneten Grenzen werden aber dann überschritten, wenn über den allgemeinen hermeneutischen Kanon legitimen Sinnwandels hinaus die erkennbaren Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers modifiziert werden. Dies geschieht unter Umständen auch dann, wenn ein Gesetz nur für teilweise nichtig erklärt wird; denn auch das Herausbrechen einzelner Zweckentscheidungen oder Regelungsmittel kann die Gesamtkonzeption der gesetzgeberischen Interessenabwägung erheblich verfälschen. Ferner können die Grenzen richterlicher Kompetenz dann überschritten werden, wenn das Gericht nicht Zieloder Zweckmäßigkeitsentscheidungen des Gesetzgebers verändert, sondern fehlende rechtspolitische Ermessensentscheidungen des Gesetzgebers mit gesetzgeberischer Freiheit selber trifft. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit gewisse Ausgriffe i n den Bereich des gesetzgeberischen Regelungsermessen speziell bei der Normenkontrolle zulässig sein sollten. Bei der Erwägung dieser Frage wird man einerseits die Gründe in Betracht ziehen, die für eine Erhaltung der N o r m sprechen ( I 2); andererseits w i r d man berücksichtigen, daß ein gewichtiges Interesse daran besteht, die Funktionenteilung zwischen Rechtsprechung und gesetzgeberischen Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen zu wahren. Für die hiernach zu treffenden Abwägungen hat das Bundesverfassungsgericht sich selber die grundsätzliche Richtlinie gegeben, daß das Bemühen um verfassungskonforme Auslegung — und Normenerhaltung — keinesfalls „das gesetzgeberische Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen" dürfe. 2 9 a) Das Problem der Teilnichtigkeit eines Gesetzes bildet für die hier untersuchte Frage — zulässiger Modifikation gesetzgeberischer Entscheidungen — einen Sonderfall, macht aber diese Frage greifbar. Es geht hier darum, ob ein Gesetz, 28 Vgl. BVerfGE 34, 288 f.; Michel (Fn. 3), S. 280; Spanner (Fn. 19), S. 521. 29 Nachweise in Fn. 20.

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das nur in einem T e i l seiner Bestimmungen verfassungswidrig ist, nur i n diesem Umfang oder insgesamt für nichtig zu erklären ist. Aus dem Gesichtspunkt des „favor legis" w i r d man bloße Teilnichtigkeit dann annehmen, wenn aus einem Gesetz solche Teilregelungen — z. B. verfassungswidrige Einschränkungen — herausgebrochen werden, die für die Gesamtregelung ersichtlich keine ausschlaggebende Rolle spielen. Die Nichtigkeit der gesamten Regelung w i r d man jedoch dann befürworten, wenn das Herausbrechen partieller Regelungen die Gesamtkonzeption der gesetzgeberischen Ziel- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen verfälschen 3 0 oder gesetzgeberisches Regelungsermesen usurpieren 3 1 würde. Die genannten Abgrenzungskriterien lassen aber Fragen offen. V o r allem besteht die Gefahr, daß das Gericht m i t seiner Unterstellung des gesetzgeberischen „Willens zur Aufrechterhaltung" seine eigene rechtspolitische Meinung unterschiebt. b) Noch weniger griffig sind sonstige Modifikationen gesetzlicher Zwecksetzungen, die über das hinausgehen, was der allgemeine Kanon legitimen Sinnwandels deckt. M a n zögert, auf solche Uminterpretationen die Formel von der „ A u f rechterhaltung des zulässigen Maximums gesetzgeberischer Regelung" (12) anzuwenden. Schon für die W a h l zwischen Teilnichtigkeit und Nichtigkeit des ganzen Gesetzes verbürgte diese Formel nicht die Rationalität, die sie zu versprechen schien. Noch unzuverlässiger wäre sie als Leitfaden für eine Änderung des Gesetzeszweckes. Hier ist es höchst fraglich, ob man überhaupt davon sprechen kann, daß eine v o m Gericht modifizierte Ziel- oder Zweckmäßigkeitsentscheidung „ m e h r " von der gesetzgeberischen Substanz erhalte als eine Nichtigkeitserklärung. 3 2 M i t Recht lehnt das Bundesverfassungsgericht darum prinzipiell solche Auslegungen ab, die den erkennbaren Zweck des Gesetzes verfehlen oder verfälschen, mag es auch gelegentlich von dieser Richtschnur abgewichen sein. 3 3 c) Dogmatisch vernachlässigt wurde bisher die Frage, inwieweit ein Gericht fehlende gesetzgeberische Entscheidungen unter Einsatz rechtspolitischen Ermessens nachholen darf. 3 4 Richterliche Rechtsfortbildungen schließen regelmäßig ein beschränktes, unvermeidliches Maß rechtspolitischer Entscheidung ein. Die Frage kann also verständigerweise nur lauten, wo der „Schwellenwert" liege, 30 Vgl. BVerfGE 2, 406; 4, 234; 5, 34; 6, 281; 7, 320; 8, 301; 9, 87, 333; 10, 220; 11, 169; 13, 39; 15, 25; 17, 306; 19, 331; 20, 161, 256 f.; 21, 125; 22, 152, 174 f.; 26, 258; vgl. auch V. Haak, Normenkontrolle und verfassungskonforme Gesetzesauslegung des Richters, 1963, S. 295 ff.; Bogs (Fn. 2), S. 98 ff.; Spanner (Fn. 19), S. 531; W. Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1973, S. 30 ff. 31 BVerfGE 17, 152 f.; 22, 174 f.; 37, 360 f.; vgl. auch Fn. 40, 41. 32 Vgl. auch Spanner (Fn. 19), S. 519. 33 Vgl. BVerfGE 9, 200; krit. Menger (Fn. 22), S. 389 f.; M. Baring, in: JZ 1960, S. 171 f.; Michel (Fn. 3), S. 281; Haak (Fn. 30), S. 9 f.; Eckardt (Fn. 2), S. 67 f.; Spanner (Fn. 19), S. 514 f., 519. 34 Andeutungen bei Bogs (Fn. 2), S. 83.

IV. Die Zulässigkeit verfassungskonformer Rechtsergänzung

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von dem ab richterliche Rechtsfortbildung zu einem nicht mehr legitimen Übergriff in den Funktionsbereich der Gesetzgebung wird. Eine feste Praxis, die es erlauben würde, diesen „Schwellenwert" genauer zu bezeichnen, fehlt. Immerhin hat aber das Bundesverfassungsgericht wiederholt sein Wissen u m diese Grenze erkennen lassen. 35 Diese ist w o h l dann eingehalten, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe nach Rechtsprinzipien, etwa nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung des Gleichartigen konkretisiert werden; 3 6 werden doch nach dem zuletzt genannten Prinzip sogar Gesetzeslücken ausgefüllt ( I V ) . Es gibt aber auch Beispiele, in denen es zweifelhaft ist, ob nicht das vertretbare Maß richterlicher Bestimmung des Rechtsinhaltes überschritten wurde — allerdings, u m erhebliche Nachteile zu vermeiden, die andernfalls entstanden wären. 3 7 Das Bundesverfassungsgericht bemüht sich, ein Überschreiten der genannten Grenzen zu vermeiden. Indem es, statt selbst zu „regeln", den Gesetzgeber auf das Fehlen einer verfassungsmäßigen Regelung hinweist, 3 8 kann es auf einen verfassungsmäßigen Rechtszustand hinwirken, ohne selbst ein unangemessenes rechtspolitisches Regelungsermessen üben zu müssen.

I V . Die Zulässigkeit verfassungskonformer Rechtsergänzung Es ist auf den früher (II) unterbrochenen Gedanken zurückzukommen, daß der mögliche Wortsinn zwar Grenze der Auslegung ist, nicht aber Grenze einer legitimen Rechtsfortbildung durch Lückenfeststellung und -ausfüllung. Eine Lücke pflegen w i r dort festzustellen, w o der Wortlaut des Gesetzes entweder zu eng ist und dadurch regelungsbedürftige Fälle ungeregelt läßt oder aber solche Fälle miterfaßt, die richtigerweise aus der Regelung auszunehmen wären. 3 9 Es ist kein Grund ersichtlich, warum das allgemein zulässige hermeneutische Instrument der Lückenausfüllung prinzipiell nicht auch i m Normenkontrollverfahren dazu verwendet werden dürfte, einen verfassungskonformen Rechtszustand herbeizuführen, nämlich ein — andernfalls verfassungswidriges — Gesetz zu einer verfassungsmäßigen Regelung zu vervollständigen. Dieser Ergänzungsabsicht können aber verschiedene Hindernisse entgegenstehen; liegt eines von ihnen vor, ist die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes nicht zu heilen. 35 BVerfGE 8, 79; 9, 87; 34, 200; vgl. auch Fn. 31, 40. 36 BVerfGE 6, 42 f.; krit. Bogs (Fn. 2), S. 87 f. 37 BVerfGE 8, 307 ff., 324; hierzu R. Herzog, Neue Wege der Normenkontrolle? BayVBl. 1959, S. 277; krit. Bogs (Fn. 2), S. 85 f. 38 So zu Art. 6 Abs. 5 GG: BVerfGE 25, 167. Hinweise darauf, daß eine bestehende Regelung künftig verfassungswidrig werde, in: BVerfGE 39, 156, 194. 39 Dazu oben Kap. 33 I I 1. 28 Zippelius

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Die Lückenausfüllung ist dann unzulässig, wenn schwerwiegende Analogiehindernisse, wie etwa das strafrechtliche Analogieverbot, vorliegen. Ferner findet sie dort eine Schranke, w o schon die Interpretation auf Grenzen stößt: Sie darf nicht stattfinden, wenn sie sich zu dem erkennbaren Zweck des Gesetzes in Widerspruch setzen würde ( I I I 2). I n Normenkontrollverfahren ist sie auch dann unstatthaft, wenn der Richter m i t seiner Lückenausfüllung anstelle des Gesetzgebers eine rechtspolitische W a h l zwischen mehreren möglichen Alternativen treffen müßte. 4 0 Gesetzesergänzungen sind also, ebenso wie Teilnichtigerklärungen, nur zulässig, wenn sie kein dem Gesetzgeber vorbehaltenes Regelungsermessen beinhalten, wenn also neben der v o m Gericht gewählten Lösung keine andere verfassungsmäßige Regelungsalternative ernsthaft in Betracht k o m m t . 4 1 I n diesem Punkte ist die Kompetenz des Normenkontrollrichters also enger als die eines Fallrichters, der eine solche W a h l gar nicht immer vermeiden kann, wenn er unter Entscheidungszwang selber eine vertretbare Lösung suchen muß. Einschränkungen einer Rechtsnorm können sich — außer nach den Regeln der Rechtsergänzung — auch nach den Regeln der Normenkonkurrenz ergeben, daraus nämlich, daß diese N o r m in einem Teil ihres Begriffsumfanges mit einer Verfassungsbestimmung in K o n f l i k t gerät. 4 2 I n Fällen der Normenkonkurrenz konstatiert das Gericht eine Einschränkung des Gesetzes, die sich ipso jure insoweit ergibt, als dieses Gesetz i m Widerspruch zu einer Verfassungsnorm 4 3 steht. 4 4 Verschiedentlich werden Derogationen dieser A r t mit den Worten eingeführt, eine Vorschrift sei „nichtig, soweit" sie sich auf die mit der Einschränkung bezeichneten Fälle erstrecke. Würde aber eine solche Gesetzeseinschränkung eine wesentliche Änderung des Gesetzeszweckes oder die Usurpation gesetzgeberischen Regelungsermessens einschließen, so ist die gesamte Regelung für nichtig zu erklären ( I I I 3 a). Verfassungsnormen können auch zu einer — für sich allein unvollständigen — einfachgesetzlichen Regelung als unmittelbar anwendbare Ergänzung hinzu40 BVerfGE 8,36 f.; 38,49; vgl. auch K. Stern, in: NJW 1958, S. 1435; Gegenbeispiele in Fn. 41. 41 Vgl. BVerfGE 17, 152 f.; 22, 174 f.; 36 136 f.; andererseits 18, 301 f.; 22, 360 ff.; 23, 10 f.; vgl. auch Fn. 31. 42 Hierher gehören die Erwägungen über eine Einschränkung des § 253 BGB durch Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG; vgl. BVerfGE 34, 292. 43 Gleichzustellen sind allgemeine Rechtsgrundsätze von Verfassungsrang, etwa der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot; vgl. K. Stern, im Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung, Art. 100 Rdnr. 107. 44 Es war ζ. B. statthaft, einen gesetzlichen Tatbestand — der Tätigkeiten in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung unter Strafe stellte — im verfassungsrechtlich zwingend gebotenen Ausmaß einzuschränken: Aus dem Begriff verfassungsfeindlicher Vereinigungen waren solche Parteien auszunehmen, die noch nicht für verfassungswidrig erklärt waren (BVerfGE 12,306 f:; ähnlich 13,52; 17,164 ff.). Hier machte eine höherrangige Norm (Art. 21 Abs. 2 GG) eine ihr widersprechende, nachrangige Norm partiell unanwendbar. Vgl. ferner BVerfGE 6, 274, 280 f.; 7, 320 ff.; 8, 52, 70 f.; 11, 169, 190; 22, 163, 174 f.

V. Respektierung vertretbarer Verfassungskonkretisierungen?

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treten. Es wirken dann Normen verschiedener „Ebenen" zusammen. Das trifft ζ. B. dann zu, wenn aus Grundrechtsgarantien oder sonstigen Verfassungsnormen Rechtsansprüche herleitbar sind, die das einfache Gesetz nicht schon i n verfassungsgemäßer Weise vorgesehen hat. 4 5 Da die Feststellung und die Ausfüllung von Gesetzeslücken sich am Grundsatz der Gleichbehandlung orientieren 4 6 — der auch ein Satz der Verfassung ist — stellt sich am Ende die Frage, ob Lückenausfüllung und Normenkonkurrenz sich überhaupt streng voneinander trennen lassen: ob also ζ. B. eine Restriktion — die wesentlich ungleichartige Fälle aus dem Geltungsbereich einer N o r m ausnimmt — richtigerweise der Konkurrenz- oder der Lückenproblematik oder beiden zugleich zuzuordnen, j a ob überhaupt eine scharfe Grenze zwischen diesen Denkformen zu ziehen ist und wo sie gegebenenfalls liegt. Doch sollen diese eher akademischen Fragen hier nicht weiter verfolgt werden.

V . Respektierung vertretbarer Verfassungskonkretisierungen des Gesetzgebers? W i r d ein Gesetz auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung geprüft, so handelt es sich trivialerweise nicht einfach darum, ob eine von mehreren möglichen Gesetzesauslegungen mit einer immer schon klar abgegrenzten Verfassungsnorm in Einklang steht, sondern es geht u m die Frage, ob eine der möglichen Gesetzesauslegungen m i t einer zulässigen Verfassungsauslegung vereinbar ist, kurz, ob sie eine zulässige Verfassungskonkretisierung 47 darstellt: Nicht nur das Gesetz, an das der Maßstab der Verfassung angelegt wird, sondern auch dieser Maßstab selbst ist also keine exakt bestimmte, sondern eine auslegungsfähige und auslegungsbedürftige Norm. Regelmäßig läßt der Auslegungsspielraum einer Verfassungsbestimmung eine Mehrzahl vertretbarer Auslegungs- und Konkretisierungsalternativen zu. Als „vertretbar" mögen diese dann gelten, wenn sie nicht auf einer erweislich unrichtigen Interpretation beruhen. I n Anlehnung an eine schon ältere Formulierung könnte man hierzu sagen: Wenn von mehreren hermeneutisch vertretbaren Alternativen eine gewählt wird, so sei das nicht die einzige, die Rechtens ist. Die Begründung dieser Wahl ergebe dann nicht, daß juristisch so entschieden werden mußte, sondern nur, daß sie sich i m Rahmen dessen halte, wie entschieden werden durfte. 4 8 45 Vgl. BVerfGE 34, 249; 38, 185. In BVerfGE 37, 81 f. dürfte Art. 12 Abs. 1 GG nicht nur (wie das die Formulierung des Gerichts nahelegt) dazu dienen, die „Lücke" aufzuweisen, sondern auch dazu, sie „dem Grunde nach" zu schließen. Erwägungen einer Ergänzungsmöglichkeit der dargestellten Art in: BVerfGE 8, 77 f.; 20, 218 f.; 25, 305; 33, 374 f.; 36, 211; 38, 105, 325. 46 Dazu oben Kap. 33 I I 1, 3. 47 Über das Begriffspaar „Konkretisierung" und „Auslegung" vgl. R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 6. Aufl. 1994, § 16 II. 28*

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Ein auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfendes Gesetz kann m i t der v o m Verfassungsgericht bevorzugten Verfassungsauslegung nicht i n Einklang zu bringen, m i t der gleichfalls vertretbaren, v o m Gesetzgeber gewählten Verfassungsauslegung aber vereinbar sein. Gibt hier die Auslegung des Gerichts den Ausschlag, muß das Gesetz für verfassungswidrig erklärt werden. K o m m t es hingegen auf die Verfassungsauslegung des Gesetzgebers an, ist das Gesetz verfassungsgemäß. Was spricht für die eine, was für die andere Praxis? Daß das Bundesverfassungsgericht zwischen mehreren vertretbaren Verfassungsauslegungen die maßgebende W a h l zu treffen habe, läßt sich nicht kurzerhand aus seiner Normenkontrollbefugnis herleiten. Zweck einer Normenkontrolle kann es ebensogut sein, nur solche Gesetze für verfassungswidrig zu erklären, die auf einer nachweislich unrichtigen Verfassungsauslegung beruhen. Die Überlegungen müssen grundsätzlicher beginnen. Die W a h l zwischen vertretbaren Auslegungsalternativen ist regelmäßig durch wertende Erwägungen mitbestimmt: Innerhalb des Spielraums, den die Unschärfe der Verfassungsauslegung läßt, können verschiedene rechtspolitische Zielvorstellungen und Zweckmäßigkeitserwägungen und nicht zuletzt auch unterschiedliche Gerechtigkeitsauffassungen zur Geltung gebracht werden, etwa darüber, wie der Konflikt zwischen konkurrierenden Freiheitsansprüchen zu lösen ist. V o r diesem Hintergrund ist die Frage zu erwägen, in welchem Umfang Entscheidungen, die auf einer vertretbaren Verfassungsauslegung beruhen, einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen sollen. Z u einer Antwort kann der Gedanke führen, daß Entscheidungs- und Kontrollkompetenzen organadäquat zu verteilen sind. Damit ist gemeint, daß Struktur und Verfahren der verschiedenen Staatsorgane auf spezifische Aufgaben zugeschnitten sind und diese Organe sich i m Interesse sachgemäßer Erledigung grundsätzlich auf die Funktionen beschränken sollen, die ihrer Struktur angemessen sind. Aus dieser Sicht spricht manches dafür, daß das Verfassungsgericht in Zweifelsfällen die Verfassungsinterpretation und -konkretisierung des Parlaments respektieren sollte 4 9 : Dieses ist nach dem Gewaltenteilungsprinzip zu gesetzlichen Regelungen berufen und für rechtspolitische Orientierungsprozesse besser legitimiert als ein Gericht, auch wenn solche sich i m Spielraum verfassungsrechtlicher Auslegung vollziehen: Die Gesetzgebungsorgane, vor allem die das Gesetz vorbereitende Ministerialbürokratie, sind zumeist mit dem zu regelnden Sachverhalt besser vertraut als das Verfassungsgericht. V o r allem trifft der Gesetzgeber seine Entscheidungen in der gebotenen Auseinandersetzung mit der öffentlichen Meinung, d. h. unter Rückkoppelung an demokratische Kontrollen, deren es für rechtspolitische Orientierungsprozesse bedarf, nicht zuletzt auch für die Wahl 48 M.Drath, in: VVDStRL 9 (1952), S. 94; vgl. auch O.Bachof, in: VVDStRL 12 (1954), S. 54. 49 So bereits Bachof(Fn. 48); vgl. auch W. Rupp-v. Brünneck / H. Simon, in: BVerfGE 39, 69 ff.; J. Ipsen (Fn. 4), S. 158 ff. zu dem Sonderfall des Art. 100 GG.

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und Abgrenzung rechtspolitisch-legislatorischer Ziele und für die Frage, welche Gerechtigkeitsvorstellungen geeignet sind, den Konsens der Mehrheit zu finden. Der Eingriff eines Gerichts in diesen Entscheidungsbereich des Gesetzgebers müßte also durch ein gewichtiges Interesse gerechtfertigt sein. Ist eine gesetzliche Regelung aber mit einer vertretbaren Auslegung der Verfassung vereinbar, d. h. mit einer Auslegung, die nicht durch allgemein überzeugende Gründe widerlegbar ist, so ist dem Recht nicht gedient, wenn das Gericht die Entscheidung des Gesetzgebers unter Zugrundelegung seiner eigenen, auch nicht gewisseren Verfassungsinterpretation umstößt. Diesen Gedanken hat man auch so formuliert, daß in den genannten Fällen der Gesetzgeber den Primat der Verfassungskonkretisierung haben solle. 5 0 Gewiß drängt durch solche „gesetzeskonforme Verfassungsinterpretation" das „Niederrangige" — aber aus konkreten Regelungsbedürfnissen Erwachsene — nach oben. 5 1 Doch entspricht dies der sachbezogenen Kompetenzenverteilung i m gewaltenteiligen Staat. Kurz, Gründe organadäquater Funktionenteilung sprechen dafür, daß i m Spielraum vertretbarer Verfassungsauslegungen"— d. h. solcher Verfassungsauslegungen, von denen keine mit allgemein überzeugenden Gründen widerlegbar ist — das Verfassungsgericht die vertretbare Auslegung des Gesetzgebers respektieren sollte. Die Aussagen und vor allem die Praxis des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage waren nicht immer ganz eindeutig. So beanspruchte es zwar die Entscheidung über die letztverbindliche Verfassungsauslegung für sich selbst, wenn es sagte: „Maßstab i m Normenkontrollverfahren ist das Grundgesetz. Es verbindlich auszulegen, ist Sache des Bundesverfassungsgerichts." Wenige Sätze später ließ es aber erkennen, daß m i t der „verbindlichen Auslegung" hier nicht die verbindliche Entscheidung für eine der möglichen Alternativen gemeint sei, die i m Spielraum vertretbarer Konkretisierungen liegen: Es betonte vielmehr, „daß bei der Auslegung von Verfassungsbestimmungen . . . deren schrankensetzender, also Spielraum für die politische Gestaltung lassender Charakter nicht außer Betracht bleiben" dürfe, und bekannte sich zu einem „judicial selfrestraint"; dieser bedeute „den Verzicht, ,Politik zu treiben 4 , d. h. i n den von der Verfassung geschaffenen und begrenzten Raum freier politischer Gestaltung einzugreifen". 5 2 Das Gericht könnte aber zwischen mehreren vertretbaren Verfassungsinterpretationen und -konkretisienmgen nicht die verbindliche Wahl treffen so Göldner (Fn. 3), S. 182 ff., 201 ff.; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1975, S. 341. G.Meder, Das Prinzip der Rechtmäßigkeitsvermutung, 1970, S. 37 f., 59 ff. postuliert im Interesse der Rechtssicherheit, nämlich der „normbildenden Kontinuität der ergangenen Entscheidung", eine sehr zugespitzte „Rechtmäßigkeitsvermutung" zugunsten des primären Kompetenzinhabers. Kritische Anmerkungen zur Gültigkeitsvermutung bei Burmeister (Fn. 12), S. 102 ff. 51 W. Leisner, Von der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung, 1964, S. 39, 49, 62 f., 67. 52 BVerfGE 36, 13 f.

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und hierbei die vertretbare Auslegung des Gesetzgebers verwerfen, ohne (Rechts-)„Politik zu treiben". I n der Tat gibt es zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, i n denen es die v o m Gesetzgeber getroffene W a h l unter mehreren vertretbaren Verfassungskonkretisierungen respektiert hat, am häufigsten anläßlich der Prüfung, ob ein Gesetz mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sei. A u f der gleichen Linie liegt es, wenn das Gericht seine Kontrollfunktion gelegentlich auf „evidente" Verletzungen von Verfassungsgeboten 53 oder „offensichtlich" fehlsame Anschauungen des Gesetzgebers 54 beschränkte. Doch bleibt die Frage nach dem genauen Begriff und den Kriterien einer „nicht vertretbaren", d. h. erweislich unrichtigen Verfassungskonkretisierung — etwa des Schutzes menschlichen Lebens. 5 5 Wenig präzise wäre etwa die Antwort: Erweislich unrichtig sei eine Verfassungskonkretisierung dann, wenn sie durch Verletzung von Regeln der Verfassungsauslegung zustande gekommen ist oder, soweit es sich u m Wertungen handelt, wenn sie gegen mehrheitlich konsensfähige Gerechtigkeits Vorstellungen 56 verstößt. Denn die Hermeneutik ist keine exakte Methode, sondern eine Argumentationstechnik, die es immer wieder als fraglich erscheinen läßt, wann der „Beweis" für die Unrichtigkeit einer bestimmten Auslegung als geführt gelten darf. 5 7 U m so mehr gilt das dann, wenn eine Auslegung Wertungen einschließt; hier w i r d es schon angesichts des unpräzisen Begriffs, der unsicheren Anhaltspunkte, des Wandels und der Verfälschbarkeit der mehrheitlich akzeptierten Gerechtigkeitsvorstellungen 5 8 oft unsicher sein, wann jene Grenze überschritten ist, jenseits deren eine Interpretation als erweislich unrichtig gelten darf. A u c h wenn man einen „Konkretisierungsprimat" des Gesetzgebers annimmt, hat das Gericht jedenfalls prozessual das letzte Wort darüber, wo die Grenzen des noch „Vertretbaren" liegen, nämlich die Grenzen, außerhalb deren es eine Verfassungsauslegung für erweislich unrichtig hält. So erwächst dem Bundesverfassungsgericht zum mindesten ein Spielraum, die Grenzen der als „vertretbar" akzeptierten Verfassungsauslegungen enger oder weiter zu ziehen und damit seine eigenen Wertungen bald mehr, bald weniger mit zur Geltung zu bringen. Angesichts der i h m verbleibenden Spielräume stellt sich für das Gericht die Frage, welche „Entscheidungspolitik" es treiben, d. h. wie stark es den „judicial self-restraint" praktizieren soll. Dazu ist, abgesehen von den dargestellten Legitimationsfragen, pragmatisch folgendes zu bedenken:

53 BVerfGE 12, 296; 33, 333. 54 BVerfGE 13, 107. 55 Dazu oben Kap. 27. 56 BVerfGE 9, 349 spricht — auch nicht sehr präzise — von den „fundierten allgemeinen Gerechtigkeits Vorstellungen der Gemeinschaft". 57 Dazu oben Kap. 35 III. 58 R. Zippelius, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1994, §§ 21 I I - I V .

V. Respektierung vertretbarer Verfassungskonkretisierungen?

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Wenn das Gericht den „Konkretisierungsprimat" für sich in Anspruch nimmt oder den Rahmen der als „vertretbar" akzeptierten Verfassungskonkretisierungen sehr eng zieht, wenn es also in Auslegungs- und Konkretisierungsfragen, die ernstlich zweifelhaft sind, die vertretbare Auslegung des Gesetzgebers verwirft und seine eigene, auch nicht gewissere Auslegung zum verbindlichen Maßstab erhebt, dann verläßt es die unangreifbare Position einer Instanz, deren tatsächliche Autorität i n Konfrontation m i t dem Gesetzgeber — nur davon ist hier die Rede — vor allem darauf beruht, daß man über ihre Entscheidungen „verständigerweise gar nicht streiten kann". Geht das Gericht über diese Position hinaus, so kann es vorübergehend eine — vielleicht sogar als heilsam empfundene — sozialethische Lenkungsfunktion ausüben, w i r d dann aber schwerlich vermeiden können, i n den politischen Tageskampf hereingezogen, auf seine vorrangige demokratische Legitimation und sozialethische Urteilskraft befragt und insgesamt stärker als bisher politisiert zu werden. Solche „Politisierung" muß sich fast zwangsläufig auch auf die Praxis der personellen Besetzung des Gerichts auswirken. Diese kann ihrerseits wieder die Richter geneigt machen, j e nach ihrer politischen Herkunft und Obligiertheit, die Entscheidungen der Parlamentsmehrheit zu bestätigen oder zu durchkreuzen. So gerät man auf diesem Wege in einen unguten Zirkel.

Nachweise 1. „ D i e experimentierende Methode i m Recht". Sir K a r l Popper gewidmet. Abh. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, 1991. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Akademie. 2. „ I m Irrgarten der Gerechtigkeit". Abh. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, 1994. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Akademie. 3. „ D i e Entstehung des demokratischen Verfassungsstaates als experimentierender Lernprozeß". Erschienen unter dem Titel „ D i e rechtsstaatliche parlamentarische Demokratie als Ergebnis geschichtlicher Lehren" in: JuS 1987, S. 687-692. 4. „ A u f der Suche nach dem legitimen Staat". Klaus Stern gewidmet. Erschienen unter dem Titel „Legitimation des Grundgesetzes aus der Verfassungskultur einer offenen Gesellschaft" in: W . Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes, 1996. Gekürzter und geringfügig veränderter Text. 5. „Legitimation i m demokratischen Verfassungsstaat". In: Beiheft 18 (1981) zum ARSP, S. 84-94. 6. „Legitimation durch Verfahren?". In: Festschr. f. Karl Larenz, 1973, S. 293304. 7. „Das Gewissen als Legitimationsgrundlage". Erschienen unter dem Titel „Rechtsgefühl und Rechtsgewissen" i m Jahrb. f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 10 (1985), S. 12-22. 8. „ D i e »Rückseite des Spiegels 4 ". Erschienen unter dem Titel „Erträge der Soziobiologie für die Rechtswissenschaft" i n ARSP 1987, S. 386-390. 9. „ Z u r Funktion des Konsenses i n Gerechtigkeitsfragen". In: Festschr. f. HansJürgen Bruns, 1978, S. 1-10. 10. „Über die Wahrheit von Werturteilen". In: Festschr. f. Theodor Maunz, 1971, S. 507-520. Redigierter Text. 11. „ Z u r Rechtfertigung des Mehrheitsprinzips in der Demokratie". Abh. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, 1987. Gekürzter Text. Abdruck m i t freundlicher Erlaubnis der Akademie.

Nachweise

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12. „Akzeptanz durch Einsicht". Erschienen unter dem Titel „Rechtsphilosophie, Allgemeine Staatslehre und Pädagogik" in: B. M ö l l e r (Hrsg.), L o g i k der Pädagogik I, 1992, S. 61-69. 13. „Recht und Moral". Erschienen unter dem Titel „Kollisionen des Rechts mit heterogenen Normen und Pflichten" i n der Festschr. f. Hans Liermann, 1964, S. 305-322. Gekürzter Text. 14. „Weltanschauung und Rechtsgestaltung". In: JuS 1993, S. 889-894. 15. „Kulturelle Komponenten der Gemeinschaftsordnung Festschr. f. Hermann Lange, 1992, S. 331-342.

i m Wandel".

In:

16. „ P o l i t i k und Sachverstand". R. Bartlsperger gewidmet. In: R. Bartlsperger (Hrsg.), Die Kompetenz des Sachverständigen, 1996. Gekürzter Text. 17. „ D i e Zähmung der englischen Staatsgewalt". Erschienen unter dem Titel „ D e Lolmes »Constitution of E n g l a n d 4 " in: Festschr. f. Theodor Maunz, 1981, S. 451-463. 18. „Problemfelder der Machtkontrolle". Karl Heinz Schwab gewidmet. Erschienen in: D. Merten (Hrsg.), Gewaltentrennung i m Rechtsstaat, 1989, S. 27-35. 19. „Grundstrukturen und Fehlentwicklungen des demokratischen Kräftespiels". Vorgetragen i n der Katholischen Akademie i n Bayern am 25. 11. 1992. 20. „ D i e Modernität des Föderalismus". Vorgetragen auf dem Althusius-Symposion 1988 i n Herborn. 21. „Das Berufsbeamtentum als »neutrale Gewalt' ". Friedrich Berber gewidmet. Erschienen unter dem T i t e l „ D i e Rolle der Bürokratie i m pluralistischen Staat" in: W . Leisner (Hrsg.), Das Berufsbeamtentum i m demokratischen Staat, 1975, S. 217-225. 22. „Kontrolle der Meinungsmacht". Erschienen unter dem Titel „Demokratie und Meinungslenkung" in: JuS 1965, S. 379-384. Aktualisierte Fassung. 23. „Grundrechte als Grundlage staatlicher Ordnung". Bearbeiteter Auszug aus dem Bonner Kommentar, Art. 1, Drittbearbeitung 1989. Abdruck m i t freundlicher Erlaubnis des Verlages C. F. Müller. 24. „ D i e Garantie der Menschenwürde". Bearbeiteter Auszug aus dem Bonner Kommentar, Art. 1, Drittbearbeitung 1989. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Verlages C. F. Müller. 25. „Glaubens- und Gewissensfreiheit i m Kontext staatlicher Ordnung". Bearbei-, teter Auszug aus dem Bonner Kommentar, Art. 4, Drittbearbeitung 1989. Abdruck m i t freundlicher Erlaubnis des Verlages C. F. Müller.

442

Nachweise

26. „ D e r Gleichheitssatz". In: Veröff. der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 47 (1989), S. 7-36. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis des Verlages de Gruyter. 27. „Anfang und Ende des Lebens als juristisches Problem". In: Abh. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, 1988, Nr. 12, S. 45-50. Text ergänzt aus Art. 1 des Bonner Kommentars, Drittbearbeitung 1989. Abdruck mit freundlicher Erlaubnis der Akademie und des Verlages C. F. Müller. 28. „Widerstand gegen die Tyrannei und i m demokratischen Rechtsstaat". In: Festschr. f. Hans Georg Adler, 1987, S. 97-103. D e m Text liegt eine Rede zugrunde, die zum Gedenken an die Geschwister Scholl am 22. Februar 1983 an der Universität Erlangen-Nürnberg gehalten wurde. 29. „Varianten und Gründe rechtlicher Verantwortlichkeit". In: Jahrb. f. Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 14 (1989), S. 257-266. 30. „Erfolgsunrecht oder Handlungsunrecht". In: N J W 1957, S. 1707 f. 31. „ D i e Rechtswidrigkeit von Handlung und Erfolg". In: AcP 157, 1 9 5 8 / 5 9 , S. 390-398. Gekürzt und neu gegliedert. 32. „ Z u m Problem der Willensfreiheit". In: Fundamenta Psychiatrica, 1988, S. 141-145. Der Text wurde auch i n meine „Rechtsphilosophie", 2. Aufl. 1989, übernommen. 33. „Rechtsphilosophische Aspekte der Rechtsfindung". Vortrag zu Ehren von Luis Recaséns Siches. In: JZ 1976, S. 150-153. 34. „Jurisprudenz: eine rationale Wissenschaft?". In: Universitas 1988, S. 53-57. 35. „Auslegung als argumentativer Auswahlprozeß". In: Festschr. f. M a x i m i l i a n Nüchterlein, 1978, S. 345-366. 36. „ D e r Denkansatz am konkreten Problem". Karl Riedl gewidmet. Erschienen unter dem Titel „Problemjurisprudenz und T o p i k " in: N J W 1967, S. 22292234. 37. „Typisierendes Denken". Erschienen unter dem Titel „ D i e Verwendung von Typen i n Normen und Prognosen" in: Festschr. f. Karl Engisch, 1969, S. 224242. 38. „Verfassungskonforme Auslegung von Gesetzen". In: Festschr. f. d. Bundesverfassungsgericht Bd. 2, 1976, S. 108-124.

Sachverzeichnis (Die Zahlen verweisen auf die Kapitel und deren Gliederung) Abgestufte Konfliktsbereinigung 20 V I 1 Abklärung der Konsensfähigkeit 5 V Abwägung 9 I I 2 Adäquanz 30 II; 37 I I I 1 Aktualität 31 I I Akzeptanz 5 I, VI; 6 II; 9 I I I 2; 11 I, V I 2; 12; 14 I I 1 Allgemeingültigkeit 9 I I 1; 10 I 3, I I 3 Ämterpatronage 18 I; 21 I I I Analogie 26 I I 3; 3 I I 3; 37 I 3 Anthropologie 7 I I I 1; 8 I; 14 I, III; 15 I 1 Arbeitskampf s. Streik Argumentation 33, insb. I 1; 34; 36 I I Aufklärung 12 I I 2; 26 I 2 Augsburger Religionsfriede 25 I 1 Ausgleichende Gerechtigkeit 2 14; 12 I 3; 29 I I Auslegung 14 I I 2; 24 I I 3; 33 I; 35 -skriterien 33 I 1; 34; 35 I I I -sspielraum 38 V -sziel 33 I 1 Austeilende Gerechtigkeit 2 14; 12 I 3; 26 I 5, I I 2 Autarkie 18 I I 2 Autonomie 5 I, II, IV; 7 I 1; 9 I I 3; 11 IV 4; 14 III; 24 I 2, I I I 6 Autopoiesis 6 IV Autoritäre Entscheidungen 11 V I I 2 Autorität 5 V I Balancen 17 I 4 Beamtentum 18 I; 19 I I 1 Bedeutung 10 I 1 Bedeutungsspielraum 33 I 1; 35 I Bedingtes Müssen 13 I 1, 3 Bedingungstheorie 30 I I Befangenheit des Denkens 14 I 3 Befriedung 5 II; 6 III; 28

Begriffe 37 I 1 Begriffshof 35 I Begriffsjurisprudenz 34 Begründungspflichten 5 V 3 Beheimatung 15 I I 1, 2; 20 I I 1 Berufsbeamte 18 I I 1; 21 Beurteilungskriterien 36 I I 1 Beziehungssoziologie 61 Bilder in den Köpfen 14 I I 1; 22 I Bill of Rights 3 I Billigkeit 26 I I 1 Bürgerfreiheit 17 I 3 Bürokratie 19 I I 1; 21 II, I I I Bürokratisierung 18 I I 2; 19 I I 3; 20 I I 1, 2 Chancengleichheit 26 I 3, 4 Common sense 11 I I 1 Declaration of Rights 3 I Demagogen 15 I I 2; 17, insb.II 2; 22 I Demagogische Verführbarkeit 11 I I 2 Demokratie 3 II; 4 I; 5 IV; 7 I 2; 11 IV 4; 17; 19 I 1; 22 II; 26 I 1 -kritik 3 I I Demokratische „Rückkoppelung" 5 V I Demokratisierung 3 I Demoskopische Umfragen 22 I I I 2 Determinismus 32 I Dezentralisation 15 I I 1; 18 I I 2; 19 I 1; 20 I I 2, 3, V I 2 Dialektik 36 I 1 Dialog 16 I I Differenzierung, soziale 15 I I 1 Diskriminierung 26 I 2 Distanz 5 V, insb. V 5 Distinguishing 2 I I 2 Dogmatismus 36 I 1 Drittschützende Wirkung von Grundrechten 24 I I I 1; 27 I I 1

444

Sachverzeichnis

Drittwirkung von Grundrechten 23 I 2, I I 3, 4; 24 I I I 5; 25 I I 4; 26 I 2 Durchsetzungsgarantie 13 I 3 Effektivität 11 I Effizienz 1 I I 1; 9 I I 3 Egalisierung 26 I 3-5 Egalité de fait 26 I 3 Einheit des Rechts 26 I I 3; 35 I I 1, 3; 36 I 2; 38 I 1 Einzelfallgerechtigkeit 26 I I 1 Eliten 11 V I 2, V I I 2; 12 I I 2 Emanzipation 15 I I 1 Embryo 27 I I 1 Empfängnisverhütung 27 I I 1 Englische Verfassungsentwicklung 3 I Entschädigungen 26 I I 2 Entscheidungsanalysen 5 V 3; 35 I I 5 Entwurzelung 20 I I 1 Erfahrungsregeln 37 I I I Erfindungen 113 Erfolgs -bezogenheit der Verhaltensnormen 31 III -kontrolle 1 I I -unrecht 29 I; 30 Erziehung 1 I I 1 - zum Bürger 12 Ethologie 8 Eudämonismus 2 13 Europäisches Gleichgewicht 17 I 4 Existenzfragen 11 V I I 1, 2 Experimentierende -Methode 1; 9 I I I 1; 37 I I I 2 -r Lernprozeß 3; 4 -s Denken 2, insb. I I 2 Fachidioten 16 I I Fahrlässigkeit 29 II; 31 I 2 Fallrecht 1 I 2; 9 I I I 2; 26 I I 3; 36 I 3; 37 I 3 Fallvergleich 1 I 2; 9 I I I 2; 33 I I 3; 37 I I 2, 3, I I I 2 Familie 12 I; 14 I I 2; 15 I 1, I I 1 Föderalismus 18 I I 2; 20 Föderative Gliederung 4 I I 2; 15 I I 1 Folgendiskussion 35 I I 5 Formalismus 2 15; 10 I I 1

Forschungsdenken 36 I I 2 Fortschrittsgedanke 12 I 2 Frankfurter Schule 5 IV; 7 I 2 Fraternité 26 I 3 Freiheit 32 - und Gleichheit 26 I 4, 5 Freirechtslehre 34 Freizügigkeit 11 V I I 3; 25 I 1; 26 I 2 Friedenssicherung 11 V I I 2 Funktionsfähigkeit 7 I I I 2; 11 ΠΙ 1, 2; 12 I 2 - des Systems 6 I I Funktionsgebundenheit - der Auslegung 33 I 1; 35 I I 1, 4 - der Begriffe 37 I 1 - der Gesetze 33 I I 1 - des Rechts 33, insb. I I 1 Ganzheitliches Erfassen 37 I 2 Gebote 3 1 1 2 Gedankenexperimente 113 Gefährdungshaftung 29 I I Gegenzeichnung 3 I I Geltung 13 I; 23 I 1 Gemeinden 19 I 1; 20 I I 2 Gemeinschaftsgebundenheit 24 I I 3 Gemeinwillen 5 IV Gemeinwohl 2 I 3; 21 I Generalisierung 9 ΙΠ 2; 26 I I 1,2 Gen -manipulation 27 I -technische Versuche 24 I I 3 Gerechter Lohn, gerechter Preis 2 1 4 Gerechtigkeit 1 III; 2; 9 I; 12 I 3 Gerichtsbarkeit 6 I I I Gesetzespositivismus 5 II; 6 IV Gesetzmäßigkeit 5 V 2 Gestalt 37 I 2 Gewagte Entscheidungen 35 I I I Gewalten -balance 17; 20 IV 1; 21 I I -kontrolle 5 V 5 -teilung 3 I; 14 III; 18 II; 33 I I 2; 34; 35 I I 2; 38 I I I 1 Gewissen 7; 11 IV 3; 13 I 1; 25 I 2, I I 2 -sfreiheit 25 -skonflikte 13 I I 1

Sachverzeichnis -spflichten und Rechtspflichten 13 I I 1,2 Gewohnheit 13 I I I 2 Glauben 25 I I 2 Glaubensfreiheit 25 Gleich -behandlung 214; 5 V 2; 9 I I I 2; 3612 -heit 11 I I I 2 -heitssatz 26; 33 I I 3; 37 I 3 Glorious Revolution 3 I Gnade 26 I I 1 Goldene Regel 2 I 4 Grundkonsens 6 II-IV; 11 I I I 2, VII, insb. V I I 3 Grundrechte 3 II; 5 IV; 11 IV 5, V 1; 14 I I 2; 18 I I 2; 23; 25 I 5 Grundrechtsimmanente Schranken 23 I I 1; 25 I I 5 Habeas-Corpus-Akte 3 1; 17 I 3 Handlungs -begriff 31 -unrecht 29 I; 30 Heimatlosigkeit 15 I I 1 Hermeneutischer Zirkel 24 I I 2; 33 I 2 Herrschaftsvertrag 11 I I I 2; 26 I 1 Historische Auslegung 35 I I 2, 4 Humanarum rerum notitia 33 I 2 Ideen 14 I 1, 2; 26 I I 1 - des Rechts 36 I I 1 Identität 10 I 2 Ideologiekritik 14 I 3; 36 I 1 Ideologien 28; 36 I 1 Imperativ, Rechtsnorm als — 13 I 1 In dubio pro libertate 17 I 3 Industriegesellschaft 15 I I 1; 18 I I 2 Inkompatibilität 21 I I I Insemination 24 I I 3; 27 I Institutionelles Grundrechtsverständnis 18 I I 2 Institutionen 8 I; 15 I 1; 20 I I 1; 33 I 2 Integration 14 I I 1 Integrierende Funktion der Weltbilder 14 I 2 Interessen 9 I; 11 I I 2; 21 I -abwägung 21 I; 35 I I 5; 36 I I 1

-gruppen 19 I I 2 -jurisprudenz 21 I -streben 1 I I 1 Internationales Gleichgewicht Irrendes Gewissen 25 I I 2 lus reformandi 25 I 1

18 I I 4

Jedem das Seine 2 1 4 Judicial self-restraint 26 I I 2 Kasuistik 26 I I 3 Kategorischer Imperativ 2 15 Kausalität 32 I 1 Kirche und Staat 25 I 1 Kommunikation 7 I I 1 Kompromiß 35 I I 3, 5 - als Lebensform 11 V I 2; 19 I 2; 21 I; 28 -suche 29 I 2; 20 V, V I 1 Konfessionelle Neutralität 24 I 1 Konkrete Erkenntnis 36 I, insb. I 2 Konkretisierung 24 I I 3; 38 I 1 Konkurrenz 17 I 4 Konsens 1 III; 2 II; 5 I V ; 7 II; 9; 10 I I 3; 11 III; 26 I 1; 33 I 2 Konsequenz 6 III; 26 I I 3; 36 I 2 Konservativismus 12 I 2 Konstitutionelle - Bewegung 3 I I - Monarchie 3 I I Kontext 1 IV 1; 5 V 3; 24 I I 2; 26 I I 3; 33 I 2; 35 I I 3; 38 I 1 Kontinuität 1 IV 1; 6 III; 12 I 2; 21 III; 26 I I 1, 3; 38 I 2 Konventsregierung 37 I I I Kreatives Denken 113 Kriminologie 37 I I I Kultur 15 Leben 27 Legalität 5 III, IV; 6 I I Legitimation 5; 6; 7; 9 I; 33; 35 I I 1 - durch Verfahren 6 -sdruck 5 V I Legitimität 4; 14 I I 3 Leistungsstaat 26 I 3 Leitbilder 33 I 2

446

Sachverzeichnis

Logische Auslegungsargumente 35 I I 3 Lücken 6 III; 26 I I 3; 33 II; 38 IV Macht 6 II; 12 I 1; 14 I I 2; 22, insb. I, III 2 -kontrollen 17; 18 Magna Carta 3 I Manipulation 17 I I 2; 22 I; 25 I I 2 Manipulierbarkeit 11 I I 2 Markt 2 I 4 Massenkommunikation 18 I I 3; 22 I, I I I 2; 28 Mehrheit 5 IV Mehrheitliche Akzeptanz 13 I 2 Mehrheitsprinzip 1 I I I 1; 9 I I 3; 11; 22 II Meinungsfreiheit 5 V 1; 17 I I 3; 22 I I I 1 Menschen -bild 14 III; 24 I I 3; 26 I 2 -rechte 3 I -würde 11 V 2; 23, insb. I I 2 b; 24; 25 I I 6; 26 I 2; 27 I, I I 1, 2 Methodologischer Individualismus 8 I Minderheiten 20 I I I Ministerverantwortung 29 I V Mißtrauensvotum 3 I, II; 29 IV Mitbestimmung 15 I I 1 Mobilität 15 I I 1 Monarchie 14 I I 2 Monopolisierung 22 I I I 3 Moralische Geltung 13 11 Nachtwächterstaat 12 I 2; 17 I I 2; 26 I 3 Natur - der Sache 2 I 1 - des Menschen 2 I 1; 8 I; 14 III; 15 I 1, I I 2 -recht 2 I 1; 5 I-III; 13 I 3, I I I 2; 14 III; 23 I 1 Nebenwirkungen 1 I I 3 Neutralität 21 II, I I I Normenflut 4 I I 4; 19 I I 3 Normerhaltung 38 I 2 Normhypothesen 1 I 3 Notstand 3 I I Nulla poena sine culpa 29 I; 32

Objektive -Auslegung 33 I 1; 35 I I 2 - Erkenntnis 32 I I I Objektivität der Rechtsnormen 31 I I Offene Gesellschaft 1 IV 2; 2 I I 3; 5 II; 14 I 3, V; 15 I I 2; 28 Offenes System 36 I 2 Offenheit des Typus 37 I 3 Öffentliche Meinung 9 I I I 2; 13 I I I 2; 17 I I 2, 3; 19 I 1; 22 I I Öffentlichkeit 5 V 4; 6 III; 12 13 Oligarchie der meinungsbildenden Kräfte 22 I I I 3 Opposition 3 I; 17 I I 2; 18 I I 1 Organadäquate Funktionenverteilung 26 I I 2; 38 I I I 1, V Orientierungs -gewißheit 1 I V 1; 9 I I 3, I I I 2; 12 I 2, 3; 14 I I 1; 15 I 1, II, insb. I I 2; 36 I 2 -Wirkung der Rechtsordnung 1 I I 1 Parität 25 I 1, I I 1; 26 I 2 Parlamentarische - Verantwortlichkeit 3 I; 29 IV -s Regierungssystem 3 I, I I Parteibuchkarrieren 21 I I I Parteien 3 I, II; 14 I I 1, III, IV; 18 I, I I 1-3; 19 I 2, I I 1; 20 I I I 2 -bundesstaat 20 IV 3 -kartell 19 I I 1 Partizipation 20 I I 2 Persönlichkeitsrecht 23 I 2; 24 I I I 2, 4, 5 Perspektiven 1 I V 2; 14 V; 15 I 2 Petition of Right 3 I Piecemeal engineering 1 I 3 Plebiszite 19 I 1, I I 1 Pluralismus 19 I 2; 21 I; 22 I I I 2 Pluralistische Demokratie 26 I 4 Politische Verantwortlichkeit 29 I V Polizeipflichtigkeit 29 I I I Positives Recht und Gerechtigkeit 13 II 2 Positivismus 5 II; 6 II; 16 I Präferenzen 8 I I I 4; 9 I I 2; 10 I 1, I I 2

Sachverzeichnis Präskriptive Aussagen Rechtsnormen als - 13 I 1 Presse 17 I I 3; 22 -freiheit 22 I I I 2 -Vielfalt

22 I

Privatautonomie 18 I I 2; 19 I I 3; 23 I 2, 114 Privatsphäre 24 I I 2 Problem 36 Prognosen 37 I I I Psychologische Natur des Rechts 31 I I Rationalität 5 V, insb. V 5 - der Rechtsanwendung 34 Rationalitätsgrenzen 16 IV Reasoning from case to case 9 I I I 2 Recht - als aktuelle Motivation 31 I I - auf Leben 27 I I 1 - u n d Moral 13 Rechtfertigende Kraft des Erfolges 13 III 2 Rechtfertigung 5 I; 6; 14 U 1; 33 Rechtliches Gehör 5 V 4; 6 III; 12 13; 24 I I 2 Rechts -findung 33 -fortbildung 6 III; 26 I I 2, 3; 38 I I I 3 -frieden 11 I I I 1 -gefühl 2 II; 7 I 1; 8 I I I 4 -geschichte 36 I I 1 -kultur 1 I V 1; 26 I I 3, 4 -Sicherheit 13 I I I 2; 26 I I 1; 33 I I 2; 36 I 2; 37 I 3; 38 I 2 -Staat 3 II; 5 V; 14 I I I -vergleichung 14 I I 2; 36 I I 1 -weggarantie 3 I I -Widrigkeit 29 I; 30; 31 Reduktion von Komplexität 6 I, IV; 36 I 1 Referendum 19 I 1 Regelungsermessen des Gesetzgebers 38 I I I Regionalismus 18 I I 2; 20 I I I 1 Relativismus 22 I I Relevanztheorie 30 I I Religion 15 I I 2; 25 I, I I 1 -sfreiheit 3 I; 25 I 5, I i 5

Religiöse - I d e e n 14 I 1, Π 1, 2 - Neutralität 25 I I 1 Repräsentanten, Repräsentativorgane 5 V 3, 19 I 1; 35 I I 2 Repräsentation 4 I I 1; 26 I 1 Repräsentative Demokratie 5 IV, V 5; 7 I I 2; 17 I I 2; 19 I 1 Restriktive Auslegung 26 I I 3 Rezeption 14 I I 2 Rollen 15 I I 1 -distanz 6 I I I Rule of Law 3 I Rundfunk -anstalten 18 I; 19 I I 1 -freiheit 22 I I I 2 Sachverstand 16 II, I I I Sachverständige 161 Schadensverantwortung 29 I I Schlüsselbegriffe 2; 26 I I 2; 35 ΙΠ Scböpfungsordnung 2 1 1 Schuld 32 I I I -strafrecht 29 I; 32 Schulen 25 I I 1 Sein und Sollen 2 I 1 Selbstbestimmung 11 IV 5, V I I 3; 14 III; 17 I I 2; 19 I I 3; 32 I I I -srecht 18 I I 2; 23 I 2, I I 4; 24 I 2, I I I

6 Selbstorganisierung 20 I I 1 Selbsttötung 27 I I 2 Selbstverantwortung 14 I I 3 Selbstverwaltung 3 II; 15 I I 1; 18 I I 2; 19 I 1; 20 I, I I 2, I I I 2, V I 1 Selbstzweck 24 I I 1 Semantik 10 I 2 Sinnorientiertheit 14 I 1; 15 I 2 Sinnwandel 13 I I I 2; 14 I I 3; 26 I I 1; 38 I I I 2 Social engineering 16 I Sollen 13 I I ; 32 1 Sozial -bindung 14 I I 2; 24 I I 3 -gestaltung 16 I -kybernetisches System 6 I -Optimismus 16 I -Staat 3 I, II; 19 I I 3; 26 I 3, 5, I I 3

448

Sachverzeichnis

-technik 16 I -Widrigkeit der Sozialstaatlichkeit 1 I I 3 Soziale -Gewalten 18 1,113 - Gleichstellung 26 I 3 -Kontrolle 15 I I 1 Soziobiologie 7 I I I 1; 8 Soziologie 16 I Spielregeln 5 II, V, insb. V 1, 4; 11 I I I 2; 15 I I 2 Staat und Gesellschaft 21 I, I I Staats -notstand 3 I I -Zielbestimmungen

38 I 1

-zwecke 6; 14 IV Stabilisierung 14 I I 1; 18 I Stabilität 1 IV 1; 4 I I 2; 11 I, III; 12 I 2; 15 I 1, I I 1; 20 V I 2; 21 I I I Stein-Hardenbergsche Reformen 3 II; 26 I 3 Sterbehilfe 24 I I 3; 27 I I 2 Steuer -Staat

26 I 3

-zwecke 26 I I 2 Straf -gerechtigkeit 12 I 3 -zumessung 37 I I 2 Streik 4 I I 3; 19 I I 2; 21 I I I Strukturen 6 I; 37 I 2 Strukturierung der Demokratie 4 I I Stufentheorie des Rechts 38 I 1 Subjektive Auslegung 33 I 1 Subjektives Recht 24 I I I 2, 5 Subjektivität 32 I I I Subsidiaritätsprinzip 15 I I 1; 19 I 1 Subsumtion 10 I 2 Subventionen 19 I I 2 Supermächte 18 I I 4 Supranationale Organisationen 20 I System 36, insb. I 1, 2, I I 2 -Stabilisierung

-theorie

6 II

6 1; 18 I I 2

-Verträglichkeit

1 I 3, I V ; 2 6 I I 3

Systematische Auslegung Teilhaberechte 26 I 3 Telekratie 19 I 1 Terrorismus 28

26 I I 3

Toleranz 22 II; 25 I 1-3, I I 3, 5; 26 I 2 Topik 36, insb. I I Tradition 1 I I 1; 7 ΠΙ 2; 15 Π 2 Transparenz 4 I I 4; 36 I 2 Trial and error 1 I I I 2; 2 I I 3; 3; 4; 9 III; 11 I I 1; 22 I I I 1 Typen 37 I 1 -vergleich 35 I I 1; 37 I I Typisierende Erfahrungsregeln 37 I I I Tyrannei 28 Übermaßverbot 1 I I I 1; 11 I V 5; 18 I I 2; 23 I I 1, 2; 26 Π 2; 35 I I 5; 38 I 2 Übervölkerung 27 I I 1 Umverteilung 26 I 3 Unabhängigkeit 21 Π Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe 35 I Unmittelbare Demokratie 17, insb. I I 2; 19 I 1 Unparteilichkeit 5 V; 6 III; 12 I 3; 21 III Unrecht 3 0 1 Urteilskraft 36 I I 1 Variables „System" 1 IV 1; 36 I 2 Veil of ignorance 5 V 3 Verantwortlichkeit 29; 32 Verbände 19 I I 2; 20 V I 1; 21 I, I I Verbandsmacht 19 I I 2 Verfahrensgerechtigkeit 6 III; 12 I 3; 21 I Verfassung -Vorrang 11 V I ; 23 13 -sgerechtigkeit 12 I 3 -skonforme Auslegung 38 -skonkretisierung, Primat 38 V -sstaat 3; 5 II; 17 Verhaltensdispositionen 8 I I I 3 Verhältnismäßigkeit 1 I I I 1; 11 IV 5; 18 Π 2; 23 I I 1, 2; 26 I I 2; 35 I I 5 Verifizierung 10 Verkehrssitte 9 I I 3; 33 I 2; 35 I I 4 Vermutung für die Freiheit 17 I 3 Vernünftigkeit 11 I I Verstehende Soziologie 16 I I Vertretbare Auslegungen 38 V

Sachverzeichnis Volksentscheide 19 I 1, I I 1 Volksgeist 2 12 Vorrang des Gesetzes 3 I Vorrechtliche Grundsätze der Gerechtigkeit 13 I I 2 Vorstaatliche Menschenrechte 23 I 1 Vorstellungsweiten 14 I 3 Vorverständnis 14 I 3, I I 1 Waffengleichheit 12 I 3 Wahlrecht 3 I -sgleichheit 26 I I 2 Wahrheit 9 I I 1; 10 I Wechselbezüglichkeit der Freiheit 23 I 2; 24 I I 3; 25 Π 5 Wehrhafte Demokratie 3 I I Welt -anschauungen 1 IV 2; 5 II; 14; 25 I I

1, 2

-bild 15 II, insb. I I 1, 2; 22 I Wert -e 9 I I 1 -ethik 9 I I I ; 10 I I

29 Zippelius

449

- O r d n u n g 1 0 I 1; 2 4 I I I 3 ; 2 5 I I 3 ; 3 8 I 1

-urteil 9 I I I ; 10 Wesensgehaltsgarantie 23 I I 2 Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung I I V 1; 12 I 3; 26 I I 3; 36 I 2 Widerstand 16 VI; 17 I I 3; 28 Wiedererkennen 10 I 2; 36 I I 1; 37 I 1 Willensfreiheit 29 I; 32 Wirksamkeit 1 II; 13 I; 23 I 1 Wissenschaft, Gegenstand der — 16 I I Wohlfahrtsstaat 26 I 5 Wortbedeutung 35 I; 38 I I Zeitgeist 14 I 2, I I 3; 26 I I 1 Zeitnot 16 IV Zielvorstellungen 1 4 I V Zielwahl 16 II, I I I Ziviler Ungehorsam 11 VII; 16 VI; 25 II 2 Zurechnungsfähigkeit 32 Zwangscharakter des Rechts 13 13 Zweck des Gesetzes 35 I I 2; 38 I I I Zweischwerterlehre 14 I I 2