Kritik, Kontrolle, Alternative: Was leistet die parlamentarische Opposition? [1. Aufl.] 9783658299095, 9783658299101

Dieses Buch schließt eine bedeutsame Lücke der politikwissenschaftlichen Forschung. Was sind Handlungsspielräume und -re

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German Pages VII, 338 [334] Year 2020

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Kritik, Kontrolle, Alternative: Was leistet die parlamentarische Opposition? [1. Aufl.]
 9783658299095, 9783658299101

Table of contents :
Front Matter ....Pages i-vii
Zur Einführung: Parlamentarische Opposition im Fokus der Politikwissenschaft (Stephan Bröchler, Manuela Glaab, Helmar Schöne)....Pages 1-11
Front Matter ....Pages 13-13
Die politische Opposition in der Regierungslehre. Systematische Überlegungen zu einem unterbelichteten Begriff (Friedbert W. Rüb)....Pages 15-45
Opposition, multiple Repräsentation und komplexe Gewaltenteilung: Überlegungen zur demokratie- und institutionentheoretischen Kontextualisierung von Kritik, Alternative und Kontrolle (Roland Lhotta)....Pages 47-71
Deliberative Opposition? Der parlamentarische Beratungsprozess im Spannungsfeld zwischen Deliberation und Dualismus (Andreas Schäfer)....Pages 73-91
Front Matter ....Pages 93-93
Was ist effektive Opposition? Überlegungen zu einem Schlüsselbegriff der Regierungslehre (Marcus Höreth, Jörn Ketelhut)....Pages 95-118
Der Handlungsraum der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag. Erfahrungen mit der „Mini-Opposition“ in der 18. Legislaturperiode (Stephan Bröchler)....Pages 119-139
Oppositionsarbeit im Parlamentsalltag – eine mikropolitische Perspektive (Helmar Schöne)....Pages 141-162
Parlamentarische Kontrolle und Opposition – realistische Grundlagen für ein dynamisches Verständnis (Sven T. Siefken)....Pages 163-192
Minderheitsregierung und Mehrheitsopposition – Zur Aktualität der Oppositionstrias „Kritik, Kontrolle, Alternative“ im Fall Schweden (Melanie Müller)....Pages 193-216
Front Matter ....Pages 217-217
Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik in den Bundesländern. Politische Minderheiten in einem konsensdemokratischen Politikfeld (Werner Reutter)....Pages 219-246
Die AfD in den Landtagen: Bipolarität als Struktur und Strategie – zwischen Parlaments- und „Bewegungs“-Orientierung (Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels, Alexander Berzel)....Pages 247-273
Kritik, Kontrolle, Alternative? Die AfD als parlamentarische Opposition in den Landtagen von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt (Alexander Hensel)....Pages 275-300
Front Matter ....Pages 301-301
Wie leistungsfähig ist die Opposition? (Franz Müntefering)....Pages 303-315
Möglichkeiten und Grenzen der parlamentarischen Opposition. Allgemeine Überlegungen – illustriert am Beispiel Thüringens 2014–2018 (Mike Mohring)....Pages 317-327
Opposition in der Demokratie (Gregor Gysi)....Pages 329-338

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Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland

Stephan Bröchler · Manuela Glaab Helmar Schöne Hrsg.

Kritik, Kontrolle, Alternative Was leistet die parlamentarische Opposition?

Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland Reihe herausgegeben von Stephan Bröchler, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Berlin, Deutschland Marion Reiser, Institut für Politikwissenschaft, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Thüringen, Deutschland Helmar Schöne, Abteilung Politikwissenschaft, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gm, Schwäbisch Gmünd, Baden-Württemberg, Deutschland

​ ie Regierungslehre ist ein Kernbereich der Politikwissenschaft. Sie beschreibt, D erklärt und hinterfragt die Formen, Prozesse und Inhalte des Regierens im europäisierten deutschen Regierungssystem. Im Zentrum der Analysen stehen die politischen Akteure und Institutionen des Mehrebenensystems, deren Handlungsfelder und Beziehungen. Die Reihe der DVPW-Sektion „Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland“ bietet dem gesamten Spektrum von Fragestellungen und methodischen Zugängen der Regierungslehre ein Forum.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16568

Stephan Bröchler · Manuela Glaab · Helmar Schöne (Hrsg.)

Kritik, Kontrolle, Alternative Was leistet die parlamentarische Opposition?

Hrsg. Stephan Bröchler Humboldt-Universität zu Berlin Berlin, Deutschland

Manuela Glaab Universität Koblenz-Landau Landau, Deutschland

Helmar Schöne Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd Deutschland

ISSN 2662-9836 ISSN 2662-9844  (electronic) Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland ISBN 978-3-658-29909-5 ISBN 978-3-658-29910-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Zur Einführung: Parlamentarische Opposition im Fokus der Politikwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Stephan Bröchler, Manuela Glaab und Helmar Schöne Demokratietheoretische Herausforderungen der parlamentarischen Opposition heute Die politische Opposition in der Regierungslehre. Systematische Überlegungen zu einem unterbelichteten Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Friedbert W. Rüb Opposition, multiple Repräsentation und komplexe Gewaltenteilung: Überlegungen zur demokratie- und institutionentheoretischen Kontextualisierung von Kritik, Alternative und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Roland Lhotta Deliberative Opposition? Der parlamentarische Beratungsprozess im Spannungsfeld zwischen Deliberation und Dualismus . . . . . . . . . . . . . 73 Andreas Schäfer Was leistet parlamentarische Opposition? Was ist effektive Opposition? Überlegungen zu einem Schlüsselbegriff der Regierungslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Marcus Höreth und Jörn Ketelhut

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Der Handlungsraum der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag. Erfahrungen mit der „Mini-Opposition“ in der 18. Legislaturperiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Stephan Bröchler Oppositionsarbeit im Parlamentsalltag – eine mikropolitische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Helmar Schöne Parlamentarische Kontrolle und Opposition – realistische Grundlagen für ein dynamisches Verständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Sven T. Siefken Minderheitsregierung und Mehrheitsopposition – Zur Aktualität der Oppositionstrias „Kritik, Kontrolle, Alternative“ im Fall Schweden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Melanie Müller Kontexte und Strategien politischer Opposition Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik in den Bundesländern. Politische Minderheiten in einem konsensdemokratischen Politikfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Werner Reutter Die AfD in den Landtagen: Bipolarität als Struktur und Strategie – zwischen Parlaments- und „Bewegungs“-Orientierung . . . . . 247 Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels und Alexander Berzel Kritik, Kontrolle, Alternative? Die AfD als parlamentarische Opposition in den Landtagen von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Alexander Hensel Chancen und Grenzen parlamentarischer Opposition aus Sicht von Parlamentariern Wie leistungsfähig ist die Opposition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Franz Müntefering

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Möglichkeiten und Grenzen der parlamentarischen Opposition. Allgemeine Überlegungen – illustriert am Beispiel Thüringens 2014–2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Mike Mohring Opposition in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Gregor Gysi

Zur Einführung: Parlamentarische Opposition im Fokus der Politikwissenschaft Stephan Bröchler, Manuela Glaab und Helmar Schöne Nach Wahlniederlagen auf die Oppositionsbänke geschickt oder gar ganz aus dem Parlament verbannt zu werden, ist aus Sicht der um Wählerinnen und Wähler konkurrierenden Parteien zweifelsohne ein Negativszenario. Parteien streben nach politischem Einfluss, der am ehesten durch die Maximierung von Stimmen am Wahltag und durch die Übernahme von Regierungsämtern möglich ist. Das Diktum Franz Münteferings – „Opposition ist Mist“ – ist auch deshalb zum geflügelten Wort geworden, weil sie jedem unmittelbar einleuchtet: Wer in die Politik geht, möchte aktiv gestalten. Daher stehen die Leistungen der Opposition in der Regel weniger im öffentlichen Interesse als die der Regierung und der sie tragenden Parteien, auch wenn die Opposition im Parlament die wichtigen Aufgaben von Kritik, Kontrolle und der Formulierung von Alternativen übernimmt. Thema des vorliegenden Bandes ist die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Opposition im politischen System Deutschlands. Heute herrscht weitgehender Konsens, dass der politischen Opposition ein hoher Stellenwert für die Qualität der Demokratie zukommt. In der Politikwissenschaft S. Bröchler (*)  Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Glaab  Institut für Sozialwissenschaften, Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Schöne  Institut für Gesellschaftswissenschaften, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_1

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besteht Einigkeit, dass ohne eine handlungsfähige parlamentarische Opposition, liberale Demokratien nicht funktionsfähig sind. Auch seitens der Politik wird die Bedeutung der Opposition bestätigt. Norbert Lammert, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages, betonte etwa, dass eine funktionierende Demokratie essenziell vom Vorhandensein einer parlamentarischen Opposition abhängt: „Regiert wird immer und überall, mal mit und oft ohne demokratische Legitimation. Die Opposition macht den Unterschied, und ihre Bedeutung steht und fällt mit dem Gewicht des Parlaments als Vertretung des ganzen Volkes: Mehrheit und Minderheit, Rede und Widerrede“ (Lammert 2014). Angesichts dieses eindeutigen Meinungsbildes irritiert es, dass die parlamentarische Opposition als institutioneller Akteur bis heute kein kohärenter und systematisch erforschter Gegenstandsbereich der deutschen Politikwissenschaft ist. Zur Erklärung dieser Bestandsaufnahme können erstens verfassungssystematische Gründe angeführt werden. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland kennt den Begriff der „Opposition“ gar nicht (Waack 2015). Anders verhält sich dies in der Mehrzahl der Landesverfassungen. Beispielsweise formuliert Artikel 85 Absatz 1 der Verfassung des Landes ­Rheinland-Pfalz: „Parlamentarische Opposition ist ein grundlegender Bestandteil der parlamentarischen Demokratie.“ Eine gleichlautende Formulierung findet sich ebenfalls in Artikel 16a der Verfassung des Freistaates Bayern. Das Fehlen der Opposition im Verfassungstext des Grundgesetzes hat seine Ursache darin, dass die Mütter und Väter der bundesdeutschen Nachkriegsverfassung andere Akteursgruppen als Träger des parlamentarischen Geschehens im Blick hatten (Schüttemeyer 2013, 2015): vor allem die individuell gewählten Abgeordneten (Artikel 38, Absatz 1 GG) und die Fraktionen des Deutschen Bundestages. Die Leerstelle Parlamentsopposition in der Verfassung ist bedeutsam, zeitigt sie doch Folgen für die Befassung mit der parlamentarischen Opposition, beispielsweise in einschlägigen Lehrbüchern. Nicht nur in Einführungswerken der Staatsrechtslehre (Maurer 2010; Stein und Frank 2010), sondern auch in vielen Werken zum politischen System (Schmidt 2016) und der Regierungslehre Deutschlands (Hesse und Ellwein 2012; Marschall 2018a) findet die Opposition als Akteur im Parlamentsgeschehen keine explizite Erwähnung im Gliederungsaufbau (Ausnahmen: Rudzio 2018; Morlock et al. 2015; Beyme 1997, 2016). Ähnliches gilt für die politikwissenschaftlichen Analysen zu Bundestagswahlen. Dort werden regelmäßig sachkundige Regierungsbilanzen gezogen (Schmitt-Beck et al. 2014; Korte und Schoofs 2019). Die Frage, wie leistungsfähig sich die parlamentarische Opposition als institutioneller Akteur im Verlauf der Legislaturperiode gezeigt hat, wird dagegen in der Regel selten thematisiert (siehe jedoch: Jungjohann und Switek 2019).

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Ein zweiter Faktor, der die fehlende Kohärenz des Forschungsfeldes parlamentarische Opposition zu erklären vermag, ist die Spezialisierung der politikwissenschaftlichen Forschung. Parlamentarische Opposition ist Gegenstand der Forschungsinteressen unterschiedlicher politikwissenschaftlicher Teilgebiete, welche die gewonnenen Erkenntnisse nur sporadisch untereinander diskutieren. Beforscht wird die Opposition im Parlament einesteils durch die Regierungslehre, die sich die Analyse der obersten Staatsorgane im Regierungssystem zur Aufgabe gestellt hat (Hennis 1997 [1965]; Korte 2014). Parlamentarische Opposition ist anderenteils Gegenstand der Parlamentarismusforschung (Oberreuter 1989, 1975; Patzelt 2003; Steffani 1968; Schüttemeyer 2013, 1998), denn sie ist systematisch in die Funktionslogik des Parlaments eingebunden und erfüllt wichtige Wahl- und Abwahl-, Gesetzgebungs- Kontrollsowie Kommunikationsfunktionen (Marschall 2018b). Zur Regierungs- und Parlamentarismusforschung treten weitere Teilgebiete der Politikwissenschaft, die den Gegenstand Parlamentsopposition ebenfalls in den Blick nehmen. Die Analyse der Wähler/innen von Oppositionsparteien stellt etwa ein Forschungsinteresse der Wahlforschung (Rudi und Schoen 2014; Pickel 2019) dar. Für Parteien, die in das Parlament gewählt wurden und dort die Minderheitsfraktionen bilden, interessiert sich zudem die Parteienforschung (Decker 2018; Decker und Neu 2018). Als dritter Erklärungsfaktor erweist sich die Selektivität des politikwissenschaftlichen Forschungsfokus. Dies wird besonders im Bereich der Regierungslehre deutlich. Die Aufforderung von Wilhelm Hennis Ende der 1960er Jahre an die Regierungslehre, die Erforschung der Regierung zu intensivieren, hat Früchte getragen (Hennis 1997 [1965]). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verfügt die Regierungsforschung sowohl über ein vielfältiges Set t­heoretisch-konzeptioneller Ansätze als auch über empirisches Wissen zur Funktionslogik und Aufgabenerfüllung der Regierung (Bröchler 2017; Korte und Grunden 2013). Verlierer der Fokussierung auf die Regierung ist die parlamentarische Opposition. In den Fokus der Regierungslehre rückte mehr und mehr das Interesse am Regieren, während die Bedeutung der Opposition in den Hintergrund trat (Helms 2002, S. 16). Unter Bedingungen von Koalitionsregierungen wurde die parlamentarische Opposition, weil sie in der Regel nicht als Mehrheitsbeschafferin erforderlich ist, mehr oder weniger zur einer quantité négligeable. Die Leerstelle Opposition im Grundgesetz, die Zerfaserung im Zuge zunehmender Forschungsspezialisierung und die Selektivität der Regierungslehre führen zu einem disparaten Bild des Stands der Forschung zur parlamentarischen

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Opposition. Thematisch wird parlamentarische Opposition kaum als eigener Gegenstandsbereich aufgegriffen, sondern unter speziellen Einzelaspekten oder als Querschnittsthema behandelt. Beiträge in der Zeitschrift für Parlamentsfragen analysieren immer wieder wichtige Facetten der Oppositionstätigkeit im Parlamentsgeschehen (Kuhn 2020; Hünermund 2018; Carstensen 2018). Im Standardwerk zum Deutschen Bundestag von Wolfgang Ismayr ist die parlamentarische Opposition kein eigenes Thema, sondern findet Erwähnung an diversen Stellen. Raum wird der parlamentarischen Opposition besonders im Bereich der Kontrollfunktionen eingeräumt (Ismayr 2012, S. 289 ff.). Einen reichen Fundus an empirischen Material zur Opposition findet sich an vielen, jedoch wiederum verstreuten Stellen im Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages (Datenhandbuch (o. J.)). Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass es bis dato nicht gelungen ist, die unterschiedlichen Fäden der Forschung zur Parlamentsopposition zu einem kohärenten, theoretisch anspruchsvollen und empirisch gesättigten Gegenstandsbereich „Parlamentsopposition“ zu verdichten. In jüngerer Zeit hat das Thema parlamentarische Opposition in der bundesdeutschen Politikwissenschaft indes einen gewissen Aufschwung erfahren. Die Ursachen für das gesteigerte Interesse sind vielfältig. Eine wichtige Rolle spielen ohne Frage die Veränderungen im deutschen Parteiensystem. Mit den Wahlerfolgen der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) bei Kommunal-, ­Landtags-, Bundestags- und Europawahlen ist das Thema Parlamentsopposition mit Nachdruck auch auf die Tagesordnung der Politikwissenschaft gelangt (Heinze 2020; Rütters 2019; Niedermayer 2018; Hensel und Finkbeiner 2017; Schroeder et al. 2017; siehe auch den Beitrag von Schroeder et al. in diesem Band). Ausdruck des gestiegenen Interesses sind ferner jüngere Publikationen, die das Handlungsfeld der parlamentarischen Opposition weiter ausleuchten und fragen, wie unter veränderten Handlungsbedingungen – etwa der Transformation von Staatlichkeit und von Großen Koalitionen – parlamentarische Opposition dennoch erfolgreich sein kann (Korte 2014; Bröchler 2017). Auch die Parlamentarismusforschung erweitert das Wissen um die Arbeitsweise der Parlamentsopposition weiter: Siefken (2018) erkundet die Kontrollmöglichkeiten der Opposition im Deutschen Bundestag (siehe auch den Beitrag des Autors in diesem Band). Garritzmann (2017) sowie der Sammelband von De Giorgi und Ilonszki (2018) bringen eine international vergleichende Perspektive in die Forschung zur Parlamentsopposition ein. Ausdruck des erstarkten Interesses am Thema parlamentarische Opposition sind auch entsprechende Aktivitäten der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW). Ende 2017 organisierte die Sektion „Regierungssystem und Regieren der Bundesrepublik Deutschland“ der DVPW an der

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­ umboldt-Universität zu Berlin eine Tagung zum Thema: „Kritik, Kontrolle, H Alternative: Wie leistungsfähig ist die parlamentarische Opposition?“ Die Beiträge der Tagung sind in erweiterter und überarbeiteter Form in diesem Band versammelt, ergänzt um zusätzliche Aufsätze von Politikwissenschaftler/innen und um Kurzbeiträge von Parlamentarier unterschiedlicher politischer Parteien, die aus der Sicht der politischen Praxis auf die Opposition blicken. Ziel des Bandes ist es, einen Beitrag zu mehr Kohärenz des Forschungsfeldes parlamentarische Opposition zu leisten. Der Band ist in vier Kapitel gegliedert, die das Thema der Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Opposition aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven reflektieren. Das erste Kapitel versammelt grundlegende Analysen zu den demokratietheoretischen Herausforderungen der parlamentarischen Opposition. Den Auftakt bilden konzeptuelle Überlegungen von Friedbert W. Rüb, der ein Schattendasein der Opposition in der politischen Theorie konstatiert. Ausgehend von einer Analyse der in der Regierungslehre verwendeten Konzepte der politischen Opposition schlägt der Beitrag zunächst eine neue Typologie politischer Opposition vor, die mit zwei Kriterien arbeitet: der Regelakzeptanz sowie der politischen Intensität der politischen Opposition. Daran anknüpfend zeigt er auf, dass der politischen Opposition in relevanten politikwissenschaftlichen Theorien – der Kartellparteien-These, Vetospieleransätzen, Governance-Theorien und der Systemtheorie – keine Bedeutung mehr bei­ gemessen wird, obgleich zeitgleich eine Intensivierung der Opposition, etwa durch das Erstarken populistischer Bewegungen, zu beobachten ist. Welche Folgen hat dieses Paradoxon eines Verschwindens einerseits und einer Zunahme der Opposition andererseits für den politischen Prozess in den (post)modernen Gesellschaften? Roland Lhotta stellt in seinem Beitrag unser herkömmliches Verständnis von Opposition grundsätzlich infrage und fordert eine konzeptionell und theoretisch neue Perspektive auf das Phänomen Opposition. Wenn sich die modernen Demokratien grundsätzlich wandeln, dann müsse sich auch das Verständnis von Opposition als eines ihrer Kernkonzepte verändern. Viele bislang verwendete Begriffe und Konzepte zur Analyse von Opposition seien heute anachronistisch, unterkomplex und schlichtweg unpassend. Das betreffe auch die funktionale Trias „Kritik, Kontrolle und Alternative“, mit der eine bipolare Konstellation von Regierung versus Opposition konstruiert würde. Stattdessen sei der Blick auf die multipolaren Akteursbeziehungen, denen es um Machtteilhabe geht, zu lenken. Für die Neuinterpretation von Opposition werden Ideen der neo-institutionalistischen Demokratietheorie mit Überlegungen zur multiplen Repräsentation und komplexer Gewaltenteilung verbunden. Opposition wird so

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als Funktion des gesamten demokratischen Systems und nicht eines besonderen institutionellen Ortes konzeptualisiert. Zum Abschluss des ersten Kapitels setzt sich Andreas Schäfer mit der Oppositionspraxis im Parlament auseinander und fokussiert hierbei auf den Aspekt der Deliberation. Ausgehend von einer kritischen Reflexion vorliegender Ansätze der Deliberations- und Parlamentarismusforschung entwickelt er ein Deliberationskonzept, das den institutionellen Kontext des Parlaments als Spannungsfeld konträrer Legitimationslogiken berücksichtigt. Auf der Basis von Interviews mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages wird aufgezeigt, wie Deliberation zur Erfüllung parlamentarischer Oppositionsfunktionen beitragen kann bzw. welche Restriktionen dem entgegenstehen können. Das zweite Kapitel wirft anschließend die Frage nach den Leistungen der parlamentarischen Opposition auf und zeigt sowohl theoretische Zugänge als auch empirische Befunde hierzu auf. Marcus Höreth und Jörn Ketelhut stellen die grundsätzliche Frage, was Opposition eigentlich leisten muss, um als effektiv zu gelten. Der Beitrag kritisiert, dass es bisher nicht gelungen ist, diese Fragestellung überzeugend zu beantworten. Eine Ursache sei, dass zur Messung der Effektivität die Anzahl der Instrumente verwendet wird, die der parlamentarischen Opposition zur Verfügung stehen. Die Orientierung an der politischen Opportunitätsstruktur vernachlässige jedoch sträflich die normative Perspektive. Daher fordern die Autoren zunächst die Frage zu klären, was Opposition im parlamentarischen Regierungssystem Deutschlands leisten soll. Im Beitrag werden zwei Modelle parlamentarischer Opposition unterschieden, denen jeweils verschiedene Verständnisse von Effektivität unterlegt sind. Im Westminster-Modell bedeute Effektivität, dass die Opposition alle Möglichkeiten nutze, um selbst zu regieren. Demgegenüber sei der Hauptzweck der Opposition im republikanischen Modell, dem Deutschland zugerechnet wird, politische Macht durch konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierung zu kontrollieren. Stephan Bröchler interessiert sich in seinem Beitrag für die institutionellen Handlungsmöglichkeiten, Chancen und Restriktionen der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag. Mit einer neo-institutionalistisch und systemtheoretisch orientierten Forschungsperspektive werden die Besonderheiten der politischen Institution parlamentarische Opposition erfasst. Für die 18. Legislaturperiode wird am Beispiel der „Mini-Opposition“ untersucht, in welchem Umfang Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen das Instrumentarium der Minderheitenrechte tatsächlich genutzt haben. Damals verfügten beide Oppositionsparteien zusammen nur über weniger als ein Viertel der Parlamentssitze (20 %). Auf der Grundlage der Fallanalyse werden zukünftige

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Anforderungen für eine konzeptionell wie empirisch anspruchsvolle Forschung zur Parlamentsopposition skizziert. Helmar Schöne wirbt in seinem Beitrag für eine mikropolitische Perspektive auf die Arbeit der parlamentarischen Opposition, welche die alltäglichen Routinen, die selbstverständlichen Verhaltensweisen und die informellen Prozesse der politischen Entscheidungsfindung in den Mittelpunkt rückt. Er wirft einen Blick in die Alltagsarbeit von Fraktions- und Parlamentsgremien, insbesondere in die Arbeitsgruppen- bzw. Arbeitskreissitzungen der Oppositionsfraktionen. Auf der Grundlage von Feldprotokollen aus ethnographischen Beobachtungen im Deutschen Bundestag und im Sächsischen Landtag sowie von Leitfadeninterviews mit Parlamentarier/innen wird analysiert, wie sich Oppositionsarbeit im Alltag parlamentarischen Handelns praktisch gestaltet. Es zeigt sich, dass die kleinsten Fraktionsgremien, die Arbeitsgruppen bzw. –kreise, einen entscheidenden Beitrag leisten, damit die Oppositionsfraktionen die Aufgaben von Kritik, Kontrolle und der Formulierung von Alternativen erfüllen können. Aus den verschiedenen Aufgaben der Opposition rückt Sven T. Siefken die Kontrollfunktion in den Mittelpunkt. Die Essenz seines Beitrages bündelt sich in zwei Fragen: Kontrolliert nur die Opposition? Kontrolliert die Opposition nur? Gegenstand der empirischen Untersuchung ist die Kontrolle nachgeordneter Bundesbehörden durch die Oppositionsfraktionen des Bundestages. Dabei wird nicht nur auf die Veränderung der Nutzung der parlamentarischen Kontrollinstrumente in der Bundesrepublik geblickt, sondern auch untersucht, wie die Interaktionen zwischen den Abgeordneten und der Verwaltung verlaufen, welche Instrumente parlamentarischer Kontrolle zum Einsatz kommen und welche Sanktionskraft sie entfalten. Im Ergebnis spricht sich Siefken für ein dynamisches Verständnis oppositioneller Kontrolle aus, die stets im Spannungsfeld von Mitwirkung einerseits und der Formulierung von Gegenpositionen andererseits verlaufe. Melanie Müller zeigt in ihrem Beitrag am Beispiel Schwedens die besonderen Herausforderungen auf, mit denen sich die parlamentarische Opposition in Phasen von Minderheitsregierungen konfrontiert sieht. In der Transformation der Parlamentskultur nach dem Einzug der Schwedendemokraten in den Stockholmer Reichstag erkennt sie ein „Oppositions-Paradoxon“. Ihre akteurszentrierte Analyse des Abstimmungsverhaltens während zweier Phasen schwedischer Minderheitsregierungen zeigt, dass Oppositionsparteien bei Abstimmungen nicht konsistent der Funktionentrias „Kritik, Kontrolle und Alternative“ folgen, sondern eine auffallende Flexibilität an den Tag legen und sich abwechselnd in die Rolle der konsensualen Mehrheitsbeschafferin begeben, um Regierungsstabilität zu gewährleisten.

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Der dritte Abschnitt des Bandes richtet den Blick auf die Parlamentspraxis, indem unterschiedliche Kontexte und Strategien politischer Opposition beleuchtet werden. Werner Reutter untersucht die Frage: „Kritik, Kontrolle Alternative – Was leistet die parlamentarische Opposition?“ für die Verfassungspolitik der deutschen Bundesländer. In dem konsensdemokratisch geprägten Politikfeld werden, im Kontext des Grand Coalition State, einschlägige Thesen und Argumentationsmuster diskutiert und kritisch hinterfragt. Dabei geht es vor allem um die Beantwortung der Frage, welchen tatsächlichen Einfluss die Opposition im Politikfeld der Verfassungspolitik in den Ländern entfaltet. Es zeigt sich, dass die parlamentarische Opposition nicht nur kontrolliert, kritisiert und sich als Alternative zur Regierung anbietet, sondern teilweise auch als Mitregent agiert. Das Forschungsinteresse am Thema Opposition hat, nicht zuletzt durch die Wahlerfolge der AfD und deren Einzug in den Deutschen Bundestag sowie in alle Landesparlamente, erheblichen Auftrieb erhalten. Von Beginn an wurde der Aufstieg der rechtspopulistischen Partei von der Frage begleitet, ob sich die AfD als Oppositionspartei in den Parlamenten würde etablieren können oder ob sie sich aufgrund innerparteilicher Konflikte und mangelnder Professionalität womöglich selbst ausmanövriert. Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels und Alexander Berzel richten in ihrem Beitrag den Blick vor allem darauf, wie die AfD in den Landesparlamenten agiert und welche Gegenreaktionen sich beobachten lassen. Anhand der Untersuchung der Parlamentspraxis in zehn Landtagen können die Autoren zeigen, dass die AfD-Fraktionen mit ihren Flügeln und Abgeordneten eine „polarisierte Struktur zwischen Parlaments- und ‚Bewegungs‘-Orientierung“ aufweisen. Da die Professionalisierung noch nicht abgeschlossen sei, rückten die Fraktionen weniger die Ausschussarbeit als vielmehr das Parlamentsplenum, hier insbesondere das Instrument der Kleinen Anfrage, ins Zentrum ihrer Tätigkeit. Im Plenum finde die AfD eine wichtige „Bühne“ für ihre großenteils über soziale Medien verlaufende öffentliche Darstellung, während die Gegenstrategien der anderen Landtagsfraktionen zwischen Ausgrenzung, Ignoranz oder aber Abgrenzung variierten. Auch der Beitrag von Alexander Hensel beschäftigt sich mit der Entwicklung der AfD auf der Landesebene; er untersucht am Beispiel von BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt u. a. das soziale Profil und die politischen Vorerfahrungen der AfD-Abgeordneten sowie die parlamentarische Arbeit der AfD-Fraktionen. Es wird deutlich, dass die AfD ein Oppositionsverständnis hat, das kaum kooperativ, wenig kompetitiv und vor allem konfrontativ orientiert ist. Der Schwerpunkt der Oppositionsarbeit der ­AfD-Fraktionen liege

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klar im Bereich von Kritik und Kontrolle, und zwar in einer Form, die zu einer erheblichen Polarisierung der Landespolitik beigetragen habe. Schließlich verbindet der vorliegende Band die politikwissenschaftliche Analyse mit Erfahrungen und Einschätzungen langjähriger Parlamentarier. Für das vierte Kapitel konnten mit Franz Müntefering (SPD) und Gregor Gysi (Die Linke) zwei prominente Bundespolitiker gewonnen werden, die jeweils aus ihrer persönlichen Perspektive über Potenziale und Grenzen der Oppositionsarbeit berichten. Dabei fällt das von Gysi gezeichnete Bild hinsichtlich der Wirkungsmöglichkeiten einer Oppositionspartei positiver aus als jenes von Müntefering, der eben auch auf umfangreiche Regierungserfahrung zurückblicken kann. Zugleich wird jedoch in historischer Perspektive die zentrale Bedeutung kritisch-konstruktiver Opposition für die Demokratie hervorgehoben. Mit ­ Aspekten parlamentarischer Opposition auf Landesebene befasst sich dagegen der Beitrag von Mike Mohring, der die Bedingungen erfolgreicher Oppositionsarbeit aus der Perspektive der CDU-Landtagsfraktion in Thüringen erörtert. Anhand konkreter Beispiele der Landespolitik veranschaulicht er Möglichkeiten und Grenzen der Opposition und erweitert dabei den Blick auch auf Handlungsarenen jenseits des Parlaments. Die Herausgeber bedanken sich bei allen, die zum Gelingen des Bandes beigetragen haben. Dank gebührt insbesondere den Autorinnen und Autoren, die sehr geduldig auf das Erscheinen des Buches gewartet haben. Im Hintergrund, vor allem als fleißige Korrektorinnen, haben die beiden studentischen Hilfskräfte Janina Ott und Nathalie Schmid gewirkt.

Literatur Beyme, Kv. (1997). Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum. Opladen: Westdeutscher Verlag. Beyme, Kv. (2016). Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung (12. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS. Bröchler, S. (2017). Mehr Regierungsforschung wagen! Entwicklungslinien und Forschungsbedarfe der Regierungsforschung. Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 11(4), 497–502. Carstensen, F. (2018). Die Nutzung von Großen Anfragen im Bundestag und in den deutschen Landesparlamenten: warum so unterschiedlich? Zeitschrift für Parlamentsfragen, 49(3), 477–497. Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages (o. J.). https://www.bundestag. de/datenhandbuch. Zugegriffen: 24. Jan. 2020. Decker, F. (2018). Parteiendemokratie im Wandel (2. Aufl.). Baden-Baden: Nomos.

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S. Bröchler et al.

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Zur Einführung: Parlamentarische Opposition …

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Demokratietheoretische Herausforderungen der parlamentarischen Opposition heute

Die politische Opposition in der Regierungslehre. Systematische Überlegungen zu einem unterbelichteten Begriff Friedbert W. Rüb 1 Einleitung Politische Opposition ist in der praktischen Politik ein selbstverständlicher Sachverhalt.1 Zur Regierung gibt es immer eine Opposition, die mehr oder weniger vehement den Kurs der Regierung bzw. der parlamentarischen Mehrheit kritisiert, Alternativen propagiert und in den Medien lautstark die Regierung und ihre Politik angreift. In der politischen Theorie dagegen spielt die Opposition eine nur geringe Rolle, sie wird meist nur am Rande erwähnt. Zwar taucht der Begriff in den klassischen Handbüchern, Nachschlagewerken oder Lexika der Politikwissenschaft in der Regel entsprechend auf, aber insgesamt fristet er ein Schattendasein, verglichen mit anderen Zentralbegriffen der Regierungslehre bzw. der Politikwissenschaft. Noch interessanter und beunruhigender aber ist der Sachverhalt, dass in den neueren Konzepten der Disziplin, z. B. in den Steuerungstheorien und – noch frappierender – den Governancetheorien der Begriff völlig verschwunden ist. Da politische Opposition an spezifischen Orten ausgeübt wird, nämlich im Parlament und/oder auf der Straße, verlieren auch diese Orte des Politiktreibens ihre Bedeutung. Die Politik bzw. Governance wird nicht nur oppositions-, sondern auch ortslos. Gleichzeitig kann man beobachten, 1Ich

danke Helmar Schöne für hilfreiche Kommentare, denen ich weitgehend gefolgt bin.

F. W. Rüb (*)  Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_2

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dass die Opposition lautstärker und die politischen Konflikte zwischen Regierung und Opposition intensiviert werden. Nicht nur die Zunahme der Intensität von parlamentarischen Debatten, sondern auch die Konflikte zwischen Präsident D. Trump und der Opposition der Demokratischen Partei in den USA machen dies überdeutlich. Haben wir es also mit einer Zunahme der politischen Opposition zu tun? Oder führt sie trotz dieser Intensivierung ein Schattendasein? Zentral für das Folgende ist das Verständnis von politischer Opposition. Der abstrakte und noch unspezifizierte Begriff der Opposition bezeichnet jedweden Widerstand gegen eine wie auch immer sich legitimierende Autorität und kann verschiedene Ausdrucksformen annehmen. Sie reichen von verbalen, friedlichen und organisierten Protesten bis hin zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten, ja bis zu einer Revolution gegen eine bestehende Gesellschaftsstruktur. Politische Opposition dagegen muss unvermeidlich enger gefasst werden. Für manche Theoretiker bedeutet sie allein einen Widerspruch innerhalb des Grundkonsenses einer Gesellschaft und schließt deshalb Widerspruch außerhalb eines Grundkonsens aus. Im zweiten Fall hätten wir es mit einer anti-systemischen ‚Opposition‘ zu tun, die ein bestehendes politisches oder gar gesamtes Gesellschaftssystem durch ein grundlegend Neues ersetzten will. Wäre das dann noch politische Opposition oder systemischer oder gar revolutionärer Widerstand? Die folgenden Überlegungen sind von dem Paradox geleitet, dass wir es (nicht nur, aber auch) in der Bundesrepublik zeitgleich mit einer Zu- und Abnahme der politische Opposition zu tun haben. Dieses Paradox erklärt sich durch zwei parallel verlaufende Dynamiken, die vor allem die Rolle der politischen Parteien und die Parteienkonkurrenz in der modernen Demokratie betreffen. Wir haben es einerseits mit der Abnahme der politischen Konkurrenz zu tun, die durch die Entstehung eines neuen Parteientypus begünstigt wird und für den die Parteienforschung noch keinen einheitlichen Begriff gefunden hat. Kartellparteien, professionalisierte Medienkommunikationsparteien oder Parteien der Berufspolitiker konkurrieren um begriffliche Anerkennung. Aber alle Begriffe konvergieren auf eine zentrale, übergreifende Eigenschaft: Die zunehmende Professionalisierung und – untrennbar damit verbunden – Medialisierung der Politik der Parteien, die sie zugleich in einem zentralen Punkt übereinstimmen lässt: Der stärkeren Nutzung staatlicher Ressourcen zu ihrer Finanzierung. Dies führt zur Abnahme der politischen Konkurrenz und verändert dadurch die Intensität der Oppositionspolitik, die nun in zentralen Bereichen zur Intensivierung der parteipolitischen Zusammenarbeit, also der Kartellisierung, führt. Zugleich verstärkt sich die Intensität der politischen Opposition, die sich aber fast nur noch auf einzelne Policies bezieht. Die Medialisierung der Politik begünstigt diese

Die politische Opposition in der Regierungslehre …

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Intensivierung, weil die Medien zum fast alleinigen Kommunikationsinstrument geworden sind, über die die Politik mit der Bevölkerung kommuniziert. Parallel dazu entstehen – meist als unmittelbare Reaktion auf die Dynamiken der Professionalisierung und Kartellisierung – neue (rechts- wie links-) populistische Parteien, die gegen die tradierten Parteienkartelle agieren und oft von außerparlamentarischen Anti-Parteien-Bewegungen begleitet werden. Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) ist hierfür prototypisch. Im Beitrag gehe ich wie folgt vor: Ich kläre zunächst den Begriff der politischen Opposition, wie er in der traditionellen und neueren Regierungslehre verwendet wird und eine erste systematische Annäherung an das Phänomen ermöglicht (1). Im nächsten Schritt gehe ich über die bisher in der Politikwissenschaft entwickelten Typen von politische Opposition hinaus und entwerfe eine eigene, systematisch angelegte Typologie. Diese arbeitet mit zwei Kriterien: der Regelakzeptanz sowie der politischen Intensität der politische Opposition und schließt Oppositionsformen in diktatorischen Regimen ausdrücklich ein (2). Anschließend kläre ich die Prämissen, die den Analysen bzw. den Diagnosen vom Verschwinden der politischen Opposition zugrunde liegen. Hierbei diskutiere ich verschiedene Konzepte, die den Begriff systematisch verabschiedet haben, wie etwa die These der Kartellparteien, dann Governancetheorien und schließlich die Systemtheorie. Bei ihnen allen – mit Ausnahme der Systemtheorie – kommt der politische Opposition keine Bedeutung mehr zu, sie ist aus diesen Theorien bzw. Konzepten vollständig verschwunden (3) Abschließend komme ich auf das bereits erwähnte Paradox zurück, dass wir es einerseits mit dem Verschwinden und zugleich mit der Intensivierung der politischen Opposition zu tun haben. Zudem frage ich, welche Folgen das für die Dynamiken der politischen Prozesse in den (post)modernen Gesellschaften hat bzw. haben wird und welche Bedeutung hierbei der Opposition zukommt (4).

2 Der Begriff der Opposition in der (tradierten) Regierungslehre Der Begriff der politischen Opposition hat sich in der (vergleichenden) Regierungslehre im Laufe der Zeit nicht nur verändert, sondern wird jeweils Zeit auch sehr unterschiedlich verwendet. Es ist erstaunlich, wie viele verschiedene Fassungen in der Disziplin existieren und dass sie sich – trotz einiger grundlegender Arbeiten – nicht auf ein einheitliches begriffliches Verständnis geeinigt

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hat.2 Dolf Sternberger (1955) hat sich – neben Otto Kirchheimer (1964) – als einer der ersten und wenigen Politologen bereits in den 1950er Jahren mit dem Phänomen der politischen Opposition beschäftigt. Kirchheimer ist sogar so weit gegangen, Ende der 60er Jahre zeitdiagnostisch vom „Verschwinden der Opposition“ zu sprechen (Kirchheimer 1967). Ich nehme diese frühen, gleichwohl nach wie vor grundlegenden politikwissenschaftlichen Überlegungen als Ausgangspunkt, um über die Rolle der politischen Opposition nachzudenken und spätere Veränderungen nachzuzeichnen. Dolf Sternberger hat Ende der 50er Jahre in seiner „Studie zum Problem der Gewaltenteilung“ zwischen der „Opposition des Parlaments und parlamentarischer Opposition“ unterschieden (Sternberger 1955). Erstere ist in Regierungssystemen gegeben, in denen das Parlament als Ganzes dem König gegenübersteht. Im Lauf der Geschichte trotzt es dem Königtum immer mehr Rechte ab und wird schließlich selbst zur zentralen politischen Institution im Regierungssystem, in dem die vom Volk gewählten Vertreter der politischen Parteien die politische Macht ausüben. Die Macht zur Regierungsbildung geht vom König auf die gewählten Vertreter im Parlament über und realisiert so die Herrschaft des Volkes über sich selbst. Er erinnert daran, dass „das Auseinandertreten einer regierenden und einer opponierenden Gewalt innerhalb des einen Parlaments vielleicht das geglückteste Verfahren darstellt, Herrschaft und Freiheit in einer lebenden Verfassung zu vereinen derart, dass die Herrschaft die Freiheit zulässt, und dass die Freiheit die Herrschaft doch nicht untergräbt.“ (Sternberger 1955, S. 139)

Das „Widerspiel“ (Sternberger 1955, S. 136) von Regierung und Opposition im Parlament ist nicht nur eine der erstaunlichsten und bewunderungswürdigsten Phänomene der modernen Verfassungsgeschichte, sondern eine zentrale Voraussetzung für die Realisation voller politischer Freiheit und für eine wirksame Einschränkung bzw. Bekämpfung der politischen Macht einer Regierung. Die parlamentarische Opposition – dies betont er ausdrücklich – muss von allen anderen Formen des politischen Widerstandes unterschieden werden, wie etwa der Revolution, der Sabotage oder des Widerstandes gegen die Staatsgewalt (Sternberger 1955, S. 133). Dies wäre – in einer anderen Begrifflichkeit

2Als

Überblicke immer noch lesens- und bedenkenswert Euchner 1993; Dahl (Hg.) 1996; Helms 2002; Schüttemeyer 1998.

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formuliert – Systemopposition, die er nicht unter die Kategorie der Opposition fasst, sondern mit anderen Begrifflichkeiten belegt. Was sind nun die Aufgaben, die eine politische Opposition zu erfüllen hat? Sternberger unterscheidet drei Hauptfunktionen, die er als Kritik, Kontrolle und Entwurf von alternativer Politik bezeichnet, wobei letzteres am besten von einer „zusammenhängenden Oppositionsgruppe“ entwickelt werden kann (Sternberger 1955, S. 134). In stabilen parlamentarischen Systemen kann diese Rolle nur dann mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg ausgeübt werden, wenn es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit gibt, die Regierung als Ganzes abzulösen. Diese Polarität von Regierung und Opposition ist weder aus dem Begriff der (politischen) Macht noch aus dem der Toleranz zu verstehen, sondern setzt etwas anderes voraus: nämlich „die Einsicht in den Spielcharakter des Kampfes.“ (Sternberger 1955, S. 134) Diese Vorstellung eines Spiels, präziser eines „Widerspiels“ (Sternberger 1955, S. 134) ist für Sternbergers Politikverständnis zentral und nur wenn beide zentralen Spieler – Regierung und Opposition – dies anerkennen, kann etwas gelingen, das er als „Integration durch Polarität“ (Sternberger 1955, S. 134) bezeichnet. Der politische Konflikt ist dann eine produktive Kraft, die ein politisches Gemeinwesen zusammenhält, ja integriert und dennoch fundamentale politische Konflikte zulässt, ja voraussetzt. Der Konflikt zwischen Regierung und Opposition darf jedoch nicht „soziologisch“ (Sternberger 1955, S. 142) verstanden werden, sondern kann nur noch „verfassungspolitisch definiert werden – als ein fester Ort, an dem unterschiedliche, ja entgegengesetzte Kräfte im Wechsel zu stehen kommen können.“ (Sternberger 1955, S. 133) Die Opposition kann in diesem Widerspiel aber nur dann ein zentraler Spieler bleiben, wenn sie realistisch erwarten kann, dass die verfassungspolitischen Spielregeln weitgehend konstant bleiben und sie die Regierung irgendwann ablösen wird. Zentral für seine weiteren Überlegungen aber ist der Ausgangspunkt, dass man von einer festzusammenhängenden Oppositionsgruppe auszugehen hat, die sich der Regierung systematisch gegenüberstellt und so die von Sternberger immer wieder betonte Bipolarität dauerhaft konstituiert. Dies wird von ihm dann so präzisiert, das die Politik der Opposition eine alternative „Politik für die ganze Nation“ (Sternberger 1955, S. 145) sein soll und nicht nur für eine bestimmte soziale Gruppe. Immer soll sie „gesamtpolitische Opposition“ sein (Sternberger 1955, S. 144; Herv. im Org.) und eben nicht nur die Interessenvertretung einer bestimmten sozialen Gruppe. Politische Opposition soll, ja muss „stets das ganze Volk“ ansprechen und so ein „­quasi-plebiszitäres Element“ (Sternberger 1955, S. 147, Herv. im Org.) in ihrer Politik zur Geltung bringen. Zusammenfassend scheint mir die Formel ‚Integration durch Polarität‘ eine geglückte Formulierung zu sein, um das „ewige

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Paradox“ (Kirchheimer 1964, S. 123) der politischen Opposition grundlegend zu kennzeichnen. Kirchheimer argumentiert in vielen Punkten ähnlich wie Sternberger, auch wenn er eine anders gelagerte Begrifflichkeit verwendet und andere Schwerpunkte setzt. Wichtig wird bei ihm eine Differenzierung im Begriff selbst, die zwei Formen unterscheidet. Loyale Opposition realisiert sich dann, wenn „die verfügbaren Kandidaten im politischen Wettbewerb unterschiedliche Ziele, freilich in Übereinstimmung mit den verfassungsmäßigen Erfordernissen des gegebenen politischen Systems, verfolgen.“ (Kirchheimer 1967, S. 58) Prinzipielle oder systemische Opposition drückt sich darin aus, dass politische Akteure, in der Regel die politischen Parteien, Ziele verfolgen, die mit den gegebenen Verfassungsregeln des (demokratischen) politischen Systems nicht kompatibel sind (Kirchheimer 1967, S. 58). Daneben könnte man auch noch von sporadischer ‚Opposition‘ sprechen, die aber den Begriff der Opposition überdehnt und ihn auf etwas anwendet, das mit politischer Opposition eben nichts mehr zu tun hat. Die Verwendung des Begriffs der politischen Konkurrenz bzw. des politischen Wettbewerbs scheint ihm analytisch präziser zu sein. Das deutet Kirchheimer an, wenn er sagt, „politischer Wettbewerb heißt nicht notwendig Opposition“, sondern es kann auch Wettbewerb geben, ohne dass dieser die Merkmale von Opposition realisiert; aber „(p)olitische Opposition, gleich welcher Form auch immer, heißt immer auch Wettbewerb“ (Kirchheimer 1967, S. 58). Vom einem Abklingen bzw. dem Verfall der Opposition kann man dann sprechen, wenn „als Folge politischer Kartellabsprachen im Rahmen des parlamentarischen Regimes“ sich die Oppositionsrolle grundlegend verändert. Das Hauptbeispiel, das Kirchheimer für diesen Verfall heranzieht, ist Österreich ab Ende der 30er Jahre und vor allem in der Nachkriegszeit. Die beiden großen Parteien, die konservative und die sozialdemokratische, verabredeten einen Koalitionspakt, indem sie alle Regierungsämter und die wichtigsten Verwaltungsposten nach ihrer jeweiligen in Wahlen zum Ausdruck gekommenen Stärke aufteilen. Auch konnten die beteiligten politischen Parteien ihre politischen Gesetzesvorschläge nicht unabhängig voneinander im Parlament einbringen, sondern nur nach vorheriger Absprache. Kirchheimer schlussfolgert, dass dadurch die „parlamentarische Opposition zum Status einer von Fall zu Fall lizensierten Opposition heruntergedrückt wird, sie dem Verschwinden nahegebracht (wird)“ und den Charakter einer „immer wieder erneuerten Kartellabsprache“ (Kirchheimer 1964, S. 134) gewinnt. Dieses System führt zu einer „neuartigen, eingebauten Opposition, welche in Österreich als Bereichsopposition bezeichnet wurde“ (Kirchheimer 1964, S. 135). Die Neuregelung der politisch umstrittenen

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Punkte erfolgt nicht durch die parlamentarische Mehrheit, die ihre Positionen durch Abstimmungen im Parlament gegen die Opposition durchsetzt, sondern im Wege gegenseitiger Vereinbarungen. Das Regierungs-Oppositions-Verhältnis wird durch ein „freiwilliges Parteienkartell“ (Kirchheimer 1967, S. 137) ersetzt. Die kleineren und oft systemoppositionellen Parteien können die Abwesenheit der ‚richtigen‘ parlamentarischen Opposition nicht kompensieren, weil sie weder über genügend Verwaltungskenntnisse noch über genügend Vertrauen bei den Wählern verfügen. Was könnten nun die Gründe für das ‚Verschwinden‘ oder das „Versickern der Oppositionsfunktion“ (Kirchheimer 1967, S. 141) sein? Er sieht diese Gründe nicht in wahltechnischen Ursachen wie dem Wahlsystem oder anderen institutionellen bzw. konstitutionellen Regeln, beispielsweise dem konstruktiven Misstrauensvotum o.ä. Vielmehr sucht er die Ursachen in den sozialstrukturellen Veränderungen der modernen Gesellschaften. Die soziale Polarisierung, also die Aufspaltung in soziale Klassen, schwächt sich ab und sie sind durch das Aufkommen einer neuen Mittelschicht geprägt, die sich aus den Angestellten und einer zunehmenden Beamtenschaft zusammensetzt. Auf diese neuen Schichten konzentrieren sich die Parteien, was zu einem „trägen System des Parteienwettbewerbs“ führt (Kirchheimer 1967, S. 143). Die Folgen sind weitreichend. Zunächst reduziert sich die Intensität des zwischenparteilichen Wettbewerbs. Die großen Parteien versuchen alle wichtigen Interessen der Gesellschaft und nicht nur die Interessen einer spezifischen sozialen Gruppe zu vertreten. In vielen Fällen, das ist die zweite Folge, wird dies durch den innerparteilichen Wettbewerb der in den Parteien vertretenen Interessengruppen ergänzt, der nun zunimmt und eine neue Bedeutung gewinnt. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die neuen Medien, vor allem durch Zeitungen und Rundfunk, später durch das Fernsehen. Die Meinungsträger sind nicht, wie im 19. Jahrhundert, an sozialen Klassen orientiert, sondern umfassen das gesamte Meinungsspektrum der modernen Gesellschaften und gehen auf die Unterhaltungswünsche ihres gesamten Publikums ein. Sie verhalten sich dementsprechend „völlig neutral zu den verschiedenen Interessentenschichten“ (Kirchheimer 1967, S. 143) und versuchen zugleich, diese Neutralität auch gegenüber ihren Lesern und Hörern auszuüben. Die Medien tragen dadurch massiv zur „Harmonisierung innenpolitischer Verhältnisse“ bei (Kirchheimer 1967, S. 144). Das politische Publikum erwartet von den politischen Parteien die schnelle Erfüllung ihrer Forderungen, es will „sofortige Abschlagszahlungen“ (Kirchheimer 1967, S. 146). Die Festlegung auf die ‚traditionelle‘ Oppositionsrolle setzt bei den potenziellen Wählern Geduld voraus, weil sie auf die Erfüllung ihrer Erwartungen solange warten müssen, bis ihre Partei von der Opposition in die

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Regierungsverantwortung gelangt. Diese Geduld ist heute nicht mehr vorhanden und die Parteien können damit nicht mehr rechnen. Eine auf längere Dauer abgestellte Oppositionsstrategie verliert an Bedeutung, sie muss dagegen schnell agieren bzw. reagieren können. Der Wandel der Parteien und – damit untrennbar verbunden – ihrer politischen Strategien und Taktiken ist „ursächlich“ (Kirchheimer 1967, S. 149) mit dem Abklingen der parlamentarischen Opposition verbunden. Kirchheimer betont ausdrücklich, dass die Entstehung der „einheitlichen Mittelstandsgesellschaft“ mit dem „Versanden der parlamentarischen Opposition“ eng zusammen hängt (Kirchheimer 1967, S. 150). Beide Autoren beobachten einen Niedergang der politischen Opposition oder gar ihr Verschwinden. Zwar beharrt vor allem Sternberger auf der Position, dass sie nur noch verfassungsrechtlich gefasst werden kann und die Verfassung den ‚Ort‘, das Parlament, definiert, an dem sie ausgeübt werden kann. In diesem Ort – aber nicht nur dort – findet der politische Kampf zwischen Regierung(smehrheit) und Opposition statt und wird zu einem ständigen Wettbewerb um Wählerstimmen. Denn die Mehrheit der Wählerstimmen entscheidet über den Regierungs- oder Oppositionsstatus und es ist diese Polarität, welche die Lebendigkeit und den Kampfcharakter der Politik ausmacht. Jetzt aber entsteht ein neues Muster politischer Konflikte, dem das Moment der Intensität und Integrität durch Polarität fehlt. Dies ist in ihrer Terminologie politische Konkurrenz, die grundlegend durch das Abklingen der Opposition als Folge der „politischen Kartellabsprachen im Rahmen des parlamentarischen Regimes“ (Kirchheimer 1967, S. 123) gekennzeichnet ist. Im Extremfall kommt es zum Verschwinden der politischen Opposition, was durchaus mit einer Intensivierung der politischen Konkurrenz (etwa um ‚kleinere‘ Policy-Issues) verbunden sein kann (aber nicht muss!). Auch wird der Oppositionsbegriff allein für demokratische Regierungssysteme entwickelt, über mögliche Oppositionsformen in diktatorischen Regimen schweigen sich beide aus. Man könnte das so interpretieren, dass politische Opposition allein für demokratische Regime reserviert ist, während ‚Opposition‘ in Diktaturen dann etwas anders ist: Widerstand, Dissidenz, Aufruhr o.ä. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Politische Opposition ist bei Sternberger und Kirchheimer dadurch charakterisiert, dass sie die gegenwärtige Mehrheit bzw. Regierung in allen Fragen systematisch kritisiert, in allen Bereichen kontrolliert und Alternativvorschläge prinzipieller Art macht, sie ist kompetitive Opposition. Die Kritik an oder Alternativen zu einzelnen Policies bzw. deren einzelner Teile wäre dann etwas anderes, aber keine politische Opposition mehr. In der Terminologie der beiden Autoren ist es politische Konkurrenz. Das Verschwinden der politischen Opposition wird durch

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drei zentrale Entwicklungen hervorgerufen: Zunächst durch die Kartellbildung der wichtigsten politischen Parteien, die europaweit stattfindet, aber in Österreich ihre paradigmatische Ausprägung fand. Zweitens durch den Modus der politischen Konfliktaustragung, der sich von gesamtpolitischer zu issue- und policy-orientierter Konkurrenz gewandelt und dadurch abgeschwächt hat. Und schließlich, drittens, durch die Wandlung der Parteien von Massen- zu Volksparteien, die sich nicht mehr allein auf ihr ursprünglich sozial abgegrenztes Wählerklientel konzentrieren, sondern sich am gesamten Wählermarkt orientieren. Eine Annäherung in grundlegenden programmatischen Prämissen ist damit untrennbar verbunden, was zu policy- und issue-orientierter statt gesamtpolitischer Parteienkonkurrenz führt.

3 Politische Opposition: Versuch einer Systematisierung Im Folgenden erweitere ich die bisher skizzierten Typen von politischer Opposition und versuche, eine systematisch angelegte Typologie zu konstruieren. Sie nimmt auch die Widerspruchs- oder Oppositionsformen auf, die in diktatorischen Regimen beobachtbar sind. Sie geht somit über die bisherigen Typologien hinaus, die sich allein auf die Opposition in demokratischen Regimen konzentriert haben. Ich beginne jedoch mit einem kursorischen Überblick über die Formen von Opposition, die – neben den von Sternberger und Kirchheimer – in der tradierten Oppositionsforschung identifiziert wurden. Am prominentesten ist sicherlich die Typologie von Robert A. Dahl aus den 1960er Jahren, die aus einer vergleichenden Analyse von westeuropäischen, also demokratischen Staaten entstanden ist (Dahl (Hg.) 1966). Oppositionelle Politik kann nach Dahl über insgesamt sechs verschiedene Merkmale identifiziert werden (Dahl 1966a, bes. S. 332–347). 1. Die interne organisationale Kohäsion bzw. Konzentration (concentration) ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. In Zwei-Parteien-Systemen ist diese am stärksten, weil die politische Opposition aus einer, aus der oppositionellen Partei besteht, während in Vielparteiensystemen die Opposition fragmentiert ist und sich aus mehreren Parteien zusammensetzt. Neben der rein numerischen Anzahl spielt auch die interne Kohäsion eine große Rolle. Politische Parteien variieren diesbezüglich außerordentlich und ob die oppositionelle(n) Partei(en) geschlossen abstimmen oder durch parteiinterne Fraktionsbildung geprägt sind, ist für deren Durchschlagskraft relevant.

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2. Die Wettbewerbsfähigkeit (competitiveness) versucht die Dynamiken zu erfassen, die über Gewinne und Verluste bei Wahlen bestimmen. Zwei Parteien sind z. B. strikt wettbewerbsbezogen, wenn die Gewinne des Einen genau die Verluste des Anderen sind. Dies ist allein in Ländern mit absolutem Mehrheitswahlrecht der Fall. Aber generell können politische Parteien sowohl bei Wahlen als auch im Parlament kooperieren bzw. zusammenarbeiten, sofern sie etwa bei Wahlen Wahlbündnisse oder im Parlament Koalitionen bilden oder parlamentarische Minderheiten situativ oder dauerhaft mit der Regierung zusammenarbeiten. 3. Der Rahmen bzw. der Ort (site) bezeichnet den Raum, in dem Regierung und Opposition sich begegnen. Räume oder auch (politische) Arenen können etwa die öffentliche Meinung, das Parlament, die Medien bis hin zur Straße, auf der Demonstrationen stattfinden, sein. 4. Die Deutlichkeit (distinctiveness) der politischen Opposition kann durch die bereits oben benannten drei Faktoren bestimmt werden, also durch die Kohäsion, die Wettbewerbsfähigkeit und die Arenen des politischen Konflikts. 5. Die (politischen) Ziele (goals), die Regierung und Opposition verfolgen, unterscheiden sich selbstverständlich und sind zugleich hoch komplex. Dahl reduziert die Komplexität, indem er durch eine „deliberate oversimplicification“ (Dahl 1966a, S. 341) vier Ziele unterscheidet: a) den Austausch bzw. Wechsel des Personals, b) einzelne Policies, c) die Struktur des politischen Systems und schließlich d) die sozio-ökonomische Struktur. In aufsteigender Reihenfolge werden die Ziele der politische Opposition immer umfassender, bis sie schließlich das Gesamtsystem einer Gesellschaft umstürzen, mithin eine Revolution durchsetzen will. 6. Dabei kann die politische Opposition auf verschiedene (politische) Strategien (strategies) setzen. Angesichts einer fast unüberschaubaren Bandbreite reduziert Dahl sie auf insgesamt sechs: Die erste besteht in einer rein wahlorientierten, in der die politische Opposition bei den nächsten Wahlen die Mehrheit der Wählerstimmen realisieren will. Die zweite ist eine Kombination von Stimmenmaximierung und von Sitzvermehrung im Parlament, die durch den Eintritt in eine (Regierungs)Koalition ermöglicht werden kann. Die dritte besteht in der Kombination der zweiten Strategie mit dem Versuch, in den verschiedensten (korporatistischen) Verhandlungsgremien einer Gesellschaft mehr Einfluss zu gewinnen. Viertens kann eine Intensivierung der dritten Strategie erfolgen, indem sie sich nun „concentrate on pressure group activities, intraparty bargaining, legislative maneuvering, gaining favorable judicial decision, actions at state and local levels, winning elections, or any combination of it.“ (Dahl 1966a, S. 345) Deutschland wird hier – neben der

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USA – als Beispiel genannt. Die fünfte Strategie wird dann relevant, wenn sich ein Land in einer tiefen Krise oder gar in einem Krieg befindet und sein Überleben auf dem Spiel steht. Dann kann die Opposition ihre oppositionelle Rolle aufgeben und zur Kooperation übergehen. Die sechste Variante besteht in der Überwindung des bestehenden gesellschaftlichen Systems insgesamt und wird zur revolutionären Strategie, die alle Mittel, Gewalt eingeschlossen, anwendet, um zum Erfolg zu kommen. Die NSDAP ist hier ebenso ein Beispiel wie die russische kommunistische Partei, die beide eine solche Oppositionsstrategie verfolgt haben.3 Dahl hat sicherlich das gründlichste und detaillierteste Konzept für die Analyse der politischen Opposition vorgelegt. Sein Konzept ist weitgehend induktiv aus den Länderstudien entstanden, die im Kontext des von ihm herausgegebenen Buches über die politische Opposition unternommen wurden. In diesem Band ist auch die bereits oben erwähnte Studie von Kirchheimer über Deutschland verfasst worden, in der er sein Konzept und seine Kategorien, die von Dahl doch erheblich abweichen, entwickelt hat (Kirchheimer 1966). Diese sehr detaillierte Typologie ist später von Jean Blondel (1997) in einem wegweisenden Artikel erheblich vereinfacht worden. Er unterscheidet zwei zentrale Merkmale: Zunächst die organisationale Kohäsion, die durch die Merkmale der spezifischen Eigenart des Akteurs (distinctiveness) und der Konkurrenzintensität (competitiveness) erfasst werden kann. Das zweite Merkmal sind die politisch-programmatischen Ziele, die von den jeweiligen Akteuren verfolgt werden. In der Folge differenziert Blondel vier Typen von Opposition: Für liberale Demokratien unterscheidet er zwischen solchen Regimen, in denen es (a) ein konzentriertes Entscheidungszentrum gibt und die Opposition vor allem parteipolitisch geprägt ist sowie Regimen, in denen es (b) mehrere Entscheidungszentren gibt und neben den politischen Parteien noch andere Akteure, wie Interessengruppen und soziale Bewegungen, agieren. Einen weiteren Typus bilden (c) Regime, in denen die großen gesellschaftlichen und sozialen Konfliktlinien eine große Bedeutung haben und die Politik polarisieren; und schließlich (d) Opposition in autoritären Regimen, die verschiedenste Ausprägungen erfahren kann.

3Schließlich

differenziert Dahl noch weiter und unterscheidet fünf Primär- und zwei Sekundärbedingungen, die er für das Auftreten der einen oder anderen der sechs Oppositionsstrategien als relevant erachtet, aber hier nicht im Detail skizziert werden sollen (vgl. dazu Dahl 1966c, S. 348–386).

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Für den deutschsprachigen Raum hat Winfried Steffani den wichtigsten Funktionskatalog vorgelegt, wobei er sieben Funktionen unterscheidet (Steffani 1968; ders. 1970). Zunächst und am wichtigsten die Kontrolle der Regierung, einschließlich ihres Verwaltungshandelns; dann die Kritik der Regierung, die parlamentarisch wie außerparlamentarisch (in den Medien, der Öffentlichkeit etc.) sein kann; die kritische Mahnung zur Wahrung der Freiheiten und der Minderheitenrechte sowie die Integration von Minderheiten in den politischen Prozess; die Erarbeitung von alternativen Programmatiken und Policies; die Ausbildung und Aufstellung von alternativem Regierungspersonal; die stete Bereitschaft zur Regierungsübernahme und schließlich ihre Funktion als eigentlicher Beweger der Politik, indem sie die Öffentlichkeit und die Bürger wirksam mobilisiert. Diese Funktionen können in verschiedenen Kontexten ausgeübt werden und so differenziert er zwischen ‚systemischer Opposition‘, einer konsequent wettbewerbsorientierten, ‚kompetitiven Opposition‘, einer ­‚issue-orientierten Opposition‘ und schließlich einer ‚kooperativen Opposition‘. Abschließend unterscheidet Steffani auch noch nach den Orten, an denen Opposition ausgeübt wird: parlamentarisch und außerparlamentarisch. Viele dieser hier nur knapp erwähnten Systematisierungs- und Differenzierungsversuche sind in der Disziplin weitgehend akzeptiert. Um die Diskussionen zusammenzufassen, schlage ich zunächst eine Definition vor, die so allgemein gefasst ist, dass sie politische Opposition sowohl in Demokratien wie in Nicht-Demokratien erfassen kann.4 Politische Opposition findet dann statt, wenn (a) organisierte politische Akteure (Parteien bzw. ­-bündnisse, Zweite Kammern, außerparlamentarische Bewegungen etc.) handeln, die (b) an verschiedenen Orten bzw. in verschiedenen Institutionen agieren (Parlament, Ausschüsse, Straße, Medien), eine (c) systematische oder punktuelle Kritik ausüben und bei ihrer Kontrolle (d) verschiedene politische Mittel (parlamentarische Anfragen, Kritik, Demonstrationen, mediale Kampagnen, Streiks etc.) einsetzen und (e) sich gegen die gegenwärtigen Machtträger oder das gesamte Regierungsbzw. Gesellschaftssystem richten. Die verschiedenen Aktions- und Ausdrucksformen der politischen Opposition versuche ich nun in einer Vierfeldermatrix weiter auszudifferenzieren und unterscheide hierbei zwei zentrale Dimensionen. Zunächst ist (a) die Regelkonformität zu nennen. Findet Opposition innerhalb der Regeln eines politischen Regimes statt oder – aus welchen Gründen auch immer – außerhalb oder gar ausschließlich

4Ich

orientiere mich hierbei zwar nur lose, aber dennoch an Brack und Weinblum 2008.

Die politische Opposition in der Regierungslehre …

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Abb. 1   Eine Typologie politischer Opposition. (Quelle: eigene Darstellung)

außerhalb der konstitutionell bzw. institutionell vorgegebenen Regeln? Die zweite Dimension ist (b) die politische Intensität, mit der die Oppositionsrolle wahrgenommen wird. Ist der Widerspruch gegen die Regierung bzw. die Regierungspolitik umfassend oder eher punktuell und auf einzelne Policies bezogen? Die politische Intensität nimmt u. a. Ideen von Sternberger und Kirchheimer auf, die – wie andere Autoren auch – zwischen loyaler und prinzipieller Opposition unterscheiden. Mit diesen beiden Kriterien kann man zudem auch die Oppositionsformen in nicht-demokratischen Regimen erfassen, die in der gesamten Literatur über politische Opposition kaum vorkommen.5 Kombiniert man diese beiden Dimensionen, so kommt man zu vier Grundtypen. Die Grundtypen 1 und 3 können nur in Demokratien vorkommen, während die in Feld 2 und 4 sowohl in Demokratien als auch in Diktaturen präsent sind (Siehe Abb. 1). In Feld 1 haben wir es mit der von Sternberger und Kirchheimer identifizierten politischen Opposition zu tun, die grundlegend, umfassend, stark kompetitiv und „gesamtpolitische Opposition“ (Sternberger 1955, S. 144; Herv. im Org.) ist. Der Widerspruch der Opposition gegenüber der Regierung ist also fundamental und umfasst die gesamte Bandbreite des politischen Spektrums; sie ist nicht allein policy- oder issueorientiert. Bei den meisten AutorInnen ist diese Kategorie als Kriterium zur Differenzierung vorhanden.6 Der Ort der Opposition ist vorwiegend 5Eine 6Wie

2008.

lesenswerte Ausnahme ist Pollack und Wielgohs (Hrsg.) 2004. etwa bei Dahl 1966b; Steffani 1968; ders. 1970; Blondel 1997; Helms 2002; ders.

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(aber nicht ausschließlich) das Parlament und hier steht sie der Regierung politisch gegenüber, wobei dies im britischen Parlament durch die Sitzordnung widergespiegelt wird. Sie akzeptiert die Regeln des politischen Spiels und bindet sich bei ihren oppositionellen Aktionen streng an das entsprechende konstitutionelle und institutionelle Regelwerk der Demokratie. In Feld 3 akzeptiert die Opposition ebenfalls das gesamte Regelwerk, aber die Intensität des politischen Konflikts ist geringer; es ist moderate politische Opposition. Sie übt nicht mehr gesamtpolitische, sondern ‚nur‘ noch issue- und einzelfallorientierte Opposition aus. Bei Sternberger und Kirchheimer wäre das keine politische Opposition mehr, sondern ‚nur‘ noch politische Konkurrenz, die als policyorientierter Modus auch verschiedene kooperative Formen der Oppositionspolitik einschließen kann. Diese Kategorie ist in der (vergleichenden) Oppositionsforschung ebenfalls prominent und weitgehend unumstritten. In Feld 2 ist die Opposition sehr intensiv und das gegebene institutionelle Regelwerk steht für die Opposition zur Disposition. In Steffani’s Terminologie ist die Systemintention, also die Einstellung gegenüber den Grundprinzipien der politischen Ordnung ‚systemkonträr‘ und damit fundamental gegen die demokratische Grundordnung gerichtet (Steffani 1968). Aber kann man diese Kategorie – im Gegensatz zu Steffani – auch auf diktatorische Regime anwenden? Hier müsste eine demokratisch orientierte Opposition einen intensiven politischen Konflikt eingehen, der zudem außerhalb der geltenden Regeln des politischen Spiels ausgetragen wird und ‚systemkonträr‘ ist. Regierung und Opposition konfligieren auf dem Feld systemischer Dimensionen, die den gesamten Gesellschaft- und Staatsaufbau umfassen (und nicht ‚nur‘ eine Änderungen des politischen Regimes einfordern). Die mittel- und osteuropäischen Transformationen im Jahr 1989 waren der Prototypus für diesen Modus und haben zudem einen spezifischen Ort für diese Form der Politik hervorgebracht: den Runden Tisch. An ihnen saßen ab einem bestimmten Stadium des Konflikts Regierung und Opposition und handelten die friedlichen Übergänge von sozialistisch-planwirtschaftlichen Regimen zu demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften aus (vgl. dazu Rüb 2001). In Feld 4 haben wir es dagegen mit politischen Konflikten zu tun, deren Intensität weitaus geringer ist als bei denen in Feld 2, weil ‚nur‘ der institutionelle Regelkatalog zur Disposition steht. Die anti-institutionelle Opposition erkennt diesen nicht an und versucht, ihre Positionen außerhalb dieser Regeln gegen die Regierung bzw. die aktuellen Machthaber durchzusetzen. In Demokratien wären das politische Bewegungen, die – wie etwa die Neuen Sozialen Bewegungen, Bürgerinitiativen, außerparlamentarische Oppositionskräfte u.ä. – außerhalb

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der tradierten Wege und Orte der Politik agieren, aber sich ansonsten an das verfassungsrechtliche Regelwerk halten. Auch andere außerinstitutionelle Formen des Protestes gehören dazu, wie etwa bestimmte Formen des gewaltfreien Widerstandes bzw. des zivilen Ungehorsams, der bewusst den gegebenen institutionellen Rahmen der Demokratie verlässt (vgl. statt vieler Glotz (Hg.) 1983; Celikates 2010). Auch in Diktaturen findet man diese Form des politischen Opponierens, wenn sich der Protest auf Plätzen und Straßen manifestiert und vom autoritären politischen Regime bzw. dessen Spielregeln nicht gedeckt bzw. legalisiert ist. Juan J. Linz hat verschiedene Untertypen einer solchen Opposition unterschieden, konkret die illegale, die alegale und die Semiopposition, wobei erstere vorwiegend, aber nicht ausschließlich, antisystemische Opposition ist (Linz 1975).

4 Das Verschwinden der politische Opposition in der neueren politikwissenschaftlichen Diskussion: Über oppositionsloses Politiktreiben Während man bereits in der Ära der Volksparteien von einer abnehmenden politischen Konkurrenz und damit vom Abnehmen der politischen Opposition sprechen konnte, geht in vielen der neueren Politiktheorien das Konzept der politischen Opposition fast völlig verloren. Man könnte sogar von ihrem Verschwinden sprechen, weil sie als strukturelles Element in diesen Theorien bzw. Konzepten nicht mehr auftaucht. Ich werde zunächst die Rolle der politischen Opposition in den neueren Parteientheorien rekonstruieren und mich dabei auf die Kartellparteienthese von Richard S. Katz und Peter Mair (Katz und Mair 1993; dies. 1995; dies. 2002) konzentrieren (3.1.). Eine knappe Darstellung der Konzepte der Vetopunkte und der Vetospieler schließt sich an (3.2.) Dann diskutiere ich die Governance-Theorien, in denen die Opposition völlig abhandengekommen ist. Sie beschäftigen sich – ebenso wie Konzepte der Verhandlungsdemokratie – mit oppositionslosen politischen Regelungsformen (3.3.). Schließlich befrage ich die Systemtheorie Niklas Luhmanns, welche Bedeutung die Opposition in seinem Politikbegriff hat. Zentral ist hier der politische Code Regierung/Opposition, über den das politische System selbstreferenziell operiert (3.4.). Insgesamt wird das Ergebnis sein, dass man in den neueren Theorien der Politikwissenschaft vom Verschwinden der Opposition sprechen kann; das trifft selbst auf Luhmann’s Konzept der Politik zu, in dem der Code Regierung/ Opposition eine Zentralstellung einnimmt.

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4.1 Die Politik der Kartellparteien und das Aufgehen der politische Opposition im Parteienkartell Die Kartellpartei ist ein neuer Typus von politischer Partei, der in den modernen Demokratien anzutreffen ist und den heute dominierenden Parteientypus darstellt. Richard S. Katz und Peter Mair haben bereits Mitte der 90er Jahre diesen Typus identifiziert und ihn als Folgetypus der „catch-all-party“ bezeichnet (Katz und Mair 1995; dies. 2002). Bereits Kirchheimer hatte in seinen Analysen über die Catch-all-Parteien bzw. die Volksparteien einen grundlegenden Wandel der politischen Opposition analysiert, der zur politischen Kollusion geführt hat, also einer geheim abgesprochenen oder implizit zustande gekommenen Zusammenarbeit. Katz und Mair radikalisieren diese Position und verdichten sie zu ihrer Kartellparteien-These. Das von ihnen identifizierte Kartell ist eines zwischen den Spitzen der politischen Parteien und dem Staat: „Colluding parties become agents of the state to ensure their own survival.“ (Katz und Mair 1995, S. 5) Hierzu besetzen die Parteifunktionäre zentrale Staatsfunktionen und leiten einen erheblichen Anteil der staatlichen Ressourcen zu ihren Parteien. Dieser selbstreferenzielle Prozess entsteht dadurch, dass die Parteien legitimiert sind, exklusiv politische Entscheidungen zu treffen und somit auch über sich selbst bzw. ihre finanzielle Ausstattung entscheiden. Der Staat bzw. Teile des Staates werden parteipolitisiert indem die Spitzen der Parteien, konkret die ‚party in central office‘ oder die ‚party in public office‘ und der Staat miteinander verschmelzen und etwas Neues ausbilden (Katz und Mair 1995; Wiesendahl 2006). Man könnte dieses Amalgam als Parteienstaat bezeichnen, als ein Staat, der von den Parteien kolonisiert wurde und in dem die Parteieliten nun eine Doppelfunktion ausfüllen: „(T)hey often simultaneously perform formal functions within political parties as well as formal roles in the state (civil servant or minister)“ (Krouwel 2009, S. 259). Die politischen Parteien hören dann auf, intermediäre Organisationen zu sein, die zwischen der Gesellschaft und dem Staat vermitteln und ihre jeweiligen Wählerklientele im Staat repräsentieren, sondern werden zu Organisationen, die aus dem Staat heraus operieren und den Wählermarkt manipulieren. Welche Auswirkungen haben diese Dynamiken auf die politische Opposition? Zunächst versuchen die (dominierenden) Parteien, die zwischenparteiliche Konkurrenz zu begrenzen und durch überparteiliche, oft informelle Absprachen die Aufteilung der staatlichen Ressourcen und institutionellen Positionen (nach der Parteienstärke, durchaus auch in Wahlen festgestellt) zu organisieren. Das Kartell

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„is largely implicit and entails the gradual inclusion of all significant parties in government. The range of acceptable coalitions is widened and the politics of opposition is abandoned. (…) Inter-party collusion creates its own opposition. Exclusion from executive power offers challengers ammunition to mobilize against the cartel parties” (Krouwel 2009, S. 259).

Hier werden zwei Sachverhalte deutlich, die einen doppelten Wandel der politischen Opposition verdeutlichen. Zunächst verschwindet sie und geht in einem Parteienkartell auf, indem sie mit anderen, vor allem aber mit den Regierungsparteien, kooperiert, sich an den staatlichen Ressourcen bereichert und zu ihrem Vorteil einsetzt. Dieses Kartell ist selektiv, es umfasst die ‚staatstragenden‘ Parteien, die in das Parteienkartell aufgenommen wurden. Die Selbstreferenzialität des politischen Entscheidens über die Stellung der Parteien begünstigt die Dynamik ihrer zunehmenden Verstaatlichung und die Entwicklung zum ‚Parteienstaat‘. Parallel dazu kann (nicht muss) eine politische Opposition entstehen, die sich in Reaktion auf die Kartellisierung der tradierten politischen Parteien ausbildet. Die Kartellparteien lassen die politische Opposition verschwinden und tragen doch zugleich zum Aufkommen einer neuen bei, die sich gegen dieses Kartell richtet und meist populistische Züge trägt. Bei Wahlen müssen die Kartellparteien mit diesen „neuen“ Oppositionsparteien konkurrieren und sich mit ihnen politisch auseinandersetzen. Die Entstehung von Antisystemparteien ist in solchen Kontexten nicht unwahrscheinlich, weil sich deren Opposition gegen die Parteien richtet, die das gegenwärtige System repräsentieren und mit ihm verschmolzen sind. Aber ebenso können Parteien entstehen, die diese Privilegien auch für sich in Anspruch nehmen wollen und Zugang zum Parteienkartell suchen. Wie dem auch sei, die politische Opposition nimmt einen grundlegend anderen Charakter an und wird eher zur symbolischen Opposition, die sich auf der Basis der Kartellisierung vollzieht und nicht mehr den Charakter hat, den sie zu Beginn und bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhundertes hatte und von Sternberger und Kirchheimer in den Blick genommen wurde. Auch die symbolische Opposition kann sehr intensiv und kompetitiv sein, aber sie berührt in der Regel nicht die durch Kartellisierung hervorgebrachten Privilegien, sondern nimmt punktuelle und vor allem symbolische Formen an.

4.2 Institutionelle Vetopunkte, politische Vetospieler und das Konzept der politische Opposition Ellen Immergut hatte zu Beginn der 1990er Jahre das Konzept der Vetopunkte entwickelt (Immergut 1992a, b, 1997), das in der politikwissenschaftlichen Disziplin weitgehend unberücksichtigt blieb, aber konzeptionell einige Vorteile gegenüber

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der später prominent gewordenen Vetospielertheorie von George Tsebelis hat (Tsebelis 1995, 2002). Das Regierungssystem einer Gesellschaft – so Immergut – ist die Ganzheit des institutionellen Gefüges, das die jeweiligen Institutionen und die unter ihnen agierenden Akteure bei der Produktion von verbindlichen Entscheidungen zusammenführt und koordiniert. Die verfassungsrechtliche Konstruktion des Regierungssystems legt die Arenen fest, in denen die Produktion der jeweiligen Entscheidungen erfolgt und in denen sich die entsprechenden Vetopunkte befinden (Immergut 1992a, b). Sie sind „not physical entities, but points of strategic uncertainty that arise from the logic of the decision process itself“ (Immergut 1992b, S. 66). An solchen Punkten der strategischen Unsicherheit können vorherige Entscheidungen überstimmt oder auch modifiziert werden. Vetopunkte markieren eine kontingente institutionelle und politische Situation, in der Rahmenbedingungen herrschen, die Akteure für ihre jeweiligen Politiken nutzen oder ignorieren. Solche Einfallstore eröffnen einen Raum von (Veto)Möglichkeiten, die aber erst durch konkrete Handlungen realisiert werden müssen. Wie eine politische Opposition hier agiert, kann nicht a priori bestimmt werden, weil ihre Präferenzen, Strategien und Taktiken vom jeweiligen Kontext abhängig sind. Das Konzept von Vetopunkten unterscheidet zunächst zwischen verfassungsrechtlichen Vorschriften, nach denen ein Gesetzgebungsprozess ablaufen muss. Dieser Ablauf vollzieht sich über eine Kette von Entscheidungen, die schrittweise getroffen werden und an der in der Regel mehrere Institutionen beteiligt sind. Die Verfassung bestimmt über die Anzahl und die unterschiedlichen Orte, an denen Vetopunkte konstituiert werden. Die zweite Ebene stellt ab auf die parteipolitischen Akteure und andere Formen der Interessenrepräsentation, die bei der Produktion von politischen Entscheidungen ebenfalls relevant werden. Vetomöglichkeiten werden durch das Wahlrecht und den Charakter der politischen Parteien und des Parteiensystems bestimmt. Das Wahlrecht und verschiedene Wahlen positionieren bestimmte Akteure mit einer bestimmten Verteilung in den jeweiligen Institutionen (Immergut 1992b, S. 64). In der Tat: „The essence of a political system is the way in which political institutions partition votes into different jurisdictions in combination with the partisan distribution of these votes“ (Immergut 1992b, S. 64). Das Vetospieler-Konzept wurde von George Tsebelis in die (vergleichende) Politikwissenschaft eingeführt und v. a. in den 1980er und 1990er Jahren theoretisch-konzeptionell weiterentwickelt (Tsebelis 1995; ders. 2002). Er unterstellt Vetospieler, die immer eine bestimmte und vor allem stabile Policy-Position haben und sie im politischen Spiel realisieren. Exklusives ‚policy-seeking‘ ist für seinen Ansatz zentral, denn daraus leitet er alle weiteren Prämissen ab. Vetospieler – so Tsebelis zentrale Prämisse – sind der zentrale Faktor, die über die

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Reformfähigkeit eines politischen Systems bzw. der gegenwärtig agierenden Regierung entscheiden. Konkret: Je größer die reine Anzahl der Vetospieler, je ausgeprägter ihre ideologische Distanz und je programmatisch stabiler sie organisiert sind, desto unwahrscheinlicher sind Reformen bzw. Änderungen von einzelnen Policies und desto robuster der Status Quo einer Policy. Tsebelis unterscheidet – wie Immergut auch – zwischen institutionellen und parteipolitischen Vetospielern. Erstere sind „individual or collective veto players specified by the constitution. The number of these veto players is expected to be constant but their properties may change” (Tsebelis 2002, S. 79). Parteipolitische Vetospieler sind dagegen solche, die sich in den institutionellen Kontexten eines politischen Systems (und seiner institutionellen Vetopunkte) ausbilden und sich in ihren jeweiligen Positionen und Zusammensetzungen laufend ändern, in demokratischen Regimen vor allem durch Wahlen. „I will call partisan veto players the veto players by the political game (….). Both the number and the properties of partisan veto players change over time.“ (Tsebelis 2002, S. 79) In die Perspektive der politischen Opposition übersetzt könnte man Tsebelis so reformulieren: Je größer die Anzahl der Vetopunkte, je ausgeprägter die ideologische Distanz der Opposition zur Regierung und je kohärenter eine Opposition agiert, desto ausgeprägter ist ihr oppositionelles Handlungspotenzial. Eine weitere einflussreiche Strömung in der vergleichenden Politikwissenschaft arbeitet mit einem additiven Vetospieler-Index. Allein die numerische Anzahl von Vetospielern wird hier festgestellt und zu einem Index addiert, der als unabhängige Variable genommen wird und für je spezifische Policy-Outputs kausal verantwortlich gemacht wird (Schmidt 1996; ders. 2000, S. 352–353; Colomer 1996; Wagschal 1999; Huber et al. 1993; Lijphart 1999). Sowohl die Vetopunkte- als auch die Vetospieler-Theorie sind – ohne dass der Begriff dort explizit verwendet wird – im Kern Oppositionstheorien. Institutionelle Vetopunkte sind ein Potenzial, indem politische Akteure, konkret die politische Opposition, ihre Präferenzen und Positionen zur Geltung bringen können. Hierbei kann man in einer ersten Annäherung folgende Konstellationen unterscheiden: Zunächst ist in einem einkammrigen Regierungssystem mit Mehrheitswahlrecht eine Einparteienregierung die Regel, während die parlamentarische Minderheit unvermeidlich politische Opposition ist und keine institutionellen wie sonstigen Möglichkeiten hat, auf die Regierungspolitik Einfluss zu nehmen – außer eben durch ihre Oppositionsrolle. Bei einer Zweiparteienkoalition wären es dann zwei, weil nun die Koalitionspartner zu gegenseitigen parteipolitischen Vetospielern werden, deren Zustimmung die andere Partei braucht, um ihre Politik wenigstens in einem bestimmten Umfang umsetzen zu können. Bei Mehrparteienkoalitionen wären es dann entsprechend mehr, je nach Anzahl der an der Regierung beteiligten

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Koalitionspartner. Solche Konstellationen sind – wie bereits angedeutet – nur in einkammrigen Regierungssystemen möglich. Haben wir eine zweite Kammer, dann erhöht sich die Anzahl der (potenziellen) Vetopunkte bzw. Vetospieler entsprechend weiter. In einem zweikammrigen Regierungssystem mit beispielsweise einer Dreiparteienkoalition in der ersten Kammer und einer Einparteienmehrheit in der zweiten wären es dann insgesamt vier, etc. Aber in solchen Konstellationen verändert sich die Ausgangslage der politischen Opposition grundlegend. Bei Mehrparteienregierungen wäre es dann – um einen paradoxe Formulierung zu wählen – eine Art Opposition innerhalb der Regierung, weil sich nun beispielsweise ein Koalitionspartner bei einer konkreten politischen Entscheidung sich den Positionen der anderen widersetzen und so seine eigene durchsetzen kann. Gleichwohl verbleibt die parlamentarische Minderheit in ihrer Rolle als traditioneller Opposition. Umgekehrt kann man eine zweite Kammer, die von der Opposition dominiert wird, zur Unterstützung eines Gesetzes gewinnen, wenn man mit ihr verhandelt und ihr in bestimmten Punkten entgegen kommt. Dann würde eine Opposition außerhalb der Regierung zur Kooperation mit ihr kommen. Solche Gedankenspiele setzen aber voraus, dass wir es im Immergut’schen Sinne mit Vetopunkten zu tun haben, die allein ein Vetopotenzial bereitstellen, das sich dann – je nach politischer Konstellation – so oder auch anders realisiert.

4.3 Governance als oppositionsloses Entscheiden In der neueren politikwissenschaftlichen Diskussion des Regierens dominieren Governance-Konzepte, die den Begriff des Regierens und der Regierung (als Government) verabschiedet haben. Der Begriff wird in der politikwissenschaftlichen Diskussion sehr uneinheitlich gehandhabt (vgl. etwa Benz 2004; Kersbergen und Waarden 2004; Kjaer 2004; Pierre 2000; Schuppert (Hg.) 2005; Schuppert 2008), was seine präzise Verwendung schwierig macht. Zunächst signalisiert Governance einen Wandel im Staats- und auch im Politikverständnis der modernen Gesellschaften. Er setzt sich vom Begriff der Regierung bzw. des Regierens ebenso bewusst ab wie von dem der Steuerung7, aber auch vom

7Dies

ist nicht immer ganz einheitlich, weil „governance“ und steuern (aber auch regieren) häufig identisch gesetzt werden. Dies liegt u. a. daran, dass das Deutsche keine Verbform bereithält, die das Substantiv aktiviert; es sei denn man versucht es mit „governancen“. Prototypisch etwa der Titel des Sammelbandes von Arthur Benz, der den Titel trägt: „Governance – Regieren (!) in komplexen Regelsystemen“ (vgl. Benz 2004; Hervor. F. R.).

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Entscheiden im kooperativen Staat. Die Diagnose lautet, dass sich die bisherigen Regelungsformen weiter aufgelöst haben und „(…) new governance-arrangements have emerged. Such shifts in governance have occured in the privat, semi-privat and public spheres, and at (and in-between) the local, regional, national, transnational and global levels. Changes have taken place in the forms and mechanisms of governance, the location of governance, governing capacities and styles of governance“ (Kersbergen und Waarden 2004, S. 143).

Government und governing verlieren an Bedeutung und neue Formen des ‚Regierens‘ entstehen, die man jedoch nicht mehr als Regieren bezeichnen kann und sollte. Vielmehr sind es neue Formen der Regulierung, die jenseits des Staates und der tradierten Politik entstehen und nun das Geschäft des Regelns und Ordnungstiftens übernehmen, aber eben nicht mehr ‚regieren‘. Der Begriff der Governance wird uneinheitlich verwendet und ich will hier allein fünf Bedeutungen erwähnen (nach Hirst 2000; Rhodes 2000): Corporate governance umfasst all die Praktiken, die große und international verflochtene Unternehmen anwenden, um in internationalen Kontexten entsprechend zu agieren. In den internationalen Beziehungen findet sich der GovernanceBegriff in Bezug auf internationale Regime (Krasner 1983), als „governance without governments“ (Rosenau und Czempiel 1992; Rosenau 2000) oder auch als Governance durch private ‚Regierungen‘. Das normativ inspirierte Konzept von „good governance“ (World Bank 1992) von internationalen Organisationen wie WTO und IMF ist hierin einbezogen. Drittens werden Konzepte des New Public Management mit Governanceideen identisch, wobei dies vor allem die Einführung von Managementpraktiken in neue PublicPrivate-Mixturen umfasst. Eine weitere Verwendung des Governancekonzepts wird in den verschiedensten Netzwerkkonzepten deutlich. Hier konzentriert sich die Diskussion auf die neuen Praktiken der Interaktion und (herrschaftsfreien) Kommunikation, die sich angeblich auf den Trümmern der alten Staatlichkeit und den tradierten korporatistischen Strukturen entwickelt hat. Schließlich ist fünftens das Verständnis von Governance als ‚sociopolitical governance‘ anzutreffen, das als Gegenpol zum zielorientierten und hierarchischen Regieren konstruiert wird und nun als Ergebnis von Interaktionen von privaten, halbstaatlichen und – wenn überhaupt noch – staatlichen Akteuren und Organisationen betrachtet wird, die in Strukturen außerhalb der tradierten Politik und des hierarchisch strukturierten Staates operieren (vgl. dazu Kooiman 1993; 1999; 2000).

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Viele dieser Konzepte betonen, dass Governance mehr sei als Regieren.8 Doch worin besteht dieses „mehr“? Könnte es auch weniger sein als Regieren, weniger Demokratie, weniger Verbindlichkeit, weniger eindeutige Zurechenbarkeit, weniger institutionalisierte Prozeduren und weniger demokratische Kontrolle? Der Begriff der politischen Opposition, im Kontext des Regierens eine Selbstverständlichkeit, ist bei Governance abhanden gekommen. Es gibt weder begrifflich noch faktisch einen systematischen Ort für eine Opposition, vielmehr ist sie aus dem begrifflichen Repertoire völlig verschwunden (Offe 2009). Diese eindimensionale Entwicklungsdynamik wird auf die Spitze getrieben, wenn Governance von den Fluchtlinien zum politischen Entscheiden völlig abgetrennt wird. Dann handelt es sich – so Vertreter dieses Konzepts – „(…) ganz allgemein um Muster der Interdependenzbewältigung zwischen Akteuren“ (Lange und Schimank 2004, S.  19), wobei verschiedene Muster dieser Bewältigung denkbar sind: Verhandlung, Koordination, Abstimmung, wechselseitige Beobachtung und Lernprozesse bis hin zur hierarchischen Entscheidungsproduktion (Lange und Schimank 2004, bes. S. 19–25). Der Bezug zur Politik als derjenigen Handlungsform, die die Vorbereitung, Herstellung und Durchführung gesamtverbindlicher Entscheidungen zum Gegenstand hat, ist dann völlig abhanden gekommen. Es geht hier nur noch um die Beschreibung oder Analyse von kollektiven Entscheidungen beliebiger Art an beliebigen Orten (und nicht mehr öffentlicher bzw. politischer Entscheidungen), die in allen gesellschaftlichen Bereichen anzutreffen sind, von der Familie, der Kleingruppe, dem Verein über Verbände bis hin zu (Groß-) Unternehmen und – wie bei James N. Rosenau (1992) – auch der Mafia. Der Bezug zu demokratisch legitimierten, politischen Entscheidungen ist endgültig und unwiderruflich abgebrochen. Governance als sozialwissenschaftliches Konzept – so W. Streeck in einem sehr persönlich gehaltenen Rückblick – hatte den Vorteil, dass „niemand genau sagen konnte, was es bedeuten sollte, außer vielleicht jede Art von lokaler oder globaler Ordnungsbildung mit oder ohne Staat, unter Beteiligung eines ‚Netzwerkes‘ aller irgendwie Beteiligten, ohne Zentrum und Ziel. Wer von governance spricht, kann ohne einen Maßstab auskommen, anhand dessen die jeweiligen Steuerungsleistungen und die von ihr hervorgebrachte Ordnung für unzulänglich befunden werden könnte – es sei denn in Bezug auf ihre ‚Effizienz‘ (….). In jeder anderen Hinsicht ergibt sich der Sinn der Ordnungsstiftung immer erst retrospektiv (…)“ (Streeck 2015, S. 74).

8„(…)

that governance refers to something broader than government“ (Kjaer 2004, S. 7) oder „something more than government“ (Kjaer 2004, S. 189; Hervor. i. Orig.).

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Die Aufgabe einer politischen Opposition wäre es dann – normativ formuliert –, genau solche Maßstäbe zu formulieren und die Regierung bzw. die politischen Entscheider darauf hin zu befragen. Kritik, Kontrolle, die Propagierung von Alternativen und die Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung gegen bestimmte Entscheidungen stünden dann auf der politischen Tagesordnung.

4.4 Die Bedeutung der Opposition in der Systemtheorie Niklas Luhmanns In allen Schriften, in denen die politische Opposition auftaucht, betont Niklas Luhmann immer wieder, dass der Begriff und die faktische Erscheinung nur Sinn machen als ein unhintergehbarer Bestand der Unterscheidung von Regierung und Opposition (Luhmann 1989, bes. S. 13). Nur in dieser untrennbaren Relation macht der Begriff der Opposition Sinn und sie hat einen spezifischen Blick auf die Regierung und ihre Umwelt, durch den man etwas sehen kann, was man sonst nicht sehen könnte: Alles ist kontingent und könnte deshalb auch anders möglich sein. Das Regierung-Oppositions-Schema erzeugt zugleich eine operative Schließung des politischen Systems, weil eine erfolgreiche Ausdifferenzierung nur gelingen kann, wenn „innerhalb dieses Systems Konflikte zugelassen werden“ (Luhmann 2000, S. 94). Wäre es intern monolithisch, so könnte es – wie in kommunistischen Systemen – nur zu einem Konflikt zwischen System und Umwelt bzw. Gesellschaft kommen, aber zu keinen internen. Das politische links/rechts-Schema erlaubt es demokratischen politischen Systemen, politische Konflikte zu inszenieren, die die Einheit des Systems nicht zerstören, sondern bewahren. Diese Einheit entsteht durch die „Form der Oszillation“ (Luhmann 2000, S. 96) zwischen den beiden links-rechts-Polen. Eine sozusagen zweite Codierung erfährt das politische System durch den Code Regierung/Opposition, der mit dem basalen links/rechts-Schema nicht unbedingt identisch ist. Dadurch wird die interne Kommunikation des politischen Systems in einer spezifischen Weise strukturiert, nämlich durch das Dagegensein. Der Konflikt ist die dominierende Kommunikationsform und jede Äußerung wird durch eine Gegenäußerung konterkariert. Da die politische Opposition vor allem bei Wahlen signalisieren muss, dass sie willens und in der Lage ist, die Regierung zu übernehmen, dämpft dies diesen Gegensatz, aber als strukturelles Merkmal der Politik muss er erhalten bleiben. Die „stets gleichzeitige Präsenz von Regierung und Opposition in allen politischen Entscheidungen“ (Luhmann 2000, S. 98) ist zentral und das politische System kann sich an Hand dieser Unterscheidung selbst beobachten. Zugleich formuliert es eine Präferenzordnung:

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Man regiert lieber als dass man opponiert, denn die Regierung besetzt alle zentralen Ämter, in denen die verbindlichen Entscheidungen getroffen werden. Die politische Opposition kann dann „nur lamentieren, Kritik üben, Forderungen artikulieren und generell: die Kontingenz aller politischen Entscheidungen reflektieren. (…) Die regierende Gruppierung muss bei allem, was sie politisch tut, mitbedenken, welche Möglichkeiten daraus für die Opposition entstehen (…). (D)ie Politik der Opposition ist zwar von der Aktivität der Regierung abhängig. Aber in der Reflexionsperspektive der Opposition zählen auch, und vor allem, Unterlassungen der Regierung, also all das, was anders geschehen könnte, unter Einschluss einer stets unzureichenden Aufmerksamkeit für unerwünschte Nebenfolgen.“ (Luhmann 2000, S. 97: Hervor. i. Orig.)

Die mit der Codierung von Regierung/Opposition erreichte binäre Differenzierung hat eine „Freigabe von Möglichkeiten“ (Luhmann 2000, S. 101) zur Folge, die in anderen Teilsystemen der Gesellschaft nicht möglich ist. Alle politischen Entscheidungen werden nun kontingent und die Opposition ist die institutionalisierte Kontingenz. Sie spannt den Horizont von Möglichkeiten auf, die in der politischen Kommunikation thematisiert werden können. Aber die politische Kommunikation erzeugt durch diese spezifische Form „laufend Verbalkonflikte, man könnte auch sagen: Phantasiekonflikte“, die mit einer „selbstgeschaffenen Hektik“ einhergehen (Luhmann 1989, S. 25). Dadurch schaltete die Politik von „Langfristperspektiven auf ad hoc Reaktionen“ um (Luhmann 1989, S. 26). Wird aber der Horizont der Möglichkeiten zu breit aufgespannt, verliert die Opposition an Glaubwürdigkeit, weil nun offen zutage tritt, dass sie im Falle der Regierungsübernahme bestimmte extreme Politikpositionen nicht verwirklichen kann. Systemopposition ist nach Luhmann unwahrscheinlich, aber auch nicht prinzipiell ausgeschlossen. Erstaunlicherweise formuliert Luhmann normative Prämissen für das Verhalten einer Opposition, um nicht das System insgesamt zu gefährden. Jedes politische System operiert in einer für es selbst nicht kontrollierbaren Umwelt und die Frage ist dann, wie es mit dieser prinzipiellen Unkontrollierbarkeit umgeht. Das politische System übersetzt diese soziale Unkontrollierbarkeit in die Zeitdimension und stellt dies als „Instabilität der Verhältnisse im Zeitverlauf“ (Luhmann 2000, S. 164) dar. Die Politik der politischen Opposition ist die Variable, die über die „Schwankungsbreite möglichen Oszillierens“ (Luhmann 2000, S. 164) entscheidet und sowohl über die Spannbreite als auch die Intensität der politischen Konflikte bestimmt. Und auch hier formuliert Luhmann den normativen Anspruch, dass die Opposition sich „durch den Anspruch, die

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Regierung zu übernehmen und fort(zu)setzen (…), sich selbst disziplinieren muss“ (Luhmann 2000, S. 164). Sie kann nicht mit unrealistischen Forderungen operieren noch allein mit intellektuellen Spielereien oder utopischen, gar revolutionären Vorstellungen arbeiten. Auch wenn sich das politische System zunehmend auf das Prozessieren von Personen spezialisiert und Programme eine mindere Rolle spielen, so stehen die zur (Aus)Wahl stehenden Personen letztlich doch für unterschiedlich ausgeprägte Sach- oder Zeitprogramme. Gleichwohl kann man dem politischen Betrieb eine „künstlich gesteigerte und spezialisierte Notwendigkeit, beschäftigt zu sein“, nicht absprechen (Luhmann 2000, S. 272). Politische Opposition im Luhmann’schen Sinne wäre dann ein Verhalten, das in einem doppelten Sinne reaktiv ist: Die Opposition sucht Antworten auf die Aktionen der Regierung. Sie kann zwar auch eigene Policy-Optionen vorschlagen und so aktiv oppositionelles Verhalten realisieren, aber es wären immer präventive Reaktionen auf mögliche Regierungspolitiken oder auf aktuell nicht stattfindende. Zum Zweiten wird Politik – auch die der Regierung – generell reaktiv. Luhmann hat apodiktisch formuliert, dass in den hochmodernen und ausdifferenzierten Gesellschaftssystemen „statt zielorientierter Rationalität es mehr und mehr um zeitorientierte Reaktivität (geht)“ (Luhmann 2000, S. 142). Auch davon ist die politische Opposition infiziert. Sie kann sich der Schnelligkeit und Flexibilität der politischen Konflikte und Dynamiken nicht entziehen und muss der zeitorientierten Reaktivität Tribut zollen. Dieser „opportunistische(n), prinzipiell prinzipienlose(n) Temporalisierung“ (Luhmann 2000, S. 143) kann sich die Opposition eben so wenig entziehen wie die Regierung. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass in der neueren Politikwissenschaft der Oppositionsbegriff nicht nur an Bedeutung verloren hat, sondern als Begriff weitgehend verschwunden ist. Das ‚Widerspiel‘ (Sternberger) von Regierung und Opposition wird nicht mehr als elementare politische Aktivität begriffen, sondern durch spezifische Modi der politischen Konkurrenz ersetzt, die nicht mehr die Merkmale des politischen Opponierens tragen. In den modernen Governancetheorien gibt es Politik im tradierten Sinne nicht mehr, sondern allein Verhandlungssysteme, in denen zum Teil noch Bargaining betrieben wird, die in den verschiedenen Governancekonzepten dann angeblich durch deliberative Praktiken bis hin zum herrschaftsfreien Diskurs nach J. Habermas abgelöst worden sind. Dadurch entstehen dann „vielfältige ‚Muster der Interdependenzbewältigung‘“ (Lange und Schimank 2004, S. 19), die sich im Modus des herrschaftsfreien Diskurses vollziehen (sollen). Akzeptieren politische Theorien noch Konflikte zwischen Regierung und Opposition, wie etwa Luhmann in seiner Systemtheorie der Politik, dann nimmt sie den Charakter der ‚opportunistischen, prinzipiell prinzipienlosen Temporalisierung‘ oder gar von ‚Phantasiekonflikten‘

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(Luhmann) an. Aber als grundlegender und unhintergehbarer Sachverhalt des Politiktreibens ist sie aus den neueren Theorien und Texten der Politikwissenschaft verschwunden. Allein in der eher traditionellen Regierungslehre fristet sie weiterhin ein – wenn auch nur rudimentäres – Dasein.

5 Die Zukunft der politischen Opposition Die Zukunft der politischen Opposition ist von zwei fundamentalen Sachverhalten abhängig. Zum Einen davon, in welchem ‚Zustand‘ sich die Politik und die Politik treibenden Parteien befinden. Allgemeiner formuliert stellt sich die Frage nach dem zeitlichen Zustand, in dem sich die modernen kapitalistischen (und nicht-kapitalistischen) Gesellschaften bewegen und in welchen Formen hier Politik ausgeübt wird, welche Bedeutung hierbei den Parteien zukommt und welchen Parteientypus wir hier vorfinden. Und zum Zweiten davon, welcher Begriff von politischer Opposition in der politikwissenschaftlichen Analyse verwendet wird. Ich beginne mit der zeitdiagnostischen Dimension. In einem seiner letzten Bücher hat sich Michael Th. Greven mit dem Begriff der Systemopposition beschäftigt und festgehalten, dass erfolgreiche Systemwechsel (in ­kapitalistisch-demokratischen Systemen) nicht mehr möglich sind und systemoppositionelle Politik wirkungslos bleibt (Greven 2011). Veränderungen in den Verteilungs- und Gerechtigkeitsstrukturen moderner politischer Gesellschaften sind nur noch – wenn überhaupt – innerhalb des kapitalistisch-demokratischen Systems denkbar. Aber die Transformation bzw. revolutionäre Umgestaltung des modernen Kapitalismus in einer globalisierten Welt ist nicht mehr möglich. Die Idee der Revolution ist eng mit dem Begriff des Nationalstaates verkoppelt und wurde meist als nationale Revolution gedacht, die sich gleichwohl zu einer internationalen Bewegung ausdehnen kann. Die (gewaltsame) Erkämpfung einer sozialistischen Gesellschaft ist nicht länger denk- und machbar. „Der revolutionäre Traum ihrer Verwirklichung durch menschliche Praxis, durch einen Systemwechsel, ist geschichtlich ausgeträumt“ (Greven 2011, S. 282). Regimewechsel – also Wechsel auf der Ebene der politischen Institutionen von der Diktatur zur Demokratie (und auch zurück) – sind allerdings weiterhin denkbar und politisch machbar, während sich Systemwechsel – also Transformationen der gesamten Gesellschaftsstruktur, einschließlich des ökonomischen Systems – in der globalisierten Welt grundsätzlich nicht mehr realisieren lassen. Erstaunlich unreflektiert bleiben bei ihm jedoch die Erfahrungen der Systemwechsel in den Mittel- und osteuropäischen Ländern, in denen – revolutionär oder

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nicht, sei dahin gestellt – Systemtransformationen stattgefunden haben, die alle Dimensionen der Gesellschaft, v. a. aber die Ökonomie, erfasst haben und weitgehend erfolgreich waren. Systemopposition und -wechsel sind in der heutigen globalisierten Welt somit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, aber erheblich erschwert. Die Auseinandersetzung mit der typologischen Dimension hat den Hauptbestandteil der bisherigen Überlegungen ausgemacht und kann deshalb kurz gefasst werden. Zum Begriff der politischen Opposition gehören sowohl systemische wie systemkonforme Widerstandsformen, wobei letztere in gesamtpolitische oder nur policy- oder issue-spezifische unterteilt werden können. Opposition findet an den verschiedensten Orten statt, wobei die institutionell vorgesehenen Wege und Orte sicherlich am wichtigsten sind. Aber sie kann auch jenseits der Institutionen ausgeübt werden, vor allem auf den Straßen und auf symbolträchtigen Plätzen. Entgegen den Steuerungs- und Governancetheorien ist die Opposition nicht verschwunden, sondern sie spielt in den modernen Staaten und in der globalisierten Welt nach wie vor eine unübersehbare Rolle. Allerdings hat sie – nicht zuletzt auch wegen der zunehmenden Medialisierung und Digitalisierung der Politik – ihren Charakter deutlich verändert. Sie ist nicht mehr gesamtpolitische Opposition, sondern hat auf issue-orientierte Opposition umgestellt. In Regierungssystemen, in denen die politischen Parteien kartellisiert operieren, ist sie innerhalb des Kartells verschwunden oder hat eher symbolische Formen angenommen, während sich die beteiligten (Kartell)Parteien hinsichtlich ihrer jeweiligen Policies kaum mehr unterscheiden. Parallel dazu kann – nicht muss – sich eine neue Opposition entwickeln, die sich dann gegen die im Kartell agierenden Parteien richtet und in der Regel die Form der populistischen Opposition annimmt und deshalb nur von diesen Parteien ausgeübt wird. Hier drückt sich dann nicht der Dualismus Regierung/Opposition aus, sondern der zwischen den Kartellparteien, regierende und opponierende Parteien eingeschlossen, und den meist populistischen Anti-Kartellparteien. Zentral ist zudem, dass oppositionelle Politik nicht mehr bzw. nicht mehr ausschließlich auf die gesamtpolitische Dimension bezogen ist, sondern sich auf die kleinteiligen Elemente der Politik bezieht und – das ist ebenso zentral – prinzipiell opportunistisch und prinzipienlos gehandhabt werden kann. Was zum Gegenstand oppositioneller Politik auserkoren wird, ist nicht von langfristigen Schwerpunktsetzungen bezüglich politischer Inhalte abhängig, sondern wird situativ und meist mittels der modernen Techniken der Meinungs- und Umfrageforschung ermittelt. Die politische Opposition ist also verschwunden in dem Sinne, als sie in den Kartellen der dominanten politischen Parteien bei grundlegenden Fragen kaum noch eine Rolle spielt, aber deshalb bei eher ‚kleinen‘

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Policy-Konflikten intensiviert werden kann. Sie hat sich zur ‚opportunistischen, prinzipiell prinzipienlosen Temporalisierung‘ (Luhmann) entwickelt und kann deshalb umso beliebiger und intensiver ausgeübt werden. Aber sie führt ein Schattendasein, wird zum Bestandteil des politischen Spiels und gewinnt immer mehr kontingenten Charakter: So wie sie opponiert, hätte sie auch anders opponieren können.

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Opposition, multiple Repräsentation und komplexe Gewaltenteilung: Überlegungen zur demokratieund institutionentheoretischen Kontextualisierung von Kritik, Alternative und Kontrolle Roland Lhotta 1 „Waning“,“Vanishing”, „Blurring“ – oder was? Auf der Suche nach der Opposition Die nachfolgenden Überlegungen sind von dem Eindruck und der Überzeugung geprägt, dass es konzeptionellen und theoretischen Nachholbedarf bei jenem „complex phenomenon“ (Norton 2008, S. 236) gibt, das vom Begriff Opposition bezeichnet wird1. Hierfür sind vor allem zwei Dinge ausschlaggebend: Zum einen ist das Thema Opposition in der (vergleichenden) Politikwissenschaft nach wie vor eher randständig (vgl. Blondel 1997; Helms 2002, 2008; Garritzmann 2017, S. 2) und hat auch keine richtige Heimat in der Parteien- und Parlamentarismusforschung sowie der Demokratieforschung. Opposition wurde und wird zwar als zentrale Errungenschaft moderner (rechtsstaatlich verfasster) parlamentarischer Demokratie (Dahl 1966a; Oberreuter 1975a) oder mitunter weihevoll als „Phänomen menschlicher Gesittung“ (Sternberger 1956, 1Sehr

pointiert in dieser Hinsicht auch Brack und Weinblum 2011.

R. Lhotta (*)  Institut für Politikwissenschaft, Helmut-Schmidt-Universität/ Universität der Bundeswehr Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_3

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S. 136) angesehen – aber gemessen daran, verwundert es schon, dass diesem „Phänomen“ dann so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde und wird, was wiederum dazu führt, dass das Wissen über Opposition eigentlich immer noch „in its infancy“ (Garritzmann 2017, S. 2) steckt. Zum anderen fußt das vorhandene Wissen auf Grundannahmen und Leitideen, die nicht mehr ganz passfähig für die empirische Realität der Gegenwart sind. In den heutigen Demokratien ist diese zwar nicht unbedingt von einem „waning of opposition“ (Kirchheimer 1957a), dafür aber von einem „blurring of opposition“ (Andeweg 2013) und einer „huge variety of forms of opposition“ (van Biezen und Wallace 2013, S. 296) sowie von „multiple oppositional relationships“ (Norton 2008, S. 247) geprägt, die ihre Ursachen in tiefgreifenden Veränderungen jener Patterns, Conditions & Factors von Opposition haben, die richtungsweisend in der Oppositionsheuristik von Robert Dahl (1966a) identifiziert worden sind und bis heute Referenz sind2. Neben dem Umstand, dass sich damit die Phänomenologie von Opposition in modernen Demokratien grundlegend wandelt, bedeutet dies, dass sich die Demokratien selbst wandeln und damit der gesamte Kontext eines ihrer Essenziale – der Opposition. Das muss Folgen für die Art und Weise haben, wie Opposition konzeptuell gefasst wird – und es muss auch Folgen haben für die tradierten Leitideen sowie den theoretischen Rahmen, mit dem wir Opposition zu fassen gewöhnt sind. Und zu guter Letzt – es muss auch Folgen dafür haben, worauf wir künftig den Blick lenken wollen bzw. sollten, um Opposition zeitgemäß in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Denn es macht wenig Sinn, die heutige Realität von Opposition mit Begriffen und Konzepten erfassen zu wollen, die für die Realität vergangener Zeiten geprägt wurden und damit zumindest in Teilen sowohl anachronistisch, unterkomplex oder auch schlichtweg unpassend und ungeeignet sind. Es ist hier natürlich nicht möglich, alle relevanten Entwicklungen nachzuzeichnen, die sich seit Mitte der 1960er Jahre in den von Dahl exemplarisch ausgemachten Mustern und Variablen von Opposition in westlichen Demokratien ereignet haben. Ebenso wenig geht es darum, diese Muster und Variablen in vergleichender und/oder systematisierender Absicht zur Anwendung zu bringen oder einem „refinement“ zu unterziehen. Die Intention ist vielmehr eine grundsätzliche Infragestellung unseres herkömmlichen Verständnisses von Opposition, das auf bestimmten Leitideen und von diesen geprägten Konzepten beruht.

2Vgl.

in diesem Sinne etwa Blondel 1997 und Garritzmann 2017.

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Hier wiederum bietet Dahl, – wie in vielerlei anderer Hinsicht – einen guten Ausgangspunkt, weil er einerseits diesen Leitideen und Konzepten selbst verhaftet ist, andererseits aber (notabene: 1966!) prospektiv einige Überlegungen zu möglichen Entwicklungen der westlichen Demokratien und den zukünftigen Erscheinungsformen von Opposition anstellt3, die vorausweisen auf die heutige Gegenwart und von be(d)rückender Aktualität sind. Das betrifft nicht nur die Ausführungen zur Entfremdung der Bürger/Wähler vom „demokratischen Leviathan“ sowie dem Aufkommen von (radikaler) Systemopposition aufgrund eines „surplus of consensus“ – sondern auch den Gestaltwandel von Demokratie zur PostDemokratie und deren Entpolitisierung.

2 Die Rache des demokratischen Leviathans: Parlamentarische Opposition unter den Bedingungen „post-demokratischer Narkose“ Als „demokratischen Leviathan“ identifiziert Dahl jene westlichen Demokratien, die er als „welfare-oriented, centralized, bureaucratic, tamed and controlled by competition among highly organized elites, and, in the perspectives of the ordinary citizen, somewhat remote, distant and impersonal“ (Dahl 1966, S. 399) charakterisiert. Die in solchen Demokratien gemachte Politik entbehrt Dahl zufolge zunehmend wirklich politisierbarer Konflikte, die sich in artikulierbarem „dissent“ niederschlagen und somit auch repräsentierbar wären (Dahl 1966, S. 390 ff.): „The politics of this new democratic Leviathan (…) are above all the politics of compromise, adjustment, negotiation, bargaining; a politics carried on among professional and quasi-professional leaders who constitute only a small part of the total citizen body; a politics that reflects a commitment to the virtues of pragmatism, moderation, and incremental change; a politics that is un-ideological and even ­anti-ideological.“ (Dahl 1966, S. 399)

3Es

sei daran erinnert, dass Dahl ausdrücklich darauf verweist, wie sehr jede Evaluation unterschiedlicher „patterns of opposition“ zwingend demokratietheoretisch (und d. h. auch: normativ) unterlegt ist: „(…), one can judge the desirability of different patterns only by employing a number of different criteria that would be used if one were appraising the extent to which a political system as a whole achieves what are usually considered democratic goals or values“ (Dahl 1966, S. 387).

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In dieses (prospektiv) depolitisierte Vakuum aus Konfliktnivellierung und ­(All-Parteien) Konsens, in dem die bi-polare Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition zunehmend opak wird (Andeweg 2013), stoßen dann – mangels konträr politisierbarer Issues und somit auch mangels wirklicher Opposition und Repräsentation von „dissent“ – Bewegungen und Parteien, die das (etablierte) System als Ganzes ins Visier nehmen und infrage stellen, sowohl von links als auch von rechts. Damit lieferte Dahl quasi eine prognostische Blaupause für die Entwicklungen, die seit den 1990er Jahren in vielen europäischen Demokratien Fahrt aufgenommen haben und den Kontext, damit aber auch die Phänomenologie von Opposition gravierend verändert haben – auch für das politische System Deutschlands. Verantwortlich hierfür ist ein komplexes Bündel von Veränderungen, deren Gewichtung im Gesamtbild schwierig und durchaus strittig ist, die aber unter dem gemeinsamen Nenner einer Pluralisierung und Dekonzentration der Parteiensysteme (Best 2013; Mair 1997) rubrizierbar sind. Wesentliche Symptome sind dabei die Auflösung tradierter Cleavage-Strukturen und damit einhergehend die Erosion von Parteibindung ­ und ­-identifikation entlang dieser Cleavages, was wiederum mit einem Rückgang der (stabilen) Identifikation mit Parteien und ihren Programmen sowie einem Rückgang von Parteimitgliedschaften und Parteibindungen (van Biezen et al. 2012) in Verbindung steht. Hierzu tragen allerdings auch die Erosion der Repräsentationsfunktion und -fähigkeit von Parteien (Mair 2007; Gallagher et al. 2011; Andeweg 2013) bei sowie deren „shift“ von einer „representative role“ zur „governmental role“ und damit zum Typus der „cartel party“ (Katz und Mair 1995). Von besonders weitreichender Bedeutung sind aufgrund der allseitigen Konzentration auf die „governmental role“ ein damit einhergehendes „blurring“ des bi-polaren Verhältnisses von Regierung und Opposition und eine Mediatisierung ihrer Beziehung (Andeweg 2008, 2013). Diese idealiter kompetitive Beziehung wird insbesondere in konsensdemokratischen Systemen zunehmend von einer partiellen De-Politisierung zugunsten kooperativer Mitregierung überformt. Gerade Bundesstaaten wie die Bundesrepublik Deutschland bieten über ihre föderalen „layers“ und einen (symmetrischen) Bikameralismus die Möglichkeit einer Mitregierung für alle (Helms 2004) im Rahmen eines sich selbst perpetuierenden „Grand Coalition State“ (Manfred G. Schmidt). In dessen Konsenszwängen kommt es zur Nivellierung der (wahrnehmbaren) Unterschiede zwischen den Parteien, deren Wettbewerb sich v. a. auf Personen, immer weniger aber auf Inhalte bezieht. Dies reduziert die Identifizierbarkeit und Wahrnehmbarkeit von politisierbarem und artikulierbarem „dissent“ durch Opposition. Insgesamt kommt es zu einem Bedeutungsverlust der Parteien als Mittler zwischen Bürger und Politik und damit auch zu Wahlen, bei denen Wahlentscheidungen

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immer volatiler und expressiver werden und sich immer weniger auf Inhalte beziehen (können). Damit nicht genug wirkt sich auch die fortschreitende ­De-Nationalisierung von Politik durch die Einbindung in Multilevel-Governance (Korte 2014, S. 9) und damit eine Invisibilisierung verantwortbarer Politik und Akteure (Mair 2007) auf Opposition aus, da ihr hierdurch sowohl adressierbare Akteure für oppositionelle Kontrolle und Kritik als auch die entsprechenden Politikinhalte verloren gehen. In die Leerstellen und Repräsentationslücken stoßen dann erstarkende populistische Bewegungen und Parteien (Kriesi 2014), deren Erfolge gerade in Europa immer virulenter werden – und zwar nicht zuletzt deswegen, weil sie sich als „wirkliche“ Opposition und Sachwalter des Volkes inszenieren, dessen Interessen durch die etablierten Parteien schon lange nicht mehr repräsentiert würden. Diese in Europa länderübergreifend auszumachenden Entwicklungen der Parteiensysteme erhalten in ausgeprägt konsensdemokratischen Strukturen wie denen der Bundesrepublik Deutschland nochmal eine spezielle Charakteristik. Wie schon angedeutet, offeriert gerade der parlamentarische Bundesstaat Deutschlands mit seinem symmetrischen Bikameralismus (vgl. Tsebelis und Money 1997; Lhotta 2003) zahlreiche Vetopunkte für vielfältige Mitregenten (Decker 2011; Rudzio 2015). Dies erhöht zum einen zwar die potenziellen Einflussmöglichkeiten der Opposition (Sebaldt 2014); andererseits befördern die mannigfachen Konsens- und Kooperationszwänge den Grand Coalition State, in dem die bi-polare Relation von Regierung und Opposition verschwindet und die Opposition als Objekt politischer Zurechnung gar nicht mehr in Erscheinung tritt (Volkmann 2005, S. 1691) – eine Problematik, die sich unter den Auspizien einer Großen Koalition als Dauerzustand noch verschärft. Wolfgang Streeck hat die Phänomenologie und die Auswirkungen dieser Entwicklungen in seiner süffig geschriebenen Diagnose der Ära Merkel als „postdemokratische Narkose“ bezeichnet, in dem ein demokratischer „Block aller anständigen Parteien und Massenorganisationen, unter Einschluss der SPD und der Opposition im Bundestag“ Politik als technokratische Machterhaltung und -verwaltung betreibt, in der kritische Themen wegmoderiert (oder kompensatorisch sentimentalisiert) werden, sodass eine auf selbstreferenzielle Individuen reduzierte Öffentlichkeit weder die Chance noch das Interesse hat, sich politischer Themen zu bemächtigen und stattdessen „wie ein Tanzbär am Nasenring regierungsamtlicher Wahrheiten durch die Manege gezogen wird und sich ziehen lässt“ (Streeck 2017). Der von Streeck ausgemachte Prozess einer „technokratischen Entdemokratisierung der Politik“ führt in letzter Konsequenz auch zu einem Verschwinden von Opposition als Essential von Demokratie, weil es – bedingt durch die soeben (sehr holzschnittartig) beschriebenen Entwicklungen – so etwas wie ein politisierbares

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Konfliktpotenzial und dessen Aktualisierbarkeit im politischen Prozess kaum noch gibt. Der signifikante Malus der Opposition in der Konsensdemokratie liegt dann darin, dass sie zunehmend überflüssig wird und sich selbst überflüssig macht, weil kooperative Opposition quasi strukturell erzwungen und Harmonie und Akkomodation über die Leimrute des Mitregierens belohnt wird (Korte 2014, S. 10). Die Machtprämie der oppositionellen Mitregierung ist gleichzeitig die Hypothek der wahrnehmbaren (geschlossenen und policy-basierten) Oppositionsperformanz und Alternativenformulierung. Dies erst recht, wenn man berücksichtigt, das konsensual generierte „locked-in choices“ auf vielen Politikfeldern dazu führen dazu, dass Opposition – wenn überhaupt noch wahrnehmbar – auf das politische Personal fokussiert wird, während sie in sachlicher Hinsicht (als Policy-Kritik und als inhaltliches Alternativangebot) an Bedeutung verliert. Damit aber nicht genug, denn die seit Dekaden voranschreitende Transformation von Staatlichkeit bis hin zur Entstaatlichung (Grimm 2012, S. 67 ff. und S. 315 ff.) bringt „neue, diffus legitimierte Akteure im modernen Steuerungsprozess nationaler Regierungen und Parlamente hervor. Klassische Staatlichkeit erodiert, wenn Problemstrukturen nicht mehr mit Entscheidungsstrukturen übereinstimmen. Nationalstaatliche Regierungen werden von entgrenzten Märkten herausgefordert, während die Gesetzgebungskompetenzen zunehmend europäisiert oder internationalen Verhandlungsregimen überantwortet werden. Gleichzeitig verändern sich die Rahmenbedingungen des politischen Wettbewerbs: Die gesellschaftliche Verankerung der ehemals großen intermediären Organisationen, insbesondere der Parteien, erodiert. Im Gegenzug sind politische Entscheidungsprozesse immer stärker mediatisiert. (…) Das alles gilt sowohl für Regierungs- wie auch für Oppositionsakteure. Wenn sich Transparenz, Zuordnung und Verantwortung für politische Entscheidungen verflüssigen, wo bleibt dann die verlässliche Angriffsfolie für die Opposition innerhalb und außerhalb des Parlaments?“ (Korte 2014, S. 9)

All dies sollte Anlass genug sein, sich wieder grundsätzlicher mit dem Begriff und dem Konzept der Opposition zu beschäftigen. Die nachfolgenden Ausführungen beanspruchen dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen – durchaus in gewollter Pointierung – das Nachdenken über Opposition neu anstoßen. Die Grundannahme dabei ist, dass sowohl die empirische Entwicklung der Kontextbedingungen für Opposition innerhalb der parlamentarischen Demokratie Deutschlands als auch die Versuche, diese konzeptuell sowie theoretisch (d.  h. übrigens auch: verfassungstheoretisch und rechtsdogmatisch) zu erfassen, gewissermaßen exemplarisch für einen Inkommensurabilitätsdrift zwischen (zunehmend anachronistischen) Leitideen und Funktionszuschreibungen für Opposition und einer diesen enteilenden Reali-

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tät steht. Anders gesagt: Die Parameter und Kontextbedingungen, die lange Zeit prägend für die Konzeptionalisierung und d. h. vor allem auch: die funktionalen Zuschreibungen von (parlamentarischer und verfassungskonformer) Opposition4 maßgeblich waren, haben sich fundamental gewandelt. Konnte Otto Kirchheimer im Jahre 1957 völlig zutreffend feststellen: „Reinvestigation of the meaning of opposition under the conditions of the present age may be in order“ (Kirchheimer 1957, S. 129)5, ließe sich diese Aussage umstandslos auch ins Jahr 2019 übertragen. Ein aus meiner Sicht besonders augenfälliges Beispiel hierfür ist die gerade in Deutschland wenig hinterfragte und immer noch als „unstrittig“ deklarierte (Cancik 2017, S. 517) funktionale Trias von Opposition: „Kritik, Alternative, Kontrolle“. Sie ist das Derivat einer bi-polar gedachten Beziehung zwischen Regierung und Opposition in der für diese Beziehung exklusiv reservierten Institution des Parlaments – und steht damit quasi paradigmatisch für das anachronistische Festhalten an einer der empirischen Evidenz nicht (mehr) entsprechenden Leitidee für die (parlamentarische) Opposition. Dies ist ein Tatbestand, den die Politikwissenschaft im Übrigen mit der Rechtswissenschaft gemeinsam hat, wo die Inkonsistenz von Theorie, Dogmatik und Verfassungswirklichkeit sich in der Rechtsprechung des BVerfG zum Thema Opposition niederschlägt und kontroverse Debatten befeuert.6 Die von Uwe Volkmann aus verfassungstheoretischer Sicht angebrachte Kritik, dass es in Sachen Opposition schon lange keine grundsätzlichen theoretischen Überlegungen mehr dazu gibt, „was eine Institution ihrem Wesen nach ausmacht, wozu sie da ist und wie sie politisches Leben gewinnt, als was sie also im eigentlichen und tieferen Sinne begriffen wird“ (Volkmann 2017, S. 474)7, darf man der Politikwissenschaft getrost anverwandeln und politikwissenschaftlich reformulieren: Institutioneller

4Schon Sartori (1971, S.  33) verwies auf einen Bias in der Wahrnehmung und Konzeptionalisierung von Opposition, der zu einer selektiven Fokussierung auf „constitutional opposition“ führe; vgl. auch Oberreuter 1975b, S. 10 f. 5Die engl. Formulierung trifft m. A. die Grundsätzlichkeit des theoretisch-konzeptuellen Ansinnens besser als die deutsche Fassung des Aufsatzes, wo es an gleicher Stelle heißt: „Bedeutung und Schranken der Opposition unter den Bedingungen des gegenwärtigen Zeitalters verlangen neue Besinnung.“ (Kirchheimer 1957 [1981], S. 123). 6Vgl. Mundil 2015 sowie Cancik 2017. 7Dies überrascht umso mehr, als die Relevanz des institutionellen Designs politischer Systeme immer wieder betont wurde und wird – vgl. nur Dahl 1966, S. 349 f.; Oberreuter 1975a, S. 16 ff.; Helms 2004; Andeweg 2013, S. 103 und S. 110 f.; Garritzmann 2017, S. 2.

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Ort, Sinn und Funktion von Opposition müssen in einem gewandelten institutionellen Kontext und somit auch gewandelten institutionellen Logiken re-interpretiert werden, „to specify better how composite and hybrid institutions and mixed political orders, involving layers of institutions constituted on partly competing normative and organizational principles, can best be conceptualized“ (Olsen 2010, S. 14). Das Ziel dabei kann nur sein, „to better grasp the complexity and multiple dimensions of contemporary oppositions“ (Brack und Weinblum 2011, S. 76).8 Um dies leisten zu können, wird im folgenden die neo-institutionalistische Demokratietheorie (March und Olsen 1989, 1995; Lhotta 2016a) mit Überlegungen zur multiplen Repräsentation und komplexen Gewaltenteilung verbunden (vgl. Lhotta 2013). Dies v. a. deswegen, weil ich davon ausgehe, dass die wichtigsten kontextuellen Veränderungen, die den o.g. Inkommensurabilitätsdrift intensiviert haben, im Bereich der Repräsentationsbeziehungen und der Repräsentationsfunktionen (Mair 1995; 2007) sowie der institutionalisierten Gewaltenteilung zu suchen sind, wo sich neue Märkte und Arenen von Opposition bilden, aber auch die Identifizierbarkeit von Opposition und ihrer Funktionen der Kritik, Alternative und Kontrolle verwischen und in multipolaren kompetitiven als auch kooperativen Akteursbeziehungen aufgehen, bei denen es um Machtteilhabe geht.9 All diese Veränderungen lassen ein Konzept von Opposition, das nach wie vor auf der bi-polaren Konstellation „Regierung vs. Opposition“10 beruht und zudem ausschließlich in einem parlamentarischen Setting figuriert, als unterkomplex und anachronistisch erscheinen.11 Eine Verknüpfung der n­eo-institutionalistischen Demokratietheorie mit entsprechender Anverwandlung von Repräsentation

8Nahezu

enzyklopädisch und umfassend aus rechtlicher Sicht Ingold 2015. steht die die von Katz und Mair 1995 diagnostizierte länderübergreifende Herausbildung der sog. „cartel party“. 10Sternberger 1956, S. 136 ging sogar soweit, von einem „bi-polaren Verfassungsleben“ zu sprechen, in dem die Opposition „nicht die gemischte Versammlung derjenigen“ sei, „die gerade zur Zeit nicht mitmachen (beim Regieren), vermehrt noch um die anderen, die überhaupt nicht mitmachen wollen – sondern es ist der andere Pol eines bipolaren Verfassungslebens, auch eines bipolaren Parteiensystems.“ 11Brack und Weinblum 2011, S. 75 reklamieren deshalb auch, „to better grasp all kinds of oppositions, their modalities and sites of action, it is necessary to consider the parliament as a site with permeable borders involved in social dynamics and likely to build on extraparliamentary forces and vice versa.“ 9Dahinter

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und Gewaltenteilung, wie sie hier vorgeschlagen werden soll, verspricht m. A., Opposition für gegenwärtige Komplexität zu öffnen und aus dem bi-polaren Korsett zu befreien, das auch der funktionalen Trias „Kritik, Alternative, Kontrolle“ inhärent ist. Dies zielt letztlich darauf, Opposition organschaftlich zu dezentrieren und als Funktion des politischen Systems zu interpretieren und auch wahrzunehmen.

3 Opposition als Funktion der gesamten Verfassung und des politischen Systems Zu diesem Zweck kann es nicht schaden, sich kurz auf die Herkunft dieser funktionalen Trias zu besinnen, die üblicherweise Bolingbroke zugeschrieben wird. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass sie eine Verengung erfahren hat, die so nicht zwingend angelegt gewesen ist. Opposition, das war für Bolingbroke patriotisch gebotener Widerstand gegen die Perversion der Regierung zur korrupten parlamentarischen Despotie der Whigs unter Walpole. Hiergegen sowie die damit einhergehende flagrante Durchbrechung des Locke’schen Gewaltenteilungsprinzips, nicht aber gegen das parlamentarische System sollten die öffentliche Meinung sowie der „public spirit“ der Bürger mobilisiert und die Notwendigkeit als auch Möglichkeit einer alternativen, besseren Regierung aufgezeigt werden – in Gestalt der Opposition, die im Parlament die Mehrheit erzielen und regierungsfähig werden und deshalb auch die Form einer Partei haben müsse. Weder sozialer Status noch gemeinsame politische Ideologie einigte also die Parteien; die Opposition war vielmehr als Sammlung der verantwortungs- und freiheitsbewussten Staatsbürger zu verstehen. Dieses Verständnis von Opposition ist viel weniger restriktiv als das, was ihm ex post insinuiert wurde. Denn nur prima facie figuriert Opposition hier als ein modern gesprochen: (homogener) Akteur, dem die Erfüllung der von Verfassung wegen gebotenen Pflicht übertragen ist, einen politischen Machtwechsel herbeizuführen (Schneider 1989, S. 1064 und S. 1071) – zunächst und v. a. im Parlament, und idealerweise als Partei organisiert. Aber diese „narrow definition of the locus of opposition“ (Brack und Weinblum 2011, S. 70) ist nicht zwingend, denn die Verfassung umfasst verschiedene institutionelle „layers“ (March und Olsen 1995) oder „sites“ (Dahl 1966), weswegen sich Opposition innerhalb der gesamten institutionellen Matrix der verfassten parlamentarischen Demokratie ereignen kann und soll, deren gewaltenteilendes institutionelles Potenzial nur aktiviert und ausgeschöpft werden muss – auf allen hierfür potenziell relevanten

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Ebenen. Es ist daran zu erinnern, dass für Bolingbroke ja alle verantwortungsbewussten und freiheitsliebenden Bürger in die gemeinwohldienliche Pflicht zur Opposition berufen waren – und zwar als Ausprägung einer umfassenden Gewaltenteilung. In den Worten von Heinrich Oberreuter: „Der Opposition kam es zu, der Verabsolutierung der Regierungsgewalt Einhalt zu gebieten und die balance of powers stetig zu gewährleisten. Diese vollzog sich nun durch kontinuierlich wirksame, gemeinwohlorientierte Wachsamkeit, Freiheitsliebe und Verfassungstreue der Opposition. Gewaltenteilung wurde also nicht mehr statisch begriffen, sondern dynamisiert“ (Oberreuter 1985, S. 638). Das ist ein wichtiger Punkt, weil dieses Verständnis von Opposition im Kontext einer dynamisierten Gewaltenteilung dem hier intendierten Aufbrechen und Erweitern unterkomplexer Leitideen von Opposition sehr entgegenkommt und der vorfindlichen Realität multipler Oppositionsarenen, -akteure und -beziehungen gerechter wird. Zudem liegt hier ein interessantes demokratieund verfassungstheoretisches Potenzial: Indem Gewaltenteilung – und damit auch Repräsentation – dynamisch im Verfassungsganzen verteilt werden und integrative Institutionen für die Opposition und damit auch für die Gesamtheit der Bürger aktiviert und wirksam werden, de-zentriert sich Opposition quasi von selbst als essenzieller Bestandteil einer konstitutionalisierten und dynamisierten Gewaltenteilung auch jenseits der parlamentarischen Sphäre. Opposition hätte somit Anteil an der Repräsentation des politischen Ganzen u n d seiner Teile – sie wäre eingebettet in ein multi-layered setting, das multiple Repräsentation und Gewaltenteilung institutionell und prozedural verbindet. Opposition als integrative Institution der Repräsentation und Gewaltenteilung generiert auf der theoretischen Ebene dann aber schlichtweg die Notwendigkeit, „sie komplexer Ausgestaltung offenzuhalten“ (Oberreuter 1985, S. 642). Konzeptionell und theoretisch hat das Konsequenzen: Ein solches „framing“ von Opposition liegt in wesentlichen Teilen quer zu einer autoritativen Meinung wie der von Hans-Peter Schneider, der 1989 in dem von ihm und Wolfgang Zeh herausgegebenen Handbuch, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis noch ohne einen Anflug von Zweifel formulierte, dass die parlamentarische Oppositon „der zentrale institutionelle Ort“ sei, „wo minoritäre politische Bestrebungen in einer repräsentativen Demokratie zum Ausdruck gelangen und in die Staatswillensbildung Eingang finden können“ (Schneider 1989, S. 1063) – selbst wenn „mehr oder weniger effektive Formen politischer Opposition auch außerhalb des Parlamentarismus entstehen“ können. Umgekehrt gebe es

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„aber kein parlamentarisches System in der Welt, das auf Dauer ohne die Existenz einer organisierten, loyalen, allgemeinen und prinzipiellen Opposition auskäme, die sachliche wie personelle Alternativen zur vorhandenen Regierung anzubieten hat und aufgrund dessen jederzeit fähig und willens ist, die Macht im Staate zu übernehmen, ohne das Verfassungssystem insgesamt anzutasten. Insofern ist diese Art von Opposition innerhalb des Parlaments nicht nur ein wesentlicher, sondern auch ein notwendiger Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Fehlt sie oder agiert sie überwiegend außerhalb des Parlaments, so treten in der Regel schwere Strukturkrisen der politischen Ordnung auf, die meist den Übergang zu autoritären oder totalitären Herrschaftsverhältnissen nach sich ziehen.“ (Schneider 1989, S. 1056 f.)

Nach den bisher gemachten Ausführungen scheint dies eine sowohl d­ emokratieals auch institutionentheoretisch unterkomplexe Aussage zu sein. Sie steht mustergültig für den dreifachen Bias herkömmlicher Oppositions-Literatur, weil sie eine stark normativ imprägnierte Idee von Opposition, ihrer Rolle und Funktion transportiert, deswegen auch den (legitimen) institutionellen Ort von Opposition auf das Parlament reduziert und damit auch eine restriktive Vorstellung von oppositionellen Akteuren hat. Dazu passt, dass alle nicht-parlamentarischen Ausprägungen von Opposition als deviant angesehen ­ werden (vgl. Brack und Weinblum 2011, S. 70 ff.). Nun könnte man darauf verweisen, dass Schneiders Auffassung von Opposition primär verfassungsrechtlich geprägt ist und die darin aufscheinende normative Imprägnierung verfassungsrechtlich und -theoretisch nicht nur disziplinär angemessen, sondern auch vom Grundgesetz gedeckt und verfassungsrechtlich evident sei. Interessanterweise ist dies nicht ohne weiteres anzunehmen, weil es auch im Verfassungsrecht bzw. in der Judikatur des BVerfG zumindest Hinweise darauf gibt, dass die parlamentarische Opposition nicht zwingend als der „zentrale institutionelle Ort“ gilt, in dem minoritäre politische Positionen zum Ausdruck kommen (oder auch zum Ausdruck kommen wollen). Dies zeigt sich bereits an der simplen Tatsache, dass es eine institutionelle Garantie von Opposition nicht gibt und eine solche auch nicht aus dem Grundgesetz abgeleitet wird.12 Hinzu kommt allerdings, dass es in der Rechtsprechung des BVerfG bemerkenswerte Verschiebungen als auch Konturierungen des Oppositionsprinzips gibt, woraus sich insgesamt der Eindruck einer gewissen Inkonsistenz als auch – partiell zumindest – einer (gewaltenteiligen) Nachordnung der Opposition in Bezug auf den Kernbereich der Exekutive ergibt (vgl. von Achenbach 2017). Gleichzeitig zeichnet sich in der Judikatur eine Entsubjektivierung der 12Vgl.

Mundil 2015, der Opposition als eine Verfassungsfunktion ohne eigenständige Rechte hieraus interpretiert.

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Opposition ab, die einhergeht mit einer Erweiterung des „locus of opposition“, den das BVerfG (allerdings nicht konsistent) aus der Sphäre des Parlaments herausverlagert. Diese Entwicklung war aber nicht ohne weiteres vorhersehbar. In seinem SRP-Urteil vom 23.10.1952 (BVerfGE 2, 1) erhob das Bundesverfassungsgericht die Opposition zunächst noch zu einem Grundprinzip der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, indem es „das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“ (BVerfGE 2, 1: 13) verknüpfte, und im KPD-Urteil sprach es von einem „Recht auf eine organisierte politische Opposition“ (BVerfGE 5, 85: 199) und einem „Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition“ (BVerfGE 5, 85: 224). Heutzutage verkündet das BVerfG indessen, dass das Grundgesetz lediglich „einen durch die Rechtsprechung des BVerfG konkretisierten allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatz effektiver Opposition“ (BVerfGE 2 BvE 4/14 vom 3. Mai 2016, 1. Leitsatz) enthalte. Dass sich gerade unter den Auspizien einer übergroßen Großen Koalition die Frage nach der Möglichkeit „effektiver“ Opposition stellt, ist naheliegend (vgl. Cancik 2017; Ismayr 2016) – aber auch grundsätzlich stellt sich die Frage, was denn unter „effektiver“ Opposition eigentlich zu verstehen ist, was Parameter dafür sind und wie sie sich aus dem Verfassungsrecht herauslesen ließen. Das BVerfG jedenfalls hat hierauf keine Antwort gegeben. Dafür aber stellt die Rede vom „Grundsatz“ effektiver Opposition einen gewissen Substanzverlust dar – weil Opposition damit des Trägers entkleidet ist und nur noch als objektives Prinzip des Verfassungsrechts figuriert. Daraus ergibt sich dann auch, dass es mangels Trägerschaft keine spezifischen Oppositionsfraktionsrechte und keine spezifischen Träger von Oppositionsrechten gibt (2 BvE 4/14, LS 2 & 3). Das mag als verfassungsrechtlicher Diminuitiv kritisiert oder als dogmatisch valide gewertet werden – interessanter für die hier vorgetragene Argumentation ist, dass das BVerfG mit dieser „Entsubjektivierung“ von Opposition einen interessanten theoretischen Schritt in Richtung De-Zentrierung und Erweiterung von Opposition gemacht hat. Dies zeigt sich auch daran, dass es das Oppositionsprinzip verfassungsrechtlich neu kontextualisiert und es zum Rechtsstaatsprinzip sowie hier wiederum zur Gewaltenteilung zählt (2 BvE 4/14 – 2.5.2016, Rz. 87). Mangels eines (institutionellen) Subjekts der Opposition macht das BVerfG dann den Abgeordneten zur Grundeinheit von Opposition (2 BvE 4/14 – 2.5.2016, Rz. 89), und zwar über eine individualrechtliche Rekonstruktion des Parlamentsrechts via Art 38 GG – dem neuen demokratischen Supergrundrecht, das gerade auch in der europarechtlichen Judikatur des BVerfG als Vehikel für die Entfaltung des Demokratieprinzips diente (vgl. Lhotta 2018; Lhotta und Ketelhut 2015).

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Uwe Volkmann hat in diesem Zusammenhang aufgezeigt, dass sich in den demokratietheoretischen Ausführungen des BVerfG aber auch eine weitergehende Variante findet, die für die De-Zentrierung und Entsubjektivierung von Opposition bedeutsam ist (Volkmann 2017). Die Demokratiekonzeption des BVerfG betone nämlich auch die bürgerschaftliche Teilhabe und gesamthafte Einbindung aller in den demokratischen Prozess, was sich vor allem in der Interpretation von Kommunikationsgrundrechten als „schlechthin konstituierend“ für den demokratischen Prozess manifestiere (BVerfGE 7, 198: 208). Nehme man dies ernst, dann stelle sich der Wettbewerb von Regierung und Opposition primär als Reflex der öffentlichen Meinung(en) dar, die rezipiert und prozessiert werde – die Substanz der Demokratie liege damit weniger in der Entscheidungsfindung der politischen Organe, sondern in bürgerschaftlicher Deliberation, die dem vorausgeht (BVerfGE 123, 67: 358). Die theoretische Konsequenz, die sich daraus ergibt, ist ganz im Sinne der hier verfolgten Argumentation: Parlamentarische Opposition ist nicht mehr „zentraler Ort“, sondern ein „Ausschnitt aus einem umfassenderen Spektrum pluraler und gesellschaftlicher Oppositionsmöglichkeiten“, die sich in neuen „Märkten“ und vielfältigen „Arenen“ von Opposition eröffnen (Korte 2014). Insofern macht es Sinn, Opposition tatsächlich eher im Sinn einer Verfassungsfunktion (Mundil 2014) zu deuten, an deren Erfüllung und Prozeduralisierung die gesamte gelebte Verfassung, lies: das gesamte politische System einer Demokratie und ihrer Institutionen sowie ihre Bürger beteiligt sind (vgl. Lhotta und Zucca 2011; Lhotta 2016b). Opposition ließe sich demnach wesentlich offener und dynamischer fassen als „a disagreement with the government or its policies, the political elite or the political regime as a whole, expressed in public sphere by an organized actor through different modes of action.” (Brack und Weinblum 2011, S. 74).

Ausgehend von diesen Befunden, ist es nun an der Zeit, eine solchermaßen ­de-zentrierte und gleichzeitig komplexe Opposition auch demokratietheoretisch neu einzufangen, indem man sie in einen Kontext komplexer Gewaltenteilung und multipler Repräsentation einbindet. (vgl. dazu Lhotta 2009, 2012, 2016a) Hierfür sind drei theoretische Grundannahmen relevant: a) Repräsentation ist keine einseitige Beziehung, sondern ein dialektischer, öffentlicher (Kommunikations-) Prozess, der nicht mit dem Wahlakt endet (Urbinati 2006).

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b) Repräsentation erfordert und spiegelt ein komplexes System der Gewaltenteilung, welches über ein entsprechendes institutionelles Design die fortlaufende Repräsentation einer fragmentierten Souveränität bzw. eines pluralen Willens sowie dessen institutionelle und prozedurale Abbildung ermöglicht (Lhotta 2009, 2012; Patzelt 1995). c) Der hieraus resultierende latente Prozess multipler Repräsentation kann nicht nur exklusiv im Parlament stattfinden, sondern ist Sache („res publica“!) des gesamten politischen Systems und seines institutionellen Arrangements.

4 Die Opposition als integrative Institution: Eine Perspektive der institutionalistischen Demokratietheorie March und Olsen haben 1995ihren normativ-soziologischen Institutionalismus auf die moderne Demokratie angewendet und daraus eine komplexe sowie normativ gehaltvolle Konzeption demokratischer Governance entwickelt (vgl. Lhotta 2016a), in der Institutionen den Akteuren (und das inkludiert alle Bürger) Logiken der Angemessenheit, Identitäten und Präferenzen vermitteln, die bei diesen wiederum demokratisches und v. a. gemeinwohlorientiertes Handeln induzieren. Unterschiedliche mindsets und situative Dynamiken generieren konkurrierende Interpretationen und somit auch unterschiedliche Handlungen der Akteure (March und Olsen 1989, S. 24 f.), deren konkurrierende „Logiken der Angemessenheit“ wiederum auf unterschiedliche institutionelle layers verteilt und miteinander verbunden werden. Dieser komplexe Vorgang ist der Normalfall einer funktionierenden pluralistischen und gewaltenteilenden Demokratie (March und Olsen 2006b, S. 699). Notabene: Die institutionengeprägte Demokratie bei March und Olsen (1995; Olsen 2010) ist anspruchsvoll gegenüber ihren Bürgern, weil sie – so wie es auch bei Bolingbroke anklang – auf den public-spirited citizen angewiesen ist, der über demokratisch-bürgerliche Tugenden, Identitäten, Fähigkeiten, Rollen, Interpretationen und angemessene Handlungslogiken verfügt (March und Olsen 1989, S. 131 f.; Olsen 2009a, S. 22), deren Hervorbringung durch integrative Institutionen wiederum eine Daueraufgabe demokratischer Governance ist (March und Olsen 1989, S. 124 ff.; 1994, S. 262 ff.). Die hier zum Ausdruck kommende, institutionell vermittelte demokratische Integration ist sowohl eine materiell-inhaltliche als auch eine prozedurale – aber keine harmonistische. Sie zielt darauf, die Pluralität einer Gesellschaft samt deren Pluralität von Interpretationen aufzunehmen, deren beständigen Abgleich zueinander fortwährend zu gewährleisten und dabei grundlegende

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gemeinsame Identitäten, Ziele, Werte und Vertrauen zu generieren – ohne dafür aber einen zentralen institutionellen Ort haben zu müssen, in dem sich so etwas wie „der Wille des Volkes“ manifestiert (March und Olsen 1994, S. 264). Zentral hierfür sind im Rahmen der institutionellen Matrix eines demokratischen Systems die von March und Olsen (1994, S. 264 ff.; 1989, S. 124 ff.) so genannten integrativen Institutionen. Solche Institutionen fungieren als „embodiment and instrument of the community, or of the democratic order as a constitutional system“ (March und Olsen 1989, S. 126). Die Opposition kann – zumal wenn man ihre Konzeptualisierung bei Bolingbroke als auch ihre ­ Re-Konzeptualisierung bei Brack/Weinblum ernst nimmt – als eine solche integrative und damit im besten Sinne: repräsentative Institution interpretiert werden und auch als solche fungieren. Voraussetzung hierfür ist ein institutionelles Design von Demokratie, das sich nicht nur auf die organschaftliche Ebene beschränkt; vielmehr gibt es eine über die Organschaft hinausgehende Repräsentation, die gewährleistet, „that constituent and representative opinions can be reconnected between elections“ (Urbinati 2006, S. 46). Sie findet statt in vielfältigen „arenas of citizenship“ (Michelman 1988), die konstitutiver Teil der institutionellen Matrix gewaltenteilender Demokratie sind und die parlamentarische bzw. organschaftliche Repräsentation ergänzen. Repräsentation erfordert deswegen ein komplexes System der Gewaltenteilung, welches über eine Vielfalt von „sites“ die öffentliche Prozeduralisierung von politisierbaren Interpretationen und Präferenzen sowie von „dissent“ permanent ermöglicht. In Konsequenz der normativen Imprägnierung der „communal conception“ von Demokratie bei March und Olsen ist dies im Übrigen auch ein (gewollter) Kontrapunkt zu De-Mobilisierung und De-Politisierung durch technokratische Politik und Post-Demokratie sowie dem Verschwinden von Opposition mangels politisierbarem „dissent“. Vielmehr geht es hier um eine Re-Appropriierung der Sphäre des Politischen bzw. der Verfassung und des von ihr geschaffenen politischen Systems der Demokratie. Repräsentation ist keine einseitige Beziehung, sondern – wie bereits Pitkin (1967) herausgearbeitet hat – ein dialektischer, öffentlicher (Kommunikations-) Prozess, der nicht mit dem Wahlakt endet. Das setzt also voraus, dass in diesem Prozess konkurrierende oder konfligierende Positionen vertreten werden und es ein institutionell gesichertes und artikulierbares Konfliktpotenzial gibt. Bei diesem handelt es sich sowohl um eine Grundvoraussetzung funktionierender Repräsentationsbeziehungen (Patzelt 1995, S. 375) als auch um einen Grundzug funktionierender Demokratie als „agonistic space“ (Urbinati 2006, S. 46): Repräsentation ist somit ein komplexes „Arrangement von vielerlei Institutionen und funktional verschränkten Prozessen“ (Patzelt 1995, S. 374; Hervor. R. L.),

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welches widerstreitende Sinnstiftungen und Logiken der Angemessenheit über verschiedene institutionelle „layers“ in Beziehung setzt und vermittelt. Damit ist sie „far more than a system of division of labor and a state institution; it entails a complex political process that activates the ‚sovereign people‘ well beyond the formal act of electoral authorization“ (Urbinati 2006, S. 5; Hervor. L. R.). Konzeptuell geht es dabei auch darum, den eindimensionalen Charakter des Willens und seiner getreulichen Abbildung (durch Parteien im Parlament) als konstitutives Element einer Repräsentationsbeziehung aufzubrechen zugunsten eines Verständnisses, das Repräsentation als einen Prozess und eine politische Ressource begreift, mittels derer politische Institutionen und ihre (gesellschaftlichen) Kontexte in eine kontinuierliche (Kommunikations-)Beziehung gebracht werden (aus der sich viele Parteien mit dem Verlust ihrer Repräsentationsfunktion ausgeklinkt haben): “Whereas immediacy and physical presence are the requirements of nonrepresentative democratic government, multitemporality and presence through voice and ideas are the requirement of representative democratic government. In the former, the will devours politics in a series of discrete and absolute acts of decision. In the latter, politics is an uninterrupted narrative of proposals and projects that unifies the citizens and requires them to communicate in a given normative space and over time. This temporal perspective transforms representation into a political resource, a way to perfect democracy by emancipating it from the destabilizing force of presentism and the one-dimensional character of the will. Representation makes politics into a continuum by binding short-term yes/no politics (referendum and election) to longer term interlectoral cycles.” (Urbinati 2006, S. 225)

Dieser politische Prozess ist dann aber auch ein Proprium der Bürger, nicht nur ihrer Repräsentanten. Er ist Teil der Selbstregierung eines Gemeinwesens, das auf diese Weise den „pro-democratic purpose“ (Eisgruber 2001, S. 205) der Verfassung realisiert. Diese Selbstregierung beruht auf Tätigkeit der „­ public-spirited citizens“, nicht auf bloßer Delegation dieser Tätigkeit. Insofern wäre aus einer solchen Perspektive auch der Republikbegriff des Grundgesetzes durchaus mehr als eine „metarechtliche Apell-Funktion, die darauf ausgeht, den Willen der Betroffenen zum demokratischen Verfassungsstaat hervorzurufen und zu erhalten“ (Unruh 2002, S. 597), sondern Ausdruck für ein konstitutionalisiertes institutionelles Design, dass die Teilhaber einer Repräsentationsbeziehung in die Lage versetzt, „to settle the institutional details of their government and (…) to deliberate about the long-term consequences of their choices“ (Eisgruber 2001, S. 205).

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Einen in dieser Hinsicht wichtigen Beitrag leistet eine Demokratie somit, wenn sie ein institutionelles Setting zur Verfügung stellt, dass „arenas of citizenship“ (Michelman 1988, S. 1531) und/oder „sites“ generiert, die die herkömmliche „representative arena“ – das Parlament – ergänzen und damit für eine „dissemination of the sovereign’s presence and its transformation in an ongoing and regulated job of contesting and reconstructing legitimacy” (Urbinati 2006, S. 224) sorgen. In diesen „sites“ sind es integrative Institutionen, die „the idea of an institution as an embodiment and instrument of the community“ (March und Olsen 1989, S. 126) erfüllen – und zwar nicht solitär und exklusiv, sondern im funktionalen Zusammenhang mit anderen Institutionen. Die Ausübung von (Volks-)Souveränität wird damit nicht mehr Sache des Repräsentanten als Platzhalter eines einheitlichen Souveräns und schon gar nicht von Kartellparteien (Katz und Mair 1995; Kirchheimer 1957), die ihrer Repräsentationsfunktion großenteils verlustig gegangen sind, sondern zu einem Prozess multipler Repräsentation, der nicht mehr exklusiv im Parlament stattfindet (Urbinati 2006, S. 24), sondern vielmehr Sache des gesamten politischen Systems und seines institutionellen Arrangements ist. Insofern ist es folgerichtig, wenn Urbinati feststellt: “A democratic theory of representation compels us to go beyond the intermittent and discrete series of electoral instants (sovereign as the authorizing will) and investigate the continuum of influence and power created and recreated by political judgement and the way this diversified power relates to representative institutions.” (Urbinati 2006, S. 15 f.)

Dieses continuum of influence and power ist der Bereich, in dem politisierbare Themen (öffentlich) in den verschiedenen repräsentativen Institutionen zum Ausdruck kommen und über Akteure in ein System der Gewaltenteilung eingespeist werden, das nunmehr dafür Sorge zu tragen hat, dass die diversified powers und ihre multiplen Repräsentationsbeziehungen im politischen Prozess zum Tragen kommen und gegeneinander ausbalanciert werden. Konflikte, deren Befriedung und prozedural kanalisierte Austragung sind deshalb sowohl wesentlicher Bestandteil einer Repräsentationsbeziehung (Patzelt 1995, S. 375) als auch konstitutionalisierter Gewaltenteilung und -verschränkung in einer Demokratie. Opposition in demokratischen und speziell in parlamentarischen Systemen sollte konzeptuell und theoretisch in diese institutionelle Matrix multipler Repräsentation und Gewaltenteilung eingefügt werden – sie würde damit performativ dezentriert und es würden sich gleichzeitig Perspektiven auf neue Opportunitätsstrukturen für die oppositionelle Tätigkeit eröffnen. Wenn es

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zutrifft, dass die Politik ohnehin aus den etablierten Formen auswandert, geht es dabei nicht nur um schwindende Handlungsmöglichkeiten, sondern auch um neue Möglichkeiten oppositioneller Performanz – denn dort, wo sich Orte und Gelegenheiten des Opponierens „außerparlamentarisch in diffuse Räume verlagern“ und sich die „Empörungsorte des Protests – digital angetrieben und schwarmrelevant – dynamisch verstetigen, muss die Opposition diese Orte auch antizipieren. Wenn die repräsentative Demokratie mit ihren Strukturen und ihrem traditionellen Legitimitätsverständnis von Mehrheitsentscheidungen in Konkurrenz zu direktdemokratischen Entscheidungsverfahren gerät, entstehen neue Mitgestaltungsoptionen für die Opposition. (…) Wenn die Demokratie in Bewegung ist und Märkte für Wähler, Koalitionen und Medien entstanden sind, gilt dies auch für die Opposition, die sich am Marktgeschehen orientieren muss. Wenn traditionelle Lager im Parteienwettbewerb weichgespült sind und nur noch Kenner parteipolitische Unterschiede finden, gilt das auch gleichermaßen für die Opposition, die mehrdimensionaler daherkommt.“ (Korte 2014, S. 11)

Es ist diese „Mehrdimensionalität“ moderner parlamentarischer Opposition in einer institutionellen Matrix multipler Repräsentation und komplexer Gewaltenteilung, die es konzeptionell, theoretisch und dann auch empirisch besser einzufangen gilt. Der „zentrale institutionelle Ort“ parlamentarischer Opposition muss deswegen analytisch dezentriert werden, ohne ihn deswegen aufgeben zu müssen. Opposition ist eine Funktion des gesamten demokratischen (Institutionen-) Systems und insbesondere einer demokratischen Repräsentation als politischer Ressource und als fortlaufender dialektischer Prozess, n i c h t eines fiktiven „zentralen institutionellen Ortes“. Die Zeit scheint sowohl konzeptuell als auch theoretisch reif zu sein, für einen modernen Typus von Opposition, der nicht nur das gesamte politische System als potenzielle und aktivierbare Handlungssphäre nutzt (Brack und Weinblum 2011), sondern dabei auch eine Vielfalt von Möglichkeiten oppositioneller Performanz eröffnet. Das setzt u. a. auch Offenheit „für neue Stile, Techniken und Instrumente des Opponierens voraus. Grundsätzlich ist in einem Klima der öffentlichen Aversion gegen Debatten, das häufig mit einem großkoalitionären Parteienwettbewerb einhergeht, das Druckpotential einer Opposition beschränkt. Aber wer es schafft, auch öffentlich deliberative Alternativen aufzuzeigen, hat die Chancen zur Veränderung. Herstellen von Öffentlichkeit hat traditionell substanzielles Demokratiepotenzial.“ (Korte 2014, S. 14)

Die Aktivierung dieses Demokratiepotenzials sollte unter den Auspizien von postdemokratischer Narkose, technokratischer Politik, Depolitisierung und politischer

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Demobilisierung eines der Hauptanliegen heutiger Demokratien und ihrer „public spirited citizens“ sein, um sich der „pro-democratic purpose“ ihrer Verfassungen und der darauf gründenden politischen Systeme wieder zu versichern13, denn: „Political opposition gives voice. By losing opposition, we lose voice, and by losing voice we lose control of our own political systems“ (Mair 2007, S. 17).

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13Das

ist im Übrigen auch der – wenn auch anders kontextualisierte – r­epublikanischpartizipatorische Grundgedanke bei Häberle 1978 (dazu Lhotta 2016b und auch Lhotta und Zucca 2011).

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Deliberative Opposition? Der parlamentarische Beratungsprozess im Spannungsfeld zwischen Deliberation und Dualismus Andreas Schäfer 1 Einleitung Kann Deliberation zur Erfüllung von parlamentarischen Oppositionsfunktionen beitragen?1 Der vorliegende Beitrag zeigt die Rolle auf, die deliberative Praktiken für oppositionelles Handeln im Parlament spielen. Er vertritt die These, dass deliberative Prozesse einen zentralen Aspekt für das Verständnis und die Evaluation der Leistungsfähigkeit parlamentarischer Opposition darstellen. Ein solches Vorhaben hat sich zunächst mit dem – naheliegenden – Einwand auseinanderzusetzen, der Begriff der „deliberativen Opposition“ sei ein Oxymoron, also eine Zusammenfügung zweier gegensätzlicher, sich widersprechender Begriffe. „Deliberative Opposition“ kann aus zwei Perspektiven als ein Oxymoron erscheinen. Zunächst fällt auf, dass das Konzept der Opposition in der Deliberationsforschung kaum eine Rolle spielt. Auch landläufige Vorstellungen von deliberierenden Parlamenten sind von der Auffassung geprägt, dass die klare Trennung von Opposition und Mehrheit aufgelöst werden sollte. Dieses Parlamentsverständnis wird auch in den Medien immer wieder verbreitet.

1Ich

danke der Herausgeberin und den Herausgebern dieses Bandes sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der DVPW-Sektionstagung „Kritik, Kontrolle, Alternative: Was leistet die parlamentarische Opposition“ für wertvolle Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes.

A. Schäfer (*)  Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_4

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Die Rede von vermeintlichen ‚Sternstunden des Parlaments‘, wenn im Plenum Themen verhandelt werden, zu denen es keine festgelegten parteipolitischen Positionen gibt und zu denen sich dann interfraktionelle Abgeordnetengruppen bilden, verweist auf ein Idealbild des Parlaments, in dem deliberierend Parteibindungen überwunden werden und die Zugehörigkeit zur Opposition oder zur Regierungsmehrheit keine Bedeutung mehr hat. Dies ist häufig in der Auseinandersetzung um bioethische oder moralische Fragen der Fall. Das deliberierende Parlament braucht keine Opposition. Dieses Idealbild wird all jenen Parlamentarismustheoretikern als befremdlich erscheinen, die die spezifische verfassungspolitische Rolle des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem betonen. Dies ist die andere Perspektive, aus der heraus betrachtet das Konzept der „deliberativen Opposition“ widersprüchlich wirken muss. Nach dieser Lesart dient das Parlament im parlamentarischen Regierungssystem nicht dazu, Entscheidungen mittels Deliberation unter allen Abgeordneten zu erreichen – und dabei sogar möglichst große Übereinstimmung über die Grenzen aller Fraktionen hinweg zu erzielen. Stattdessen besteht die Funktion des Parlaments darin, mit stabilen Mehrheiten eine legitime Regierung zu bilden. Damit wird zugleich der Opposition eine rechtlich gesicherte Minderheitenrolle zugeordnet, aus der heraus sie für neue Mehrheiten werben kann. Der Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition dominiert das parlamentarische Geschehen. Im neuen Dualismus braucht das Parlament keine Deliberation. Dieser Beitrag sucht einen Weg jenseits dieser beiden konträren Perspektiven. In drei Schritten wird begründet, warum das Konzept der deliberativen Opposition gerade kein Oxymoron ist und dass ohne die Berücksichtigung der deliberativen Dimension parlamentarische Opposition nicht angemessen zu verstehen ist. Im ersten Schritt erfolgt die Darstellung der Forschungslage zur Rolle von Deliberation im parlamentarischen Entscheidungsprozess. Hier werden die beiden oben skizzierten Perspektiven, die der Parlamentarismusforschung einerseits und die der Deliberationsforschung andererseits, ausführlicher rekonstruiert (Kap. 2). Auf dieser Basis wird im zweiten Schritt ein Konzept und Modell parlamentarischer Deliberation entwickelt, das den parlamentarischen Kontext berücksichtigt und gleichzeitig anschlussfähig an die Debatten der deliberativen Demokratietheorie ist. Zentrale Annahme ist hierbei, dass der parlamentarische Kontext von zwei gleichermaßen legitimen Handlungslogiken geprägt ist – einer positionalen und einer diskursiven –, welche die besondere Form und Dynamik parlamentarischer Deliberation prägen (Kap. 3). Im dritten Schritt wird dieser analytische Rahmen auf die Analyse oppositioneller Deliberationspraktiken angewandt. Dabei stützt sich die Darstellung auf eine empirische Fallstudie und hier insbesondere auf 34 Experteninterviews mit Abgeordneten des 17.

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Deutschen Bundestags (Kap. 4). Die aus der empirischen Studie resultierenden Schlussfolgerungen zeigen unter anderem auf, welche weiterführenden Fragen aus der deliberativen Perspektive für die Analyse der Leistungsfähigkeit parlamentarischer Opposition abgeleitet werden können (Kap. 5).

2 (Neuer) Dualismus und Deliberation Deliberation ist in der Parlamentarismusforschung ein eher unterbelichtetes Thema. Das liegt vor allem daran, dass die Vorstellung eines deliberierenden Parlaments, in dem Parlamentarier sich gegenseitig mit ihren Argumenten überzeugen, dabei ihre Parteibindungen abstreifen und zu gemeinsamen Lösungen kommen, zu Recht von der Parlamentarismusforschung als ein Anachronismus kritisiert wird, der der Funktion des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystem nicht gerecht wird. Autoren wie Patzelt (1998), ­Schuett-Wetschky (1984) und Schüttemeyer (1999, 2009) werden nicht müde, zu betonen, dass die „altliberale“ Auffassung vom deliberierenden Parlament, das Fraktionsgrenzen überwindend als Ganzes der Regierung gegenübertritt, ein Zerrbild der verfassungspolitischen Idee und Wirklichkeit darstellt. Patzelt (1998) sieht in der Prävalenz solcher Auffassungen in der deutschen Öffentlichkeit gar einen „latenten Verfassungskonflikt“. Gegen dieses irreführende Ideal der ungebundenen Deliberation stellt der Parlamentarismusforscher den verfassungspolitisch gewollten Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition im Parlament. Der alte Dualismus zwischen Parlament und Regierung werde im parlamentarischen Regierungssystem durch diesen neuen Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition abgelöst, der die Funktion erfülle, stabile Regierungen zu legitimieren und gleichzeitig der Opposition eine rechtlich garantierte Funktion zuzuweisen. Deliberation scheint in diesem Kontext, in dem klare und stabile Mehrheitsverhältnisse vorherrschen und auch vorherrschen sollen, allenfalls eine symbolische Funktion zu haben. Sie dient dann der Darstellung von gesellschaftlichen Konflikten (Ismayr 2012, S. 307) und gibt der Minderheit die Möglichkeit, ihre Positionen zum Ausdruck zu bringen. Mit einem Einfluss von Deliberation auf den Beratungsprozess selbst wird aber nicht mehr gerechnet. Gegen diese Sichtweise soll im Folgenden am Fall des Deutschen Bundestages gezeigt werden, warum die Ausblendung der deliberativen Dimension wichtige Aspekte zum Verständnis des zeitgenössischen Parlamentarismus vernachlässigt. Es soll belegt werden, dass gerade das Spannungsverhältnis zwischen (neuem) Dualismus und Deliberation parlamentarische Beratungsprozesse nachhaltig prägt. Ohne dieses Spannungsverhältnis, so die These, lässt sich die

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parlamentarische Praxis von Regierungsmehrheit und Opposition weder normativ noch analytisch hinreichend bestimmen. Die Argumentation geht dabei explizit nicht davon aus, dass das Spannungsverhältnis zwischen Deliberation und Dualismus einen Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit darstellt. Im Gegenteil besteht die grundlegende Annahme darin, dass das moderne Parlament gerade dadurch gezeichnet ist, dass in ihm zwei gegenläufige Legitimationskriterien mit gleicher Gültigkeit zum Tragen kommen. Das sind zum einen die den Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition tragenden und durch Wahlen legitimierten Mehrheitsverhältnisse. Zum anderen ist es das Prinzip der wechselseitigen Rechtfertigung und Kritik von kollektiven Entscheidungen mittels Deliberation. Beide Prinzipien stehen offensichtlich in einem Spannungsverhältnis, weil Deliberation eine gewisse Offenheit für Argumente im Beratungsprozess einfordert, die aber durch die Mehrheitsverhältnisse, welche bereits vor Beginn der Beratung bestehen, aller Wahrscheinlichkeit nach eingeschränkt wird. Ein Blick in die Literatur der empirischen Deliberationsforschung verdeutlicht, dass dieses spezifische Verhältnis zwischen den beiden legitimen Prinzipien im Parlament bisher nicht angemessen in der wissenschaftlichen Analyse erfasst wurde. Die wenigen Studien, die sich überhaupt mit parlamentarischer Deliberation auseinandersetzen, wenden in der Regel ein generalisiertes Konzept von Deliberation an, um damit parlamentarische Beratungsprozesse zu evaluieren. Die sehr einflussreiche Studie von Steiner und Kollegen (2004) entwickelt beispielsweise einen Diskursqualitätsindex (DQI), der sich an der Diskursethik von Habermas orientiert. Der DQI bildet einen Maßstab, mit dem daraufhin die Diskursqualität in Plenardebatten unterschiedlicher Parlamente gemessen und verglichen wird. Die deliberative Bilanz des Deutschen Bundestags fällt dabei im Ergebnis bescheiden aus: Gemessen an den theoretischen normativen Erwartungen zeigt sich eine geringe Diskursqualität, und Deliberation kann in der Regel auch nicht das rigide Abstimmungsverhalten bestehender Mehrheiten beeinflussen, was die Autoren an anderer Stelle pointiert zusammenfassen mit „power trumped discourse“ (Bächtiger et al. 2005, S. 235). Hier sollte die Analyse aber nicht enden – und zwar aus dem bereits genannten Grund. Die in dieser und in ähnlichen Studien (z. B. Landwehr und Holzinger 2010) vorgenommene Operationalisierung des Deliberationskonzeptes und die Modellierung von Deliberationsprozessen lassen den Umstand außer Acht, dass der parlamentarische Kontext durch unterschiedliche, aber gleichermaßen legitime Handlungsorientierungen gekennzeichnet ist. Die Analyse parlamentarischer Deliberation muss also von einer gewissen funktionalen Differenzierung des Parlaments insgesamt und der Arenen innerhalb des Parlaments ausgehen. Diesen Umstand berücksichtigt der skizzierte Forschungsstrang

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kaum, was sich an zwei Aspekten der Studie von Steiner und Kollegen verdeutlichen lässt. Zum einen differenzieren die Autoren nicht zwischen Deliberation im Plenum und solcher in anderen Arenen wie den Ausschüssen, obwohl öffentliche Plenardebatten potenziell andere demokratietheoretische Funktionen erfüllen sollen als nicht-öffentliche Ausschussberatungen. Zum zweiten werten die Autoren in ihrer Qualitätsmessung Konsensorientierung und konsensuale Annäherung höher als Konfliktorientierung und die Aufrechterhaltung bestehender positionaler Gegensätze. Auch diese analytische Entscheidung greift für den parlamentarischen Kontext zu kurz, in dem ja demokratisch legitimierte Positionen miteinander konkurrieren und in Widerstreit treten sollen (Lord und Tamvaki 2013). Darüber hinaus muss angezweifelt werden, ob eine Fokussierung der Deliberationsforschung auf die konsensualen Aspekte die demokratietheoretischen Potenziale des deliberativen Modells hinreichend erfassen kann. Dies scheint ohne die gleichwertige Berücksichtigung von legitimer politischer Opposition sowie von konfrontativen Formen des Protestes (Deitelhoff und Thiel 2014), von parteilichen Formen des Argumentierens (White und Ypi 2011) und ganz grundsätzlich ohne einen weiteren Fokus auf die dissensuale Dimension (White und Farr 2012) im deliberativen Prozess nicht möglich. Denn ein faktischer Konsens kann ebenso Ergebnis manipulativer Beeinflussung oder struktureller Einschränkungen des Kommunikationsprozesses sein, welche nur durch Kritik aufgedeckt werden können (Habermas 1981, S. 246 f.). Diese genannten Aspekte erweisen sich jedoch gerade für den parlamentarischen Beratungsprozess als von zentraler Bedeutung und sollten daher nicht aus der Analyse ausgeschlossen werden. Wenn wir also die Rolle von Deliberation im Parlament im Allgemeinen und für parlamentarische Oppositionspraktiken im Besonderen bestimmen und analysieren wollen, bedarf es einer dem spezifischen Kontext angemessenen Konzeptualisierung und Modellierung. Diese soll im nächsten Schritt entwickelt werden.

3 Deliberation als politische Praxis im parlamentarischen Kontext Deliberation ist einerseits eine spezifische Kommunikationspraxis, die sich in unterschiedlichen politischen Kontexten empirisch identifizieren lässt. Andererseits lässt sich Deliberation als ein theoretisches Konzept betrachten, das vor allem in der deliberativen Demokratietheorie mit ganz bestimmten Bedeutungsinhalten charakterisiert wird. Eine kontextualisierte Konzeptualisierung muss also

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sowohl an die theoretische Diskussion anschlussfähig sein als auch ermöglichen, die entsprechenden kommunikativen Praktiken im Parlament zu erfassen. Diesem Zweck soll folgende Definition dienen: Deliberation ist der entscheidungsbezogene Austausch von Argumenten („arguing“) zwischen gleichrangigen Entscheidungsträgern unter der Bedingung der Öffentlichkeit. Dieses Deliberationskonzept umfasst also vier notwendige und gemeinsam hinreichende Bedingungen. Den Kern von Deliberation bildet, erstens, das Argumentieren. An diesem Prozess des Argumentierens kann nur teilnehmen, wer sich prinzipiell darauf einlässt, für seine Stellungnahmen Gründe zu liefern und diese gleichzeitig der kritischen Prüfung und den argumentativen Einwänden der Gegenseite zu öffnen. Wer sich an diese basalen Spielregeln nicht hält, wird Schwierigkeiten haben, als legitimer Kommunikationspartner akzeptiert zu werden (Habermas 2007). Unter Deliberation soll zweitens nicht jeglicher Austausch von Argumenten verstanden werden, sondern nur solcher, der sich auf das Fällen von in der Regel umstrittenen kollektiven Entscheidungen bezieht – sei es in direkter Weise wie bei Abgeordneten oder in indirekter Weise bei Wählerinnen und Wählern (Niesen 2014). Dies bedeutet allerdings nicht, dass Deliberation ein Entscheidungsmechanismus ist (Gutmann und Thompson 2004, S. 18 f.). Die Entscheidungsbezogenheit kommt stattdessen dadurch zum Ausdruck, dass Deliberation im besten Fall den Willensbildungsprozess beeinflusst, auf dessen Basis Entscheidungen mittels eines geeigneten Mechanismus (z. B. durch Mehrheitsentscheid) getroffen werden (Benhabib 1996, S. 72; Habermas 1990, S. 42). Die dritte Dimension bezieht sich auf die formale Gleichheit der an der Beratung beteiligten Entscheidungsträger. Deliberation verträgt sich nicht mit autoritativer Entscheidungsfindung, weil jeder Geltungsanspruch mit der Akzeptanz seiner kritischen Infragestellung einhergehen muss (Habermas 1987) – hier liegt auch ihre demokratische Dimension. Entsprechend lässt sich der demokratietheoretische Sinn des Satzes von dem „eigentümlich zwanglosen Zwang[s] des besseren Arguments“ (Habermas 1987, S. 52, 53) deuten: Die rationale Zustimmung des Kommunikationspartners kann nicht äußerlich erzwungen werden, sondern hängt von dessen autonomem Urteil über die Überzeugungskraft der vorgebrachten Begründung ab. Diese Urteilsfähigkeit kommt jeder Person unabhängig vom sozialen Status zu und kann durch demokratische Teilhaberechte abgesichert werden. Abschließend handelt es sich viertens nur dann um Deliberation, wenn der Beratungsprozess zwar nicht notwendigerweise in jeder Phase, aber doch an entscheidenden Stellen ein öffentlich einsehbares und öffentlich zugängliches Unterfangen ist (Chambers 2004; Cohen 1989, S. 17; Habermas 1990, S. 38). Diese Konzeptualisierung beansprucht, sowohl der Diskussion in der deliberativen Demokratietheorie gerecht zu werden als auch eine Operationalisierung

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zu liefern, mittels derer die entsprechenden kommunikativen Praktiken in den unterschiedlichen Phasen und Arenen parlamentarischer Entscheidungsfindung identifiziert werden können. Eine wichtige Implikation einer solchen Konzeptualisierung ist, dass weder äußere Form noch dahinterliegendes Motiv von Deliberation eindeutig festgelegt sind, sondern gewisse, noch näher zu spezifizierende Varianzen zulassen. Wie ist nun der parlamentarische Kontext theoretisch zu modellieren? Das oben beschriebene Spannungsverhältnis zwischen Deliberation und Dualismus sowie die dahinter stehenden Legitimationsprinzipien lassen sich analytisch fruchtbar in institutionalistischen Kategorien fassen (Schäfer 2017b). Demnach ist der parlamentarische Kontext durch das Spannungsverhältnis zweier institutioneller Logiken charakterisiert, die beide demokratische Legitimität beanspruchen können. Die diskursive Logik beruht auf dem Prinzip des offenen Beratungsprozesses und ist durch die einschlägigen formalen und informellen Verfahrensregeln des Parlaments implementiert. Ihr Legitimationspotenzial gewinnt die diskursive Logik durch die Orientierung an argumentativer Rechtfertigung und Kritik von Entscheidungen, die für alle Beteiligten prinzipiell offen ist (Habermas 1994, S. 138). So können Entscheidungen nicht einfach auf Basis von Mehrheitsverhältnissen verabschiedet werden, sondern müssen durch ausdifferenzierte Beratungsstufen (Lesungen, Ausschussberatungen, Anhörungen, Plenardebatten etc.) vorbereitet werden, was den Entscheidungsprozess insgesamt entschleunigt. Dabei geht es nicht nur darum, die Vor- und Nachteile bestimmter Entscheidungsoptionen aus Sicht der Opposition und Regierungsmehrheit darzulegen (Palonen 2018), was der Idee des klassischen Parlamentarismus entsprechen würde. Es gilt vielmehr ganz grundsätzlich, das Diskursprinzip dadurch zur Geltung zu bringen, dass von politischen Akteuren in parlamentarischen Beratungsprozessen erhobene Geltungsansprüche begründet und offen für Kritik sein müssen, um die Legitimität von verbindlichen Entscheidungen zu gewährleisten. Denn nur so besteht die Möglichkeit, dass Herrschaftsadressaten getroffene Entscheidungen aus rationalen Gründen akzeptieren oder gegebenenfalls ablehnen und Argumente für ihre Änderung vorbringen können. Gegenläufig hierzu ist die positionale Logik. Sie beruht auf dem Prinzip der Festlegung auf durch Wahlen und Abstimmungen legitimierten Positionen und wird durch Repräsentationsverhältnisse implementiert. Beispielsweise treten Abgeordnete im parlamentarischen Verfahren nicht nur als Repräsentanten von Regionen, sondern auch von Parteien bzw. Fraktionen auf, deren Positionen sie durchzusetzen versuchen. Dies entspricht der Legitimitätsvorstellung, die hinter dem neuen Dualismus steht. Beide Logiken beanspruchen auf der parlamentarischen Ebene also verschiedene Legitimationsquellen und treten

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im Beratungs- und Entscheidungsprozess in Spannung zueinander. Zwar lässt sich prinzipiell die Legitimität von Mehrheitspositionen auch diskurstheoretisch begründen, wenn man von dem Anspruch ausgeht, dass die dem parlamentarischen Prozess vorausgehenden Wahlergebnisse von diskursiven Auseinandersetzungen in der demokratischen Öffentlichkeit vorbereitet und durch eine darauf aufbauende Meinungsbildung der Wählerinnen und Wähler beeinflusst wurden (Habermas 2005, S. 390). Dennoch resultiert aus jeder Wahl und Abstimmung eine zumindest relativ geschlossene Festlegung auf alternative Positionen im demokratischen Prozess. Während die diskursive Logik also eine Offenheit für den argumentativen Austausch im Beratungsprozess einfordert, legt die positionale Logik nahe, Positionen möglichst unverändert in die Entscheidung einfließen zu lassen. Unterschiedliche Phasen und Arenen des parlamentarischen Prozesses sind nun auch in Abhängigkeit vom Entscheidungsgegenstand von verschiedenen Verhältnissen zwischen diskursiver und positionaler Logik geprägt. So ist anzunehmen, dass die Balance zwischen diskursiver und positionaler Logik einerseits vom Typ des Konflikts sowie seiner Polarisierung und dem Ideologisierungsgrad bestimmt wird. Andererseits wird sie geprägt von dem jeweiligen institutionellen Kontext, d. h. davon, ob die Beratung im Plenum, im Ausschuss oder in der Anhörung stattfindet oder ob sie formell oder informell vonstattengeht. Die jeweilige Konstellation wirkt sich darauf aus, ob überhaupt und, wenn ja, welche Formen von Deliberation zum Tragen kommen. Je nach Konstellation und Handlungsmotiv kämen dann stärker integrative, auf Kooperation ausgerichtete oder stärker konfrontative, auf Kontestation zielende Formen von Deliberation zum Einsatz. Kooperative und kontestative Formen von Deliberation werden selbstverständlich in diversen Mischungsverhältnissen auftreten. Idealtypisch lassen sich die beiden funktionalen Varianten wie in Tab. 1 dargestellt charakterisieren: Der Kooperationstyp von Deliberation äußert sich in einer lösungsorientierten und kollegialen Form. Er ist vor allem in der intrafraktionellen Positionsbildung zu erwarten, wo aufgrund des hohen Einigungsbedarfs das Motiv der Konsensfindung oder zumindest der gegenseitigen Überzeugung vorherrscht. Darüber hinaus kann er aber auch in interfraktioneller Kommunikation greifen, wenn beispielsweise die Fachkollegialität innerhalb und im Kontext des Ausschusses die Parteibindungen zu einem gewissen Grad relativiert. Dies kann teils in formellen, insbesondere aber in informellen Kommunikationssituationen der Fall sein. Demgegenüber steht der Kontestationstyp von Deliberation. Er zeichnet sich durch Konfliktorientiertheit und Abgrenzungsdiktion aus. Er ist vor allem in interfraktionellen und formellen Kommunikationssituationen wie der ­Plenardebatte,

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Tab. 1   Typologische Charakterisierung von Deliberationstypen Typologische Charakterisierung

Deliberation als ... ... Kooperation

... Kontestation

Realisationsform

Lösungsorientiert, kollegial, Formell und informell

Konfliktorientiert, Abgrenzungsdiktion, formell

Arena

Fraktionsgremien, Teils Ausschuss, Ausschusskontext

Plenum, Teils Ausschuss, Selten auch Fraktion

Motiv

Überzeugung, Konsensorientierung

Kritik, Profilierung, Rechtfertigung

Funktion

Positionsbildung, Beeinflussung

Politisierung, Wettbewerb

Quelle: eigene Darstellung

teils auch des Ausschusses, zu erwarten. Er ist aber ebenso innerhalb der Fraktionen vorstellbar, wenn beispielsweise Konflikte zwischen fachpolitischen Vertretern unterschiedlicher Bereiche oder zwischen Parteiströmungen auftreten. Als Motive treten Profilierung bzw. Rechtfertigung oder Kritik in den Vordergrund, die auf eine Politisierung und damit Öffnung von Entscheidungen zielen.

4 Deliberative Oppositionspraktiken am Fall des Deutschen Bundestags Die folgende Darstellung rekonstruiert die charakteristischen Deliberationspraktiken der parlamentarischen Opposition, wie sie sich im Spannungsfeld von Diskurs- und Positionslogik finden lassen. Sie nutzt Experteninterviews mit 34 Mitgliedern des 17. Deutschen Bundestages, die im Rahmen einer Fallstudie zur Rolle von Deliberation im parlamentarischen Entscheidungsprozess geführt wurden; die Aussagen der Gesprächspartner werden teils paraphrasiert, teils wörtlich und anonymisiert dargestellt (nähere Angaben in Schäfer 2017a). Die Analyse ermöglicht eine Rückbindung der theoretischen Diskussion an das Betriebswissen der im Feld agierenden und sozialisierten Akteure (Kelle 2003; Meuser und Nagel 2009). Sie dient auch dazu, die theoretischen und konzeptuellen Vermutungen zu überprüfen und erfahrungsbasiert einzuordnen.

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4.1 Erhöhung des Rechtfertigungsdrucks Die positionale Logik liefert den beiden Gruppen, der Opposition und der Regierungsmehrheit, Anreize, ihre fraktionellen oder koalitionären Positionen, soweit diese feststehen, möglichst unbeschadet durch den parlamentarischen Beratungs- und Entscheidungsprozess zu bringen. Eine disziplinierte Regierungsmehrheit ist zwar im Normalfall nicht auf eine Zustimmung der Opposition angewiesen, sie muss aber aufgrund der diskursiven Logik des Parlaments dennoch ihre Positionen im Laufe des parlamentarischen Verfahrens rechtfertigen und gegen Kritik verteidigen. Aus der Perspektive der Regierungsmehrheit muss es deshalb vorteilhaft erscheinen, über bestimmte Themen nicht oder nur in beschränktem Umfang in interfraktionellen Arenen zu beraten, um die Angriffsflächen für die kritischen Argumente vonseiten der Opposition möglichst klein zu halten. Dies dürfte besonders für Kompromisspositionen gelten, von denen nur Teile der Koalition wirklich überzeugt sind. Man denke beispielsweise an Fälle, in denen es bereits eine substanzielle Zahl von Abweichlern aus den Regierungsfraktionen gibt wie beispielsweise bei den Griechenlandhilfen in Folge der Finanz- und Eurokrise. Hier könnten errungene Mehrheitspositionen durch entsprechende Kritik der Opposition, die mit Gegenargumenten parteiinterner Kritiker korrespondiert, weiter geschwächt werden. Die aus Sicht der der Opposition angehörenden Interviewpartner naheliegende Strategie der Regierungsmehrheit besteht dann in dem Versuch, die Beratungszeit zum Beispiel durch spätes Einreichen von Änderungsanträgen zu verkürzen und dadurch dem Zwang zur Rechtfertigung zu entfliehen. Aufseiten der Opposition besteht umgekehrt ein Anreiz, den Rechtfertigungsdruck auf die Regierungsmehrheit zu erhöhen. Je klarer und stabiler die Mehrheitsverhältnisse sind, desto weniger Einigungsbedarf besteht zwischen Koalition und Opposition. Denn die Koalition kann ihre eigenen Positionen ohne Zustimmung der Opposition durchsetzen und umgekehrt die Vorschläge der letzteren ablehnen, was in der Regel auch geschieht. Für eine offene Kooperation besteht daher – von Ausnahmen abgesehen – wenig Anlass, wie sowohl Interviewpartner der Regierungsmehrheit als auch der Opposition im Interview regelmäßig bestätigen. Die Opposition kann unter diesen Bedingungen ihre eigenen Positionen auch nicht durch Verhandlungsangebote zur Geltung bringen, weil die Regierungsmehrheit auf deren Zustimmung nicht angewiesen ist. Daher bleiben nur die unterschiedlichen Formen der Deliberation als Mittel, um Oppositionsziele zu verfolgen.

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Der parlamentarische Kontext liefert Bedingungen, die sicherstellen, dass dies trotz bestehender Mehrheitsverhältnisse gewisse Erfolgsaussichten haben kann. Neben der Tatsache, dass keine Regierungspartei gegenüber dem politischen Gegner in der internen Begegnung argumentativ schlecht aussehen will, spielt dabei die Wahrnehmung der Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle, der gegenüber nicht nur die Verfügung über die Mehrheit, sondern idealerweise auch über die besseren Argumente demonstriert werden soll. Deshalb und wegen der in die prozeduralen Regeln des parlamentarischen Prozesses eingeschriebenen diskursiven Logik muss sich die Regierungsmehrheit den argumentativen Herausforderungen der Opposition stellen, wie in folgendem Zitat verdeutlicht wird: „(…) da ist unsere parlamentarische Demokratie auch so stark, dass sie Minderheiten relativ gute Rechte einräumt – also das Wort nehmen zu können – (…) die Chance zu nutzen, zu konfrontieren und – man wird immer sagen dann: ‚Der Ball liegt dann im Spielfeld‘, (…) dazu gehören auch viele andere Mechanismen, Öffentlichkeit zum Beispiel gehört dazu, dass andere den Ball mit aufnehmen müssen oder mitspielen müssen, die können nicht sagen: ‚Da will ich nichts mit zu tun haben‘, also es gibt eben viele andere Formen auch von Maßnahmen – jetzt um im Bild das zu sagen, um gegebenenfalls auch eine Mehrheit zum Mitspielen zu zwingen“ [Interview 34, Opposition].

Die Regierungsmehrheit kann also dem Rechtfertigungsdruck letztlich nicht ausweichen, wenn es der Opposition gelingt, potenziell überzeugende Gegenargumente zu deren Positionen zu liefern. Ganz abgesehen von Fragen der tatsächlichen Beeinflussung und Überzeugung kann somit sichergestellt werden, dass eine zentrale Funktion parlamentarischer Deliberation erfüllt wird – nämlich durch Kritik die Rechenschaftspflicht von Entscheidungsträgern zu stärken: „(…) das ist ja auch ganz die Rolle des Parlamentes, nicht Sachen einfach durchzuwinken, weil wenn – man kann überall und wird überall dazu befragt und muss natürlich dann auch sich für seine Entscheidungen rechtfertigen“ [Interview 26, Opposition].

4.2 Deliberative Grundstrategien der Opposition: Kooperation oder Kontestation Um ihre Rolle effektiv auszufüllen und möglicherweise Einfluss auf den Entscheidungsprozess zu nehmen, muss die Opposition – so lässt sich aus den Interviews schließen – zwischen zwei unterschiedlichen deliberativen Grundstrategien

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wählen, die den oben skizzierten Varianten von Deliberation entsprechen, nämlich: Kooperation oder Konfrontation. Ein direkter Einfluss ist unter bestimmten Umständen und in Einzelfällen durch ein kooperatives Vorgehen durchaus möglich, wie unten gezeigt werden wird. Die vorherrschende Methode besteht aber darin, durch eine konfrontative Argumentationsstrategie die Positionen und Rechtfertigungen der Regierungsmehrheit herauszufordern und so indirekte Wirkungen zu erzeugen. Welche Strategie erfolgversprechend erscheint, hängt auch von der Struktur des Themas, d. h. seiner Salienz und dem betreffenden parteipolitischen Polarisierungsgrad ab. Wenn es sich um Themen handelt, die nicht zu große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und kein öffentlich ausgetragener Konflikt vorliegt, kann der Versuch gelingen, mittels kooperativer Deliberationspraktiken in informellen Arenen des Parlaments direkten Einfluss auf die Regierungsmehrheit zu gewinnen. Der Prozess wird von Interviewpartnern aus der Opposition folgendermaßen geschildert: „(…) wenn uns ein Thema ganz wichtig ist und wir sagen: ‚Okay, die Lösung des Themas ist uns wichtiger als damit politische Punkte zu sammeln‘, dann stelle ich keinen Antrag, dann suche ich das Gespräch mit ein oder zwei Abgeordneten, mit denen man reden kann von Regierungsfraktionen, und erkläre denen das Problem, erkläre denen die Lösung und sage: ‚Wollt ihr es lösen oder nicht?‘ Wenn sie es lösen wollen, gibt es von uns keinen Antrag, wenn sie es nicht lösen wollen, mache ich einen Antrag logischerweise“ [Interview 12, Opposition].

Diese informelle Kontaktaufnahme zu Abgeordneten der Regierungsmehrheit basiert in der Regel auf fachpolitischen Vertrauensverhältnissen unter Berichterstattern der verschiedenen Fraktionen für das entsprechende Themenfeld. Diese Einflussnahme kann allerdings nur durch informelle Beratung und unter Verzicht auf das öffentliche Ausspielen der Oppositionsrolle gelingen, wie folgende Aussage eines Interviewpartners illustriert: „(…) jetzt in der Opposition, ich entdecke ein Problem im Rentenrecht, dann nutzt mir das erst mal noch gar nichts, weil ich habe ja keine Mehrheiten. Also muss ich die Regierungsfraktionen, also mein Pendant auf der anderen Seite davon überzeugen, dass wir da was tun müssen. (…) Also man unterschätzt das, was die Berichterstatter für einzelne Themen aus den unterschiedlichen Fraktionen, wie sie miteinander arbeiten, das unterschätzt man, das kriegt man auch öffentlich gar nicht so sehr mit“ [Interview 30, Opposition].

Neben diesen Einflussmöglichkeiten über informelle Deliberation kann die Opposition mitunter auch Überzeugungseffekte im Zuge von Lernprozessen auf-

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seiten der Regierungsmehrheit erzielen. Ein Beispiel schildert ein Vertreter der Regierungskoalition: „(…) in der letzten Sitzungswoche haben wir einen Antrag gehabt wegen Sanktionen (im) SGB-II-Bereich, (…) da haben wir uns schon in der AG Gedanken gemacht (…) und da hast du dann natürlich auch Kollegen beispielsweise bei den Grünen natürlich auch mit guten Ideen dabei und sagst: ‚Okay, das, was die da drin schreiben, ist nicht so dumm, wir werden es zwar eben hier jetzt aus formellen Gründen ablehnen, aber inhaltlich nehmen wir uns da schon einen Teil von den Sachen mit, die sie da so hingeschrieben haben“ [Interview 14, Regierungsmehrheit].

Aus Sicht der Opposition muss aber immer im Einzelfall abgewogen werden, ob die Kooperationsstrategie einer Kontestationsstrategie vorgezogen werden sollte, weil nur durch letztere die Chance besteht, im gesellschaftlichen Diskurs als politische Alternative wahrgenommen zu werden.

4.3 Indirekte Beeinflussung und Profilierung als Alternative Geht die Opposition den Weg der Konfrontation durch argumentative Herausforderung von Mehrheitspositionen, so kann dies entweder eher auf eine indirekte Beeinflussung der Regierungsmehrheit ausgerichtet sein oder auf politische Profilierung zielen, wie aus den Aussagen von Interviewpartnern aufseiten der Opposition hervorgeht. Im ersten Fall geht es darum, einen diskursiven Druck in der Öffentlichkeit zu erzeugen, der die Regierungsmehrheit in die gewünschte Richtung zu bewegen vermag. Dies wird durch das Setzen von Themen und durch die Mobilisierung von Fachöffentlichkeiten bzw. Betroffenengruppen versucht. Im letzteren Fall beruht die Strategie im Wesentlichen darauf, sich durch möglichst überzeugende Kritik an den Positionen der Regierung(smehrheit) und der Anfechtung ihrer Rechtfertigungen politisch als bessere Alternative darzustellen. In beiden Fällen müssen die vorgebrachten Argumente offensichtlich entweder für die breite Öffentlichkeit oder für relevante Teilöffentlichkeiten so anschlussfähig und überzeugend sein, dass die Regierungsmehrheit mit ihrer eigenen argumentativen Rechtfertigung unter Druck gerät. Indirekte Beeinflussung durch Kontestation kann durch überzeugende Argumentationsstrategien erreicht werden. Da auch die Regierungsmehrheit nur über eine begrenzte Informationsverarbeitungskapazität verfügt, konzentriert sie sich in der Regel zunächst auf das Abarbeiten der im Koalitionsvertrag

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festgelegten Themen, und versucht so die eigene Aufmerksamkeit effizient einzusetzen. Dadurch erwachsen der Opposition wiederum Gelegenheiten, vernachlässigte Themen aufzunehmen und auf die politische Agenda zu setzen, wie sowohl vonseiten der Opposition als auch der Regierungsmehrheit berichtet wird. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Praxis der Regierungsmehrheit besteht in der zeitverzögerten Aneignung von Vorschlägen und Argumenten der Opposition, welche von befragten Mitgliedern der Regierungsmehrheit als ein allgemein bekanntes und relativ häufig vorkommendes Vorgehen beschrieben wird (siehe auch Sebaldt 2002, S. 56 ff.). Sie wird von einem Interviewpartner folgendermaßen erläutert: „(…) [Es] bleibt notwendigerweise links und rechts der ein oder andere Punkt liegen, den eine Opposition, wenn sie clever ist, aufgreift und das zu einem eigenständigen Thema macht. Der Antrag oder der Gesetzentwurf wird (…) durch die Koalitionsfraktionen pflichtschuldig abgelehnt, nicht ohne das Thema im Hinterkopf zu behalten, um meinetwegen in einem dreiviertel Jahr einen leicht veränderten Gesetzentwurf einzubringen (…)“ [Interview 5, Regierungsmehrheit].

Diese Formen der stillschweigenden Übernahme müssen aus Sicht der Opposition in der Regel akzeptiert werden, denn: „(…) zu guter Oppositionsarbeit gehört natürlich nicht einfach nur zu sagen: ‚Das ist Müll‘, sondern eben Alternativen aufzuzeigen. So, und da geht man naturgemäß das Risiko ein, dass dann diese Alternativen dann auch mal geklaut werden“ [Interview 10, Opposition]. Außerdem eröffnen diese Praktiken der Übernahme substanzielle Einflussmöglichkeiten der Opposition, die in einem gewissen Wahrscheinlichkeitsrahmen erwartbar sind. Gleichzeitig können solche Übernahmen als Folge des deliberativen Prozesses verstanden werden, ohne den der Austausch der Vorschläge und ihrer Begründungen nicht vollzogen worden wäre. Jenseits solcher inhaltlichen Übernahmen kann es der Opposition gelingen, nicht bearbeitete Themen auf die politische Agenda zu bringen, indem durch stetige, auch formale Thematisierung im parlamentarischen Beratungsprozess andere Fraktionen veranlasst werden, selbst hierzu Stellung zu nehmen, schon allein um im Wettbewerb um Aufmerksamkeit nicht ins Hintertreffen zu geraten, wie folgendes Zitat veranschaulicht: „(…) Wenn ich eben ständig der Einzige bin, der bestimmte Sachen nachfragt, dann hat das schon zur Wirkung, dass schon deshalb, dass da nicht immer bloß die Opposition im Protokoll vorkommt, dass die anderen dann schon deshalb aktiv werden, weil einer das macht. (…) Aber so vollziehen sich die Austauschprozesse.

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Meistens nicht eins zu eins, wie (…): ‚Du musst doch merken, dass ich das bessere Argument habe‘ (…), aber über diesen sozusagen Wettbewerb im parlamentarischen Verfahren, zum Teil Übernahme durch die Koalition von Vorschlägen aus der Opposition, Druck entfalten über Betroffene und Rezipienten der Vorschläge“ [Interview 24, Opposition].

Auch das formelle Fragerecht betrachten die Befragten als sehr hilfreiches Instrument. Es kann laut der Opposition zugehörenden Interviewpartnern dazu genutzt werden, der Regierung kritische Informationen über ihre eigenen Vorhaben abzunötigen, die wiederum Betroffenen und Fachöffentlichkeiten zum Beispiel als Inkohärenzen oder Widersprüchlichkeiten in der Mehrheitsposition präsentiert werden können. Interessant dabei ist, dass für diese Art der Auseinandersetzung um Positionen von Interviewpartnern gerade jenes Format im Beratungsprozess des Bundestages als besonders geeignet betrachtet wird, das für eine lösungsorientierte und kollegiale Beratung weniger sinnvoll erscheint: Nämlich die öffentliche Plenardebatte, die medial übertragen wird. Diesen Wirkungszusammenhang erklärt ein Interviewpartner folgendermaßen: „(…) weil natürlich alle Leute hier ein sehr gutes Gefühl dafür haben, wo ist die eine Seite gut aufgestellt und wo ist sie schlecht aufgestellt. Also man hat immer auch über die Parteigrenzen hinweg ein – wenn man es ehrlich meint, haben alle ein sehr einheitliches Gefühl, wer hat eine Debatte gewonnen und wer hat sie verloren. Also wer sieht argumentativ gut aus und wer sieht schlecht aus. Und wenn jemand das Gefühl hat, er sieht schlecht aus, dann ist er natürlich eher bereit, seine Position zu hinterfragen und (…) die Argumente der anderen in Betracht zu ziehen als umgekehrt“ [Interview 26, Opposition].

Die Regierungsmehrheit hat schon aus rein strategischen Erwägungen heraus einen hohen Anreiz, gute Argumente nicht zu ignorieren, denn es gilt: „Mensch, da gibt es ein Argument, an dem können und wollen wir uns nicht verweigern (…), wenn wir dieses oder jenes nicht aufgreifen würden, dann hat die Opposition einfach so einen (…) starken öffentlichen Auftritt, das wollen wir vermeiden“ [Interview 1, Opposition]. Insgesamt befindet sich die Opposition mit ihrer deliberativen Kontestationsstrategie allerdings in einer ambivalenten Rolle. Sie will einerseits die Politik der Mehrheit direkt oder indirekt beeinflussen. Andererseits will sie sich als bessere Alternative profilieren. Letzteres kann aber nur gelingen, wenn ihr die Autorenschaft über erfolgreiche Argumente und Ideen in der öffentlichen Wahrnehmung

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nicht verlorengeht. Um ihre Funktion als politische Alternative zu erfüllen, muss die parlamentarische Opposition also stets abwägen, wo die sinnvolle Grenze zwischen erfolgreicher Beeinflussung und inhaltlicher Abgrenzung gegenüber der Regierungsmehrheit verlaufen soll.

5 Fazit: Zur Leistungsfähigkeit deliberativer Oppositionspraktiken Die hier vorgestellten theoretischen Argumente und empirischen Illustrationen sollten die normative und analytische Plausibilität einer deliberationstheoretischen Perspektive auf die Rolle der Opposition im parlamentarischen Entscheidungsprozess aufzeigen. Oppositionsfunktionen lassen sich im deliberativen Rahmen interpretieren. Dies gilt insbesondere für die Funktionen der Kritik und der Artikulation von politischen Alternativen. Hier kann die „deliberative Opposition“ im Zuge einer kontestativen Kommunikationsstrategie ihr Hauptbetätigungsfeld finden. Darüber hinaus bestehen aber auch für die Opposition im Rahmen kooperativer Kommunikationsstrategien begrenzte Möglichkeiten der unmittelbaren Politikgestaltung, welche Mehrheitspositionen unter Umständen ein Korrektiv liefern, wenn bestimmte Argumente, Probleme oder Perspektiven vernachlässigt wurden. Wie wahrscheinlich ist es, dass die parlamentarische Opposition über Deliberationsprozesse in der skizzierten Weise Einfluss nehmen kann? Die direkten Einflussmöglichkeiten durch informelle Deliberation sind auf bestimmte kleinere Sachfragen beschränkt und hängen auch von günstigen Bedingungen ab wie einer kooperativen Ausschusskultur und fachkollegialem Vertrauen unter betreffenden Abgeordneten. Wie viel die Opposition über kontestative Deliberationsprozesse erreichen kann, hängt stark davon ab, ob es gelingt, mit Argumenten öffentlichen Druck zu erzeugen. Dies ist beispielsweise im Rahmen öffentlicher Anhörungen wahrscheinlicher als in geschlossenen Ausschusssitzungen. Klar ist aber auch, dass diskursive Macht von zeitlichen, kognitiven und sozialen Ressourcen abhängt. Je kleiner eine Fraktion ist, desto geringer ist – unter sonst gleichen Bedingungen – ihre Arbeitsteilung und damit auch ihre Informationsverarbeitungskapazität, aus der sich effektive Argumentationsstrategien speisen können. Die deliberative Perspektive lenkt zudem den Fokus auf diskursive Mechanismen – wie die Dynamik aus Kritik und Rechtfertigung – und institutionelle Faktoren wie Verfahren und Ressourcen, die die Wirksamkeit von Deliberationsprozessen bestimmen. Die Rekonstruktion deliberativer Oppositionspraktiken

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hilft uns insgesamt aber vor allem auch, die im Hinblick auf das Leistungsprofil und die Funktionserfüllung parlamentarischer Opposition geeigneten Fragen zu stellen, wie zum Beispiel: Gelingt es der Opposition, durch ihre Kritik die Rechtfertigungen der Regierungsmehrheit herauszufordern oder gelingt es der Regierungsmehrheit, sich dem Rechtfertigungszwang zu entziehen? Entwickeln die Argumente der Opposition öffentliche Überzeugungskraft, sodass sich starke politische Alternativen zum Status quo abzeichnen, um die herum im Wahlkampf mobilisiert werden kann? Welche Maßnahmen oder Reformen könnten die Opposition befähigen, ihre Funktionen mittels Deliberation zu erfüllen? Die Plausibilität einer deliberationstheoretischen Perspektive auf die Opposition im Parlament steht und fällt nicht mit der tatsächlichen Effektivität von Argumenten im parlamentarischen Beratungs- und Entscheidungsprozess. Im Gegenteil eröffnet sie neben potenziellen Wirkmechanismen argumentativer Auseinandersetzung auch kritische Perspektiven und mögliche Erklärungen für solche Fälle, in denen Argumente systematisch ins Leere laufen.

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Was leistet parlamentarische Opposition?

Was ist effektive Opposition? Überlegungen zu einem Schlüsselbegriff der Regierungslehre Marcus Höreth und Jörn Ketelhut 1 Einleitung „Opposition“ hat als Thema der Politikwissenschaft jüngst national und international wieder an Bedeutung gewonnen (Garritzmann 2017). Speziell in Deutschland ergibt sich das gestiegene Interesse vermutlich daraus, dass die „Große Koalition“ als häufigstes Koalitionsformat die früher übliche „minimal winning coalition“ (Riker 1962) abgelöst hat und deshalb die zunehmende Marginalisierung der parlamentarischen Opposition befürchtet wird. Nach wie vor besteht in der Politikwissenschaft hierzulande grundsätzlich Einigkeit darüber, dass die Existenz einer politischen Opposition ein unverzichtbares Wesensmerkmal jeder Demokratie ist. Für parlamentarische Regierungssysteme ist sie im Sinne des „neuen Dualismus“ jener Parlamentsteil, der sich der Regierungsmehrheit in Ausübung ihrer Funktionen der „Kritik, Kontrolle und Alternative“ entgegenzustellen hat. Konzeptionell bestehen jedoch interessante Defizite in einer über diese sehr allgemeine Funktionsbeschreibung hinausgehenden Beschäftigung mit Opposition. Zwar differenziert die politikwissenschaftliche Regierungslehre nach wie vor zwischen verschiedenen Oppositionsformen, doch die viel grundlegendere Frage, was die Opposition überhaupt leisten muss, um als „effektiv“ zu gelten, bleibt weitgehend unterbelichtet.

M. Höreth (*) · J. Ketelhut  Fachgebiet Politikwissenschaft, Technische Universität Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Ketelhut E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_5

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Nicht nur Politologen, sondern auch Juristen tun sich schwer mit einer Antwort auf diese Frage. So hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner ständigen Rechtsprechung den Grundsatz „effektiver Opposition“ mehrmals formuliert, jüngst in seinem wichtigen Urteil zu Oppositionsrechten unter den Bedingungen einer Großen Koalition noch einmal bestätigt,1 ohne jedoch jemals zu erklären, was man sich konkret darunter vorzustellen habe (Volkmann 2017, S.  480). Vereinzelt anzutreffende Antwortversuche bleiben allesamt ungenügend, weil sie nicht von der vorrangig zu beantwortenden Frage nach dem Sinn und Zweck von Opposition ausgehen, sondern ausschließlich bei den Handlungsmöglichkeiten der Opposition ansetzen und diese in verschiedenen politisch-institutionellen Konstellationen untersuchen (Cancik 2017; Sydow und Jooß 2017). Effektiv ist die Opposition immer dann, so könnte man den bisherigen Konsens innerhalb der rechts- und politikwissenschaftlichen Diskussion in Deutschland knapp zusammenfassen, wenn ihr zur Erfüllung ihrer Funktionen möglichst zahlreiche Instrumente zur Verfügung stehen, die selbst unter den Bedingungen einer überdimensionierten „Großen Koalition“ – wie in der 18. Wahlperiode des Bundestages – ihre Wirksamkeit nicht einbüßen. Mit dem vorliegenden Beitrag treten wir dieser Auffassung entgegen. Nach unserer Ansicht reicht es nicht aus, die Effektivität des oppositionellen Handelns allein an der politischen Opportunitätsstruktur, die nicht nur durch die Existenz (wirksamer) parlamentarischer Minderheitenrechte definiert wird, sondern auch dem Parteienwettbewerb, den Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat sowie den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Regierens in der Bundesrepublik geschuldet ist, zu evaluieren. Wir sind überzeugt, dass die Forschung zu einer dem Gegenstand angemessenen Betrachtungsweise nur dann gelangen kann, wenn es ihr gelingt, neben der empirischen Ebene auch die normative zu berücksichtigen. Es gilt also zunächst zu klären, was Opposition im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik leisten soll. Erst dann kann untersucht werden, was Effektivität in diesem Zusammenhang überhaupt bedeutet. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, solche Überlegungen anzustellen und damit die wissenschaftliche Debatte über den Sinn und Zweck der Opposition in parlamentarischen Regierungssystemen neu zu beleben. Der Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Im Anschluss an diese Einleitung werden wir einige Konzeptionen zur Rolle der Opposition in parlamentarischen Regierungssystemen vorstellen und den theoretischen Rahmen unserer Überlegungen abstecken

1BVerfG,

Urteil vom 3. Mai 2016 – 2 BvE 4/14.

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(Kap. 2). Im nächsten Schritt wird dann der Blick auf die Instrumente, Arenen und Rahmenbedingungen oppositionellen Handelns in Deutschland gerichtet. Der Beitrag zeigt, dass die Opposition hierzulande über umfangreiche Möglichkeiten besitzt, Einfluss auf den politischen Prozess zu nehmen. Die politische Opportunitätsstruktur der Bundesrepublik gestattet ihr einerseits das Mitgestalten, räumt ihr andererseits aber auch beträchtliche Vetomacht ein (Kap. 3). Im nächsten Schritt werden auf Basis der gewonnen Erkenntnisse zwei normative Modelle entwickelt, die Auskunft über den Sinn und Zweck der Opposition im parlamentarischen Regierungssystem Deutschlands geben (Kap. 4). Der Beitrag zeigt, dass die Anforderungen an effektive Opposition stark variieren können: Je nachdem welche normativ gewünschte Zielvorgabe als Messlatte angelegt wird, besteht die Aufgabe der Opposition entweder darin, die ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur scharfen Auseinandersetzung zu nutzen, um einen baldigen Machtwechsel herbeizuführen, oder darin, die Zusammenarbeit mit der Regierungsmehrheit zu suchen, um Schaden vom Gemeinwesen fernzuhalten. Der Widerstreit der Effektivitätskriterien sorgt zudem dafür, dass die Opposition nicht alle ihr zugewiesenen Funktionen gleichermaßen gut erfüllen kann: Sie muss sich entscheiden, ob sie lieber als personelle und inhaltliche Alternative wahrgenommen werden möchte oder als Mitregent in Erscheinung tritt, der das Regierungshandeln einer konstruktiven Kontrolle unterzieht. Im Schlussteil des Beitrages (Kap. 5) fassen wir die Ergebnisse der Untersuchung pointiert zusammen und zeigen auf, worin die Potenziale einer gleichermaßen normativ orientierten wie empirisch informierten Oppositionsforschung bestehen.

2 Parlamentarische Opposition als Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung 2.1 Die parlamentarische Opposition: oft besungen, kaum erforscht? Das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition gehört zu den Strukturmerkmalen der parlamentarischen Demokratie. In ihm spiegelt sich der in öffentlicher Rede ausgetragene und bestimmten Spielregeln folgende Wettstreit zwischen unterschiedlichen Meinungen und Interessen wider, der zu den Kennzeichen freiheitlicher und pluralistischer Gesellschaften gehört. Die Opposition ist der Teil des Parlaments, der weder der Regierung angehört noch diese stützt (Helms 2002, S. 12 f.). Ihre vorrangige und vornehmste Aufgabe ist es, als Korrektiv des Mehrheitswillens zu fungieren. Das heißt: Sie soll das Handeln der politisch Verantwortlichen in Regierung und Parlament kritisieren, kontrollieren

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und Alternativen aufzeigen (Schüttemeyer 2007, S. 374). Die Politikwissenschaft wird nicht müde, auf diese klassische Funktionstrias hinzuweisen und die Bedeutung der Opposition immer wieder hervorzugeben. Sie beschränkt sich dabei selbstverständlich nicht nur auf den Kontext parlamentarischer Regierungssysteme. Sie zeigt vielmehr, dass Kritik, Kontrolle und Alternative im Zentrum dessen stehen, was – zumindest in den Ländern, die sich zur „westlichen Welt“ zugehörig fühlen – als legitime politische Herrschaft betrachtet wird: Demokratie – in welcher Spielart auch immer: parlamentarisch oder präsidentiell, repräsentativ oder unmittelbar –, so lautet die einvernehmliche Botschaft, ist ohne Opposition nicht vorstellbar (Garritzmann 2017, S. 1). Für Robert Dahl, den Nestor der modernen Oppositionsforschung, ist sie „the most distinctive characteristic of democracy itself” (Dahl 1966, S. xvi). Wirft man vor diesem Hintergrund einen Blick auf die politikwissenschaftliche Literatur, so fällt eine bemerkenswerte Diskrepanz ins Auge: Zwar singt das Schrifttum das Hohelied der Opposition in höchsten Tönen, aber eine intensive und kritische Auseinandersetzung mit ihm unterbleibt vielfach. Mit anderen Worten: Die Politikwissenschaft beschäftigt sich – gewissermaßen in getreuer Übertragung eines Teils des Müntefering’sche Diktums2 – lieber mit dem Regieren (vgl. Helms 2002, S. 16 f.). Dies ist ihr Feld, hier leistest sie Großes. Dabei werden zwangläufig auch Fragestellungen und Gegenstände berührt, die die Opposition betreffen; mit systematischer und zielgerichteter Forschung zum Bereich, der eben „gerade nicht Regierung ist“ (Volkmann 2017, S. 474), hat das aber meist nur wenig zu tun. Diese steckt – auch über fünfzig Jahre nach Dahls bahnbrechenden Beiträgen, die in „Political Oppositions in Western Democracies“ versammelt sind – noch in den Kinderschuhen: Untersuchungen, die sich in normativer oder empirischer Hinsicht dezidiert mit der Opposition auseinandersetzen und dabei nicht nur einzelnen Fällen nachspüren, sondern versuchen, das Theoriewissen über den Gegenstand zu erweitern, akademische Debatten anzustoßen, den Begriffsapparat zu schärfen, neue Methoden und Analyseperspektiven vorzustellen und darauf aufbauend eine eigenstände Forschungsagenda aufzustellen, sind immer noch äußerst rar gesät (Garritzmann 2017, S. 5). Die Politikwissenschaft steht damit aber nicht allein da. Auch die juristische Diskussion über die Opposition in der Bundesrepublik zeichnet sich durch eine bemerkenswerte „Theoriearmut“ (Volkmann 2017, S. 479) aus.

2Müntefering,

F. (2004), Opposition ist Mist. Lass das die anderen machen – wir wollen regieren. Das Parlament, 29. März 2004.

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Staatsrechtslehre und Verfassungsrechtswissenschaft ist es bislang nicht gelungen, ihre Konzepte und Ansätze, die den Themenbereich berühren, in einen geschlossenen systematischen Zusammenhang zu stellen. Auch jüngste Untersuchungen, die sich der Opposition sowie den von ihr in Anspruch genommen parlamentarischen Minderheitsrechten in aller Breite widmen und dabei nahezu enzyklopädischen Umfang erreichen (vgl. Ingold 2015), können dies nicht leisten. Sie machen vielmehr auf eine „gewisse Ratlosigkeit gegenüber dem Phänomen“ (Volkmann 2017, S. 479) aufmerksam, die nicht zuletzt auch der Heterogenität und Vielschichtigkeit des Gegenstandes geschuldet ist.

2.2 Ansatzpunkte konzeptioneller Überlegungen Da die bisherige Forschung vor allem im konzeptionellen und theoretischen Bereich Defizite aufweist, scheint es ratsam, just an diesem Punkt wieder in die wissenschaftliche Debatte über die Rolle und die Leistungsfähigkeit der Opposition einzusteigen3. Als Ansatzpunkt für entsprechende Bemühungen intellektueller Art bietet sich die klassische Funktionstrias aus Kritik, Kontrolle und Alternative an. Schließlich vereint sie die Grundkonzepte, auf denen jedes Oppositionsverständnis fußt. Zudem handelt es sich bei ihr um einen Traditionsbestand des modernen politischen Denkens, der seit langem im akademischen Diskurs verankert ist. Gleichwohl gibt es auch immer wieder Versuche, die klassische Trias zu erweitern: So wird z. B. der Opposition die Funktion der „Mitregierung“ zugewiesen (Helms 2000, S. 527, 2002, S. 34) oder aber von einer zusätzlichen „Integrationsfunktion“ (Haberland 1995, S. 45 f.) gesprochen. Ob derartige Erweiterungen aus theoretischer oder analytischer Perspektive sinnvoll sind, kann bezweifelt werden. Womöglich handelt es sich bei ihnen nicht um zusätzliche Funktionen, sondern eher um strategische oder normative Zielsetzungen, also qualitativ andere Kategorien. Aus Gründen der konzeptionellen

3Wir

möchten an dieser Stelle nicht den Eindruck erwecken, die (interdisziplinäre) Oppositionsforschung habe in den vergangenen Jahrzehnten keine Fortschritte gemacht. Das Gegenteil ist richtig. Gleichwohl können wir hier nicht eine vollständige Literaturübersicht bieten oder den Stand der Diskussion im Detail nachzeichnen. Entsprechende Ausführungen finden sich in Garritzmann (2017), Ingold (2015) und Helms (2002). Wir möchten an dieser Stelle lediglich deutlich machen, dass eine Wiederbelebung der akademischen Debatte über die Leistungsfähigkeit der Opposition bei den Konzepten und analytischen Zugängen ansetzen muss. Hier liegt unserer Ansicht nach zur Zeit der größte Forschungsbedarf.

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Klarheit sollte man daher Abstand davon nehmen, immer komplexerer Funktionskataloge aufzustellen. Vielmehr ist Garritzmann zuzustimmen, der in diesem Zusammenhang für eine rigide begriffliche „Abrüstung“ eintritt (Garritzmann 2017, S. 7 f.), um die Ratlosigkeit gegenüber dem Phänomen Opposition nicht noch weiter zu erhöhen. Die Wissenschaft hat sich schon früh darauf verständigt, die Funktionen der Opposition mit den Begriffen Kritik, Kontrolle und Alternative zu beschreiben (Sternberger 1956, S.  134  f.). Die Ursprünge der Trias gehen auf Lord Bolingbroke zurück. Er untersuchte die Opposition im 18. Jahrhundert in den Abhandlungen „On the Spirit of Patriotism“ (1736) und „The Idea of a Patriot King“ (1738) zum ersten Mal als ein Phänomen der englischen Parlamentsregierung (Volkmann 2017, S. 477). Seine Überlegungen waren für die damalige Zeit revolutionär: Bolingbroke erkannte, dass der „alte“ Dualismus – also der Widerstreit von Krone und Parlament – inzwischen einem „neuen“ gewichen war: nämlich dem zwischen Regierungsmehrheit und Opposition (Schüttemeyer 2007, S. 374). Mit dieser Konzeption betrat Bolingbroke Neuland. Es gelang ihm nicht nur, das tatsächliche Gegenüber zweier rivalisierender Parlamentsgruppen (Mehr- und Minderheit) theoretisch einzufangen, er entwickelte darüber hinaus auch Ideen, wie der politischen Korruption zu begegnen sei: Bolingbroke vertrat die Ansicht, dass jede Regierung mit zunehmender Amtsdauer immer mehr Abstand davon nehme, im Sinne des Gemeinwohls zu entscheiden und es ihr nur noch darum gehe, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Um diesen Zustand zu beenden, müsse es einen Machtwechsel geben. An dieser Stelle brachte Bolingbroke die Minderheit ins Spiel: Er wies dem von Ämtern und Privilegien ausgeschlossenen Parlamentsteil die Aufgabe zu, die Verfehlungen der bestehenden Regierung aufzudecken, diese in öffentlicher Rede anzuprangern und sich in personeller wie inhaltlicher Hinsicht als bessere Alternative zu empfehlen. Mit anderen Worten: Bolingbroke forderte die Minderheit auf, durch ständige und planvolle parlamentarische Auseinandersetzung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, selbst Mehrheit zu werden und Regierungsverantwortung zu übernehmen (Schüttemeyer 2007, S. 374). Sollte sie nach dem Erreichen des Ziels eines Tages ebenfalls das Gemeinwohl aus dem Auge verlieren und der Korruption anheimfallen, sei es dann Aufgabe der neuen Opposition, durch beharrliche Kritik, Kontrolle und Alternative einen Machtwechsel einzuleiten. Die Überlegungen, die Bolingbroke präsentiert, machen auf einen Umstand aufmerksam, dem die jüngere Oppositionsforschung leider zu wenig Aufmerksamkeit schenkt – vielleicht erscheint er ihr trivial, das ist er aber keineswegs: Sie verdeutlichen nämlich anschaulich, dass die Funktionen, die die Opposition

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erfüllt, stets an einen Sinn und Zweck gebunden sind4. Für Bolingbroke besteht dieser im Machtwechsel. Kritik, Kontrolle und Alternative sollen so eingesetzt werden, dass es der parlamentarischen Opposition gelingt, die bestehende Regierung abzulösen. Machwechsel ist aber nicht die einzige Option, die in diesem Zusammenhang infrage kommt. Der Sinn und Zweck der Opposition kann auch darin bestehen, als Korrektiv des Mehrheitswillens am politischen Gestaltungsprozess konstruktiv mitzuwirken. Daraus erwächst ein Problem: Machtwechsel und Mitwirkung stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Sie zwingen die Opposition, der Regierungsmehrheit mit diametral entgegengesetzten Handlungsstrategien zu begegnen. Die eine setzt auf Konfrontation und scharfe Auseinandersetzung, die andere verlangt den beteiligten Akteuren ein beträchtliches Maß an Kooperationsbereitschaft ab (vgl. Oberreuter 1975; Steffani 1979). Beiden Handlungsimperativen gleichermaßen gerecht zu werden, ist daher schier unmöglich. Die Forschung kann dieses Spannungsverhältnis jedoch auflösen. Sie muss sich dazu lediglich der Aufgabe stellen, den Sinn und Zweck der Opposition klar herauszuarbeiten. Aus ihm ergeben sich nämlich die relevanten Zielvorgaben des politischen Handelns. Sie sorgen dafür, dass Kritik, Kontrolle und Alternative in eine ganz bestimmte Richtung wirken. Darüber hinaus legen die einschlägigen Parameter fest, wie sich die Opposition vis-à-vis der Regierungsmehrheit in erster Linie verhalten soll: kompetitiv oder kooperativ. Anders ausgedrückt: Der Zweck und die aus ihm abgeleiteten Zielvorgaben bestimmen maßgeblich über den Stil und die Form der politischen Auseinandersetzung. Sie müssen daher als Schlüsselvariablen betrachtet werden, ohne die es kaum möglich ist, ein tieferes Verständnis von der parlamentarischen Opposition, den Funktionen, die sie im Einzelnen erfüllt, und der Effektivität ihres Handelns zu entwickeln. Hingegen reicht es nicht aus, die Leistungsfähigkeit der Opposition ausschließlich an den ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten festzumachen. Entsprechende Überlegungen gehen am eigentlichen Problem vorbei. Zwar wird der Aktionsradius der Opposition auch durch parlamentarische Minderheitenrechte definiert. Ob diese aber „effektiv“ eingesetzt werden können, lässt sich ohne entsprechende Zielvorgaben nicht feststellen. Möchte die Forschung dieser Frage nachgehen, wird sie sich wohl oder übel zunächst mit dem Sinn und Zweck der Opposition beschäftigen müssen. Wie der mit Blick auf das parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland aussieht, gilt es im Folgenden zu klären.

4Kein

Geringerer als Wilhelm Hennis (2000) hat darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, den Zweck politischer Institutionen nicht aus dem Blick zu verlieren.

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3 Parlamentarische Opposition in Deutschland 3.1 Rahmenbedingungen oppositionellen Handelns Die politische Auseinandersetzung findet in der Bundesrepublik Deutschland im Kontext eines institutionellen Arrangements statt, das einerseits auf ein hohes Maß an Macht- und Gewaltenteilung setzt, sich anderseits aber auch durch eine hochgradige Verflechtung der Entscheidungsebenen auszeichnet (Schmidt 2016, S. 41). In die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten sind hierzulande zahlreiche Mitregenten involviert. Es reicht deshalb meist nicht aus, über eine parlamentarische Mehrheit zu verfügen, um verbindliche Entscheidungen herbeizuführen. Politische Prozesse folgen in Deutschland vielfach dem Modus der Verhandlung und berücksichtigen die Interessen einer Reihe von Akteuren auf Bundes- und Landesebene (Höreth 2016, S. 148 ff.). Die hohen institutionellen Hürden, die einem „konsequenten Durchregieren“ im Wege stehen, sollen nicht nur den Machtmissbrauch verhindern, ihr Zweck besteht auch darin, vielen unterschiedlichen Stimmen Gehör zu verschaffen und ein hohes Maß an Beteiligung zu generieren. Politische Entscheidungen gewinnen dadurch zusätzlich an Legitimität. Der politisch-institutionelle Kontext, der die Bundesrepublik auszeichnet, relativiert somit den Parteienwettbewerb und den Kampf um die politische Macht (Schmidt 2016, S. 41). Die Opposition kann davon profitieren. Viele Entscheidungen sind ohne ihre Beteiligung nicht umsetzbar. Es sind aber nicht nur institutionelle Faktoren, die die Opposition beeinflussen. Auch der politischen Kultur kommt in diesem Zusammenhang große Bedeutung zu. Gemeint sind damit die Einstellungen und Erwartungen, die die Bevölkerung dem parlamentarischen Regierungssystem und dem politischen Willensbildungsprozess entgegenbringen. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei die Frage, wie die Bürgerschaft sich die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten vorstellt: Soll die parlamentarische Auseinandersetzung eher in kompetitiv-konfrontativen Bahnen verlaufen, sodass die Unterschiede zwischen den beteiligten Parteien einerseits und zwischen Regierungsmehrheit und Opposition andererseits deutlich erkennbar hervortreten, oder doch lieber einem kooperativ-konsensualen Modus folgen, der alle involvierten Akteure im Interesse des Gemeinwohls gleichermaßen in die Pflicht nimmt? Die vergleichende Forschung hat gezeigt, dass die politische Kultur der Bundesrepublik in äußerst bemerkenswerter Weise von „Harmoniebedürftigkeit“ geprägt ist (Helms 2002, S. 54). Aus empirischen Studien geht hervor,

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dass die Menschen dem kooperativ-konsensualen Stil der Auseinandersetzung den Vorzug geben (Korte 2014, S. 10). Von der Opposition wird erwartet, dass sie sich einbringt und die Zusammenarbeit sucht. Der „Konsenszwang“ bzw. „Kompromissdruck“, der Politik in der Bundesrepublik auszeichnet, ist somit nicht nur eine Funktion der macht- und gewaltenteiligen Struktur, die eine Vielzahl von Vetospielern kennt und mannigfaltige institutionellen Hürden ihr Eigen nennt (Schmidt 2016, S. 41 ff.), die nur durch das Zusammenspiel der Akteure überwunden werden können. Er wird auch gesellschaftlich gewünscht (Volkmann 2017, S. 487). Für die Opposition erwächst daraus folgendes Problem: Sie muss ihr Handeln an der gesellschaftlichen Erwartungshaltung ausrichten, d. h. Kompromissbereitschaft zeigen, und es gleichzeitig vermeiden, durch ihre Zusammenarbeit mit der Regierungsmehrheit nicht mehr als personelle und inhaltliche Alternative wahrgenommen zu werden (Helms 2002, S. 54 f.). Zugute kommt der Opposition dabei, dass die Bevölkerung nicht nur die Kooperation der politischen Akteure wünscht, sondern in immer stärkerem Maße auch eine bessere Unterscheidbarkeit der Parteien verlangt.

3.2 Der Aktionsradius der Opposition: Instrumente und Arenen Die Opposition kann im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik eine Reihe von Instrumenten in Anspruch nehmen, um ihre Funktionen zu erfüllen. Dazu zählen nicht nur Frage-, Informations- und Kontrollrechte. Der Opposition steht es darüber hinaus auch frei, eigene Gesetzgebungsverfahren zu initiieren. Zudem bestimmt sie über Ältestenrat und Präsidium die Tagesordnung und die Arbeitsweise des Bundestages mit. Weiterhin ist die Opposition auch ihrer Größe entsprechend in den ständigen und nicht-ständigen Ausschüssen des Parlaments vertreten; der gleiche Verteilungsschlüssel wird auch angewendet, um die Ausschussvorsitzenden zu bestellen. Dabei gilt ein ungeschriebenes Vorrecht: Traditionell führt die stärkste Oppositionspartei den prestigeträchtigen und wirkungsmächtigen Vorsitz im Haushaltsausschuss des Bundestages. Eine besondere verfassungs- oder parlamentsrechtliche Anerkennung besitzt die Opposition jedoch nicht. Weder das Grundgesetz noch die Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) äußern sich entsprechend. Folglich existieren auch keine exklusiven Oppositionsrechte.5 Die wichtigsten Instrumente, die der Opposition

5So

auch unmissverständlich das BVerfG, Urteil vom 3. Mai 2016, 3. Leitsatz.

104

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– aber nicht nur ihr allein – zur Verfügung stehen, sind als parlamentarische Minderheitenrechte ausgestaltet. Ihre Inanspruchnahme ist an ein spezielles Quorum gebunden. Zu diesen Rechten zählen die „kleine“ und die „große“ Anfrage, die Beantragung einer Aktuellen Stunde und die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Minderheitenrechte zumeist von den Oppositionsparteien in Anspruch genommen werden, um die Arbeit der Regierung kritisch zu begleiten (Rudzio 2015, S. 237). Unter den Instrumenten, die der Opposition zur Verfügung stehen, ragt das Recht, Untersuchungsausschüsse eizusetzen, hervor. Untersuchungsausschüsse sind einzusetzen, wenn ein Viertel der Mitglieder des Bundestags dies verlangen. Ihre Aufgabe ist es, Missständen in Regierung und Verwaltung nachzugehen und ein etwaiges Fehlverhalten der politisch Verantwortlichen aufzudecken. Zu diesem Zwecke besitzen Untersuchungsausschüsse Sondervollmachten: Sie können Zeugen und Sachverständige vernehmen, Auskünfte von Behörden einholen, Akteneinsicht verlangen und weitergehende Ermittlungen von Gerichten vornehmen lassen. Nicht selten findet sich in der Literatur der Hinweis, bei dem Recht, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu verlangen, handele es sich um das „schärfste Schwert der Opposition“. In der Tat werden die meisten Untersuchungsausschüsse von Oppositionsparteien initiiert (Rudizio 2015, S. 236). Daraus folgt aber nicht, dass die Opposition bei der Beweisaufnahme und den Beratungen per se aus einer Position der Stärke agiert. Schließlich richtet sich die Besetzung nach den parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen (Decker 2011, S. 64). Fraglich ist, ob die Vertreter der Regierungsseite tatsächlich immer ein vitales Interesse daran haben, die Vorwürfe, die im Raum stehen, „objektiv“ – d. h. ohne eine eigene politische Agenda zu verfolgen – aufzuklären. Auch muss berücksichtigt werden, dass das Fehlverhalten der politisch Verantwortlichen nicht immer zeitnah ans Licht kommt. Untersuchungsausschüsse können somit auch mit weit zurückliegenden Gegenständen befasst werden. Möglicherweise werden dabei auch Sachverhalte verhandelt, die „in den Verantwortungsbereich der Vorgänger-Regierung und damit möglicherweise in den der aktuellen Oppositionsparteien fallen“ (Helms 2002, S. 44). Die Opposition kontrolliert nicht nur die Arbeit der Regierung und ist in den Gesetzgebungsprozess sowie die Organisation des Parlamentsbetriebs involviert. Sie wird auch für die Verabschiedung von Verfassungsänderungen benötigt. Entsprechende Gesetze setzen in Bundestag und Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit

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voraus. In der Regel kann ein solch hohes Quorum nur durch die Zustimmung der Opposition erreicht werden6. Konstitutionelle Reformen sind in der Bundesrepublik keine Seltenheit. Ein Blick in die Statistiken des Bundestages kann dies belegen: Er zeigt, dass zwischen 1949 und 2017 insgesamt 62 Gesetze mit verfassungsänderndem Inhalt verabschiedet worden sind. Im Konzert der westlichen Länder nimmt die Bundesrepublik damit einen Spitzenplatz bei den Verfassungsreformen ein (Busch 1999, S. 2006), den sie ohne die tatkräftige Unterstützung der jeweiligen Oppositionen nicht hätte einnehmen können. Der Aktionsradius der Opposition beschränkt sich nicht allein auf den Bundestag. Die stark macht- und gewaltenteilige Struktur der grundgesetzlichen Ordnung ermöglicht es, Debatte und Entscheidungen in andere Arenen zu verlagern, z. B. in den Bundesrat. Konzipiert ist der Bundesrat zwar als Organ, das die Interessen der Länderregierungen repräsentieren und administrativen Sachverstand in den politischen Prozess einspeisen soll. Gleichwohl wird auch er vom Parteienwettbewerb erfasst (vgl. Lehmbruch 2000). Herrschen in Bundestag und Bunderrat „umgekehrte Mehrheiten“, so kann die Opposition diesen Umstand nutzen, um Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess zu nehmen. Allerdings muss dabei auch berücksichtigt werden, dass die Interessenlagen der Länderregierungen nicht immer deckungsgleich mit denen der Bundestagsparteien sind. Umgekehrte Mehrheiten erweitern somit nicht zwangsläufig den Aktionsradius der Opposition (vgl. Lhotta 2003). Eine weitere Möglichkeit, die politische Auseinandersetzung in eine andere Arena zu verlagern, besteht in der Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens. Ein entsprechender Antrag kann von einem Drittel der Mitglieder des Bundestages gestellt werden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Mit ihm soll die Verfassungsmäßigkeit eines mehrheitlich verabschiedeten Gesetzes vom BVerfG überprüft werden. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass im Wesentlichen die Opposition oder mit ihr „befreundete“ Landesregierungen (Helms 2002, S. 48) dieses Recht in Anspruch nehmen. Die Verhandlungen vor dem BVerfG geben der Opposition die Möglichkeit, abermals die Konfrontation mit der Regierungsmehrheit zu suchen. Allerdings folgt die Auseinandersetzung nun nicht mehr den Regeln des politischen Wettbewerbs, sondern denen der juristischen Argumentation. Auch ist der Ausgang des Verfahrens offen.

6Die

Mehrheitsverhältnisse in der 5. und 18. Wahlperiode des Bundestages stellen Ausnahmen dar. In beiden Fällen verfügte die Regierungskoalition über eine verfassungsändernde Mehrheit.

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3.3 Machtwechsel oder Mitregieren: Zielvorgaben effektiver Opposition Die politische Opportunitätsstruktur der Bundesrepublik eröffnet der Opposition zweifellos ein breites Betätigungsfeld. Damit ist aber noch nichts über die Effektivität der Instrumente gesagt, die in diesem Zusammenhang zum Einsatz gelangen. Um diese Frage beantworten zu können, muss man – wie weiter oben ausgeführt – sich Gedanken über den Sinn und Zweck der Opposition machen: Liegt dieser eher im Machtwechsel oder aber im Mitregieren? Je nachdem wie die Antwort ausfällt, ist es für die Opposition ratsam, entweder auf Konfrontation zu setzen oder sich kooperationsbereit zu zeigen. Der neue Dualismus bevorzugt eigentlich den kompetitiven Stil der Auseinandersetzung: Regierungsmehrheit und Opposition stehen sich gegenüber und ringen in öffentlicher Debatte um die besseren Argumente und die Gunst der Wählerschaft. Der kooperative Stil grenzt sich davon scharf ab. Er rückt den Gedanken des „guten Regierens“ in den Mittelpunkt. Der gesamte politische Prozess soll auf Gemeinwohlverpflichtung, Interessenausgleich und gesamtstaatliche Verantwortung hin ausgerichtet sein. Dementsprechend befinden sich Regierungsmehrheit und Opposition in einem Verhältnis, das – bei allen Meinungsunterschieden – das Miteinander betont. In gewisser Weise wird dadurch die klassische Frontstellung, die den neuen Dualismus typischerweise auszeichnet, ein Stück wieder aufgehoben. Wenn man die Rechte und Einflusskanäle, die der parlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik zur Verfügung stehen, zusammenschauend betrachtet, so fällt auf, dass diese ein erhebliches Mitgestaltungspotenzial beinhalten. Der Opposition bleibt somit nicht nur das Instrument der öffentlichen Rede, um auf Unzulänglichkeiten des Regierungshandelns hinzuweisen. Vielmehr kann sie aktiv an politischen Prozessen partizipieren und dabei auch auf die Möglichkeit zurückgreifen, Entscheidungen in andere Arenen zu verlagern. Schon angesichts dieses Befundes liegt die Vermutung nahe, dass der Opposition in Deutschland primär nicht die Rolle des Gegenspielers zugedacht ist, der sich auf das „Dagegensein“ kapriziert, sondern die des kooperationsbereiten Partners (Steffani 1979, S. 240). Auch die politische Kultur des Landes, die mehr an Harmonie und Ausgleich interessiert ist, der es weniger um das Austragen von handfesten Konflikten geht, sondern darum, parteiübergreifenden Konsens herzustellen, lässt sich in diesem Zusammenhang anführen (Volkmann 2017, S. 486). Vieles deutet aufgrund dieser Befunde bereits darauf hin, dass der Sinn und Zweck der Opposition in Deutschland vornehmlich im Mitregieren besteht. Daneben soll jedoch der Machtwechsel nicht völlig aus dem Auge verloren

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gehen. Schließlich kann die Opposition unter den nach wie vor bestehenden Bedingungen des neuen Dualismus auch dieses Ziel verfolgen. Beide Verhaltensweisen der Opposition sind grundsätzlich gleichermaßen normativ begründbar wie auch empirisch beobachtbar. Ob der Opposition in einem offensichtlich konsens- und verhandlungsdemokratisch geprägten Umfeld wie in der Bundesrepublik attestiert werden kann, „effektiv“ zu sein, hängt somit maßgeblich von der Modellvorstellung von Opposition ab, von der man bei einer solchen ­„Performanz“-Analyse ausgeht. Das gilt es im Folgenden aufzuzeigen.

4 Zwei Modelle der „effektiven“ Opposition in Deutschland 4.1 Konfliktbereite Regierung im Wartestand: Das „Westminster“-Modell der Opposition Die Idee, dass Machtwechsel der Sinn und Zweck der Opposition sei, ist mit dem Westminster-Parlamentarismus aufs engste verbunden. Die Opposition hat in Großbritannien nur sehr geringe Chancen, „auf das laufende politische Geschäft Einfluss zu nehmen“ (Sydow und Jooß 2017, S. 535). Sie verfügt kaum über Möglichkeiten, gestaltend tätig zu werden und aufgrund der machtkonzentrierenden Struktur des Regierungssystems besitzt sie auch keine wirksamen Vetopotenziale. Schon deshalb wird von ihr niemand die konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierungsmehrheit erwarten. Ein solches Verhalten ist normativ auch gar nicht gewünscht. Die Opposition soll sich nach der im ­Westminster-Parlamentarismus verwirklichten Logik des neuen Dualismus vielmehr mit aller Kraft der Mehrheit entgegenstellen (Steffani 1970, S. 316) und ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, von der Wahlbevölkerung in inhaltlicher wie personeller Hinsicht als die bessere Alternative wahrgenommen zu werden (Johnson 1975, S. 28). Die Effektivität des oppositionellen Handelns bemisst sich somit allein daran, in welchem Maße es dazu beiträgt, die Chancen auf eine Regierungsübernahme zu erhöhen. Auch für die deutsche Diskussion über die Rolle und die Funktionen der Opposition hat sich das Westminster-Modell als wirkungsmächtig erwiesen. Zwar unterscheidet sich das parlamentarische System der Bundesrepublik erheblich von dem Großbritanniens. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Funktionslogiken des neuen Dualismus auch hierzulande anzutreffen sind. Die an die Minderheit gerichtete Forderung, selbst nach der Regierungsmehrheit zu streben, ist auch aus deutscher Sicht ein wichtiges Kriterium, um sich das Wesen

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der Opposition zu erschließen. Die Opposition muss, so hat es Heinrich Oberreuter betont, willens und in der Lage sein, „in Zukunft selbst die Macht allein oder in einer Koalition auszuüben“ (Oberreuter 1993, S. 64); ihre Aufgabe ist es, durch die Bereitstellung inhaltlicher und personeller Alternativen dem Wähler ihre Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen (Fraenkel 1964, S. 227). ­Hans-Peter Schneider leitet aus dem Wesen der Opposition sogar die verfassungsrechtliche Pflicht ab, möglichst rasch einen Machtwechsel herbeizuführen und die bestehende Regierung abzulösen (Schneider 1989). Bis es dazu kommen kann, versucht die Opposition „das Gegenüber“ zu sein, „das imstande ist, die Regierung und die Parlamentsmehrheit zur Verantwortung zu ziehen“ (Gehrig 1969, S. 95). Da die Opposition nach der Westminster-Logik ständig aufgefordert ist, selbst Mehrheit zu werden und in Regierungsverantwortung zu gelangen, richtet sich ihre politische Agenda zwangsläufig an den nächsten Wahlen aus. In der Zwischenzeit muss sie sich als Regierung im Wartestand behaupten und die Wählerschaft argumentativ davon überzeugen, dass sie in personeller wie inhaltlicher Hinsicht die wesentlich bessere Alternative darstellt. Deshalb versucht sie, sich medienwirksam Gehör zu verschaffen und die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen (Kluxen 1956, S. 180). Auch Kritik und Kontrolle haben sich im Westminster-Modell an der Maßgabe des Machterwerbs auszurichten. Übertragen auf den Kontext des deutschen Regierungssystems folgt daraus, dass die Opposition bei der Erfüllung dieser Funktionen sich unter keinen Umständen darauf einlassen dürfte, als kooperationsbereiter Partner der Regierungsmehrheit in Erscheinung zu treten. Jede Form der Mitregierung schmälert ihre Chancen, von der Wählerschaft als bessere Alternative wahrgenommen zu werden. Eigentlich kann der Opposition unter den Auspizien des Westminster-Modells nichts Besseres passieren, als eine Regierung, die mit ihrer Aufgabe offensichtlich überfordert ist. Sie spielt der Opposition durch ihre schlechten Entscheidungen quasi in die Karten, denn dann kann diese sich leichter als die bessere Alternative präsentieren: „(…) it is better to give the government enough rope to hang itself with, and oppositions hope that an extravagant administration will be punished by loss of popularity with the electors“ (Birch 1991, S. 131). Die hier durchschimmernde Handlungslogik der Opposition übersetzt sich unter den Bedingungen des stark gewaltenteiligen Regierungssystems der BRD etwa in einer im Bundesrat konsequent geübten Kooperationsverweigerung bis hin zum Veto – eine durchaus rationale Strategie, wenngleich sie noch immer auf starke verfassungsrechtliche Bedenken stößt (Wyduckel 1989; Stüwe 1997, S. 43). Kritik und Kontrolle sind unter den Bedingungen des Westminster-Modells nur dann effektiv, wenn sie öffentlichkeitswirksam stattfinden und zudem darauf

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abzielen, die Regierung in ihrem Handeln bloßzustellen (Kaiser 2008). Zugleich sollte die Opposition stets bestrebt sein, dass die Regierung ihre Kritik nicht ohne Gesichtsverlust gegenüber den Wählern zur Verbesserung ihrer eigenen Politik – und damit ihrem Machterhalt – nutzen kann. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass eine in diesem Sinne effektive Opposition auch in den hinter verschlossenen Türen stattfindenden Ausschüssen des bundesdeutschen „Arbeitsparlaments“ (Steffani 1979, S. 95) jede konstruktive Kritik an den Gesetzesvorhaben der Regierung unterlassen müsste. Sie könnte sogar darauf spekulieren, dass sich die Regierung durch das Ausbleiben der in Ausschüssen formulierten Kritik selbst überschätzt und jene entscheidenden Fehler macht, die sich von der Opposition (später) elektoral nutzen lassen. Aus dieser Perspektive ist eine Rangordnung der drei Oppositionsfunktionen deutlich zu erkennen: Kritik und Kontrolle der Regierung durch die Opposition muss nach dem Westminster-Modell stets der Funktion der Alternativbildung untergeordnet bleiben, um so den Machtwechsel vorzubereiten. Natürlich resultiert die relative Stärke der Opposition immer auch aus der relativen Schwäche der Regierung, doch erstere muss die sich ihr bietenden Möglichkeiten auch effektiv nutzen. Dabei gilt: Je schlechter die Gesetze der Regierungsmehrheit, desto größer ist die Chance der Oppositionsparteien, bei der nächsten Wahl gewählt zu werden – vorausgesetzt, sie kann, etwa bei Plenardebatten, über die Massenmedien, oder aber durch gezielte Kampagnen in den sozialen Medien die amtierende Regierung während der noch laufenden Wahlperiode immer wieder schlecht aussehen lassen.

4.2 Konstruktive Zusammenarbeit und Teilhabe an der Staatsleitung: Das republikanische Modell der Opposition Wie schon gezeigt, ist das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik nicht ausschließlich nach der Westminster-Logik zu erfassen. Schon die effektive Anzahl der Parteien in der Koalitionsdemokratie, hervorgerufen nicht zuletzt durch das Verhältniswahlsystem, spricht dagegen. Dazu kommen die hierzulande zur Verfügung stehenden parlamentarischen Minderheitenrechte, die die Opposition „für ihre Zwecke“7 (Sydow und Jooß 2017, S. 538) in

7Es

ist bezeichnend, dass Sydow und Jooß (2017) ausgerechnet hier nicht weiter aufführen, welches denn die „Zwecke“ der Opposition genau sein sollen.

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Anspruch nehmen kann. Zudem ist der neue Dualismus in der Bundesrepublik eingebettet in einen Kontext aus konsens- und verhandlungsdemokratisch geprägten Strukturen (Lijphart 1999; Höreth 2016, S. 148 ff.) einerseits und einer politischen Kultur andererseits, die sich am partnerschaftlichen Miteinander von Regierungsmehrheit und Opposition orientiert (Rudzio 2015, S. 220). Anders als in Großbritannien besteht der Sinn und Zweck der parlamentarischen Opposition in Deutschland primär nicht darin, konfrontative Strategien zu verfolgen und damit einen Machtwechsel einzuleiten. Vielmehr hat sich die Opposition hierzulande ihrer staatspolitischen Verantwortung dergestalt zu stellen, dass sie zum Wohle des Landes und um Schaden vom Gemeinwesen abzuhalten, stets um die konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierungsmehrheit bemüht sein muss (Volkmann 2017, S. 489). Überspritzt könnte auch formuliert werden: Es besteht für die Opposition eine Pflicht zur Mitregierung. Das Oppositionsmodell, das für die Bundesrepublik typisch ist, kann daher mit dem Attribut „republikanisch“ versehen werden: Es nimmt alle Akteure gleichermaßen in die Pflicht, um ein gutes und effektives Regieren im Sinne des Gemeinwohls zu ermöglichen. Eine verfassungssystematische Zusammenschau der in diesem Zusammenhang einschlägigen Normen vermag dies zu unterstreichen. Als Beispiele seien hier angeführt, dass sowohl das Recht auf Normenkontrollklage durch eine parlamentarische Minderheit (Höreth 2014, S. 72) wie auch das Recht der parlamentarischen Minderheit, einen Untersuchungsausschuss einberufen zu können, ursprünglich nicht als Oppositionsinstrumente angelegt waren, sondern – gemeinwohlorientiert – dem Zweck der objektiven Wahrheitsfindung dienen sollten (Steffani 1979, S. 182 ff.; Stüwe 1997, S. 36). Ähnliches trifft auch auf den Bundesrat zu, durch den die Opposition zwar in die Lage versetzt wird, als Vetospieler aufzutreten – doch in eine solche Rolle schlüpft sie faktisch nur höchst selten (Lhotta 2003, S. 20). Der Bundesrat war ursprünglich gedacht als ein „Hort der Sachlichkeit“, ausgestattet mit einer „höheren Objektivität“ gegenüber der interessengeleiteten Parteipolitik (Höreth 2004). Ob er das jemals war oder sogar noch heute ist, kann bestritten werden. Doch die Vorstellung einer Art Gemeinwohllegierung politischer Institutionen hat vor allem mit Blick auf den Bundesrat, die Normenkontrollklage, aber auch hinsichtlich der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, im verfassungsrechtlichen Denken der Bundesrepublik Deutschland lange überlebt. Tatsächlich ist die Grundidee einer derartigen normativen, weil gemeinwohlorientierten Aufladung politischer Institutionen im deutschen Regierungssystem auch heute noch keineswegs obsolet.

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Ein weiterer Blick in die Verfassung mag dies verdeutlichen. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes – und notabene auch dem BVerfG – ging es niemals in erster Linie darum, den demokratischen Wettbewerb unter den Parteien zu intensivieren. Auch er sollte – obwohl nach der nationalsozialistischen Diktatur selbstverständlich gewollt – letztlich dem Ziel untergeordnet bleiben, ein stabiles Regierungssystem zu entwickeln, in dem die normativen Vorgaben der Verfassung strikt eingehalten werden. Dabei galt es zwei Ziele simultan anzustreben, die leicht in einen trade-off münden können: Zum einen sollte die von demokratischen Mehrheiten getragene Regierung nicht nur stabil sein, sondern auch über weit reichende Handlungsspielräume zur politischen Gestaltung verfügen, – zum anderen jedoch unter Beachtung sämtlicher Staatsorganisationsprinzipien dem Gemeinwohl verpflichtet sein, indem allen Interessen – auch denen der Minderheit – in politischen Entscheidungsprozessen Rechnung getragen wird (Höreth 2016, S. 27 ff.). Das BVerfG hat diese Punkte in seiner ständigen Rechtsprechung immer wieder hervorgehoben. Es geht somit von einem Demokratiemodell aus, das – in Anlehnung an Rousseau – eine republikanische Ordnung darstellt, in der „die Menschen selbst ihre Entwicklung durch Gemeinschaftsentscheidungen“ gestalten, „jedes Glied der Gemeinschaft freier Mitgestalter bei den Gemeinschaftsentscheidungen ist“ und deren Ziel in der „annähernd gleichmäßigen Förderung des Wohles aller Bürger“ besteht.8 Es ist insofern nicht nur eine überkommene Floskel der republikanischen Verfassungstradition, dass die Amtsträger per Eid auf das Wohl des gesamten Volkes verpflichtet werden (und damit zugleich der Tyrannis abschwören). Vielmehr entspricht es dieser republikanischen Logik, dass das Grundgesetz ein ganzes Arsenal an Instrumenten zur Verfügung stellt, damit die Regierung im normativ gewünschten Sinne funktioniert. Sämtliche formale und informale Regelsysteme dienen dazu, dass die Regierung so gut kontrolliert und mit konstruktiv-sachlicher Kritik konfrontiert wird, dass sie „effektiv“ davon abgehalten wird, z. B. gegen die Verfassung zu verstoßen, die Interessen von Minderheiten zu ignorieren, die föderale Ordnung zu gefährden, eine gemeinwohlschädliche Politik zu betreiben usw. In diesem Zusammenhang reicht die Kontrolle der Regierung durch die Opposition deutlich weiter als die Kritik, denn sie soll gegebenenfalls zu einer Revision des Regierungs- und Verwaltungshandelns führen. Doch schon die Kritik der Opposition an der Regierung dient hier keineswegs primär

8BVerfGE

5, 85 (197 f.); BVerfGE 12, 205 (240 ff.).

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der Alternativbildung, sondern eher der Kontrolle und der Mitgestaltung, letztlich dem Mitregieren. Exakt an dieser Stelle wird der zentrale Unterschied zum ­Westminster-Modell der Opposition sichtbar: Das republikanische Modell verlangt Kontrolle und Kritik an der Regierung, um die Opposition auf diese Weise mitregieren zu lassen – und zwar bereits auf der parlamentarischen Ebene und nicht erst in der föderalen Arena über den Bundesrat, worauf vor allem Verfassungsrechtler hinweisen (Haberland 1995, S. 41). Dem gegenüber tritt vor allem die Alternativfunktion in den Hintergrund. Womöglich sind auch aus diesem Grund in Deutschland die klassischen parlamentarischen Minderheitenrechte, mittels derer die Oppositionsparteien das Regierungshandeln kontrollieren, im internationalen Vergleich recht stark ausgebaut, während jene, die primär der Alternativfunktion dienen, zuvörderst Redezeit im Bundestag, gemessen an Westminster, eher bescheiden ausfallen. Vor diesem – hier nur kurz skizzierten – republikanischen Hintergrund bestimmt sich auch die zentrale Aufgabe einer effektiven Opposition: Diese besteht darin, das Handeln der Regierung einer effektiven Kontrolle zu unterziehen. Aus republikanischer Sicht erwächst aus diesem Umstand für die Opposition eine besondere Verantwortung in der gesamten Staatsleitung: Je besser Kontrolle und Kritik durch die Opposition im Sinne des „neuen Dualismus“ ausgeübt wird, desto besser und effektiver wirken die formalen und informalen Regelsysteme, die die Verfassung zur „Kontrolle“ und „Kritik“ der Regierung durch das Parlament im Sinne des „alten Dualismus“ vorhält. Erst durch die effektive Wahrnehmung ihrer Kritik- und Kontrollfunktionen kann die Opposition die Regierung nicht nur dazu veranlassen, ihre wesentlichen Entscheidungen öffentlich zu begründen und zu verteidigen. Dahinter steht sogar noch die republikanische Hoffnung, dass die Regierung vor allem durch das oppositionelle Handeln davon abgehalten werden könnte, gemeinwohlschädliche Fehler zu begehen. Im republikanisch betrachtet besten Fall sieht sich die Regierung aufgrund des von der Opposition mitinitiierten Drucks der Öffentlichkeit sogar dazu veranlasst, ihre politischen Aktionen ex post zu korrigieren, skandalträchtige Minister zu entlassen oder gar ihren fragwürdig gewordenen politischen Kurs insgesamt grundlegend zu ändern. In diesem Sinne wäre die Opposition dann tatsächlich nach Heinrich Oberreuter die „eigentliche Hüterin des Gemeinwohls“ (zit. n. Schmidt 2004, S. 501) und, wie es Winfried Steffani im republikanischen Geist formulierte, der „Hort und Hüter der Freiheit“ (Steffani 1970, S. 317). Verhält sich Opposition in diesem republikanischen Sinn, dann wirkt sich dies bereits indirekt und teilweise vom öffentlichen Publikum unbemerkt aus:

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Die Regierung speist unter Umständen manche „alternativen“ Argumente in ihr Regierungsprogramm und – wichtiger noch – in ihre Gesetzgebung ein. Im Arbeitsparlament ist es bei den in der Regel nicht-öffentlichen Sitzungen der Ausschüsse (§ 69 GOBT) offensichtlich sogar gewollt, dass die Oppositionsparteien auf den Gesetzesinhalt Einfluss nehmen können, obwohl dieser Einfluss nach außen, also öffentlich, gar nicht klar sichtbar wird und deshalb auch nur unter sehr erschwerten Bedingungen als spezifischer Oppositionserfolg verkauft werden kann. Und doch ist die Opposition aus republikanischer Sicht dazu aufgefordert, sich kooperativ zu verhalten: „Die Opposition entwickelt nicht nur Alternativen, sondern bringt sich aktiv ein, um Einfluss zu nehmen. Ressortorientierte Ausschüsse binden die Opposition in jedem Stadium des parlamentarischen Entscheidungsgangs in die Verantwortung mit ein und eröffnen ihr faktische Mitsteuerungsmöglichkeiten“ (Korte 2014, S. 10). Die für parlamentarische Regierungssysteme funktional nicht erforderliche, aber in Deutschland übliche Nichtöffentlichkeit der Ausschusssitzungen findet hier möglicherweise eine republikanische Rechtfertigung, da den Oppositionsabgeordneten hierdurch Anreize gegeben werden, sich konstruktiv bei den Ausschusssitzungen um die Verbesserung der Gesetzesvorlagen aus den Reihen der Regierung zu bemühen.9 Durch die Nichtöffentlichkeit der Ausschusssitzungen fehlt jedenfalls jeder Anreiz für konfrontatives bzw. kompetitives Verhalten der Opposition, mit dem sie hoffen könnte, beim Wahlpublikum Punkte zu machen. Zusammenfassend bewirkt das republikanische Modell, dass die konstruktive Mitarbeit der Opposition an der Gesetzgebung im „Grand Coalition State“ (Schmidt 1996) die Regierung stabilisiert und ihr womöglich eine breitere gesellschaftliche Zustimmung einbringt. Aber auch die Opposition kommt bei allem nicht so schlecht weg – ihr dankt man öffentlich bei mancher Gelegenheit dafür, dass sie sich ihrer „staatspolitischen Verantwortung“ gestellt und nicht auf Obstruktion gesetzt hat. Zwar wird hierdurch die Position der Opposition als „Regierung im Wartestand“ signifikant geschwächt – doch dem republikanischen Effektivitätskriterium, das die Fähigkeit und Bereitschaft zum Mitregieren zur obersten Maxime erhebt, entspricht ein solches Verhalten in hohem Maße. Ob die Opposition hierfür jedoch bei den nächsten Wahlen belohnt wird, steht freilich auf einem anderen Blatt.

9Darauf

scheinen manche deutschen Oppositionspolitiker bezeichnenderweise besonders stolz zu sein.

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5 Schlussbetrachtungen Anknüpfend an Bolingbroke werden noch heute Kritik, Kontrolle und Alternativbildung als die klassischen Aufgaben der Opposition in einem parlamentarischen Regierungssystem angesehen. Nach wie vor unklar ist jedoch die Frage, was die Opposition leisten muss, um als effektiv zu gelten. Das ist umso bemerkenswerter, als schon in normativer Hinsicht kaum bezweifelt werden kann, dass effektive Opposition als wichtiger Gradmesser für die Qualität einer Demokratie betrachtet werden muss. Doch wenn schon konzeptionell unklar ist, was eine effektive Opposition ausmacht bzw. ausmachen sollte, ist eine in empirischer Absicht erfolgende, wissenschaftlich seriöse „Messung“ von effektiver Opposition erst recht nicht machbar. Der tiefere Grund für dieses Evaluationsproblem ist, so haben wir versucht zu zeigen, dass die bisherige Oppositionsforschung die Existenz zweier fundamental unterschiedlicher Modelle von (parlamentarischer) Opposition nicht hinreichend zur Kenntnis genommen hat. Sie hat dies deshalb nicht, weil sie zwar der Frage nach den Funktionen der Opposition nachgegangen ist, für die nach dem Sinn und Zweck aber blind war. Diese Frage muss aber beantwortet werden, um beurteilen zu können, ob die Wahrnehmung diverser Funktionen tatsächlich als effektiv bezeichnet werden kann. Mit Blick auf die beiden hier vorgestellten Modelle – das Westminster-Modell sowie das republikanische Modell – zeigt sich aber, dass in ihnen der Opposition jeweils ein ganz unterschiedlicher Hauptzweck zugewiesen wird. Während im Westminster-Modell die Opposition als „Regierung im Wartestand“ aus dem Zustand der politischen Ohnmacht heraus nur dem primären Zweck dient, zukünftige Machtwechsel zu ermöglichen, hat sich die Opposition nach dem republikanischen Modell dem Zweck zu verschreiben, sich unter Beachtung der Interessen des Gemeinwohls ihrer staatspolitischen Verantwortung nicht zu entziehen und sogar mitzuregieren, wenn es dem Wohle des Landes dient oder aber darum geht, Schaden vom Gemeinwesen abzuhalten. Erst diese unterschiedliche Zwecksetzung entscheidet darüber, welche Funktionen genau eine Opposition wahrzunehmen hat, und ob das, was sie in Wahrnehmung dieser Funktionen tatsächlich leistet, effektiv ist. Die unterschiedlichen Zwecke von Opposition, die in den Modellen gesetzt sind, entscheiden letztlich auch über die Strategiewahl der Oppositionsakteure, die sich dann entweder eher kompetitiv oder kooperativ verhalten. Mögen die beiden Modelle theoretisch aufgrund der in ihnen enthalten unterschiedlichen Zwecksetzung diametral entgegengesetzt zueinanderstehen, so

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ließe sich doch für die Bundesrepublik Deutschland empirisch ohne Weiteres aufzeigen, dass sie lediglich als zwei Pole die Bandbreite beschreiben, in der – systemkonforme – Opposition in ihrer ganzen Vielfalt tatsächlich stattfindet. Das trifft jedenfalls auf jene Oppositionsparteien zu, die sich entweder office-seeking oder policy-seeking verhalten (Müller und Strøm 1999). Erstere stehen in der Regel eher dem Westminster-Modell nahe und wollen bald selbst die Regierung (mit) übernehmen; Letztere orientieren sich am republikanischen Modell und wollen ihre politischen Inhalte auch ohne formale Regierungsverantwortung durch konstruktive Beteiligung an der Gesetzgebung einbringen. Alle übrigen Parteien, die nicht die Regierung bilden, und sich auf bloße Schmäh-Kritik an dieser beschränken, verhalten sich primär votes-seeking und damit gerade nicht so, wie es die Funktionslogik parlamentarischer Regierungssysteme von politischen Parteien eigentlich verlangt10: Sämtliche im Parlament vertretenen Parteien sollten auch tatsächlich regieren wollen, sonst muss das System früher oder später kollabieren. Will man nun die Effektivität von Opposition evaluieren, muss man sich entscheiden, von welchem Oppositionsmodell man ausgeht: Nach dem Westminster-Modell ist eine Opposition dann effektiv, wenn sie alle sich ­ ergebenden Möglichkeiten nutzt, um bald selbst an die Regierung zu kommen, selbst wenn der zu zahlende Preis hierfür erst einmal Regierungskrisen sind („Reformstau“). Aus dieser Perspektive heraus ließe sich das Oppositionsverhalten relativ problemlos genauer empirisch untersuchen und eine Antwort auf die Frage finden, ob die Opposition in diesem Sinne effektiv ist. Wichtigster Indikator wäre hier etwa schlicht die Häufigkeit eines kompletten Regierungswechsels (der in der Bundesrepublik bezeichnenderweise bisher nur einmal vorkam, 1998). Nach dem republikanischen Modell ist Effektivität dann gegeben, wenn auch nicht der Regierung angehörende Parteien das Gemeinwohl immer im Blick behalten, selbst wenn der von ihnen zu zahlende Preis die Verringerung der Chance auf eigene Regierungsübernahme sein sollte, weil die angebotene Kooperation eine amtierende Regierung stabilisiert. Hauptzweck der Opposition ist – so gesehen – politische Macht durch konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierung zu kontrollieren. Schwerer zu evaluieren ist die Effektivität dieser Form von Opposition sicherlich, aber nicht unmöglich. Der effektive Beitrag von

10Zu

dieser Kategorie von Parteien kann gegenwärtig etwa die AfD gezählt werden. Deren „Effektivität“ als Oppositionspartei ließe sich höchstens an ihrer Fähigkeit ermessen, systemverdrossene Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, sie zu wählen. Wir danken Melanie Müller, TU Kaiserslautern, für diesen Hinweis.

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Oppositionsparteien am Regierungshandeln und ihre Fähigkeit zur staatspolitischen Verantwortungsübernahme ließe sich – ausgehend vom republikanischen Modell – etwa am Anteil der von ihnen über den Bundesrat mitgetragenen zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze, am Konsens in europapolitischen und Verfassungsfragen, an ihrem Beitrag zur Bewältigung von Staatskrisen, aber z. B. auch an von ihnen initiierten erfolgreichen Normenkontrollklagen und Missstände aufdeckenden parlamentarischen Untersuchungsausschüssen messen. In der normativen Perspektive schließlich scheint das republikanische Modell ohnehin besser zur Bundesrepublik zu passen, da eine zu starke Westminster-Orientierung der Opposition aufgrund der vielfältigen Konsenszwänge im politischen System ein „funktionierendes“ Regieren kaum zulassen würde.

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Der Handlungsraum der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag. Erfahrungen mit der „Mini-Opposition“ in der 18. Legislaturperiode Stephan Bröchler Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen erzielten bei der Bundestagswahl 2013 zusammen knapp ein Viertel der Parlamentssitze (20 %).1 So konnten wichtige Minderheitenrechte, wie beispielsweise die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, nicht ergriffen werden. Erst die Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gab der sogenannten Mini-Opposition für die Dauer der Legislaturperiode wichtige Minderheiten­ rechte wieder in die Hand (Deutscher Bundestag 2014b). Der Begriff MiniOpposition verweist auf eine spezifische Minderheitskonstellation, in der die Gesamtheit der Opposition insgesamt weniger als ein Viertel der Parlamentssitze bei Bundestagswahlen erzielt. Aus diesem Grund kann eine Mini-Opposition aus eigener Kraft nicht alle formalen parlamentarischen Minderheitsrechte in Anspruch nehmen. In der bundesdeutschen Politikwissenschaft hat sich die Beschäftigung mit der parlamentarischen Opposition bis dato nicht als ein kohärenter und systematisch erforschter Gegenstandsbereich etabliert. Oppositionsforschung teilte lange Zeit 1Die

Bundestagswahl am 22. September 2013 ergab folgendes prozentuales Ergebnis: CDU/CSU: 41 %, SPD 25,7 %, Die Linke 8,6 % und Bündnis 90/Die Grünen 8,4 %. Der 18. Deutsche Bundestag umfasste 631 Abgeordnete. Die Zahl der Parlamentssitze verteilte sich folgendermaßen: Union 311 (CDU: 255 und CSU: 56), SPD 193, Die Linke 64 und Bündnis 90/Die Grünen 63. S. Bröchler (*)  Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_6

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das Dasein der kleinen Schwester, die mit den größeren Geschwistern immer nur „mit dabei“ war. In der Politikwissenschaft waren „die Großen“ vor allem Parlament und Regierung. In jüngerer Zeit führen verschiedene Entwicklungen dazu, dass sich die kleine Schwester zunehmend emanzipiert. Ausdruck des gestiegenen Interesses sind politikwissenschaftliche Publikationen, die das Handlungsfeld der parlamentarischen Opposition weiter ausleuchten. Karl-Rudolf Korte veröffentlichte 2014 einen programmatischen Aufsatz über die veränderten Handlungsbedingungen parlamentarischer Opposition. Seine These lautet, dass unter den Bedingungen der GroKo die klassischen Mitgestaltungs- und Kontrollrechte für ein effektives Politikmanagement nicht mehr ausreichen (Korte 2014). Stephan Bröchler wies auf die erschwerten Handlungsbedingungen der Mini-Opposition durch die Melange aus steigenden Zeitdruck bei gleichzeitig zunehmenden Entscheidungsdruck hin (Bröchler 2017). Erhellend sind ferner die jüngeren empirischen Analysen zur Nutzung der Interpellationsrechte „Große Anfrage“ von Franziska Carstensen (Carstensen 2018) und „Kleine Anfrage“ von Sebastian Hünermund (Hünermund 2018). Die 2018 publizierte Habilitationsschrift von Sven T. Siefken „Parlamentarische Kontrolle im Wandel. Theorie und Praxis des Deutschen Bundestages“ legt einen Schwerpunkt auf die Analyse der Kontrollmöglichkeiten der Opposition im Deutschen Bundestag (Siefken 2018; siehe auch den Beitrag des Autors in diesem Band). Während die Beiträge vor allem das deutsche Regierungssystem analysieren, nehmen Elisabetta De Giorgi und Gabriella Ilonszki sowie Julian L. Garritzmann eine international vergleichende Perspektive ein. Die Beiträge in dem von De Giorgi und Ilonszki herausgegeben Sammelband befassen sich mit Oppositionsparteien in Parlamenten Europas (De Giorgi und Ilonszki 2018). In seiner Studie „How much power do oppositions have?“ vergleicht Garritzmann die Handlungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition in 21 Demokratien (Garritzmann 2017). Ein wichtiger Auslöser für das Interesse an parlamentarischer Opposition ist zudem der Einzug der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in alle bundesdeutschen Landesparlamente, den Deutschen Bundestag und in das Europäische Parlament. Mittlerweile liegen erste Forschungen darüber vor, wie die AfD als parlamentarische Opposition aufgestellt ist (Rütters 2019) und in den Gremien agiert (Heinze 2020; Schroeder und Weßels 2019; Niedermayer 2018; Hensel und Finkbeiner 2017; Schroeder et al. 2017). Im Folgenden wird am Beispiel der Mini-Opposition untersucht, ob es der Opposition im 18. Deutschen Bundestag gelungen ist, ihre Handlungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Dazu werden zunächst die institutionellen Handlungsmöglichkeiten im Blick auf Chancen und Restriktionen der parlamentarischen Opposition sondiert und der institutionelle Handlungsraum der Opposition

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abgeschritten. Ausgangspunkt ist die Frage, was die Funktionslogik der Opposition im Deutschen Bundestag kennzeichnet. Daraufhin wird der rechtliche Handlungsrahmen, in den die parlamentarische Opposition eingebettet ist, dargelegt. Im nächsten Schritt wird geklärt, auf welche Minderheitenrechte demgegenüber die Mini-Opposition zurückgreifen konnte. Es wird untersucht, in welchem Umfang Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen das Instrumentarium der formalen Minderheitenrechte genutzt haben. Gefragt wird danach, welches Bild die Statistik des Deutschen Bundestages davon vermittelt, in welchem Umfang die Mini-Opposition ihre Parlamentsrechte ausgeschöpft hat. Im Anschluss werden die gewonnenen Erkenntnisse kritisch hinterfragt und Anforderungen für künftige Oppositionsforschung formuliert. Es sollen Ansatzpunkte herausgearbeitet werden, wie eine zeitgemäße Forschung zur parlamentarischen Opposition ein möglichst umfassendes Verständnis von deren Handlungsmöglichkeiten erzielen kann.

1 Ein analytisches Modell des Funktions- und Handlungsraums der parlamentarischen Opposition Der Beitrag argumentiert, dass eine neo-institutionalistisch und systemtheoretisch orientierte Forschungsperspektive einen wichtigen Beitrag dazu leistet, die Besonderheit der konkretisierten politischen Institution parlamentarische Opposition genauer zu fassen. Institutionen charakterisiert, dass es sich um verbindliche Regelungsstrukturen handelt, die erwartbare Geltungsansprüche formulieren und Sanktionscharakter besitzen (Lauth 2004; North 1990). Diese Strukturen verfügen über die Eigenschaft der Selektivität und sind in der Lage, nicht nur Handlungsmöglichkeiten zu begrenzen, sondern auch zu eröffnen. Regelsysteme erbringen bestimmte Funktionsleistungen: Sie verleihen dem Handeln gesellschaftlicher Akteure Festigkeit, Dauer und Wiederholbarkeit und erzeugen damit Erwartungssicherheit, ohne gegenüber Veränderungen resistent zu sein. Institutionen verfügen jedoch nicht über die Fähigkeit zu handeln, sondern erlangen ihre Geltungskraft erst in der Anwendung durch Akteure. Zum Verständnis politischer Institutionen trägt ergänzend eine systemtheoretische Sichtweise bei. Dem Teilsystem politisches System kommt die Funktion zu, kollektiv verbindliche Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen (Easton 1953, S. 129). Dieser Institutionentypus definiert die Optionen für das Handeln regelungsbedürftiger Sachverhalte, die einen Beitrag zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen leisten (Bröchler und Lauth 2014,

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S. 6). Politische Institutionen bezeichnen eine besondere Gattung von Regelsystemen, da sie öffentliche regelungsbedürftige Interessen aller Bürgerinnen und Bürger adressieren. Bei der parlamentarischen Opposition handelt es sich um Organisationsformen, wie Fraktionen und nicht um Regelwerke, wie Verfassung, Gesetze und Geschäftsordnungen, welche die eigentlichen politischen Institutionen darstellen. Im Grundgesetz, in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages aber auch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz werden jedoch maßgebliche formale Minderheitenrechte normiert. Da diese Regeln die Funktionsweise und das Handlungsrepertoire der parlamentarischen Opposition zu einem guten Teil formen, wird die parlamentarische Opposition im Folgenden als konkretisierte politische Institution verstanden (Bröchler und Lauth 2014, S. 6). Im Anschluss wird aus der Verbindung von neo-institutionalistischer und systemtheoretischer Perspektive ein analytisches Modell des Funktions- und Handlungsraums der parlamentarischen Opposition entwickelt. Die Perspektive verfolgt das Ziel, die Handlungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition auszuloten. Dabei soll geklärt werden, wie die parlamentarische Opposition aufgrund ihrer Funktionslogik in prozessualer, formaler und politikgestalterischer Hinsicht in den Deutschen Bundestag eingebettet ist.

1.1 Funktionslogik der parlamentarischen Opposition: Mitregent und Dissident Im parlamentarischen Regierungssystem Deutschlands setzt sich das moderne Fraktionenparlament strukturell aus zwei Akteursgruppen zusammen, die für die Durchsetzung von Machtinteressen im Rahmen von Konflikt- und Konsensprozessen konstitutiv sind: parlamentarische Mehrheit und Minderheit. Beide Akteure unterliegen der übergreifenden Funktionslogik des Parlaments, die darin besteht, politischen Willen zu bilden und auf dieser Grundlage im öffentlichen Interesse verbindliche Entscheidungen über kollektive Sachverhalte für die gesamte Gesellschaft zu treffen. Ein ambitionierter und notwendig weit gefasster Anspruch, der in der Praxis dazu führt, dass sich Parlamente als „multipurpose organisations“ (Polsby 1975) beschreiben lassen. Die Parlamentarismusforschung hat die vielfältigen Tätigkeiten zu Katalogen von Parlamentsaufgaben verdichtet (Beyme 2016, S. 295 ff.; Marschall 2016, S. 127 ff.; Ismayr 2012, S. 34 ff.). Die Kataloge zeigen, dass die Gesetzgebung eine wesentliche Aufgabe darstellt. Doch das Parlament ist nicht nur „Der Gesetzgeber“ (von Beyme 1997). Neben die legislativen Aufgaben treten Wahl- und Abwahl, Kontrolle und Kommunikation,

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die sowohl durch die Parlamentsmehrheit als auch die -minderheit gemeinsam, wenn auch mit unterschiedlicher Aufgabengewichtung zu bearbeiteten sind (Marschall 2016, S. 127 ff.). Die Kenntnis der Funktionslogik des Parlaments vermittelt wichtige Einsichten für das Verständnis der Handlungslogik der Opposition. Die parlamentarische Opposition ist an der Erledigung des ganzen Spektrums der Parlamentsaufgaben beteiligt und lässt sich aus dieser Perspektive – im weiteren Sinne – als Mitregent bestimmen. Die gemeinsame Bearbeitung der Parlamentsfunktionen bedeutet jedoch keine Waffengleichheit von Regierung und Opposition (Schüttemeyer 2013, S. 465). Denn es macht einen Unterschied, ob Abgeordnete oder Fraktionen dem Regierungslager zuzurechnen sind oder der Opposition (Rudzio 2015, S. 213 ff.; Steffani 1968, S. 50 ff.). Die zentrale Erkenntnis des Neuen Dualismus lautet, dass die Verteilung von Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten zwischen Regierung und den sie stützenden Fraktionen auf der einen Seite und den Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite strukturell asymmetrisch verteilt sind. Doch worin besteht unter diesen Bedingungen das funktionale Alleinstellungsmerkmal der Opposition? Eine Antwort hält die Parlamentarismusforschung bereit, die unterschiedliche Kataloge von Oppositionsfunktionen vorlegte (Helms 2002, S. 24 ff.; Haberland 1995, S. 39–46; Steffani 1970, S. 317). Verbreitet ist die von Lord Bolingbroke im 18. Jahrhundert formulierte Trias von Oppositionsfunktionen aus Kritik, Kontrolle und Alternative (Waack 2015, S. 715 ff.; Schüttemeyer 2015; Volkmann 2006, S. 1690; Oberreuter1989, S. 638). Die Trias soll ermöglichen, die Funktionslogik der parlamentarischen Opposition näher zu bestimmen. Im Prozess der politischen Willensbildung und der Herbeiführung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen agiert die parlamentarische Opposition funktional nicht nur als Mitregent bei der Bearbeitung der Funktionen Gesetzgebung, Wahl- und Abwahl, Kontrolle und Kommunikation, sondern im gleichen Atemzug auch als Dissident (von lat. dissidere = in Widerspruch stehen) durch Kritik, Kontrolle und Alternativenentwicklung gegenüber der Regierung und ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag.

1.2 Der Handlungsraum der parlamentarischen Opposition als Problembearbeitungsstruktur Während im vorigen Abschnitt die Prozessdimension im Vordergrund stand, wird nun die Bedeutung struktureller Faktoren (polity) für die Handlungsfähigkeit der Opposition in den Fokus gerückt. Es gilt die Frage zu beantworten,

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welche institutionellen Strukturen zur Bewältigung der Oppositionsaufgaben Kritik, Kontrolle und Alternativenentwicklung dienen. Der Blick insbesondere in das Grundgesetz (GG) und die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT), aber auch in die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Schüttemeyer 2013, S.  459) zeigt, dass der parlamentarischen Opposition ein vielfältiges und ausdifferenziertes Spektrum formaler Rechte für die Erfüllung ihrer Aufgaben zur Verfügung steht (Waack 2015, S. 730 ff.). Zu den Minderheitenrechten – den Begriff Opposition verwenden weder Verfassung noch Geschäftsordnung − zählen Mitwirkungs- und Teilnahmerechte, wie der verbriefte Anspruch in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages vertreten zu sein. Hierzu werden ferner Mitwirkungsrechte in Angelegenheiten der Europäischen Union wie die Zuleitung und Überweisung von Dokumenten der EU und Artikulationsrechte, gerechnet. Letztere beinhalten beispielsweise die Möglichkeit, Einfluss auf die Tagesordnung des Plenums zu nehmen. Zum Spektrum der Rechte gehören außerdem Informationsrechte wie die Befugnis Kleine Anfragen und Große Anfragen zu stellen. Ergänzt werden die Befugnisse durch Einsetzungsrechte, etwa einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss oder eine Enquete-Kommission zu initiieren. Zu den Minderheitenrechten gehören schließlich Antrags- und Initiativrechte, wie die Einbringung von Gesetzesinitiativen oder die Beantragung eines konstruktiven Misstrauensvotums. Bedeutsame Unterschiede lassen sich in den formalen Hürden der Minderheitenrechte erkennen. Denn die Aktivierung der unterschiedlichen Rechte ist selektiv vom Akteursstatus abhängig (Waack 2015, S. 730 ff.). Selbstständig anspruchsberechtigt für eine ganze Gruppe von Rechten, wie schriftliche und mündliche Fragen, ist erstens das einzelne Mitglied des Deutschen Bundestages. Bestimmte Minderheitenrechte, wie Kleine und Große Anfragen können zweitens durch Fraktionen oder von 5 % der Abgeordneten des Parlaments aktiviert werden, ebenso wie Gesetzesinitiativen. Auf das Instrumentarium weiterer Minderheitenrechte wie Parlamentarische Untersuchungsausschüsse haben drittens nicht-institutionalisierte Zusammenschlüsse von Abgeordneten Zugriff, wenn es gelingt, ein Viertel bzw. ein Fünftel der Stimmen der Mitglieder des Bundestages für ihre Anträge auf sich zu vereinigen.

1.3 Opposition: Streben nach politischer Mitgestaltung Der Funktions- und Handlungsraum der parlamentarischen Opposition lässt sich drittens unter dem Aspekt der Politikgestaltung analysieren. Für die P ­ olicy-Dimension ist die Unterscheidung des Rollenrepertoires der parlamentarischen Opposition als

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struktureller Mitregent und Dissident konstitutiv. Unter den Bedingungen des Mitregenten folgt die Opposition der Funktionslogik des Regierens (Korte 2014, S. 9). In der Rolle als Dissident gegenüber der Regierung agiert die Opposition mithilfe des Instrumentariums von Kritik, Kontrolle und Alternative. Kritik beinhaltet, die Regierung und ihr Handeln oder Unterlassen öffentlich infrage zu stellen, zu bewerten und zu beurteilen (Waack 2015, S. 715 ff.). Kontrolle umfasst sowohl, die Regierung durch nachträgliche kritische Überprüfung und Kontrolle politisch zur Verantwortung ziehen zu können als auch, sie durch parlamentarische Einflussnahme bei ihren Entscheidungen „dirigierend zu beeinflussen“ (Waack 2015, S. 715). In den Funktionen Kritik und Kontrolle werden die ausgeprägten Mitwirkungs- und Einspruchsrechte der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag augenscheinlich (Helms 2002, S. 40 ff.). Für den Anspruch auf konkrete Policygestaltung kommt der Alternativentwicklung eine besondere Bedeutung zu. Alternativenbildung hat zum Ziel, „(…) politische und persönliche Alternativen (…)“ (Waack 2015, S. 717) zu entwickeln und öffentlich darzustellen. Für die Opposition eröffnet die Handlungsressource die Möglichkeit, im legislativen Verfahren durch eigene Gesetzesinitiativen ganz konkret Kontingenzen zur Regierungspolitik auszubuchstabieren. Aufgrund der Asymmetrie der Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten von Regierung und Opposition sind die tatsächlichen Spielräume für die Durchsetzung eigenständiger Policy-Alternativen allerdings eng bemessen. Das ‚Schachmatt‘ der Opposition bei der Durchsetzung eigener Gesetzesinitiativen ist die Regel. Denn aufgrund der „Dominanz der Mehrheitsinitiative“ (Rudzio 2015, S. 244 ff.) gelingt es dem Tandem aus Regierung und Parlamentsmehrheit fast immer, die gesetzgeberischen Aktivitäten der Opposition zu Fall zu bringen (Ismayr 2012, S. 446 f.). Die Analyse der Architektur des Funktions- und Handlungsraums vermittelt wichtige Erkenntnisse über die prozessuale, formale und politikgestalterische Handlungslogik der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag. Die Rolle der Opposition ist in funktionaler Hinsicht als eigensinniger und spezialisierter Akteur im parlamentarischen Geschehen ausgestaltet. Dies kommt in einer Reihe von Faktoren zum Ausdruck. Die parlamentarische Opposition kennzeichnet eine spezifische Funktionslogik, die aus der Doppelrolle als Mitregent und Dissident resultiert. Für die Bearbeitung der Aufgaben Kritik, Kontrolle und Alternative agiert die Opposition im Rahmen einer ausdifferenzierten formal-rechtlichen Problembearbeitungsstruktur. Im Blick auf Kritik und Kontrolle wird der Charakter der parlamentszentrierten Opposition mit starken Mitwirkungsmöglichkeiten und Vetorechten deutlich (Helms 2002, S. 40 ff.). Demgegenüber erweisen sich die Möglichkeiten, im Rahmen der

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parlamentarischen Willensbildung und Entscheidung eigenständig Politik zu gestalten, aufgrund der Asymmetrie der Chancenstruktur von Mehrheit und Minderheit im parlamentarischen Raum, als eng begrenzt.

2 Formaler Handlungsrahmen parlamentarischer Oppositionsarbeit unter Bedingungen der Mini­­ Opposition Die parlamentarische Opposition im Deutschen Bundestag verfügt über ein strukturell breit gefächertes Instrumentarium formaler Minderheitenrechte, das sie in die Lage versetzt sowohl als Mitregent als auch als Dissident zu agieren. Der empirische Blick in die Geschichte des Parlaments seit 1949 zeigt jedoch, dass sowohl die Bedingungen für die Inanspruchnahme der Rechte als auch die Fähigkeit, das Rollenrepertoire als Mitregent und Dissident tatsächlich zur Geltung zu bringen, voraussetzungsvoll sind. Eine Mini-Opposition ist das Resultat des Zusammenwirkens zweier Faktoren: zum einen der Anzahl in Wahlen erzielter Parlamentssitze der Parteien und zum anderen der Rollenzuweisung in Regierung und Opposition als Folge der Regierungsbildung. 1966 und 2014 schlossen die Volksparteien CDU/CSU und SPD Große Koalitionen, die 90 % bzw. rund 80 % der Parlamentssitze umfassten.2 Die verbleibenden Parlamentsfraktionen mussten mit einem Mandatsanteil von knapp 10 % (1966) und mit 20 % (2013) die Rolle der Opposition übernehmen. Die reduzierte Zahl der Parlamentsmandate hatte eingeschränkte Einflussmöglichkeiten im Blick auf Kritik, Kontrolle und Alternative zur Folge. Im Folgenden wird der Blick nun auf die Frage gerichtet, inwiefern es der Mini-Opposition im 18. Deutschen Bundestag gelungen ist, ihre Handlungsmöglichkeiten auszuschöpfen. Die Beantwortung dieser Frage erfolgt in zwei Schritten. Zunächst wird im Lichte der Polity-Dimension der Kanon der formalen Minderheitenrechte skizziert, die der Mini-Opposition zur Verfügung standen. Daraufhin wird im Blick auf Prozesse analysiert, in welcher Frequenz die Rechte genutzt wurden.

2Die

Bundestagswahl am 19. September 1965 ergab folgendes prozentuales Ergebnis: CDU/CSU: 47,6 %, SPD 39,3 % und FDP 9,5 %. Der 5. Deutsche Bundestag umfasste 496 Parlamentarier (plus 22 Abgeordnete aus Berlin). Die Zahl der Parlamentssitze verteilte sich folgendermaßen: Union 245 (+6 Abgeordnete aus Berlin), SPD 202 (+15 Abgeordnete aus Berlin) und FDP 49 (plus 1 Abgeordneter aus Berlin).

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Zu Beginn der dritten Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD stand der Mini-Opposition ein eingeschränktes Instrumentarium von Minderheitenrechten zur Verfügung. Die Opposition war insbesondere mangels Mandatszahl nicht befugt (ausführlich: Bundesverfassungsgericht 2016): • einen Untersuchungsausschuss einzusetzen (Art. 44 GG), ebenso wenig wie die Umwandlung des Verteidigungsausschusses in einen Untersuchungsausschuss vorzunehmen (Art. 45 a, Abs. 2 GG); • eine Enquetekommission in Gang zu setzen (§ 56, Abs. 1 GO-BT); • eine Sitzung des Bundestages einzuberufen (Art. 39, Abs. 3 GG); • eine öffentliche Anhörung eines Ausschusses zu beantragen (§ 70, Abs. 1 GO-BT); • eine Plenardebatte statt einer öffentlichen Ausschusssitzung zu veranlassen (§ 69a, Abs. 5 GO-BT); • Subsidiaritätsklage vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg einzulegen (Art 23, Abs. 1a GG) • Anträge auf abstrakte Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe zu stellen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und 2a GG). Dennoch war die Mini-Opposition als parlamentarischer Akteur handlungsfähig. Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen standen die Minderheitenrechte zu, die − unabhängig vom Sitzanteil − jedes Mitglied des Deutschen Bundestages ergreifen kann (Ismayr 2012, S. 44 ff.): Einbringen von Änderungsanträgen in zweiter Beratung zu Gesetzesentwürfen (§§ 78, Abs. 4 und § 82, Abs. 1 GO-BT); • das Stellen von Einzelfragen zur mündlichen und schriftlichen Beantwortung (§ 105 GO-BT); • Beteiligung an Aussprachen und Abstimmungen (§ 27 GO-BT); • Abgabe von Erklärungen zur parlamentarischen Aussprache, zu Abstimmungen und außerhalb der Tagesordnung sowie zur Geschäftsordnung das Wort zu ergreifen (§§ 29–33 GO-BT); • das Recht auf Akteneinsicht (§ 16 GOBT); • die Änderung der Tagesordnung nach der Eröffnung, aber vor Eintritt in die Debatte zu beantragen (§ 20, Abs. 2 GO-BT); • die Möglichkeit vor der Abstimmung eine Teilung der Frage genehmigen zu lassen (§ 47 GO-BT).

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Zusätzlich konnte die Mini-Opposition Gesetzesinitiativen in Gang setzen (§75 Abs 1(a) GO-BT) sowie Kleine Anfragen (§ 75, Abs. 3 GO-BT) und Große Anfragen (§ 100 GO-BT) stellen. Initiativrecht und Interpellationen erfordern ein Quorum von 5 % der Abgeordneten oder die Beantragung durch eine Fraktion (§76, Abs. 1 GO-BT). Rechtlich möglich wäre auch ein konstruktives Mißtrauensvotum gegen den amtierenden Bundeskanzler gewesen, das von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion gestellt werden muss (§ 97, Abs. 1 GO-BT). Zu Beginn der 18. Legislaturperiode entwickelte sich ein weitgehender überparteilicher und medialer Konsens, dass im Interesse eines funktionstüchtigen parlamentarischen Regierungssystem eine handlungsfähige Opposition mit starken Rechten notwendig sei (Deutscher Bundestag 2014a, b, S. 2; Bröchler 2013). Der Deutsche Bundestag beschloss deshalb mit den Stimmen von CDU/ CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Änderung der Geschäftsordnung (GO-BT). Für die Dauer der 18. Legislaturperiode befristet, wurde §126a ­(GO-BT) eingeführt. Dem Buchstaben nach ließ man die Höhe des Quorums in den betreffenden Rechtsnormen des Grundgesetzes wie der Geschäftsordnung unverändert. Doch die Oppositionsrechte wurden im Großen und Ganzen dennoch wiederhergestellt (Deutscher Bundestag 2014a, b, S. 3 ff.). Dies gelang mithilfe einer Rechtsfiktion, welche die Gesetze der Mathematik politisch außer Kraft setzte. Aufgrund § 126a GO-BT galt, dass (fast) überall, wo ein Quorum von 25 % erforderlich war, nun ein Schwellenwert von 19 % der Abgeordneten ausreichte! Statt 158 Abgeordneten erforderte die Aktivierung der Oppositionsrechte nun lediglich 120 der insgesamt 127 Parlamentarier von Linkspartei und Grünen. Die Opposition erhielt jedoch nicht alle Pfeile aus dem Köcher der Oppositionsrechte zurück. Nicht durchsetzen konnte sich Opposition mit der Forderung auch das Recht zur abstrakten Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht zu erhalten.

3 Nutzung wichtiger Minderheitenrechte in der 18. Legislaturperiode Nachdem die Handlungsspielräume der Parteien Die Linke und Bündnis 90/ Die Grünen kartografiert wurden, gilt das Interesse nun der Frage, in welchem Umfang die Mini-Opposition die Minderheitenrechte tatsächlich ergriff. Auf der Basis der vom Deutschen Bundestag publizierten Statistiken wird gezeigt, wie häufig Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen schriftliche und mündliche

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Fragen, Kleine und Große Anfragen, Gesetzesinitiativen, Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen nutzten (Deutscher Bundestag 2018, 2017a, b).

3.1 Schriftliche und mündliche Fragen Für die Analyse wird zunächst die Inanspruchnahme von Minderheitenrechten in den Blick genommen, die jedem Mitglied des Deutschen Bundestages zustehen. Die von der Parlamentsdokumentation des Bundestages erstellte Statistik dokumentiert die Nutzung des Interpellationsrechts (Deutscher Bundestag 2017a). Im Deutschen Bundestag sind die Fragerechte vielfältig ausdifferenziert (Carstensen 2018, S. 484; Siefken 2018; Ismayr 2012, S. 289 ff.). Am häufigsten wurde das Interpellationsrecht in Form von schriftlichen und mündlichen Anfragen genutzt, die in der Literatur der Kontrollfunktion zugerechnet werden (Ismayr 2012, S. 289 ff.; GO-BT Anlage 4). Jeder Abgeordnete des Bundestages durfte im Monat vier schriftliche Fragen stellen, die vom Bundeskanzleramt an das zuständige Ressort weitergeleitet und innerhalb einer Woche beantwortet werden sollen. Fragen und Antworten werden in einer wöchentlichen Drucksache publiziert. Insgesamt wurden in der 18. Wahlperiode 14.012 dieser Fragen eingereicht (Deutscher Bundestag 2017a, S. 1). Daran hatten die beiden Oppositionsfraktionen sowie fraktionslose MdBs einen Anteil von insgesamt rund 90 %. Dabei zeigt sich, dass Bündnis 90/Die Grünen mit 49 % einen leicht größeren Anteil als Die Linke mit 40 % zukam. Der Anteil von Fragen fraktionsloser Abgeordneter betrug knapp 0,2 %. Demgegenüber lag der Anteil mündlicher Fragen, die von jedem Mitglied des deutschen Bundestages gestellt werden dürfen, mit 3119 niedriger (Deutscher Bundestag 2017a, S. 1). Diese Fragen werden in den Fragestunden des Bundestages, die in jeder Sitzungswoche stattfinden, behandelt. Sie müssen bis Freitag der vorherigen Woche schriftlich gestellt werden. Es dürfen zwei Fragen gestellt werden (GO-BT, Anlage 4, Nr. 1, 3, und 8) sowie zwei zusätzliche Nachfragen, wenn die Beantwortung mündlich erfolgt. In der Nutzung der mündlichen Frage dominieren auch hier klar die Abgeordnete der Oppositionsparteien und fraktionslose MdBs mit einem Anteil von rund 98 %. Wiederum nutzten Bündnis 90/Die Grünen das Instrument mit 56 % häufiger als Die Linke mit gerundet 42 %. Der Anteil der Abgeordneten ohne Fraktionsstatus lag bei 0,2 %. Den Charakter des Oppositionsinstruments unterstreicht, dass CDU/CSU und SPD nur rund 2,0 % der Fragen einreichten. Von dringlichen Anfragen, einer Variante der mündlichen Frage, die noch am Vortag der Fragestunde eingereicht werden

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darf, wurde demgegenüber deutlich weniger Gebrauch gemacht. Das Instrument lag in der 18. Wahlperiode allein in der Hand der Opposition. 20 Fragen wurden gestellt, davon elf von Die Linke und 9 von Bündnis 90/Die Grünen (Deutscher Bundestag 2017a, S. 1).

3.2 Kleine und Große Anfragen, Gesetzesinitiativen Höhere Hürden sind an eine Gruppe weiterer Minderheitenrechte gestellt. Kleine und Große Anfragen sowie Gesetzesinitiativen bedürfen zur Aktivierung 5 % der Abgeordneten des Deutschen Bundestages oder einer Fraktion. Ein Quorum, dass Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen auch ohne Änderung der Geschäftsordnung mühelos erreichten. Kleine Anfragen werden funktional der Kontrolle und der Informationsgewinnung zugerechnet (Ismayr 2012, S. 328). Der Blick auf die Nutzer zeigt, dass es sich durch und durch um ein Instrument der parlamentarischen Opposition handelt. Die 3953 Anträge wurden zu rund 99 % von der Opposition gestellt (Deutscher Bundestag 2017a, S. 1). Die Linke nutzte das Instrument mit 55 % stärker als Bündnis 90/Die Grünen mit rund 44 %. Nur zwei Anträge verfassten die beiden Oppositionsparteien gemeinsam. Das bestätigt die Faustregel, dass Koalitionen innerhalb der Opposition von den Akteuren vermieden werden. Große Anfragen dienen der Informationsbeschaffung, für Kritik an den politischen Zielvorstellungen und Gesamtkonzepten der Regierung. Die Möglichkeit zur Aussprache über die Antworten der Regierung im Plenum des Bundestages bietet darüber hinaus der Opposition die Gelegenheit, politische Alternativen zu präsentieren (Ismayr 2012, S. 320 ff.). Im Vergleich zur Kleinen Anfrage wurde dieses Recht deutlich weniger ergriffen. In der 18. Legislaturperiode wurden nur 15 Große Anfragen gestellt (Deutscher Bundestag 2017a, S. 1). Die Statistik zeigt deutlich, dass Große Anfragen ausschließlich von der Opposition genutzt wurden. Mit neun Anträgen lag Die Linke dabei vor Bündnis 90/Die Grünen mit sechs Fällen. Einbezogen in die Analyse der Klaviatur der Oppositionsinstrumente werden im Folgenden auch Gesetzesinitiativen, da sie am konkretesten die politischen Alternativen in der Rolle des Dissidenten zum Ausdruck bringen. In der 18. Legislaturperiode wurden insgesamt 731 Gesetzesinitiativen beim Bundestag eingereicht (Deutscher Bundestag 2017b, S. 1). Davon entsprangen dem Bundestag 148, ein Anteil von etwa 20 % (Deutscher Bundestag 2017b, S. 1). Von den beiden Oppositionsfraktionen gingen rund 58 % dieser Gesetzesinitiativen aus.

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Dabei initiierten Bündnis 90/Die Grünen circa 35 % und die Linke um die 20 %. Die Zahl gemeinsamer Anträge beider Oppositionsparteien betrug lediglich 3 %. Niedrig ist auch die Zahl gemeinsamer Gesetzesinitiativen von Regierung und Opposition. CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen initiierten drei von 148 Anträgen aus den Reihen des Bundestages, was einem Anteil von 2 % entspricht. CDU/CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke brachten in der gesamten Legislaturperiode zwei Gesetzesinitiativen gemeinsam ein (rund 1 %). Instruktiv ist die Analyse, wie erfolgreich die Gesetzesinitiativen der parlamentarischen Opposition waren. Insgesamt wurden in der 18. Legislaturperiode 555 Gesetze nach der zweiten und dritten Lesung verabschiedet. Keine der 86 Gesetzesinitiativen, die von einer der beiden Oppositionsparteien oder gemeinsam initiiert wurden, konnte reüssieren.3 Erwartungsgemäß waren alle der wenigen gemeinsamen Gesetzesinitiativen von Regierung und Opposition von Erfolg gekrönt.

3.3 Parlamentarische Untersuchungsausschüsse und Enquete-Kommissionen Die höchste Barriere für die Aktivierung von Minderheitenrechten besteht in einem Quorum von 25 % der Abgeordneten des Bundestages. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse (Art. 44 GG) und Enquete-Kommissionen (§ 56 GO-BT) konnte die Opposition folglich erst aufgrund der Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages initiieren. Im Blick auf die 18. Legislaturperiode zeigt sich, dass Parlamentarische Untersuchungsausschüsse für die Mini-Opposition ein mehrfach genutztes Instrument darstellten. Untersuchungsausschüsse lassen sich als „hard power“ der Opposition charakterisieren. Sie sind das formal-rechtlich schärfste Instrument zur Kontrolle der Regierung. Untersuchungsausschüsse dienen der Aufklärung von Sachverhalten und beinhalten vergleichsweise starke Durchsetzungsrechte, wie die Anwendung der Strafprozessordnung (Ismayr 2012, S. 358 ff.). Im Untersuchungszeitraum wurden fünf Untersuchungsausschüsse nach Artikel 44 GG eingesetzt (Deutscher Bundestag 2018, S. 1) „National Security Agency (NSA)“,

3Ein

interessanter Fall war das Eheöffnungsgesetz. Im Sommer 2017 stimmte der Deutsche Bundestag über diese Vorlage des Bundesrates ab. Dafür stimmten sowohl die beiden Oppositionsfraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen als auch die Regierungsfraktion der SPD wie 75 Unionsabgeordnete.

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2. „Edathy-Affäre“, 3. „Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU II)“, 4. „Cum-Ex-Geschäfte“ und 5. „Abgas-Ausschuss“. Die Akzentuierung der Opposition auf dieses Minderheitenrecht kommt darin zum Ausdruck, dass an jedem der fünf Anträge die Oppositionsparteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen als Mitantragsteller an der Einsetzung mitwirkten. Drei der fünf Anträge auf Einsetzung (2, 4 und 5) wurden von den beiden Oppositionsparteien allein gestellt. Die beiden übrigen Einsetzungsverlangen wurden gemeinsam mit den Parteien der GroKo eingebracht. Aufgrund der Änderung der Geschäftsordnung im frühen Stadium der Legislaturperiode hatte die Mini-Opposition zudem die Möglichkeit, das Instrument der Enquete-Kommission zu ergreifen. Diese Ausschüsse verfolgen das Ziel, komplexe Entwicklungen systematisch in den Blick zu nehmen und einen Beitrag zur Erarbeitung zukunftsgerichteter Policies zu leisten (Ismayr 2012, S. 358 ff.). Im Unterschied zu Untersuchungsauschüssen lassen sich Enquete-Kommissionen als „soft power“ für die Oppositionsarbeit begreifen. In der 18. Legislaturperiode haben Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen keine Enquete-Kommission gefordert. Die Analyse der Nutzungshäufigkeiten wichtiger Minderheitenrechte durch die Opposition erweist sich als aufschlussreich. Es zeigt sich, dass die parlamentarische Opposition als spezialisierter und eigensinniger Akteur agierte und zahlreiche Minderheitenrechte nutzte. Minderheitenrechte erweisen sich auch in der 18. Legislaturperiode in erster Linie als Oppositionsrechte. Eine starke Akzentuierung der Oppositionsarbeit wird in den hohen Nutzungszahlen der analysierten Interpellationsrechte deutlich. Schriftliche und mündliche sowie dringliche Fragen, Kleine und Große Anfragen wurden fast ausschließlich von der Opposition initiiert. Auch bei Gesetzesinitiativen aus dem Bundestag heraus war die Opposition mit über der Hälfte der Anträge aktiv beteiligt. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse wurden vollständig oppositionell mitinitiiert und zu mehr als der Hälfte eigenständig beantragt. Von Interesse sind die Befunde auch hinsichtlich der Frage, welche Bedeutung der Höhe des Quorums für die Inanspruchnahme der Minderheitenrechte zukommt. Für die meist frequentierten Minderheitenrechte, die seitens der Opposition aktiviert wurden, wäre die Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gar nicht erforderlich gewesen. Deutlich wird darüber hinaus, dass zwar mehrfach das Minderheitenrecht der Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses genutzt wurde, jedoch keine Enquete-Kommission eingesetzt wurde.

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4 Restriktionen und Bedarfe zeitgemäßer Oppositionsforschung Die Statistik des Bundestages leistet einen notwendigen, jedoch keinen hinreichenden Beitrag zur Klärung der Ausgangsfrage, ob es den Parteien Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen im 18. Deutschen Bundestag gelungen ist, ihre Handlungsmöglichkeiten als parlamentarische Opposition auszuschöpfen. Die Auswertung der Nutzung wichtiger formaler Minderheitenrechte ist unverzichtbar, weil sich aufgrund der gewonnenen Nutzungszahlen ein erstes Bild der Aktivitäten der Opposition zeichnen lässt. So lassen sich Aussagen treffen, ob und welche Minderheitenrechte in Anspruch genommen wurden. Unklar bleibt insbesondere, was sich hinter den nackten Zahlen der Statistik für ein parlamentarisches Geschehen verbirgt. Im Folgenden werden die Fragen erörtert, die eine auf rein statistische Häufigkeiten basierte Analyse aufwirft. Ein erstes Problem resultiert daraus, dass allein auf der Basis der ermittelten Häufigkeit der Nutzung der Minderheitenrechte keine inhaltliche Bewertung möglich ist, welcher qualitative Beitrag zur Erfüllung der Oppositionsfunktionen geleistet wurde. Auch hier gilt: Quantität ist nicht gleich Qualität (Carstensen 2018, S. 496). Die bloße Zahl von knapp 4000 Kleinen Anfragen schweigt über das tatsächliche Geschehen: Zu welchen Themen wurden die Fragen gestellt? Haben Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen die Antwort für die weitere Oppositionsarbeit nutzen können? Wurde in den Medien darüber berichtet? Das Bewertungsproblem lässt sich auch durch Zeitreihenvergleiche nicht lösen. Solche Vergleiche informieren lediglich, in welchem Umfang Minderheitenrechte im Verlauf von verschiedenen Legislaturperioden genutzt wurden. So klärt uns die diagnostizierte Zahl von fünf Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen in der 18. Legislatur, im Unterschied zu zwei regulären Ausschüssen in der Wahlperiode zuvor, nicht darüber auf, ob dies wenig nennenswert oder beachtlich zur Ausschöpfung der Handlungsmöglichkeiten der Mini-Opposition beitrug. Der einfache Vergleich der Zahl von Aktivitäten legt die unzutreffende Einschätzung nahe, dass die Opposition ihre Handlungsmöglichkeiten im Laufe verschiedener Legislaturperiode in stärkerem oder geringerem Maße ausgeschöpft habe, ohne dies inhaltlich unterfüttern zu können: Welche Erkenntnisse haben die Untersuchungsausschüsse ans Tageslicht gebracht? Musste die Regierung Konsequenzen aus dem Abschlussbericht ziehen? Konnte sich die Opposition profilieren? Hinzu kommt, dass die Statistik wichtige Kontextfaktoren nicht berücksichtigt, die sich im Blick auf die Frage der Ausschöpfung der Handlungsmöglichkeiten als relevante Restriktionen erweisen können. Ausgespart ist das

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Ausmaß des erforderlichen zusätzlichen Arbeitsaufwandes angesichts deutlich kleinerer Faktionen und Mitarbeiterstäbe unter Bedingen der Mini-Opposition. Ebenso wenig wird die mögliche Belastung durch parallele Oppositionsaktivitäten (wie Untersuchungsausschüsse und Große Anfragen) deutlich. Eine Schwierigkeit der Parlamentsstatistik besteht zweitens darin, dass die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition nur unvollständig Berücksichtigung finden. Ursächlich hierfür ist erstens die Fixierung der Parlamentsstatistik auf die Inanspruchnahme formaler Minderheitenrechte. Dabei umfasst das Handlungsrepertoire der Opposition nicht nur formale Rechte, wie sie besonders im Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung des Bundestages niedergeschrieben sind. Für ein umfassenderes Bild müssen informale Regeln und Praktiken ebenso in die Analyse einbezogen werden (Siefken 2018, S. 420; Lauth 2016; Bröchler und Lauth 2014; Helmke und Levitsky 2006). In der Realität umfasst das Handlungsspektrum der parlamentarischen Opposition formale wie informale politische Institutionen, die wiederum miteinander in vielfältige Wechselbeziehungen treten. Beispielsweise werden formale Regeln, wie Kleine und Große Anfragen durch informale Regeln, wie Ministerbriefe, persönliche Netzwerke, direkte Kontakte (Siefken 2018, S. 421 f.) ergänzt. Doch blinde Flecke resultieren nicht nur aus der Vernachlässigung von Informalität. Eine weitere Ursache liegt in der Fixierung der Analyse der Handlungsspielräume der Opposition auf eine einzige Handlungsarena: auf die parlamentarische Arena des Deutschen Bundestages. Tatsächlich umfasst das Handlungsfeld ein breiteres Spektrum unterschiedlicher Arenen, die seitens der Opposition genutzt werden können. In der bundesstaatlichen Arena, verfügt die Opposition, sofern sie in Bundesländern an der Regierung beteiligt ist, über Mitgestaltungsmöglichkeiten im Bundesrat besonders bei Einspruchsgesetzen auf die Gesetzgebung des Bundes (Schmedes 2019; Merkel 2003). In der judikativen Arena können formale Minderheitenrechte wie abstrakte Normenkontrolle (mit Ausnahme in der Mini-Opposition in der 18. Wahlperiode) und Subsidiaritätsklage vor dem Bundesverfassungsgericht zur Geltung gebracht werden (Waack 2015, S. 744 ff.). Die mediale Arena eröffnet ein breites Spektrum informaler Handlungsmöglichkeiten für die Opposition, besonders für Agenda-Setting und Mobilisierung (Korte 2014, S. 13 f.). Wichtige Instrumente um Aufmerksamkeit für die Opposition zu erzielen und damit das Meinungsklima mit zu bestimmen, sind Interviews, Pressekonferenzen, Pressemitteilungen und Social Media. Aber auch informale Formate, die nicht der unmittelbaren Berichterstattung dienen, wie Hintergrundgespräche und Gesprächskreise „unter

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zwei oder drei“4 bieten der Opposition die Möglichkeit, ihre Sichtweisen und Positionen bei den medialen Meinungsmultiplikatoren strategisch zu platzieren. Als dritte wichtige Restriktion erweist sich die Mehrdimensionalität sowohl der formalen Minderheitenrechte als auch der informalen Handlungsinstrumente. Häufig lassen sich die Funktionen Kritik, Kontrolle und Alternativenentwicklung zugleich mehreren Funktionen sinnvoll zuzuordnen. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse zielen zwar prima facie auf ex post Kontrolle des Regierungshandelns, doch der Blick in Abschlussberichte zeigt, dass dort auch politische Alternativen, wie Gesetzesvorschläge formuliert werden (Ismayr 2012, S. 359). Zudem erweist sich das Spektrum der Funktionen-Trias als zu engmaschig. Minderheitenrechte wie informale Handlungsmöglichkeiten adressieren nicht selten Funktionen, die über Kritik, Kontrolle und Alternative hinausgehen. So belegt die neuere Forschung, dass beispielsweise Kleinen Anfragen häufig nicht nur eine Kontrollfunktion zukommt, sondern dass diese auch der Kommunikation und Repräsentation dienen (Hünermund 2018).

5 Anforderungen an eine zeitgemäße Oppositionsforschung In der Zukunft sind steigende Bedarfe für die Erforschung der parlamentarischen Opposition als institutioneller Akteur zu erwarten. Gründe resultieren sowohl aus dem disziplinären Eigeninteresse der Politikwissenschaft als auch aus den Folgen der Veränderungen der bundesdeutschen Parteiendemokratie. Aus Sicht der Regierungs- und Parlamentarismusforschung lässt sich erstens ein Forschungsdesiderat im Blick auf Erkenntnisse zur Funktions- und Aufgabenerfüllung der Opposition in den Legislativen des Bundes, der Länder und Kommunen konstatieren. Es bedarf systemischer Antworten auf die bedeutsame Frage, wie

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Formulierungen beschreiben Konventionen, wie Journalisten von den Gesprächen mit Politikern in den Medien Gebrauch machen dürfen. Gespräche „unter eins“ sind unmittelbar für die Publikation gedacht. Demgegenüber darf bei Äußerungen „unter zwei“ zwar der Inhalt zitiert werden, verhüllt wird jedoch der Politiker von dem die Aussage stammt. Statt dem konkreten Namen finden sich üblicherweise Formulierungen, wie „aus Regierungskreisen verlautet“ oder aus „gut unterrichten Kreisen wird gesagt“. Gespräche „unter drei“ sind weder namentlich noch inhaltlich unmittelbar zitierfähig. Dennoch ist damit seitens der Politik eine strategische Absicht verbunden, das der Gesprächsinhalt das Meinungsbild der Journalisten prägt und so, indirekt doch in die Art und Weise der Berichterstattung bzw. Kommentierung einfließt und Wirkung erzeugt.

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sich im Rahmen von Konflikt- und Konsensprozessen das Politikmanagement der Opposition in und zwischen den unterschiedlichen Politikarenen unter Bedingungen von Formalität und Informalität vollzieht. Der zweite Faktor, der zu erhöhtem Forschungsbedarf über parlamentarische Opposition führt, ist der Wandel der Parteiendemokratie (Decker 2018). Aufgrund der Erfolgserie bei Wahlen ist die AfD in das parlamentarische Regierungssystem Deutschlands umfänglich eingesickert. Ein wichtiges Desiderat betrifft die Frage, wie sich die Einbindung der AfD in die Funktions- und Aufgabenerfüllung der bundesdeutschen Parlamente vollzieht. Dazu bedarf es insbesondere Analysen über mögliche Wechselwirkungsprozesse. Dies betrifft vor allem die Frage, welche Erkenntnisse sich gewinnen lassen, wie einerseits der Handlungsraum der parlamentarischen Opposition durch die AfD geprägt wird und andererseits dieser Handlungsraum vice versa das Agieren der AfD selbst modifiziert wird. Die Analyse des Handlungsraums der Mini-Opposition in der 18. Legislaturperiode erlaubt über das Fallbeispiel hinaus, Anforderungen für eine konzeptionell wie empirisch anspruchsvolle Forschung zur Parlamentsopposition zu benennen. Erstens zeigt sich, dass die vorliegenden statistischen Daten um vergleichende Fallstudien ergänzt werden müssen, die es ermöglichen, das tatsächliche Geschehen der Inanspruchnahme von Minderheitenrechten detailliert zu rekonstruieren. Im engen Zusammenhang damit steht zweitens, dass die tatsächlichen Handlungsspielräume der parlamentarischen Opposition ausgeleuchtet werden und zwar sowohl hinsichtlich der Nutzung formaler Minderheitenrechte als auch informaler Instrumente und deren Wechselwirkung. Drittens erfordert ein umfassendes Verständnis der Handlungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition, den Fokus von der parlamentarischen auf weitere Arenen, besonders den Bundesrat, das Bundesverfassungsgericht, die Medien und das Europäische Parlament auszudehnen. Um die Mehrdimensionalität der formalen Minderheitenrechte wie der informalen Handlungsmöglichkeiten durch die parlamentarische Opposition adäquat abbilden zu können, ist es zudem notwendig, den begrifflichen Kanon der traditionellen Funktionen Kritik, Kontrolle und Alternative zu verfeinern und zu erweitern.

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Oppositionsarbeit im Parlamentsalltag – eine mikropolitische Perspektive Helmar Schöne

1 Problemaufriss: Was Parlamentsstatistiken nicht zeigen Üblicherweise werden Parlamenten in parlamentarischen Regierungssystemen vier grundlegende Funktionen zugeschrieben: Parlamente bilden die Regierung, sie kontrollieren dieselbe, sie beraten und verabschieden Gesetze und sie repräsentieren gesellschaftliche Interessen. Wer sich für die Alltagsarbeit in deutschen Parlamenten, im Deutschen Bundestag und in den Landtagen der Länder, interessiert, hat vor allem die Gesetzgebungsfunktion und die Kontrollfunktion in den Blick zu nehmen. Die Wahlfunktion ist vor allem am Beginn einer Legislaturperiode oder im – alles andere als alltäglichen – Fall des Scheiterns einer Regierung sowie bei der periodisch anstehenden Besetzung von Ämtern von Bedeutung. Die Repräsentationsfunktion wird im Abgeordnetenalltag besonders während der Wahlkreis- und Parteiarbeit erfüllt. Betrachten wir die Gesetzgebungsfunktion und die Kontrollfunktion, so wird die erste häufig der Regierungsmehrheit und die zweite der Opposition zugeschrieben. Parlamentsstatistiken belegen diese Zuschreibung zunächst. In der 18. Wahlperiode lag der Anteil der Regierungsvorlagen an den beim Bundestag eingebrachten Gesetzesvorhaben bei 72 % und der Initiativen des Bundestages bei 20 %. An jenen Parlamentsinitiativen haben zwar in der Regel die Oppositionsfraktionen den größeren Anteil (58 % in der 18. Legislaturperiode), H. Schöne (*)  Institut für Gesellschaftswissenschaften, Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_7

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trotzdem liegt die Gesetzgebungsinitiative eindeutig bei der Regierungsmehrheit1 (Datenhandbuch o. J., Abschn. 10.1, S. 4). Für die Kontrolltätigkeiten zeigt die Parlamentsstatistik ein gegenteiliges Bild: Die Kontrollinstrumente werden überwiegend von den Oppositionsfraktionen genutzt. In der 18. Wahlperiode stammten die Großen Anfragen und die Dringlichen Fragen sogar ausschließlich aus der Opposition, die Kleinen Anfragen zu 99 %, die Mündlichen Fragen zu 98 % und die Schriftlichen Fragen zu 90 % (Datenhandbuch o. J., Abschn. 11.4, S. 1). Diese Statistiken geben aber keine Auskunft darüber, wie sich die Oppositionsarbeit im Alltag parlamentarischen Handelns praktisch gestaltet. Wie bedienen sich Abgeordnete der verschiedenen formellen und informellen Verfahren, um Regierungshandeln auch aus der Opposition zu beeinflussen? Wie wird über Strategien parlamentarischen Oppositionshandelns entschieden? Welches Selbstverständnis leitet das Handeln von Abgeordneten der Opposition an? Verstehen sie sich vorrangig als Kontrolleure oder steht doch die Gesetzgebung im Vordergrund? Soll in der Wahrnehmung der Parlamentarier/-innen Oppositionsarbeit vorrangig auf Kritik, auf Kontrolle oder auf die Formulierung von Alternativen zielen? Zur Beantwortung dieser Fragen wirft der vorliegende Beitrag einen Blick in die Alltagsarbeit von Fraktions- und Parlamentsgremien, insbesondere in die Arbeitsgruppen- bzw. Arbeitskreissitzungen von Oppositionsfraktionen. Zu diesem Zweck wurden Feldprotokolle aus ethnographischen Beobachtungen im Deutschen Bundestag und im Sächsischen Landtag ausgewertet, die aus einem älteren Forschungsprojekt stammen (vgl. Schöne 20102). Zunächst wird die zugrunde liegende Forschungsidee politikwissenschaftlicher Mikroanalyse skizziert (Kap. 2). Anschließend werden die Organisationsstrukturen von Fraktionsarbeitskreisen und -gruppen vorgestellt (Kap. 3). Es folgt die „dichte Beschreibung“ (Geertz 1991) der Abgeordnetenarbeit in den Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen von Oppositionsfraktionen (Kap. 4). Ein Fazit hinsichtlich der Erfüllung der Oppositionsaufgaben im Parlamentsalltag schließt die Darstellung ab (Kap. 5).

1Die Zahlen der 18. Wahlperiode sind außergewöhnlich hohe Werte, aber auch in der Vergangenheit betrug der Anteil der Regierungsinitiativen etwa 50 % bis 60 % und der Anteil der Initiativen des Bundestages 30 % bis knapp 40 %. 2Der vorliegende Beitrag stützt sich in Teilen auf Darstellungen in diesem Buch.

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2 Forschungsidee: Was politikwissenschaftliche Mikroanalyse leistet Politikwissenschaft schaut gewöhnlich auf politische Regime, politische Systeme oder politische Institutionen. Wie bereits das Präfix nahelegt, konzentriert sich die Mikropolitologie dagegen zuerst auf die kleinteiligen Handlungen von Akteuren in politischen Organisationen und Institutionen. Sie zielt auf die Analyse des Innenlebens institutioneller Kontexte oder Politikfelder, indem sie sich der alltäglichen Routinen, den selbstverständlichen Verhaltensweise und den informellen Prozessen der politischen Entscheidungsfindung annimmt. „Mikropolitologie ist ein theoretisches Konzept, das Interaktionen von individuellen und/oder korporativen Akteuren in politischen Organisationen und in politischen Institutionen empirisch untersucht, typologisiert, generalisiert und bestimmte Politikergebnisse mittels kausaler Mechanismen zu erklären versucht. (…) (Sie) konzentriert sich auf die Konflikt- und Konsensprozesse (…), weil organisatorische und institutionelle Regeln sich nicht selbst anwenden, sondern im Prozess ihrer wiederholten Anwendung von Akteuren nicht nur für ihre Interessen bekräftigt und genutzt, sondern wegen ihrer prinzipiellen Mehrdeutigkeit auch verändert, modifiziert oder unterlaufen werden“ (Rüb 2013, S. 339, Hervor. i. Orig.). Damit kann politikwissenschaftliche Mikroanalyse zu einem besseren Verständnis darüber beitragen, wie Politik hergestellt wird. Die institutionelle Analyse findet aus einer Akteursperspektive und über die Analyse des Akteurshandelns in Organisationen und Institutionen statt. Daher sind die theoretischen Ausgangspunkte der Mikropolitologie zunächst in der Soziologie zu finden. Die Organisationssoziologie etwa konzipiert Organisationen als lose verkoppelte, informale und auch indifferente Gebilde und weniger als – im Weber‘schen Sinne – rationale, bürokratische und rechtlich strukturierte Einheiten. Institutionen sind das – jeweils nur vorläufige – Ergebnis von Kommunikations- und Interaktionsprozessen (vgl. z. B. March und Olsen 1989; Crozier und Friedberg 1979). Mikropolitische Konzepte beziehen sich ferner auf ethnomethodologische Theorien in der Tradition Harold Garfinkels (1967). Ethnomethodologie ist die Wissenschaft von den Methoden des Handelns, Darstellens und Interpretierens, mit denen Mitglieder von sozialen Gruppen ihre gemeinsame Wirklichkeit konstruieren, also hervorbringen, erhalten, benutzen und verändern. Solche wissenssoziologischen Ansätze untersuchen, welche Vorstellungen Mitglieder einer sozialen Gruppe von ihrem Alltag haben und wie dieses Wissen

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ihr routinemäßiges Handeln anleitet (vgl. Patzelt 1987; Patzelt 1989). Erst durch die alltäglichen Handlungspraktiken ihrer Mitglieder entstehen in politischen Institutionen Struktur und Ordnung. Nicht zuletzt können mikropolitologische Untersuchungen an frühe Arbeiten zur Rollen- und Stiltheorie politischen Handelns anknüpfen; etwa an Richard Fennos Forschungsarbeiten, für die er Abgeordnete in ihren Wahlkreisen bzw. Senatoren im Wahlkampf wochenlang begleitet hat, um systematische Einblicke in das Rollenhandeln politischer Akteure zu erhalten (Fenno 1978, 1996). Nach wie vor ist die Anzahl der Arbeiten, welche sich mikropolitischer Ansätze bedienen, überschaubar (Rüb 2013, S. 343). Eine der wenigen Studien aus dem Bereich der Parlamentsforschung ist eine ethnographische Studie von Nullmeier et al. (2003). Um zu zeigen, wie Politik in ihrer Alltäglichkeit funktioniert, haben die Autor/-innen einesteils parlamentarische Gremien (die Fraktionsarbeitsgruppe Bildung der SPD-Bundestagsfraktion und den Wissenschaftsausschuss) sowie anderenteils Gremien des Wissenschaftsrates teilnehmend beobachtend begleitet. Sie rücken drei zentrale Kategorien in den Mittelpunkt, um zu erklären, mit welchen Mechanismen Entscheidungen im politischen Alltagshandeln hergestellt werden: Wissen, Praktiken und Positionierungen. Die Praktiken sind von besonderer Bedeutung (Pritzlaff und Nullmeier 2009); sie stellen kollektive Handlungsmuster, also spezifische Formen des Operierens in einem sozialen Kontext dar. Weil Praktiken keine Einmal-Interaktionen sind, sondern organisationstypische und in ihrer Anzahl ­ begrenzte Prozeduren, die sich in Raum und Zeit wiederholen, wirken sie strukturprägend. In einer jüngeren Studie zur parlamentarischen Sozialisation wurde dieses Konzept der Praktiken aufgegriffen, um den Einstieg neuer Parlamentarier/-innen in den Beruf von Politiker/innen zu untersuchen. Am Beispiel der Hamburger Bürgerschaft stellt Willner (2014) dar, wie Abgeordnete im Alltag ihre Handlungsspielräume ausweiten und handlungsfähig werden. Der Autor identifiziert ein Set mikropolitischer Praktiken, die er als Bündelung von Handlungsmustern und kollektiven Wissensbeständen versteht, die soziale Prozesse strukturieren. Damit werden in der Parlamentarismusforschung debattierte Erkenntnisse bestätigt, etwa dass sich Parlaments-Neulinge zum Beginn in Zurückhaltung üben sollen (zuerst Matthews 1959) oder dass Konkurrenz nicht nur zwischen den Abgeordneten verschiedener Fraktionen, sondern auch innerhalb der Fraktionen weit verbreitet ist (Mayntz und Neidhardt 1989). Um nach dem Einstieg ins Parlament Optionen auf weitere parlamentarische Karriereschritte zu haben, ist es unumgänglich, Erfolge bei der Bearbeitung der

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übernommenen Politikfelder nachzuweisen. In einer ethnografischen Studie zeigt Brichzin, wie sich die Arbeit von Abgeordneten entlang von Themen strukturiert. „Themen scheinen sich über die Zuteilung von Zuständigkeiten quasi als Besitz akkumulieren zu lassen und der Besitz von als besonders wichtig erachteten Themen wird erstrebt, verteidigt oder verwehrt“ (2016, S. 175). Die Bearbeitung dieser Themen erfolgt anhand von drei Modi: politisches Spiel, Themenabfertigung und politische Gestaltung. Jeder Modus bezieht sich auf unterschiedliche Arten von Themen. Im politischen Spiel werden Themen von öffentlichem Interesse bearbeitet. Entsprechend ist diese Arbeitsform in der Öffentlichkeit am meisten präsent und durch die Logik des Parteienwettbewerbs geprägt: ritualisiert, konfrontativ, ideologisch aufgeladen. Für die Bearbeitung von Themen mit geringerer symbolischer Relevanz, also dem öffentlich weitgehend unbemerkten Klein-Klein der Parlamentsarbeit, verwendet die Autorin den Begriff der Themenabfertigung. Der erste Modus dient der Erarbeitung symbolischer Alternativen, der zweite der schnellen Lösung konkreter Probleme. Im dritten Modus, der politischen Gestaltung, erfolgt die „Neuordnung“ von Gesellschaft, indem ein „bisher durch Regularien und Pfadabhängigkeiten (…) eingeschränkt erscheinender symbolischer Bewegungsraum“ neu gestaltet wird (S. 212). Für die Untersuchung von Alltagstheorien des Politischen und von politischen Handlungskonventionen werden geeignete Erhebungsmethoden benötigt, mit denen sich kommunikative Praktiken bzw. Denk- und Handlungsmuster rekonstruieren lassen und die es ermöglichen, politisches Handeln aus der Perspektive der handelnden Akteure zu verstehen. Daher wurde in den letzten Jahren der Versuch unternommen, die ethnographische Politikforschung methodologisch zu fundieren (vgl. z. B. Pritzlaff 2006; Schöne 2009; Willner 2011). Die politikwissenschaftliche Mikroanalyse stellt ein theoretisch fundiertes Forschungsprogramm dar, mit dem über journalistische Idiosynkrasien hinaus systematische Einblicke in das Innenleben politischer Organisationen gewonnen werden können. Es erleichtert das Verständnis darüber, wie Politik in Entscheidungsprozessen gestaltet wird. Mit Blick auf das Entscheiden in Repräsentationskörperschaften ist ein treffend formuliertes Motto der politikwissenschaftlichen Mikroanalyse: ‚Parlamente von innen verstehen‘. Dabei muss die mikropolitologische Analyse nicht auf die Ebene des Akteurshandelns begrenzt bleiben, weil Makrophänomene immer „das Resultat mikropolitischer Interaktionen sind“ (Rüb 2013, S. 340).

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Dieser Blick in das Innenleben von Parlamenten richtet sich im Folgenden vor allem auf die Arbeitskreise bzw. Arbeitsgruppen der Fraktionen3, weil in ihnen ein wichtiger Teil der politischen Entscheidungsfindung in den deutschen Fraktionenparlamenten (vgl. Schüttemeyer 1998) stattfindet. Zunächst werden, am Beispiel des Bundestags, die Organisationsstrukturen der Arbeitskreise dargestellt, um dann die Arbeit in den Arbeitskreisen der Oppositionsfraktionen in den Blick zu nehmen.

3 Fraktionsarbeitskreise: Wie sie organisiert sind und welche Aufgaben sie erfüllen Die Fraktionsarbeitskreise sind die kleinstteiligen Gremien der Fraktionen. In ihnen treffen sich die Fachpolitiker/-innen eines oder mehrerer Politikfelder. Grundsätzlich sind jene Abgeordneten Mitglieder eines Arbeitskreises, die einem dem Arbeitskreis zugewiesenen Ausschuss angehören. Für die Fraktionen, die ihre Arbeitskreise spiegelbildlich zur Ausschussstruktur organisieren – im Bundestag sind das CDU/CSU, SPD und AfD – gilt daher in der Regel, dass die Mitglieder eines Ausschusses einen Arbeitskreis bilden. Damit wird eine bestmögliche Vorbereitung der Ausschussarbeit durch die Expert/-innen der Fraktionen angestrebt. Darüber hinaus existieren in der Regel weitere zeitlich befristete Arbeitskreise, etwa zur Begleitung von Enquetekommissionen und Untersuchungsausschüsse oder Arbeitskreise, die in der Gesellschaft aktuell virulente Fragestellungen aufgreifen. Die kleineren Fraktionen hingegen haben zu wenige Abgeordnete, um für alle Politikfelder einen eigenen Arbeitskreis zu bilden; sie bündeln verschiedene Themen. Die Bundestagsfraktion der Grünen etwa verfügt über fünf Arbeitskreise. Das Themenspektrum, das in diesen Arbeitskreisen beraten wird, ist dann deutlich heterogener.

3In

den Bundestagsfraktionen von CDU/CSU, SPD und Die Linke wird die Bezeichnung ‚Arbeitsgruppen‘ (AGs) verwendet, in den anderen Fraktionen (AfD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP) jene der ‚Arbeitskreise‘ (AKs). Zur Vereinfachung der Darstellung wird hier einheitlich der Begriff Arbeitskreise verwendet, sofern nicht explizit von einzelnen Fraktionen die Rede ist. In den Landtagen variieren die Bezeichnungen; es finden sich sogar Unterschiede zwischen den gleichen Fraktionen in verschiedenen Parlamenten.

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Die Arbeitskreise werden von einem oder einer Vorsitzenden geleitet4 (zur Rolle der Vorsitzenden vgl. ausführlich Oertzen 2006). Unterschiede finden sich zwischen den Fraktionen bei der Einbindung der Arbeitskreisvorsitzenden in andere Gremien. In der C ­ DU/CSU-Fraktion des Bundestages sind die Arbeitskreisvorsitzenden Mitglieder des (erweiterten) Fraktionsvorstandes. Bei den Grünen und auch bei den Linken im Bundestag sind die Arbeitskreiskoordinator/innen in Personalunion stellvertretende Fraktionsvorsitzende. Das soll eine enge Abstimmung zwischen den Arbeitskreisen und dem Vorstand sicherstellen. Die SPD-Fraktion dagegen setzt auf die Selbstkoordination ihrer Arbeitskreise. In den größeren Fraktionen sind die Vorsitzenden der Arbeitskreise gegenüber der Öffentlichkeit verantwortliche Sprecher/-innen für das Politikfeld, das in ihrem Arbeitskreis bearbeitet wird. In den kleineren Fraktionen gibt es neben den Vorsitzenden weitere fachpolitische Sprecher/-innen für die unterschiedlichen Politikfelder, weil die Vorsitzenden alleine nicht alle Themenbereiche vertreten können, die in einem Arbeitskreis versammelt sind. Auch jene Abgeordnete, die keine herausgehobenen Funktionen innehaben, sind in der Regel aktiv in die Arbeit ihrer Arbeitskreise eingebunden. Üblicherweise nämlich erhalten alle Abgeordneten im Laufe einer Legislaturperiode den Auftrag, Gesetzesentwürfe zu betreuen. Als sogenannte B ­ erichterstatter/-innen sind sie dann dafür verantwortlich, ein Gesetz von der ersten Idee bis zu seiner Verabschiedung zu betreuen und den Arbeitskreis darüber zu unterrichten. Häufig werden einzelnen Abgeordneten bestimmte Sachgebiete dauerhaft zugeordnet, sodass es, wenn ein Thema auf der Agenda erscheint, „geborene“ ­Berichterstatter/-innen gibt (Ismayr 2012, S. 90). In den Sitzungswochen des Bundestages treffen die Arbeitskreise Dienstagvormittag zusammen. Für die Abgeordneten ohne herausgehobene Funktionen beginnt mit den Arbeitskreissitzungen die Sitzungswoche. Weil die Arbeitskreise vor den Fraktionsversammlungen am Dienstagnachmittag, vor den Ausschusssitzungen am Mittwochvormittag und vor den Mittwochmittag beginnenden Plenarsitzungen tagen, ist sichergestellt, dass ihre Arbeitsergebnisse in die Gremien ihrer Fraktionen und des Parlaments Eingang finden können. Andererseits können montags gefasste Beschlüsse der Fraktionsvorstände in die Arbeitskreise einfließen. Arbeitskreissitzungen dauern üblicherweise zwei bis höchstens drei Stunden; sie sind durch das strenge Terminkorsett der Sitzungswochen begrenzt.

4Auch

die Bezeichnung der Vorsitzenden unterscheidet sich zwischen den Fraktionen (vgl. ausführlich Schöne 2010, S. 246 ff.).

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Für die Abgeordneten sind die Arbeitskreise der Fraktionen ein zentraler Ort, um ihre politischen Positionen im Parlament einzubringen. Dabei sind sie häufig mehr als Vorbereitungsorgane für die Fraktionsvollversammlung oder für die Ausschuss- und Plenararbeit, wie es in der Literatur über viele Jahre dargestellt worden ist (z. B. von Beyme 1997; Schüttemeyer 1998). Für ihre Fraktionen erfüllen die Arbeitskreise vor allem drei Funktionen: a) Agenda-Setting, b) Entscheidungsfindung und c) Integration. Von „unten“ erfolgt das Agenda-Setting indem die Parlamentarier/-innen Informationen, Anregungen und Wünsche aus ihren Wahlkreisen und aus ihren gesellschaftlichen Kontakten als Fachabgeordnete in die Arbeitskreise einbringen. Die Arbeitskreise sind ein wichtiges Eingangsportal, durch das Themen aus der Gesellschaft das Parlament erreichen, sei es durch die Netzwerke der Fachpolitiker/-innen, durch Gäste in den Arbeitskreissitzungen, durch Ortstermine oder durch fraktionsinterne Anhörungen. Gleichzeitig wirken die Arbeitskreise wie ein Filter, mit dem ausgewählt wird, welche Themen im Parlament weiter bearbeitet werden. Gelangen Vorlagen von „oben“ in die Arbeitskreise, also aus der Fraktionsführung oder, im Fall von Regierungsfraktionen, aus den Ministerien, ist eine Behandlung in der Regel selbstverständlich. Aber auch solche Vorlagen können ohne eine rechtzeitige Befassung der zuständigen Arbeitskreise nicht den Weg durch die Fraktionsgremien nehmen. Nicht nur das Agenda-Setting findet in den Arbeitskreisen statt, sondern auch ein wichtiger Teil der inhaltlichen Auseinandersetzung mit fachpolitischen Fragen und Initiativen. Häufig werden fachpolitische Entscheidungen in den Arbeitskreisen endgültig festgelegt und von den Fraktionen, d. h. in den Fraktionsvorständen und den Fraktionsvollversammlungen, übernommen und nicht mehr infrage gestellt. Das ist eine Folge parlamentarischer Arbeitsteilung und Spezialisierung. Schließlich erfüllen die Arbeitskreise für ihre Fraktionen auch eine Integrationsfunktion. Sie bilden eine soziale Bezugsgruppe, die den Abgeordneten Halt und Orientierung in der komplexen Umwelt des Parlaments bietet. Als fachpolitische Werkstätten dienen sie dem Erlernen des parlamentarischen Geschäfts, tragen also zur parlamentarischen Sozialisation bei. Außerdem sind sie ein Barometer für Stimmungen und Meinungen. Zwar steht die Bearbeitung der ihnen übertragenen Aufgabenfelder im Mittelpunkt der Arbeitskreisarbeit, dennoch findet hier auch über die Fachpolitik hinausgehende politische Meinungsbildung statt. Nach diesem allgemeinen Überblick über Rolle und Funktion der Fraktionsarbeitskreise kann nun der Blick auf die Arbeit der Arbeitskreise von Oppositionsfraktionen gelenkt werden, um die eingangs gestellten Fragen zu

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beantworten: Wie wird Oppositionshandeln vorbereitet und geplant? Welche Wahrnehmungen über die Aufgaben der Opposition, über erfolgversprechende Strategien der Oppositionsarbeit und über die Wirksamkeit entsprechender Bemühungen existieren in den Arbeitskreisen?

4 In den Arbeitskreisen von Oppositionsfraktionen: Wie Oppositionsarbeit im Parlamentsalltag verläuft 4.1 Was Arbeitskreise tun Besucher/-innen von Fraktionsarbeitskreisen wird beim Vergleich zwischen den Arbeitskreisen von Mehrheits- und Oppositionsfraktionen zunächst ein zentraler Unterschied auffallen: In den Arbeitskreisen der Mehrheitsfraktionen sind in der Regel Regierungsvertreter/-innen anwesend. Aus der ministeriellen Leitungsebene sind das häufig die (parlamentarischen) Staatssekretär/-innen, seltener die Minister/-innen selber, die – in Abhängigkeit von der Tagesordnung – von verschiedenen Fachbeamt/-innen begleitet werden. Diese Anwesenheit ermöglicht ein intensives und effizientes ‚Regierungscontrolling‘ (vgl. zum Begriff Algasinger et al. 2004), also die permanente Abstimmung von politischen Initiativen zwischen Abgeordneten und Regierungsvertreter/-innen. Ziel ist die möglichst geräuschlose Zusammenarbeit und ggf. Kompromissbildung zwischen Arbeitskreisen und der Regierung. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit geht es um Konfliktvermeidung und Konfliktbeilegung, damit sich die Regierungsmehrheit mit gemeinsamen Positionen nach außen präsentieren kann. Arbeitsgrundlage dafür sind häufig Regierungsvorlagen. In den Arbeitskreisen der Opposition dagegen nehmen die Vorbereitung des Einsatzes der parlamentarischen Kontrollrechte sowie die Erarbeitung eigener Gesetzesentwürfe und parlamentarischer Initiativen breiten Raum ein. Die Arbeitskreise sind der Ort, an dem der Einsatz der Frage- und Informationsrechte, mit denen die Oppositionsfraktionen von der Regierung Auskunft verlangen, geplant wird. Zum einen werden jene Fragerechte, die formell in der Verantwortung einzelner Abgeordneter liegen (Mündliche und Schriftliche Fragen) in der Regel im Arbeitskreis angekündigt, um ein gemeinsames Vorgehen sicherstellen zu können. Zum anderen entscheiden die Arbeitskreise faktisch über jene Instrumente, die formell von einer Fraktion beantragt werden müssen (Kleine und Große Anfragen). Die Zustimmung in der Fraktionsvollversammlung zu in den Arbeitskreisen formulierten Anfragen ist üblicherweise

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nur eine Formsache. Des Weiteren können die Arbeitskreise Vorschläge für die Beantragung von Aktuellen Stunden in ihre Fraktionen einbringen. Auch wird über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nicht ohne Rückkoppelung mit den Fachpolitikern in den betroffenen Arbeitskreisen entschieden, so wie die thematisch betroffenen Arbeitskreise sich während der Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses über dessen Verlauf und Ergebnisse informieren. Die zweite Kernaufgabe der Arbeitskreise von Oppositionsfraktionen besteht in der Beratung von Gesetzentwürfen und anderer parlamentarischer Vorlagen. Diese Beratung bezieht sich einerseits auf die Meinungsbildung und Positionierung zu den Anträgen anderer Fraktionen. Andererseits sind die Arbeitskreise, wollen die Oppositionsfraktionen eigene Gesetzesinitiativen einbringen, die Orte, an denen die Erarbeitung entsprechender Entwürfe erfolgt. Auffällig ist, wie zeitaufwendig, sorgfältig und akribisch die Abgeordneten beiden Aufgaben, der Vorbereitung der Regierungskontrolle und der Gesetzgebung, in ihren Arbeitskreisen nachgehen. Die Formulierungen von Anfragen und Anträgen werden inhaltlich genau geprüft. Das zeigen die Beispiele, in denen an eigenen Anträgen kleinteilige Redaktionsarbeit stattfindet, unausgereift erscheinende Vorlagen von Arbeitskreismitgliedern zur Überarbeitung zurückverwiesen werden, Qualitätsmängel zur Ablehnung eingereichter Vorlagen führen oder die Anträge anderer Fraktionen vor einer Entscheidung über das Abstimmungsverhalten im Ausschuss bzw. Plenum intensiv diskutiert werden. Letzteres gilt selbst für die Anträge anderer Oppositionsfraktionen, deren Chancen im Plenum angenommen zu werden, naturgemäß ohnehin an der fehlenden Parlamentsmehrheit scheitern. Während dieser intensiven Arbeit an Vorlagen und Anträgen werden immer wieder auch grundsätzliche strategische Überlegungen angestellt: Soll man der Parlamentsmehrheit als Oppositionsfraktion in einer Sachfrage einen gemeinsamen Antrag vorschlagen? Bietet sich eine eigene Positionierung in der Öffentlichkeit an bevor sich die Regierungsmehrheit auf eine Haltung verständigt hat? Wie lässt sich auf vermutete Uneinigkeit in der Regierungsmehrheit öffentlich aufmerksam machen? Setzt man sich bei übertriebener Regierungskritik dem Vorwurf aus, dem Gemeinwohl zu schaden? Welche Themen bieten in der Aktuellen Debatte die Gewähr für größtmögliche öffentliche Aufmerksamkeit? Kann und soll man die Positionen anderer Oppositionsfraktionen unterstützen? In der Regel werden solche Fragen fallweise und themenabhängig entschieden. Die Entscheidung für eine konfrontative oder kooperierende Oppositionsstrategie findet immer wieder neu statt und die Arbeitskreise wirken in ihren Fachgebieten an der entsprechenden Ausrichtung ihrer Fraktionen mit. Dabei werden ihre Entscheidungen von Grundsatzbeschlüssen der Fraktionen

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umrahmt, etwa der über viele Jahre in der CDU/CSU-Fraktion existierenden Linie, Anträgen der heutigen Fraktion Die Linke (der früheren PDS-Fraktion) unabhängig vom sachlichen Gehalt prinzipiell nicht zuzustimmen. Das Beispiel zeigt aber auch, wie die Arbeitskreise, gewissermaßen von unten her, zur Aktualisierung politischer Positionen ihrer Fraktionen beitragen können, weil sich bei der Diskussion fachpolitischer Fragen ideologische Vorbehalte häufig als zweitrangig erweisen.

4.2 Wer in den Arbeitskreisen Einfluss nimmt Weil die Arbeitskreise für die Erfüllung des parlamentarischen Kerngeschäfts – die Regierungskontrolle und die Gesetzgebung – eine wichtige Funktion haben, gehören die Arbeitskreisvorsitzenden zu den einflussreichen parlamentarischen Akteuren. Sie verfügen einerseits über Einfluss innerhalb ihrer Arbeitskreise. Andererseits gründet ihr Einfluss in der Mittlerrolle zwischen den einfachen Abgeordneten und der engeren Fraktionsführung. In den Arbeitskreisen sind die Vorsitzenden für die Tagesordnung und für die Organisation der Arbeitskreisarbeit verantwortlich. Indem sie Anträge initiieren, politische Ziele definieren und Vorlagen verändern, verschieben oder gar verhindern, können sie die Agenda und das inhaltliche Profil der Arbeitskreise beeinflussen. Auch durch ihren Führungsstil prägen sie die Arbeitskreise, nämlich durch ihre Art, Dissens zu bearbeiten und verschiedene Interessen, politische Ziele und Temperamente zu integrieren oder für eine konstruktive Arbeitsatmosphäre zu sorgen. Zum Gelingen der Interessenaggregation im Arbeitskreis leisten sie einen nicht geringen Beitrag. Amtsverständnis, Erfahrungshintergrund und Leitungsstil der jeweiligen Arbeitskreisvorsitzenden bilden so auch einen wichtigen Erklärungsfaktor für die Verschiedenheit der Arbeitskreise und die Beobachtung, dass kein Arbeitskreis wie der andere agiert. Dissens und Konsens, Formalität und Informalität, Distanz und Nähe, Teamgeist und Individualität sowie Hierarchie und Heterarchie sind Begriffspaare, mit denen sich die Variationsbreite in der Arbeit der Arbeitskreise beschreiben lässt. Rollenanalysen haben gezeigt, dass die Arbeitskreisvorsitzenden ihre Rolle unterschiedlich interpretieren. Davon hängt zum Beispiel ab, wie straff sie ihre Arbeitskreise führen oder wie sie gegenüber der Fraktionsführung auftreten (Oertzen 2006). Die Arbeitskreisvorsitzenden gestalten nicht nur das Geschehen in den Arbeitskreisen maßgeblich mit, sondern auch das Verhältnis zwischen ihren Arbeitskreisen und den übrigen Fraktionsgremien. Einesteils sind sie die Interessenvertreter/-innen ihrer Arbeitskreise in der Fraktion, anderenteils sorgen

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sie für den Informationsfluss vom Vorstand zu den Arbeitskreismitgliedern. Formell findet diese Koordination – in Abhängigkeit von der Organisationsstruktur der Fraktion – entweder im erweiterten Fraktionsvorstand statt oder in einem gesonderten Gremium, in dem die Fraktionsvorstandsmitglieder und die Arbeitskreisleiter/-innen zusammen treffen. Informell hat aber ein Großteil der Koordination bereits vor diesen Zusammentreffen stattgefunden. Die Mittlerrolle zwischen Abgeordneten und Vorstand bedeutet für die Arbeitskreisvorsitzenden einen doppelten Vorteil: Auf der einen Seite verfügen sie über einen Informationsvorsprung gegenüber den einfachen Abgeordneten. Auf der anderen Seite repräsentieren sie die Macht der Fraktionsbasis gegenüber dem Fraktionsvorstand. Schließlich bringt die direkte Zugriffsmöglichkeit auf die Mitarbeiter/-innen der Arbeitskreise (wissenschaftliche Referent/-innen und Sekretariatspersonal) den Arbeitskreisvorsitzenden einen erheblichen Ressourcenvorsprung ein. Die Bedeutung der Arbeitskreisreferent/-innen für die Arbeit der Arbeitskreise ist nicht zu unterschätzen (vgl. Schöne 2011). Das gilt für die Oppositionsfraktionen noch einmal mehr als für die Mehrheitsfraktionen. Erst genannte sind durch ihre eingeschränkten Möglichkeiten auf die Expertise der Ministerialverwaltung zurückzugreifen, auf jede zusätzliche Arbeitskraft angewiesen, um Anfragen und Anträge erarbeiten zu können. Während die Abgeordneten neben der fachpolitischen Arbeit im Parlament auch andere Aufgaben zu erfüllen haben, etwa als Kommunalpolitiker/-innen oder regionale Parteiführer/-innen, die sie als Generalist/-innen fordern, können sich die Referent/-innen ganz auf die Fachpolitik konzentrieren. Sie sind daher häufig frühzeitiger und umfangreicher über aktuelle Entwicklungen in ihrem Sachgebiet informiert als die Abgeordneten. Als Expert/-innen ihrer Politikfelder übernehmen sie es auch, aus der unübersichtlichen Informations- und Materialflut für die Abgeordneten Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Langjährige Mitarbeiter/-innen verfügen oft auch über größeres Funktionswissen als neu ins Parlament gewählte Abgeordnete. Sachkundige Referent/-innen üben nicht nur als Informationsmittler/-innen Einfluss aus, sie entscheiden ferner über die Zusammensetzung der Tagesordnung des Arbeitskreises mit, wenn sie jene nicht sogar selbst zusammenstellen. Ebenso können sie bei der Erarbeitung parlamentarischer Vorlagen (Anträge, Anfragen, Gesetzesentwürfe) und bei der Formulierung von Stellungnahmen und Schreiben inhaltliche Akzente setzen. Solche Eigeninitiative wird von ihnen als ständigen Beobachter/-innen eines Politikfeldes direkt erwartet. Zwar halten sich die Referent/-innen in Gremiensitzungen in der Regel im Hintergrund und äußern sich nur auf Aufforderung, außerhalb der Sitzungen aber sind sie als aktive Persönlichkeiten zu erleben, die ihre fachpolitischen Urteile im Austausch mit den Abgeordneten einbringen.

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Weitere Einflussmöglichkeiten eröffnen sich für die Referent/-innen bei der Vernetzung der Arbeitskreise mit gesellschaftlichen Gruppen und anderen politischen Institutionen. Insbesondere ihre informellen Kontakte in die Ministerien sind für die Oppositionsfraktionen von Bedeutung. Weil die Mitarbeiter/-innen der Fraktionsarbeitskreise dienstälter als viele Abgeordnete ­ sind und viele früher selbst in einem Ministerium gearbeitet haben, verfügen sie über eine dichtes Netzwerk von Kommunikations- und Arbeitskontakten in die Ministerialverwaltungen, die vor allem in laufenden Gesetzgebungsverfahren nützlich sein können. Als „Büroleiter/-innen“ der Arbeitskreise sind die Referent/-innen schließlich auch Ansprechpartner/-innen für Anfragen und Angebote verschiedener Interessen- und Lobbygruppen, deren Zugang zu den Abgeordneten sie kanalisieren können. Bei der Planung von Anhörungen zum Beispiel können sie Vorschläge für einzuladende Sachverständige unterbreiten. Für das Ausmaß des politisch-konzeptionellen Einflusses der Referent/-innen auf die Entscheidungen ihrer Arbeitskreise sind wiederum Akteurskonstellationen ein wichtiger Erklärungsfaktor. Der Einfluss der Mitarbeiter/-innen wird zum Beispiel vom Leitungsstil der Arbeitskreisvorsitzenden bestimmt oder davon, welche Bedeutung jene ihrer Parlamentsarbeit im Vergleich zur Wahlkreisarbeit beimessen. Die Gestaltungsmöglichkeiten der Referent/-innen hängen ferner von den intellektuellen Kapazitäten und der Arbeitsmotivation der übrigen Arbeitskreismitglieder ab. Für Initiativen und Anträge der Arbeitskreisreferent/-innen gilt dasselbe wir für Vorlagen von Abgeordneten: Um verabschiedet zu werden, müssen sie die Diskussion und Interessenkonversion in den Fraktionsgremien, beginnend im eigenen Arbeitskreis, überstehen. Die einflussreiche Rolle der Arbeitskreisvorsitzenden, unterstützt von den Arbeitskreisreferent/-innen, bedeutet nicht, dass die einfachen Abgeordneten in ihren Arbeitskreisen ohne Einfluss wären. Im Gegenteil: Für die Fachabgeordneten sind die Arbeitskreise der zentrale Ort, um ihre politischen Positionen im Parlament einzubringen. Dafür gibt es verschiedene Gründe: Erstens erleichtern die Rahmenbedingungen unter denen die Arbeitskreise tagen – ihre übersichtliche Mitgliederzahl, die Vertrautheit der Abgeordneten untereinander und die gewöhnlich konzentrierte und konstruktive Arbeitsatmosphäre – die Beteiligung all jener Parlamentarier/-innen, die eine aktive Teilnahme auch suchen. Zweitens verhalten sich die Arbeitskreisvorsitzenden gegenüber den Mitgliedern ihrer Arbeitskreise responsiv. Einerseits sind sie bei den nächsten fraktionsinternen Wahlen wieder auf die Unterstützung der Arbeitskreismitglieder angewiesen, um als Arbeitskreisvorsitzende bestätigt zu werden. Andererseits setzen der Erfolg eines Arbeitskreises in der Fraktion und damit das Renommee der AK-Vorsitzenden einen geschlossen agierenden Arbeitskreis voraus.

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­ rbeitskreisvorsitzende können es sich nur um den Preis des politischen EinflussA verlusts leisten, durch mangelnde Berücksichtigung der Interessen der einfachen Abgeordneten Unzufriedenheit im Arbeitskreis entstehen zu lassen. Drittens beruht der Einfluss der Abgeordneten auf ihrem Expert/-innen-Status. Arbeitsteilung und Spezialisierung im Parlament setzen sich bis in die Arbeitskreise fort: Vorlagen oder Beschlussempfehlungen der Berichterstatter/-innen wird nur in Ausnahmefällen nicht gefolgt. Das Verhältnis von Abgeordneten zu ihren Arbeitskreisen ähnelt dem Verhältnis zwischen Arbeitskreisen und ihren Fraktionen: Solide vorbereiteten und schlüssig begründeten Vorlagen werden die übrigen Abgeordneten ihre Zustimmung in der Regel nicht verweigern. Verfügen die Abgeordneten in ihren Fachgebieten aufgrund der Spezialisierung über besondere Entscheidungsmacht, sind sie dafür von der intensiven Beschäftigung mit anderen Themen entlastet, bei denen sie ihren zuständigen Abgeordnetenkollegen entsprechende Entscheidungskompetenz zubilligen. Abgeordnete werden ihren spezialisierten Kollegen ihre Entscheidungsmacht aber nur dann zugestehen, wenn sie ihre Kompetenz durch die Qualität ihrer Vorlagen immer wieder nachweisen. Allerdings wird diese Qualitätsprüfung durch die ungenügenden Informationen der jeweiligen Nicht-Expert/-innen begrenzt.

4.3 Wie die Arbeitskreise Entscheidungen in den Fraktionen und im Parlament beeinflussen Der Einfluss der Arbeitskreise im fraktionsinternen Entscheidungsprozess wird durch die Abhängigkeit der Fraktion vom Experten/-innen-Wissen ihrer Mitglieder, durch die Brückenfunktion, welche die Arbeitskreise in die Gesellschaft erfüllen, durch die einflussreiche Position der Arbeitskreisvorsitzenden in der Fraktionshierarchie sowie durch fraktionsinterne Regeln gesichert. Zu diesen Regeln zählen etwa die Norm der Nicht-Einmischung und die verbreitete Auffassung, dass Beschlüsse, wenn möglich, nicht gegen den zuständigen Arbeitskreis getroffen werden sollen. In den Oppositionsfraktionen stimmen die Fraktionsversammlungen üblicherweise den von den Arbeitskreisen vorbereiteten Kleinen und Großen Anfragen zu und folgen den inhaltlichen Positionierungen zu Gesetzesentwürfen anderer Fraktionen bzw. den in den Arbeitskreisen entstandenen eigenen Gesetzesvorschlägen. Weil der Großteil der inhaltlichen Auseinandersetzung und Prüfung in den fachlich zuständigen Arbeitskreisen erfolgt, gelangt in den meisten Fällen die Bearbeitung politischer Probleme hier auch zu einem Abschluss. Bis die Fraktionsversammlung entscheidet, haben die Anfragen und Anträge einen voraussetzungsvollen Kommunikationsprozess durchlaufen:

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Nicht nur innerhalb des zuständigen Arbeitskreises war eine gemeinsame Position zu erarbeiten, diese musste ggf. auch mit anderen betroffenen Arbeitskreisen abgestimmt werden. Auch mögliche Bedenken aus dem Fraktionsvorstand oder der Fraktionsversammlung wurden bereits antizipierend berücksichtigt. In den Fraktionen finden normalerweise nur beschlussfähige Vorlagen Zustimmung, die vom gesamten Arbeitskreis getragen werden, die keine handwerklichen Mängel aufweisen und die nicht gegen die politische Gesamtlinie der Fraktion verstoßen. Die Folgebereitschaft der Abgeordneten beruht auf dem Vertrauen in die gründliche Arbeit und die Fachkompetenz der Arbeitskreise; wird es enttäuscht, gerät das geschilderte Procedere ins Stocken und es wird statt im Arbeitskreis im Vorstand und der Vollversammlung entschieden. Das gilt auch, wenn es in einer Fraktion ungelöste Konflikte gibt. Im Konfliktfall werden die Arbeitskreise durch Entscheidungen des Fraktionsvorstandes und der Fraktion einfach überstimmt. Im Normalfall des parlamentarischen Alltags aber sind die Arbeitskreise mehr als Vorbereitungsorgane für die Fraktionsvollversammlung oder für die Ausschussund Plenararbeit. Die in der Literatur über lange Jahre dominierende Betonung ihrer vorbereitenden Aufgaben (vgl. z. B. Schüttemeyer 1998; von Beyme 1997) greift zu kurz. Häufig sind die Arbeitskreise nicht nur der Ausgangspunkt der politischen Entscheidungsfindung in den Fraktionen, sondern auch ihr Endpunkt. Dieser voraussetzungsvolle und schwierige Prozess der Entscheidungsfindung in den Fraktionen bestimmt auch die Einflussmöglichkeiten der Opposition in den Ausschüssen. Die Regierungsmehrheit nämlich wird es vermeiden, die in vielen zeitraubenden fraktionsinternen Sitzungen hergestellten Kompromisse zwischen den verschiedenen Interessen in den eigenen Reihen noch einmal aufzuschnüren. Im Gegenteil: Die Mehrheitsfraktionen setzen ihre in den Arbeitskreisen getroffenen Entscheidungen in den Ausschüssen um. In den Ausschüssen wird nur formal nachvollzogen, was in der Regierungsmehrheit ausgehandelt und entschieden worden ist, ohne dass sich der Opposition hier weitgehende Mitgestaltungschancen eröffnen. Die Entscheidungen in den Ausschüssen deutscher Parlamente sind viel weniger ergebnisoffen als es die Formulierung suggeriert, nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen finde die eigentliche Arbeit der Abgeordneten statt, die auch in der Öffentlichkeitsarbeit von Parlamenten verbreitet wird. In den Ausschüssen dominiert der Parteienwettbewerb, ihre Arbeit wird vor allem von wettbewerbsdemokratischen und nicht von verhandlungsdemokratischen Elementen bestimmt. Daher dürfen auch die Rolle und der Einfluss der Ausschussvorsitzenden im Parlament nicht überschätzt werden, über die öffentlich zuletzt diskutiert wurde als die neu in den Bundestag eingezogene AfD-Fraktion die ihr nach Proporz zustehenden Ausschussvorsitzenden besetzte (Süddeutsche Zeitung 2018). Die

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Position des Ausschussvorsitzenden bedeutet für ihre Inhaber Reputation, die aber vor allem auf repräsentativen Aufgaben beruht. Ausschussvorsitzende organisieren die Arbeit des Ausschusses und leiten seine Debatten. Zu ihren Aufgaben zählt, die parlamentarischen Interessen der Abgeordneten gegenüber der Regierung zu wahren. Bei den Abstimmungen aber setzt sich die Mehrheit mit ihren vorher abgestimmten Positionen unabhängig vom Votum des Ausschussvorsitzenden durch. Der politische Einfluss von Ausschussvorsitzenden ist in den Arbeitskreisen, denen sie angehören, größer als in den Ausschüssen, denen sie vorstehen, auch weil sie in den Arbeitskreisen keine Rücksicht auf die mit ihrer Rolle als Ausschussvorsitzende verbundenen Neutralitätserwartungen nehmen müssen. Trotz der in der Regel faktisch nicht ergebnisoffenen Tagungen der Ausschüsse haben sie für die Opposition eine wichtige Bedeutung: Erstens bieten sie ein Forum für das Zusammentreffen der Auffassungen von Opposition und Mehrheit in einer Phase, in der Entscheidungen vorbereitet, aber noch nicht abschließend getroffen sind. Nach den ersten Diskussionen zwischen Opposition und Mehrheit kann die Regierungsmehrheit, Anregungen der Opposition indirekt aufnehmen oder bislang unbemerkte Schwächen beseitigen. Die Responsivität des Parlaments kann sich auf diese Weise verbessern. Außerdem ermöglichen die Ausschüsse der Opposition eine Form der Regierungskontrolle, die sich von der öffentlichen Regierungskontrolle im Plenum unterscheidet. Für die Opposition bieten die nichtöffentlichen Ausschusssitzungen eine zusätzliche Informationsquelle, in der die Regierungsbefragung weniger durch formelle Regelungen limitiert ist als in den Plenarsitzungen. Hier kann detaillierter und sachlicher gefragt und diskutiert werden. Ferner tragen die Ausschüsse zur Kommunikationsfunktion des Parlaments bei. Durch die gestiegene Zahl der öffentlichen Anhörungen bieten die Ausschüsse nämlich auch der Opposition eine Brücke zur jeweiligen Fachöffentlichkeit. Nicht zuletzt schaffen die Ausschüsse einen wichtigen Rahmen für die informelle Kommunikation, weil sich persönliche Kontakte zwischen Oppositionsabgeordneten und Minister/-innen bzw. Staatssekretär/-innen am ehesten noch am Rande der Ausschusssitzungen – und auch der Plenarsitzungen – herstellen lassen. Häufig aber beschränkt das strenge Terminkorsett, in das Politiker/-innen eingezwängt sind, die Gelegenheiten für informelle Kommunikation. Ohnehin findet sie fast immer nur zwischen den ­Vertreter/-innen eines Politikfeldes statt; die informelle Kommunikation löst sich von der formellen Ebene nur selten ab. Auch der Zugang zu informellem Austausch ist mit formalen Rollen verbunden (vgl. Schöne 2014, S. 165 ff.). Parlamentarische Neulinge und einfache Abgeordnete haben es schwerer als langjährige Abgeordnete und Funktionsträger/-innen, informelle Informationskanäle zu erschließen.

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Neben den Kontaktmöglichkeiten während der Sitzungswochen des Parlaments, existieren eine Reihe weiterer Gelegenheiten für den Gedankenaustausch zwischen Opposition und Regierung. Im Zuge von Gesetzesreformen kommt es häufig vor, dass Minister/-innen nicht nur die Fachreferent/-innen ihres Hauses, sondern auch die Berichterstatter/-innen der Fraktionen frühzeitig einbeziehen, um ein Gesetz mit möglichst breiter Mehrheit zu verabschieden (vgl. Siefken in diesem Band). Treten fachpolitische Sprecher/-innen oder stellvertretende Fraktionsvorsitzende ihr Amt neu an, werden sie sich klugerweise um einen Antrittsbesuch in dem Ministerium ihres Fachgebietes bemühen. Auch die Ministerien sind an diesen Kontakten interessiert, können Oppositionsfraktionen auf der Bundesebene doch zu wichtigen Verhandlungspartnern werden, wenn die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat es erfordern, ein Gesetz in Abstimmung mit der Opposition zu formulieren. Die Verwendung von in der Öffentlichkeit bislang nicht verbreiteten Informationen aus den Ministerien unterliegt informellen Spielregeln: Vertrauliche Informationen sollen nur intern und für die eigene Arbeit verwendet werden, nicht aber für die Öffentlichkeitsarbeit, etwa für Presseerklärungen. Wer gegen solche Regeln verstößt, verspielt seine Vertrauenswürdigkeit und wird seine Informationsquellen verlieren. Die dargestellten Kanäle informeller Kommunikation zwischen Opposition und Regierungsmehrheit dürfen aber nicht über den geringen politischen Einfluss von Oppositionsabgeordneten im parlamentarischen Alltag hinwegtäuschen. Parlamentarier/-innen aus Oppositionsfraktionen bewerten den Erfolg ihrer arbeitsintensiven, konkreten und kleinteiligen Bemühungen um die Kontrolle der Regierung und die Einflussnahme auf die Gesetzgebung insgesamt sehr pessimistisch (vgl. bereits Herzog et al. 1990 sowie Siefken in diesem Band). Unabhängig vom Dienstalter oder der Funktion berichten sie, dass es ihnen, unterstützt von nur wenigen Mitarbeiter/-innen, selten gelingt, Ministerien mit mehreren Hunderten von Beamt/-innen effektiv zu kontrollieren. Die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten werden als unzureichend und die Reichweite der Oppositionskontrolle als gering eingeschätzt. Zum einen begrenze die Auskunftsbereitschaft der Regierungsmehrheit und zweitens das Ungleichgewicht der Ressourcenverteilung zwischen Parlamentsfraktionen und Ministerialbürokratie die Informationsmöglichkeiten der Opposition. Diese Erfahrungen teilen Abgeordnete unabhängig davon, ob im Parlament sichere oder eher knappe Mehrheiten vorhanden sind. Äußerungen von Oppositionsabgeordneten, dass die Mehrheit „sowieso macht, was sie will“, dass gelungene Kontrolle „von bestimmten Zufällen und Glück“ abhängt oder dass Regierungsvertreter/-innen und Mehrheitsabgeordnete ein „Kartell des Verschweigens“ bilden, liegt eine gemeinsame Erfahrung zugrunde: Der erfolgreiche Einsatz der Informations- und

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Kontrollrechte wird im parlamentarischen Alltag durch die Auskunftswilligkeit, aber auch die Auskunftsfähigkeit, von Regierungsvertreter/-innen beschränkt. In den Arbeitskreisen der Regierungsmehrheit beobachtete Absprachen zwischen Regierungsvertreter/-innen und Abgeordneten, die Opposition über bestimmte Sachverhalte nicht zu unterrichten, zeigen die Schwierigkeiten wirksamer Oppositionskontrolle von der anderen Seite her. In der Bewertung der Regierungskontrolle durch die Abgeordneten spiegelt sich die Funktionslogik des politischen Systems wider: Der Opposition fehlen unmittelbar wirkende Sanktionsmittel – eine mittelbare Sanktionierung der Regierungsmehrheit erfolgt bei der nächsten Wahl über die Mobilisierung von mit der Regierungspolitik unzufriedenen Wählern – sowie der Zugang zu den nicht-öffentlichen und prozessbegleitenden Kontrollmechanismen in der Regierungsmehrheit. Der Erfahrungshorizont der Mehrheitsabgeordneten wird dagegen durch die vielfältigen Arbeitskontakte zu Regierungsvertreter/-innen geprägt, über die sie in den Gremien der Regierungsfraktionen verfügen.

5 Fazit: Wie Arbeitskreise zur Erfüllung der Oppositionsaufgaben beitragen In den Arbeitskreisen der Oppositionsfraktionen wird einesteils über aktuelle politische Sachfragen diskutiert, angeregt durch Vorlagen der Regierungsmehrheit oder durch zu lösende fachpolitische Probleme, anderenteils findet kleinteilige und konzentrierte Redaktionsarbeit an Anfragen, Anträgen und Gesetzesentwürfen statt. Zwischen dem Handeln in den Arbeitskreisen und der Einschätzung seiner Folgen durch die Abgeordneten scheint sich ein Widerspruch auf zu tun. Warum werden in den Arbeitskreisen intensive Mühen, großer Aufwand und genaue Sorgfalt aufgebracht, detaillierte Anfragen an die Regierung zu richten, wenn die Wirksamkeit oppositioneller Regierungskontrolle sehr kritisch eingeschätzt wird? Das gilt ähnlich für die Beteiligung an der Gesetzgebung, deren Bilanz die Oppositionsabgeordneten ebenso illusionslos beurteilen. Warum werden in den Arbeitskreisen komplexe und ausgefeilte Gesetzentwürfe und Anträge erarbeitet, die nie eine Chance haben, eine Mehrheit zu erringen? Eine Erklärung für die Motivation der Abgeordneten hat bereits Richard Fenno (1973) gegeben: Laut dem Pionier der teilnehmenden Beobachtung von Politiker/-innen gibt es drei Ziele, welche die Arbeit von Abgeordneten antreiben: a) Wiederwahl, b) gute Politik und c) parlamentarische Karriere. In den Arbeitskreisen lassen ich zwei idealtypische Interessen finden, näm-

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lich fachpolitische und karriereorientierte. Beide können auch miteinander auftreten. Für die Verwirklichung dieser Ziele bilden die Arbeitskreise einen wichtigen Handlungsrahmen. Für jene Parlamentarier/-innen, die vor allem fachpolitische Interessen verfolgen, weil sie sich z. B. als Umwelt-, Verkehrs- oder ­Sozialpolitiker/-innen verstehen, bilden die Arbeitskreise die Brücke zwischen Gesellschaft und Parlament. Sie sind der Ort, an dem fachpolitische Probleme und Anliegen in das Parlament getragen werden. Anfragen, Anträge und Gesetzentwürfe aus der Opposition sind so weniger ein Beitrag zur Gesetzgebungsbzw. Kontrollfunktion des Parlaments, sie sind vor allem ein Beitrag zu seiner Kommunikationsfunktion. Ihr Adressat ist nicht in erster Linie die Regierung oder die Parlamentsmehrheit, sondern die Öffentlichkeit. Gegenüber Interessengruppen, Bürgerinitiativen oder betroffenen Bevölkerungskreisen können auch Anträge, die nie eine parlamentarische Mehrheit erlangen und Anfragen, die keine Regierung in Erklärungsnöte bringen, als Nachweis für die von der Opposition eingenommenen programmatischen Positionen dienen. Immer wieder wird in den Arbeitskreisen die (Fach)Öffentlichkeit als wichtige Referenzgröße sichtbar, etwa wenn Expert/-innen als Berater/-innen zu Arbeitskreissitzungen hinzugezogen werden, Fachleute Einladungen erhalten, an Anträgen mitzuformulieren, die Anliegen von Interessengruppen in Anträgen Berücksichtigung finden, die AK-Mitgliedern auf die Einladungen von Verbänden hingewiesen werden oder Anhörungen – fraktionsinterne und Ausschusshearings – beantragt werden, welche die Möglichkeit bieten, Allianzen mit Verbänden und Interessenvereinigungen zu pflegen. In den Worten eines Arbeitskreisvorsitzenden einer Oppositionspartei klingt das wie folgt: „Für mich persönlich ist eigentlich die Frage der Öffentlichkeitsarbeit das Entscheidende, weil ich bin ziemlich sicher, dass man hier nur wenig …, also wir als kleine Fraktion (…) keinen einzigen Antrag durchgesetzt haben im Laufe der letzten zehn Jahre, der den Namen (unser Fraktion) trägt.“ (Schöne 2010, S. 333). Eine andere Erklärung für die fleißige Detailarbeit der Abgeordneten in den Arbeitskreisen sind ihre Karriereambitionen. Abgeordnete, die in der Parlamentshierarchie aufsteigen möchten, können sich nicht auf ihre Wahlkreisarbeit zurückziehen, selbst wenn sie bei Nützlichkeitserwägungen zu dem Ergebnis kommen würden, die Zeit sei im Wahlkreis angesichts der geringen Realisierungschancen von Oppositionsvorlagen besser investiert. Die arbeitsteiligen Strukturen der Fraktionen erzwingen unter jenen Abgeordneten, die in ihren Fraktionen Positionen besetzen und Einfluss gewinnen wollen, die Mitwirkung an der Gesetzgebung und Regierungskontrolle in der beschriebenen Form. Verzichten können auf fleißige Sacharbeit nur Abgeordnete, die weder ein spezielles

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Interesse an den Fachgebieten der Arbeitskreise haben, in die sie entsandt worden sind, noch an einer Karriere in ihrer Fraktion interessiert sind. Solche Abgeordnete fallen bereits in den Arbeitskreisen durch ihre geringe Beteiligung als „Hinterbänkler/-innen“ auf. In den Arbeitskreisen der Oppositionsfraktionen wird – angelehnt an den Titel des Buches – daran gearbeitet, die Politik der Regierungsmehrheit zu kritisieren, die Regierung zu kontrollieren und eigene politische Alternativen zu formulieren. Dies geschieht überwiegend sehr konzentriert, konstruktiv und kleinteilig, teilweise geradezu detailversessen. Die Ziele der oppositionellen Regierungskontrolle, wie sie in den Arbeitskreisen vorbereitet wird, lassen sich zusammenfassend folgendermaßen beschreiben: Oppositionsabgeordnete streben danach auf Uneinigkeit in der Regierungsmehrheit aufmerksam zu machen, Informationen von der Regierung zu erhalten, Einfluss auf das Regierungshandeln zu nehmen und ihre eigenen Themen auf die politische Agenda zu setzen. Dies alles geschieht mit Blick auf eine größtmögliche öffentliche Wirkung, weil alle Vorhaben ohne Öffentlichkeit gänzlich wirkungslos blieben. Kritik, Kontrolle, Alternative: Die vorgestellten Beobachtungsdaten zeigen, dass die Arbeitskreise im Gremiengeflecht des Parlaments einen wichtigen, wenn nicht sogar den entscheidenden, Beitrag leisten, damit die Oppositionsfraktionen diese Aufgaben erfüllen können. Die Arbeitskreise sind weit mehr als fachpolitische Vorbereitungsorgane für die fraktionsinterne Willensbildung. Durch die parlamentarische Arbeitsteilung und Spezialisierung sind sie ein Nukleus der Entscheidungsfindung in ihren Fraktionen.

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Oppositionsarbeit im Parlamentsalltag – eine mikropolitische …

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Parlamentarische Kontrolle und Opposition – realistische Grundlagen für ein dynamisches Verständnis Sven T. Siefken 1 Einleitung: Die Opposition und parlamentarische Kontrolle Historisch ist die Kontrolle der Exekutive eine der ältesten Aufgaben von Parlamenten. Und wenngleich das Parlament heute oftmals synonym als „die Legislative“ oder „der Gesetzgeber“ bezeichnet wird, bleiben die Kontroll- und Wahlfunktionen von besonderer Bedeutung1. Dies gilt aus Sicht der Öffentlichkeit (vgl. Hierlemann und Sieberer 2014, S. 35) wie auch aus der Perspektive von Abgeordneten (vgl. Weßels 2005, S. 8). Dabei ist die Zufriedenheit mit der realen Wahrnehmung der Kontrolle oftmals eher begrenzt. So hat der langjährige Präsident des Deutschen Bundestages, Norbert Lammert, CDU, in seiner Abschiedsrede 2017 formuliert: „Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der ersten“2. Verändert haben sich über die Jahrhunderte nicht nur die Parlamentsaufgaben; mit der Institutionalisierung des Parlamentarismus hat sich auch die vorherrschende Handlungslogik gewandelt. Die Gewaltenteilung in parlamentarischen Regierungssystemen 1Vgl.

zu den Parlamentsfunktionen im Überblick Schindler (1999, S. 2834–2847) und Schöne (2010, S. 253 ff.). 2Deutscher Bundestag Plenarprotokoll der 245. Sitzung vom 5. September 2017, S. 25255. S. T. Siefken (*)  Institut für Politikwissenschaft, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale), Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_8

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wird daher heute anhand des „Neuen Dualismus“ beschrieben: Nicht das Parlament und die Regierung stehen sich hier wie im klassischen Modell der Gewaltenteilung als Antipoden gegenüber, sondern die Regierung mit den sie tragenden Fraktionen im Parlament als Aktionseinheit auf der einen Seite und die Opposition auf der anderen (vgl. Steffani 1997, S. 25 f.). Im zunehmend polarisiert pluralistischen Mehrparteiensystem Deutschlands (vgl. Wagner 2019) kann jedoch anders als im klassischen Zweiparteienmodell nach Westminster-Prägung kaum noch von „einer“ oder „der“ Opposition gesprochen werden. Vielmehr existieren verschiedene Fraktionen der parlamentarischen Opposition, die nicht nur in Wettbewerb zueinander stehen, sondern sich auch in ihrer Herangehensweise an die Oppositionsaufgaben grundsätzlich unterscheiden. Im deutschen Mehrebenensystem können zudem die Regierungen der Länder, sofern sie von den entsprechenden Parteien getragen werden, die Oppositionsarbeit im Bund stützen (vgl. Raschke und Tils 2007, S. 191). Sie nehmen dann eine komplexe Doppelrolle wahr: Unterstützer der Opposition auf Ebene des Bundes, zugleich Teil der Regierungsmehrheit in den Ländern. Da Opposition naturgemäß in der Minderheit ist, hat sie im parlamentarischen Regierungssystem nur wenige Möglichkeiten, unmittelbar, etwa im Rahmen von Gesetzgebungsprozessen, Politik zu gestalten. Als ihre grundlegenden Aufgaben wurden daher Kritik, Kontrolle und das Bereitstellen von Alternativen herausgearbeitet (vgl. Schüttemeyer 1998b, S. 442). Diese nehmen die Oppositionsfraktionen meist öffentlichkeitswirksam wahr, um ihre Anhänger zu mobilisieren und so für eine eigene Mehrheit bei der nächsten Wahl zu werben. Aus dieser klassischen Tätigkeitstrias steht im vorliegenden Aufsatz die Kontrolle im Fokus. Nicht nur wird verbreitet die Oppositionstätigkeit auf Kontrolle und Kritik reduziert, sondern umgekehrt auch die Wahrnehmung der Kontrollfunktion weitgehend der Opposition zugeschrieben. So formuliert Manfred G. Schmidt in einem aktuellen Lehrbuch: „Ihr Eigeninteresse an einer handlungsfähigen Regierung veranlasst die parlamentarische Mehrheit dazu, das Kontrollpotenzial des Parlaments gegen die Regierung meist nur in homöopathischer Dosierung zu nutzen“ (Schmidt 2016, S. 155). Abgeleitet wird daraus immer wieder auch die Einschätzung, dass die Kontrollfunktion vorrangig auf die Opposition übergegangen sei3. Bereits vor fünfzig Jahren wurde behauptet, dass „der Wille zur

3Vgl.

etwa Horst Pötzsch: „Aufgaben des Bundestages“, in Dossier Deutsche Demokratie der Bundeszentrale für politische Bildung vom 15.12.2009, http://www.bpb.de/politik/ grundfragen/deutsche-demokratie/39341/aufgaben-des-bundestages?p=1. Zugegriffen: 10. Mai 2018.

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Kontrolle … allenfalls bei der Opposition noch eine Heimstätte hat“ (Ellwein und Görlitz 1967, S. 43). Eine Studie von 1984 ging sogar so weit, den Wert eines Kontrollinstrumentes aus der Nutzung durch die Opposition abzuleiten (vgl. Stadler 1984, S. 182). Dies verkehrt die Perspektive gänzlich und führt zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, denn als besonders wirksam gelten dann per Definition nur solche Instrumente, die die Opposition nutzt. Der vorliegende Beitrag soll auf Basis aktueller empirischer Erkenntnisse die zwei angesprochenen Fragen erhellen: 1) Kontrolliert nur die Opposition? 2) Kontrolliert die Opposition nur? Zu diesem Zweck werden – nachdem die Datengrundlage vorgestellt ist (Abschn.  2) – die verfügbaren Instrumente parlamentarischer Kontrolle untersucht (Abschn. 3) und die Zufriedenheit der Parlamentarier mit der Kontrolltätigkeit beleuchtet (Abschn. 4). Darauf aufbauend werden die Ergebnisse zusammengeführt (Abschn. 5) und im Ausblick ein Vorschlag für eine dynamische Sicht auf die parlamentarische Kontrolle der Opposition entwickelt (Abschn. 6). So hat der Beitrag es zum Ziel, ein realistisches Bild der Kontrolltätigkeit des Parlaments zu zeichnen und für weitere Forschung eine Grundlage zu schaffen. Er trägt damit auch dazu bei, zu einem besseren konzeptionellen Verständnis parlamentarischer Opposition im Regierungssystem Deutschlands zu gelangen.

2 Grundlage: Breite Untersuchung zum Wandel parlamentarischer Kontrolle Basis der Darstellung sind Ergebnisse einer aktuellen Untersuchung zur Kontrolle der Exekutive des Bundes durch den Deutschen Bundestag (vgl. Siefken 2018a). In der Studie wurde die Veränderung der Nutzung der vielfältigen parlamentarischen Kontrollinstrumente in der Bundesrepublik aufgearbeitet. Zudem wurde für ausgewählte Verwaltungseinrichtungen im Detail untersucht, wie die Interaktionen zwischen Mitgliedern des Parlaments und der Verwaltung sowie dem zuständigen Ministerium aussehen, welche Instrumente parlamentarischer Kontrolle zum Einsatz kommen, welche Sanktionskraft sie haben und wie wirksam sie sind. So konnte gezeigt werden, wie das Parlament unmittelbar und mittelbar Kontrolle über die Verwaltung ausübt. Die vertiefte Betrachtung erfolgte für acht nachgeordnete Organisationen der Bundesverwaltung. Berücksichtigung fanden einerseits klassische Behörden, andererseits solche, die dem Agentur-Modell entsprechen (vgl. Bach und Jann 2010, S. 457; Döhler 2007b, S. 13). Um einen breiten Überblick über die öffentliche Verwaltung zu erhalten, wurden Einrichtungen einbezogen, die

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Abb. 1   Untersuchte Organisationen des Bundes. (Quelle: Siefken 2018a)

v­erschiedene Steuerungsinstrumente vorrangig einsetzen: die Bereitstellung von Leistungen, Finanzierung, Regulierung und Überzeugung (vgl. Hood 1983, S. 124; Windhoff-Héritier 1987, S. 27). Ausgewählt wurde jeweils eine neue und eine klassische Behörde (vgl. Abb. 1). Im Rahmen der Untersuchung wurden die Statistik des Bundestages und weitere öffentlich zugängliche Quellen analysiert. Die Falluntersuchungen basieren auf umfassender Dokumentenanalyse von Primärquellen: den entsprechenden Rechtsgrundlagen, Selbstdarstellungen in Geschäftsberichten, Pressemitteilungen und den Auftritten im Internet. Die Parlamentsdrucksachen mit Bezug zur jeweiligen Verwaltungseinheit wurden in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht ausgewertet. Ebenfalls wurde die Medienberichterstattung zur jeweiligen Einrichtung betrachtet. Soweit vorhanden, ist überdies wissenschaftliche Sekundärliteratur berücksichtigt, einerseits im Rahmen der Falluntersuchungen, andererseits zu Instrumenten und Konzepten parlamentarischer Kontrolle. Zusätzlich wurden im Zeitraum von Mai 2015 bis März 2016 insgesamt 41 leitfadengestützte Experteninterviews geführt: Vertreter der entsprechenden Einrichtungen, der aufsichtführenden Ministerien, der zuständigen Fachausschüsse des Deutschen Bundestages und nach Bedarf weitere Ansprechpartner anderer Ausschüsse, etwa Berichterstatter für den jeweiligen Einzelplan im Haushaltsausschuss. So wurden die Erkenntnisse aus der Dokumentenanalyse plausibilisiert und durch die Diskussion über informale Interaktionen zwischen Mitgliedern des Parlaments und der jeweiligen Organisation ergänzt. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert und ausgewertet. Wörtliche Zitate wurden den Gesprächspartnern zur Autorisierung übersandt, sodass eine namentliche Zuschreibung erfolgen kann. Die der Untersuchung zugrunde liegenden Daten werden hier speziell in Bezug auf die Rolle der Opposition neu und vertieft ausgewertet, wobei sich der vorliegende Beitrag insbesondere auf die Aussagen aus den Experteninterviews

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stützt. Die Unterteilung in klassische Behörden und Agenturen hingegen ist dafür nicht relevant und wurde an dieser Stelle lediglich zur Erklärung der Fallauswahl berichtet.

3 Instrumente parlamentarischer Kontrolle 3.1 Begriff und Dimensionen parlamentarischer Kontrolle Dem Parlament stehen vielfältige Kontrollinstrumente zur Verfügung. Sie wurden in verschiedenen Überblicksbeiträgen ausführlich zusammengefasst (vgl. Thaysen 1976, S. 54; Steffani 1989, S. 1329; Patzelt 2013). Diese Darstellungen unterscheiden sich in vielen Details, was unter anderem aus den zugrunde gelegten unterschiedlich weiten Kontrollbegriffen resultiert. Auch im Englischen herrscht diesbezüglich keine zufriedenstellende begriffliche Präzision. Dort werden die Begriffe „control“, „scrutiny“ oder „oversight“ weiterhin trotz früher Systematisierungsversuche (vgl. Harris 1964, S. 9) unsystematisch und teilweise synonym verwendet (vgl. Oleszek 2010, S. 4; Olsen 2008, S. 324). Hilfreich ist eine Definition in Anlehnung an Winfried Steffani (1989, S. 1328): „Parlamentarische Kontrolle ist das Bestimmen, Beeinflussen und Überprüfen des Handelns von Regierung und Verwaltung durch Mitglieder des Parlaments, die unmittelbare (Mehrheit) oder mittelbare (Opposition) Sanktionsfähigkeit haben“ (vgl. Siefken 2018a, S. 54). Damit ist ein weites Kontrollverständnis angelegt, das sowohl Tätigkeiten der Mehrheit wie auch der Opposition umschließt, sowohl Aktivitäten einzelner wie auch parlamentarischer Gruppen, sowohl öffentlich sichtbare wie auch nicht sichtbare Einflussnahme. Dieses Verständnis zielt primär auf den Effekt des Handelns – die Kontrollwirkung – und bestreitet nicht, dass die entsprechenden Instrumente auch mit ganz anderen Motiven etwa kompetitiver oder symbolischer Natur eingesetzt werden können. Die Instrumente parlamentarischer Kontrolle lassen sich in vier Dimensionen gruppieren: Mitsteuerung, Management, Oversight und Checks (vgl. Siefken 2013a, S. 59, 2018a, S. 109 f.): • Mitsteuerung ist die klassische „Programmierung“ der Verwaltung durch das Parlament (vgl. Grauhan 1969, S. 270). Die Exekutive wird hierbei wie eine Maschine gesehen, die die gesetzlich vorgegebenen Aufgaben rational umsetzt. Früher wurde diese Dimension auch als „parlamentarische

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Mitregierung“ bezeichnet (Kewenig 1970, S. 29). Doch da das Bundesverfassungsgericht mit der Betonung des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung eine „Mitregierung“ des Parlaments explizit ausgeschlossen hat (vgl. Cancik 2014, S. 890), ist inzwischen der Begriff der Mitsteuerung verbreitet (vgl. Oberreuter 1992, S. 309; Schwarzmeier 2001). Mitsteuerung macht mittels Gesetzgebung unmittelbare fachliche Vorgaben zum Handeln, legt über das Haushaltsrecht die dafür verfügbaren Ressourcen fest oder bindet mittelbar über Delegation, Wahl und Abwahlmöglichkeiten das Handeln der Exekutive. • Die Management-Dimension als Teil parlamentarischer Kontrolle ist in Deutschland bislang wenig entwickelt. Sie umfasst die Nutzung neuer Instrumente der vorausgehenden und begleitenden Kontrolle und der strategischen Steuerung. Während solche Instrumente innerhalb der Verwaltung in Deutschland bereits genutzt werden, sind sie bislang – anders als Konzepte des New Public Management empfehlen (vgl. Wollmann 2003, S. 347) – auf Ebene des Bundes nicht in der Beziehung zwischen Parlament und Exekutive eingesetzt. Eine Besonderheit in Deutschland stellen die gemischt besetzten Beratungs- und Aufsichtsgremien über exekutive Einheiten dar, die in den letzten Jahrzehnten große Verbreitung gefunden haben und in die häufig auch Parlamentarier entsandt werden. Ansonsten sind die Instrumente der Management-Dimension etwa Zielvereinbarungen oder Controlling-Systeme, wie sie im angelsächsischen Bereich unter Einbeziehung des Parlaments verwendet werden (Johnson und Talbot 2007; vgl. Sturm 2009, S.  278; Joyce 2011; Davidson und Oleszek 2012, S. 340) • Oversight bezeichnet die das exekutive Handeln begleitende Überprüfung und umfasst die klassischen parlamentarischen Kontrollinstrumente. Im Deutschen wurde der Begriff der „nachherigen Aufsicht über fremde Aufgaben“ (Bäumlin 1966, S. 244) früher auch für die parlamentarische Kontrolle genutzt; in der Schweiz wird er in diesem Sinne sogar in der Verfassung verwendet4. Doch in Deutschland ist der ­Aufsichts-Begriff heute auf die inneradministrativen Beziehungen im Rahmen von Fach-, Dienst- und Rechtsaufsicht bezogen (vgl. Döhler 2007a, S. 215; Etscheid 2009), sodass für die begleitende Kontrolle hier der englischsprachige Oversight-Begriff verwendet wird. Zu dieser Dimension gehören etwa die verschiedenen Frageverfahren, die Aktuelle Stunde und die Regierungsbefragung, Anhörungen oder Kontrollgremien.

4Art.

169 Abs. 1 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Stand am 1.1.2020.

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169

• Checks sind begrifflich ebenfalls aus dem Englischen entliehen, und zwar aus dem Konzept der „Checks and Balances“ zwischen den Gewalten. Sie meinen die nachherige Überprüfung von bereits abgeschlossenem Verwaltungshandeln. Zu dieser Dimension gehören in Deutschland die Untersuchungsausschüsse, aber auch Institutionen wie der Wehrbeauftragte, der Bundesrechnungshof und das Petitionsverfahren. Während die Instrumente der Mitsteuerung grundsätzlich im Vorhinein wirken, indem sie Ziele und Kurs für die Exekutive festlegen, sind Management und Oversight in der Regel begleitend ausgerichtet. Die überprüfenden Checks hingegen sind dem eigentlichen exekutiven Handeln nachgelagert. Selbstredend handelt es sich bei diesen Einteilungen um idealtypische Zuordnungen.

3.2 Formale Kontrollinstrumente und ihre Nutzung durch Opposition und Mehrheit Die formalen Kontrollinstrumente sind unterschiedlich institutionalisiert (vgl. Abb. 2). Nur eine Minderzahl ist unmittelbar im Grundgesetz verankert. Neben

Abb. 2   Grundlagen und Nutzung parlamentarischer Kontrollinstrumente in Deutschland. (Quelle: Ergänzte eigene Darstellung, basierend auf Siefken 2018a)

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dem konstruktiven Misstrauensvotum, dem Budgetrecht und dem Gesetzgebungsverfahren sind dies einige Kontrollgremien (etwa das Gremium nach Art. 13 Abs. 6 GG oder das Parlamentarische Kontrollgremium gemäß Art. 45d GG), die Untersuchungsausschüsse, das Petitionsverfahren, der Wehrbeauftragte und der Bundesrechnungshof. Bei diesen handelt es sich überwiegend um Instrumente aus den Dimensionen der Mitsteuerung und der Checks. Der Großteil der Kontrollinstrumente aus der Oversight-Dimension hingegen ist durch die Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) festgelegt, wobei nicht selten an lange Traditionen angeknüpft wird (vgl. Güth und Kretschmer 1986). Doch einige Instrumente wurden erst in der Bundesrepublik Deutschland geschaffen: die Öffentliche Anhörung 1951, der Wehrbeauftragte 1956, die Aktuelle Stunde 1965, die Schriftlichen Fragen 1969 oder die Regierungsbefragung 1973. Deren Reform ist im Koalitionsvertrag für die 19. Wahlperiode vorgesehen: So soll künftig dreimal pro Jahr die Bundeskanzlerin selbst im Parlament befragt werden (Siefken 2018b, S. 426)5. Die erste Befragung der Kanzlerin in diesem neuen Format fand im Juni 2018 statt, die öffentliche Resonanz blieb gemischt6. Für den Einsatz der in der GOBT geregelten Instrumente sind die Hürden niedriger als für jene, die im Grundgesetz ihre Grundlagen haben: Teilweise handelt es sich um Abgeordnetenrechte, teilweise um Fraktionsrechte, teilweise um solche, die durch eine qualifizierte Minderheit in Gang gesetzt werden können. Letzteres ist bei den Enquête-Kommissionen, der Beantragung von Öffentlichen Anhörungen und der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen der Fall. In der 18. Wahlperiode, in der die Große Koalition rund 80 % der Mandate stellte, sind diese Hürden vorübergehend angepasst worden, sodass diese klassischen Minderheitenrechte auch weiterhin von der Opposition genutzt werden konnten.7 Zu beachten ist allerdings, dass die Opposition zwar für die Einberufung von Enquête-Kommissionen oder Untersuchungsausschüssen sorgen kann, die dort anstehenden Entscheidungen aber mit Mehrheit getroffen werden – die Opposition kann dann allenfalls ein Minderheitsvotum abgeben, wenn sie von

5Vgl.

„Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land.“ Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin, 7.2.2018, S. 175. 6Vgl. Johannes Leithäuser: „Eine Stunde Kurzweil“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juni 2018, S. 2. 7Vgl. Deutscher Bundestag: „Minderheitenrechte im Parlament neu geregelt“, www. bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/50128110_kw14_de_minderheitenrechte/index. html. Zugegriffen: 11. Juli 2017.

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der Mehrheitseinschätzung abweicht. Daher sind die Abwägungen zum Einsatz dieser Instrumente recht komplex (Radojevic 2016). Die Untersuchung der Nutzung der formalen Instrumente zeigt, dass einige von ihnen vor allem durch die Mehrheit eingesetzt werden (vgl. Siefken 2018a, S. 213). Systemlogisch ist dies bei der Gesetzgebung und dem Haushaltsrecht der Fall. Andere Instrumente hingegen werden fast ausschließlich durch die Opposition genutzt, beispielsweise schon seit langer Zeit die parlamentarischen Frageverfahren. Bei den Großen und Kleinen Anfragen etwa stammten in den letzten Wahlperioden stets über 95 % von der Opposition (vgl. Siefken 2010, S. 27). Auch Untersuchungsausschüsse werden vorrangig durch die Opposition installiert, nur in Einzelfällen wird berichtet, dass ein solcher Ausschuss von der Mehrheit gegen die Opposition gerichtet wurde (vgl. Jekewitz 1987, S. 27; Thaysen 1988, S. 22). Bei einer Reihe von Kontrollinstrumenten sind sowohl Abgeordnete der Mehrheit wie auch der Opposition sehr aktiv: Hierzu gehören Öffentliche Anhörungen, die Aktuelle Stunde, die Regierungsbefragung und spezielle parlamentarische Kontrollgremien. Diese Übersicht zeigt, dass parlamentarische Kontrolle durch Abgeordnete der Mehrheit und solche in der Opposition auf verschiedenen Wegen ausgeübt wird. Die Mehrheit nutzt vor allem formale Instrumente der Mitsteuerung und die Opposition solche der begleitenden Überwachung. Die nachgelagerten „Checks“ hingegen werden von beiden Gruppen eingesetzt.

3.3 Informale Instrumente Parlamentarischer Kontrolle In der politischen Realität hat zudem eine Reihe von Kontrollinstrumenten besondere Bedeutung, die nicht formal institutionalisiert sind. Angelegt wird hier ein enger Begriff der Informalität, der auf das Nichtvorhandensein formaler Regelsysteme abstellt (vgl. Grunden 2014, S. 24). Das bedeutet indes nicht, dass sie zumindest in der Bearbeitung teilweise nicht auch formalisierten Geschäftsprozessen unterliegen, die aus der langjährig geübten Praxis resultieren – sowohl auf Seite des Parlaments wie auf Seite der Verwaltung. Die informalen Instrumente parlamentarischer Kontrolle stellen in der Realität eine wichtige Grundlage der Interaktion zwischen Exekutive und Parlament dar, sofern es um das Alltagsgeschäft geht, also nicht um große Gesetzgebungsvorhaben, „Schlüsselentscheidungen“ (Beyme 1997, S. 239) oder die Reaktion auf aktuelles Skandalgeschehen. Somit stehen sie in Beziehung zu den formalen Kontrollinstrumenten und sind ihnen oftmals auch vorgelagert, wie im Weiteren gezeigt wird.

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Der Einsatz informaler Instrumente ist, anders als häufig vermutet, nicht die Domäne der Parlamentsmehrheit. Vielmehr werden sie auch von der Opposition genutzt (vgl. Siefken 2018a, S. 425). Verlässliche Statistiken dazu existieren indes nicht, da die entsprechenden Interaktionen aufgrund ihrer Informalität nicht zentral erfasst werden. Doch es lässt sich auf Basis der geführten Interviews im Rahmen der Falluntersuchungen politikfeldübergreifend ein Reservoir von bedeutsamen informalen Kontrollinstrumenten herausarbeiten, die im Folgenden kurz skizziert werden. Dies sind die Berichterstatter- und die Obleute-Gespräche, der Ministerbrief, Direktkontakte und persönliche Netzwerke sowie die Wahlkreisarbeit von Abgeordneten. Berichterstatter- und Obleute-Gespräche An erster Stelle in der Bedeutung informaler Kontrollinstrumente stehen die Berichterstatter- und Obleute-Gespräche. Dabei handelt es sich um die oftmals proaktive Einbindung der Fraktionsexperten durch die Ministerien. Berichterstatter werden im Ausschuss durch die Fraktionen zu den einzelnen Verhandlungsgegenständen in seiner Zuständigkeit benannt (vgl. Dach 1989, S. 1122). Dies sind nicht nur konkrete Gesetzgebungsvorhaben, sondern auch zu den einzelnen Behörden im nachgeordneten Bereich erfolgt eine entsprechende Zuordnung. Die Obleute nehmen innerhalb der Fraktion die koordinierende Rolle für ein Politikfeld wahr und steuern – gemeinsam mit dem Ausschussvorsitzenden – die Arbeit des Ausschusses (vgl. Schüttemeyer 1998a, S. 298). Regelmäßig oder zu besonderen Anlässen werden auf Einladung der Ministerien diese zuständigen parlamentarischen Fachleute aus den Ausschüssen informiert. Frequenz, Detailliertheit und Atmosphäre dieser Gespräche variieren zwischen den Ministerien offenbar erheblich. Für den Bereich der Innenpolitik beschreibt der Vizepräsident des Bundeskriminalamtes (BKA) diese Gespräche: „Das läuft nicht unter der Leitung des Innenausschuss-Vorsitzenden. Meistens ist … die beamtete Staatssekretärin als Gastgeberin dabei. Und das ist eigentlich ein informelles Gespräch, was … von Zeit zu Zeit vereinbart wird. Das wird angeboten, oder die Obleute zeigen ein konkretes Interesse“ (Peter Henzler, BKA)8. Der Charakter dieser eher kurzen Termine sei weitgehend sachorientiert: „Die [Abgeordneten] lassen sich briefen,

8Sofern

nicht anders gekennzeichnet stammen alle hier zitierten Interviewaussagen aus Siefken (2018a). Dort finden sich auch nähere Informationen zur eingesetzten Methodik und eine Auflistungen der Gesprächstermine.

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machen ihre Notizen, stellen Fragen, bitten um Unterlagen. Oder die sagen, ‚ok, das finde ich interessant und das würde ich gern nochmal bilateral besprechen‘. Also ich würde das als sehr umgänglich beschreiben, schlicht und einfach fachgesprächsartig“ (Peter Henzler, BKA). Abgeordnete der Mehrheit sehen gerade in der Nicht-Öffentlichkeit einen Vorteil. So erläutert die (damalige) Berichterstatterin der SPD und Vorsitzende des Finanzausschusses zur Reform der Zollverwaltung: „Das läuft als internes Gespräch. Das möchte ich auch nicht als Anhörung laufen lassen, denn die sind ja bei uns öffentlich. Und darum geht’s mir nicht. Ich will ja keinen an die Wand nageln, sondern das Problem lösen“ (Ingrid ­ Arndt-Brauer, MdB, SPD). Auch Parlamentarier der Opposition verweisen auf die Bedeutung dieser direkten Fachgespräche, wenngleich teilweise weitergehende Auskunft gewünscht wird. Für den Bereich der Polizeikontrolle formuliert eine Abgeordnete: „Letztendlich ist das nicht viel mehr als das, was man schon aus den Zeitungen weiß. Aber da kann man nochmal Fragen stellen. Das ist eine gute Einrichtung. … Aber dort wird nur das gesagt, was auch tatsächlich gesagt werden muss. Es wird da nicht über mögliche Defizite der Sicherheitsbehörden gesprochen“ (Ulla Jelpke, MdB, Linke). Insgesamt ist also auch mit Blick auf die Kontrolle der nachgeordneten Verwaltung der Berichterstatter als zentraler Akteur zu beachten (vgl. Weng 1984, S. 34). Die Arbeitsteilung im Parlament ist so weit fortgeschritten, dass für die Kontrolle einzelner Behörden weitgehend die jeweiligen Berichterstatter allein verantwortlich sind. Gerade in den kleinen Fraktionen, die gegenwärtig in der Opposition sind, führt dies letztlich zu einer starken Konzentration auf Einzelpersonen. Eine Abgeordnete berichtet von ihrer Tätigkeit als Berichterstatterin: „Was die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung betrifft, mache ich das persönlich als Einzelkämpferin, und das wird in der AG Verkehr der grünen Fraktion vorgestellt und erfahrungsgemäß schalten die lieben Kolleginnen und Kollegen … auf Durchzug. Das wird abgehakt, was ich vorschlage. Punkt“ (Valerie Wilms, MdB, Grüne). Zum Verständnis parlamentarischer Kontrolle ist es also notwendig, die hochgradige Arbeitsteilung im deutschen Parlament der Fachexperten zu berücksichtigen. Es sind in Opposition und Mehrheit insbesondere die Berichterstatter, die für die Wahrnehmung der Kontrolle von Bedeutung sind. Sie werden den einzelnen Behörden und Organisationen zugewiesen und beschäftigen sich grundsätzlich intensiv und kontinuierlich mit ihnen. Gegenüber den weiteren Mitgliedern des Parlaments haben sie dann auch oftmals eine Scharnier- und Führungsfunktion. Opposition und Mehrheit unterscheiden sich diesbezüglich nicht.

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Ministerbrief Ein bedeutsames Instrument zur Informationsbeschaffung ist der sogenannte Ministerbrief. Dies ist ein direktes Schreiben eines Abgeordneten an einen Minister oder an ein Ministerium. Teilweise wird der Geschäftsprozess zur Bearbeitung in Details differenziert: „Je nachdem, wie die Adresse formuliert ist, geht das direkt in das Ministerbüro: Wenn der Name zuerst kommt, geht das in das Ministerbüro, und wenn die Funktion zuerst kommt, geht es in den Posteingang“ (Stefan Kaller, Bundesministerium des Innern, BMI). Doch im weiteren hausinternen Prozess folgt die klassische Bearbeitung von parlamentarischen Frageverfahren (vgl. Siefken 2010, S. 29): „Beide Male [für Ministerbriefe und parlamentarische Fragen, STS] geht es bis auf den Referenten runter und auch wieder hoch – bis der unterschriftsreife Entwurf steht. Und dann verlässt der das Haus wieder. Da gibt es keinen Sonderweg“ (Stefan Kaller, BMI). Dass sich in der verwaltungsinternen Bearbeitung der Ministerbrief von den formalen Frageverfahren kaum unterscheidet, erklärt auch, warum in einigen nachgeordneten Einrichtungen das Instrument Ministerbrief den Gesprächspartnern gar nicht bekannt war – für die interne Bearbeitung ist es schlicht nicht relevant, ob es sich um Zuarbeit für informale oder formale Fragen handelt. Im informalen Bereich ist der Ministerbrief somit ein recht formalisiertes Verfahren. In ­ Baden-Württemberg ist dieses Instrument sogar in die Geschäftsordnung des Landtages aufgenommen worden. Dort ist geregelt: „Schreiben von Abgeordneten an Ministerien sind wie Kleine Anfragen innerhalb von drei Wochen zu beantworten“.9 In Bezug auf dessen Inhalte beschreibt ein Abteilungsleiter im Bundesministerium der Finanzen (BMF): „Es kommen sehr viele Einzelfälle an, aber auch reichlich Sachangelegenheiten von Wahlkreisabgeordneten, vor allem auch von Abgeordneten außerhalb des Finanzausschusses … Wenn ich es insgesamt betrachte, … dann kommen mehr Briefe als andere Formen der parlamentarischen Kontrolle. Und die Briefe gehen, ohne dass ich das jetzt zähle, gefühlt durch alle Fraktionen, entsprechend ihrer Größe“ (Julian Würtenberger, BMF10). Es handelt sich also – das bestätigen auch weitere Gesprächspartner – keineswegs um ein reines Substitut der Mehrheit für die von ihr aus taktischen Gründen kaum genutzten formalen Fragenverfahren. Vielmehr wird der Ministerbrief auch von Abgeordneten der Opposition eingesetzt, gleichsam als eine

9§ 61

a Geschäftsordnung des Landtags von Baden-Württemberg i. d. F. vom 27. Juni 2012. ist jeweils die Zugehörigkeit zum Zeitpunkt des Interviews.

10Angegeben

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frühe Stufe der Kontrolle und mit den formalen Frageverfahren als „drohendem Schwert“ im Hintergrund. Während die formalen Frageverfahren unmittelbar zu Öffentlichkeit der Antworten führen – schließlich werden sie in den Drucksachen veröffentlicht – sind die Antworten auf Ministerbriefe nur begrenzt für die „Darstellungspolitik“ verwertbar11. Ein Abteilungsleiter aus dem BMI betont: „Wenn die Abgeordnete XY dem Bundesinnenminister direkt anschreiben würde, wäre es sehr schwer für sie, dieses Schreiben zu instrumentalisieren. Das macht sie einmal und weiß dann auch, dass es so nicht läuft. Und beim nächsten Mal bekommt sie eine sehr sparsame Antwort. Also sowas macht man einfach nicht. Aber mit den förmlichen Anfragen darf man so umgehen“ (Stefan Kaller, BMI). Deutlich zeigt dies die Bedeutung von Parlamentsbrauch auch im Zusammenspiel mit der Exekutive. Dennoch berichten einzelne Parlamentarier, dass sie das Instrument Ministerbrief auch zur Dokumentation von Aktivität einsetzen: „Obwohl ich gerne den kurzen Dienstweg benutze, bringe ich sehr, sehr vieles zu Papier, denn ich muss ja den Bürgerinnen und Bürgern nachweisen können, was ich wann wie veranlasst habe. Da genügt es nicht zu sagen, dass man mit dem Minister oder dem zuständigen Referatsleiter im Ministerium gesprochen hat. Deswegen mache ich oft vieles förmlicher als das eigentlich sein müsste“ (Wolfgang Bosbach, MdB, CDU). So werden entsprechende Antwortschreiben auf Ministerbriefe an einzelne Bürgerinnen und Bürger weitergegeben, veröffentlicht werden sie jedoch in der Regel nicht. Wobei auch hier Ausnahmen die Regel bestätigen: Gelegentlich berichtet die Presse über Regierungsinformationen von Abgeordneten, die diese nicht über formale Frageverfahren erhalten haben. Deutlich sind erhebliche Unterschiede bei der Nutzung dieses informalen Instrumentes zwischen den Ressorts zu erkennen. Während etwa aus dem Bereich des Innen- und Finanzministeriums von einer hohen Zahl von Ministerbriefen berichtet wird, ist dies im Bereich des Gesundheitsministeriums eher selten. Diese Differenzen in der parlamentarischen Kontrolle verschiedener Häuser zu untersuchen, ist für die weitere Forschung ohne Zweifel lohnenswert (vgl. Siefken 2018a, S. 429). Sowohl für Abgeordnete aus der Mehrheit wie aus der Opposition bietet der Ministerbrief ein Instrument der Informationsbeschaffung aus der Exekutive. Er ist zwar kein formal vorgesehenes Instrument, aber dennoch vergleichsweise formalisiert.

11Vgl.

zum Unterschied von Darstellungspolitik und Entscheidungspolitik Sarcinelli 2011, S. 119–135.

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Direktkontakte und persönliche Netzwerke Ein wichtiges Instrument der Kontrolle ist der Direktkontakt von Abgeordneten in die Verwaltung, etwa in Form von Telefonaten oder persönlichen Gesprächen. Abgeordnete betonen, dass sich gerade am Rande von Veranstaltungen innerhalb und außerhalb des Parlamentes auf diesem Wege Informationen gut beschaffen lassen. Sie dienen häufig der einfachen Sachinformation, und hier wird – so berichten Abgeordnete mit Erfahrung aus Regierungswechseln – es in der Opposition schwerer, Auskunft zu erhalten: „Es fällt einem in der Regierung natürlich sehr viel einfacher die Kontrolle auszuüben, nachzufragen, Antworten zu bekommen, Gesprächspartner zu gewinnen und Zugang zu Behörden erhalten zu können“ (Burkhard Lischka MdB, SPD). Allerdings kann auch umgekehrt gelten: „Gelegentlich habe ich den Eindruck, die Regierung nimmt sich dann besonders viel Zeit, wenn ein Abgeordneter aus den eigenen Reihen um Auskunft bittet – denn die eigenen Leute machen ja weniger Ärger als die Opposition“ (Bosbach 2016, S. 73). Wie gut die entsprechenden Kontakte funktionieren, hängt maßgeblich von den persönlichen Netzwerken der Abgeordneten ab. Hierbei kann die Zeit in der Regierung hilfreich sein: „Wenn ich jetzt schon eine Regierungsrunde hinter mir hätte, dann würde ich da [bei Behörden] öfter anrufen, und ich nehme an, dass meine KollegInnen wie Frau Künast [ehemalige Bundesministerin, STS] schon öfter mal mit dem einen oder anderen telefonieren, den sie noch gut kennen aus Regierungszeiten“ (Lisa Paus, MdB, Grüne). Doch ebenso wird herausgestellt, dass man sich entsprechende Netzwerke aufbauen kann: „Ich [bin] vor Ort viel unterwegs, bin bei einzelnen früheren Direktionen [der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung], bei den Ämtern, bei Schleusen, bei den Verbänden, die mit der WSV zusammenarbeiten. All diese Kontakte haben hohe Priorität“ (Gustav Herzog, MdB, SPD). Solche Netzwerke sind dann besonders wertvoll, wenn sie gut gepflegt werden und mit den erhaltenen Informationen verantwortungsvoll umgegangen wird: „Über das persönliche Netzwerk, das man über Jahre aufgebaut hat, erhält man häufig weitergehende Informationen. Dann geben mir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergänzende Informationen, allerdings immer versehen mit dem Hinweis: ‚Schreiben kann ich Dir das allerdings nicht‘“ (Wolfgang Bosbach, MdB, CDU). Es sind nicht nur die Abgeordneten selbst, sondern auch ihre Mitarbeiter und die der Fraktionen, die Knoten in den besagten Netzwerken darstellen: „Da wissen unsere Mitarbeiter manchmal mehr als wir. Die sind zum Teil sehr viel besser vernetzt. Die kennen Mitarbeiter in den Ministerien … Daher kommen über diese Schienen auch Hinweise. Da sagt man: ‚Du, ich habe letztens den und den getroffen und der hat dieses und jenes erzählt, lass uns da mal genauer

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hinschauen‘. Und dann überlegt man sich, ob man eine Schriftliche oder Mündliche Frage stellt“ (Kordula Schulz-Asche, MdB, Grüne). Ein Mitarbeiter der SPD-Fraktion beschreibt dies: „Dadurch, dass ich aus einem Ministerium ­ komme, habe ich natürlich dort Kontakte. Ich bringe aber keinen Beamten in eine schwierige Lage, die er vor seinem Dienstherrn nicht guten Gewissens vertreten kann“ (Stefan Uecker, SPD). So wird betont, dass bei diesen informalen Anfragen mit besonderem Augenmaß zu handeln ist: „Ich würde niemals jemanden in Verlegenheit bringen. Wenn mir jemand sagt, dass er sich nicht sicher ist, ob er das rausgeben darf, dann sage ich: ‚Ok, hat sich schon erledigt‘. Dann schreibe ich das Ministerium halt offiziell an. Ich weiß, was sich gehört und habe am Telefon ein sicheres Gespür dafür, was man einem Mitarbeiter einer Bundesbehörde zumuten darf – und was nicht“ (Wolfgang Bosbach, MdB, CDU). Es existieren also vielfältige direkte Kontakte von den Abgeordneten in die Exekutive, anders als das traditionelle Legitimationsketten-Modell aus der Rechtswissenschaft es behauptet, gemäß dem der Minister die zentrale Schnittstelle zum Parlament darstellt (vgl. Böckenförde 2004, S. 438). Solche Kontakte beschränken sich nicht auf die ministerielle Ebene; auch mit dem nachgeordneten Bereich sind Abgeordnete vernetzt und erhalten auf diesen Wegen direkte Informationen. Allerdings sind diese Zugänge hochgradig variabel und in keiner Form institutionalisiert, sondern hängen von den individuellen Fähigkeiten, Kompetenzen und Netzwerken der Abgeordneten und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab. Wenngleich der Aufbau solcher Netzwerke für Abgeordnete einfacher ist, während sie Teil der Regierungsmehrheit sind, bleiben Vertreter der Opposition davon nicht ausgeschlossen. Wie weit sich Abgeordnete darauf einlassen, ist eine Frage des persönlichen Fokus‘ der Tätigkeit – auf Fachpolitik oder Wahlkreisarbeit – und des individuellen Stiles12, und kann folglich mit den Zugängen der Rollentheorie erhellt werden (vgl. Oertzen 2009). Wahlkreisarbeit Schließlich kann auch die Wahlkreisarbeit der Abgeordneten die parlamentarische Kontrolle erleichtern und anleiten. So werden im Direktkontakt mit den Bürgerinnen und Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen und Behörden vor Ort vielfältige Impulse und Anregungen formuliert. Auf diesem Weg erfolgt ein „Praxistest“ der Gesetze und des Verwaltungshandelns, wie vielfach von Abgeordneten

12Vgl.

zu den Dimensionen „Focus“ und „Style“ im Rollenverhalten von Abgeordneten die klassische Studie von Eulau et al. (1959).

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betont wird (vgl. Schindler und Siefken 2013, S. 215). Insofern stellen sie hier – systemtheoretisch gesprochen – zentrale Bestandteile des Feedback-Loop dar (vgl. Easton 1965, S. 366; Siefken 2013b, S. 498). Einen klar definierten Weg aus der Wahlkreisarbeit zu den Fachleuten der Fraktionen gibt es allerdings nicht. Vielmehr ist diese Übermittlung einerseits deutlich vom Vorgehen des jeweiligen Abgeordneten abhängig, aber auch von der konkreten Problemsituation. „Sie müssen den Abgeordneten wie so eine Art Selbständigen sehen, der … nach Berlin geht und schaut, wie er den Auftrag aus dem Wahlkreis umsetzen kann. Parallel dazu übt er die parlamentarische Kontrolle aus. Und in vielen Bereich überschneiden sich die beiden Aufgaben“ (Hermann Färber, MdB, CDU). Ein wichtiger Weg in das Parlament verläuft wiederum über die Berichterstatter. Dies erläutert ein Oppositionsabgeordneter, der Mitglied im Beirat der Bundesnetzagentur ist: „Meine Kollegen kommen mit Fragen zu mir. Sie können sich natürlich direkt an die Bundesnetzagentur wenden. Dann bekommen sie vielleicht auch eine Antwort, aber im Normalfall kommen sie zu mir … Ansonsten bekommen sie ja nur die genehmigte Behördenmeinung und nicht die politische Bewertung meiner Fraktion“ (Ralph Lenkert, MdB, Linke). Ein weiterer Abgeordneter beschreibt zur Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BImA), in deren Verwaltungsrat er sitzt: „Natürlich bin ich im Landesverband quasi Mister BImA … Ich krieg meistens [Post von anderen Abgeordneten, STS], und dann schreibe ich Herrn Gehb [, dem Vorstandsvorsitzenden der BImA, STS] einen Brief. Erhalte ich eine Antwort, dann leite ich sie weiter. Wenn ich über diesen Weg nicht weiterkomme, reiche ich eine formelle Berichtsbitte über den Haushaltsausschuss ein“ (Tobias Lindner, MdB, Grüne). Die Wahlkreisarbeit der Abgeordneten ist eine Quelle von Rückmeldung, um die Leistungen der Regierung und Verwaltung zu prüfen. Wiederum wird diese von Abgeordneten aus Mehrheit und Opposition genutzt. Die Einflussmöglichkeiten sind jedoch stark vom individuellen Engagement der Abgeordneten und ihren Fähigkeiten abhängig.

3.4 Das Zusammenwirken formaler und informaler Kontrollinstrumente Die vielfältigen verfügbaren Kontrollinstrumente des Parlamentes sind in Abb. 3 zusammengestellt, wobei neben den formalen auch die informalen Instrumente aufgeführt sind. Die formalen Instrumente der Oversight-Dimension werden fast ausschließlich von der Opposition eingesetzt, während die informalen der

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Abb. 3   Instrumente parlamentarischer Kontrolle. (Quelle: Ergänzte eigene Darstellung, basierend auf Siefken 2018a)

Oversight-Dimension sowohl von Mehrheit als auch von Opposition genutzt werden. Gleiches gilt für die formalen Instrumente der Checks-Dimension. Die Instrumente der Mitsteuerungs-Dimension hingegen sind weitgehend die Domäne der Mehrheitsfraktionen. Die formalen und informalen Instrumente der parlamentarischen Kontrolle stehen in einem Eskalationsverhältnis zueinander, das exemplarisch in Abb. 4 skizziert ist. Ein Thema von zentraler Bedeutung für das Verständnis parlamentarischer Kontrolle ist noch hinzuzufügen: Die Vorwirkung. Instrumente parlamentarischer Kontrolle haben nämlich auch dann Wirkung, wenn sie gar nicht zum Einsatz kommen. Für den U.S.-Kongress wurde formuliert: „It is possible that the traditional tools of congressional control are so effective that they are never actually used“ (Epstein und O’Halloran 1999, S. 956). Uwe Thaysen hat dies am Beispiel von parlamentarischen Untersuchungen illustriert: „Kluge Führungen parlamentarischer Mehrheitsfraktionen erinnern ‚ihre‘ Regierungen immer wieder an dieses [Kontroll-]Recht der Mehrheit, mit der Absicht, möglichst nicht in die Verlegenheit zu geraten, dieses Recht je anwenden zu müssen“ (Thaysen 1988, S. 14). Für die anderen Kontrollinstrumente gilt dies entsprechend: Sie können als Drohmittel verwendet werden; zugleich strukturieren sie das Verhältnis der politischen Akteure zueinander so, dass nicht einmal eine

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S. T. Siefken Quorum für Nutzung

vorrangige Nutzung

8. Konstruktives Misstrauensvotum 7. Gesetzgebung

einfache Mehrheit

Mehrheit

6. Budgetrecht 5. Untersuchungsausschuss 4. Kleine oder Große Anfrage

qualifizierte Minderheit

Mehrheit / Opposition

Fraktionen / 5 % der MdB Opposition

3. Mündliche oder Schriftliche Frage 2. Ministerbrief

einzelne Abgeordnete

Mehrheit / Opposition

1. Direktkontakt Behörden

Abb. 4   Eskalationstreppe parlamentarischer Kontrollinstrumente (Auswahl). (Quelle: Eigene Darstellung)

a­usgesprochene Drohung notwendig ist. Was in Bezug auf die Gesetzesvorbereitung in Großbritannien formuliert wurde, gilt auch allgemein: „Parliament has a significant power of conscious anticipated reactions“ (Russell und Gover 2017, S. 11). Daher ist die Untersuchung parlamentarischer Kontrolle stets voraussetzungsvoll: Der Blick auf die formalen Kontrollinstrumente ist bei weitem nicht ausreichend, er muss ergänzt werden durch die Einbeziehung des informalen Bereiches, und besonders relevant ist der Einfluss „antizipierter Reaktionen“ im Rahmen der Vorwirkung. Doch einfach „messen“ lässt sich diese auf Basis von empirischen Daten nicht; dies ist indes keine Rechtfertigung, sie zu vernachlässigen.

4 Zufriedenheit mit der parlamentarischen Kontrolle Befragungen von Abgeordneten haben immer wieder gezeigt, dass sie einerseits die Bedeutung der Kontrollfunktion als sehr hoch einschätzen, doch mit ihrer tatsächlichen Wahrnehmung dieser Funktion nicht zufrieden sind; besonders schlecht wird die Kontrollperformanz durch die Oppositionsabgeordneten bewertet (vgl. Herzog et al. 1990, S. 121; Weßels 2005, S. 8). Die im Rahmen der Untersuchung geführten Interviews enthielten daher auch die Frage

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nach der Zufriedenheit mit der Wahrnehmung parlamentarischer Kontrolle (vgl. Siefken 2018a, S. 231). Anders als bei den genannten standardisierten schriftlichen Umfragen zur allgemeinen Parlamentstätigkeit, wurde diese jedoch im Rahmen von mündlich geführten Leitfadeninterviews angesprochen, in denen es um die Kontrolle im eigenen „Fachbereich“ des jeweiligen Abgeordneten ging. Dabei ergab sich ein anderes Bild: Von den 19 interviewten Abgeordneten gaben neun an, dass sie zufrieden oder eher zufrieden mit der Wahrnehmung parlamentarischer Kontrolle seien. Nur fünf waren eher unzufrieden oder unzufrieden13. Wenngleich die Fallzahl hier recht klein ist, weisen die Ergebnisse der Auswertung doch auf einen möglichen Gegensatz zwischen Ergebnissen standardisierter Befragungen und Interviews hin. Die Abgeordneten zeigten sich im Kontext ihrer fachlichen Spezialisierung grundsätzlich eher zufrieden mit den vorhandenen Kontrollmöglichkeiten, und das sowohl in der Opposition wie in der Mehrheit: „Ich bin eigentlich schon zufrieden“ (Tobias Lindner, MdB, Grüne), „wir sind da schon nicht so schlecht“ (Eckardt Rehberg MdB, CDU), „mein Problem ist, dass ich spontan keine Alternative sehe, wie man es besser machen könnte“ (Ingrid Arndt-Brauer, MdB, SPD). Unterteilt man diese Einschätzung nach Abgeordneten aus Opposition und Mehrheit – was hier zu sehr kleinen Fallzahlen führt – werden die zu erwartenden Unterschiede deutlich: Während 58 % der interviewten Abgeordneten der Mehrheit grundsätzlich zufrieden sind („ja“ oder „eher ja“, N = 12), sind dies nur 29 % derjenigen in der Opposition (N = 7). Umgekehrt äußern sich in der Opposition 43 % unzufrieden („eher nein“ oder „nein“), während es aus der Mehrheit nur 17 % sind. Die Unterschiede sind hier jedenfalls weniger stark als erwartet, und die abwägende Mittelkategorie („teilweise“) ist recht ausgeprägt. Unzufriedene Oppositionsabgeordnete formulieren etwa „dass die Möglichkeiten einer demokratisch parlamentarischen Kontrolle vielfach verweigert werden“ (Ulla Jelpke, MdB, Linke) und: „Ich würde vorsichtig sagen, dass wir im Moment eher eine Verselbstständigung der Verwaltung haben. Die Prozesse werden immer komplexer. Und wenn Sie die Antworten auf die Kleinen Anfragen sehen, dann wissen Sie, dass wir eine Art Verselbstständigung haben, dass Antworten bewusst unvollständig sind. Und wir haben natürlich das Problem der Großen Koalition, der Übermacht, wir erreichen die 25 % für wirksamere, parlamentarische Mittel nicht. Das Problem ist ganz einfach, dass die Widerstandskräfte zu klein sind“ (Ralph Lenkert, MdB, Linke).

13Grundlage: Kodierung der offenen Antworten auf die Frage: „Sind Sie mit der Wahrnehmung parlamentarischer Kontrolle insgesamt zufrieden?“, N = 19.

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Dennoch ist die Einschätzung, dass mit den vorhandenen Instrumenten Kontrolle auch ausgeübt werden kann, insgesamt vorherrschend. Nur einzelne Gesprächspartner sagen, sie seien gar nicht in der Lage, Kontrolle auszuüben. Bemängelt wird eher die Kapazität zur Problemverarbeitung. Doch hat dies auch eine strategische Fokussierung zur Folge: „Es geht vor allem um die ‚größeren Fische‘, also Fälle, wo wir deutliche Hinweise haben, dass etwas grundsätzlich falsch läuft. Wir können uns als Parlamentarier schließlich nicht in jedes Verwaltungsverfahren einmischen. Dafür fehlt schlicht und ergreifend auch die Zeit“ (Harald Ebner, MdB, Grüne). Dabei ist das Kontrollverständnis der Abgeordneten insgesamt eher ein reaktives als ein systematisch-umfassendes: „Also ich verstehe parlamentarische Kontrolle nicht in dem Sinne, dass man überall reinredet und alles besser weiß.“ (Frank Tempel, MdB, Linke). Ein anderer Abgeordneter ergänzt: „Wir müssen uns auch ein wenig davon frei machen, über jedes Stöckchen zu springen und jeder Sache nachzugehen, sondern uns selbst politische Gedanken darüber machen, wo es sich lohnt, Kontrolle auch in der Tiefe auszuüben“ (Burkhard Lischka, MdB, SPD). Diese Zusammenhänge bedürfen weiterer Vertiefungen, denn anders als die zitierten Abgeordnetenbefragungen kann die vorliegende Untersuchung keine Repräsentativität beanspruchen und sie basiert auf nur wenigen Gesprächen. Doch deutet sie darauf hin, dass die aus vielfältigen anderen Zusammenhängen bekannten Differenzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung auch bei den Abgeordneten wirksam sein können: Während das Parlament insgesamt als schwach angesehen wird, sehen sie sich selbst als eher stark. Effekte sozialer Erwünschtheit mögen wohl dazu führen, dass Abgeordnete im mündlichen Gespräch ihre Kontrolltätigkeit besser bewerten als in einer schriftlichen Befragung. Und auch der inhaltliche Rahmen des Gespräches kann hierauf Einfluss haben: Während es bei den Umfragen um allgemeine Einschätzungen geht, waren die Interviews sehr deutlich auf die Tätigkeit in der jeweiligen Spezialisierung ausgerichtet.

5 Nicht nur die Opposition kontrolliert – und die Opposition kontrolliert nicht nur Mit Bezug auf die beiden Ausgangsfragen lässt sich festhalten: Kontrolle ist keine exklusive Oppositionstätigkeit. Abgeordnete der Mehrheit betonen in den Gesprächen sehr deutlich, dass auch sie Kontrolle ausüben und dies für eine wichtige Aufgabe im Rahmen ihres Mandats halten. So beschreibt Wolfgang

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Bosbach: „Natürlich haben die Mitglieder einer Regierungsfraktion ganz selbstverständlich die Aufgabe, nicht nur die parlamentarische Kontrollfunktion gegenüber der Regierung auszuüben, sondern diese auch zu unterstützen, ihr im Parlament zu einer Mehrheit zu verhelfen. Aber das ändert nichts daran, dass wir auch eine kritische Sicht auf die Dinge haben müssen, wenn sich die eigene Partei in Regierungsverantwortung befindet“ (Wolfgang Bosbach, MdB, CDU). Ein anderer Abgeordneter der Mehrheit sagt zu seinen Kontrollmotiven: „Das ist ja auch sportlich, so einen Minister ein bisschen zu pieken. Am Ende muss man fachlich kompetent und informiert sein, einen eigenen ‚Drive‘ haben, und man muss dafür auch Maß und Mitte finden. Mit einem Holzhammer durch die zu Gegend laufen, ist dümmer als wenn ich da ein Florett nehme“ (Eckhardt Rehberg, MdB, CDU). Dabei führe eine zurückhaltende Auskunft aus der Exekutive tendenziell zu einem verschärften Interesse: „Wenn ich … als Parlamentarier das Gefühl habe, dass mir ein Ministerium X bestimmte Informationen nicht geben will, obwohl es ein Ministerium ist, welches … aus meiner Partei geführt wird, dann steigert sich auch mein Kontrollbedürfnis. … Ich sehe mich in der Lage, fordernd und drohend zu werden, wenn ich das Gefühl habe, dass eine Behörde den Bundestag … nicht ernst nimmt“ (Dietmar Nietan, MdB, SPD). Selbst Oppositionsvertreter betonen die Bedeutung der Kontrolle durch die Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen. Keineswegs würden diese unreflektiert ihre Regierung stützen. „Oft werden Gesetzesentwürfe angekündigt, von der Regierung bestätigt und plötzlich hört man nichts mehr davon, das passiert regelmäßig. Der Grund ist ganz einfach: Immer, wenn das passiert, haben die Parlamentarier der eigenen Regierungsfraktionen ‚Nein‘ gesagt. … Das heißt wir haben an dieser Stelle wirklich noch eine funktionierende parlamentarische Kontrolle, da die Parlamentarier eben doch durch öffentliche Debatten und Diskussionen noch einiges erfahren und an manchen Stellen anders entscheiden als der Beamtenapparat des Ministeriums bzw. der Regierungsvertreter“ (Ralph Lenkert, MdB, Linke). Bezeichnet sind damit Mechanismen, mit denen die parlamentarische Mehrheit als „Resonanzboden des politisch Zumutbaren“ tätig ist (Steffani 1973, S. 37). In der Praxis bedeutsamer als diese Vetoposition ist die konstruktive Mitwirkung, wie ein Abteilungsleiter im BMI am Beispiel von Ausschusssitzungen skizziert. Die Abstimmung zwischen Ministerium und Vertretern der Mehrheit finde nicht dort, sondern vorab statt: „Das machen wir [vor der Ausschusssitzung, STS,] und das ist dann der Bereich der informalen Kontakte. So dass wir bereits schon den Konsens mit den die Regierung tragenden Fraktionen herstellen. … Dadurch, dass wir mit einzelnen Abgeordneten die Dinge durchsprechen und ihnen das erklären, holen wir sie ab und gewinnen sie. … Aber bei uns wirkt

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keiner mehr kritisch ein. Wenn, dann waren die Kritiker schon vorher da, und deren Zweifel wurden ausgeräumt – oder berücksichtigt“ (Stefan Kaller, BMI). Dieser letzte Satzteil – „ausgeräumt oder berücksichtigt“ – ist von besonderer Bedeutung, denn dieses Zusammenwirken lässt sich aus der Außenperspektive kaum ermitteln. Bei einer umfassenden Betrachtung wird also deutlich, dass eine Engführung des Kontrollbegriffes auf die formalen Instrumente nicht sinnvoll ist, denn er beschränkt sich auf die öffentliche Kontrolle, die in der Tat vorrangig durch die Opposition wahrgenommen wird. „Hinter den Kulissen“ sind indes die parlamentarischen Akteure der Mehrheit dabei, begleitend, steuernd und überwachend auf das Regierungshandeln Einfluss zu nehmen (vgl. Schwarzmeier 2001, S. 304). Aufgrund der Logik des Neuen Dualismus haben sie jedoch kaum Interesse daran, dass dieses Handeln sichtbar wird. Hans Apel (1991, S. 174), der selbst sowohl langjähriger Parlamentarier wie auch Regierungsmitglied war, beschreibt dies wie folgt: „Diese Art parlamentarischer Kontrolle ist nicht nur die Aufgabe der Opposition. Sie wird auch von der parlamentarischen Mehrheit wahrgenommen. Oft ist sie dabei sogar wirkungsvoller, weil ein Bundesminister in seiner eigenen Fraktion eben nicht ausweichen und Kritik als ein durchsichtiges Manöver der Opposition abtun kann“. Wenngleich die Motive von Mehrheit und Opposition sich unterscheiden und sie zur Kontrolle verschiedene Instrumente nutzen, sind also beide kontrollierend tätig. Die Politikwissenschaft unterscheidet die evidente von der effizienten Kontrolle (vgl. Hübner und Oberreuter 1977, S. 39): „[D]ie in der Öffentlichkeit sichtbare Kontrolle der Opposition ist in der Regel nicht effizient, und die effiziente Kontrolle im Schoß der Mehrheit ist in der Regel in der Öffentlichkeit nicht sichtbar“ (Oberreuter 1989, S. 186). Somit gelte: „Wirkungen oppositioneller Kontrolleffekte sieht man … nicht, Kontrolleffekte regierungstragender Fraktionen erkennt man nicht“ (Patzelt 2003, S. 30). Der verwendete Effizienz-Begriff führt hier allerdings etwas in die Irre, denn er zielt ja auf das Kosten-Nutzen-Verhältnis; zutreffender ist es, von Effektivität zu sprechen, um die Kontrollwirkung zu betonen (vgl. Siefken 2018a, S. 56). Die Opposition auf die Tätigkeiten von Kontrolle, Kritik und die Formulierung von Alternativen zu reduzieren, verkennt ebenfalls die Realität politischen Handelns. Selbst wenn sie in der Opposition sind, erhalten Abgeordnete fachliche Informationen aus der Exekutive: „Auch in meiner Zeit in der Opposition habe ich erlebt, dass Ministerialbeamte mir gegenüber sehr offen waren, mir Informationen gegeben haben mit dem Hinweis, dass ich ja nicht dazu sagen müsste, von wem ich das habe. Aber ich habe auch schon Fälle gehabt, wo ich mich bei meinem Minister beschwert habe: ‚Also wenn dein Haus schon so

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mit Koalitionsabgeordneten umgeht, will ich nicht wissen wie ihr mit anderen umgeht‘ … Das ist die Spannbreite“ (Dietmar Nietan, MdB, SPD). Es kann helfen, parlamentarische Kontrolle als einen mehrstufigen Prozess zu verstehen, in dem die Oppositionsabgeordneten prüfen, ob die Mehrheitsabgeordneten sich fachlich in die Lage versetzt haben, die Exekutive zu kontrollieren (vgl. Oertzen 2006, S. 282). Doch eine konstruktive Opposition wird sich nicht damit zufrieden geben, nur sicherzustellen, dass die Mehrheit ihre Regierung „ordentlich“ kontrolliert. Viel wichtiger wird es ihr sein, inhaltlich wo möglich Einfluss zu nehmen – und gleichzeitig dort wo dies nicht möglich ist, Differenzen zu betonen. Schwarzmeier (2001, S. 110) bezeichnet letzteres als sekundäre Mitsteuerungsfunktion, die durch die Opposition wahrgenommen wird: „Für sie gilt es, inhaltliche und strukturelle Steuerungsdefizite der regierenden Mehrheit aufzudecken, Kritik zu üben und durch eigene Entwürfe mit höherem Rationalitätsgrad Kompetenz zu demonstrieren, zugleich aber die sachliche und personale Inkompetenz des Regierungslagers aufzuzeigen.“ In Bezug auf die klassischen Kataloge von Parlamentsfunktionen wird die Opposition damit vorrangig in der Kontroll- sowie in der Öffentlichkeitsfunktion aktiv, während sie bei der Gesetzgebung und Wahl lediglich durch die Bereitstellung von fachlichen und personellen Alternativen tätig wird (vgl. Schreyer und Schwarzmeier 2005, S. 167). Empirische Untersuchungen haben indes gezeigt, dass sich auf fachlicher Ebene die Opposition auch regelmäßig auf inhaltliche Einflussnahme ausrichtet und sich dementsprechend kooperativ zeigt: „Sie muss ihr Potential zur effizienten Regierung durch konkrete und detaillierte (Gegen-)Vorschläge und Sachorientierung im Sinne von Kompromissbereitschaft unter Beweis stellen“ (Schüttemeyer 1998a, S. 287). Bestätigt wurde dies auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung. Eine dieser Art konstruktive Opposition hat die Möglichkeit, auf die Politikinhalte einzuwirken, begrenzt allerdings zugleich ihre Alternativfunktion (vgl. Schüttemeyer 1998b, S. 443). Für die politischen Akteure stellt dies ein strategisches Spannungsfeld dar. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: • Die Betrachtung bestätigt, erstens, dass parlamentarische Kontrolle nicht, wie weiterhin häufig behauptet, eine Domäne der Opposition ist. Vielmehr wirken Vertreter von Mehrheit und Opposition funktional daran mit, indem sie verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und Motiven einsetzen. • Zweitens sind neben den formalen Kontrollinstrumenten – deren Nutzung leicht zu ermitteln ist – eine Reihe von informalen Instrumenten bedeutsam.

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• Anders als bislang oftmals vermutet, werden diese, drittens, nicht nur von Abgeordneten der Mehrheit sondern auch intensiv von Abgeordneten der Opposition genutzt. Sie setzen insgesamt vielfach in den jeweiligen Politikfeldern ihrer Fachexpertise ein, nicht nur um Alternativen zu formulieren, sondern auch um auf konkrete Vorhaben inhaltlich einzuwirken. • So ist in der Tat, viertens, oftmals in der Kontrolltätigkeit der Ausschüsse und anderer Gremien ein konstruktives Miteinander von Abgeordneten aus Opposition und Mehrheit vorherrschend. • Damit fällt, fünftens, in Routineangelegenheiten der parlamentarischen Kontrolle, die Darstellung und die Herstellung von Politik im Deutschen Bundestag auseinander, was zu Missverständnissen führen kann. Es ist daher für die Akteure im Parlament angezeigt, ein realistisches Bild ihrer Kontrolltätigkeit auch in der Außendarstellung zu vermitteln – dies ist Aufgabe für die einzelnen Abgeordneten, wie für das Parlament insgesamt und nicht zuletzt für die politische Bildung.

6 Zu einem dynamischen Verständnis parlamentarischer Kontrolle Das oben gezeichnete Bild einer rein konstruktiven Opposition lässt sich allerdings auch nicht universal anwenden. Es bedarf einer näheren Konzeptualisierung, um einerseits die Dynamik und Veränderung oppositioneller Kontrolle zu verdeutlichen, andererseits auch das stets vorhandene Spannungsfeld zwischen den Polen von Mitwirkung und der Formulierung von Gegenpositionen zu benennen, in dem sich die politischen Akteure der Minderheit bewegen. Aufbauend auf Giovanni Sartoris Gedanken zur „temperature of politics“ kann dazu unterschieden werden zwischen einem heißen und einem kalten Zustand politischen Handelns (Sartori 2005 [1976], S. 199). Sartori sieht diese „Temperatur“ allgemein in der politischen Kultur verankert und beschreibt den Gegensatz von pragmatischen und ideologischen Orientierungen in einer Gesellschaft, der sich langfristig verändern könne (Sartori 2005 [1976], S. 69). Hier soll diese Metapher stattdessen zu einer situativen Unterteilung genutzt werden, also unterschiedliche Temperaturen – je nach Thema und Situation – in einem politischen System beschreiben. Wie bei Sartori stehen dann im heißen Zustand der Konflikt und die Auseinandersetzung im Vordergrund, im kalten Zustand hingegen Kompromiss und Kooperation. So können verschiedene „opposition modes“ (King 1976, S. 17) beschrieben werden. Dies ermöglicht die dynamische Beschreibung des Oppositionsverhaltens (vgl. Abb. 5). Im politischen System Deutschlands ist der „kühle“ Normalzustand

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Abb. 5   Parlamentarische Kontrolle der Opposition. (Quelle: Eigene Darstellung)

für die Opposition grundsätzlich wie oben beschrieben eher von einer „konsensorientierten Kooperation der Fachpolitiker“ (Schöne 2014, S. 161) geprägt. Eingesetzt werden vorrangig die informalen Instrumente der Informationsbeschaffung, also Ministerbriefe, Berichterstattergespräche und sonstige Direktkontakte zu Ministerien und nachgeordneten Behörden. Die zentralen Akteure politischen Handelns sind dabei die Fraktionsexperten für das jeweilige Politikfeld. Im „heißen“ Zustand der Politik hingegen stehen der Konflikt und die Zuspitzung im Vordergrund. Es geht der Opposition darum, öffentlichkeitswirksam bessere Politikalternativen zu formulieren und die vermeintliche Inkompetenz der Regierungsmehrheit aufzuzeigen. Eingesetzte Kontrollinstrumente sind hierbei weitgehend formal, und die zentralen parlamentarischen Akteure sind die Fraktionsführungen. Die Sichtbarkeit entsprechender Kontrollaktivitäten ist hoch. Auch diese Unterteilung bleibt idealtypisch, doch sie erlaubt erstens die policy- bzw. issue-bezogene Unterscheidung innerhalb eines politischen Systems, sodass keine allgemeine analytische Entscheidung darüber erforderlich ist, ob Opposition nun vorherrschend konstruktiv ist oder nicht. Zum zweiten führt sie zu einer praxisnahen Betrachtung, die auch neue Spannungsfelder innerhalb verschiedener Akteursgruppen der Opposition aufzeigt. Diese Unterteilung kann zu einem realistischen Bild des Verhaltens von Abgeordneten beitragen und so die vorhandene Forschung zur Informalität im Parlament ergänzen (vgl. Schöne 2014, S. 158). Was in einem „kalten Zustand“ als Abweichung von ungeschriebenen Regeln gelten mag, kann in „heißem Zustand“ gerade den Rollenerwartungen entsprechen. Eine zentrale Frage ist, wie der Übergang vom kalten zum heißen Zustand der Politik erfolgt. Zum Verständnis mögen die Modelle der Politikfeldanalyse beitragen, etwa das Multiple-Streams-Modell, das die Bedeutung von externen Ereignissen als „focusing events“ herausarbeitet aber auch die taktischen Entscheidungen von politischen Akteuren als „political entrepreneurs“ betont (vgl. Kingdon 1995). Auch der Ansatz der „issue politicisation“ (Seeberg 2013, S. 92) ist dabei hilfreich. So kann eine Untersuchung der Kosten-Nutzen-Abwägung

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analog des Entscheidungsprozesses zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen hilfreich sein, um die Hintergründe zu erhellen (vgl. Radojevic 2016, S. 67), die unter anderem folgende Kriterien aufnimmt: Inwieweit hat das Thema eine Kompetenzzuschreibung für die eigene Partei? Ist es womöglich schädlich für eine gegnerische Partei? Ist es gut personalisierbar? Ist es wahlkampftauglich? Die Situation in der 19. Wahlperiode weist mit Einzug der rechtspopulistischen Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) eine neue Situation auf. Bei ihr ist das Moment kooperativer Opposition bislang nicht erkennbar. Vielmehr scheint sie sich grundsätzlich an der „heißen“ Situation von Politik zu orientieren: der Konfliktorientierung mit dem Ziel der Alternativen-Darstellung – wie schon im Parteiname angelegt –, die vorrangige Nutzung der formalen Kontrollinstrumente und der Orientierung an großer Sichtbarkeit, was etwa aus der offenbar vorherrschenden Betonung der Plenar- gegenüber der Ausschussarbeit abgeleitet werden kann. Es lohnt, zu beobachten ob auch ein besonderer Einfluss der Fraktionsführungen festzustellen ist. Insofern kann die oben vorgeschlagene Unterscheidung zur dynamischen Betrachtung von Kontrolle, die grundsätzlich aus der Analyse konstruktiver Opposition entwickelt wurde, auch für die Untersuchung einer sich eher am Modell der Fundamentalopposition orientierenden Fraktion hilfreich sein. Zugleich ist die SPD „wider Willen“ in eine erneute Große Koalition eingetreten (vgl. Siefken 2018b, S. 384) und hat versucht, sich in der Regierung stärker als zuvor zu profilieren – möglicherweise auch unter Einsatz von Anleihen bei der Oppositionsarbeit. Letzteres hat sich beispielsweise beim Verhalten in der Befragung der Kanzlerin im Parlament gezeigt, als die ­SPD-Abgeordneten eher solche Themen ansprachen, „über die innerhalb der Koalition nicht restlos Einigkeit herrscht“14. Auch bei den Rücktrittsforderungen aus der SPD an den Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Georg Maaßen, wurde im September 2018 eine Taktik der „Opposition in der Regierung“ erkennbar15. Es bleibt also lohnenswert und erforderlich, sich mit der Opposition im Bundestag zu beschäftigen. Angesichts der skizzierten Veränderungen unter den Bedingungen des polarisierten Pluralismus muss wohl künftig besser von den Oppositionen im Plural gesprochen werden (vgl. Ingold 2015): eine konstruktive

14Vgl.

Johannes Leithäuser: „Eine Stunde Kurzweil“, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juni 2018, S. 2. 15Vgl. Thomas Gutschker, Konrad Schuller: „Zwei Mann in einem Boot“, in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 16. September 2018, S. 2.

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Opposition, eine fundamentale Opposition und eine Koalitionspartei in der Mehrheit, die sich an Oppositionstaktiken orientiert. So erscheint eine Fortentwicklung der Konzepte der Oppositionsforschung angezeigt, um die dynamische Realität angemessen abzubilden.

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Minderheitsregierung und Mehrheitsopposition – Zur Aktualität der Oppositionstrias „Kritik, Kontrolle, Alternative“ im Fall Schweden Melanie Müller 1 Problemaufriss Die Grundzüge parlamentarischer Opposition in westlichen Demokratien unterliegen vielseitiger Variation, was bereits bei Dahl (1966), Euchner (1993), Helms (2002), aber auch in neueren Forschungsarbeiten (Garritzmann 2017; Van Biezen und Wallace 2013) gezeigt wurde. Nichtsdestotrotz gilt die Oppositionsforschung, auch in der heutigen Forschungslandschaft (Oberreuter 1993, S. 64), immer noch als „Stiefkind der Wissenschaft“ (Schumann 1976, S. 22), was zur Folge hat, dass der Begriff „Opposition“ uneinheitlich und ohne Systematik benutzt wird (Blondel 1997, S. 462 f.; Dahl 1966, S. xviii). Dies überrascht schon insofern, als Opposition vor dem Hintergrund des neuen Dualismus einen der beiden Grundpfeiler parlamentarischer Regierungssysteme darstellt. Versuche, Oppositionsarbeit zu konzeptualisieren, liefen bisher überwiegend auf die Trinity of Opposition heraus „Alternative, Kritik und Kontrolle“ (zuerst genannt bei Sternberger 1956). Wie im Folgenden kurz dargelegt wird, sind Oppositionen jedoch unterschiedlichen parlamentarischen Erwartungen ausgesetzt, weshalb eine Verallgemeinerung der Trias zur Beschreibung des Oppositionswesens eher fraglich erscheint. Eine Varianz in den Anforderungen an parlamentarische Opposition wird durch eine Gegenüberstellung von politischen Systemen mit MinderheitsM. Müller (*)  Fachgebiet Politikwissenschaft, Technische Universität Kaiserslautern, Kaiserslautern, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_9

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regierung oder Mehrheitsregierung deutlich. Ziehen wir das literarische Fundament im Forschungsgebiet der Opposition zu Rate, wird dies erkennbar. Dahl (1966) wagt sich in seinem Sammelband an eine Oppositionsdefinition. Auch wenn diese aus Gründen der Verallgemeinerbarkeit eher vage formuliert ist, so lassen sich aus ihr doch oppositionelle Verhaltensmuster filtern. „Suppose that A determines the conduct of some aspect of the government of a particular political system during some interval. (…) Suppose that during this interval B cannot determine the conduct of the government; and that B is opposed to the conduct of government by A. Then B is what we mean by ‘an opposition’. Note that during some different interval, B might determine the conduct of the government, and A might be ‘in opposition’“ (Dahl 1966, S. xviii)

Für Dahl zeichnet sich Opposition durch drei grundlegende Charakteristika aus. Zum einen kann Opposition keinen Einfluss auf Regierungsarbeit, d. h. Gesetzgebung nehmen. Zum anderen opponiert die Opposition die Gesetzgebung der Regierung und stellt somit die politische Alternative dar. Als dritten Faktor nennt Dahl das Moment der Alternation, indem er auf die Möglichkeit des Machtwechsels hinweist.

1.1 Eindimensionale Oppositionstrias Die Gültigkeit dieser Definition stößt durch die eindimensionale Sichtweise auf Opposition an ihre Grenzen und kann schon normativ nicht überzeugen, weil sie der Opposition unter Umständen systemfeindliches Verhalten nahelegt. Folgt man der Trias Alternative, Kritik und Kontrolle, erscheint Dahls Eingrenzung schlüssig. In einem klassischen Zwei-Parteiensystem, in dem die nicht-regierende Partei a) keine Mehrheit auf sich vereint und b) nicht an der Gesetzgebung beteiligt ist, wirkt diese Definition einleuchtend. In Dahls Sammelband werden jedoch nicht nur Regierungssysteme mit diesen Eigenschaften besprochen, sondern eben auch Oppositionen in skandinavischen Demokratien, vertreten durch Norwegen und Schweden. Beide Länder vereinen Regierungssysteme, in denen Minderheitsregierungen die Regel darstellen. Insbesondere durch die erforderliche Duldung bei der Wahl der Regierungschefin (Larsson und Bäck 2008, S. 171), wird das Bilden von Minderheitsregierungen institutionell befördert, was der Opposition besondere Aufgaben hinsichtlich Konsensfindung und Verhandlung zuschreibt. Die Opposition muss somit bei der Gesetzgebung maßgeblich beteiligt sein. Dies wird insbesondere durch kleine Minderheitsregierungen verschärft, wenn also große Teile der Opposition

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Gesetzesentwürfe mittragen müssen. Denn wenn sich eine Mehrheitsopposition in einer Minderheitsregierung nach Dahl und somit auf Grundlage der Trias Kritik, Kontrolle, Alternative, verhält, besteht die Gefahr eines systemkonträren Verhaltens1. Regierungsstabilität würde dadurch systematisch verhindert werden. Die Oppositionstrias ist somit nicht anwendbar für jede Konstellation des Gegenübers von Regierung und Opposition. Darauf wiesen bereits mehrere Autorinnen hin, wenn auch unterschiedliche Schlüsse aus der zugrunde liegenden Unzulänglichkeit gezogen wurden. Argumentieren beispielsweise Helms, Haberland und Steffani, dass lediglich drei Oppositionsfunktionen unzureichend sind, und man daher den Funktionskatalog um das Moment der Mitregierungsfunktion (Helms 2000, S. 527), und Integrationsfunktion (Steffani 1968, S. 44; Haberland 1995, S. 45) erweitern müsse, sieht Garritzmann das genaue Gegenteil, indem er der Funktion Kritik die Eigenständigkeit abspricht. Kritik habe im Gegensatz zu Alternative und Kontrolle keine Zielführung, da sie automatisch in der Alternativ- wie auch der Kontrollfunktion impliziert sei (Garritzmann 2017, S. 8). Eine Opposition, die eine alternative Politik formuliert, kritisiert somit auch die betriebene Politik der Regierung. Eine Opposition, die das Regierungshandeln kontrolliert, wird nach den Grundsätzen des neuen Dualismus auch kritisieren. Ein weiteres Argument für den Ausschluss von Kritik aus der Funktionentrias, ist an den Fall von Minderheitsregierungen gebunden. Denkt man funktionslogisch über Gesetzesabstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip zu Zeiten von Minderheitsregierungen nach, kommt man, wie oben bereits erläutert, zum Schluss, dass zumindest Teile der Opposition mit der Regierung stimmen müssen. Studiert man die einschlägige Literatur, so erfährt man, dass Minderheitsregierungen der Opposition als Kompromiss policy influence (vgl. Müller und Strøm 1999, S. 8), oder nach Helms (2000) und von Beyme (1997, S. 264) eine Mitregierung zusichern, um Kritik präventiv zu unterbinden (Christiansen und Seeberg 2016). Dies geschieht allerdings nur, wenn ein entsprechender Rückhalt bei den Wählerinnen besteht (Müller und Strøm 1999, S. 8). Inwieweit majoritäre Oppositionen gegenüber Minderheitsregierungen Kritik ausüben können oder dürfen, um nicht selbst unglaubhaft zu wirken, ist umstritten. Immerhin kann Kritik auch als oppositionelles Instrument verstanden werden, falls diese nicht in den Gesetzgebungsprozess einbezogen ist und die Regierung zur Einbeziehung zwingen möchte (Christiansen und Seeberg 2016). Das hinter der Kritik stehende Motiv ist dann weniger kompetitiv als auf Kooperation angelegt.

1Vergleiche

dazu auch Steffanis Unterscheidung zwischen loyaler und systemkonträrer bzw. fundamentaler Opposition (Steffani 1968).

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Beim Versuch, die Trias auf den Fall von Minderheitsregierungen anzuwenden, können ähnliche Folgerungen für die Funktion Alternative gezogen werden. Ist die Opposition inhaltlich am Gesetzgebungsprozess beteiligt, nimmt sie sich automatisch Raum für inhaltliche Alternative. Summiert man diese ersten Gedanken, so schlussfolgert man vorerst, dass die Oppositionstrias a) konzeptionell unzureichend ist, b) wie Garritzmann zeigt, eventuell keine Trias, sondern ein Dualismus aus Kontrolle und Alternative die Opposition besser beschreibt, und folgt man diesem Gedanken weiter, c) für den Fall von Minderheitsregierungen sogar eindimensional auf Kontrolle reduziert werden kann. Hat eine Mehrheitsopposition eine Mitregierungsfunktion inne und somit inhaltlichen Einfluss, kann sie das Regieren selbst umfassend kontrollieren. Kritik und Alternativbildung sind als Oppositionsfunktionen in dieser Perspektive somit lediglich Unterfunktionen der Kontrollfunktion.

1.2 Minderheitsregierung und Mehrheitsopposition als aktive Wahl Betrachtet man Demokratien, die bereits Erfahrung mit Minderheitsregierungen gemacht haben, lassen sich grundlegend zwei Motivationsstränge für das Bilden einer Minderheitsregierung filtern. In den meisten Demokratien mit Erfahrungen in punkto Minderheitsregierung bildeten sich diese durch Ablösen einer ursprünglichen Mehrheitsregierung im Zuge einer politischen Krise. Dies entspricht dem überholten Bild von Minderheitsregierungen als Produkt politischer Instabilität (von Beyme 1973, S. 566–571). Wie Strøm (1984, 1986, 1990) jedoch in gleich mehreren Arbeiten hervorhebt, gibt es Demokratien, bei denen politische Instabilität kein Beweggrund für das Formen einer Minderheitsregierung nach einer Wahl ist. „But although Scandinavian minority governments have required skill, foresight, and flexibility for their survival, they have not generally been short-lived, ineffective, or crisis-ridden. Thus, the Scandinavian experience provides the best evidence that minority governments need not be feared.“ (Strøm 1986, S. 599)

Vielmehr lässt sich eine aktive und bewusste Entscheidung gegen eine Mehrheitsregierung messen. Dies bedeutet auch, dass die Parlamentsmehrheit eine aktive und bewusste Entscheidung trifft, keine Regierungsmacht zu übernehmen und stattdessen in der Opposition zu bleiben. Dies hat jedoch nichts mit einem nicht vorhandenen Alternationswillen zu tun, sondern ist nach Strøm Resultat rational

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denkender Akteurinnen, die auf Regierungsämter verzichten und stattdessen politischen Einfluss und Wählerinnenstimmen erlangen (Müller und Strøm 1999). „A decision to remain in opposition temporarily implies no lack of interest in governing in the long run, but rather a willingness to wait for more favorable circumstances.“ (Strøm 1984, S. 212)

Das Bilden von Minderheitsregierungen in skandinavischen Demokratien schließt jedoch nicht das Bilden von Mehrheitsregierungen aus, beide Konstellationen sind in den angesprochenen Ländern möglich. Bergman charakterisiert die nordischen Länder durch „(1) eine hohe Frequenz von Minderheitsregierungen, (2) eine mehr als gelegentliche Bildung sehr kleiner Minderheitsregierungen und (3) einen kurzen Regierungsbildungsprozess“ (Bergman 1993, S. 287, 2006a, S. 206). Was Schweden von anderen nordischen Ländern institutionell unterscheidet, ist die Breite an oppositionellen Einflussmöglichkeiten (Garritzmann 2017, S. 12). Garritzmann vergleicht den institutionell gegebenen Machteinfluss von Oppositionen2 in 21 Demokratien und stellt fest, dass Oppositionen in skandinavischen Demokratien ein vergleichsweises hohes Maß an Einfluss genießen, Opposition in Schweden jedoch ein exzeptionell hohes Maß an Einfluss innehat (Garritzmann 2017, S. 17). Wie aber verhält sich die schwedische Opposition, also eine Opposition mit parlamentarischer Mehrheit und außergewöhnlich starken institutionellen Einflussmöglichkeiten gegenüber Minderheitsregierungen? Mithilfe einer Betrachtung des politischen Systems mit Fokus auf Koalitionsabsprachen wie auch dem Parteiensystem, sollen im Folgenden nach den Maßstäben des New Institutionalism (March und Olsen 1984) institutionell, aber auch akteurinnenbezogene Handlungsmuster aufgezeigt werden. Regierungsstabilität oder eventuelle -instabilität wird anhand des parlamentarischen Abstimmungsverhaltens von Oppositionsparteien überprüft. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich über die Jahre 2010–2014 und 2014–2018, also zwei Legislaturperioden mit jeweils wechselnden Minderheitsregierungen: 2010–2014 Minderheitskoalition aus bürgerlichen Parteien unter Premierminister Fredrik Reinfeldt und 2014–2018 rot-grüne Minderheitskoalition mit Unterstützung der Linkspartei

2Garritzmann

inkludiert folgende Mittel im Opposition Power Index: Ausschusssysteme, schriftliche und mündliche Fragen, parlamentarische Fragestunden wie auch Einflussmöglichkeiten über die politische Agenda. Garritzmann (2017, S. 16).

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unter Premierminister Stefan Löfven. Möchte man oppositionelles Abstimmungsverhalten zu Zeiten von Minderheitsregierungen auswerten, stehen Oppositionsparteien und nicht Opposition als homogenes Konstrukt3 im Fokus der Untersuchung (Hix und Noury 2016, S. 254).

2 Institutionelle Determinanten schwedischer Opposition 2.1 Negativer Parlamentarismus Das Bilden von Minderheitsregierungen wird institutionell durch den negativen Parlamentarismus begünstigt, der bei der Wahl der Regierungschefin praktiziert wird (Bergman 1995, S. 152 f.). Muss sich in Demokratien, in denen positiver Parlamentarismus ausgeübt wird, eine parlamentarische Mehrheit aktiv für die Regierungschefin aussprechen, so darf sich im negativen Parlamentarismus in Schweden keine Mehrheit aktiv gegen eine Kandidatin entscheiden (Larsson und Bäck 2008, S. 171). Die bloße Duldung einer Kandidatin für das Amt der Regierungschefin genügt, um diese ins Amt zu heben (Bergman 2006b, S. 601 f.). Diese Differenz in der Regierungsbildung hat elementare Folgen für das gesamte Regierungssystem. Da man sich als Regierungschefin im schwedischen Parlament lediglich einer passiven Duldung sicher sein muss, sind Mehrheitsbildungen nicht zwingend aber trotzdem möglich. Auch wenn die Minderheitsregierung im letzten Jahrhundert das favorisierte Regierungssystem darstellte (Bäck und Bergman 2016, S. 210 f.), so besteht kein Muss zu einer Minderheitsformation. Da Gesetzesverabschiedungen nach dem Mehrheitsprinzip erfolgen, muss der Minderheitsregierung eine Duldung der Parlamentsmehrheit unterliegen, um Regierungsstabilität sichern zu können. Dies funktioniert nur, wenn sich die Regierungs- und Oppositionsakteurinnen entsprechend konsenssuchend verhalten, weil sie das so wollen – hier kommt die Akteurinnenzentrierung jedes plausiblen und empirisch gehaltvollen Erklärungsmodells zur Opposition in Schweden ins Spiel.

3Auch

Norton (2008) teilt die Auffassung, dass eine einheitliche Verwendung des Begriffs Opposition unzureichend ist und liefert eine detailliertere Aufschlüsselung in the Opposition (größte Oppositionspartei), opposition parties (alle Parteien, die nicht zur Regierung gehören), opposition (Oppositionsparteien und deren Beziehung zueinander), und extra-parliamentary opposition (parlamentarische Opposition und externe Akteurinnen).

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2.2 Koalitionspartnerin oder Unterstützungspartei? Schwedischer contract parliamentarism Eine weitere institutionelle Einflussgröße, die sich seit der Riksdagswahl 2006 informal institutionalisiert hat, ist die Blockkoalition. Diese auf der ideologischen Verortung basierende Koalitionsstrategie teilte das Parlament, bis zum Einzug der Schwedendemokraten, in zwei Blöcke auf (Bäck und Bergman 2016, S. 215). Koalitionsfindungen können somit vereinfacht und Kooperation gefestigt werden, was grundlegend Regierungsstabilität verursachen soll. Auch wenn diese strikte Koalitionsstrategie oft in Kritik gerät (Carlsson und Norrtelje Tidning 21.04.2015), kann man ihr einen positiven Effekt hinsichtlich einer gemeinsamen Oppositionslinie unterstellen. Sitzen beispielsweise im Deutschen Bundestag oft Parteien in der Opposition, die noch nie koaliert und somit zusammen regiert haben, so haben hingegen Oppositionsparteien in Schweden aus vorherigen Legislaturperioden Regierungs- und Koalitionserfahrung mit anderen Oppositionsparteien sammeln können. Idealtypisch streben Oppositionsparteien vor dem Hintergrund von Alternation nach einer Regierungsübernahme (Schneider 1998, S. 248). Daher stehen teilweise bereits vor einer Parlamentswahl Koalitionsbündnisse fest, sodass auch eine gemeinsame programmatische Linie (Blockpolitik) betrieben werden kann. Was wie eine Transformation eines Mehrparteiensystems zu einer Art Zweiparteiensystem aussieht, hat durch den Einzug der Schwedendemokraten allerdings an Bedeutung verloren. Eine scharfe Abgrenzung einer kohärenten Regierung auf der einen Seite und einer geschlossenen Opposition auf der anderen Seite kann deshalb nicht erfolgen, was auch hier für eine Untersuchung von Oppositionsparteien und weniger von Opposition spricht (Hix und Noury 2016, S. 254). Argumentiert man, dass die Oppositionsforschung in schwedischen Minderheitsregierungen eigentlich eine Oppositionsparteienforschung ist, so lassen sich ähnliche Schlüsse für die Regierungen in Schweden ziehen. Sucht die stärkste Fraktion Bündnisse, um ihre legislative Stellung zu verbessern, stehen ihr zwei Möglichkeiten zur Verfügung. Sie kann eine Koalition mit einer oder mehreren anderen Fraktionen eingehen, diese als Teil der Regierung im Kabinett anerkennen und einen gemeinsamen Koalitionsvertrag schließen. In Schweden sind jedoch neben Koalitionsverträgen auch Vereinbarungen mit Unterstützungsparteien (Strøm 1984, 1990; Bale und Bergman 2006a) möglich. Parteien, die zwar nicht Teil des Kabinetts sind, jedoch durch institutionalisiertes schriftliches Einvernehmen – contract parliamentarism (Bale und Bergman 2006a, S. 424; Bergman 1995, S. 29 f.) – oder wie Strøm erläutert, die durch Verhandlungen

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vor der Regierungsbildung, die als externally supported cabinets (Strøm 1984, S. 204) bezeichnete Regierung, unterstützen. In manchen Fällen ist die stärkere Gewichtung, die die Regierung durch die Unterstützungsparteien bekommt, so stark, dass der Minderheitenstatus überwunden wird, was Strøm formal minority governments (Strøm 1984, S. 205) nennt. Minderheitsregierungen, die mit oder ohne Unterstützung nicht den Minderheitenstatus überwinden können, deklariert Strøm als substantive minority governments (Strøm 1984, S. 205). Wenn man im schwedischen Fall also von Regierungsparteien spricht, muss zwischen Koalitionspartnerinnen und unterstützenden Parteien unterschieden werden. Die vorliegende Fallauswahl, die Legislaturperioden 2010–2014 und 2014–2018, inkludieren ausschließlich Koalitionsregierungen, die auf ihrem Minderheitenstatus verharren (substantive minority governments). In der Legislaturperiode unter Fredrik Reinfeldt (2010–2014) herrschte eine Minderheitskoalition aus den bürgerlichen Parteien (Allians för Sverige; zu dt. Allianz für Schweden). In der darauffolgenden Legislaturperiode (2014–2018) gingen die Sozialdemokraten zusammen mit den Grünen in eine Minderheitskoalition, schlossen jedoch mit der Linken ein Unterstützungsabkommen ab. Trotz der zusätzlichen Unterstützung von links kann die Koalition ihren Minderheitenstatus nicht überwinden (vgl. Tab. 1). Der Frage, warum manche Parteien Koalitionspartnerin und somit Kabinettsmitglied werden und andere ‚nur‘ unterstützende Partei und somit kein Kabinettsmitglied werden, gehen Bale und Bergman (2006a) nach. Unterstützungsparteien werden demnach einfach nicht gefragt, Koalitionspartnerin zu werden. Diese gehen trotzdem ein Bündnis mit den Regierungsparteien ein, um einerseits office gegen policy influence zu tauschen (Müller und Strøm 1999, S. 9 f.), andererseits auch in der Hoffnung, bis zur nächsten Wahl Vertrauen aufgebaut zu haben, um dann Kabinettsmitglied werden zu können (Bale und Bergman 2006b, S. 206). Dies war auch nach der Riksdagswahl 2014 der Fall. Vor der Wahl machte die Linkspartei deutlich, dass eine feste Regierungszusage seitens der Sozialdemokraten erwartet wird, sollten diese mit linker Unterstützung rechnen. Nach der Riksdagswahl schlossen die Sozialdemokraten die Linkspartei als Koalitionspartnerin aus, woraufhin diese ungeachtet dessen bei Budgetfragen Unterstützung zusicherten. Zum einen in der Hoffnung, nach der nächsten Wahl Kabinettsmitglied zu werden (Blombäck 2015, S. 229), zum anderen, um wenigstens inhaltlichen Einfluss auf Budgetfragen zu erlangen. Die Zuordnung von Unterstützungsparteien zu entweder den Regierungsparteien oder den Oppositionsparteien ist somit zwiespältig. Die Frage, welche Parteien nun Regierungsparteien und welche Oppositionsparteien sind, wurde

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Tab. 1   Fallauswahl Legislatur- Regierung Support Sitze periode Reg.

Premier- Opposition Sitze minister Opp.

Government system

176

Minority (substantive)

M, CP, KD, 190 FP, SD

Minority (substantive)

2010–2014 M, CP, FP, KD (Allians för Sverige)

Ja: MPa 173

Fredrik S, V, MP, Reinfeldt SD (M)

2014–2018 S, MP

Ja: Vb

Stefan Löfven (S)

159

a= Unterstützungsabkommen

zwischen Allians för Sverige und MP bei Migrationsfragen Unterstützungsabkommen zwischen S, MP mit V bei Budgetfragen CP = Centerpartiet (Zentrumpartei) FP = Folkpartiet Liberalerna (Liberale Volkspartei) KD = Kristdemokraterna (Christdemokraten) M = Moderata Samlingspartiet (Moderaten) MP = Miljöpartiet de Gröna (Umweltpartei/Die Grünen) S = Socialdemokratiska Arbetarepartiet (Sozialdemokratische Arbeiterpartei) SD = Sverigedemokraterna (Schwedendemokraten) V = Vänsterpartiet (Linkspartei) (Quelle: Bäck und Bergman 2016, S. 210 f.; Loxbo und Sjölin 2017, S. 596; Svenska Valmyndigheten; eigene Darstellung)

b= breites

vielfach und sehr differenziert diskutiert (Bale und Bergman 2006a, 2006b; Louwerse et al. 2017; Strøm 1984). Es kann argumentiert werden, dass Unterstützungsparteien keine Kabinettsmitglieder sind und somit auch nicht gleich stark in den Gesetzgebungsprozess einbezogen und diszipliniert werden können wie Koalitionspartnerinnen. Eine Vielzahl von Autorinnen verdeutlicht, dass Unterstützungsparteien im contract parliamentarism, also der institutionalisierten Form eines Unterstützungsabkommen (Bale und Bergman 2006a, S. 424), eher als Regierungsparteien und weniger als Oppositionsparteien gesehen werden müssen (Strøm 1984, S. 216; Bale und Bergman 2006b, S. 206; für den Fall Dänemark: Damgaard 2006, S. 231). „While governments were often reluctant to allow support parties full credit for their initiatives, support parties were wary of appearing too critical or disruptive for fear it would undermine the reputation for constructive cooperation they were striving to build up“ (Bale und Bergman 2006b, S. 206).

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Das Ziel von Unterstützungsparteien ist es, sich als konstruktive Kooperationspartnerin zu etablieren, indem sie ihr Konsensstreben unter Beweis stellen. Louwerse et  al. (2017) kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Parlamentsparteien können in drei Gruppen aufgeteilt werden: Regierungspartei, Unterstützungspartei und Oppositionspartei, wobei die ersten zwei unter dem Begriff Koalitionsparteien zusammengefasst werden (Louwerse et al. 2017, S. 747 f.). Abstimmungen im schwedischen Riksdag folgen dabei eher einem ­Koalitions-Oppositions-Muster und weniger einem Regierungs-OppositionsMuster (Louwerse et al. 2017, S. 756). Unterstützungsparteien werden daher auch für das vorliegende Design als Teil der Regierung gezählt. Ob Unterstützungsparteien jedoch die gleiche Regierungsunterstützung wie Koalitionspartnerinnen bieten, muss anhand der Daten gesichtet werden.

2.3 Oppositioneller Einfluss auf Gesetzgebung Wie bereits Helms (2000) erläuterte, haben Oppositionen eine Mitregierungsfunktion. Diese zeigt sich im Fall Schweden unter anderem in einem starken Einfluss auf das Agenda-Setting (Garritzmann 2017, S. 16). Auch Strøm (1984, S. 214) kommt mit seinem Index of the potential for oppositional influence, der sich auf die institutionellen Gestaltungsmöglichkeiten in den Ausschüssen bezieht, zum Schluss, dass Schweden ein sehr stark ausgereiftes Ausschusssystem aufweise und daher der institutionell gegebene oppositionelle Einfluss hoch sei (Strøm 1984, S. 215). Insbesondere zu Zeiten von Minderheitsregierungen suchen Regierungsparteien in den Ausschüssen regelmäßig den Konsens mit Oppositionsparteien (vgl. Lewin 1998, S. 203). Oppositionsparteien bekommen somit Policy-Einfluss und stimmen als Gegenleistung für den Gesetzesentwurf (Loxbo und Sjölin 2017, S. 592). Eine weitere institutionelle Größe, die ein starkes Konsensstreben zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien erzwingt, ist das eingeschränkte Gesetzesinitiativrecht4, das den Oppositionsparteien die Möglichkeit gibt, nur einen Gegenvorschlag zu einem von Regierungsseite bereits eingereichten Gesetzesvorschlag einzureichen (Sveriges Riksdag 2018a). Die Möglichkeit des remiss, ein Einspruch oder Verbesserungsvorschlag für eine vom

4Eine

Ausnahme stellt die alljährliche allmänna motionstiden dar. In wenigen Wochen können alle Oppositionsparteien Vorschläge einreichen, ohne sich auf eine zuvor eingereichte Gesetzesinitiative vonseiten der Regierung beziehen zu müssen. Sveriges Riksdag (2017).

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Ausschuss geplante Gesetzesinitiative, institutionalisiert das Konsensstreben. Dabei können die von der Initiative betroffenen Behörden oder Organisationen wie auch Privatpersonen Kritikpunkte nennen, die anschließend im Ausschuss diskutiert und in einem aktualisierten Gesetzesentwurf berücksichtigt werden (Halvarson et al. 2003, S. 61 f.; vgl. auch Norén Bretzer 2017, S. 123).

3 Akteurinnenbezogene Determinanten schwedischer Opposition Um der Frage nach dem Verhalten schwedischer Oppositionsparteien gegenüber Minderheitsregierungen vor dem Hintergrund der Wahrung von Regierungsstabilität nachzugehen, wird im Folgenden das Abstimmungsverhalten aller im Parlament vertretener Parteien in den Legislaturperioden 2010–2014 und 2014– 2018 untersucht.

3.1 Abstimmungsverhalten in der Legislaturperiode 2010–2014 In der Legislaturperiode 2010–2014 stellten die Allianz-Parteien die Regierung, Sozialdemokraten, Grüne, Linke wie auch Schwedendemokraten die Opposition. Die Grünen hatten zudem ein Unterstützungsabkommen zu Migrationsfragen mit den Regierungsparteien unterschrieben. Da sich dieses jedoch nur auf ein Politikfeld bezog, und somit nicht breit angelegt war, zählen die Grünen im Folgenden zu den Oppositionsparteien. Die folgenden Tabellen zeigen das Abstimmungsverhalten der Oppositionsparteien gegenüber den Regierungsparteien, das Abstimmungsverhalten der Koalitions- und/oder unterstützenden Parteien wie auch das Abstimmungsverhalten innerhalb des Oppositionslagers. Um ein detaillierteres Verständnis des Abstimmungsverhaltens der verschiedenen Parteien zu erlangen, folgt für jede Partei eine auf den Ausschüssen basierende Politikfeldanalyse. Auf den ersten Blick lässt sich feststellen, dass die ­ AllianzKoalitionspartnerinnen, d. h. Zentrumspartei, Christdemokraten wie auch die Liberale Volkspartei geschlossen mit den Moderaten stimmen (siehe Abb. 1 ‚Moderaten‘). Ebenso lässt sich eine vergleichsweise hohe Unterstützung seitens der Oppositionsparteien erkennen, was angesichts des Minderheitenstatus der Koalitionsregierung auch essenziell ist. So stimmen beispielsweise die Schwedendemokraten als Oppositionspartei mehrheitlich mit den Allianzparteien.

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Abb. 1    Anteil gleicher Ja-, Nein-, Enthaltungen und ungleicher Stimmen in der Legislaturperiode 2010–2014. (Quelle Daten: Sveriges Riksdag (2018b); eigene Darstellung)

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Abb. 2   Ja-Stimmen der Oppositionsparteien im jeweiligen Politikfeld (gemessen an den Ausschüssen) in Prozent (2010–2014). (Quelle Daten: Sveriges Riksdag (2018b); eigene Darstellung)

Besonders starke Regierungsunterstützung durch die Schwedendemokraten wird in den Bereichen Bildung, Transport, Gesundheit, Steuern, Industrie und Handel, Umwelt, Kultur, zivilrechtliche Fragen und Arbeitsmarkt geleistet. Weniger Unterstützung bekommt die Allianzregierung von den Schwedendemokraten in den Bereichen Außenpolitik und Verteidigung, Sozialversicherung, was Asyl und Migrationsfragen einschließt, sowie Justiz und Finanzen (siehe Abb. 2). Auch verschaffen die Sozialdemokraten in knapp jeder zweiten Abstimmung der Regierung eine parlamentarische Mehrheit. Betrachtet man das Diagramm der Schwedendemokraten, so wird ersichtlich, dass Schwedendemokraten und Sozialdemokraten eine geringe Anzahl gleicher Ja-Abstimmungen haben. Noch deutlicher tritt dies bei den Grünen (siehe Abb. 1 ‚Schwedendemokraten‘) zutage. Die Anzahl der gleichen Ja-Stimmen zwischen Grünen und Sozialdemokraten ist dabei nur etwas höher (siehe Abb. 1 ‚Sozialdemokraten‘). Dies lässt darauf schließen, dass entweder Sozialdemokraten, Grüne oder Schweden-

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demokraten der Allianz-Koalition Mehrheiten verschafft haben. Die Sozialdemokraten unterstützen dabei die Allianz-Regierung in den Politikbereichen, in denen die Schwedendemokraten geringere Unterstützung leisten (siehe Abb. 2). Die Regierungsunterstützung der Grünen in Form eines Unterstützungsabkommens zeigt sich in der Analyse im Politikfeld Sozialversicherung, das auch Asyl- und Migrationsfragen einschließt (siehe Abb. 2). Am wenigsten wird die Allianz-Regierung von der Linkspartei unterstützt. Lediglich in 685 von ins­ gesamt 2699 Abstimmungen unterstützt die Linkspartei die Allianzparteien. Dies ist zwar die geringste Unterstützung gegenüber der Minderheitsregierung, jedoch weit entfernt von einer Opposition aus Prinzip. Zusammenfassend lässt sich aus den Abstimmungsmustern der Oppositionsparteien schließen, dass die Allianzregierung ihren Minderheitenstatus auch ohne umfangreiche Unterstützungsabkommen überwinden konnte. Dabei haben fast alle Oppositionsparteien eine breite Unterstützung gegenüber der Minderheitenregierung gezeigt. Dennoch: Ist das Verhalten zwischen den Regierungsparteien von einer, am Abstimmungsverhalten gemessenen, hohen Geschlossenheit geprägt, lassen sich differenzierte Schlüsse für die Oppositionsparteien ziehen. Beginnend mit der größten Oppositionspartei, den Sozialdemokraten, ist festzustellen, dass diese am häufigsten mit den Linken gleich abstimmen. Betrachtet man beides, gleiche Ja- und Nein-Stimmen und Enthaltungen, wird deutlich, dass Sozialdemokraten, Umweltpartei und Linke eine hohe Geschlossenheit aufweisen. Sozialdemokraten und Grüne stimmen häufiger mit der Regierung, während Sozialdemokraten und Linke öfter einen Gesetzesentwurf der Regierung gemeinsam ablehnen. Das Schwergewicht der gemeinsamen ­ Links-Grün-Stimmen liegt auf den Nein-Stimmen (siehe Abb. 1 ‚Umweltpartei‘), während Sozialdemokraten die Allianzregierung unterstützen. Die Schwedendemokraten weisen nur geringe Überschneidungen mit den anderen Oppositionsparteien auf, dafür aber große Schnittmengen mit der Allianzregierung. Betrachtet man die gemeinsamen Abstimmungen von Schwedendemokraten mit den einzelnen Oppositionsparteien, wird sichtbar, dass Linke die geringste Übereinstimmung zeigt, die Grünen mittig und die Sozialdemokraten bei den Oppositionsparteien am häufigsten mit den Schwedendemokraten stimmen (siehe Abb. 1 ‚Schwedendemokraten‘). Dabei lässt sich jedoch erkennen, dass Linke und Schwedendemokraten eher gemeinsam Nein stimmen oder sich enthalten und Sozialdemokraten und Schwedendemokraten eher gemeinsam Ja stimmen. Nichtsdestotrotz werden die Gemeinsamkeiten zwischen den Oppositionsparteien Sozialdemokraten, Grüne, Linke auf der einen Seite und Schwedendemokraten auf der anderen Seite eher von den Unterschieden überwogen. Von einer einheitlichen Opposition kann

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daher nicht die Rede sein, weshalb der Blick auf einzelne Oppositionsparteien gerechtfertigt ist. Fasst man parlamentarisches Abstimmungsverhalten in der Legislaturperiode 2010–2014 zusammen, sind folgende Muster zu identifizieren: Die Koalitionsparteien aus Moderaten, Zentrumspartei, Christdemokraten und Liberale Volkspartei weisen ein einheitliches Abstimmungsverhalten auf. Auch wenn diese keine parlamentarische Mehrheit zur erfolgreichen Verabschiedung von Gesetzen vereinen, können mit der Unterstützung von Oppositionsparteien Mehrheiten erschlossen werden. Diese Unterstützung wird dabei ohne die vorherige Unterzeichnung von weitreichenden Unterstützungsabkommen geleistet. Dabei stimmen Oppositionsparteien nicht einheitlich und gemeinschaftlich mit der Regierung, sondern man wechselt sich vielmehr politikfeldspezifisch ab. Dieses flexible Verhalten der Oppositionsparteien (vgl. auch Ganghof et al. 2012; ­Green-Pedersen 2001, S. 55 f.) bedeutet, dass innerhalb des Oppositionslagers keine hohe Geschlossenheit vorherrscht. Insbesondere die Schwedendemokraten verhalten sich mit ihrem mehrheitlich regierungsstützenden Verhalten eher als Regierungs- oder Unterstützungspartei und weniger als Oppositionspartei. Das differenzierte Abstimmungsverhalten der einzelnen Oppositionsparteien unterstreicht, dass eine Verallgemeinerung dieses Parlamentsteils unter dem Begriff Opposition überdacht werden muss. Ferner weicht das konsensuale Verhalten der Oppositionsparteien, indem diese immer wieder als Mehrheitsbeschafferin auftreten, auch das Bild der Opposition als Gegenspieler der Regierung (vgl. Schneider 1998, S. 250) auf.

3.2 Abstimmungsverhalten in der Legislaturperiode 2014–2018 Mit der Riksdagswahl 2014 bildete sich eine neue Koalition, sodass eine Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten und Grünen die Regierungsmacht übernahmen. Um mehr parlamentarische Unterstützung zu sichern, unterzeichnete die Koalitionsregierung ein breites Unterstützungsabkommen mit der Linkspartei. Diese äußerte zu Beginn zwar ihren Unmut über die fehlende Bereitschaft, die Linkspartei als Koalitionspartnerin anzuerkennen, ging jedoch letztendlich ein Unterstützungsabkommen ein, um zumindest Einfluss auf Budgetfragen zu erlangen (Blombäck 2015, S. 229). Die folgenden Tabellen bilden das Abstimmungsverhalten der Oppositionsparteien gegenüber den Regierungsparteien, das Abstimmungsverhalten der

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Koalitions- und/oder unterstützenden Parteien und das Abstimmungsverhalten innerhalb des Oppositionslagers ab. Auch in der Legislaturperiode 2014–2018 lässt sich feststellen, dass die Regierungsparteien, die Sozialdemokraten und die Grünen ein geschlossenes und einheitliches Abstimmungsverhalten an den Tag legen (siehe Abb. 3 ‚Sozialdemokraten‘). Starke Unterstützung, wenn auch nicht so umfangreich wie die Grünen, zeigt auch die Linkspartei. Ein Unterschied zwischen Koalitionspartnerin und Unterstützungspartei hinsichtlich einer kontinuierlichen Unterstützung lässt sich für diesen Fall aus den Daten ablesen. Breite Unterstützung gegenüber der Minderheitsregierung liefern auch die Allianzparteien (Moderaten, Christdemokraten, Zentrumpartei und Liberale Volkspartei). In mehr als der Hälfte aller Abstimmungen stimmen diese Oppositionsparteien mit den Sozialdemokraten wie auch den Grünen (siehe Abb. 3 ‚Umweltpartei‘). Auch wenn die oppositionelle Unterstützung gegenüber der Minderheitsregierung in der vorangegangenen Legislaturperiode hoch war, so ist sie nun noch einmal gestiegen. Politikfeldübergreifend leistet die Allianz breite Unterstützung (siehe Abb. 4). In den Politikbereichen Bildung, Transport, Handel und zivilrechtliche Fragen erfolgt die Unterstützung jedoch nicht nur von Allianz-Seite, sondern insbesondere vonseiten der Schwedendemokaten (siehe Abb. 4). Auch diese zeigen eine überraschend hohe Bereitschaft, mit den Koalitionsparteien zu stimmen (siehe Abb.  3 ‚Schwedendemokraten‘). Die Legislaturperiode 2010–2014 ließ erkennen, dass die Schwedendemokraten mehrheitlich mit der damaligen Allianz-Koalition stimmten, was durch ideologische Schnittstellen begründet ­ werden kann. Die Politikfeldanalyse verdeutlicht dabei, dass die Unterstützung der Schwedendemokraten gegenüber der bürgerlichen Regierung 2010–2014 wesentlich breiter angelegt war als die jetzige, die sich auf die Politikbereiche Bildung, Transport, Handel und zivilrechtliche Fragen beschränkt. Vergleicht man jedoch die Politikfelder, in denen die Schwedendemokraten nur wenig Unterstützung gegenüber der jeweils amtierenden Regierung aufbringen, so lässt sich ein homogenes Abstimmungsmuster ablesen. In den Bereichen Außenpolitik, Verteidigung und Sozialversicherung (einschließlich Migrations- und Asylfragen) ist die Unterstützung der Schwedendemokraten in beiden Legislaturperioden am geringsten. Wie bereits in der vorangegangenen Legislaturperiode, lässt sich auch in dieser kein oppositionelles Abstimmungsverhalten nach dem Muster der Opposition aus Prinzip nachweisen. In der Gesamtschau lässt das Abstimmungsverhalten im Zeitraum 2014–2018 darauf schließen, dass einige Ähnlichkeiten zu der vorherigen Legislaturperiode bestehen, aber eben auch Unterschiede. Ein Abstimmungsmuster, das sich in

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Abb. 3    Anteil gleicher Ja-, Nein-, Enthaltungen und ungleicher Stimmen in der Legislaturperiode 2014–2018. (Quelle Daten: Sveriges Riksdag (2018b); eigene ­Darstellung)

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Abb. 4   Ja-Stimmen der Oppositionsparteien im jeweiligen Politikfeld (gemessen an den Ausschüssen) in Prozent (2014–2018). (Quelle Daten: Sveriges Riksdag (2018b); eigene Darstellung)

beiden Legislaturperioden zeigte, ist die starke Zusammenarbeit zwischen den Koalitionsparteien. Des Weiteren tritt auch ein Unterschied in der Qualität der Verträge hervor. Gehen Parteien einen Koalitionsvertrag ein, ist dieser umfassend und bewirkt ein hohes Maß an Disziplin zwischen den Regierungsparteien. Ein Unterstützungsabkommen gewährleistet im Fall der Linkspartei in der Legislaturperiode 2014–2018 breite Unterstützung, es ruft jedoch nicht das gleiche disziplinierte Verhalten hervor. Ein weiteres Muster, das in beiden Untersuchungsfällen zu identifizieren ist, ist die breite Unterstützung der Oppositionsparteien gegenüber der jeweiligen Regierung (siehe auch Louwerse et al. 2017, S. 756). Obwohl Parteien nicht in

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der Regierung sitzen, verhalten sie sich gegenüber der Minderheitsregierung konsenssuchend. Dies bedeutet weniger, dass Oppositionsparteien per se Regierungsvorhaben unterstützen, sondern vielmehr, dass bereits bei der Entstehung von Initiativen durch institutionelle Mittel, wie das Remiss-Verfahren, Ausschussarbeit oder das eingeschränkte Gesetzesinitiativrecht, Konsens durch inhaltliche Einflussnahme angestrebt wird. Verhandlungen auf Augenhöhe sind zur Wahrung von Regierungsstabilität, an der nicht nur die Regierungsparteien, sondern eben auch die Oppositionsparteien interessiert sind, essenziell. Ein Muster, das in beiden Legislaturperioden zu finden ist, ist das flexible Abstimmungsverhalten. Oppositionsparteien wechseln sich bei der Regierungsunterstützung je nach Politikfeld ab, d. h. die Regierung sucht sich für verschiedene politische Vorhaben, unterschiedliche Verhandlungspartnerinnen. Ungewöhnlich bei dem Muster sind die hohen Zustimmungswerte gegenüber der alternierenden Regierung vonseiten der Schwedendemokraten, da sie keinem der zwei Parlamentsblöcke (Rot-Rot-Grün und Allianz) angehören. Könnte man die Unterstützung der Allianz-Regierung durch die Schwedendemokraten mit ideologischer Nähe erklären, so trifft dies in der anschließenden ­rot-grünen Regierung eher weniger zu. Die Politikfeldanalyse zeigt vielmehr im Vergleich, dass die Schwedendemokraten in den Bereichen Bildung, Transport, Handel und Zivilrecht beide Regierungen unterstützen. Die Unterstützung der ­Allianz-Regierung umfasst jedoch auch weiterer Politikfelder. Die Politikfeldanalyse zeigt auch, dass die Schwedendemokraten in beiden Legislaturperioden die geringste Regierungsunterstützung in den Bereichen Außenpolitik, Verteidigung und Sozialversicherung, was Migrations- und Asylfragen einbezieht, leisten. Dies würde bedeuten, dass für den Fall der Schwedendemokraten strittige und saliente Themen eher für Dissens sorgen (siehe auch Klüver und Zubek 2017, S. 9), da sie fürchten, die Gunst der Wählerinnenschaft (votes) zu verlieren (Bergman 1999, S. 252). Gemäß der Beschreibung von Bale und Bergman (2006b, S. 206) wollen sich Parteien einen Ruf als konstruktive Kooperationspartnerin aufbauen, um in künftigen Verhandlungen als Unterstützungspartei oder sogar als Koalitionspartnerin in Betracht gezogen zu werden. Dies könnte auch bei den Schwedendemokraten der Fall sein (siehe hierzu auch: Walther 2016). So bestätigt der Parteivorsitzende Jimmie Åkesson, dass er bereit sei, nach der Riksdagswahl 2018 mit den Moderaten ein Kooperationsverhältnis im Bereich der Einwanderungspolitik einzugehen (Malmén 2018).

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4 Abstimmungsmuster majoritärer Oppositionen – Zusammenfassung Verhaltensmuster von Oppositionsparteien in schwedischen Minderheitsregierungen folgen nicht der tradierten Trias aus Kritik, Kontrolle, Alternative. Im Fall Schweden, bei dem auf der einen Seite Oppositionsparteien umfangreiche institutionelle Möglichkeiten genießen inhaltlichen Einfluss zu üben, und wo auf der anderen Seite Minderheitsregierung üblich sind, bedarf es vor dem Hintergrund von systemkonformen Verhaltensmustern ein differenziertes Konzept von Opposition. Versuche, die Trias zu modifizieren, gab es bereits (Garritzmann 2017; Helms 2000; Steffani 1968). Die besonderen Herausforderungen bezüglich des Abstimmungsverhaltens, denen die Oppositionsparteien zu Zeiten von Minderheitsregierungen gegenüberstehen, wurden jedoch nicht thematisiert. Institutionelle Größen, wie der negative Parlamentarismus bei der Wahl der Regierungschefin, das eingeschränkte Gesetzesinitiativrecht der Oppositionsparteien wie auch verschiedene Formen von Unterstützungsvereinbarungen (Koalitionsvertrag und Unterstützungsabkommen), begünstigen Minderheitsregierungen und dadurch ein Konsensstreben bei allen parlamentarischen Parteien, stehen sie aufseiten der Regierung oder nicht. Um während einer Minderheitsregierung eine parlamentarische Mehrheit zur Verabschiedung von Gesetzesinitiativen finden zu können, müssen immer wieder Oppositionsparteien mit den Regierungsparteien stimmen. Die Untersuchung rückt somit vom tradierten Bild einer Opposition als ein geschlossener kohärenter Parlamentsteil ab und konzentriert sich stattdessen auf Oppositionsparteien. Diese institutionell geprägten Verhaltensmuster spiegeln sich auch in den Daten. Oppositionsparteien treten gegenüber Minderheitsregierungen als Mehrheitsbeschafferinnen auf. Dabei stimmen nicht alle Oppositionsparteien gleichzeitig und konstant mit den Regierungsparteien. Vielmehr wird vor jeder Abstimmung neu verhandelt und wechselnde Mehrheiten geschlossen. Regierungsunterstützung erfolgt somit politikfeldspezifisch. Dies setzt auf Regierungsseite aber auch bei den Oppositionsparteien ein hohes Maß an Flexibilität voraus. Auch wenn institutionelle Größen die Bildung von Minderheitsregierungen befördern, so ist eine Regierungsformation mit parlamentarischer Mehrheit nicht auszuschließen. Genau hier setzt die Akteurinnenperspektive an, denn Oppositionsparteien suchen auch Konsens mit den Regierungsparteien, weil sie sich einen Ruf als konstruktive Kooperationspartnerin (Bale und Bergman 2006b, S. 206) erarbeiten wollen. Diese Strategie zeigt sich insbesondere bei den

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Schwedendemokraten, die trotz fehlender Blockanbindung politikfeldspezifisch die alternierende Regierung unterstützen. In beiden Untersuchungsfällen haben sie die meisten gemeinsamen Abstimmungen mit den jeweils alternierenden Regierungsparteien. Dieses konstruktive Verhaltensmuster soll bei den anderen Parteien Vertrauen aufbauen, um letztendlich inhaltlichen Einfluss über Gesetzesinitiativen zu erlangen. Möchte man oppositionelle Abstimmungsmuster im Fall von schwedischen Minderheitsregierungen begreifen, muss man von der tradierten Auffassung einer einheitlichen Opposition, die nach der Auffassung von Dahl (1966) nach den Maßstäben von Kritik, Kontrolle, Alternative fungiert, abrücken. Vielmehr zeigt die vorliegende Untersuchung ein konsensbasiertes Abstimmungsverhalten von Regierungsparteien und wechselnden Oppositionsparteien, was ein hohes Maß an Flexibilität voraussetzt. Oppositionsparteien schlüpfen somit abwechselnd in die Rolle der Gegenspielerin, wodurch mit Hilfe von Kritik und Alternative öffentlich auf Missstände hingewiesen und zur Kooperation gezwungen werden soll. Weitaus häufiger schlüpfen Oppositionsparteien jedoch in die Rolle der Mehrheitsbeschafferin, für die Kritik und Alternative zweitrangig sind; stattdessen wird im Zuge politischer Teilhabe Regierungshandeln kontrolliert.5 Diese Muster werden institutionell begünstigt, aber eben auch durch systemgerechte Entscheidungen der Akteurinnen, weil Oppositionsparteien zu Zeiten von Minderheitsregierungen Regierungsstabilität wahren wollen.

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5Oppositionsparteien

verhalten sich dann nach dem republikanischen Prinzip (siehe dazu den Beitrag von Höreth und Ketelhut in diesem Band).

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Bergman, T. (1993). Constitutional design and government formation. The expected consequences of negative parliamentarism. Scandinavian Political Studies, 16, 285– 304. Bergman, T. (1995). Constitutional rules and party goals in coalition formation. An analysis of winning minority governments in Sweden. (Dissertation, Universität Umeå). Umeå: Universität. Bergman, T. (1999). Trade-offs in Swedish constitutional design: The monarchy under challenge. In W. C. Müller & K. Strøm (Hrsg.), Policy, office, or votes? How political parties in Western Europe make hard decisions (S. 237–257). Cambridge: Cambridge University Press. Bergman, T. (2006a). Sweden when minority cabinets are the rule and majority coalitions the exception. In W. C. Müller & K. Strøm (Hrsg.), Coalition governments in Western Europe (S. 192–230). Oxford: Oxford University Press. Bergman, T. (2006b). Sweden: From separation of power to parliamentary supremacy – And back again? In K. Strøm, et al. (Hrsg.), Delegation and accountability in parliamentary democracy (S. 594–619). New York: Oxford University Press. Beyme, K. (1973). Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa (2. Aufl.). München: Piper. Beyme, K. (1997). Der Gesetzgeber. Der Bundestag als Entscheidungszentrum. Opladen: Westdeutscher Verlag. Blombäck, S. (2015). Vänsterpartiet: Pådrivare eller pragmatiskt stödparti? Statsvetenskaplig tidskrift, 117, 219–230. Blondel, J. (1997). Political opposition in the contemporary world. Government & Opposition, 32, 462–486. Carlsson, R., & Norrtelje T. (21.04.2015). Frånvaron av blockpolitik ger stora nackdelar. Norrteljetidning. http://www.norrteljetidning.se/opinion/ledare/franvaron-avblockpolitik-ger-stora-nackdelar. Zugegriffen: 7. Mai 2018. Christiansen, F. J., & Seeberg, H. B. (2016). Cooperation between counterparts in parliament from an agenda-setting perspective. Legislative coalitions as a trade of criticism and policy. West European Politics, 39, 1160–1180. Dahl, R. A. (1966). Political oppositions in western democracies. New Haven: Yale University Press. Damgaard, E. (2006). Denmark: The life and death of government coalitions. In W. C. Müller & K. Strøm (Hrsg.), Coalition governments in Western Europe (S. 231–263). Oxford: Oxford University Press. Euchner, W. (Hrsg.). (1993). Politische Opposition in Deutschland und im internationalen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ganghof, S., et al. (2012). Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 43, 887– 900. Garritzmann, J. L. (2017). How much power do oppositions have? Comparing the opportunity structures of parliamentary oppositions in 21 democracies. The Journal of Legislative Studies, 23, 1–30. Green-Pedersen, C. (2001). Minority Governments and Party Politics. The Political and Institutional Background to the “Danish Miracle”. Journal of Public Policy, 21, 53–70.

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Kontexte und Strategien politischer Opposition

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik in den Bundesländern. Politische Minderheiten in einem konsensdemokratischen Politikfeld Werner Reutter

1 Einleitung Für Kurt Schumacher, den Fraktionsvorsitzenden der SPD im ersten Deutschen Bundestag, besaß parlamentarische Opposition eine doppelte Funktion. Für ihn sollte die Opposition zum einen Mittel sein zur „Verhütung der Totalherrschaft“ einer Regierung. Zum anderen dürfe sich Opposition, so Schumacher in der Debatte um die erste Regierungserklärung Konrad Adenauers am 21. September 1949, „nicht in der bloßen Verneinung der Regierungsvorschläge erschöpfen.“ Das Wesen der Opposition sei vielmehr der „permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen“ (alle Zitate in: Deutscher Bundestag, PlPr 1/6 vom 21. September 1949, S. 32). Eine parlamentarische Opposition kann danach ihre Aufgaben in der Demokratie nur

Der Beitrag entstand im Rahmen eines von der DFG finanzierten Forschungsprojektes zur Verfassungspolitik in den Bundesländern (GZ: LO 1424/3-1 und LO 1424/3-2); vgl. auch Reutter 2018 sowie die dort angegebene Literatur. W. Reutter (*)  Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_10

219

220

W. Reutter

erfüllen, wenn sie die Regierung nicht bloß kontrolliert, kritisiert und sich als Alternative profiliert, sondern wenn sie auch mitgestaltet – ohne mitzuregieren. Franz Müntefering sah dies bekanntlich anders. Er bewarb sich 2004 mit dem inzwischen legendären Satz: „Opposition ist Mist“ – erfolgreich – um den Parteivorsitz der SPD. Konsequenterweise führte er seine Partei bei nächster Gelegenheit, nämlich nach der Bundestagswahl 2005, in eine Große Koalition. In eine solche wollte Martin Schulz, der auf einem Sonderparteitag mit 100 % der gültigen Stimmen am 19. März 2017 zum Parteivorsitzenden der SPD gewählt worden war, nach der Bundestagswahl 2017 auf keinen Fall eintreten. Er lehnte es noch am Abend der Bundestagswahl, also am 24. September 2017, kategorisch ab, überhaupt Verhandlungen mit der CDU Angela Merkels aufzunehmen – ehe er sich, nachdem die FDP die Sondierungsgespräche mit CDU, CSU und Grünen für gescheitert erklärt hatte, doch noch genötigt sah, eine weitere Koalitionsbildung mit der Partei in Betracht zu ziehen, mit der die SPD ohnehin geschäftsführend regierte. Und so begann das Jahr 2018 in der Bundesrepublik Deutschland mit einer nur geschäftsführenden Bundesregierung, von der ein Teil nicht sagen konnte, ob sie in einer Regierung die Politik Deutschlands weiterhin verantwortlich mitgestalten sollte oder sich in der Opposition erneuern. Die SPD ist aber keineswegs die einzige Partei, die in einem unübersichtlich gewordenen Parteiensystem ihre Orientierung verloren zu haben scheint und nicht mehr wusste, was sie lieber machen wollte: opponieren oder regieren. Die FDP changierte in gleicher Weise. Die Partei, die am zweitlängsten in der Bundesrepublik Deutschland regiert hat, fand plötzlich, dass „nicht“ zu regieren besser sei als „falsch“ zu regieren. Mit dieser – ebenfalls fast schon legendären Begründung – erklärte der Parteivorsitzende der FDP, Christian Lindner, die Sondierungsgespräche mit CSU, CDU und Grünen in der Nacht vom 19. auf den 20. November 2017 für beendet. Auf dem traditionellen Dreikönigstreffen der FDP am 6. Januar 2018 behauptete Lindner sogar, dass man auch als Opposition mitgestalten könne. So werde die FDP beim Bundesverfassungsgericht Klage gegen den Solidaritätszuschlag erheben, Gesetzentwürfe in den Bundestag einbringen und über den Bundesrat effektiv Einfluss auf die Bundespolitik ausüben (Weiland 2018; Jungholt 2018). Kurzum: Aus der Perspektive der politischen Praktiker scheint die Antwort auf die Frage, was Opposition ist, kann oder sein soll, keineswegs eindeutig, sondern abzuhängen von den Umständen. Es kommt gleichsam darauf an. Die einschlägige politikwissenschaftliche Forschung hat diese unübersichtliche Gemengelage zu systematisieren und zu analysieren versucht. Sie will grundsätzlich herausarbeiten, welchen Einfluss der parlamentarischen Opposition im Deutschen Bundestag zukommt und welchen Beitrag diese zentrale Institution einer liberalen Demokratie zur Funktionsfähigkeit des politischen Systems

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

221

leistet.1 Die Ergebnisse dieser Bemühungen lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Es kommt darauf an. Nicht wenige bezweifeln, dass im „Staat der Großen Koalition“ (Schmidt 2008) und bei einer regierenden Großen Koalition die Opposition ihre Teilhabe- Gestaltungs- und Kontrollrechte effektiv wahrnehmen kann. Astrid Lorenz hält (2010, S. 81) „Normen und Praxis politischer Kontrolle – v. a. durch Opposition und Bundespräsidenten2 – nicht ausreichend für den Fall einer Großen Koalition“. Auch Karl-Rudolf Korte räumt der Opposition in Zeiten, in denen sich eine Minderheit einer „übergroßen“ Mehrheit im Parlament gegenübersieht, wenig Chancen ein, sich als Alternative zu profilieren und einen Regierungswechsel herbeizuführen. Zwar sieht Korte auch bei Großen Koalitionen „Chancen“ für eine „moderne“ Opposition, aber: Die „klassischen Mitgestaltungs- und Kontrollrechte reichen unter den derzeit obwaltenden Bedingungen im Deutschen Bundestag nicht aus. Sie müssen erweitert, angereichert und außerparlamentarisch clever und unkonventionell kompensiert werden“ (Korte 2014, S. 14). Die Linkspartei sah dies ähnlich. Sie hielt im 18. Deutschen Bundestag die Lage der Opposition für so dramatisch, dass sie das Verfassungsgericht mit einer – ebenso kühnen wie aussichtslosen – Organklage aufforderte, den Gesetzgeber zu verpflichten, entsprechende einfachgesetzliche und verfassungsändernde Regelungen zu verabschieden (BVerfG 2 BvE 4/14 vom 3. Mai 2016). Joachim Jens Hesse und Thomas Ellwein sprechen der Opposition sogar generell ab, Kontrolle effektiv ausüben zu können. Denn die parlamentarische Minderheit könne das nicht herbeiführen, was dafür notwendig sei: einen Mehrheitsentscheid (Hesse und Ellwein 2012, S. 376). Andere Untersuchungen kommen allerdings zu anderen Schlussfolgerungen (Helms 1997, 2007; Beyme 1997; Steinack 2007; Reutter 2013). Der parlamentarischen Minderheit steht in dieser Perspektive auf Bundes- und Landesebene eine ganze Reihe von Kontrollinstrumenten zur Verfügung und sie

1Ich

verzichte an dieser Stelle auf eine ausführliche Darstellung des Forschungsstandes, vgl. hierzu: Helms 1997, S. 21–43; Helms 2006, S. 16–33; Steinack 2007, S. 21–43; Holtmann und Patzelt 2004; Patzelt 2013; Dahl 1996a, b; Oberreuter 1975. Verstanden wird parlamentarische Opposition als nicht an der Regierung beteiligte Parteien bzw. Fraktionen. 2Ich bezweifle, dass sich der Bundespräsident als „Opposition“ in dem hier behandelten Sinne bezeichnen lässt. Im vorliegenden Kontext bezieht sich Opposition auf zweierlei: auf die Kontrolle der Mehrheit durch die Minderheit sowie auf die Chance der Minderheit zur Gestaltung oder zur Mitregierung. Der Bundespräsident verfügt in diesem Sinne weder über die Mittel, eine amtierende Bundesregierung zu kontrollieren, noch besitzt er ein Mandat oder Instrumente zur Gestaltung von Gesellschaft. Seine Reservefunktion, die ihm bei politischen oder gar Verfassungskrisen zuwachsen kann, zielt gerade nicht auf Kontrolle in dem hier gemeinten Sinn, sondern auf die Lösung von Konfliktkonstellationen.

222

W. Reutter

besitzt effektive Mitwirkungsmöglichkeiten in Gesetzgebungsverfahren und sogar über veritable Mitbestimmungsrechte. Martin Sebaldt (1992) betont darüber hinaus die Thematisierungsfunktion der Opposition, und Klaus von Beyme (1997, S. 264–270) findet, dass die Opposition bei der Gesetzgebung zwischen 1949 und 1994 „mitregieren“ konnte, wenn es sich um nichtkontroverse Gesetzesvorhaben handelte, wenn Kompensationsgeschäfte möglich waren und wenn durch Verhandlungen eine Einigung in der Sache erzielt werden konnte. Die Opposition scheint besonders großen Einfluss auszuüben, wenn es sich um konsensdemokratische Politikfelder wie die Verfassungspolitik handelt. Nach Manfred G. Schmidt ist Verfassungspolitik geradezu eine Manifestation des „Grand Coalition State“ (Schmidt 2008), „[…] in dem der Parteienwettbewerb, der den Kampf um die Machtverteilung und den Konflikt betont, auf starke Kooperationszwänge stößt. Der Grund ist folgender: Die meisten bedeutenden Gesetzgebungen, insbesondere der Verfassungsänderungen und zustimmungspflichtigen Gesetze, erfordern die Zustimmung der Zweidrittelmehrheit bzw. der Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat.[…] Insoweit ist die Bundesrepublik selbst dann ein ‚Staat der Großen Koalition’, wenn im Bund eine kleine Koalition regiert.“ (Schmidt 2011, S.  41  f.) Ähnlich charakterisieren Contiades und Fotiadou (2013, S. 445) die deutsche Verfassungspolitik – auf Bundesebene –, die in der „amending formula, or a consensual political culture, or both“ ihre Grundlage habe. In der Verfassungspolitik sollten folglich mehrheitsdemokratische Funktionsprinzipien und Handlungsmuster in den Hintergrund treten und konsensualer Politik Platz machen.3 Dies entspricht Ludger Helms‘ Annahme, dass eine Opposition dann besonders kooperativ und einflussmächtig ist: wenn sie über das uneingeschränkte Recht zur Gesetzesinitiative verfügt, wenn ihr gemäß ihrem Anteil im Parlament Ausschussvorsitze zustehen, wenn sie bei der Aufstellung der parlamentarischen Tagesordnung mitwirken kann, wenn sie das Verfassungsgericht anrufen kann, wenn bei Verfassungsänderungen ein erhöhtes Mehrheitsquorum gilt und wenn ihr in einer zweiten Kammer eine Vetomöglichkeit zukommt (Helms 1997, S. 46 f. und 53 ff.). So unterschiedlich diese Positionen bei der Einordnung der Rolle und des Einflusses der parlamentarischen Opposition im Staat der Großen Koalition sind, so teilen sie doch drei Prämissen: Erstens wird unterstellt, dass eine institutionelle Struktur spezifisches Verhalten erzwingt und Erfolgschancen präjudiziert. Kooperative oder kompetitive Strategien von Parteien und Fraktionen sowie

3Die

Begriffe Mehrheitsdemokratie, „neuer Dualismus“ und parlamentarisches Regierungssystem bedeuten im Weiteren dasselbe.

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

223

deren Effekte sind mithin Resultat der Institutionenordnung. So nimmt auch Helms (1997, S. 47) an: „Zu einer Kooperation zwischen prinzipiell kompetitiv eingestellten Akteuren kommt es […] im Wesentlichen in dem Maße, wie institutionell begründete Notwendigkeiten eine solche unumgänglich machen; auf die Opposition bezogen also in Systemen, in denen diese über starke Mitwirkungsrechte bzw. Vetomöglichkeiten gegen Mehrheitsentscheidungen verfügt.“ Zweitens, konzentriert sich die Debatte um Konsens- und Mehrheitsdemokratie und die Rolle, die Oppositionsparteien darin spielen, ausschließlich auf die Bundesebene. Der „Staat der Großen Koalition“ ist der Bund der Großen Koalition. Die Länder gehören nur insoweit dazu, als sie auf Bundesebene im Bundesrat vertreten sind oder Bundesgesetze ausführen. Hinzu kommt schließlich, dass sich Kooperationszwänge vor allem aus den Funktionsprinzipien des kooperativen Föderalismus und in Zeiten von divided government ergeben, also wenn eine Bundesregierung in der Länderkammer ohne Mehrheit ist. Diese Prämissen haben empirische und theoretische Konsequenzen: Sie reduzieren den Einfluss der Opposition auf angenommene Entscheidungen, können also tendenziell den von Schumacher betonten „positiven Gestaltungswillen“ nichterschöpfend erfassen, der sich auch in nicht angenommenen Gesetzentwürfen manifestieren kann. Zugleich lässt sich – zugespitzt – sagen: Opposition hat keine Wahl. Sie vollzieht lediglich das nach, was ihr die Institutionen vorgeben. Sie kontrolliert, kritisiert und stellt sich als Alternative dar in mehrheitsdemokratischen Politikfeldern, sie kooperiert und regiert mit in konsensdemokratischen wie der Verfassungspolitik. Diese Annahmen, die andere als institutionentheoretisch grundierte Handlungsmotive bei den Akteuren nicht zulassen, sollen im Weiteren überprüft werden und zwar anhand eines Politikfeldes, das aufgrund des erhöhten Mehrheitserfordernisses zwar als konsensdemokratisch zu qualifizieren ist: die Verfassungspolitik in Bundesländern. Im Ergebnis zeigt sich allerdings, dass sich Oppositionsverhalten aus den institutionellen Rahmenbedingungen nicht, jedenfalls nicht alleine, erschließen lässt und dass die dichotomisierende Begrifflichkeit von Konsens- und Mehrheitsdemokratie, wie sie von Lijpahrt (1999) und anderen entwickelt wurde (Katzenstein 1987; Schmidt 2008), politische Willensbildung und Entscheidungsfindung in dem untersuchten Politikfeld nicht adäquat erfassen kann. In der Verfassungspolitik schlossen sich Wettbewerb und Kooperation4 keineswegs aus.

4Kooperation

wird hier pragmatisch definiert als gemeinsames Handeln von Akteuren, die sich in Wettbewerb miteinander befinden; Wettbewerb bedeutet getrenntes Handeln von Akteuren.

224

W. Reutter

Macht und Einfluss von Opposition in diesem Politikfeld werden im Weiteren daher in zweierlei Hinsicht überprüft und herausgearbeitet: Zum einen werden die Rechte von Oppositionsfraktionen bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren skizziert, und es wird überprüft, inwiefern Landesparlamente bei diesen legislativen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen etablierten Routinen folgen und sich als Mischung aus Rede- und Arbeitsparlament darstellen. Zum anderen wird der Frage nachgegangen, ob das Verhalten der Fraktionen eher konsens- oder mehrheitsdemokratischen Funktionsprinzipien folgte, ob also in diesem Politikfeld der Parteienwettbewerb – wie Manfred G. Schmidt und andere vermuten – in den Hintergrund getreten ist und auf Konsens und Kompromiss angelegten Entscheidungsprinzipien Platz gemacht haben. Ehe auf diese Aspekte eingegangen werden kann, erfolgt eine Bestandsaufnahme der Verfassungspolitik in sechs Bundesländern.

2 Verfassungsändernde Gesetzgebung in sechs Bundesländern: eine empirische Bestandsaufnahme Einschlägige Untersuchungen über Änderungen des Grundgesetzes oder von Landesverfassungen beschränken sich auf verabschiedete Novellen (Busch 2006; Schmidt 2011, S. 319–333; Reutter 2008a, S. 53–60; Reutter 2008b; Pestalozza 2014a). Eine solche empirische Engführung hat theoretische Folgen. Denn erklärungsbedürftig sind dann Entscheidungen, die aufgrund der qualifizierten Mehrheitserfordernisse nur Ergebnis konsensdemokratischer Politik sein können. So erfordern für Manfred G. Schmidt (2011, S. 333) Grundgesetzänderungen aufgrund der erforderlichen Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat große Koalitionen, die quer stehen „zu den Prinzipien der Konkurrenz und zur Mehrheitsregel, die im Parteienwettbewerb und bei Wahlen vorherrschen.“ Um solche Engführungen zu vermeiden und Raum zu schaffen für mehrheitsdemokratische Einflüsse in diesem Politikfeld, werden im Weiteren abgelehnte oder in anderer Weise gescheiterte Entwürfe in die Analyse einbezogen (Tab. 1). Untersucht wurde die Verfassungspolitik in sechs Bundesländern, die eine möglichst große Variation erwarten lassen: In Bayern und Baden-Württemberg wurden die verfassungsändernden Gesetzentwürfe seit Inkrafttreten der jeweiligen rechtlichen Grundordnungen 1946 bzw. 1953 einbezogen; Brandenburg und Sachsen stehen für die Verfassungsentwicklungen der neuen Bundesländer, und Niedersachsen und Schleswig-Holstein haben ihre vorläufige Verfassung bzw. die Landessatzung 1990 und 1993 umfassend novelliert. Der

1,3 14d 0,16

1952–2011

59 (14)

69

4,9

1,2

20c

0,29

44

0,5

Anzahl Jahre (WPen)

Gesetzentwürfe (abs)

Gesetzentwürfe/WP

Gesetzentwürfe/Jahr

Verfassungsändernde Gesetze (abs.)

Angenommene/eingebrachte Entwürfe

Anzahl geänderter Artikel

Geänderte Artikel/alle Artikel

0,2

27

0,38

9

1,1

4,2

21

20 (5)

1994–2014

118

Ja

20.08.1992

BB

0,1

6

0,23

5

1,0

4,4

22

23/5

1993–2016

78

Nein

01.06.1993

NI

0,0

3

0,03

1

1,2

5,8

29

24/5

1990–2014

123

Nein

27.5.19921

SN

0,8

50

0,32

18

2,3

9,3

56

24/6

1993–2017

60

Nein

13.06.1990

SH

0,3

201

0,26

66

1,3

5,6

287

217/51



663





Gesamt

aBei Niedersachen und Schleswig–Holstein wurden nicht die Vorläufige Verfassung bzw. die Landessatzung vom 13.4.1951 bzw. vom 13.12.1949, sondern die 1993 bzw. 1990 überarbeiteten und neu bekanntgemachten Verfassungen zugrunde gelegt; bbei Inkrafttreten; einschließlich Präambel bzw. Vorspruch; cacht Entwürfe wurden formal nicht angenommen, gingen aber inhaltlich in verabschiedeten Gesetzen auf; din Bayern scheiterten zwei vom Landtag angenommene verfassungsändernde Gesetzentwürfe, weil sie in den anschließenden Referenden keine Mehrheit erhielten; außerdem wurden zwei per Volksbegehren eingereichte Gesetzentwürfe vom Landtag abgelehnt (Drs. 13/1252 und 13/8956), erhielten aber im anschließenden Referendum die notwendige Mehrheit. (Quelle: eigene Erhebung; Bayerischer Landtag 2017; Sächsischer Landtag 2017; Landtag Schleswig-Holstein 2017; Landtag Niedersachsen 2017; Landtag Brandenburg 2017; Landtag Baden-Württemberg 2017; Pestalozza 2014b)

0,4

71

5,6

90

67 (16)

1946–2013

189

95

Untersuchter Zeitraum

Ja

08.12.1946

Anzahl Artikelb

19.11.1953

BY

Nein

Verfassung

BW

Referendum

voma

Tab. 1   Verfassungspolitische Profile von sechs Bundesländern

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik … 225

226

W. Reutter

Vergleich erlaubt, die Rolle der Opposition in diesem „supermajoritären“ Politikfeld erfassen zu können. Analysiert wird a) das Profil der Verfassungspolitik in den Bundesländern, b) das Antragsverhalten der Akteure sowie c) fraktionsspezifische Verhaltensmuster. a) Die verfassungspolitische Dynamik zwischen den Bundesländern unterscheidet sich beträchtlich (Reutter 2017, 2018). So änderte der Landtag Brandenburg bis 2017 die Verfassung neun Mal,5 während in Sachsen in demselben Zeitraum lediglich die Schuldenbremse Eingang in die rechtliche Grundordnung des Landes gefunden hat (Tab. 1). Gleichzeitig wurden in Bayern die bei weitem meisten Artikel, nämlich 71, novelliert, neu eingefügt oder gestrichen, in Sachsen waren es gerade einmal drei (Reutter 2014; Reutter 2015a, b). Zu einem homogeneren Bild gelangt man, wenn Häufigkeit und Reichweite von Gesetzentwürfen auf Wahlperioden oder Alter von Verfassungen bezogen werden. So wurden durchschnittlich pro Wahlperiode knapp 6 Gesetzentwürfe und pro Jahr etwas mehr als ein verfassungsändernder Gesetzentwurf in ein Landesparlament eingebracht; allein Schleswig-Holstein stellt mit 9,3 Gesetzentwürfen pro Wahlperiode einen Ausreißer in dieser Hinsicht dar. Die Erfolgsquote liegt bei durchschnittlich 23 %, d. h. rund jeder vierte eingebrachte Entwurf wurde angenommen. Allerdings bestehen hier zwischen den Bundesländern große Unterschiede. Während in Sachsen von 29 eingebrachten Entwürfen gerade einer eine Mehrheit im Landtag fand, waren es in Brandenburg mehr als jeder dritte. b) Wie aus Tab. 1 und 2 ersichtlich, behandelten die untersuchten Landesparlamente in 51 Wahlperioden oder 217 Jahren insgesamt 287 verfassungsändernde Gesetzentwürfe, von denen 66 verabschiedet wurden. Mehr als dreimal so viele Entwürfe – nämlich 221 – wurden abgelehnt, scheiterten am Mehrheitserfordernis, wurden zurückgezogen oder erledigten sich in anderer Weise. Die meisten Entwürfe stammten von der parlamentarischen Opposition, die über zwei Drittel aller verfassungsändernden Gesetzentwürfe – 195 von 287 – in die Landesparlamente einbrachte. Die Landesregierungen und das „Volk“ waren mit 12 bzw. 11 Initiativen/Volksbegehren in diesem Stadium von Gesetzgebungsverfahren eher Randfiguren. Ähnlich

5Die

9. Änderung, die am 18. März 2015 verabschiedet wurde und mit der Art. 69 Abs. 1 und 2 BBVerf neu gefasst wurde, tritt mit Beginn der 7. Wahlperiode des Landtages in Kraft. In die weitere Analyse einbezogen wurden nur acht Änderungen; vgl. dazu auch Reutter 2016b.

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

227

Tab. 2   Verfassungsändernde Gesetzentwürfe: Antragsverhalten Alle

Gesetzentwürfea

BW

BY

BB

NI

SN

SH

Gesamt

69

90

21

22

29

56

287

• Davon verabschiedet

20

14

8

0

1

18

66

Regierung

7

2

3

0

0

0

12

• Davon verabschiedet

7

2

3

0

0

0

12

Mehrheitsfraktionen

12

11

0

5

0

8

36

• Davon verabschiedet

3

0

0

1

0

5

9

Minderheitsfraktionen

45

64

15

15

27

29

195

• Davon verabschiedet

7

2

3

2

0

3

17

Lagerübergreifende Entwürfe

5

7

2b

2

1

15

32

• Davon verabschiedet

3

7

2

2

1

10

25

Volksbegehren

0

5

1

0

1

4

11

• Davon verabschiedet



3c

0



0

0

3

51

69

14

13

27

22

197

Eingebracht von – 1 Fraktion – 2 Fraktionen

5

6

0

7



10

28

– 3 und mehr Fraktionen

6

5

2

2

1

19

35

– Sonstigec

7

10

5



1

5

28

aEntwürfe

von einzelnen Abgeordneten wurden den jeweiligen Fraktionen zugerechnet; berücksichtigt sind nur die ursprünglich eingebrachten und Gesetzgebungsverfahren initiierenden Entwürfe; Änderungs- oder Ergänzungsanträge, die im Laufe eines parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens gestellt wurden, bleiben unberücksichtigt; beinschließlich des im Landtag Brandenburg vom Hauptausschuss eingebrachten Entwurfes (Landtag Brandenburg Drs. 2/5245, Gesetz vom 18. März 1999); cvom Bayerischen Landtag angenommen wurde ein Volksbegehren, zwei weitere fanden in Volksentscheiden eine Mehrheit (Bayerischer Landtag, Drs. 7/3096, Gesetz vom 23.07.1973, Drs. 13/1252, Gesetz vom 27.10.1995, Drs., 13/8956, Gesetz vom 20.02.1998); einschl. der vom Bayerischen Senat eingebrachte Entwurf vom 10.04.1997 (Bayerischer Landtag, Drs. 13/7850) Quelle: eigene Erhebung; Landtagsdokumentationen der Landesparlamente

viele E ­ ntwürfe gingen auf Regierungsfraktionen und auf lagerübergreifende Initiativen zurück (36 und 33). Diese wenigen Zahlen verweisen auf die kontinuierliche Relevanz des Politikfeldes und auf ein spezifisches Antragsverhalten von Mehrheits- und Minderheitsfraktionen.

228

W. Reutter

c) Das Antragsverhalten der Fraktionen lässt sich nicht auf weltanschauliche Grundpositionen zurückführen (Tab. 2). Das Aktivitätsniveau der Fraktionen hängt von zwei Faktoren ab: von der Dauer ihrer parlamentarischen Existenz und von ihrem Status als Minderheits- oder Mehrheitsfraktion. Kurz gesagt: je mehr Wahlperioden in der Opposition umso mehr Gesetzentwürfe. Darüber hinaus scheint, abgesehen von rechtspopulistischen bzw. rechtsextremistischen Parteien, jede Fraktion als Partner für Gesetzesinitiativen infrage zu kommen. Dies gilt auch für die Linkspartei und die Piratenpartei; erstere war im Landtag Schleswig-Holsteins in der 18. Wahlperiode an einem verfassungsändernden Gesetzentwurf, letztere an fünf Entwürfen beteiligt, die von Regierungsfraktionen unterstützt wurden. Zudem zeigt sich im Landtag Schleswig–Holstein das präjudizierende Potenzial von abgelehnten Gesetzentwürfen. So lehnten zwar CDU und FDP den von SPD, SSW, Linken und Grünen in der 17. Wahlperiode eingebrachten Entwurf zur Aufnahme eines Staatszieles ab, mit dem Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit ein „Anspruch auf Schutz und Förderung“ eingeräumt werden sollte. Doch wurde eine wortgleiche Änderung in der 18. Wahlperiode „einstimmig“ vom Landtag angenommen (Schleswig-Holsteinischer Landtag, Drs. 17/268 vom 11.02.2010; PlPr. 17/50 vom 29.06.2011, S. 4347, Drs. 18/93 (neu 2. Fassung) vom 22.08.2012; PlPr. 18/10 vom 14.11.2012, S 636–637). Gleichwohl gilt: Oppositionsfraktionen agieren meist auf eigene Rechnung und nur in Ausnahmefällen zusammen mit anderen Oppositionsfraktionen. Von allen 287 verfassungsändernden Gesetzentwürfen wurden denn auch 197 von einer Fraktion eingebracht. Insgesamt zeigt sich, dass das Politikfeld von hoher Relevanz ist für die in den Landesparlamenten vertretenen Parteien. Die Fraktionen brachten kontinuierlich verfassungsändernde Gesetzentwürfe ein – unabhängig von den Erfolgsaussichten. Die Opposition kann sich in diesem Politikfeld als Alternative zur Regierung profilieren, Anliegen ihrer Wähler*innen öffentlichkeitswirksam repräsentieren und sich ggfs. für eine spätere Regierungsbeteiligung inhaltlich positionieren. Damit korrespondiert, dass Verfassungspolitik Landespolitik ist. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (Schuldenbremse, Kinderrechte; Sturm 2011; Lorenz 2015) bietet die Analyse weder inhaltliche noch prozessuale Anhaltspunkte für bundespolitische Einflüsse oder ebenenübergreifende Verhandlungen. Themen, Akteure und Entscheidungsarenen – Landesparlamente – sind landespolitisch geprägt. Bundesstaatliche Verhandlungssysteme spielten in diesem Politikfeld keine Rolle. In den untersuchten Bundesländern stand Verfassungspolitik folglich keineswegs im Schatten des Grundgesetzes. In dieser

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

229

Hinsicht ist Verfassungspolitik ein außergewöhnliches Politikfeld. In ihm spiegelt sich die verfassungsrechtliche Lehre, nach der Bund und Länder über eigenständige Verfassungsräume verfügen, die aufeinander bezogen, aber doch autonom zu gestalten sind.

3 Verfassungstheorien, Verfassungsreformen und Landesparlamente „Faktizität“ und „Geltung“ von Verfassungsnormen, also ihre „faktisch zu erwartende Akzeptanz im Kreise der Rechtsgenossen“ einerseits und ihr aufgrund eines „rationalen Gesetzgebungsverfahrens“ oder in sonstiger Weise gerechtfertigter normativer Geltungsanspruch andererseits (Habermas 1994, S. 47), müssen theoretisch herausgehobenen Legitimationsanforderungen genügen (Reutter 2018). So kann nach Elster (1994, S. 44) eine Verfassung „viel eher den Anspruch erheben, den Volkswillen zu verkörpern“, wenn die verfassunggebende Versammlung legitim zustande gekommen ist (durch demokratische Wahl), wenn das Entscheidungsverfahren in der Versammlung demokratischen Grundsätzen entspricht, also eine „vernünftige Diskussion über das Gemeinwohl“ ermöglicht, und wenn sie vom Volk ratifiziert wird. Daran anschließend plädiert Rainer-Olaf Schultze (1997, S. 514) dafür, Verfassungsreformprozesse „den Institutionen des normalen Politikprozesses zu entziehen und gesonderte Versammlungen einzuberufen sowie im Beratungsprozess soweit wie möglich Transparenz und Öffentlichkeit herzustellen“. Dahinter steht ein emphatisches Verständnis von Verfassungspolitik und eine kritische Auffassung über das, was als „normale Politik“ unterstellt wird, in der partikulare Interessen und die „Hybris eingegrabener Parlamentsmehrheiten und ihrer parteibeflissenen Drahtzieher“ (Löwenstein 1961, S. 63) eine „vernünftige Diskussion über das Gemeinwohl“ (Elster 1994, S. 44) unmöglich machen. Verfassungspolitik habe, so Schultze, nur dann eine „realistische Chance“ von den Bürgern als „gerecht“ und „legitim“ angesehen zu werden, wenn die Beratungen öffentlich erfolgen und damit die von Jon Elster (1994, S. 51) beschworene „zivilisierende Macht der Heuchelei“ zum Tragen kommen könne oder zumindest die Konsensorientierung der Akteure befördere. Vielleicht zwängen Transparenz und Öffentlichkeit die Akteure sogar dazu, Gemeinwohlvorstellungen den Vorzug zu geben vor partikularen Interessen (Schultze 1997, S. 514; vgl. auch Benz 1993; Lhotta 1998). Auch Karl Löwenstein (1961, S. 64) plädiert in seiner klassischen Studie „Über Wesen, Technik und Grenzen der Verfassungsänderung“ dafür, den „größtmögliche[n] Konsensus“ zu suchen, „der sich ­keinesfalls immer

230

W. Reutter

mit den verfassungsmäßigen Parlamentsmehrheiten zu decken oder in ihnen zu erschöpfen braucht.“ Nach Löwenstein verletze eine einer nach Zahl und politischem Gewicht erheblichen Minderheit abgenötigte oder aufgezwungene Verfassungsänderung das Verfassungsgefühl nicht nur dieser Minderheit. Dies zu verhindern, sei Aufgabe einer verantwortungsbewussten Minderheit. „Und schließlich: Jede Volksbeteiligung an der Verfassungsänderung, wie technisch sie auch geartet sein mag, ist ein lebendiger Beitrag zur politischen Erziehung und ein Element der politischen Integration“ (Löwenstein 1961, S. 64). Verfassungsreformen sollten folglich in gesondert gewählten Kommissionen mit maximaler Transparenz und Öffentlichkeit beraten werden, auf einem möglichst breiten Konsens beruhen und in Referenden vom Souverän angenommen werden. Denn die „vox populi“ ist nach Löwenstein immer noch „sympathischer als die authentische Interpretation des göttlichen Willens durch einen allmächtigen Regierungschef und seine Parteihäuptlinge“ (Löwenstein 1961, S. 63; Hervor. i. Orig.). In einem solchen Verständnis spielt parlamentarische Opposition keine Rolle. Denn Verfassungsreformen sind Ergebnis anspruchsvoller deliberativer Verfahren (Habermas 1996, S. 277–292) und „herrschaftsfreier Diskurse“, in denen parlamentarische Minderheiten schon deswegen zu vernachlässigen sind, weil sich in „vernünftigen Diskussionen“, die der Wahrheitssuche verpflichtet sind, niemand dem „zwanglosen Zwang des besseren Argumentes“ (Habermas 1991, S. 123) entziehen kann. Verfassungsreformprozesse in den Bundesländern unterliegen anderen Regeln (Reutter 2018). Verfassungsänderungen in den Bundesländern sind Ergebnis „normaler Politik“ und parlamentarischer Gesetzgebungsverfahren. Schon die plebiszitäre Unterfütterung, die Carl Schmitt (1928 [1989], S. 87–91), Ernst-Wolfgang Böckenförde (1992) oder eben auch Jon Elster und Karl Löwenstein als conditio sine qua non für die Legitimität von Verfassungen erachten, ist in den Bundesländern in der Regel bei Änderungen der rechtlichen Grundordnungen nicht vorgesehen. Soweit der Souverän, das „Volk“, nicht durch die Abgeordneten der Landesparlamente repräsentiert wird, nimmt es in den meisten Fällen lediglich beratend – durch Experten und Verbände – im Rahmen von öffentlichen Ausschussanhörungen, aber nicht entscheidungsrelevant an Verfassungsreformprozessen teil. Ausnahmen sind hier Bayern und das in dieser Untersuchung nicht berücksichtigte Hessen;6 in beiden Ländern sind für

6In

Berlin bedürfen Änderungen der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu Volksbegehren und Volksentscheid (Art. 62 und 63 BlnVerf) ebenfalls einer Volksabstimmung (Art. 100 BlnVerf).

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

231

­ erfassungsänderungen Referenden obligatorisch. Zudem ist Verfassungspolitik V keineswegs dem Parteienwettbewerb entzogen. Denn der Opposition kommt in landesparlamentarischen Verfahren eine wichtige Rolle zu, die in drei Schritten herausgearbeitet wird: Zuerst werden die „institutionellen Chancenstrukturen“ dargestellt, das sind die „vorfindbaren institutionalisierten Mitwirkungs- und Vetorechte“ (Helms 1997, S. 53), die der parlamentarischen Opposition in den Bundesländern zustehen (a). Sodann wird die Parlamentspraxis überprüft und herausgearbeitet, ob die Beratungsprozesse den gängigen Anforderungen entsprechen, die an parlamentarische Willensbildung und Entscheidungsfindung gestellt werden (b); schließlich werden die Abstimmungsregeln diskutiert (c). (a) Rudolf Steinberg (1992, S. 509) hat auf Grundlage seiner Untersuchung der Verabschiedung und Änderung ostdeutscher Landesverfassungen festgestellt: „Der Typus Verfassungsstaat hat […] feste Formen für die Verabschiedung einer Verfassung bislang ebensowenig hervorgebracht wie für deren Änderung.“ Diese zutreffende Feststellung erfasst nicht nur die formalen Bestimmungen, mit denen verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren geregelt werden, sondern verweist auch auf im Zeitablauf variierende Praktiken in ein und demselben Bundesland. Auszunehmen ist in dieser Hinsicht lediglich, dass jede Verfassung nur novelliert werden kann durch Gesetz, das den Wortlaut der Verfassung ändert. Verfassungsdurchbrechende Gesetze sind damit nicht möglich. Doch wie Tab. 3 verdeutlicht, bestehen neben dieser Vorgabe schon auf formaler Ebene divergierende Regelungen und zwar in allen drei Stadien eines parlamentarischen verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahrens: bei der Einbringung, der Beratung und der Schlussabstimmung (vgl. auch Reutter 2018, S. 82–101). • Einbringung: In allen Landesparlamenten haben Fraktionen, die Landesregierung und das „Volk“ das Recht zur verfassungsändernden Gesetzesinitiative. In Brandenburg können ebenso Ausschüsse, Präsident/in und Präsidium und in Bayern und Schleswig-Holstein können auch einzelne Abgeordnete von diesem Recht Gebrauch machen. • Beratung: Ebenso variantenreich ist die weitere parlamentarische Behandlung ausgestaltet. So können in Bayern und Brandenburg Entwürfe bereits in der ersten Lesung abgelehnt werden. Im Sächsischen Landtag reichen 25 % der Abgeordneten aus, um einen Entwurf an einen Ausschuss zu überweisen (§44 Abs. 4 GO); im Niedersächsischen Landtag genügen 30 Abgeordnete (§ 27 Abs. 2 GO), in allen anderen Fällen bedarf es der Mehrheit der Abstimmenden. Ansonsten sind in vier Landesparlamenten mindestens zwei, in zwei weiteren drei Lesungen vorgeschrieben. In den Landtagen von ­Baden-Württemberg und Sachsen tagen die Ausschüsse grundsätzlich nichtöffentlich, in den anderen Landesparlamenten grundsätzlich öffentlich.

(Fortsetzung)

Allgemeine Grundsätze; Überweisung an Ausschuss Direktüberweisung an Ausschuss, erste Beratung auf Antrag der Antragsteller; Grundzüge der Vorlage; Überweisung durch ¼ MdL Besprechung Grundzüge; Ausschussüberweisung (30 Abgeordnete); Direktüberweisung möglich

Grundzüge der Vorlage; Ablehnung möglich

Grundsätze der Vorlage; Ablehnung möglich (Aussprache auf Antrag)

Beratung der Grundsätze, Überweisung an Ausschuss möglich

1.Lesung

Zwei (auf Antrag drei)

Zwei

Drei

Anzahl der Beratungen

Zwei, auf Antrag drei

Landtag Landtagspräsident, Verfassungsgerichtshof (auf Antrag)

Landesregierung

Verfassungsgericht (auf Antrag); ggfs. Präsident/in

Bayerischer VerfGH (auf Antrag)

Verfassungsgerichtshof (auf Antrag)

Zulässigkeitsprüfung von Volksbegehren, -anträgen, initiativen Drei

Volksinitiative (20.000 Stimmberechtigte), Fraktionen, Landesregierung, Abgeordnete

Volksantrag, Fraktion, mind. 7 Abgeordnete, Staatsregierung, Volksbegehren (15 % der Stimmberechtigten)

Volksbegehren (1/10 der Wahlberechtigten), LReg, Fraktion, mind. 10 Abgeordnete

Volksbegehren (80.000 Stimmberechtigte), LReg., Fraktionen, Abgeordnete, Ausschüsse, Präsident, Präsidium

Volksbegehren (1/10 der Stimmberechtigten) Staatsregierung (MP), einzelne Abgeordnete, Fraktionen

Regierung; acht Abgeordnete; Fraktionen; Volksbegehren (1/6 der Wahlberechtigte)

Einbringung

Zwei (auf Antrag drei)

Nein

Gesetz

Ja

Gesetz

Ja

Gesetz

Nein

Gesetz

Ja

SH

Gesetz

SN

Ja

NI

Gesetz

BB

Ewigkeitsgarantie

BY

Form

BW

Tab. 3   Verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren: formale Bestimmungen

232 W. Reutter

Beratung der Grundsätze

Nach abschließender Lesung

Grds. nichtöffentlich

Mind. 50 % MdL, zwei Drittel der Abstimmenden bei Anwesenheit von zwei Dritteln der MdL

Möglich durch Landtagsbeschluss oder als Volksgesetzgebung (mind. 50 % der Stimmberechtigten)

3.Lesung

Schlussabstimmung

Ausschüsse

Mehrheit

Volksentscheid (Annahme)

Schlussabstimmung (ggfs. weitere Lesung)

Nach abschließender Beratung

Nach 2. Beratung

Nach abschließender Lesung

Obligatorisch bei allen Verfassungsänderungen (Mehrheit der Abstimmenden, mind. 25 % der Stimmberechtigten),

2/3 der Abstimmenden, mind. die Hälfte der Stimmberechtigten

Mind. 50 % der Wahlberechtigten; Mehrheit der Abstimmenden

Möglich durch Landtagsbeschluss oder im Rahmen der Volksgesetzgebung (mind. 50 % der Stimmberechtigten)

Zwei Drittel der Abstimmenden, mind. 50 % der Stimmberechtigten

Zwei Drittel der Mit- Zwei Drittel der glieder MdL oder Volksentscheid

Grds. nichtöffentlich Grds. öffentlich

Auf Beschluss des Landtags



Ggfs. Geänderte Fassungen (ggfs. weitere Lesung möglich)

Grds. öffentlich Grds. öffentlich

Einzelberatung

Allgemeine Aussprache und Einzelbestimmungen; Schlussabstimmung

Zwei Drittel der Mit- Zwei Drittel der Zwei Drittel der glieder Mitglieder des Mitglieder Landtages

Grds. öffentlich

Nach abschließender Nach Lesung abschließender Lesung

Auf Antrag

SH

SN

Einzelberatung; Allgemeine Aussprache, EinzelAblehnung beratung (ggfs. möglich weitere Lesung)

Einzelberatung

NI

BB

BY

Quelle: eigene Zusammenstellung; Landesverfassungen und Geschäftsordnungen der Landesparlamente

Allgemeine Aussprache; Einzelberatung der Beschlussempfehlung

2.Lesung

BW

Tab. 3   (Fortsetzung)

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik … 233

234

W. Reutter

• Schlussabstimmung: Auch die Verfahrensabschlüsse folgen unterschiedlichen Regeln. In Bayern muss jede vom Landtag beschlossene Verfassungsänderung dem Souverän zur Ratifikation vorgelegt werden; in Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg können die Landtage beschließen, einen Volksentscheid durchzuführen. In den anderen Bundesländern besteht eine solche Option nicht. Die Spezifika lassen sich nicht zu Modellen oder Realtypen verdichten; zumindest lässt sich ein systematischer Zusammenhang zwischen den Regeln nicht erkennen, ganz abgesehen davon, dass nicht auszumachen ist, inwieweit sie sich auf Ergebnisse von Entscheidungsverfahren oder auf die Geltungskraft von Normen auswirken. Jedenfalls sind sie weit entfernt von den eingangs skizzierten Vorstellungen über eine als legitim geltende Verfassungsänderungspolitik. Hinzu kommt, dass die formalen Vorgaben die parlamentarische Praxis keineswegs erschöpfend regeln. So werden bisweilen umfassende Verfassungsnovellen in Enquete-Kommissionen oder Sonderausschüssen vorbereitet (wie in ­Schleswig-Holstein die Verfassungsreformen 1990 und 2014), ehe das formal vorgegebene Gesetzgebungsverfahren durch die Einbringung eines Gesetzentwurfes in Gang gesetzt wird (Landtag Schleswig-Holstein Drs. 10/637 und 638, Gesetz vom 13.06.1990; Drs. 18/2115, Gesetz vom 12.11.2014). Doch ändert dies nichts an dem generellen Befund: Sieht man von den erhöhten Mehrheitserfordernissen ab, werden Verfassungsänderungen in den Landesparlamenten im Rahmen der üblichen Verfahrensschritte beraten und verabschiedet. Für die Opposition stellen diese Befunde eine gute und eine schlechte Nachricht dar. Denn ihr stehen alle auch sonst geltenden Mitwirkungsrechte zur Verfügung. Sie kann Gesetze einbringen, wenn sie über Fraktionsstärke verfügt, sie kann in den Ausschüssen mitwirken, ggfs. dort sogar den Vorsitz übernehmen, sie kann Änderungsanträge stellen, in den Plenardebatten das Wort ergreifen und ggfs. Anträgen die Unterstützung verweigern. Sie kann also ihren – positiven und negativen – „Gestaltungswillen“ zur Geltung bringen, unter Umständen ihn der Regierung sogar aufzwingen. Gleichzeitig wird sie, sollte ihre Zustimmung für eine Verfassungsänderung erforderlich sein, für Ergebnisse haftbar gemacht. Sie muss also mitregieren, wenn sie mitgestalten will. (b) Wie der Bundestag gelten Landesparlamente als Mischtypus aus Redeund Arbeitsparlament (Reutter 2008a, S. 171–183; Marschall 2005, S. 188– 190; Steffani 1979, S. 92–97). Grundsätzlich scheinen verfassungsändernde Gesetzgebungsverfahren sich umstandslos in dieses Modell einzupassen. Wie gezeigt, unterstützen die formalen Bestimmungen diese idealtypische Einordnung, und auch bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren scheint die

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

235

Tab. 4   Parlamentarische Behandlung von verfassungsändernden Gesetzentwürfen Anzahl der Wahlperioden

BW

BY

BB

NDS

SN

SH

∑/∅

14

16

4

5

5

6

50

Anzahl der Entwürfe

69

90

21

22

29

56

287

Anzahl der Lesungen pro Entwurfa

1,8

1,6

2,0

1,0

1,4

1,9

1,7

Anzahl Protokollseiten pro Entwurf

15,1

11,2

13,1

10,3

13,9

29,1

16,0

Anzahl der Redner/innen pro Entwurfb

8,5

7,7

9,9

7,0

13,4

16,7

10,3

Anzahl der Ausschüsse pro Entwurf

0,7

1,3

1,3

1,5

3,3

1,7

1,5

Verfahrensdauer pro Entwurf (Tage)c

158

159

117

204

298

208

183

aOhne

1. Lesungen, bei denen Entwürfe nur an Ausschüsse überwiesen wurden; wurden mehrere Entwürfe in einer Lesung gemeinsam behandelt, wurde nur eine Lesung berücksichtigt; bAnzahl der in „Vorgängen“ oder auf den Plenarprotokollen verzeichneten Redner/ innen; tauchen Redner/innen mehrmals in einer Debatte auf, wurden sie nur einmal gezählt; cbegrenzt wurde die Verfahrensdauer durch: Datum der Drucksache und abschließender 2. oder 3. Lesung; wurde der Gesetzentwurf in anderer Weise erledigt, wurde, soweit bekannt, das jeweilige Datum eingesetzt; bei Verfahren, die sich mit Ablauf der Wahlperiode erledigten, wurde der Tag der ersten Lesung als Verfahrensende angenommen Quelle: eigene Erhebung; Landtagsdokumentationen

Parlamentspraxis, soweit sie sich in Daten und statistischen Durchschnittswerten abbilden lässt, diesen typisierenden Einordnungen zu entsprechen: Verfassungsändernde Gesetzentwürfe werden an durchschnittlich 1,5 Ausschüsse überwiesen, sie werden in der Regel in knapp 2 Plenardebatten behandelt, an denen rund 10 Redner/innen teilnehmen (Tab. 4). Diese statistischen Durchschnittwerte verdecken allerdings Unterschiede zwischen Landesparlamenten sowie den Umstand, dass keineswegs alle verfassungsändernden Gesetzentwürfe in Plenen und Ausschüssen behandelt werden. So endeten im Landtag Brandenburg und im Landtag Niedersachsen jeweils acht verfassungsändernde Gesetzentwürfe in der ersten Lesung, weil sie abgelehnt wurden oder sich in anderer Weise erledigten. Die Vorstellung, Landesparlamente seien eine Mischung aus Rede- und Arbeitsparlament, findet mithin allein in verabschiedeten Gesetzen eine stetige Bestätigung. (c) Abstimmungsregeln: Verfassungspolitik ist insoweit ein besonderes Politikfeld, als die gesetzgebenden Verfahren grundsätzlich unter dem Schatten der qualifizierten Mehrheit stattfinden. In der Regel müssen zwei Drittel der Mitglieder eines Landesparlamentes einer Änderung zustimmen. Obschon die Verfassung von Baden-Württemberg grundsätzlich mit der Mehrheit der Mitglieder des Landtags geändert werden kann, stimmten auch in diesem Landesparlament

236

W. Reutter

bei 17 von 20 Abstimmungen deutlich mehr als zwei von drei Abgeordneten für den jeweiligen Entwurf (Reutter 2016a, S. 141).7 Die „Rigidität“ von Verfassungen, also die Höhe der Hürde, die überwunden werden muss, um eine Verfassung zu ändern, gibt diesem Politikfeld daher seine Prägung. Angenommen wird dabei, dass Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse bestimmt werden von der notwendigen Mehrheit bei der Schlussabstimmung. Es kann folglich nur um „consensual policy-making“ gehen, bei der der Parteienwettbewerb und einfache Mehrheitsentscheidungen suspendiert sind und ersetzt werden von Konsens und Kompromiss. Darüber hinaus wird das erhöhte Mehrheitserfordernis nicht selten herangezogen, um die Häufigkeit von Verfassungsänderungen zu erklären (Lorenz 2005). Je leichter eine Verfassung zu ändern ist, umso häufiger wird sie geändert, so die durchaus einleuchtende Argumentation (Pestalozza 2014a, Rz 39). Untersuchungen über den Zusammenhang von Rigidität und Änderungshäufigkeit von Verfassungen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen (Hölscheidt 1995; Lutz 1994; Ferejohn 1997, S. 523–526). Während Donald S. Lutz (1994, S. 365) in der Rigidität eine von zwei zentralen Variablen erkennt – die andere ist das Alter einer Verfassung –, um die Anzahl von Änderungen subnationaler Verfassungen zu erklären (ähnlich: Flick 2008; Reutter und Lorenz 2016), kann Astrid Lorenz (2008, S. 72) zwischen der „Rigidität“ und der Änderungshäufigkeit von – nationalen – Verfassungen in etablierten Demokratien bestenfalls einen „schwachen Zusammenhang“ feststellen (ähnlich: Roberts 2009). Für Contiades und Fotiadou (2013, S. 458 und 459) stellt „Rigidität“ lediglich eine „leere Hülle“ dar, „signifying everything and nothing at the same time.“ Auch für die hier untersuchten Fälle lässt sich die unterschiedliche Häufigkeit von Verfassungsänderungen nicht auf das Mehrheitserfordernis zurückführen. Jedenfalls schwankt der Anteil angenommener Entwürfe zu eingebrachten Entwürfen zwischen 0,03 (Sachsen) und 0,38 (Brandenburg), obschon, wie dargestellt, in allen Bundesländern dieselbe Mehrheitserfordernis gilt. Für den vorliegenden Zusammenhang ebenso wichtig ist, dass eine qualifizierte Mehrheit bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren in den Landesparlamenten nur für die Schlussabstimmung gefordert ist. Bis zu diesem Verfahrensschritt bestimmt die einfache Mehrheit den Ablauf. Die einfache Mehrheit – bisweilen sogar eine Minorität der Stimmen – kann ggfs. darüber

7Erforderlich

sind zwei Drittel der Abstimmenden bei Anwesenheit von zwei Dritteln der MdL; es muss aber mindestens die Hälfte der Mitglieder des Landtages für die Änderung gestimmt haben.

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

237

entscheiden, ob der Antrag an einen Ausschuss überwiesen wird und wenn ja, an welchen. Sie kann in dem federführenden Ausschuss, der analog zu den Mehrheitsverhältnissen im Plenum zusammengesetzt ist, eine entsprechende Beschlussempfehlung aussprechen und die Ablehnung ebenso empfehlen wie den Gesetzentwurf für erledigt erklären. Kurz gesagt: Bis zur Schlussabstimmung werden verfassungsändernde Gesetzgebungsentwürfe wie andere parlamentarische Vorgänge nach mehrheitsdemokratischen Prinzipien behandelt. In dieser Hinsicht ist Verfassungspolitik nichts weiter als „normale Politik mit anderen Mitteln“ (Busch 2006, S. 51; Reutter 2016a). Und der parlamentarischen Opposition stehen insoweit die üblichen Rechte zur Verfügung. Folgt man den eingangs zitierten Überlegungen, müsste sie in allen Bundesländern kooperative Strategien privilegieren. Die Realität sieht anders aus.

4 Verfassungsänderungspolitik, parlamentarische Opposition und Parteienwettbewerb Wie Ludger Helms, Klaus von Beyme und andere gezeigt haben, verfolgen Oppositionsfraktionen in Gesetzgebungsverfahren sowohl kompetitive als auch kooperative Strategien (Helms 1997; Beyme 1997, S. 263–271; Steinack 2007; Sebaldt 1992). In der Verfassungspolitik gilt sogar: Wettbewerbliche Motive sind auch dort zu finden, wo die Opposition kooperierte. Kooperation und Wettbewerb sind also keine sich ausschließenden Handlungsstrategien, sondern können sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Zugleich zeigt die Analyse, dass die Vermutung, kooperatives oder kompetitives Verhalten von Regierung, Regierungsmehrheit und Opposition lasse sich aus einer „institutionellen Chancenstruktur“ ableiten, in dem hier untersuchten Politikfeld sich empirisch nicht erhärten lässt. Verfassungsgesetzgebung ist daher nicht nur deswegen „normale Politik mit anderen Mitteln“, weil die parlamentarischen Verfahren zwischen einfacher und verfassungsändernder Gesetzgebung sich nur in einzelnen Aspekten unterscheiden, sondern auch weil kompetitive und kooperative Verhaltensmuster wirksam sind und diese Verhaltensmuster sich nicht aus den institutionellen Rahmenbedingungen ableiten lassen. Deutlich wird dies, wenn die partei- und fraktionspolitischen Strategien der relevanten Akteure bei einfachen und verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren verglichen werden. Das Verhalten von Regierungen, Mehrheits- und Minderheitsfraktionen lässt sich realtypisierend anhand zweier Kriterien unterschieden: nach dem Aktivitätsniveau, gemessen am Anteil der eingebrachten Entwürfe an allen Entwürfen

238

W. Reutter

Tab. 5   Einfache Gesetzgebung: Akteursverhalten und Erfolgschancen Regierung

Antragsquote (AQ)

Erfolgsquote (EQ)

Hoch

Hoch

Mehrheitsfraktionen

Gering

Hoch

Lagerübergreifende Initiativen

Gering

Hoch

Minderheitsfraktionen

Mittel

Gering

Quelle: eigene Darstellung

(Antragsquote), und am Anteil der verabschiedeten Gesetze pro Initiator (Erfolgsquote) (Tab. 5). In landesparlamentarischen Regierungssystemen stellen politische Exekutive und Mehrheitsfraktionen ganz in Sinne des neuen Dualismus eine Handlungseinheit dar. Bei der zielorientierten Gestaltung von Gesellschaft durch Gesetze schlägt sich dies üblicherweise in einem spezifischen Antragsverhalten nieder: Der Auftrag zur politischen Gestaltung obliegt der Regierung, die über das demokratische Mandat und die notwendigen Ressourcen verfügt, um legislative Normengefüge auszuarbeiten. Landesregierungen bringen daher die meisten Gesetzentwürfe ein und dies ganz überwiegend mit dem gewünschten Ergebnis: der Annahme des Gesetzes. Mehrheitsfraktionen sind mit ihren Entwürfen zwar ebenfalls meist erfolgreich. Doch die Anzahl der von ihnen eingebrachten Entwürfe ist in der Regel gering, weil der ihnen in Wahlen übertragene legislative Gestaltungsauftrag bereits durch „ihre“ Regierung erfüllt wird. Hinzu kommt, dass Koalitionsfraktionen so gut wie nie alleine Entwürfe einbringen (Reutter 2018). Oppositionsfraktionen verhalten sich nach der Theorie parlamentarischer Regierungssysteme spiegelbildlich zu Mehrheitsfraktionen: Sie haben eine höhere Antragsquote als Mehrheitsfraktionen, weil sie sich als Alternative zur Regierung profilieren müssen. Gleichzeitig sind sie mit ihren Entwürfen nur in Ausnahmefällen erfolgreich. Lagerübergreifende Entwürfe sollten eine seltene Ausnahme bleiben, weil die beteiligten Akteure grundsätzlich in Wettbewerb zueinander stehen. Dies sind nicht nur aus den Funktionsprinzipien der parlamentarischen Regierungssysteme theoretisch abgeleitete Verhaltenserwartungen, sondern auch empirisch auffindbare Ergebnisse (Tab. 6; vgl. auch Ismayr 2012, S. 218–226; Reutter 2008a, S. 238–249; Beyme 1999, S. 282– 302). In den hier untersuchten Landesparlamenten, für die die Daten erhoben werden konnten, brachten die Landesregierungen die meisten Gesetzentwürfe ein, gefolgt von den Oppositionsfraktionen und den Regierungsfraktionen. Die

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

239

Tab. 6   Gesetzgebung in fünf Bundesländern: Antrags- und Erfolgsquoten BW

BY

BB

NI

SN

SH

• Regierung

69,8

47,4

70,0

55,7

58,6

53,8

• Regierungsfraktion(en)

k.A.

13,1

4,2

20,0

8,0

11,0

• Oppositionsfraktion(en)

k.A.

33,6

18,6

20,6

31,2

28,9

• Lagerübergreifende E.

k.A

k.A

2,4

3,7

2,2

5,7

• Regierung

k.A

97,2

96,8

98,6

97,0

96,7

• Regierungsfraktion(en)

k.A

k.A.

90,7

94,0

91,2

85,3

• Oppositionsfraktion(en)

k.A.

k.A.

8,5

7,5

5,3

16,3

• Lagerübergreifende E. k.A. Verfassungsändernde Gesetze

k.A.

87,5

97,1

78,9

93,9

Alle Gesetze Antragsquotena

Erfolgsquoten

Antragsquoten • Regierung

10,1

2,2

14,3

0,0

0,0

0,0

• Regierungsfraktion(en)

17,4

12,2

0,0

22,7

0,0

14,3

• Oppositionsfraktion(en)

65,2

71,1

71,4

68,2

93,1

51,8

• Lagerübergreifende E.

7,2

7,8

9,5

9,1

3,4

26,8

• Regierung

100,0

100,0

100,0







• Regierungsfraktion(en)

58,3

0,0



20,0



62,5

• Oppositionsfraktion(en)

20,0

3,1

20,0

13,3

0,0

10,3

• Lagerübergreifende E.

100,0

100,0

100,0

100,0

100,0

66,7

Erfolgsquoten

aUnterschiedliche

Perioden, vgl. dazu die Angaben in Tab. 1 und 2; für Bayern ab der 3. Wahlperiode; beinschl. Volksinitiativen und Volksbegehren Quelle: Parlamentsdokumentationen der Landesparlamente; eigene Erhebung

Anteile lagerübergreifender Entwürfe blieben meist im unteren einstelligen Prozentbereich, waren also seltene Ausnahmen. Auch die Erfolgsquoten entsprechen den Erwartungen: Regierungen und Mehrheitsfraktionen brachten ihre Entwürfe fast immer, Oppositionsfraktionen fast nie durch. Lagerübergreifende Initiativen fanden ganz überwiegend eine parlamentarische Mehrheit (Tab. 6). Bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren ergeben sich, wie Tab. 6 verdeutlicht, allerdings teilweise andere Befunde. Besonders fällt der geringe

240

W. Reutter

Anteil von Gesetzentwürfen auf, die Landesregierungen einbrachten, die durchschnittlich für nicht einmal jede 20. Initiative verantwortlich zeichneten. Denn insgesamt brachten Landesregierungen gerade einmal rund 4 % aller verfassungsändernden Gesetzesinitiativen in ein Landesparlament ein. In Niedersachsen, Sachsen und Schleswig-Holstein waren Landesregierungen sogar an überhaupt keinem verfassungsändernden Gesetzentwurf beteiligt. Diese legislative Passivität der politischen Exekutive findet sich bei Einparteienregierungen ebenso wie bei kleinen und bei großen Koalitionen und sogar dann, wenn eine Regierung über eine verfassungsändernde Mehrheit verfügte wie die CSU in Bayern in der 15. WP (2003/08) oder die CDU/SPD-Koalition in Schleswig–Holstein in der 16. WP (2005/09). In allen Fällen blieb die Anzahl der von Landesregierungen eingebrachten verfassungsändernden Gesetzentwürfe gering. Zudem sind Initiativen von Landesregierungen stark inhaltlich bestimmt: So betrafen die Entwürfe der Landesregierungen in Brandenburg landesübergreifende Angelegenheiten (Fusion Berlin-Brandenburg, Einrichtung eines gemeinsamen Fachobergerichtes für Berlin und Brandenburg) oder technische Fragen bei der Verkündung von Gesetzen (Landtag Brandenburg, Drs. 2/678, 3/7444 und 4/7337). Auch Mehrheitsfraktionen weisen in diesem Politikfeld ein spezifisches Verhaltensmuster auf: Sie bringen in der Regel mehr Entwürfe ein als „ihre“ Regierungen (auszunehmen ist hier allein Brandenburg); sie sind in dem hier untersuchten Politikfeld allerdings weit weniger erfolgreich als im Durchschnitt aller Gesetzgebungsverfahren. Oppositionsfraktionen brachten in den sechs untersuchten Landesparlamenten rund zwei Drittel aller verfassungsändernden Gesetzentwürfe ein, in der Regel wohl wissend, dass sie damit keinen Erfolg haben werden. Durchschnittlich fand nicht einmal einer von zehn Entwürfen – in Sachsen sogar überhaupt kein Entwurf – schließlich eine Mehrheit. Mit solchen Anträgen kann sich die parlamentarische Opposition als Alternative zur Regierung in einem Politikfeld profilieren, das Aufmerksamkeit generiert. Lagerübergreifende Entwürfe sind in diesem Politikfeld wie auch sonst seltene Ausnahme. Lediglich in Schleswig-Holstein hat der SSW – und in der 18. WP auch die Piratenpartei – dazu beigetragen, dass bei rund jedem vierten verfassungsändernden Gesetzentwurf sowohl Minderheits- wie Mehrheitsfraktionen beteiligt waren. Doch ansonsten blieb die Antragsquote stets unter 10 %, was bei einem konsensdemokratischen Politikfeld doch überrascht. Allerdings wurden fast alle Entwürfe angenommen. Es wäre allerdings verfehlt, diese Besonderheiten im Antrags- und Abstimmungsverhalten allein dem konsensdemokratischen Gehalt dieses Politikfeldes zuzuschreiben. Im Gegenteil, die geringe Antragsquote bei Regierungen und die hohe bei Oppositionsfraktionen sind nur zu erklären, wenn auf

Parlamentarische Opposition und Verfassungspolitik …

241

Funktionsimperative des Parteienwettbewerbs zurückgegriffen wird. Landesregierungen vermeiden mit ihrer Zurückhaltung Niederlagen im Parlament, und Oppositionsfraktionen versuchen mit erfolglosen Anträgen, sich als Alternative zur Regierung zu profilieren.

5 Mehrheit und Minderheit in konsensdemokratischen Politikfeldern: tentative Schlussfolgerungen und eine methodische Anmerkung Kritik, Kontrolle, Alternative – Was leistet die parlamentarische Opposition? Dieser Frage wurde in diesem Beitrag in einem konsensdemokratisch grundierten Politikfeld auf Landesebene nachgegangen. Damit sollten in der einschlägigen Literatur gängige Thesen und Interpretationsmuster hinterfragt und kritisch diskutiert werden. Insgesamt resultieren aus den Befunden drei Schlussfolgerungen. Grundsätzlich ist Verfassungsgesetzgebung in den Bundesländern Parlamentsgesetzgebung – auch wenn einige wenige Volksinitiativen und ­-entscheide stattgefunden haben. Von einem „Verschwinden der Opposition“ (Kirchheimer 1967a, 1967b) lässt sich in diesem Politikfeld nicht sprechen. Vielmehr stehen der Opposition in diesem Politikfeld die Einflussmöglichkeiten zu, die sie generell bei parlamentarischer Gesetzgebung hat (vgl. aber auch Carstensen 2020; Cancik 2003). Wie bei einfacher Gesetzgebung haben sich in dem untersuchten Politikfeld „Anzeichen für Kooperationsbereitschaft“ zwischen Mehrheit und Minderheit ebenso ergeben wie „stark mehrheitsdemokratisch geprägte Entscheidungsverläufe“ (Helms 1997, S. 209). Die Rolle der Opposition in der Verfassungspolitik in den Bundesländern lässt sich dagegen beschreiben als eine „unique combination of majoritarian and consensus democracy“ (Schmidt 2008, S. 87). Die „einzigartige Kombination“, mit der Manfred G. Schmidt den bundesdeutschen Grand Coalition State charakterisiert, besteht in diesem Politikfeld darin, dass mehrheits- und konsensdemokratische Motive gleichzeitig wirksam waren. Oppositionsfraktionen kooperieren, um im Parteienwettbewerb zu bestehen. Kooperatives Verhalten und Verhandlungen schließen wettbewerbliche Motive und konfliktorientierte Strategien mithin keineswegs aus. Dies impliziert, dass Institutionen nicht „per se Vetoeffekte besitzen, sondern Akteure sich dieser bedienen können, wenn sie dies wollen“ (Kaiser 1998, S. 539). Für das hier untersuchte Politikfeld bedeutete dies: Das erhöhte Mehrheitserfordernis eröffnete den Oppositionsfraktionen unterschiedliche Strategien. Die Zweidrittelmehrheit, die für eine Verfassungsänderung notwendig ist, hat nur bei einer

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W. Reutter

Minderheit der Gesetzgebungsverfahren kooperatives Verhalten von Oppositionsund/oder Mehrheitsfraktionen nach sich gezogen. Die institutionelle Regel der qualifizierten Mehrheit begründet keinen Kooperationszwang. Es ist daher plausibler mit André Kaiser (1998, S. 538) anzunehmen, dass Verfassungsänderungspolitik sich durch „legislative Vetopunkte“ auszeichnet, die von der Opposition in Anspruch genommen werden können, jedoch keineswegs müssen. Der Zweck von „Vetopunkten“ liegt mithin nicht darin, einen Konsens zwischen Mehrheit und Minderheit herzustellen, sondern darin, Mehrheitsentscheidungen zu verhindern oder bestenfalls Verhandlungen zu privilegieren (Kaiser 1998, S. 539). Vetopunkte eröffnen Handlungsoptionen, erzwingen aber keine Handlungsstrategien. Schließlich stellen die Befunde infrage, inwiefern mit den Begriffen Arbeitsund Redeparlament oder Konsens- und Mehrheitsdemokratie politische Willensbildung und Entscheidungsfindung in der Bundesrepublik Deutschland adäquat und erschöpfend erfasst werden. Bei verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahren entsprechen lediglich angenommene Entwürfe diesen idealtypischen Zuordnungen; bei abgelehnten Entwürfen verdünnt sich die parlamentarische Willensbildung und Entscheidungsfindung bisweilen auf ein Minimum und entspricht eher dem Typus eines „rationalisierten“ Parlaments, in denen der Aufwand für aussichtslose Entwürfe auf das Nötigste reduziert wird. Entwürfe werden zusammengelegt, in der ersten Lesung abgelehnt oder dem Diskontinuitätsprinzip ausgeliefert. Ebenso widersprechen die Befunde der Annahme, dass im Grand Coalition State ausschließlich Kooperation und Konsens politische Willensbildung und Entscheidung prägen. Dies gilt nicht einmal in einem Politikfeld, in dem eine qualifizierte Mehrheit und damit in der Regel die Zustimmung der Opposition erforderlich ist. Und schließlich sei hervorgehoben, dass die Funktionstrias, mit der üblicherweise das Aufgabenprofil einer parlamentarischen Opposition beschrieben wird, ergänzungsbedürftig scheint. Parlamentarische Opposition will nicht nur kontrollieren, kritisieren und sich als Alternative zur Regierung anbieten. Sie konnte – zumindest in der Verfassungspolitik – der Regierung auch ihren „positiven Gestaltungswillen“ aufzwingen.

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Die AfD in den Landtagen: Bipolarität als Struktur und Strategie – zwischen Parlaments- und ­­„Bewegungs“Orientierung Wolfgang Schroeder, Bernhard Weßels und Alexander Berzel 1 Einleitung Mit 12,6 % der Zweitstimmen schaffte die Alternative für Deutschland (AfD) bei der Bundestagswahl 2017 nicht nur eindeutig den Einzug in den Deutschen Bundestag. Nach den gescheiterten Sondierungsgesprächen zwischen Union, FDP und Grünen und der dadurch gebildeten Großen Koalition aus CDU/ CSU und SPD stellt die AfD als Bundestags-Novizin gleichsam die größte Oppositionsfraktion. Von einer überraschenden Entwicklung kann dabei keineswegs gesprochen werden, hatte die Partei doch schon bei der Bundestagswahl 2013, nur fünf Monate nach ihrer Gründung am 13. April 2013, mit 4,7 % der Zweitstimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasst. Auch in der Folge deutete sich an, dass sich das Parteiensystem in Deutschland weiter

W. Schroeder (*) · A. Berzel  Fachgruppe Politikwissenschaft, Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Berzel E-Mail: [email protected] B. Weßels  Abteilung Demokratie und Demokratisierung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_11

247

248

W. Schroeder et al.

differenzieren und die Struktur des politischen Wettbewerbs verändern könnte: In allen 13 Landtagswahlen seit der Bundestagswahl am 22. September 2013 gelang der AfD der Einzug in die Parlamente. In sieben Ländern erreichte sie zweistellige Wahlergebnisse, in zwei Landtagen wurde sie mit Stimmenanteilen von über 20 % zweitstärkste, in weiteren zwei Landtagen drittstärkste Kraft. Sie hat damit die sogenannten etablierten Parteien in Unsicherheit gestürzt; teilweise sogar von ihren Stammplätzen verdrängt. Alles in allem sind zwischen 2014 und 2017 exakt 177 AfD-Abgeordnete von insgesamt fast drei Millionen Wählerinnen und Wählern in die Landesparlamente gewählt worden (vgl. Tab. 1). Damit gehört die AfD zu den im politischen Wettbewerb erfolgreichsten Parteien an der rechten Flanke des Parteienspektrums seit 1945. Schon die ersten Monate der AfD-Bundestagsfraktion deuteten an, dass sich viele Entwicklungslinien aus den Landtagen im Binnenverhältnis der ­AfD-Fraktion selbst, aber vor allem zwischen AfD-Fraktion und Wettbewerbern im Bundestag fortsetzen würden. So war bei der Postenbesetzung bereits ein Lernprozess zu erkennen, wonach sich eine zuerst ausgrenzende Strategie (Änderungen der Regelung zur Wahl des Alterspräsidenten des Bundestags, Ablehnung des frühere Staatsanwalts Roman Reusch im ersten Wahlgang zum Parlamentarischen Kontrollgremium) in ein deutlich weniger konfrontatives Vorgehen in formalen Prozessen gewandelt hat (Bestätigung der (durchaus provokativen) Vorschläge für die Ausschussvorsitze (Peter Boehringer, Haushalts-, Stephan Brandner, Rechts- und Sebastian Münzenmaier, Tourismusausschuss) ohne weitere Befragung). Man kann also von einem internen (Alterspräsident und Parlamentarisches Kontrollgremium), aber vor allem sicherlich auch externen (durch Erfahrungen in den Landtagen) Politiklernen sprechen, bei dem mittlerweile die oberste Prämisse zu sein scheint, zumindest auf dieser Ebene die ‚Opferrolle‘ zu verwehren, selbst wenn dabei das Infragestellen individuell-fragwürdiger Personalvorschläge verloren geht. Aufgrund dieser Lernfunktion durch die Erfahrungen in den Landtagen kann die als Grundlage für den vorliegenden Beitrag dienende, von den Autoren durchgeführte komparative und materialgestützte Studie, welche die parlamentarische Präsenz und Wirkungsweise der AfD sowie die Reaktionen parlamentarischer Wettbewerber auf die AfD in zehn Landtagen systematisch untersucht, auch im Hinblick auf die AfD-Fraktion im Bundestag wichtige Antworten liefern (Schroeder et al. 2017). Was bedeutet die Präsenz einer neuen Partei, die sich in einer stigmatisierten Minderheitsposition befindet, in der vielfach der Kurs einer grundsätzlichen Opposition vorherrscht, deren Initiativen für die anderen Parteien zuweilen

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

249

Tab. 1   Die AfD in den 10 untersuchten Landtagen (Datum der Wahlen: September 2014 bis September 2016) Bundesland

Wahldatum

ZweitStimmen- Anzahl stimmen anteil MdL Beginn LP

Baden13.3.2016 809.564 Württemberg Berlin

15,1

23

Stärke DirektAnzahl MdL am Fraktion mandate 28.2.2017 21

3. Kraft

2

18.9.2016 231.492

14,2

25

23

5. Kraft

5

Brandenburg 14.9.2014 120.077

12,2

11

10

4. Kraft

0

5,5

4

1

6. Kraft

0

Bremen

10.5.2015 64.368

Hamburg

15.2.2015 214.833

6,1

8

7

6. Kraft

0

167.852

20,8

18

13

2. Kraft

3

RheinlandPfalz

13.3.2016 268.628

12,6

14

14

3. Kraft

0

Sachsen

31.8.2014 159.611

9,7

14

9

4. Kraft

0

SachsenAnhalt

13.3.2016 272.496

24,3

25

22

2. Kraft

15

Thüringen

14.9.2014 99.545

10,6

11

8

4. Kraft

153

128

Mecklenburg- 4.9.2016 Vorpommern

Gesamt 2.408.466 Nicht berücksichtigte Landtage Saarland

26.3.2017 32.971

6,2

3

SchleswigHolstein

7.5.2017

5,9

5

NordrheinWestfalen

14.5.2017 460.479

7,4

16

Insgesamt

60.990

2.962.906

0 25

177

Quelle: Eigene Zusammenstellung, Stand: Oktober 2017

unberechenbar sind, und die beachtliche Erfolge bei den Wahlen verbuchen kann, für die Arbeit in den Parlamenten, für den politischen Wettbewerb und für die politische Mobilisierung? Um diese Fragen zu beantworten, wurden in einem kleinen Forschungsprojekt zur „AfD in den Landtagen“ eine Fülle von Materialien gesammelt und ausgewertet, vor allem aber anhand von Leitfadeninterviews mit Fraktionsverantwortlichen aller Parteien in den zehn Landtagen

250

W. Schroeder et al.

mit AfD-Präsenz vor der Saarlandwahl im März 2017 spezifische Einblicke aus der Innen- wie der Außenperspektive der AfD gewonnen.1 Im Zeitraum von November 2016 bis März 2017 wurden 41 leitfadengestützte, halbstandardisierte Experteninterviews mit Abgeordneten und führenden FraktionsvertreterInnen wie Fraktionsvorsitzenden, Parlamentarischen und FraktionsgeschäftsführerInnen sowie weiteren Fraktionsangestellten und Bediensteten der Landtagsverwaltungen in den zehn Landeshauptstädten durchgeführt. Ein Schwerpunkt lag in den Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern der AfD, die uns erste Einschätzungen zum Selbstverständnis und zur Arbeits- und Wirkungsweise der AfD-Fraktionen in den Landtagen gaben. Darüber hinaus wurden Gespräche mit Akteuren der anderen im Parlament vertretenen Parteien sowie mit LandtagskorrespondentInnen von Tageszeitungen geführt, um einerseits deren Beobachtungen zur AfD im Parlament aufzunehmen und andererseits, im Fall der politischen Wettbewerber, Reaktionsweisen auf die AfD zu erfassen. Das Erkenntnisinteresse der zugrunde liegenden Studie richtete sich auf drei unterschiedliche Aspekte – Personal, Arbeitsweise und Reaktionen. Zur personellen Zusammensetzung der AfD ist durch die detaillierten Analysen von Rütters (Rütters 2017, S. 3–24) sowie von den Autoren an anderer Stelle (Schroeder et al. 2017) bereits umfassendes Material präsentiert worden. Mit dem vorliegenden Beitrag wird ein wichtiges Feld der parlamentarischen Praxis sowie der Wettbewerbssituation auf Ebene der Landesparlamente mit dem neuen Spieler auf der rechten Seite des Parteienspektrums – dessen Arbeitsweise und die Reaktionen der Mitbewerber – empirisch vermessen und hinsichtlich der zentralen Literatur zu Oppositionsfunktionen eingeordnet. Um die AfD in ihrem Wirken, aber auch die Reaktionen der Wettbewerber, untersuchen und einordnen zu können, soll an dieser Stelle zunächst ein Blick auf die Forschung zur parlamentarischen Opposition geworfen werden. Stilprägend für die Oppositionsarbeit ist dabei der Dreiklang aus Kritik, Kontrolle und Alternative (Schmidt 2004, S. 500 f.). Dies zeigt schon die Dimensionen auf, die für eine Opposition konstitutiv sind: Als „institutionalisierte[r] Widerpart der Regierungsmehrheit“ (Steffani 1991, S. 23) ist es Aufgabe der Opposition, nicht nur das Regierungshandeln bzw. dessen Ausbleiben zu kritisieren, sondern

1Nicht

in allen Fällen war es möglich, Gespräche mit führenden AfD-Vertreterinnen und Vertretern in den Landtagsfraktionen zu führen. Trotz Gesprächsanfragen kam es entweder zu keiner Rückmeldung oder es bestanden terminliche Unvereinbarkeiten oder Terminangebote, die nach dem angezielten Ende der Studie lagen.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

251

i­nsofern Einfluss zu nehmen, dass sie – öffentlich möglichst sichtbar – durch ihre Kontrollrechte erst die Voraussetzung für diese Kritik schafft und Alternativen zur Regierung bereithält. Letztere Funktion bezieht sich sowohl auf die inhaltliche als auch die personelle Dimension der Bereitstellung von Alternativen (Steffani 1991, S. 23; auch Cancik 2017). Bei der personellen Alternativfunktion geht es dabei um „die stete Herausforderung der amtierenden Regierungsmitglieder durch alternative Amtsanwärter aus den Reihen der Oppositionsfraktionen“ (Steffani 1991, S. 24). Für eine noch junge Partei wie die AfD spielt allerdings eine weitere personalbezogene Funktion eine noch größere Rolle. Entscheidend dafür, wie eine Fraktion agiert und wie sie von außen wahrgenommen wird, ist an erster Stelle die Art, wie der oder die Fraktionsvorsitzende die „Funktion kommunikativer politischer Führung“ (Patzelt 2006, S. 113) ausübt. Deren Bedeutung nimmt nochmals zu, bedenkt man, dass von den untersuchten Landtagsabgeordneten nur ein einziger (Dirk Nockemann, Hamburgische Bürgerschaft als Mitglied der sogenannten Schillpartei) über parlamentarische Erfahrung auf Landes- oder Bundesebene verfügte. Ein genauer Blick auf die Fraktionsvorsitzenden ist hier also geboten und wird in Abschn. 2 unternommen. Auf der inhaltlichen und der Aktivitäten-Ebene bietet der obige Oppositionsdreiklang vielfältige Anknüpfungspunkte. Unter dem Stichwort ‚Kritik‘ würde sich eine Analyse von Pressemitteilungen und -statements (medial wie über digitale Kanäle) genauso zur Auswertung anbieten wie die inhaltliche Dimension der Bereitstellung von Alternativen, die sich in der Entwicklung von Partei- und Wahlprogrammen manifestiert. Aufgrund des parlamentarischen ‚Fokus‘ des Beitrags sowie um eine vergleichende Vermessung der Oppositionsperformanz erfolgversprechend zu gestalten, wird in den Abschn. 3 (Aktivitäten) und 4 (inhaltliches Profil) auf die jeweilige Nutzung der parlamentarischen Kontrollrechte rekurriert. Implizit geht es in den einzelnen Abschnitten auch immer darum, was aus diesen Erkenntnissen perspektivisch für die Etablierungsbedingungen der AfD – also den Erfolg ihrer Oppositionsstrategie – geschlossen werden kann. Was sagt die Performanz in den Landtagen über potenzielle Oppositionsstrategien im Bundestag und die Zukunft der Partei aus? Auf dieser Basis soll im Abschlussabschnitt dann ein Ausblick gegeben werden, wo der Weg der AfD hinführt, welche Erfolgsfaktoren sie auf ihrer Seite weiß und welche Hürden lauern könnten.

252

W. Schroeder et al.

2 Führungs- und Stabilisierungsfunktion – die Wichtigkeit der Fraktionsvorsitzenden Die Analyse der AfD als junge Partei, die sich noch in ihrer formativen Phase befindet, und deren Zukunft offen ist, fällt aufgrund ihres sich nahezu durchgehend vollziehenden Wandlungsprozesses naturgemäß schwer. Aus diesem Grund haben Untersuchungen, die die Partei oder einzelne Landtagsfraktionen in ein starres Korsett einordnen wollen (‚Realo vs. Fundi‘, Liberale vs. Nationalkonservative etc.) häufig nur eine begrenzte Halbwertszeit. Dennoch lassen sich gravierende Unterschiede hinsichtlich der Professionalitätsbereitschaft der Fraktionen feststellen. Als zentrale Ursache für diese Differenzen können die Vorsitzenden der jeweiligen Fraktionen und ihre richtungsweisenden Strategiepositionen identifiziert werden. Die Fraktionsvorsitzenden stellen (zumindest in zeitlicher Nähe zur entsprechenden Landtagswahl) das jeweilige Machtzentrum des AfD-Landesverbands dar. Sie sind dadurch entscheidend für die Strategie, aber auch für die Integration bzw. die Stabilität der Fraktion. Die innerfraktionellen Polaritäten zu stabilisieren, ist eine Managementaufgabe, die bei neuen Parteien noch wichtiger ist als bei solchen mit gewachsenen Fraktionsstrukturen. Die Fraktionsvorsitzenden profitieren von den Ressourcen (Führungsanspruch, Geld, Personal), die ihnen qua Position zugewiesen werden. Entscheidend dafür, wie eine Fraktion agiert und wie sie von außen wahrgenommen wird, ist an erster Stelle die Art, wie der oder die Fraktionsvorsitzende diese Ressourcen und mit deren Hilfe die „Funktion kommunikativer politischer Führung“ (Patzelt 2006, S. 113) ausübt. Weiter gefasst kommt es also darauf an, an welchen kommunikativen Zielen sich die Fraktionsspitze und die dahinterstehende Fraktionsmehrheit orientiert und welche Impulse sie auf dieser Basis aussendet. Zwei Verständnisse der AfD-Fraktionen lassen sich dabei deutlich unterscheiden: ein parlamentsorientierter und ein ‚bewegungsorientierter‘ Typ.2 Zum ersten Typus der parlamentsorientierten Fraktionen zählen die Fraktionen von Rheinland-Pfalz (Uwe Junge), Sachsen (Frauke Petry) und Berlin (Georg Pazderski), der Typus der ‚bewegungsorientierten‘ Fraktionen wird insbesondere durch die thüringische (Björn Höcke), sachsen-anhaltinische (André Poggenburg)

2Die

Datenauswertungen und Analysen des folgenden Beitrags beziehen sich, falls nicht anders genannt, auf Stand April 2017. Die Analysen und Daten fokussieren die zehn AfDLandtagsfraktionen, die von August 2014 bis September 2016 in die deutschen Landtage eingezogen sind.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

253

und brandenburgische Fraktion (Alexander Gauland) repräsentiert.3 Aber in den Fraktionen können die Übergänge fließend sein; in jeder Fraktion sind in der Regel durchaus Vertreter beider Richtungen präsent, sodass es auch nicht wundert, dass zwischen den Fraktionen recht stabile Kooperationsnetzwerke bestehen. Die Parlamentsorientierten suchen einen Weg, der letztlich dazu beiträgt, einen dauerhaften Platz rechts von der Union im Parteiensystem einzunehmen, der perspektivisch nicht nur ‚Erpressungspotenzial‘, sondern auch ‚Koalitionspotenzial‘ generiert (Sartori 1976, S. 12–124). Die ‚Bewegungsorientierten‘ sind, wie der Name schon deutlich macht, vom Akteurstypus der sozialen Bewegung geprägt (Rucht 1987, S. 297–313). Sie wollen nicht koalitionsfähig werden, sondern ihr Erpressungspotenzial ausspielen, um die Richtung des Parteienwettbewerbs zu beeinflussen. Vor allem verstehen sie sich als Sprachrohr rechter Vororganisationen und versuchen, ihre eigenen Anhänger auf der Straße und insbesondere im Netz zu mobilisieren. Diesem Typus am nächsten kommt die thüringische Fraktion rund um ihren Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke, der als eine der Galionsfiguren der neuen Rechten, regelmäßig eigene AfD-Demonstrationen veranstaltet oder an ihnen als Redner teilnimmt. Er kennzeichnete in seiner Dresdener Rede vom 17. Januar 2017 im Ballhaus Watzke den Weg der Thüringer AfD-Fraktion als „Weg einer fundamentaloppositionellen Bewegungspartei und einer fundamentaloppositionellen Bewegungsfraktion“ (Tagesspiegel 2017).

3 Aktivitäten – zwischen Plenumsarbeit und Social­­ Media-Kommunikation Ein Umstand fällt beim Blick auf die Aktivitäten der AfD-Landtagsfraktionen auf: Trotz aller Unterschiede in der Dimension der Bipolarität zwischen „Bewegungs-“ und Parlamentsorientierung zwischen den Bundesländern, sind über die Fraktionen hinweg übereinstimmende Handlungsmuster erkennbar. Auf den ersten Blick versuchen die AfD-Fraktionen, ihre Funktion der Regierungskontrolle wahrzunehmen (Mielke und Reutter 2012, S. 52–55). Sie nutzen das

3Die

anderen Fraktionen stellen Mischtypen dar. Die AfD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft tendiert aufgrund ihrer ungeklärten Führungsposition und dadurch entstehender innerfraktioneller Heterogenität nur leicht in Richtung ‚Parlamentsorientierung‘, diejenigen in den Landtagen von Baden-Württemberg und ­ Mecklenburg-Vorpommern neigen zur ‚Bewegungsorientierung‘.

254

W. Schroeder et al.

Spektrum parlamentarischer Instrumente, insbesondere die Kleinen Anfragen (siehe Abschn. 4), nach einer gewissen Eingewöhnungsphase in ähnlichem Ausmaß wie die anderen Oppositionsparteien. Auch die Ausschüsse werden selbstverständlich besetzt und zustehende Vorsitze wahrgenommen. Zu Beginn der Legislaturperioden wurde in mehreren Landtagen vonseiten der AfD Kritik in Bezug auf eine unzureichende Gewährung von Minderheitsrechten artikuliert. In Rheinland-Pfalz wurde infolge einer Änderung der Geschäftsordnung (Umstellung des Zählverfahrens zur Besetzung der Ausschüsse im Landtag auf d’Hondt, wodurch die AfD statt zweier nur einen Abgeordneten je Ausschuss hat) sogar eine Verfassungsklage avisiert. Ein Gutachtenauftrag an den Speyrer Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim unterstreicht den Nachdruck, mit dem die Fraktion für ihre Rechte eintritt (Pfalz-Express 2016). Ein wiederkehrendes Muster in vielen Landtagen war die Forderung der AfD nach mehr Transparenz in der Ausschussarbeit der Parlamente. Vielfach sprach sich die AfD für öffentliche Sitzungen der Ausschüsse aus, was bislang noch nicht alle Geschäftsordnungen der Landtage als Regelfall vorsehen. Diese Forderung wurde von AfD-PolitikerInnen mit dem Hinweis begründet, die etablierten Parteien hätten den Draht zu den Bürgerinnen und Bürgern verloren. Daher müssten etwa durch prinzipiell öffentliche Ausschusssitzungen die Bürgerinnen und Bürger besser dazu in die Lage versetzt werden, sich ein umfassendes Bild über die parlamentarische Arbeit der VolksvertreterInnen zu machen. Gekoppelt wurde diese Kritik oftmals mit dem Hinweis auf fehlende direkte Beteiligungsrechte der Bürger in der repräsentativen Demokratie. Ein zweiter Blick zeigt einen starken Kontrast zwischen den Ansprüchen und der Kritik an den etablierten Parteien auf der einen Seite und der eigenen Fraktionsarbeit auf der anderen Seite. Denn schon in den Arbeitsroutinen der AfD-Landtagsfraktionen bestehen nach wie vor große Professionalisierungsdefizite. Die parlamentarische Professionalisierung verläuft nur schleppend. Die bislang nur schwach ausgebaute Kompetenz in den konkreten Politikfeldern tritt insbesondere in der Ausschussarbeit zutage, wenn etwa in Beratungen zur Haushaltsaufstellung, einem zentralen Recht des Parlaments, vertiefte Sachkenntnisse fehlen. So berichteten GesprächspartnerInnen aus dem Brandenburger Landtag, dass die Änderungsanträge der AfD-Fraktion in den Haushaltsberatungen auch nach über zweijähriger Praxis im Landtag zwar in hoher Anzahl gestellt würden, qualitativ aber weitgehend oberflächlich geblieben und kaum Lernprozesse zu erkennen seien. Ebenso mangelt es weiterhin an Know-how in Bezug auf parlamentarische Verfahren. So kann es zwar als Anfängerfehler gewertet werden, wenn in Baden-Württemberg bei der Auswahl der Ausschussvorsitzenden die Entscheidung der AfD auf den Wahlprüfungsausschuss

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

255

fällt – einen Ausschuss, der lediglich einmal nach der Wahl zusammentritt und somit von sehr begrenzter politischer Bedeutung ist. Bei mehr Erfahrung wäre eine solche Entscheidung vermutlich nicht gefällt worden. Ein Kompetenzgefälle zwischen langjährigen Abgeordneten und Parlamentsneulingen bei Verfahrens- und Inhaltsfragen in der routinemäßigen Ausschussarbeit ist nachvollziehbar, sollte aber ein Anfangsphänomen darstellen. Wenn nach einer mehr als einjährigen Lernphase noch immer wichtige Fragerunden an die jeweilige Landesregierung ohne ­ AfD-Beteiligung stattfinden, teilweise einfach deshalb, weil Fristen zur Einreichung der Fragen verpasst wurden, geht dies jedoch über Anfängerfehler hinaus. Selbst Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, die aufgrund ihrer Rolle ein besonderes Augenmerk für Verfahrensfragen sowie parlamentarische Abläufe entwickeln sollten, blieben in mehreren Fällen auch nach längerer Einarbeitungszeit in Detailfragen zur Geschäftsordnung in einem semiprofessionellen Politikmodus. So trat in Sachsen-Anhalt der in der konstituierenden Sitzung gewählte Vizepräsident der AfD-Fraktion nach nur sechs Wochen zurück. Er reichte noch am selben Tag seinen Rücktritt ein, nachdem er zum ersten Mal mit der Sitzungsleitung beauftragt und mit dieser Aufgabe überfordert war (Schumann 2016). Fehlende Vorerfahrung der Abgeordneten der AfD mit parlamentarischen Abläufen auf der Landes- oder Bundesebene kann zwar als Teilerklärung greifen, ist aber ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr glaubwürdig anzuführen. Ein weiterer Aspekt des Auftretens der AfD wirft zumindest für Teile der AfD-Abgeordneten die Frage auf, ob sie überhaupt an einer Professionalisierung der Parlamentsarbeit interessiert sind. Die Arbeitsweise der Fraktionen der AfD ist vielmehr durch die starke Nutzung symbolischer Elemente mit dem Ziel einer aufmerksamkeitsorientierten Inszenierung des eigenen Handelns gekennzeichnet (Sarcinelli 2011, S. 137–152). Die dabei zutage tretende Tendenz zur Vereinfachung und Priorisierung erfolgt mit dem Ziel der Selbstdarstellung eines Sich-Kümmerns, was durchaus als stilbildend für die Parlamentsarbeit der AfD angesehen werden kann. In diesem Sinne kann auch von einer Inkongruenz zwischen der Darstellung und der Herstellung von Politik zulasten Letzterer gesprochen werden, die nicht nur, aber insbesondere bei der AfD ausgeprägt ist (Sarcinelli 2011, S. 120). Der Befund wird durch weitere Auffälligkeiten gestützt. So nutzten mehrere Fraktionen selbst geschaffene Inszenierungen, sogenannte „Pseudo-Ereignisse“ (Boorstin 1987), um Aufmerksamkeit auf ein eigenes Thema oder die vorgebliche Ausgrenzung durch die anderen Fraktionen zu lenken. Die Abgeordnete Wiebke Muhsal etwa erschien im Thüringer Landtag im Niqab, um auf einen Gesetzentwurf zur Vollverschleierung in der Öffentlichkeit

256

W. Schroeder et al.

hinzuweisen. In ­Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und in Brandenburg verließen die ­ AfD-Fraktionen unter viel Tumult geschlossen Plenarsitzungen. Auch wenn dies nur in wenigen Einzelfällen praktiziert wurde, sprengt es allgemeine parlamentarische Gepflogenheiten. In Sachsen-Anhalt attackierte der AfDFraktionsvorsitzende in scharfem Ton den Ministerpräsidenten, der sich in seiner Regierungserklärung gegen Hass und Gewalt in der Gesellschaft sowie für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen ausgesprochen hatte. Anschließend zog die AfD-Fraktion geschlossen aus dem Plenarsaal aus, um auf dem Platz vor dem Parlament an einer Demonstration teilzunehmen (Bock 2016). Auch im Brandenburger Landtag verließ die AfD-Fraktion geschlossen den Plenarsaal. Sie protestierte damit dagegen, dass ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender wegen groben Verstoßes gegen die Parlamentsordnung von der Plenarsitzung ausgeschlossen wurde (Fröhlich und Garzke 2016). Jenseits dieser Inszenierungen gegen Gepflogenheiten der parlamentarischen Routine waren immer wieder minutiös geplante Interventionen der AfD bei Plenardebatten zu registrieren. Dies führt dazu, dass in den meisten Landesparlamenten eine emotionalere, stärker polarisierende und nervösere Stimmungslage eingekehrt ist, seit die AfD mitwirkt, was sich beispielsweise am Anstieg der Ordnungsrufe manifestiert (vgl. Tab. 2). Im Kern geht es der AfD in den Parlamenten weniger um die Kontrolle der Regierung, sondern eher um aufmerksamkeitsorientierten Protest und Provokation. Dies ist eine Vorgehensweise, die die AfD als Strategie, insTab. 2   Vergleich Ordnungsrufe Land

LP aktuell

Pro 100 Tage

Davon AfD

LP davor*

Pro 100 Tage

BW

4

1,6

4

0

0,0

BE

1

1,5

0

8

0,4

BB

3

0,4

3

1

0,1

HB





HH

8

1,2

3

19

1,3

MV

4

4,5

3

307

16,8

RP

7

3,1

5

8

0,4

SN

3

0,4

1

76

4,2

ST

2

0,8

2

0

0,0

TH

93

11,5

46

57

3,1

Gesamt

125

28,0

76

476

26,7

Quelle: Eigene Recherche (*vor Parlamentseinzug der AfD)

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

257

besondere zur Distanzierung vom Establishment und von der politischen Klasse, begreift.4 Auch wenn Ähnliches für manche andere Oppositionsfraktion auch gesagt werden könnte, ist die Vorgehensweise der AfD im Vergleich zu anderen (Oppositions-)Fraktionen multimedialer, tabuverletzender und aggressiver. Dafür sind zwei Spezifika der AfD-Fraktionen verantwortlich. Erstens verweigern sich die Fraktionen keineswegs der Mitarbeit im Plenum, sondern sehen dieses ganz im Gegenteil als eine Bühne für Signale in Richtung der eigenen Anhängerschaft. Anders sieht es, wie oben beschrieben, in vielen Ausschüssen aus. In Interviews mit parlamentarischen Beobachtern wurde immer wieder von einer „blassen“, unauffälligen oder sich gar durch Abwesenheit auszeichnenden Ausschussperformanz der AfD-Abgeordneten gesprochen. Dabei stellen Mielke und Reutter für Landesparlamente fest, dass „Ausschüsse die bedeutendsten Arbeitsorgane sind, hinter denen das Plenum zurückfällt“ (Mielke und Reutter 2012, S. 46). Für die AfD gilt diese Priorisierung nicht, sie setzt auf eine klare Polarität zwischen der Bereitschaft, sich im öffentlich sichtbaren Plenum aktiv zu beteiligen („Voice“) und eher weniger Bereitschaft, in den nichtöffentlichen Ausschüssen aktiv mitzumachen („Exit“). Zweitens setzt die AfD verstärkt auf einen Wandel des Kommunikationsmodus, der mit den neuen sozialen Medien und dem Internet operiert. Wo etablierte Parteien noch immer stärker auf klassische Medien setzen5, muss und will die AfD andere Wege gehen, schon weil ihr langjährige Netzwerke mit den Medien fehlen und sie sich durch diese weniger umfassend und fair (‚Lügenund Lückenpresse‘) als die Konkurrenzparteien behandelt fühlt.6 Auch wenn Jun

4Dieses Muster wird auch in einem internen Strategiepapier des ­ AfD-Bundesverbands vom Dezember 2016 deutlich. So heißt es im Kapitel über die AfD in den Landtagen: „Die Chancen und Risiken der parlamentarischen Arbeit sind immer wieder sorgfältig gegeneinander abzuwägen, Routine muss vermieden werden. Die AfD darf nicht zu einem gut laufenden Rädchen im Getriebe eines Landtags werden, sondern muss immer auch bedenken, dass sie ein gutes Stück vom Protest gegen den Status quo lebt“ (AfDBundesvorstand 2016, S. 28). 5Gut zu erkennen an der Kommunikationsdramaturgie rund um die Kür von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD, bei der Sigmar Gabriel seinen Verzicht auf die Kandidatur via Zeit und Stern medial lancierte. 6So werden beispielsweise Routinen wie das nachträgliche Streichen von Interviewpassagen oder die namentliche Nennung als ‚Belohnung‘ für zugespielte Informationen vonseiten der Journalisten weniger akzeptiert.

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W. Schroeder et al.

lediglich von „moderaten Veränderungen im politischen Kommunikationsverhalten“ (Jun 2015, S. 36) spricht, stellen Onlinemedien für Politaußenseiter „eine kostengünstige Plattform der Aufmerksamkeitsgewinnung, Meinungsäußerung, Mobilisierung von Protest und die Organisation von entsprechenden Veranstaltungen“ (Jun 2015, S. 36) dar. Dass Onlinemedien in diesem Zusammenhang die bessere Begrifflichkeit anstelle einer Einengung auf soziale Netzwerke ist, zeigt die Süddeutsche Zeitung mit einer ausführlichen Datenrecherche (Brunner und Ebitsch 2017). Sie verdeutlicht, wie umfassend und relativ abgeschottet die Vernetzung der AfD-Fraktionen mit ihren Anhängerschaften ist. Es sind einerseits die üblichen sozialen Netzwerke wie Facebook, und andererseits bestimmte Blogs, Foren oder Online-Zeitungen, die für die Kommunikation mit der AfD-Anhängerschaft genutzt werden und sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Tab. 3 zeigt die Social-Media-Nutzung der AfD-Fraktionen im Vergleich mit ihren reichweitenstärksten Kontrahenten.7 Sieben von neun ­ AfD-Fraktionen nahmen in ‚ihren‘ Landtagen bezogen auf die Zahlen bei Facebook den Spitzenplatz ein, fünf davon mit großem Abstand. Die drei Fraktionen mit einer fünfstelligen Zahl an Likes (Brandenburg, Sachsen, Thüringen) profitierten dabei sicherlich auch davon, dass sie mit Frauke Petry (199.921 Likes, Sachsen) und Björn Höcke (46.193 Likes, Thüringen) die beiden reichweitenstärksten Fraktionsvorsitzenden bzw. mit Alexander Gauland (Brandenburg, kein eigener Facebook-Account) jeweils eines der Gesichter der Partei in ihren Reihen hatten. Dies führte durch die mediale Präsenz zu erhöhter Aufmerksamkeit auch in den sozialen Netzwerken, bot aber gleichzeitig die Möglichkeit, die Inhalte untereinander zu teilen und dadurch wiederum mehr Views, Interaktion und in der Folge mehr Likes zu erhalten. Für die parlamentarische Arbeitsweise ist von Relevanz, dass neben die gezielte Provokation die Absicht tritt, sich von den etablierten Parteien zu distanzieren und sich auf deren Kosten zu profilieren – im Plenarsaal klassisch

7Ein

rein quantitativer Bezug auf Reichweiten dient dabei lediglich der Annäherung und ist methodisch mit Vorsicht zu genießen. Die AfD profitiert hier von dem bereits angesprochenen in sich geschlossenen parteinahen Netzwerk. Gerade bei den Fraktionen mit hohen Reichweiten liegt die Vermutung nahe, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Likes/Follower nicht aus dem entsprechenden Bundesland kommt und so starke Überschneidungen der Nutzergruppen vorliegen dürften.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

259

Tab. 3   Vergleich Social Media: AfD-Fraktionen vs. reichweitenstärkste andere Fraktion (Facebook-Likes und Twitter-Follower, jeweils zum 31.03.2017) Land

AfD FB

Größte andere Fraktion FB

AfD Twitter

Größte andere Fraktion Twitter

BW

5137

4178 (SPD)

362

1266 (Grüne)

BE

2799

4195 (Linke)

1905

5431 (Grüne)

BB

17.687

2085 (SPD)

1915

2190 (CDU)

HB





HH

4730

6139 (Linke)

1058

2301 (Linke)

MV

3573

3530 (CDU)

1122

726 (SPD)

RP

4770

1768 (SPD)





SN

13.004

2983 (CDU)

2848

2526 (Linke)

ST

6300

2657 (Linke)

719

1632 (Linke)

TH

14.724

4087 (CDU)





Quelle: Eigene Recherche auf Basis des Analysedienstes Pluragraph; es wurden jeweils die Landtagsaccounts der Fraktionen ausgewertet, die Accounts der Landesverbände wurden – auch falls es keinen Landtagsaccount gibt – nicht in die Analyse einbezogen

analog, digital in den sozialen Medien.8 Das Parlament ist für die AfD-Fraktionen demnach Spielbein und Standbein, Ruhe und Bewegung, Provokation und Mitarbeit, drinnen und draußen und dadurch ein Abbild der Bipolarität zwischen ‚Bewegung‘ und Partei.

4 Inhalte – zwischen Breite und Verengung Die Selbstdarstellung und der öffentliche Diskurs über die inhaltliche Ausrichtung der AfD legen bestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzungen der Partei nahe. Dazu gehören eine Opposition gegenüber und Kritik an den Etablierten oder den Eliten, eine anti-europäische, nationalistische Positionierung und eine 8Beispielhaft

für eine solche Inszenierung der AfD auf Kosten anderer Parlamentsakteure ist ein Redebeitrag des Brandenburger AfD-Abgeordneten Königer im Plenarsaal im Sommer 2016. Einziger Inhalt der rund vierminütigen Rede zum Thema „Genderwahn“ ist eine Aufzählung unterschiedlichster geschlechterspezifischer Anreden. Das Video wurde auf Facebook über 500.000 Mal, auf Youtube ca. 50.000 Mal aufgerufen.

260

W. Schroeder et al.

Kritik an der repräsentativen Demokratie ebenso wie eine Ausrichtung auf Innere Sicherheit und Ordnung sowie auf Fragen der Migration, Fluchtbewegungen, Integration und Asyl. Nicht alle diese Inhalte sind in der Landespolitik gefragt und unterzubringen und daher liegt die Vermutung nahe, dass die Profilierung in den Landtagen sich auf die Aspekte Sicherheit und Ordnung sowie Migration, Integration und Asyl konzentriert. Eine Implikation einer derartigen Profilierung wäre zwar nicht lediglich eine Ein-Punkt-Partei, aber eben auch nicht viel mehr. Es liegt die Vermutung nahe, dass die AfD-Landtagsfraktionen inhaltlich weit weniger breit aufgestellt sind als die Fraktionen der etablierten Landtagsparteien. Die inhaltliche Arbeit einer Fraktion lässt sich anhand verschiedener Aspekte untersuchen. Hierzu gehören Anträge, Initiativen und Anfragen. Eine Analyse der geringen Zahl der Anträge verweist auf eine starke Konzentration auf das Thema Innere Sicherheit. Auch fast ein Drittel der Initiativen der AfD-Fraktionen befassen sich mit Problemen der Sicherheit und Ordnung, ein weiteres knappes Fünftel mit Zuwanderung und Integration. Insgesamt sind in den untersuchten Landtagen diese Aktivitäten aufgrund ihrer geringen Anzahl nicht geeignet, die parlamentarische Praxis und inhaltliche Fokussierung zuverlässig abzubilden. Aufgrund der Quantität bieten Kleine Anfragen eine bessere Ausgangsbasis, um das inhaltliche Profil der parlamentarischen Aktivitäten der Fraktionen zu bestimmen.9 Kleine Anfragen sind das einfachste Instrument der Regierungskontrolle. Sie werden deshalb insbesondere von den AfD-Fraktionen sehr rege genutzt. Von Oktober 2014 bis April 2017 wurden in den zehn untersuchten Landtagen, in die die AfD eingezogen ist, ca. 22.600 Kleine Anfragen gestellt; 4.694, also ca. 20 % davon stellten die AfD-Fraktionen. Wie Tab. 4 zeigt, bestehen in der Nutzung Kleiner Anfragen große Unterschiede zwischen den einzelnen AfD-Fraktionen. Im Durchschnitt stellt ein AfD-Abgeordneter jeden Monat 1,8 Kleine Anfragen.10 Die Abgeordneten der sächsischen ­AfD-Fraktion machen von diesem Instrument am intensivsten Gebrauch (je 4,2 Kleine Anfragen/Monat); unter den Fraktionen, die im April 2017 mindestens schon 12 Monate existierten, weist die Fraktion in Sachsen-Anhalt den niedrigsten Wert auf (1,4). Eine nochmals deutlich geringere

9Die

Quelle für die Analysen sind Informationen, die unter https://www.kleineanfragen.de herunterzuladen sind. Dort steht für eigene Auswertungen eine Datenbank (inkl. Volltext der Dokumente) zur Verfügung. 10Kleine Anfragen werden mit Ausnahme von Bremen von Einzelabgeordneten gestellt. Um dies abzubilden, bezieht die Analyse die Fraktionsgröße in die Rechnung mit ein.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

261

Tab. 4   Nutzung Kleiner Anfragen durch die AfD-Fraktionen in neun Landtagen (Da die Möglichkeit, Kleine Anfragen an den Senat zu stellen, in der Bremischen Bürgerschaft nur bei Fraktionsstärke gegeben ist, der AfD also dieses Instrument nicht zur Verfügung steht, wird Bremen in der Tabelle und in der weiteren Analyse in diesem Abschnitt nicht berücksichtigt.) Land

Anzahl Kleine Anfragen

Kleine Anfragen pro MdL pro Monat

Baden-Württemberg

449

1,6

Berlin

70

0,6

Brandenburg

572

1,9

Hamburg

468

2,3

Mecklenburg-Vorpommern

68

0,6

Rheinland-Pfalz

271

1,9

Sachsen

1824

4,2

Sachsen-Anhalt

349

1,4

Thüringen

623

2,0

Ost

3506

1,8

West (ohne HB)

1188

2,0

Gesamt

4694

1,8

Quelle: Eigene Berechnungen aus den Informationen der Datenbank https://www. kleineanfragen.de; Zeitraum: Oktober 2014 bis April 2017

Zahl ergibt sich für Berlin und Mecklenburg-Vorpommern mit 0,5 und 0,6 Kleinen Anfragen pro Abgeordnetem bzw. Abgeordneter im Monat. Diese Zahlen sind aber nicht überzubewerten, da diese Fraktionen noch sehr jung sind (vgl. Tab. 4). Wenn der Faktor Zeit berücksichtigt wird, verweisen die Ergebnisse darauf, dass „learning on the job“ schlicht dauert – das betrifft sowohl die einzelnen Abgeordneten als auch den Aufbau eines arbeitsfähigen Fraktionsapparates mit ausreichender Professionalität. Sachsen hat die älteste AfD-Fraktion und den höchsten Wert Kleiner Anfragen pro MdL im Monat, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern mit den jüngsten AfD-Fraktionen weisen die ­ geringsten Werte auf. Der Zusammenhang zwischen dem Alter der Fraktion und der Nutzung parlamentarischer Instrumente, wie Kleine Anfragen, ist fast linear, wie Abb. 1 zeigt, und der statistische Zusammenhang zwischen dem Fraktionsalter in Monaten und den Anfragen pro MdL im Monat ist gemessen am Korrelationskoeffizienten mit + 0,8 sehr hoch.

262

W. Schroeder et al.

Abb. 1   Anzahl Kleiner Anfragen von MdL der AfD pro Monat und Alter der Fraktion. (Quelle: Eigene Berechnung aus den Informationen der Datenbank https://www. kleineanfragen.de; Oktober 2014 bis April 2017)

Hierin kann durchaus ein erstes Indiz für die Geltung des parlamentsorientierten Ansatzes gesehen werden, schnell in eine professionell wirkende Oppositionsarbeit zu gelangen (vgl. Abb. 1). In einem weiteren Analyseschritt vergleichen wir die Stimmenanteile der AfD mit ihren Anteilen an den Kleinen Anfragen. Es ist offensichtlich, dass die AfD in stärkerem Maße als es ihrem Stimmenanteil entspräche Kleine Anfragen lanciert. Für eine Oppositionspartei ist dies sicherlich noch kein besonders hervorzuhebender Befund. Im Durchschnitt über die Länder hinweg ist die AfD für 21,5 % der Kleinen Anfragen verantwortlich – bei einem länderdurchschnittlichen Stimmenanteil von 14 %. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den Landtagen beträchtlich. In Baden-Württemberg und Thüringen liegt der Anteil Kleiner Anfragen fast dreimal so hoch wie der Stimmenanteil, in Brandenburg, ­Rheinland-Pfalz, Sachsen und Sachsen-Anhalt etwa doppelt so hoch und in Berlin, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern entspricht er in etwa dem Stimmenanteil (vgl. Abb. 2). Je nach Landtag werden damit Kleine Anfragen unterschiedlich stark von AfD-Fraktionen genutzt. In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, wo mehr als 40 % aller Kleinen Anfragen in Urheberschaft der AfD stehen, und in Thüringen, wo es mehr als ein Drittel sind, gehören Kleine Anfragen wohl zur besonderen Strategie der AfD-Fraktionen, um Regierung und Verwaltung unter Druck zu setzen.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

263

Abb. 2   Stimmenanteil der AfD und Anteil an den Kleinen Anfragen. (Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Datenbank https://www.kleineanfragen.de und Wahlergebnisse nach Landeswahlleitern)

Die inhaltliche Schwerpunktsetzung der AfD-Fraktionen in den Kleinen Anfragen zu bestimmen, bedarf zunächst einer inhaltsanalytischen Kodierung nach den Gegenständen der Anfragen. Die Titel sind somit das empirische Ausgangsmaterial für die Analyse. Die Titel wurden in Wörter zerlegt, diese Liste um Zahlen, Datumsangaben, Sonderzeichen, Füllwörter, Zeitbezüge, Orts- und Landesbezeichnungen und Ähnliches bereinigt. 104 Begriffe oder Begriffsteile konnten inhaltlichen Feldern der Politik zugeordnet werden. Damit lassen sich 58 % aller Kleinen Anfragen Politikfeldern zuordnen, die jeweils durch eine unterschiedliche Zahl von Begriffen repräsentiert werden. Kodiert wurden Bildung (15 Begriffe), Migration – Integration – Asyl (14), Landwirtschaft (2), Politischer Extremismus (3), Soziales (8), Linke (2), Sicherheit und Ordnung (20), Wirtschaft (7), Gesundheit (5), Infrastruktur (12), Kultur (4), Energie und Umwelt (9) sowie Finanzen (5).

264

W. Schroeder et al.

Die eingangs formulierte Erwartung, dass die AfD sich in den Landtagen vor allem mit den Themen Sicherheit und Ordnung sowie Integration, Migration und Asyl profilieren würde, wird von der Betrachtung im Durchschnitt aller neun untersuchten Landtage bestätigt. Rund 16 % der Kleinen Anfragen der AfD haben Migration zum Gegenstand, weitere etwa 12 % Sicherheit und Ordnung. Damit richten sich fast 30 % aller Kleinen Anfragen auf diese beiden inhaltlichen Felder. Allerdings setzt sich die AfD nur bei der Migration von den anderen Fraktionen ab, die dieses Thema nur in etwa 7 % der Kleinen Anfragen behandeln. Bei Fragen der Inneren Sicherheit hingegen gibt es kaum einen Unterschied zu den anderen Fraktionen. Die weiteren Politikfelder sind von der AfD wesentlich weniger stark besetzt und die Unterschiede zu den anderen Parteien fallen nicht so groß aus wie beim Themenfeld Migration. Auffällig ist auch, dass die AfD-Fraktionen Infrastruktur und Bildung deutlich weniger thematisieren als im Durchschnitt, Umwelt und Soziales hingegen mehr, wie auch die schwach besetzten Felder Politisches und Links. Hier kann nur spekuliert werden, ob es zu diesen Überproportionalitäten durch die Kritik der AfD an umweltpolitischen Belangen, die Thematisierung von

Abb. 3   Politikfelder Kleiner Anfragen der AfD im Vergleich zum Mittel Kleiner Anfragen aller anderen Fraktionen. (Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Datenbank https:// www.kleineanfragen.de.)

7,1 1,4

2,9

Energie und 6,6 Umwelt

5,3

452

Finanzen

Frequenz

572

3,1

1,7

1,0

3,8

1,6

2,8

468

2,8

2,6

2,4

2,8

0,2

0,0

15,2

2,1

3,0

5,6

0,0

17,5

5,8

Hamburg

68

5,9

14,7

0,0

2,9

0,0

1,5

16,2

0,0

7,4

1,5

0,0

17,6

1,5

Mecklenburg-Vorpommern

271

3,3

7,7

1,1

1,8

5,9

1,5

5,2

1,1

8,5

1,1

0,4

13,7

6,6

RheinlandPfalz

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der Datenbank https://www.kleineanfragen.de

70

7,1 0,0

Infrastruktur 6,2

Kultur

1,4

3,5

Gesundheit

0,0

4,2

Wirtschaft und Arbeit

0,3 15,9

0,0 20,0

0,9

Links

Sicherheit 12,6 und Ordnung

0,7

0,2

3,0

0,0

0,0

18,0

7,9

Brandenburg

5,7

1,1

7,7

Politisches

Soziales

0,2

Landwirtschaft

35,7

1,4

6,4

17,0

Bildung

Berlin

BadenWürttemberg

Migration

Bundesland

Tab. 5   Themen Kleiner Anfragen der AfD in den Landtagen

1824

5,9

1,4

3,2

2,6

3,6

3,2

15,2

1,1

5,6

0,7

0,2

20,1

10,6

Sachsen

349

14,6

3,4

0,3

2,3

3,7

2,9

8,3

0,3

11,7

1,1

0,6

11,2

9,5

SachsenAnhalt

623

6,1

3,2

1,4

2,7

1,3

1,6

15,4

2,6

7,5

3,4

0,0

23,6

9,6

Thüringen

5,4

5,4

1,4

3,6

2,4

2,0

13,8

0,9

6,7

1,7

0,2

19,4

6,6

Mittelwert AfD

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität … 265

266

W. Schroeder et al.

sozioökonomischen Problemen und Abwehrstrategien gegenüber vermeintlichem Linksextremismus und entsprechenden Aktivitäten kommt (Abb. 3). Die Thematisierungen durch die AfD fallen zwischen den Ländern zwar etwas unterschiedlich aus, aber im Grundsatz bleibt das Profil der Partei erhalten. In Berlin und Thüringen wird Migration am stärksten thematisiert (35,7 % und 23,6 %), in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt am wenigsten (13,7 % und 11,2 %). Innere Sicherheit wird wiederum in Berlin sowie Mecklenburg-Vorpommern von der AfD am häufigsten zum Thema gemacht ­ (20 % und 16,2 %), am seltensten in Rheinland-Pfalz (5,2 %) und SachsenAnhalt (8,3 %) (vgl. Tab. 5). Damit fallen die AfD-Fraktionen nirgendwo unter den Durchschnitt der Thematisierung von Migration und Integration der Wettbewerber, wohl aber bei der Frage Innerer Sicherheit in den beiden Ländern, in denen dies am wenigsten thematisiert wird, sowie auch in Sachsen mit einer relativ starken Thematisierung durch die anderen Parteien.

5 Folgen, Reaktionen, Perspektiven – zwischen Ausgrenzung und Abgrenzung Was bedeutet die nunmehr vielfach beschriebene Bipolarität zwischen ‚Bewegungs‘- und Parlamentsorientierung für die Parlamentsarbeit der AfD und wie reagieren die anderen Fraktionen darauf? Unabhängig davon, ob es sich um eine Doppelstrategie handelt, wie aus einer Außenperspektive vermutet wird, oder ob dies lediglich die Heterogenität und Pluralität innerhalb der AfD-Fraktionen widerspiegelt, wie von AfD-Vertretern dargelegt – die Bipolarität macht den Umgang mit der AfD für die konkurrierenden Parteien schwierig. Die Präsenz der AfD in den deutschen Landtagen bleibt somit nicht ohne Folgen für die Interaktionsmuster in den Parlamenten. Die etablierten Parteien verwenden viel Zeit und Ressourcen darauf, sich auf den neuen parlamentarischen Wettbewerber einzustellen. Vielfach waren die politischen Akteure in den Parlamenten anfangs verunsichert und auch unbeholfen im Umgang mit dem Neuling. Mittlerweile sind Lernprozesse in der parlamentarischen Arena unverkennbar, wie bereits in der Einleitung anhand des schnellen Richtungswechsels der Reaktionsstrategien der Wettbewerber im 19. Deutschen Bundestag aufgezeigt werden konnte. Insgesamt lassen sich drei Reaktionsstrategien im Umgang mit der AfD unterscheiden: (1) Ausgrenzung/Sanktionierung, (2) Ignoranz und (3) Auseinandersetzung/Abgrenzung. Die Strategie des Ausgrenzens und Sanktionierens findet

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

267

sich v. a. zu Beginn in den westdeutschen Landesparlamenten und lässt sich etwa bei Änderungen der Geschäftsordnungen beobachten. Die Strategie der Ausgrenzung verschaffte den Parlamentsneulingen, so die häufige Reflexion in den geführten Interviews mit GesprächspartnerInnen aus anderen Fraktionen, aber die Möglichkeit, sich als Opfer zu inszenieren, das durch die etablierten Fraktionen in der Ausübung seiner Rechte eingeschränkt wird. Auch offensive Angriffe einzelner Abgeordneter der etablierten Parteien, die sich beispielsweise wegen rassistischer Äußerungen von AfD-Abgeordneten erregten, wurden gerne für dieses Narrativ gegenüber den eigenen Anhängern genutzt. Infolge dieser Erlebnisse und damit einhergehender Lernprozesse realisierten zahlreiche etablierte Akteure jedoch, was viele Fraktionen in den ostdeutschen Landtagen durch ihre Erfahrungen mit NPD und DVU längst wussten und verinnerlicht hatten: Durch Ausgrenzung und Sanktionierung gelang es nicht, die AfD-Abgeordneten auf die parlamentarischen Gepflogenheiten festzulegen, stattdessen wertete man sie im Gegenteil auf und gab ihnen das, was sie wollten: die öffentliche Bühne.11 Die Strategie des Ignorierens war nur temporär zu beobachten. So gab es etwa in Hamburg und Bremen den Versuch vonseiten der Regierungsfraktionen, Absprachen zu treffen, wonach bei Anträgen der AfD lediglich ein Abgeordneter bzw. eine Abgeordnete dieser Fraktionen erwidern sollte. Auch in Thüringen und in Sachsen-Anhalt wurde dieses Vorgehen zeitweilig und situativ angewandt. In Brandenburg wiederum kam es phasenweise zum Schulterschluss der anderen Parteien, um ein Zeichen gegen fremdenfeindliche Äußerungen der AfD zu setzen. In solchen Fällen verabredeten die Parteien, dass nur ein Redner bzw. eine Rednerin im Plenum auf die AfD reagieren solle, um Geschlossenheit zu signalisieren und auch, um der AfD keine Bühne für weitere provozierende Aktivitäten zu verschaffen. Dieses Vorgehen scheiterte unter anderem daran, dass einzelne Abgeordnete sich nicht an die Vorgaben des Redeverzichts hielten. Infolgedessen wurde dieser Ansatz von den Fraktionsspitzen nach einer Weile aufgegeben. Auch hier wurde die Vermeidung der ‚Opferrolle‘ als Grund für den Wandel angeführt. In Mecklenburg-Vorpommern nahmen die etablierten Parteien

11In

den Ländern mit Vorerfahrungen mit rechtsextremen Parteien im Landtag (Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt) hat es keine ähnlichen Abgrenzungsbeschlüsse wie zuvor etwa zur NPD gegeben, was darauf hinweist, dass die AfD als gleichberechtigte Konkurrentin behandelt wurde.

268

W. Schroeder et al.

von einem Kurs Abstand, den sie in der Legislaturperiode zuvor noch im Hinblick auf die NPD angewandt hatten. Der „Schweriner Weg“ – die gemeinsame, konsequente Frontstellung gegenüber der NPD – wurde im Fall der AfD nicht angewandt. Nach einiger Zeit haben sich somit Muster sowie Präferenzen im Umgang der etablierten Parteien mit der AfD herausgebildet, die mit der Formel „Abgrenzen, ohne Auszugrenzen“ (CDU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt 2017) auf den Punkt gebracht werden können. Weder ein Ausgrenzen noch ein Ignorieren der AfD haben sich in der Regel als wirksame und hinreichende Mittel in der parlamentarischen Auseinandersetzung erwiesen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der AfD stellt die Parteien vor allem deshalb vor große Herausforderungen, weil diese sich zum einen als Provokateur auf Kosten anderer zu profilieren weiß, zum anderen, weil die AfD imstande ist, populäre Themen aufzugreifen und auf die politische Agenda zu setzen. Mit der Formel „Abgrenzen, ohne Auszugrenzen“ wird zugleich deutlich, dass den Parteien keine einfachen Antworten auf die Herausforderung durch die AfD genügen. Vielmehr hat die Suche nach geeigneten Umgangsstrategien gezeigt, dass erst für die anderen Parteien Lernprozesse in Gang zu setzen waren und dass eine Notwendigkeit besteht, sich in Verhaltens- und Reaktionsmustern zu professionalisieren. Denn wer die inhaltliche Auseinandersetzung sucht, wer also die AfD argumentativ stellen will, muss den Bürgerinnen nicht nur gute politische Angebote unterbreiten, sondern darüber hinaus über ausgezeichnete rhetorische Fähigkeiten verfügen, darin geschult sein, den eigenen Standpunkt auch dann wirkungsvoll zu vertreten, wenn mit Provokationen oder Tabubrüchen in der Gegenargumentation der AfD zu rechnen ist. Wer der AfD die ‚Opferrolle‘ in Parlament und Öffentlichkeit konsequent verwehren will, der muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Abgeordneten in den Fraktionen geschlossen und diszipliniert agieren. Eine besondere Herausforderung ist überdies in der digitalen Arena zu sehen. Denn hier bleibt die Formel „Abgrenzen, ohne Auszugrenzen“ weitgehend wirkungslos. Einer Emotionalisierung mit sachlicher Argumentation zu begegnen, scheint kaum erfolgversprechend zu sein. Weder die Reichweiten noch die digitale Expertise sind derzeit auf Länderebene vorhanden, um der AfD im Netz auf Augenhöhe zu begegnen. Der Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag im September 2017 bedeutete für die Reaktionsstrategien der Wettbewerber eine neue Situation. Wie oben bereits gezeigt, haben sich die konkurrierenden Parteien rasch auf die Losung „Abgrenzen, ohne Auszugrenzen“ eingestellt. Sie profitieren auch von

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

269

den deutlich professioneller aufgestellten Akteuren. Dies gilt einerseits für den digitalen Bereich, insofern als beispielsweise. die Bundesministerien lange auf den diversen digitalen Kanälen erprobt sind, aber auch auf der parlamentarischen Bühne selbst, wo die anderen Parteien von der AfD ausgehenden Parlamentsdiskussionen teilweise ihre stärksten Rhetoriker entgegensetzen.12 Was aber folgt aus der Präsenz der AfD im Deutschen Bundestag für deren Oppositionsstrategie? Inwiefern verändert dies die strategischen Überlegungen der AfD selbst? Bezogen auf die verfügbaren Ressourcen war der Einzug in den Deutschen Bundestag für die AfD ein entscheidender Schritt. Mit den öffentlichen Finanzmitteln, die den AfD-Fraktionen in den Ländern zur Durchführung ihrer parlamentarischen Arbeit zugewiesen werden, verfügten diese auch bisher schon über Gelder für Personal, Sachmittel und für Öffentlichkeitsarbeit. Im Jahr 2017 hatten die AfD-Fraktionen insgesamt eine Summe von rund 12 Mio. Euro aus öffentlichen Geldern zur Verfügung (Schroeder et al. 2017, S. 31 f.). Allein die Bundestagsfraktion erhält mit Grundbetrag, Oppositions- und Abgeordnetenaufschlag nun ca. 16 Mio. Euro; dazu kommen Gelder aus der Parteienfinanzierung sowie ca. 75 Mio. Euro für eine parteinahe Stiftung.13 Dazu passte auch die Ankündigung, einen sogenannten Newsroom einzurichten. Dabei geht es um ein PR-Konzept, das der klassischen Pressestelle eine multimediale Redaktionslogik (Themenverantwortliche kümmern sich um Inhalte, die sie kanalübergreifend erstellen. Medienverantwortliche haben das nötige MedienKnow-how und sorgen dafür, dass die Inhalte kanalspezifisch ausgeliefert werden) hinzufügt. So sollen eigene Inhalte produziert und mithilfe einer besseren Zielgruppenorientierung agiler und fachlich stärker an die Unterstützer vermittelt

12So

etwa Cem Özdemir und Wolfgang Kubicki im Februar 2018 zum Antrag der AfD, die Bundesregierung solle zwei Texte des Journalisten Deniz Yücel missbilligen; beide Reden erreichten danach viral ein Vielfaches dessen, was durchschnittliche Bundestagsreden an Zuschauern und Aufmerksamkeit generieren und konnten so der AfD-Strategie, das Parlament als Bühne in die sozialen Medien zu verlängern, etwas entgegensetzen. Selbstverständlich gilt aber auch hier: Während die Reden eine Sichtbarkeit der Konfrontation erzeugen, kommen sie in den rechten Echokammern nicht an. Dort hat die AfD eine inhaltliche Exklusivität, wodurch die diskursive Spaltung weiterwächst. 13Zu den Finanzmitteln der Fraktion vgl. Peters (2017); zur Stiftung vgl. Pittelkow und Riedel (2018).

270

W. Schroeder et al.

werden. Die AfD setzt also im Gegensatz zu den ‚großen‘ Parteien, die in der Fläche präsent sein wollen, ihre finanziellen Mittel im Sinne einer Zentralisierung ein.14 Hinsichtlich der strategischen Implikationen soll der Blick nochmals auf die strukturellen Bipolaritäten der Partei geworfen werden. Mit der komplexen, sich mehrfach brechenden Struktur zwischen der AfD als Partei, der AfD als parlamentarischer Opposition und der AfD-Anhänger- und -Wählerschaft sowie den unterschiedlichen Orientierungen der Flügel und Landesverbände in der AfD gehen für sie Risiken einher, die sie auch heute schon von innen herausfordern und die sich in der Zukunft verstärken könnten. Betrachtet man nur die Spannungen zwischen Partei und ‚Bewegung‘, so fällt auf und wird von ­AfD-Abgeordneten auch so angesprochen, dass der parlamentarischen Etablierung eine zentrale Problemstellung innewohnt. Der Außendruck der Anhängerschaft, eine Etablierung zu verhindern, wächst und wirkt insofern eher in Richtung einer vorauseilenden Radikalisierung im Parlament. Derartige Spannungen treiben die beiden Pole Parlaments- und ‚Bewegungsorientierte‘ noch weiter auseinander. Gleichzeitig gehören diese divergenten Pole zu den zentralen Erfolgsfaktoren der Partei. Denn erst diese ermöglichen breitere Wählerkoalitionen, indem sie der Anhängerschaft die je eigene Unzufriedenheitsprojektion erlauben. Dieses Binnenspannungsfeld zeichnet andererseits die Arbeit der Oppositionsfraktionen in den Parlamenten aus und stellt eine der großen Herausforderungen für die Fraktionsvorsitzenden in ihrer Stabilisierungsfunktion dar. Das strategische Dilemma bleibt: Die Auflösung der Dichotomie gefährdet den Erfolg, die Beibehaltung ist mit Blick auf die Binnenspannung enorm schwierig einzuhegen. Die AfD insgesamt und insbesondere das Zusammenspiel der einzelnen Landtagsfraktionen sind in diesem Sinne ein hochsensibles Konstrukt, das eines arbeitsfähigen strategischen Zentrums innerhalb der Bundesländer und zwischen den Bundesländern bedürfte (Raschke und Tils 2007, S. 168). Mit Blick auf die Bundestagswahlen 2017 und den damit einhergehenden Parlamentseinzug auf Bundesebene können hier erste Weiterentwicklungen konstatiert werden. Einerseits bietet die Bundestagsfraktion einen Fixpunkt, der der heterogenen Landschaft der AfD-Landtagsfraktionen übergeordnet ist und so eine

14Bei

den verschiedenen Landtagsfraktionen zeigten sich diesbezüglich noch große Differenzen: In den westdeutschen Fraktionen (vor allem Rheinland-Pfalz) werden die personellen Ressourcen häufiger als im Osten in den Landtagsfraktionen zentralisiert; Wahlkreisbüros sind nicht so verbreitet. Dagegen verstehen sich die ostdeutschen Fraktionen als in der Fläche verankert; sie sind stolz auf ihre Präsenz in den Wahlkreisen und auf ihre zahlreichen Bürgerbüros.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

271

strategische Zentrierung, insbesondere in der Person des ­Co-Fraktionsvorsitzenden Alexander Gauland, erlaubt. Andererseits ist der parlamentarisch orientierte Flügel der Partei spätestens seit dem Parteiaustritt von Frauke Petry direkt nach der Bundestagswahl, eigentlich aber bereits seit der gescheiterten Konfrontation mit den ‚Bewegungsorientierten‘ auf dem Kölner Bundesparteitag im April 2017, stark geschwächt.15 Für die AfD selbst bleibt abzuwarten, ob Differenzierung und Uneinheitlichkeit bis zum innerparteilichen Konflikt ein Erfolgsrezept bleiben oder ob sich die Radikalisierung in Form eines starken ‚Bewegungs‘- und eines geschwächten parlamentsorientierten Teils fortsetzen wird. Die Aufgabe dieser bipolaren Struktur nähme das Risiko elektoraler Abwendung in Kauf. Noch machen diejenigen mit Anti-Establishment- also ‚Gegen die da oben‘-Orientierungen das maßgebliche Mobilisierungspotenzial der Partei aus. Derzeit ist nicht absehbar, dass innerhalb der AfD ein Prozess der Einhegung und Disziplinierung stattfindet. Die Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Polen ist nicht abgeschlossen. Anders als bei den Grünen, die sich durch den Parlamentarismus de-radikalisierten, könnte bei der AfD der Druck von außen, den entgegengesetzten Prozess befördern. In der gegenwärtigen Oppositionsrolle ist nicht erkennbar, dass es durch die parlamentarische Präsenz zu einer Etablierung und Normalisierung kommt. Vielmehr ist beobachtbar, dass die ihr auf diese Weise zur Verfügung gestellten Mittel dazu beitragen, dass ihre Rolle als Kraft des Anti-Establishments befördert wird. So ist auch nicht zu erwarten, dass der bewegungsorientierte Teil der AfD geschwächt oder gar an den Rand gedrängt wird. In der derzeitigen Formierungsphase der Partei braucht sie beide Flügel. Die Zukunft der Partei bleibt damit offen.

Literatur AfD-Bundesvorstand. (2016). AfD-Manifest 2017. Die Strategie der AfD für das Wahljahr 2017, Strategiepapier vom 22. Dezember 2016. Bock, M. (2016). AfD sorgt für Eklat. Volksstimme. http://www.volksstimme.de/sachsenanhalt/landtag-afd-sorgt-fuer-eklat. Zugegriffen: 31. Mai 2017.

15Deutlich erkennbar war diese Schwächung beim Bundesparteitag im Dezember 2017 als der Berliner Fraktionsvorsitzende Georg Pazderski sich bei der Wahl zum Co-Bundessprecher neben Jörg Meuthen nicht gegen die vorher wenig bekannte Flügel-Kandidatin Doris von ­Sayn-Wittgenstein durchsetzen konnte. Erst im Anschluss beantragte Gauland eine Wiederöffnung der Kandidatenliste, stellte sich selbst zur Wahl und wurde als Kompromisskandidat gewählt.

272

W. Schroeder et al.

Boorstin, D. J. (1987). The image. A guide to pseudo-events in America. New York: Atheneum. Brunner, K., & Ebitsch, S. (2017). Von AfD bis Linkspartei – so politisch ist Facebook. Süddeutsche Zeitung. http://www.sueddeutsche.de/politik/politik-auf-facebook-rechteabschottung-ohne-filterblase-1.3470137. Zugegriffen: 24. Mai 2017. Cancik, P. (2017). „Effektive Opposition“ im Parlament – eine ausgefallene Debatte? Zeitschrift für Parlamentsfragen, 48, 516–534. CDU-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt. (2017). Abgrenzen statt Ausgrenzen, Positionspapier vom 18.01.2017. Jun, U. (2015). Medialisierung von Parteien – strategische Notwendigkeiten und ihre Wirkungen. In U. Jun & M. Jäckel (Hrsg.), Wandel und Kontinuität der politischen Kommunikation (S. 17–43). Opladen: Budrich. Mielke, S., & Reutter, W. (2012). Länderparlamentarismus in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme. In S. Mielke & W. Reutter (Hrsg.), Länderparlamentarismus in Deutschland (S. 23–65). Wiesbaden: Springer VS. Patzelt, W. J. (2006). Länderparlamentarismus. In H. Schneider & H.-G. Wehling (Hrsg.), Landespolitik in Deutschland. Grundlagen, Strukturen, Arbeitsfelder (S. 108–129). Wiesbaden: Springer VS. Peters, B. (2017). So mächtig ist die AfD im Bundestag. Süddeutsche Zeitung. http:// www.sueddeutsche.de/politik/afd-so-maechtig-ist-die-afd-im-bundestag-1.3684766. Zugegriffen: 10. Mai 2018) Pfalz-Express (2016). Zu wenige AfD-Sitze in den Ausschüssen: Gutachter von Arnim sieht Verfassungswidrigkeit bestätigt. https://www.pfalz-express.de/zu-wenige-afdsitze-in-den-ausschuessen-gutachter-von-arnim-sieht-verfassungswidrigkeit-bestaetigt/. Zugegriffen: 14. Aug. 2018. Pittelkow, S., & Riedel, K. (2018). Vom Stallgeruch der AfD. Süddeutsche Zeitung. https:// www.sueddeutsche.de/politik/politische-bildung-vom-stallgeruch-der-afd-1.3899285. Zugegriffen: 10. Mai 2018. Raschke, J., & Tils, R. (2007). Politische Strategie. Eine Grundlegung. Wiesbaden: Springer VS. Rucht, D. (1987). Zum Verhältnis von sozialen Bewegungen und politischen Parteien. Journal für angewandte Sozialforschung, 27, 297–313. Rütters, P. (2017). „Parlamentsfähig“? – Die Abgeordneten der AfD in den Landtagen und Bürgerschaften. Zeitschrift für Parlamentsfragen, 48, 3–24. Sarcinelli, U. (2011). Politische Kommunikation in Deutschland. Medien und Politikvermittlung im demokratischen System. Wiesbaden: Springer VS. Sartori, G. (1976). Parties and party systems: A framework for analysis. Cambridge: Cambridge University Press. Schmidt, M. G. (2004). Wörterbuch zur Politik. Stuttgart: Kröner. Schumann, J. (2016). AfD-Mann Willi Mittelstädt nun doch zum Vize-Präsidenten gewählt. Mitteldeutsche Zeitung. http://www.mz-web.de/sachsen-anhalt/landespolitik/landtagafdmann-willi-mittelstaedt-nun-doch-zum-vize-praesidenten-gewaehlt-24830674. Zugegriffen: 31. Mai 2017. Schroeder, W., Weßels, B., Neusser, C. & Berzel, A. (2017). Parlamentarische Praxis der AfD in deutschen Landesparlamenten. WZB-Discussion-Paper.

Die AfD in den Landtagen: Bipolarität …

273

Steffani, W. (1991). Regierungsmehrheit und Opposition. In W. Steffani (Hrsg.), Regierungsmehrheit und Opposition in den Staaten der EG (S. 11–35). Opladen: Leske + Budrich. Tagesspiegel (2017). Höcke-Rede im Wortlaut. „Gemütszustand eines total besiegten Volkes“. https://www.tagesspiegel.de/politik/hoecke-rede-im-wortlaut-diese-regierungist-zu-einem-regime-mutiert/19273518-2.html. Zugegriffen: 14. Aug. 2018.

Kritik, Kontrolle, Alternative? Die AfD als parlamentarische Opposition in den Landtagen von Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Alexander Hensel 1 Einleitung Die Alternative für Deutschland (AfD) hält die Bundesrepublik in Atem. Die erst 2013 gegründete Partei entwickelt sich politisch, organisatorisch und elektoral so hochdynamisch wie zuletzt die Grünen in den 1980er Jahren. Nachdem sich die AfD in ihrer Frühphase vor allem als euroskeptische Alternative zur Bundesregierung profiliert hatte, transformierte sie sich infolge ihrer Parteispaltung im Sommer 2015 in eine zusehends radikale rechtspopulistische Kraft. Als solche erzeugte sie im Zuge der Flüchtlingskrise ab Herbst desselben Jahres eine erhebliche politische Mobilisierung. Bei den folgenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt 2016 erzielte sie mit nationalistischen, fremdenfeindlichen und teils gar völkischen Positionen bemerkenswerte Erfolge. Inzwischen ist es der AfD gelungen, in alle sechzehn Landesparlamente einzuziehen. Hier bildet sie zum Teil die zweit- bzw. drittgrößte Fraktion und reklamiert – wie mittlerweile auch im Bundestag – die Oppositionsführerschaft. Der rasante Aufstieg der AfD zur neuen parlamentarischen Akteurin von erheblicher Stärke eröffnet für die politikwissenschaftliche Parteien- als auch für die Parlamentsforschung ein bislang größtenteils unbearbeitetes Forschungsfeld. Verbessert der Einzug in Parlamente die Ressourcenausstattung und politischen

A. Hensel (*)  Institut für Demokratieforschung, Georg-August-Universität, Göttingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_12

275

276

A. Hensel

Handlungsmöglichkeiten neuer Parteien einerseits erheblich, bedeutet er andererseits enorme Herausforderungen.1 Als organisatorisch noch sehr junge Partei wird die AfD mit der parlamentarischen Logik konfrontiert, die sie zur Professionalisierung und Institutionalisierung zwingt. Zugleich wirft die breitflächige parlamentarische Präsenz der AfD eine Reihe von Fragen auf: Wie verändert sich die landespolitische Macht- und Koalitionstektonik durch die Erfolge der AfD? Wie reagieren die etablierten Parteien auf die parlamentarischen Neulinge und wie schlagen sich diese im parlamentarischen Alltag? Wie entwickeln sich die AfD-Fraktionen und deren politische Arbeit? Im Kontext des vorliegenden Sammelbands stellt sich überdies die übergeordnete Frage, wie die AfD ihre parlamentarische Rolle überhaupt versteht und wie sie die oppositionellen Kernfunktionen von Kritik, Kontrolle und Alternative auszufüllen versucht.Während zur programmatischen, zur ideologischen oder zur elektoralen Entwicklung der AfD bereits eine Vielzahl politikwissenschaftlicher Publikationen vorliegt, ist die Parlamentarisierung der relativ jungen Partei bislang nur in Ansätzen untersucht worden. Der vorliegende Artikel wurde im April 2018 fertiggestellt. Spätere Entwicklungen der AfD-Fraktionen wurden in Überarbeitungen nur kursorisch einbezogen, danach erschienene wissenschaftliche Literatur nicht mehr berücksichtigt. Erste vergleichende Untersuchungen haben die ­ AfD-Abgeordneten in den Landtagen (Rütters 2017) und die parlamentarische Arbeit der AfD in den Landtagen (Schroeder et al. 2017) in den Blick genommen. Auch der vorliegende Artikel präsentiert Ergebnisse zur parlamentarischen Entwicklung der AfD auf Landesebene. Diese Erkenntnisse wurden im Zuge zweier vergleichender Studien zur AfD in Baden-Württemberg, ­Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt gewonnen, in denen zunächst die Landesparteien und Landtagswahlkämpfe 2016 (Hensel et al. 2016) und anschließend daran die parlamentarische Frühentwicklung der jeweiligen AfD-Fraktionen (Hensel et al. 2017) untersucht wurden.2 Auf dieser Basis sollen im vorliegenden Artikel, nach einer Skizze der Ausgangslage der AfD vor den drei Landtagswahlen, folgende Aspekte der parlamentarischen Entwicklung der AfD in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im ersten Jahr nach ihrem Parlamentseinzug beleuchtet werden: Erstens werden das soziale Profil und die politischen Vorerfahrungen der AfD-Abgeordneten 1Die

Herausforderungen der Parlamentarisierung für neue Parteien lässt sich an der Entwicklung der Grünen (vgl. Ismayr 1985; Poguntke 2001) oder der Piraten (vgl. Klecha und Hensel 2013; Koschmieder 2016) nachvollziehen. 2Den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Demokratieforschung sei an dieser Stelle für die produktive Zusammenarbeit in den verschiedenen Forschungsprojekten zum Thema herzlich gedankt.

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

277

sowie die interne Entwicklung der AfD-Fraktionen skizziert; zweitens wird die parlamentarische Arbeit der AfD-Fraktionen in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht untersucht; drittens wird das bislang erkennbare oppositionelle Selbstverständnis sowie die parlamentarische Interaktion der AfD in den jeweiligen drei Landtagen umrissen. Abschließend wird eine vorläufige Einordnung des Oppositionscharakters der AfD vorgenommen.

2 Die AfD auf Landesebene Betrachtet man die Ausgangslage der AfD in Baden-Württemberg, R ­ heinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, finden sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Ähnlich wie die Bundespartei insgesamt (vgl. Decker 2015, S. 117 ff.), gerieten auch die untersuchten drei Landesverbände im Zuge der Parteispaltung im Sommer 2015 zunächst in Turbulenzen (vgl. Hensel et al. 2016, S. 13 f., S. 24 f. u. S. 33 f.). Angesichts der nahenden Landtagswahlkämpfe führte die Abspaltung wirtschaftsliberaler Parteifunktionäre zu organisatorischen Problemen. Doch mit der Flüchtlingskrise öffnete sich bald ein neues politisches Gelegenheitsfenster (vgl. Häusler 2016). Wie oftmals im Fall neuer Parteien bewies die AfD hier ein feines Sensorium für virulente politische Stimmungslagen. Auf die Polarisierung der asylund migrationspolitischen Debatte (vgl. Münkler und Münkler 2016) reagierte sie prompt und kompromisslos: Unter dem Motto „Asylchaos und Eurokrise stoppen“ lancierte sie eine als „Herbstoffensive“ bezeichnete bundesweite Protestkampagne, in der sie die von der Regierung getragene Asylpolitik und Willkommenskultur scharf kritisierte und einen prononciert restriktiven asylpolitischen Forderungskatalog präsentierte (vgl. Geiges 2018). Die zuvor dominante Grundsatzkritik eines primär ökonomisch argumentierenden „Wettbewerbspopulismus“ (Bebnowski 2015, S. 15) verwandelte sich in ein klassisch-rechtspopulistisches Profil, das die wüste Anklage des politischen Establishments eng mit kulturellen Argumentationsmustern der Fremden- und Islamfeindlichkeit und Nationalismus verband. Auch die Landtagswahlkämpfe in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt Anfang 2016 folgten diesem grundsätzlichen Muster. In zunehmend dramatischer Rhetorik warnte die AfD vor den Bedrohungsszenarien der „Masseneinwanderung“, des „Asylchaos“ und des „Politikversagens“ (Hensel 2016, S 42 f.). Unter dem Dach der populistischen Grundsatzkritik präsentierte die AfD in allen drei Ländern eine robuste rechtskonservative Kernagenda, in deren Zentrum drei Forderungen standen: erstens die Restauration der öffentlichen Sicherheit und Durchsetzung des Rechts, zweitens die Verteidigung klassischer gesellschaftlicher Ordnungsmuster – insbesondere in der Geschlechter- und Familienpolitik – sowie drittens die Stärkung tradierter

278

A. Hensel

gemeinschaftlicher Identitätsentwürfe wie Heimat, Kultur und Nation. Dabei zeichneten sich zwischen den drei Landesverbänden durchaus regionale Differenzen ab. Verantwortlich hierfür waren, neben den verschiedenen regionalen politischen Kulturen und Wählertraditionen, vor allem erhebliche Unterschiede in Organisationsgrad, Ressourcenausstattung und Parteikulturen der drei Landesverbände (vgl. Tab. 1). Der ressourcenstarke, politisch aber regional zerklüftete AfD-Landesverband in Baden-Württemberg etwa wählte andere Strategien und Schwerpunkte als der mitgliederschwache Landesverband in Sachsen-Anhalt, der jedoch auf erhebliche zivilgesellschaftliche Mobilisierungspotenziale zurückgreifen konnte. Sowohl in Baden-Württemberg als auch in Rheinland-Pfalz präsentierte sich die AfD geradezu stolz als rechtskonservative und moderat-bürgerliche Partei, die sich selbst als legitime Nachfolgerin einer ideologisch entkernten M ­ erkel-CDU wähnte. Entsprechend fielen die AfD-Wahlprogramme im Südwesten deutlich diverser und zurückhaltender aus, als zuvor in den ostdeutschen Landesverbänden. Auch nutzten die dortigen Landesverbände tendenziell dramaturgisch kontrollierbare Wahlkampfformate wie bspw. Vortragsabende und Bürgersprechstunden. Vor allem aber gelang es der AfD in beiden Ländern, die mediale Aufmerksamkeit auf die verhältnismäßig moderat und professionell erscheinenden Spitzenkandidaten zu lenken: In Baden-Württemberg kandidierte der von den Medien lange Zeit als reputierlich beschriebene Wirtschaftsprofessor und fünffache Vater Jörg Meuthen; in Rheinland-Pfalz der ebenso beherrscht wie verlässlich wirkende Berufssoldat Uwe Junge. Beide strahlten ein ausgeprägtes

Tab. 1   Mitglieder und Organisationsgrad der AfD während der Landtagswahlkämpfe 2016 (Stand: 28.01.2016) Landesverband

Mitglieder

Anteil an Gesamtpartei (nur Inland, in Prozent)

Organisationsgrad

Baden-Württemberg

2608

15

0,0342

Rheinland-Pfalz

993

6

0,0322

Sachsen-Anhalt

335

2

0,0168

Gesamtpartei (Inland)

17.857

Anmerkung: AfD-Mitglieder im Ausland sind nicht berücksichtigt. Dies gilt auch für die Berechnung der Mitgliederanteile der Landesverbände an der Gesamtpartei. Der Organisationsgrad ist berechnet als prozentualer Anteil der AfD-Mitglieder an Wahlberechtigten im Bundesland zum Zeitpunkt der letzten Landtagswahl Quelle: Eigene Berechnung auf Basis von Zahlen der AfD-Bundesgeschäftsstelle und der Landeswahlleiter

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

279

bürgerliches Selbstbewusstsein aus und konnten die in beiden Ländern vorhandenen radikal-rechten Kandidaten effektiv kaschieren. Gleichzeitig unterstrich ihr Profil die Positionierung der südwestdeutschen AfD als bürgerliche und eben nicht extremistische Kraft, was für die breite Wähleransprache in den Regionen sowie die Mobilisierung im Wahlkampf von hoher Bedeutung war (Hensel 2017). In Sachsen-Anhalt hingegen gab sich die AfD im Landtagswahlkampf 2016 deutlich offensiver und radikaler. Sie reüssierte als Protest- und Bewegungspartei mit nationalistischen Forderungen und völkischer Leiterzählung. Gänzlich unumwunden verknüpfte sie regionale demografische Strukturprobleme mit dem Szenario einer islamischen „Überfremdung“ und forderte unverhohlen den Schutz des deutschen Volkes, etwa durch Forderungen nach einer dezidiert national orientierten Familienpolitik oder der Vermittlung preußischer Tugenden in Bildung und Kultur. Im Gegensatz zum Südwesten waren die Kandidaten in Sachsen-Anhalt deutlich jünger, sozial weniger gut situiert und medial unerfahrener. Spitzenkandidat André Poggenburg geriet aufgrund radikaler Äußerungen und enger Kontakte zum thüringischen Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke wiederholt bundesweit in die Kritik. Im Wahlkampf vor Ort wurden derartige Anwürfe jedoch effektiv in eine populistische Elitenkritik überführt, mit regionalen Befindlichkeiten, individuellen Abstiegs- sowie kollektiven Abwertungserfahrungen verknüpft und so neutralisiert. Durch die persönliche Verankerung der Kandidaten vor Ort, Bündnisse mit zumeist gegen den Bau von Asylunterkünften gerichteten Bürgerinitiativen sowie die Unterstützung der ebenfalls rechtsnational orientierten ostdeutschen Nachbarlandesverbände gelangen der AfD in Sachsen-Anhalt erhebliche Mobilisierungserfolge, mittels derer sich die Organisationsschwäche des Landesverbands kompensieren ließ. Wie sich bereits in den letzten Wochen des Wahlkampfs angekündigt hatte, gerieten die Landtagswahlen vom 13. März 2016 zum elektoralen Paukenschlag (vgl. Tab. 2): Die AfD erzielte mit 15,1 % in Baden-Württemberg, 12,6 % in Rheinland-Pfalz und 24,3 % in Sachsen-Anhalt beeindruckende Ergebnisse (vgl. Niedermayer und Hofrichter 2016). Vor allem in Rheinland-Pfalz und ­Sachsen-Anhalt profitierte die AfD von einer im Gegensatz zur vorherigen Landtagswahl fast um zehn Prozent gestiegenen Wahlbeteiligung. Der Einbruch der AfD in traditionelle Wählersegmente – wie etwa ihre enorme Resonanz bei Arbeitern und Arbeitslosen, unter denen die Partei in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt zur jeweils stärksten Kraft avancierte – sowie der Gewinn einer Reihe von Direktmandaten bedeuteten für die parlamentarisch etablierten Parteien eine herbe Niederlage. Jenseits der ehemaligen Nichtwähler und der ehemaligen Wähler von Kleinstparteien, die zusammen etwa die Hälfte der

280

A. Hensel

Tab. 2   Ergebnisse der AfD bei den Landtagswahlen am 13. März 2016 Bundesland

Zweitstimmen

Stimmanteil (in %)

Direktmandate

Abgeordnete Abgeordnete Stärke Fraktion im März zu Beginn 2018 WP

Baden809.564 Württemberg

15,1

2

23

20

3. Kraft

RheinlandPfalz

268.628

12,6

0

14

14

3. Kraft

SachsenAnhalt

272.496

24,3

15

25

22

2. Kraft

Anmerkungen: Alle Angaben beziehen sich, wenn nicht anders ausgewiesen, auf die Situation zu Beginn der aktuellen Wahlperiode Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Zahlen der Landeswahlleiter sowie Rütters (2017)

­ fD-Wählerschaft stellten, war die politische Herkunft ihrer Anhänger divers, die A sowohl von CDU und SPD als auch von Linken und FDP zur AfD überliefen. Die Wahlergebnisse der AfD markierten zugleich eine herbe Zäsur für die politische und parlamentarische Machttektonik und die Koalitionsoptionen in den Ländern (vgl. Mielke 2017). In Baden-Württemberg bildete sich vor allem infolge des Absturzes der CDU eine grün-schwarze Koalition unter der Führung des grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (vgl. Gabriel und Kornelius 2016). Zugleich avancierte die AfD im Stuttgarter Landtag – knapp vor der auf 12,7 % abgestürzten SPD und der deutlich kleineren FDP/DVP-Fraktion – zur drittgrößten Fraktion und reklamierte die Oppositionsführerschaft für sich. In Rheinland-Pfalz blieben die Wahlergebnisse der beiden Volksparteien stabil, während vor allem die Grünen herbe Verluste hinnehmen mussten (vgl. Gothe 2016). Unter der Führung von Malu Dreyer bildete die SPD mit Grünen und FDP eine sogenannte „Ampelkoalition“. Die AfD rückte zwar zur drittstärksten Kraft auf, sah sich in der Opposition aber fortan mit einer mehr als doppelt so großen CDU-Fraktion konfrontiert. Besonders eruptiv fielen die Wahlergebnisse in Sachsen-Anhalt aus (vgl. Holtmann und Völkl 2016). Während die CDU mit einem Ergebnis von 29,8 % nur leicht an Stimmen einbüßte, verzeichneten SPD (−10,9 %) und LINKE (−7,4 %) starke Verluste. Die AfD hingegen erreichte mit 24,3 % ihr bis dato höchstes Wahlergebnis auf Landesebene überhaupt, das erst von der sächsischen AfD bei den Landtagswahlen im September 2019 überboten wurde. Dabei stachen vor allem ihre Hochburgen im südlichen Landesteil hervor, wo die AfD vielfach über 30 % der Stimmen sowie das Gros ihrer insgesamt 15 Direktmandate eroberte. Während sich unter der Führung von Reiner Haseloff mit der sogenannten „Kenia-Koalition“ ein Regierungsbündnis aus

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

281

CDU, SPD und Grünen bildete, beanspruchte die AfD-Fraktion, die mit ihren 25 Abgeordneten deutlich größer ist als die 16 Abgeordnete zählende Fraktion der Linkspartei, auch hier die Oppositionsführerschaft.

3 Abgeordnetenprofil und Fraktionsentwicklung Nach ihren herausragenden Wahlergebnissen zog die AfD mit einer erheblichen Zahl von Abgeordneten in die Landesparlamente in Stuttgart (23), Mainz (14) und Magdeburg (25) ein. Diese insgesamt 62 AfD-Politiker wurden, teilweise reichlich unverhofft in die Landespolitik katapultiert, in der sie mannigfache Herausforderungen erwarteten. Oben auf der Aufgabenliste stand zunächst der strukturelle Aufbau der Abgeordnetenbüros und Fraktionen, wobei die Neu-Parlamentarier weithin auf ihre eigenen Ressourcen und Kompetenzen ­ zurückgeworfen waren, hatten sich ihre Landesverbände nach den konfrontativen Wahlkämpfen doch politisch verausgabt und waren angesichts des Wechsels vieler zentraler Funktionäre ins Parlament personell ausgezehrt. Umso interessanter erscheinen vor diesem Hintergrund die sozialen Charakteristika und politischen Vorerfahrungen der neuen AfD-Abgeordneten sowie die von ihnen getragene interne Fraktionsentwicklung.

3.1 Soziales Profil und politische Vorerfahrungen der AfD-Abgeordneten Im Sozialprofil der AfD-Abgeordneten ist zunächst der geringe Anteil von Frauen auffällig, der in allen untersuchten Bundesländern deutlich unterhalb der Frauenquote sämtlicher im Landtag vertretener Parteien liegt (vgl. Tab. 3). Beim Alter zeigen sich leichte Differenzen zwischen den AfD-Fraktionen. Die ­AfD-Mandatsträger in den beiden westdeutschen Landtagen sind deutlich älter als ihre Kollegen in Sachsen-Anhalt. In Baden-Württemberg gehört die Mehrheit der Abgeordneten (52,2 %) zur Altersgruppe der 50–65-Jährigen, in RheinlandPfalz ist der Großteil (64,3 %) zwischen 45–60-Jahren alt. In Sachsen-Anhalt hingegen sind neben der Altersgruppe der 40–55-Jährigen (11 Abgeordnete, 44 %) auch die 20–35-Jährigen (9 Abgeordnete, 28 %) stark vertreten (Rütters 2017, S. 9). Auch das formale Bildungsniveau fällt im Westen merklich höher aus. Dies gilt sowohl für die Schulbildung – über das Abitur verfügen in B ­ aden-Württemberg 73,9 % und in Rheinland-Pfalz 64,4 % der AfD-Abgeordneten, in Sachsen-Anhalt

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A. Hensel

Tab. 3   Geschlechterstruktur der AfD-Abgeordneten Landtag

AfDAbgeordnete

weibliche AfDAbgeordnete

Frauenanteil in AfD-Fraktionen (in %)

Frauenanteil im Landtag (in %)

BadenWürttemberg

23

3

13

23,8

Rheinland-Pfalz 14

3

21,4

35,6

Sachsen-Anhalt

2

8

26,4

25

Anmerkung: Alle Angaben beziehen sich auf die Situation zu Beginn der Wahlperiode Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten von Rütters (2017)

dagegen nur 44 % – als auch für die Hochschulabschlüsse, die im Westen mehrheitlich an Universitäten, im Osten an Fachhochschulen erlangt wurden (Rütters 2017, S. 12). In Baden-Württemberg sind überdies gar neun der 23 Abgeordneten promoviert. Der berufliche Hintergrund der AfD-Abgeordneten ist landesübergreifend divers (Rütters 2017, S. 16). Beamte finden sich unter ihnen kaum. In Baden-Württemberg ist die Berufsgruppe der Selbstständigen und Unternehmer mit jeweils rund einem Drittel der Abgeordneten relativ präsent. In Rheinland-Pfalz sind bürgerliche Berufe wie Lehrer, Ärzte oder Angestellte in Wirtschafts- und Dienstleistungsunternehmen stark verbreitet. In Sachsen-Anhalt sind die Berufsgruppen der Angestellten und Selbstständigen etwa gleich stark vertreten. Bei einem Teil der Älteren finden sich hier, oft generationell durch die Wiedervereinigung bedingt, mehrfach gebrochene Berufsbiografien, während sich unter den Abgeordneten mittleren Alters zum Teil unstete Berufskarrieren als Kleinunternehmer finden. Der erste Fraktionsvorsitzende Poggenburg ist dafür ein prominentes Beispiel. Insgesamt dominiert in den AfD-Fraktionen im Südwesten somit ein älteres, gesellschaftlich gut situiertes Bürgertum, das im Anschluss an erfolgreiche Berufskarrieren im Politischen neue Formen der Selbstwirksamkeit sucht und findet (vgl. Walter 2013, S. 302 ff.). Unter ihnen ist die politische Selbstbeschreibung der AfD als legitime Erbin der alten CDU sowie ein vehementer, teils aggressiver Widerstand gegenüber der Regierungspolitik Angela Merkels ausgeprägt. Das Profil der AfD-Abgeordneten in Sachsen-Anhalt ist diffuser: Hier finden sich neben strebsamen jüngeren Berufsaufsteigern von biografischen Rückschlägen enttäuschte Ältere, die im Politischen einen Neuanfang suchen. Viele der Mandatsträger in Sachsen-Anhalt sind mit den äußerst rechten Parteiplattformen der AfD, wie dem „Flügel“ und der „Patriotischen Plattform“, eng vernetzt, wobei André Poggenburg und der AfD-Abgeordnete Hans-Thomas Tillschneider zentrale Rollen spielen. Hinzu kommen mitunter offen gepflegte

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

283

Kontakte zur Identitären Bewegung, zu der vor allem über die regionale Gliederung der Parteijugendorganisation Junge Alternative Brücken geschlagen werden. Geeint werden die AfD-Parlamentarier in Ost und West – im Gegensatz zum typischen Profil des klassischen Landesparlamentariers (Patzelt 2006, S. 111 f.) – durch ihre eher geringen politischen Erfahrungen. Keiner der untersuchten 62 AfD-Abgeordneten verfügt über praktische parlamentarische Vorkenntnisse auf Bundes- oder Landesebene. Hinsichtlich der kommunalen Selbstverwaltung lassen sich jedoch Differenzen zwischen den Ländern erkennen. Während in Baden-Württemberg Erfahrungen auf dieser Ebene ebenfalls äußerst gering ausgeprägt sind, sind in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt dort jeweils rund 40 % der Abgeordneten bereits politisch tätig gewesen (Rütters 2017, S. 19) – allerdings größtenteils im Rahmen eines relativ kurzes Engagements für die AfD. Ausnahmen bilden z. B. Bernd Grimmer aus Baden-Württemberg, der über längere kommunalpolitische Vorerfahrungen bei den Freien Wählern verfügt, sowie Robert Farle in Sachsen-Anhalt, der fast zwanzig Jahre lang die DKP im Stadtrat Gladbeck in Nordrhein-Westfahlen vertrat. Auch die parteipolitischen Vorerfahrungen der AfD-Abgeordneten sind begrenzt, variieren aber ebenfalls regional. In Baden-Württemberg waren nur wenige AfD-Abgeordneten zuvor Mitglieder in anderen Parteien. Eine der Ausnahmen stellt der vormals in der CDU aktive Rainer Balzer dar. In ­Rheinland-Pfalz hingegen verfügt etwa die Hälfte der AfD-Abgeordneten über eine Parteivergangenheit – zumeist in der CDU. Prototypisch lässt sich der Fraktionsvorsitzende Uwe Junge anführen, der nach langjähriger CDU-Mitgliedschaft zunächst zur islamfeindlichen Kleinpartei Die Freiheit und später zur AfD wechselte. In Sachsen-Anhalt war etwa ein Drittel der AfD-Abgeordneten zuvor Mitglied in anderen Parteien, wobei das Spektrum hier unterschiedliche politische Lager umfasst. Vorangegangenes AfD-internes Engagement ist, nicht zuletzt aufgrund der erst kurzen Existenz und hohen Entwicklungsdynamik der Partei, in allen Ländern begrenzt. Nur eine Minderheit der Abgeordneten hatte zuvor eine höhere Position in den AfD-Landesverbänden inne. Die auf dieser Ebene erfahrenen Funktionäre übernahmen allerdings als Abgeordnete größtenteils Führungsaufgaben in den Fraktionen.

3.2 Interner Aufbau und Entwicklung der Fraktionen Mit dem Einzug in die Landesparlamente standen die AfD-Abgeordneten vor der Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit und unter skeptischer Beobachtung

284

A. Hensel

von Medien, Öffentlichkeit und der eigenen Parteikollegen funktionsfähige Organisations- und Arbeitsstrukturen aufzubauen. Überdies besetzten die ­AfD-Abgeordneten die ihren Fraktionen zufallenden parlamentarischen Ämter und entsandten Mitglieder in die parlamentarischen Gremien.3 Der interne Fraktionsaufbau wurde zunächst vor allem von AfD-Abgeordneten übernommen, die bereits in den Landesverbänden bzw. in der Wahlkampforganisation zentrale Funktionen erfüllt hatten, was eine gewisse Kontinuität der politischen Führung zwischen Partei und Parlament gewährleistete. Überdies wurden die Fraktionsvorsitze von den vormaligen Spitzenkandidaten Meuthen, Junge und Poggenburg übernommen, die gleichzeitig als Landesvorsitzende amtierten. Die weiteren Vorstandsposten in der Fraktion wurden entlang der – regional mehr oder minder ausgeprägten – landesparteilichen Lagertektonik zwischen Moderaten und Radikalen verteilt. In Baden-Württemberg gestaltete sich der Aufbauprozess insgesamt etwas diffuser, da sich die personelle Zusammensetzung der Fraktion aufgrund des baden-württembergischen Wahlrechts, das ohne Landeslisten auskommt, erst mit den konkreten Wahlkreisergebnissen klärte. In verschiedenen Bundesländern profitierte die AfD zwar von den Organisationserfahrungen bereits existierender AfD-Fraktionen in anderen Landtagen, mit denen im Vorfeld ein Wissens- und Kompetenztransfer organisiert wurde. Ein zentrales Problem stellte in allen Fraktionen allerdings die Rekrutierung und dauerhafte Gewinnung von kompetentem Personal dar. Aufgrund interner Konflikte verließen Teile der Angestellten die Fraktionen nach kurzer Zeit bereits wieder oder nutzte die vielfältigen innerparteilichen Karriereoptionen, die sich im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 eröffneten. Auf diese Weise entstanden auch längerfristige Vakanzen in der Besetzung von Funktionen innerhalb der Landtagsfraktionen. Auch der Aufbau von Wahlkreisbüros wurde vielfach hintenangestellt. Zugleich lassen sich deutliche Unterschiede in der Entwicklung und Stabilität der Fraktionen ausmachen. Die mit 14 Parlamentariern relativ kleine AfD-Fraktion Rheinland-Pfalz erwies sich im Untersuchungszeitraum als vergleichsweise stabil. Ausschlaggebend hierfür waren der strukturierte Organisations- und Führungsstil des ehemaligen Berufssoldaten Uwe Junge sowie seine weithin unangefochtene Stellung im Landesverband. Diese wiederum basierte einerseits darauf, dass interne Konflikte des Landesverbands bereits im Zuge der Spaltung der Gesamtpartei ausgefochten und befriedet worden waren (vgl. Hensel et al. 2016, S. 25); andererseits bemühte sich die Fraktionsspitze 3Hierbei

zeigte sich, dass nicht alle AfD-Abgeordneten ihren neuen Aufgaben gewachsen waren. In Sachsen-Anhalt etwa zog sich der zum Landtagsvizepräsidenten gewählte Daniel Rausch bereits nach der ersten Sitzungsleitung von seinem Amt zurück.

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

285

intensiver und umsichtiger als andernorts um die Moderation aufkommender Konflikte zwischen Landespartei und Landtagsfraktion – etwa durch die Ausrichtung regelmäßiger Landeskonferenzen. Auf Betreiben von Fraktionschef Junge, der bei der Bundeswehr im Bereich der strategischen Kommunikation gearbeitet hatte, wurde überdies der Aufbau einer professionellen Öffentlichkeitsarbeit vorangetrieben. Zum hunderttägigen Bestehen der rheinland-pfälzischen AfD-Fraktion etwa wurde eine Reihe von Regionalveranstaltungen zum Zwecke der Vernetzung zwischen Partei, Fraktion und Öffentlichkeit organisiert. In den beiden fast doppelt so großen und auf personeller Ebene vorab weniger gut eingespielten Fraktionen in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg brachen hingegen bald heftige Konflikte aus. Im Baden-Württemberg verlief bereits der Fraktionsaufbau weniger geräuschlos. Zwar wurde Meuthen, der sowohl amtierender Bundes- als auch Landessprecher der AfD war, zum Fraktionsvorsitzenden gewählt; seine innerparteiliche und -fraktionelle Autorität war jedoch trotz des erfolgreichen Wahlergebnisses höchst fragil (vgl. Krohn 2016). Parallel zur konstituierenden Sitzung des Stuttgarter Landtags entbrannte ein folgenreicher Dissens. Im Zentrum standen antisemitische Positionen, die der AfD-Abgeordnete Wolfgang Gedeon in mehreren Publikationen vertreten hatte (Pfahl-Traughber 2016). Infolge heftiger Auseinandersetzungen zwischen moderaten und radikaleren ­AfD-Abgeordneten hierüber kam es im Sommer 2016 gar zur zwischenzeitlichen Spaltung der Fraktion. Nach zähen Verhandlungen und dem Rückzug Gedeons gelang im Oktober 2016 zwar die Wiedervereinigung der Fraktion unter abermaliger Führung Jörg Meuthens. Die radikaleren Abgeordneten, die während der Spaltung die Beantragung eines Untersuchungsausschusses zum Thema Linksextremismus vorangetrieben hatten,4 gewannen allerdings deutlich an interner Macht und forcierten in der zweiten Jahreshälfte 2016 einen merklich konfrontativeren Kurs der Fraktion im Stuttgarter Landtag. Auch in Sachsen-Anhalt entzündeten sich kurz nach dem Einzug in den Landtag interne Konflikte um Führung und Strategie der Fraktion. Dabei standen sich ein inhaltlich und strategisch radikal orientiertes Lager unter der Führung Poggenburgs sowie ein moderateres,

4Dabei

nutzten die AfD-Abgeordneten eine 1992 zur Stärkung der Opposition eingeführte Regelung, welche die Beantragung eines Untersuchungsausschusses durch zwei Fraktionen auch dann erlaubt, wenn deren Abgeordnete weniger als ein Viertel der Abgeordneten des Landtags stellen. Da diese Regelung offen ließ, ob die Fraktionen einer oder verschiedenen Parteien angehören müssen, konnte die in zwei Fraktionen gespaltene AfD BadenWürttemberg im Spätsommer 2016 von ihr Gebrauch machen, bevor die Regelung vom Landtag später abgeschafft wurde (Ruf 2016; Soldt 2016).

286

A. Hensel

kommunal- und realpolitisch orientiertes Lager um den parlamentarischen Geschäftsführer Daniel Roi gegenüber. Im Verlauf dieses Konflikts, der sich mit immer neuen Eskalationen über den gesamten Untersuchungszeitraum zog und sowohl innerhalb der Fraktion als auch innerhalb der Landespartei ausgefochten wurde, konnte sich der Fraktionsvorsitzende schließlich nur mit äußerster politischer Härte und dank der Unterstützung des DKP-erfahrenen Robert Farle durchsetzen, der Roi später als parlamentarischer Geschäftsführer ersetzte. Die teils heftigen Konflikte fügten dem öffentlichen Bild der AfD-Fraktionen erheblichen Schaden zu. Das mediale Interesse an den teils bis weit in die Privatsphäre der Abgeordneten reichenden Auseinandersetzungen und Skandalen verdeckte die politischen Initiativen der Parlamentsneulinge und den AfD-Fraktionen wurde Unfähigkeit und Selbstfixierung vorgeworfen. Auch die politischen Führungsfiguren erlitten schweren Schaden. Während Poggenburg seinen Führungsanspruch in Fraktion und Landespartei vorerst noch durchsetzen konnte, zahlte Meuthen den Tribut des internen Macht- und Autoritätsverlusts.5 Auch personell hinterließen die Konflikte deutliche Flurschäden. Inhaltlich und formal zum Teil bereits eingearbeitete Abgeordnete verloren, wie bspw. die politischen Geschäftsführer Daniel Roi (Sachsen-Anhalt) und Bernd Grimmer (BadenWürttemberg), ihre Funktionen. Zudem verließ eine Reihe von Abgeordneten mitsamt ihren Mandaten die Fraktionen (vgl. Tab. 2): In ­ Baden-Württemberg traten nach Wolfgang Gedeon auch die Mandatsträger Claudia Martin und Heinrich Fiechtner aus der Fraktion aus. In Sachsen-Anhalt nahmen die Abgeordneten Sarah Sauermann, Gottfried Backhaus und Jens Diedrichs nach heftigen Konflikten im Sommer 2017 Abschied von der AfD-Fraktion – letzterer in Richtung CDU-Fraktion im Magdeburger Landtag.

4 Parlamentarische Arbeit Durch ihre Präsenz in den Landtagen eröffnete sich der AfD eine Vielzahl politischer Handlungsmöglichkeiten. Jenseits neuer personeller, organisatorischer und finanzieller Ressourcen für die politische Arbeit konnten die AfD-Fraktionen

5Später

ergaben sich hier gravierende Veränderungen: Jörg Meuthen legte Ende 2017 sowohl sein Mandat als auch den Fraktionsvorsitz im Stuttgarter Landtag nieder und wechselte nach seiner Wiederwahl zum AfD-Bundesvorsitzenden als Nachrücker ins Europaparlament. André Poggenburg wurde Anfang 2018 im Zuge des Skandals um seine Rede zum politischen Aschermittwoch zum Rücktritt vom Fraktions- und Landesvorsitz gedrängt. Ende Januar 2019 gab er seinen Austritt aus der AfD und deren Fraktion im Magdeburger Landtag bekannt.

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

287

Tab. 4   Parlamentarische Aktivitäten der AfD-Fraktionen nach Initiativart Parlamentarische Initiative

Baden-Württemberg

Rheinland-Pfalz

Sachsen-Anhalt

Kleine Anfragen

343

264

237

Große Anfragen

4

0

1

Anträge

59

18

27

Aktuelle Debatten

5

7

5

Gesetzesentwürfe

2

4

1

Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum vom 01.05.2016 bis zum 31.01.2017 Quelle: Eigene Darstellung auf Basis der Daten aus den jeweiligen Landtagsdokumentationssystemen

mittels parlamentarischer Initiativen auch politisch-administrative Informationen von der jeweiligen Landesregierung einfordern und die politische Bühne des Landtags für ihre Oppositionsarbeit nutzen. Die parlamentarische Arbeit der AfD in den ersten neun Monaten im Parlament (1. Mai 2016–31. Januar 2017) wird im Folgenden sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht untersucht.

4.1 Nutzung parlamentarischer Instrumente Trotz interner Konflikte entwickelten alle drei AfD-Fraktionen rasch eine relativ hohe parlamentarische Aktivität (vgl. Tab. 4), die zumindest in quantitativer Hinsicht als Professionalisierung interpretiert werden kann. Dabei stieg, nach einer kurzen anfänglichen Orientierungsphase, vor allem die Nutzung des Instruments der Kleinen Anfrage rapide an. Ebenso erschlossen sich die AfD-Fraktionen sukzessive auch aufwendigere parlamentarische Instrumente wie Große Anfragen, Anträge und Aktuelle Debatten. Gesetzesinitiativen spielten im Untersuchungszeitraum im Umfang kaum eine Rolle. Im Vergleich der drei AfD-Fraktionen untereinander weist die AfD im Stuttgarter Landtag, trotz ihrer zwischenzeitlichen Spaltung, mit 343 Kleinen Anfragen und 59 Anträgen im Untersuchungszeitraum die höchste formale Aktivität auf.6 Es folgt die 14-köpfige AfD-Fraktion in ­ Rheinland-Pfalz mit

6Einbezogen

wurden die 22 AfD-Abgeordneten, die nach dem Rückzug Gedeons aus der Fraktion im Parlament verblieben waren. Die parlamentarischen Aktivitäten der zwischenzeitlich getrennten AfD-Fraktionen wurden dabei zusammengefasst.

288

A. Hensel

264 Kleinen Anfragen und 18 Anträgen vor der ursprünglich 25 Abgeordnete zählenden AfD-Fraktion in Sachsen-Anhalt mit 237 Kleinen Anfragen und 27 Anträgen. Berücksichtigt man die recht unterschiedliche Größe der AfDFraktionen, liegt die AfD-Fraktion in Rheinland-Pfalz mit durchschnittlich 19 Kleinen Anfragen pro Abgeordneten deutlich vor den AfD-Fraktionen in BadenWürttemberg (16) und Sachsen-Anhalt (9). Zugleich ist in mehreren Fraktionen eine besonders hohe Aktivität einzelner AfD-Abgeordneter festzustellen, die innerhalb ihrer Fraktionen eine Vorreiterfunktion einnahmen.

4.2 Themen Kleinen Anfragen Um einen ersten Aufschluss über die inhaltlichen Interessen und Orientierungen der AfD-Abgeordneten zu erhalten, wurden die insgesamt 844 von den ­AfD-Fraktionen im Untersuchungszeitraum gestellten Kleinen Anfragen genauer untersucht. Zu diesem Zweck wurden die Kleinen Anfragen über die jeweiligen Landtagsinformationssysteme erfasst, inhaltlich analysiert und jeweils einem Politikfeld zugeordnet (vgl. Tab. 5). Analog zur Wahlkampf-Agenda der AfD lässt sich dabei ein klarer innenpolitischer Schwerpunkt erkennen: In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist etwa jeweils ein Drittel, in Sachsen-Anhalt sind gar rund zwei Fünftel der Kleinen Anfragen diesem Ressort zuzuordnen. Jenseits der Innenpolitik verteilen sich die Kleinen Anfragen auf verschiedene Politikfelder, wobei die Gesundheitsund die Sozialpolitik eine herausgehobene Rolle spielen. Beispielsweise geht es um die regionale medizinische Versorgung (Stichworte: Ärztemangel, Krankenhausschließungen, Pflegenotstand, Rettungswesen), Sozialkosten, die Situation der Kinderbetreuung oder die Entwicklung der Armut. Hinzu kommen landesspezifische Besonderheiten: In Baden-Württemberg ist das Politikfeld Infrastruktur von größerer Bedeutung, im Vordergrund stehen die Themen Straßenbau und -sanierung. In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz sind hingegen die Bildungs- und die Finanzpolitik von höherer Relevanz, wobei sich auch weitgespannte inhaltliche Bezüge, etwa zwischen dem Landeshaushalt und der europäischen Finanzpolitik oder zwischen der Schulsituation, speziell der Lehrerversorgung, und der Bologna-Reform, finden lassen. Die Analyse der Kleinen Anfragen der AfD zeigt im Vergleich zur Wahlkampf-Agenda der Partei eine Verbreiterung und Vertiefung der thematischen Interessen und Orientierungen. Zudem wird auch jenseits der Innenpolitik eine Verknüpfung der asyl- und

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

289

Tab. 5   Kleine Anfragen der AfD-Fraktionen nach Politikfeldern Politikfeld

Baden-Württemberg

Rheinland-Pfalz

N

%

N

%

N

%

Inneres

118

34

88

33

99

42

Gesundheit & Soziales

64

19

41

16

22

9

Infrastruktur

42

12

18

7

16

7

Umwelt

27

8

14

5

17

7

Wirtschaft & Arbeit

25

7

11

4

8

3

Bildung

23

7

45

17

31

13

Landwirtschaft

16

5

8

3

5

2

Finanzen

15

4

27

10

27

11

Justiz

10

3

12

Sonstiges

3

1

Insgesamt

343

100

264

Sachsen-Anhalt

5

11

5

0

1

0

100

237

100

Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum vom 01.05.2016 bis zum 31.01.2017 Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage von Daten aus den Landtagsdokumentationssystemen

migrationspolitischen Politikfelder deutlich. Darüber hinaus lassen sich in einer Vielzahl von Kleinen Anfragen, insbesondere in den Feldern Infrastruktur, Umwelt und Gesundheit und Soziales, dezidiert kommunalpolitische und lokale Bezüge feststellen. Sortiert man die erfassten Kleinen Anfragen zum Politikfeld Inneres weiter nach Subthemen, lassen sich überdies unterschiedliche regionale thematische Schwerpunkte erkennen (vgl. Tab. 6). Das Thema Innere Sicherheit ist vor allem in Baden-Württemberg ausgeprägt, wo sich 46 % aller Kleinen Anfragen der AfD im Politikfeld Inneres diesem Thema widmen. Hier geht es vor allem um Fragen nach der Kriminalitätsentwicklung, auch und insbesondere unter Migranten und Flüchtlingen. Eine weitere zentrale Rolle spielt – länderübergreifend – das Thema Asyl und Migration, das in Rheinland-Pfalz fast die Hälfte, in S ­ achsen-Anhalt rund ein Drittel der Kleinen Anfragen in diesem Politikfeld abdeckt. Im Fokus

290

A. Hensel

Tab. 6   Themenverteilung Kleine Anfragen in der Innenpolitik Thema

Baden-Württemberg

Rheinland-Pfalz

Sachsen-Anhalt

N

%

N

%

N

%

Innere Sicherheit 54

46

14

16

22

22

Asyl + Migration 41

35

40

45

30

30

Transparenz

13

11

8

9

6

6

Extremismus

10

8

15

17

21

21

Sonstiges

0

0

11

13

20

20

118

100

88

100

99

100

Anmerkung: Die Daten beziehen sich auf den Untersuchungszeitraum vom 01.05.2016 bis zum 31.01.2017 Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage von Daten aus den jeweiligen Landtagsdokumentationssystemen

stehen hier Fragen des Zuzugs und der Integration sowie damit verbundene Konflikte. In Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz ist vor allem das Thema politischer Extremismus von größerer Bedeutung. Das Thema Transparenz taucht in kleinerem Umfang in allen drei Ländern auf.

4.3 Inhaltliche Schwerpunkte der politischen Arbeit Neben ihrer quantitativen Kategorisierung wurde die parlamentarische Arbeit der AfD auch qualitativ analysiert, wobei auch die Großen Anfragen, Anträge und Gesetzesinitiativen sowie weitere politische Vorstöße der AfD-Fraktionen betrachtet wurden, um ihre Oppositionsstrategie im landespolitischen Kontext zu rekonstruieren. Dabei zeigte sich, dass die Fraktionen sich Themen mittels verschiedener, teils auch miteinander verbundener parlamentarischer Initiativen sukzessive erschließen. Eine anfänglich breite und oftmals diffus wirkende Informationsermittlung via Kleine Anfragen wurde bald durch koordinierte parlamentarische Initiativen und eine damit verkoppelte Öffentlichkeitsarbeit ergänzt. Anders als die zu diesem Zeitpunkt nur außerparlamentarisch agierende AfD-Bundespartei, betrieben die AfD-Landtagsfraktionen bereits ein systematisches Agenda-Setting auf Grundlage parlamentarischer Ressourcen. Dabei lassen sich vier Schwerpunkte erkennen, die im Folgenden detaillierter in den Blick genommen werden.

Kritik, Kontrolle, Alternative? …

291

4.3.1 Kernthemen: Asyl, Migration und Innere Sicherheit Erstens arbeiteten die AfD-Fraktionen am Agenda-Setting im Bereich ihrer im Wahlkampf profilierten Kernthemen, um sich in den jeweiligen Landesparlamenten als rechte Konkurrentin der CDU zu positionieren. Einerseits versuchten sie dabei, asyl- und migrationspolitische Debatten zu befeuern. Oftmals im Namen der Kommunen brachten sie eine Reihe von parlamentarischen Initiativen zur Akquise von „belastbaren Zahlen“ zur Registrierung und Verteilung von Flüchtlingen ein oder gingen Hinweisen auf administrative Unregelmäßigkeiten in diesem Bereich nach. Auch fragten die AfD-Fraktionen die durch den Zuzug von Flüchtlingen entstehenden Kosten ab, etwa für das Bildungs- Gesundheits- und Sozialsystem, um eine Diskussion über die verteilungspolitische Dimension der Flüchtlingskrise anzustoßen. Zugleich stilisierten sie Asylsuchende zum allgemeinen Sicherheitsrisiko. Die badenwürttembergische AfD-Fraktion etwa wies Kanzlerin Merkel eine „entscheidende Mitverantwortung“ am Mord einer Freiburger Studentin durch einen Flüchtling zu und instrumentalisierte den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt in ähnlicher Weise. Gleichzeitig thematisierten die AfD-Fraktionen den politischen Einfluss des Islamismus in Bund und Länder. Im Stuttgarter Landtag beantragte die AfD gar die Einsetzung einer Enquetekommission zum Thema Islamismus. Auch finden sich eine Reihe von Initiativen zu virulenten Themen im Bereich Integration: Sowohl im Magdeburger als auch im Stuttgarter Landtag lancierte die AfD Gesetzesinitiativen zum Verbot der Vollverschleierung, mit denen sie die Positionen der jeweiligen CDU-Fraktionen zu diesem Thema zu überbieten versuchte. Andererseits versuchten die AfD-Fraktionen sich im Bereich der inneren Sicherheit zu profilieren. Zahlreiche parlamentarische Initiativen beziehen sich auf die Entwicklung der Kriminalität, proklamieren eine steigende Gefahr durch islamistischen Terrorismus und kritisieren den Zustand der Justiz. Vor allem in Sachsen-Anhalt ventilierte die AfD-Fraktion Forderungen nach der Einführung härteren Strafen und konsequenteren juristischen Verurteilungen, womit sie klassische Law and Order-Positionen einnahm. Anknüpfend an berufliche Erfahrungen und Kontakte verschiedener AfD-Abgeordneter im Polizeidienst bzw. in Ordnungs- und Sicherheitsberufen (vgl. Schroeder et al. 2017, S. 18), inszenierten sich die Fraktionen überdies als Standesvertretung einer durch Einsparungen und politische Vorgaben überforderten Polizei. In Baden-Württemberg etwa betrieb die AfD intensive Vernetzungsarbeit mit Polizeiverwaltungen und brachte polizeispezifische Anliegen in die Haushaltsberatungen ein.

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4.3.2 „Anwalt der Bürger“ Zweitens finden sich parlamentarische Vorstöße, die zu der im Wahlkampf proklamierten Rolle der AfD als „Anwalt der Bürger“ passen. Immer wieder thematisierten die AfD-Abgeordneten in den Landesparlamenten lokale Konflikte. Im Kontext lokaler Bauprojekte unterstützten die ­AfD-Fraktionen lokale Proteste und Bürgerinitiativen. Die rheinland-pfälzischen ­AfD-Abgeordneten bspw. engagierten sich gegen den Moscheebau in Germersheim und Bad Kreuznach. Die baden-württembergische Fraktion positionierte sich hingegen – als Bewahrerin einer regionalen Natur- und Kulturlandschaft – gegen den Bau von Windkraftanlagen oder Umgehungsstraßen. In mehreren Fällen zeigte sich hierbei ein Ineinandergreifen lokaler Partei- und landespolitischer Fraktionsarbeit, etwa in Form der Teilnahme an oder der Mitorganisation von Demonstrationen oder Bürgerversammlungen. Auf diese Weise wurde die vorerst unterentwickelte Repräsentationsarbeit in den Wahlkreisen situativ zu kompensieren versucht. Insbesondere die AfD-Abgeordneten in Sachsen-Anhalt bemühten sich, ihre proklamierte Rolle als Anwälte der Region auszufüllen; sie veranstalteten regelmäßig größere und kleinere Demonstrationen und sogenannte Bürgerversammlungen bzw. -dialoge. Auf diese Weise führte die AfD-Fraktion in Magdeburg nicht nur ihre im Wahlkampf erprobten Mobilisierungs- und Vernetzungsformen weiter, sondern zeigte auch in gewisser Regelmäßigkeit Präsenz in geografisch abgelegenen und wenig bevölkerten Regionen, in denen zugleich kaum Aktivitäten anderer Parteien zu beobachten waren.

4.3.3 Landespolitische Skandale Drittens versuchten die AfD-Fraktionen, sich als schlagkräftige Oppositionskraft im Land zu profilieren, indem sie virulente landespolitische Konflikte aufgriffen und öffentlich skandalisierten. Während derartige Vorstöße in ­ Baden-Württemberg an der Stabilität und einem effektiven Krisenmanagement der grün-schwarzen Regierung scheiterten, erzielten die beiden anderen ­AfD-Fraktionen damit größere politische Resonanzen und Erfolge. In ­Rheinland-Pfalz etwa engagierte sich die AfD-Fraktion in der Aufklärung des Skandals um den gescheiterten Verkauf des Flughafens Hahn, der sich zwischenzeitlich zu einer Vertrauenskrise für Ministerpräsidentin Dreyer zu entwickeln drohte, scheiterte jedoch schließlich an der angestrebten Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Ebenso übte die dortige AfD-Fraktion Kritik an den Verhandlungen der Landesregierung über einen Staatsvertrag mit dem Dachverband der türkisch-islamischen Moscheegemeinden DITIB, die später von der Landesregierung abgebrochen wurden. In beiden Fällen agierte die AfD nicht allein,

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sondern parallel und in Konkurrenz zur Oppositionsfraktion der CDU und erzielte so öffentliche Aufmerksamkeit. Auch in Sachsen-Anhalt gelangen der ­AfD-Fraktion politische Vorstöße. Sowohl in der „Stendaler Briefwähleraffäre“ als auch dem Skandal um die „Beraterverträge“ brachte die Fraktion eine Reihe von parlamentarischen Initiativen ein7, die – im Kontext der politischen Gesamtdynamik – schließlich zum Rücktritt von Landtagspräsident Harry Güssau (CDU) und Wirtschaftsminister Jörg Felgner (SPD) beitrugen und von der AfD als Erfolg verbucht wurden. Der von den AfD-Initiativen ausgehende politische Druck führte auch zu heftigen internen Konflikten innerhalb der CDU-Fraktion, in deren Zuge sich abtrünnige Abgeordnete immer wieder mit der AfD solidarisierten – und damit zur zwischenzeitlichen Destabilisierung der amtierenden KeniaKoalition beitrugen.

4.3.4 Geschichtspolitik und Extremismus Viertens finden sich in der parlamentarischen Arbeit der AfD-Fraktionen immer wieder Vorstöße zur Grenzverschiebung im Bereich der politischen Kultur. So lancierten AfD-Parlamentarier einerseits geschichtspolitische Vorstöße zur Aufwertung der Nationalhistorie und zur nationalen Identität. In ­Rheinland-Pfalz etwa veranstaltete die AfD-Fraktion eine dramaturgisch minutiös geplante Großveranstaltung im symbolträchtigen Hambacher Schloss, auf der sie ihre bisherige Fraktionsarbeit rekapitulierte und diese in einer nationalpatriotischen Traditionslinie zu verorten suchte. In Baden-Württemberg agierte die AfDFraktion besonders provokativ und stellte im Rahmen der Haushaltsberatungen den Antrag, die finanziellen Mittel für die finanzielle Unterstützung der NSGedenkstätte im französischen Gurs zu streichen. In Sachsen-Anhalt brachte die AfD-Fraktion eine parlamentarische Initiative auf den Weg, die eine „Renaissance der deutschen Kultur“ in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen forderte. Andererseits findet sich eine Reihe von parlamentarischen Initiativen zum Thema politischer Extremismus. Hierzu gehört zum einen die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, den die AfD-Fraktionen mit dem Verweis auf das Ausmaß linksextremer Gewalttaten zu relativieren suchten. Auch wurde an einer Entdämonisierung radikaler rechter Strömungen im Parteivorfeld gearbeitet. In Baden-Württemberg etwa verteidigte eine AfD-Abgeordnete offensiv die

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ersten Fall ging es um die Manipulation von Briefwahlunterlagen im Kontext der Kommunalwahlen 2014, im zweiten Fall um die Umgehung des Landtags von SachsenAnhalt bei der Vergabe eines millionenschweren Beratungsvertrages seitens des Finanzministeriums im Jahr 2013.

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Identitäre Bewegung. Zum anderen fand, besonders in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, eine intensive Beschäftigung mit dem Thema Linksextremismus statt. Die AfD-Fraktionen arbeiteten hier daran, personelle und finanzielle Strukturen der (linken) Zivilgesellschaft sowie deren Verknüpfungen mit den etablierten Parteien aufzudecken. Auch versuchten sie Einfluss auf die politische Bildung zu nehmen. In Rheinland-Pfalz kritisierte die AfD beispielsweise einen unreflektierten und unausgewogenen Umgang mit den Themen Kommunismus und Extremismus, in Baden-Württemberg attackierte sie die Darstellung ihrer Partei in Publikationen der dortigen Landeszentrale für politische Bildung und forderte im Kontext der Haushaltsberatungen, deren finanzielle Ausstattung massiv zu kürzen.

5 Oppositionelles Selbstverständnis und parlamentarische Interaktion Der Einzug der AfD in die Landesparlamente stellte und stellt für die etablierten Fraktionen eine gravierende Herausforderung dar. Trotz unterschiedlicher Vorerfahrungen im parlamentarischen Umgang mit rechtspopulistischen Parteien – etwa mit den Republikanern im Südwesten – suchten parlamentarische und außerparlamentarische Akteure händeringend nach einem angemessenen Umgang mit den AfD-Fraktionen. Zunächst lag der Fokus auf Versuchen der Ausgrenzung. Zum einen wurden die AfD-Abgeordneten im parlamentarischen Alltag symbolisch exkludiert, etwa durch die Verweigerung des öffentlichen Handschlags; zum anderen wurden formale Bestrebungen vorgenommen, die parlamentarische Position der AfD zu begrenzen. In Rheinland-Pfalz etwa wurde über die Geschäftsordnung des Landtags die Ausschussgröße zu Ungunsten der AfD geändert, in Baden-Württemberg das Amt des Landtagsvizepräsidenten, das dem bisherigen informellen Reglement zufolge der AfD zugefallen wäre, abgeschafft. Schnell zeigte sich aber, dass derartige Ausschlussversuche ein ambivalentes mediales Echo erzeugten und der AfD überdies neue Ansatzpunkte für ihre Anti-Establishment-Kritik eröffneten. Infolgedessen verlegten die anderen Parlamentsfraktionen ihren Umgang mit der AfD primär auf das Feld der inhaltlichen Auseinandersetzung und Distanzierung, indem sie die in parlamentarischen Debatten mitunter höchst aggressiv auftretende AfD rhetorisch ins Visier nahmen. Vor allem in der Innen-, Asyl- und Migrationspolitik grenzten sich die etablierten Parlamentsparteien von den radikalen Positionen der AfD demonstrativ ab. Zugleich hielten die etablierten Parlamentsfraktionen die

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politische Kooperationsverweigerung gegenüber der AfD weithin aufrecht, was diese im parlamentarischen Alltag isolierte. Einzig in Sachsen-Anhalt zeigten sich im Untersuchungszeitraum größere Abweichungen von dieser Strategie aufseiten der CDU-Fraktion, deren Abgeordnete sich zum Teil mit den Vorstößen der AfD öffentlich solidarisierten. Für die AfD-Fraktionen waren die Rahmenbedingungen und Handlungsmöglichkeiten in den ersten neun Monaten ihrer Mitgliedschaft in den Landesparlamenten fraglos komplex: Eingezwängt zwischen der politischen Blockade der etablierten Fraktionen und heftigen internen Zerwürfnissen setzte die AfD-Abgeordneten ihre umfangreichen neuen Ressourcen weniger für ­kleinteilig-konstruktive Sacharbeit ein. Vielmehr übertrugen sie ihre in den Wahlkämpfen profilierte populistische Kritik auf die parlamentarische Sphäre, indem sie sowohl die Regierungs- als auch die Oppositionsfraktionen allesamt als Kartellparteien bezeichneten und heftig attackierten. Sich selbst stellten die AfDFraktionen dagegen als Stimme des Volkes bzw. Anwalt der Bürger im Parlament dar. Dabei wurden zwar immer wieder plakative Brüche mit parlamentarischen Regeln und Gepflogenheiten inszeniert – in Sachsen-Anhalt etwa verließ die AfD-Fraktion bereits in der konstituierenden Sitzung des Landtags den Plenarsaal, um sich einer Demonstration vor dem Landtag anzuschließen – eine offene Ablehnung des parlamentarisch-repräsentativen Systems zeigte sich in den offiziellen Positionierungen der AfD-Fraktionen jedoch kaum. Im Umgang der AfD mit den anderen Fraktionen lassen sich interessante Differenzen erkennen. Während die AfD den Fraktionen von SPD, FDP, Grünen und LINKEN tendenziell als unversöhnlicher politischer Gegner gegenübertrat, war der Umgang mit der CDU stärker durch ein politisches Konkurrenzverhältnis gekennzeichnet. Zugleich werden innerfraktionelle sowie regionale Unterschiede im oppositionellen Selbstverständnis und in der strategischen Zielperspektive sichtbar. Umstritten war vor allem die Frage der Offenheit für zukünftige parlamentarische Kooperationen; zudem ließ sich eine mehr oder weniger ausgeprägte Protest- und Bewegungsorientierung feststellen. Die AfD-Fraktion in Rheinland-Pfalz verfolgte relativ diszipliniert das Ziel, sich als harte und zugleich pragmatische Kritikerin gegenüber der Landesregierung zu positionieren. Unter dem Motto „hart in der Sache, aber moderat im Ton“, vertiefte sie ihre politische Gegnerschaft zur CDU-Fraktion, gab sich zugleich aber prinzipiell offen für zukünftige Regierungsbeteiligungen. Neben ihrer ausgeprägten Parteiund Öffentlichkeitsarbeit fokussierten sich die AfD-Abgeordneten im Mainzer Landtag stark auf ihre parlamentarische Arbeit. Ein ähnliches Profil zeigte sich

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zunächst in Baden-Württemberg, wo sich die AfD ebenfalls als Konkurrentin der CDU-Fraktion aufstellte. Aufgrund ihrer zwischenzeitlichen Spaltung und internen Konflikte konnte sie ihr Potenzial als größte Oppositionspartei im Stuttgarter Parlament jedoch nicht entfalten und vollzog im Zuge ihrer Wiedervereinigung eine Bewegung in Richtung einer radikal-oppositionellen Position, die etwaige parlamentarische Kooperationen vorerst ablehnte. Eine nennenswerte Bewegungsorientierung der AfD-Fraktion im Südwesten war indes kaum zu erkennen. In Sachsen-Anhalt hingegen hat sich in der AfD-Fraktion nach heftigen Konflikten das Selbstverständnis als Fundamentalopposition durchgesetzt. Allerdings wird darunter weniger eine grundsätzliche Systemkritik oder eine Verweigerung der Parlamentsarbeit verstanden. Vielmehr nutzte die AfD-Fraktion die parlamentarische Bühne sehr intensiv, um sich als landespolitische Oppositionskraft zu profilieren, wobei sie vor allem die CDU-Fraktion sowie die K ­ enia-Koalition wiederholt intern destabilisieren konnte. Zugleich wurde durch das Brechen parlamentarischer Regeln und die Unterstützung außerparlamentarischer Protestaktivitäten das Selbstverständnis als rechte Bewegungspartei fortgeführt.

6 Fazit: Die AfD als Oppositionspartei Die parlamentarische Entwicklung der AfD-Fraktionen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt war im Untersuchungszeitraum von hoher Dynamik, Brüchen und Wandel geprägt. Die politische Arbeit der AfD-Abgeordneten war zunächst von ihrer weitgehenden parlamentarischen Unerfahrenheit sowie, zumindest in Baden-Württemberg und S ­ achsen-Anhalt, von heftigen internen Konflikten zwischen moderateren und radikaleren Abgeordneten gekennzeichnet. Obwohl diese Kontroversen vorläufig zugunsten Letzterer entschieden wurden, lassen sich im Untersuchungszeitraum steigende parlamentarische Aktivitäten, strategische Lernprozesse sowie Professionalisierungs- und Institutionalisierungseffekte feststellen. Auch die Oppositionsstrategie, die von den parlamentarischen Neulingen zunächst entwickelt und ausgehandelt werden musste, befand sich in dieser Zeitspanne erkennbar im Wandel. Die Analyse der untersuchten drei Fraktionen offenbart, bei aller variierenden und richtungswechselnden Dynamik, dennoch erste Entwicklungstendenzen. Deutlich wird ein Oppositionsverständnis, das kaum kooperativ, wenig kompetitiv und vor allem konfrontativ orientiert ist. Mit Blick auf die

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Systemfunktionen der parlamentarischen Opposition in parlamentarischen Systemen, die gemeinhin zur Trias „Kritik, Kontrolle, Alternative“ verdichtet werden (Helms 2002, S. 24), liegt der Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit der AfD-Fraktionen klar in den ersten beiden Bereichen. So fällt die AfD bislang weniger durch eine kooperative, kleinteilig-konstruktive Sacharbeit auf, wie Schroeder et al. (Schroeder et al. 2017, S. 42) etwa für die zurückhaltende Ausschussarbeit der AfD darstellen. Vielmehr nutzen die AfD-Fraktionen ihre parlamentarischen Ressourcen und Handlungsoptionen vor allem, um sich auf der parlamentarischen Bühne mit scharfer Kritik zu profilieren, die sich sowohl in ihren parlamentarischen Anfragen und Positionierungen als auch in dem Bemühen um die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen zeigt. Damit vollzieht die AfD einen doppelten Bruch mit der hiesigen parlamentarischen Kultur. Einerseits kollidiert ihr konfrontatives Oppositionsverständnis mit der historisch tradierten und besonders auf Landesebene ausgeprägten Kultur der Arbeitsparlamente (Patzelt 2006, S. 119), in denen vor allem die „sachorientierte Arbeit in den Ausschüssen“ (Reutter 2004, S. 19) eine zentrale Rolle spielt. Andererseits bricht die AfD mit der historisch gewachsenen Vorstellung eines Dualismus von regierungstragenden und oppositionellen Fraktionen (vgl. Thränhardt 2003, S. 455). Anschließend an ihre Wahlkämpfe präsentiert die AfD vielmehr ein populistisches Oppositionsverständnis, das vor allem einen Antagonismus zwischen den etablierten „Kartellparteien“ auf der einen und der AfD als parlamentarische Stimme der Bürger auf der anderen Seite zu konstruieren sucht. Ebenso wie in den konkreten Politikvorschlägen der AfD zeigen sich hier zwar die für populistische Politikvorstellungen typischen antipluralistischen Züge (Müller 2016, S. 42 ff.); dies geht jedoch keineswegs mit einer Verweigerung der parlamentarischen Arbeit oder gar einer grundsätzlichen Ablehnung der Logik parlamentarischer Repräsentation einher. Vielmehr postuliert die AfD, das parlamentarische System durch ihre Präsenz als „echte Opposition“ restaurieren zu wollen. Das Oppositionsverständnis der AfD stellt für die etablierten parlamentarischen Akteure und den Alltag in den Landesparlamenten fraglos eine enorme politische Herausforderung und für einzelne Parlamentarier auch eine persönliche Belastung dar. Mit ihrer radikalen Kritik, aggressiven Rhetorik und ihren provokativen Grenzverletzungen der parlamentarischen Kultur erzeugt die AfD Empörung und Kritik. Dennoch weist ihr populistisches Oppositionsverständnis durchaus auf Mängel und Schwächen des (­Landes-)Parlamentarismus hin. Dies gilt sowohl für die eingeschränkten landesparlamentarischen Kompetenzen und Spielräume (vgl. Reutter 2004, S. 18 f.; Patzelt 2006, S. 109 ff.) als auch für die in der Ära

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Merkel durch wiederholte Große Koalitionen erschwerten Strukturbedingungen von Oppositionsarbeit allgemein (Korte 2014, S. 9 f.). Ähnlich wie im Kontext der parlamentarischen Frühentwicklung der Grünen präsentiert die AfD ein alternatives Oppositionsverständnis, das auf die historische Wandlungsfähigkeit des Oppositionscharakters verweist (vgl. Helms 2002, S. 16 ff.). Die Positionierung der AfD als populistische Oppositionskraft im Parlament zeitigt – analog zu den zuvor im Parteienwettbewerb beobachtbaren Prozessen – demokratietheoretisch ambivalente Folgen. Durch den elektoralen Erfolg der AfD verschieben sich gewohnte landespolitische Mehrheitsverhältnisse, was die Regierungsbildung vielfach erschwert und zugleich neue und oftmals fragilere Koalitionsmodelle erforderlich macht. Durch die parlamentarische Präsenz der AfD und die von ihr verfolgten Oppositionsstrategie werden zudem landespolitische Debatten konfrontativer und herausfordernder. Auf den vielfach illiberalen, nationalistischen und fremdenfeindlichen Charakter der politischen Vorstöße der AfD reagieren die etablierten Parteien – oftmals reflexhaft – mit empörten Gegenangriffen und Ausgrenzungsversuchen der AfD. Hierbei stoßen sie indes nicht nur allzu rasch an die Grenzen ihrer eigenen Liberalität, oftmals reproduzieren sie geradezu das von der AfD beschworene Bild eines Parteienkartells der etablierten Kräfte. Zugleich werden durch diese offensiven Positionierungen der AfD aber auch positive Entwicklungsprozesse angestoßen. Gemeint sind damit nicht die politischen Enteignungsversuche der AfD durch die Übernahme von AfD-Themen und Forderungen. Vielmehr ist zu beobachten, dass die inhalt­ lich radikale und rhetorisch offensiv vorgetragene Kritik der AfD die etablierten Parteien selbst in Bewegung versetzt: Weil die AfD als neue rechtspopulistische Partei rote Linien der politischen Kultur demonstrativ überschreitet, müssen die etablierten Parteien ihre politischen Forderungen und weltanschaulichen Grundlagen stärker reflektieren, sie argumentativ verteidigen und partiell weiterentwickeln. In den öffentlich oftmals nur mäßig beachteten Landesparlamenten wird seit dem Einzug der AfD schärfer, aggressiver, aber auch grundsätzlicher und normativer debattiert – was von Medien und Öffentlichkeit durchaus zur Kenntnis genommen wird. Die von der AfD forcierte Polarisierung fordert die landesparlamentarische Praxis daher nicht nur heraus, sondern trägt zugleich zu ihrer Vitalisierung und Politisierung bei, was – allen Widrigkeiten zum Trotz – durchaus als Gewinn zu betrachten ist.

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Chancen und Grenzen parlamentarischer Opposition aus Sicht von Parlamentariern

Wie leistungsfähig ist die Opposition? Franz Müntefering

Vor Jahren habe ich versucht, eine Botschaft an meine Partei zu richten, die in der Tat dort und auch darüber hinaus immer noch vielen im Gedächtnis ist, allerdings nur mit ihrem letzten Teil und entsprechend verkürzt interpretiert; sie lautet komplett: Demokratie braucht Opposition. Aber lasst das die Anderen machen. Wir wollen regieren. Opposition ist Mist. Und das will ich auch hier gleich zu Beginn wieder unterstreichen: Gewählt wird die Volksvertretung, die eine Regierung bestimmt und die Gesetze macht. Auch die beste Opposition ist kein Ersatz für eine mindestens solide Regierung und einen guten Gesetzgeber. Das selbstzufriedene Verliebtsein ins Opponieren ist zu wenig für Demokraten. Das als Sozialdemokrat zu betonen, macht Sinn, denn wir haben da eine eigene Geschichte. Als die sozialdemokratische Bewegung sich am 23. Mai 1863 in Leipzig zu organisieren begann, forderte Ferdinand Lassalle, der „Arbeiterstand (müsse) sich als selbstständige politische Partei (!) konstituieren und das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu dem prinzipiellen Losungswort und Banner dieser Partei machen“ (Lassalle 1919 [1863], S. 47). 1869 sahen das Bebel und Liebknecht in Eisenach und 1875 der Vereinigungsparteitag in Gotha auch und mit noch größerer Festigkeit so. All diese Jahre und noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918 hatte die SPD auch und gerade in diesem Punkt den Staat, die Reichswehr und

F. Müntefering (*)  BAGSO – Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, Herne, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_13

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ü­berwiegend auch die Kirchen gegen sich. Die Sozialistengesetze 1878 bis 1890 waren faktisch ein Parteiverbot, verbunden mit harten Strafen gegen die Opponierenden. Die Gleichheit aller, die sich in dem kleinen Kreuz auf dem Stimmzettel so grandios manifestierte, brachte die Mächtigen um den Schlaf. Keiner Herr, keiner Knecht!? Das hatte es doch noch nie gegeben, entsprechend agierten die Herrschenden. Grund, sich als Opposition zu fühlen und zu handeln, hatte die Arbeiterpartei SPD auf dem weiteren Weg wahrlich genug. Das Oppositions-Gen wuchs. Dass sie sich 1918 gleichwohl, nach verlorenem Krieg, geflohenem Kaiser und gescheitertem System, für die repräsentative Demokratie entschied, nicht für die Revolution und nicht für die Anarchie, die beide lockten, war eine echte historische Entscheidung. Eine drangsalierte Opposition, die ihrer Idee von der Gleichwertigkeit aller Menschen den Vorrang gab und damit der Demokratie. Ich bin stolz darauf. Die Arbeiter- und Soldatenräte, an ihrer Spitze der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, setzten für den 19. Januar 1919 freie, gleiche und geheime Wahlen zum Reichstag an, erstmals gleichberechtigt für Männer und für Frauen. Sie wollten die parlamentarische Demokratie und sie wollten Verantwortung übernehmen, sie wollten regieren. Aber sie mussten dann auch die desaströsen Kriegsfolgeregelungen unterschreiben und es gab keinen Marshall-Plan wie ab 1947 für die entstehende Bundesrepublik. Und manche der Mächtigen im Lande hoben Schritt für Schritt und nach gut zehn Jahren ungeniert die Nazis an die Macht. Es kam eine Zeit ohne Opposition, ab 1933 wurde diese sogar zu einer tödlichen, selbstmörderischen Gefahr und tausendfacher Realität. 1949 wurde die SPD – ungewollt – wieder Opposition, bis 1966. 1959, auf dem Parteitag in Bad Godesberg, beschloss sie im neuen Grundsatzprogramm „Regierung und Opposition haben verschiedene Aufgaben von gleichem (!) Rang; beide tragen Verantwortung für den Staat“ (Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1959, S. 10). Und weiter: „Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden“ (Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 1959, S. 26). Von da an war die SPD endgültig Volkspartei und bereit, Verantwortung für das Ganze zu tragen, das Land zu regieren. 1969 stellte die SPD in dieser Republik dann erstmals den Bundeskanzler, Willy Brandt. Und der hinterließ uns zu unserem Thema diese dialektische Position: „Ich konnte und kann nicht dazu raten, als richtig erkannte Einsichten deshalb nicht weiterzuverfolgen, sondern wegzulegen, weil sie nicht hinreichend wählerwirksam waren. Sich verständlicher machen, wenn es geht, dazu sage ich:

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ja und nochmal ja. Aber unsere Programmatik aus dem ableiten, was die Leute gerade hören wollen: nein. (…) Und doch, sich nicht zu weit von dem zu entfernen, was viele aufzunehmen geneigt und mitzutragen bereit sind, gehört zur eisernen Wissensration einer Volkspartei, die nicht auf die Oppositionsbänke abonniert ist. Und die weiß, daß man auf der Regierungsbank in aller Regel mehr erreichen kann für die Menschen, denen man sich verantwortlich fühlt. Es mag ja sein, daß Macht den Charakter verderben kann – aber Ohnmacht meinem Eindruck nach nicht minder“ (Brandt 1987, S. 21 f.). Zwei Wahrheiten spricht er da an, denen wir uns nie entziehen dürfen und können: Die Mehrheit hat – auch in der Demokratie – nicht immer recht, die Mehrheit kann irren. Und: Kleine Schritte in die richtige Richtung sind besser als Stillstand. Die SPD war zu lange selbst Opposition, als dass sie deren Aufgabe und deren demokratische Funktion geringschätzen könnte. Aber sie war eben auch selbst zu lange Opposition, als dass sie zweifeln könnte an ihrem Ziel, von den Wählerinnen und Wählern auf Zeit mit politischer Regierungsmacht ausgestattet zu werden und diese Macht als Regierende für die Menschen im Sinne sozialdemokratischer Werte zu nutzen. Es schien mir sinnvoll, diesen vielleicht unerwarteten Einstieg zum Thema zu wählen. Denn er verdeutlicht hoffentlich, dass es unterschiedliche Prägungen in Sachen Demokratie gibt, auch bezüglich Regierung und Opposition. Wir sollten das nicht übersehen. Das gilt ganz sicher für tief greifende Erfahrungsunterschiede, die Menschen in unterschiedlichen Systemen und Ländern dazu gemacht haben. Wir müssen jedenfalls erklären, was wir mit Demokratie meinen, mit Regierung und Opposition und was es für uns bedeutet, als Demokratinnen und Demokraten auf der Höhe der Zeit zu sein. Eine weitere Vorbemerkung zur grundlegenden Entwicklung in dieser deutschen Demokratie seit 1949 erscheint mir hier wichtig und notwendig: Die im Deutschen Bundestag vertretenen politischen Parteien haben ein Grundvertrauen auf Gegenseitigkeit entwickelt. Sie gehen fest davon aus – bei allen Unterschieden in Inhalt und Stil -, dass keine der demokratischen Parteien einen Wahlsieg per Regierung gegen die Demokratie missbrauchen wird, nicht durch illegale Machtergreifung kleinerer oder größerer Art, nicht durch Manipulation an den essenziellen Regeln der Demokratie. Alle demokratischen Parteien sind sich bewusst, dem Land dienen zu müssen im Rahmen der grundgesetzlich vereinbarten demokratischen Gesetze. Und alle sind bereit, sich am Ende der Legislaturperiode gleichberechtigt dem Urteil der Wählerinnen und Wähler zu stellen und deren Entscheidung zu akzeptieren und daraus das Bestmögliche für das Land und seine Menschen zu machen.

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Dieses Grundvertrauen auf Gegenseitigkeit war beim Start der Bundesrepublik keineswegs selbstverständlich. Die Zeit des Nationalsozialismus war zudem alles andere als eine Lehrzeit für Grundvertrauen gewesen. Die Demokratie war 1949 gewollt, aber sie war auch ‚verordnet‘. Die D-Mark half und auch der M ­ arshall-Plan, ebenso die Montan-Union und Deutschlands strategische Funktion in der bipolaren Welt. Europa hatte Glück: Der dritte große Krieg blieb aus. Und der Frieden erwies sich nicht nur als Nicht-Krieg, sondern als eine große produktive, innovative, kulturelle und humane Kraft. Den deutschen Beitrag hierzu leisteten verantwortungsbewusste Frauen und Männer, vor Ort, in den Regionen/Ländern und im Bund, in den demokratischen Parteien, in den Gewerkschaften und Kirchen, in Wissenschaft und Kultur. In der Folgezeit stehen meines Erachtens vor allem zwei Ereignisse für den gewachsenen Konsens in der demokratischen Verlässlichkeit. Nach dem Godesberger Parteitag 1959 anerkannte Herbert Wehner in seiner oft zitierten Rede vor dem Bundestag für die SPD im Juni 1960 die Adenauersche West-Politik als verbindliche Grundlage bundesdeutscher Politik. Und die – vorher von der Union und auch von ihm selbst heftig kritisierte – sozialdemokratische und im besonderen Brandtsche Ost-Politik wurde 1982/83 durch Bundeskanzler Helmut Kohl von seinem Vorgänger Helmut Schmidt bald übernommen und fortgeführt, konsequent. Klar und erkennbar bleibt dabei: Heftiger Streit und Kampf um den richtigen politischen Weg im Konkreten ist möglich, manchmal wohl unausweichlich; auf den Streit um den richtigen Weg ist Verlass, auch zwischen Demokraten. 2017 haben wir das erlebt und das Jahr 2018 bietet erkennbar weitere zahlreiche Möglichkeiten. Das zitierte Grundvertrauen in die demokratische Zuverlässigkeit muss davon unbelastet bleiben können, alles andere wäre eine Katastrophe. Nur solange dieses Grundvertrauen sicher ist, ist auch Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge und in eine gute Zukunft für unser Land erlaubt, sind Demokratie und Grundrechte garantiert.1 Vor diesem Hintergrund hier also meine Antworten zu den mir gestellten Fragen zu Formen und Handlungsmöglichkeiten von Opposition. Da dabei so ziemlich alles mit allem zu tun hat, bündele ich meine Überlegungen dazu in drei Kapiteln:

1Dazu

sei angemerkt, dass die AfD meiner Auffassung nach mit ihrer derzeitigen Position keinen Platz in diesem Kreis der Parteien des Grundgesetzes hat, da sie bisher an diesem zentralen Punkt nicht vertrauenswürdig ist.

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1. Wirkungsweise der parlamentarischen Opposition. 2. Wirkungsweise der außerparlamentarischen Opposition. 3. Bedeutung der Opposition für die Demokratie.

1 Zur Wirkungsweise der parlamentarischen Opposition In unserem Grundgesetz ist die Opposition nicht ausdrücklich definiert, ihre Funktion im System Demokratie nicht beschrieben. Anderes ist eindeutig festgehalten, so heißt es in Artikel 20 GG: „(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ Und weiter heißt es in Artikel 38 (1) GG: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Meinungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Die Hoheitsrechte der Länder bei der Ausübung staatlicher Aufgaben sind in Artikel 30 GG festgestellt und die Gesetzgebungskompetenzen – des Bundes, der Länder und die konkurrierenden – sind in den Artikeln 70 bis 74 GG verbindlich geregelt. Es wird insgesamt klar, wie deutlich die politische Macht hierzulande föderal zugeordnet ist und somit politische Parteien auf der einen Ebene Regierung und auf der anderen Opposition sein können, mit jeweils unterschiedlichen Interessen und Ambitionen. Durch Landtagswahlen im Verlauf der vierjährigen Bundestagslegislatur können sich Machtverhältnisse zwischen Bund und Ländern, was Regierungskonstellationen angeht, deutlich verschieben. Was ist nun bei alledem parlamentarische Opposition? In Wörterbüchern findet man sie beispielsweise definiert als ‚Gegensatz, Gegenpartei, Widerspruch, feindliche Partei‘. In der Brockhaus-Enzyklopädie heißt es dazu – plausibel – lapidar: „[…] im engeren Sinne die Kräfte, die der Regierung in der Volksvertretung entgegentreten“. Also: Wer als Partei nicht in der Regierung ist, ist im Parlament Opposition.

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Aber hat nicht auch der Teil des Parlaments, der die Regierungsspitze wählte, eine (mindestens) ernsthafte Kontrollfunktion gegenüber der Regierung? Virulente, teils massiv offene Unterschiede bis Gegensätze gibt es aber bei mancherlei Themen auch zwischen den Koalitionsfraktionen. Und die eindeutig oppositionellen (weil nicht in der Regierung befindlichen) Fraktionen können untereinander schwerwiegende Differenzen haben und sich massiv gegenseitig Opposition sein. Falls nun jemand an dieser Stelle meint, hier werde unnötige Haarspalterei betrieben, muss ich noch einmal auf das oben erwähnte Oppositions-Gen der Sozialdemokratie verweisen. Sozialdemokraten können regierungstragende Fraktion und Opposition gleichzeitig sein. Ihre potenziellen Wählerinnen und Wähler – denen besagtes Gen fehlt – verwirrt es aber eher, wenn die SPD ungnädig und fortdauernd die Arbeit der Koalition distanziert kritisiert, an der ihre eigenen Leute erfolgreich (!) beteiligt sind. Die SPD ist hier allerdings nicht allein. 2015 bis 2017 hat die CSU komplett nachdrücklich und die CDU in abgemilderter Weise Vergleichbares mit der Bundeskanzlerin praktiziert. Die Wahlergebnisse im September 2017 waren ja auch entsprechend. Was heißt nun also Opposition? Sie muss die Gesetzgebung der Mehrheit und das Regierungshandeln kritisch beobachten und kontrollieren. Sie darf nicht abwarten, ob die Regierung Fehler macht, um sich dann selbst empören zu können, wenn die Fehler gemacht sind. Sie muss sich früh einmischen und so Schaden vom Land abzuwenden versuchen. Sie darf nicht das ‚Privileg‘ des nicht Hauptverantwortlichen inaktiv genießen, sondern muss offensiv sagen und glaubhaft machen, dass sie und wo sie und wie sie es besser machen kann als die Regierung (und die Gesetzgebungsmehrheit im Parlament). Und die Opposition muss auch jederzeit bereit und in der Lage sein, volle Regierungsverantwortung zu übernehmen. Das alles gehört zur parlamentarischen Opposition in der Demokratie. Die Wählerinnen und Wähler müssen sich darauf verlassen können, dass die Opposition die Arbeit der Regierenden kritisch begleitet – in Loyalität zu den Interessen des Landes und seiner Menschen, nicht primär orientiert an der tatsächlichen oder vermuteten Wahlnützlichkeit ihrer Argumente. Erfolgreich sein kann parlamentarische Opposition in der Demokratie, wenn ihre politischen Handlungsvorschläge für viele Menschen überzeugender sind als die der Regierenden. Und wenn sie diese Schwächen der Regierenden verständlich und glaubwürdig kritisiert. Die Kraft der Opposition (wie ja auch der Regierung) verbindet sich dabei immer stark mit handelnden Personen. Der Wechsel von Personen an herausragenden Positionen ist deshalb ein besonders sensibler Vorgang, was die Erfolgsaussichten – im Parlament wie auch in der Öffentlichkeit – angeht. Das gilt auch

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für die Person der Oppositionsführerin/-führers. Sie oder er tritt im Parlament gegen die/den Bundeskanzler/in an, nicht nur gegen den/die Fraktionsvorsitzende der Regierungsfraktionen. Das Spielfeld ist groß. Regierungen neigen dazu, entlang dem Arbeitsbuch namens Koalitionsvertrag ihre Handlungsfelder zu beackern. Aber in solchen Vereinbarungen finden sich ja längst nicht alle wichtigen Politikbereiche und Aufgaben wieder, besonders oft fehlen die mittel- und langfristigen Ansätze. Und ohnehin kommen regelmäßig neue Herausforderungen hinzu. Regierungs- und Gesetzgebungspolitik kommen nie an das Ende der Herausforderungen, täglich geschieht Neues. Ziele sind Zwischenziele, schon weil die Rahmenbedingungen sich wandeln. Was kann parlamentarische Opposition erreichen? Prinzipiell und ab und an ganz konkret – alles! An einem Wahltag gewinnen und Regierungskraft werden, mehr geht wirklich nicht. Opposition ist eine potenzielle Alternative, eine politische Macht, die die Hand ausstreckt Richtung Steuerrad, Richtung Verantwortung. Tut sie das nicht, wird sie ihrer Aufgabe nicht gerecht. Ganz einfach machten und machen es die Wählerinnen und Wähler in der Geschichte der Bundesrepublik den Oppositionsparteien bei Wahlen nicht. Bei knapp der Hälfte aller Bundestagswahlen blieb die Regierung unverändert in ihrer Parteienkonstellation. Nur einmal, 1998, gab es bisher eine wirklich neue Regierung: die SPD nach 16 Jahren wieder in der Regierung, die Grünen zum ersten Mal. Nach allen anderen Bundestagswahlen blieb wenigstens eine der bisherigen Regierungsparteien auch in der neuen Legislatur in der Regierung. Kontinuität ist nicht die Ausnahme, im Gegenteil.

2 Zur Wirkungsweise der außenparlamentarischen Opposition Auch die Zivilgesellschaft übernimmt in der Demokratie oppositionelle Funktionen; anders als die parlamentarische Opposition, aber doch als Bürgerinnen und Bürger, die Anteil nehmen an den Entscheidungen oder Unterlassungen der staatlichen Organe Bundestag und Bundesregierung, die sie mit ihren Wahlstimmen direkt oder indirekt in ihre Funktionen gebracht haben. Die außerparlamentarische Opposition tritt in vielfältiger Weise auf, vom solistischen Einzelkämpfer bis zur Großorganisation, dauerhaft aktiv organisiert bis projektbezogen. Da kommen schnell auch die politischen Parteien ins Spiel. Laut Grundgesetz (Art. 21) haben sie die Aufgabe, bei der „politischen Willensbildung des

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Volkes mitzuwirken“. Sie eignen sich traditionell als zivilgesellschaftliche Transmissionsriemen für Opposition. Politische Parteien sind nicht Volksvertretung und nicht Regierung. Dies ist Binsenweisheit, die trotzdem betont werden muss, denn im gesellschaftlichen und politischen Alltag geht da so manches durcheinander. Das Wort von der ‚Parteiendemokratie‘ ist korrekt, aber Parteien sind eben doch nicht staatliche Macht in der Demokratie. Sie sind Brücken zwischen verfasstem Staat und Zivilgesellschaft. Das Spannungsverhältnis zum/r freigewählten Mandatsträger/in ist von unserem Grundgesetz so gewusst und gewollt. Es bleibt für die Demokratie wichtig, dass damit respektvoll umgegangen wird. Beides ist unentbehrlich – die zivilgesellschaftlich getragene Verantwortung der Parteien, ihr Recht, ihre Position ins Parlament und in die Regierung zu tragen, aber auch die – von ihnen nominierten – gewählten Abgeordneten, die frei sind und letztlich ihrem Gewissen verantwortlich. Es ist nicht so selten, dass um Kompatibilität beider Prinzipien gerungen werden muss. Aus der Bündelung sinnvoller politischer Anliegen kann in Wahlen Gestaltungskraft entstehen. Je stärker Volksparteien sind, umso mehr. Die Tendenz im Lande läuft dem seit einigen Jahren allerdings entgegen. Je größer die Zahl der Fraktionen im Bundestag, umso schwieriger ist es, aus mehreren kleinsten bis kleinen Bündelungen Umfassendes zu formen. Und das Grundgesetz macht die Gründung neuer Parteien nicht schwer. Denn in Artikel 21 (1) GG heißt es: „Ihre [der Parteien] Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen“. Wir kennen daneben Formen direkter Demokratie in vielfältiger Weise. Initiativen, Gruppen, Aktionen, die für ihre Meinung kämpfen und über Volksbegehren und -abstimmungen bestimmte Konsequenzen auslösen wollen, gegen Etwas oder für Etwas, nicht selten mit lokalem oder regionalem Bezug. Solche (vereinfachend) Bürgerinitiativen stehen oft nicht in Konkurrenz zu Regierung und ihren Administrationen, sondern zu den Volksvertretungen – Rat, Kreistag, Landtag, Bundestag, wo die Gesetze und Regeln für unser Zusammenleben entstehen. Politische Entscheidungen können laut Grundgesetz in der Tat auch in Form von – dort nicht genauer benannten – ‚Abstimmungen‘ erfolgen. Dabei sind geltende Gesetze und Regeln zu beachten. Und davon gibt es reichlich. Abstimmungen können angestrebt werden mit dem Ziel, die bisherige Entscheidungslage zu ändern. Aber die Komplexität, in dem all dies angesiedelt ist, muss beachtet werden. Die finanziellen Konsequenzen sind immer wichtig und auch bei Abstimmungen zu beachten. Dass bei Volksbegehren auch offensichtlicher Egozentrismus und Wichtigtuerei vorkommen, kann man nicht ausschließen. Aber derlei gibt es ja bei der üblichen Gesetzgebung auch.

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Eine zentrale Form außerparlamentarischer Meinungsbildung – auch als Opposition im Sinne der Demokratie – sind freie und qualifizierte Medien. Mit ihren regelmäßigen wichtigen Informationen und mit ihren Meinungen, die als solche kenntlich gemacht sind, sind freie Medien eine unverzichtbare tragende Säule für gelingende Demokratie. Entwicklungen der letzten Jahre, speziell der Neuen Medien und deren Gestaltbarkeit, Wirksamkeit und Missbrauchbarkeit, tangieren jedoch unverkennbar unsere demokratischen Prinzipien. Massenhaft gezielt verbreitete Falschinformationen und gefährliche Raffinnesse bei der Manipulation von Menschen sind möglich und offensichtlich lebenswirklich. Was kann wirksames Mittel gegen dieses demokratiefeindliche Gift sein? Aufklärung, orientierende Transparenz, politische Bildung, überzeugendes Handeln. Medien stellen sich keiner Wahl und keiner Abstimmung. Das sollen sie auch nicht. Sie müssen Kraft ihrer Qualität bei Information und Positionierung überzeugen und in dieser außerparlamentarischen Funktionsweise bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Nicht selten können sie das mit ihrer professionellen Kompetenz und ihrer Finanzkraft intensiver und wirksamer als die politischen Parteien. Die monatliche Versammlung des Ortsvereins hat es im Vergleich mit Medien schwer, ihren Anwesenden (und irgendwie auch den Nichtanwesenden) zusätzliches, für die Meinungsbildung relevantes Wissen zu bieten. Ihre Stärke und Mission bleibt bei alledem aber die Debatte und die Kompromissbildung mit dem Ziel politischer Handlungsfähigkeit und maximaler Wirksamkeit. Wird sich die altbewährte Form kaskadenhafter Meinungsbildungsprozesse bis hin zu Parteitagsbeschlüssen bewähren, die dann anerkannte und gemeinsam vertretene Partei-Positionen sind? Die Veränderung der Informations- und Kommunikationsrealitäten bewirken neue Komplexität und stärken Tendenzen zu konfusen und ausgesprochen kurzatmigen Meinungen, die für eine nötige (!) Politik des Augenmaßes und der Nachhaltigkeit ungeeignet bis gefährlich sind. Das Beruhigende ist bisher: Alles in allem sind die Medien als Gegenöffentlichkeit und ‚mediale Opposition‘ in unserem Land stabiler Teil der Demokratie. Wer in Deutschland 2018 Bescheid wissen will als Grundlage für eine belastbare eigene politische Urteilsfähigkeit, der hat ständig – bei Print, Funk und TV, auf Qualität achtend – ein demokratisch integres, qualifiziertes Angebot, das für die allermeisten bezahlbar ist. Arglos und leichtfertig sein dürfen wir aber nicht: Es ist unverkennbar dringend nötig, die Funktionsweise unserer Demokratie zu bedenken und auf die Höhe der Zeit zu bringen. Antiaufklärerische Intelligenz darf nicht die Herrschaft über Meinungsbildungssysteme und die politische Willensbildung gewinnen. Das Phänomen ist nicht neu, wohl aber die Professionalität, die den Feinden der

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Demokratie als gewinnträchtiges Geschäftsmodell und als vor-demokratische Machtfiktion zur Verfügung steht. Reaktionäre ‚Aufklärung‘, Lüge also, macht aus der Opposition blanke Obstruktion und die ist gefährlich für politische Parteien und für unsere Demokratie. Die Demokraten müssen sich auf ihre Kraft besinnen. Und die heißt: Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Dinge – und handeln! Zu diesem Kapitel gehört auf jeden Fall noch die Frage nach dem Verhältnis der APO zur IPO (der außerparlamentarischen zur innerparlamentarischen Opposition). Sind sie verwandt und sich dessen bewusst? Das ist nicht einfach zu beantworten: Gewerkschaften, Verbände, Kirchen, Vereine, Initiativen, Kultur, Wissenschaft, Wohlfahrts- und Verbraucherorganisationen legen Wert auf Kontakte konstruktiver Art zur Regierungsseite wie auch zur parlamentarischen Opposition, bleiben aber auch auf Distanz. Das hat seine Logik: Die parlamentarische Opposition ist in der Tat im Kern Teil des Systems und vielleicht morgen Regierung statt Opposition und agiert dann im Lichte der Realitäten als Regierungspartei doch anders als erwartet und vor allem eben als Regierung. Opposition im Parlament und als Gegenöffentlichkeit und Opposition außerhalb der Regierungsperspektive haben unterschiedliche Funktionen, sind aber beide Teil gelebter und legitimer ­Demokratie. Parlamentarische und außerparlamentarische Opposition sind an bestehende Gesetze gebunden. Sie können – jeder auf seine Art und seinem Weg – Veränderungen von Gesetzen und Regeln anstreben.

3 Zur Bedeutung der Opposition in der Demokratie und für die Demokratie Zuerst war Opposition, bei ihr wuchs die Idee von der Demokratie, dann kam die Demokratie. Nur weil es Opposition gab, wurde Demokratie möglich und groß. Was treibt die Oppositionellen an, selbst Regierende werden zu wollen? Es besser zu können? Die eigene Kompetenz und die Verantwortung fürs Ganze einbringen zu wollen? Sind es die Ziele und die Wege der Politik, die mutigen Ideen, zentrale Grundwerte als Maßstab? Ist es die Aussicht auf eigene Vorteile, welcher Art auch immer – das Ego oder das Bankkonto betreffend? Oder dominiert der Ausdruck von Machtwillen, oben zu sein in der Demokratie, in der es Macht als Gestaltungsmacht auf Zeit gibt, legale Macht? Die genannten Motive sind mehr oder weniger demokratieaffin. Sie sind nicht eindeutig trennbar und können additiv auftreten. Es wird – auch in der

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­ emokratie – immer eine Mischung aus Beweggründen sein, die konkrete D Menschen diesen Weg suchen und gehen lassen. Aber die Mixtur ist nicht beliebig brauchbar in der Demokratie, in krassen Fällen auch unvereinbar mit ihr. Demokratie ist diejenige, ja die einzige Staats- und Lebensform, in der das Land und die Gesellschaft sich zu den unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft bekennen. Das hat Konsequenzen für jede und jeden und das bestimmt Organisation und Funktionsweise der staatlichen Verfassung. Demokratie hat eine ideale Vorstellung von Staats- und Lebensform. Trotzdem darf Demokratie nicht idealisiert werden. Denn sie hat es mit uns Menschen zu tun. Sie ist der Versuch, das permanente Bemühen, den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Unklare oder unrealistische Ziele, unzureichende Kompetenz, Machtgelüste, Eitelkeiten und individuelle Vorteilsnahme sind menschenübliche Gefahren, die auch vor einer Demokratie nicht haltmachen. Auch deshalb sind Transparenz und Kontrolle, Wahl auf Zeit und Funktionswechsel wichtig. Demokratie muss immer wieder neu bewiesen werden. Und dafür ist Opposition unentbehrlich. Ohne sie würde die Demokratie bald zur platten Herrschaft schrumpfen. Es ist ja kein Zufall, dass die Autokraten – Diktatoren sowieso – die Opposition jagen, disziplinieren, einkerkern, kaltstellen. Die demokratische Opposition ist die friedfertige Variante, Konflikte auszutragen. Sie ist Zivilisation, menschheitsgeschichtlicher Fortschritt. Diese Opposition erstrebt (und erreicht manchmal) Kompromisse mit den Regierenden. Oder sie lässt sich auf eine Koalition ein und übernimmt so einen Teil Macht und Mitverantwortung fürs Ganze. Oder sie macht ihre Position zum öffentlichen Thema und in der nächsten Wahl zur Alternative. Die Opposition in der Demokratie muss Macht, die regelmäßig bei der Regierung liegt, respektieren, bis zur nächsten Wahl. Widerspruch, Empörung, Protest sind bis dahin erlaubt und können angemessen sein. Juristischer Streit auch. Gesetzesbruch und Gewalt sind nicht erlaubt. Akteure, Gruppen, Parteien, die sich zum Volk erklären im Sinne von ‚Nur wir sind das Volk und haben deshalb mehr Recht und Rechte als die gewählten Volksvertreter‘, sind Populisten, aber keine demokratische Opposition. Nicht nur Regierung, auch Opposition kann in der Demokratie missbraucht werden. Eines ist so schlimm wie das andere. Hier muss noch einmal knapp auf die besondere Rolle der politischen Parteien verwiesen werden. Sie sind Brücken zwischen Staat und Zivilgesellschaft, zwischen Regierung sein und Opposition sein. Besondere Verantwortung haben sie bei der politischen Bildungsarbeit und bei der Rekrutierung geeigneter Kandidatinnen und Kandidaten für die Volksvertretungen. In einer

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d­ emokratischen Partei aktiv sein, ist ein Stück praktische Demokratie. Besonders populär ist diese Art gesellschaftlichen Engagements in dieser Zeit nicht. Verweise auf die Schwächen der demokratischen Parteien begegnen einem überall. Nicht wenige Vorhaltungen haben hohen Wahrheitsgehalt. Aber sie sagen nicht die ganze Wahrheit. Denn die heißt: Diejenigen, die sich in den demokratischen politischen Parteien engagieren – auch wenn sie Fehler machen und die Parteien machen Fehler – sind zigmal gerechtfertigter als die, die besserwisserisch draußen herumlaufen, sich das Maul zerreißen über die Probleme der Parteien, aber selbst nicht bereit sind, Zeit und Geld und Verstand und guten Willen zum Nutzen unserer Demokratie einzubringen. Und so etwas dazu beizutragen, dass dieses komplizierte Ding Demokratie gelingen kann. Unsere demokratischen Parteien brauchen nicht wohlfeile Kommentatoren im Liegestuhl am Spielfeldrand, sondern Mitmacherinnen und Mitmacher. Das Thema Parteien verdient vergleichbare Aufmerksamkeit wie das Thema Opposition. Als politisches Ziel ist Opposition für Politikerinnen und Politiker, die gestalten wollen, nicht erstrebenswert. Sie ist nur das Zweitbeste. Etwas, das einen begrenzten Handlungsspielraum eröffnet, mit dem man sich aber nicht zufriedengeben kann. Opposition ist der Ausdruck der Überzeugung, dass es besser geht als die Regierenden es machen und dass ich (als Oppositioneller) es besser machen kann. Opposition ist die selbstbewusste Gewissheit, dass es besser werden kann und wird. Gewiss, manchmal irrt sich die Opposition. Wenn sie dann regiert, enttäuscht sie die Menschen im Lande, manchmal auch sich selbst. Aber es gibt ja eine neue Opposition und die Demokratie geht weiter. Wer die Wahl hat, wird sich für Regieren entscheiden, nicht fürs Opponieren. Wer dies aus taktischer Raffinesse anders sieht, glaubt an Wunder. Das ist nicht verboten, hat aber nichts mit Politik zu tun. Letztlich sind Opposition und Demokratie aufeinander angewiesen, um nicht zu versagen: Verbündete. Das ist hier nicht mehr das Thema, aber doch relevant. Die Frage, der wir uns in dieser Zeit zu stellen haben, geht über die nach der Opposition hinaus. Es geht um die Fragen zur Stabilität der demokratischen Idee und ihrer praktischen Dominanz in der Lebenswirklichkeit dieser Welt, unseres Europa, unseres Landes. Angst sollten wir nicht haben, aber sehr aufmerksam müssen wir wohl sein. Auch Fortschritt ist nicht automatisch für immer sicher. Er kann auch vom Wandel der Zeiten und von Pseudo-Demokraten, die sich heute noch taktisch-klug mit dem Demokraten-Titel schmücken, leise und systematisch eliminiert werden. Aber das zu verhindern, dafür gibt es ja Demokratinnen und Demokraten. Und wenn, wie es der aktuelle Koalitionsvertrag eröffnet, der Deutsche Bundestag wieder „zentrale[r] Ort der gesellschaftlichen

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und politischen Debatte“ (Die Bundesregierung 2018, S. 177) sein wird, dann wäre ein Stück lebendige Demokratie zurückgewonnen. Das wäre Frischluft für die Demokratie.

Literatur Brandt, W. (1987). Die Abschiedsrede, gehalten auf dem außerordentlichen Parteitag der SPD am 14. Juni 1987 in der Bonner Beethovenhalle. Berlin: Siedler. Die Bundesregierung (Hrsg.). (2018). Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. https://www.bundesregierung.de/Content/DE/_ Anlagen/2018/03/2018-03-14-koalitionsvertrag.pdf;jsessionid=1994C9F0595E2EFD1 56567AF4FF80B07.s5t2?__blob=publicationFile&v=1. Zugegriffen: 23. März 2018. Lassalle, F. (1919). Offenes Antwort-Schreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiter-Kongresses zu Leipzig. In E. Bernstein (Hrsg.), Ferdinand Lassalle. Gesammelte Reden und Schriften (S. 39–92). Berlin: Paul Cassirer. ([1863]). Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Hrsg.). (1959). Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Außerordentlichen Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959. Köln: Druckhaus Deutz.

Möglichkeiten und Grenzen der parlamentarischen Opposition. Allgemeine Überlegungen – illustriert am Beispiel Thüringens 2014–2018 Mike Mohring 1 Die Bedeutung der parlamentarischen Opposition „Opposition“ ist ein Begriff, der in den Ohren von Parlamentariern, aber auch der Bürger wenig verheißungsvoll klingt. Für den früheren S ­ PD-Bundesvorsitzenden Franz Müntefering war sie schlicht „Mist“, gebräuchlich ist das Wort von den „harten Bänken“ der Opposition. Das ist zunächst verständlich, denn in der Opposition sitzen im parlamentarischen System jene, die keine Regierungsmehrheit zustande bekommen haben. Und das trifft durchaus auch Parteien, die aus der Wahl mit relativen Mehrheiten als Sieger hervorgehen, wie etwa die CDU Thüringen nach den Landtagswahlen im September 2014. Das angemessene Verständnis für die Rolle der Opposition ist eher in der englischen Wendung „Her/His Majesty’s Opposition“ zu finden, verwandt erstmals in einer Unterhausdebatte im April 1826. Sie ist den Regierungsfraktionen in der unbedingten Loyalität gegenüber dem Staat und seinen Institutionen verbunden, jederzeit bereit und bestrebt, selbst die Regierungsverantwortung zu übernehmen. Eine Demokratie ohne Opposition ist keine, zumal in einem parlamentarischen System, in dem nicht der Präsident oder ein Monarch seine Regierung beruft, sondern eine parlamentarische Mehrheit. Nicht unbedingt in der Theorie, doch in der Praxis hängt die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive im

M. Mohring (*)  MdL Thüringen, CDU, Thüringer Landtag, Erfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_14

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Wesentlichen an einer leistungsfähigen Opposition, die kritisiert, kontrolliert und Alternativen zur Politik der parlamentarischen Mehrheit und der von ihr getragenen Regierung formuliert. Sie ist Regierung im Wartestand, wenn sie für sich den Anspruch erhebt, die Regierung von Morgen zu stellen. Das ist freilich nicht für jede Oppositionsfraktion selbstverständlich. Mit der AfD gehört dem Thüringer Landtag seit 2014 eine Fraktion an, die sich – in ihrer Begrifflichkeit – systematisch von den „Altparteien“ oder gar „Systemparteien“ abgrenzt und immer wieder zu verstehen gibt, dass ihr die Bereitschaft und die Fähigkeit zum Kompromiss als Funktionsbedingung des parlamentarischen Betriebs wenig bedeuten. Fraktionen, die populistisch gestimmt sind, Regierungsverantwortung nicht anstreben oder keine Regierungsoptionen besitzen, können und werden anders agieren als Fraktionen wie die der CDU im Thüringer Landtag, die von 1990 bis 2014 Regierungen getragen hat und von 2019 auch wieder tragen wollte. Wer verinnerlicht hat, dass der Rollenwechsel zwischen Regierung und Opposition zum Wesen der Demokratie gehört, räumt der Loyalität gegenüber den Institutionen und Verfahren naturgemäß höheres Gewicht ein und wird sich eher scheuen, politische Forderungen zu vertreten, die sich nach der Rückkehr in die Regierungsverantwortung nicht einlösen lassen. Solchen Fraktionen fällt es naturgemäß allerdings auch schwerer, auf Opposition „umzuschalten“, wenn sie die regierungstragende Funktion verlieren. Es dauert, bis die Abgeordneten nicht mehr aus der Perspektive der Staatskanzleien und Ministerien denken. Bei dem Weg zurück dorthin stecken potenzielle Regierungsfraktionen in einem weiteren Dilemma, das nicht verschwiegen werden soll: Die Ziele, im parlamentarischen Betrieb Verbesserungen an der Politik der Regierung zu bewirken, und diese Regierung abzulösen, können im Widerspruch stehen. Ein mit Oppositionshilfe verbessertes Regierungsergebnis erschwert es naturgemäß, die Regierung abzulösen. Die Regierung erhält überdies die Gelegenheit, markierte Problemstellen abzuräumen. Der Zwiespalt ist umso größer, je ähnlicher sich Regierung und Opposition in den Grundlinien ihrer politischen Arbeit sind, und weniger gravierend, wenn Regierungen sich politisch und ideologisch so einseitig festgelegt haben, dass Vorschläge der Oppositionsfraktionen von vornherein nicht auf Zustimmung rechnen können.

2 Bedingungen erfolgreicher Oppositionsarbeit Ob Oppositionsarbeit erfolgreich ist, ist also zunächst eine Frage des Maßstabs. Fraktionen ohne Regierungsambitionen werden sie tendenziell eher als erfolgreich erleben, wenn die eine oder andere ihrer Ideen in die Regierungsarbeit

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einfließt oder punktuelle Interessen durchgesetzt werden können. Fraktionen, die vor allem das Ziel verfolgen, die Regierung abzulösen, werden den Erfolg ihrer Arbeit eher daran bemessen, dass sie die Voraussetzungen genau dafür schaffen, weil ihnen die ganze Richtung als falsch erscheint Der frühere Staatspräsident Jacques Chirac hat dies nach einem ihm zugeschriebenen Zitat so auf den Punkt gebracht: „Und Aufgabe der Opposition ist es, die Regierung abzuschminken, während die Vorstellung noch läuft.“ In der politisch-parlamentarischen Praxis lassen sich letztlich beide Herangehensweisen nicht trennen. Je größer etwa der Anteil direkt gewählter Abgeordneter in einer Fraktion ist, desto eher fallen lokale Belange ins Gewicht, die sich nicht gegen, sondern im Normalfall nur mit der Regierung umsetzen lassen. Grundsätzlich steht Oppositionsfraktionen die ganze Breite der parlamentarischen Mittel zur Verfügung: Die Bühne des Plenums, die Arbeit in den Fachausschüssen, Kleine, Mündliche, Große Anfragen, diverse Anträge, Entschließungsanträge, Gesetzentwürfe, Sondersitzungen, Untersuchungsausschüsse oder auch verfassungsrechtliche Klagemöglichkeiten. Sie eröffnen mannigfaltige Möglichkeiten, Informationen zu erlangen, Fehler aufzudecken, Skandale in das Licht der Öffentlichkeit zu stellen oder Vorhaben der Regierung zu vereiteln, inhaltliche Alternativen zu präsentieren, aber auch Themen zu setzen, die von der Regierung aufgegriffen werden. Dies geschieht seltener durch gemeinsame Anträge oder Gesetzesbeschlüsse, sondern weit häufiger, indem die Regierungsmehrheit Vorstöße der Opposition in abgewandelter Form neu in den Landtag einbringt. Unter demokratischen Gesichtspunkten ist entscheidend, dass die Bürger am politischen Ringen in den Parlamenten Anteil nehmen können. Fraktionen haben daher nicht allein das Recht, sondern sogar die Pflicht, die Öffentlichkeit zu informieren. Aus der oben erwähnten Logik des parlamentarischen Systems ergibt sich, dass auf den Oppositionsfraktionen diesbezüglich eine besondere Verantwortung lastet. Für den Erfolg der Oppositionsarbeit ist daher auch entscheidend, ob und wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Dazu gehört zum einen die Bereitschaft und Möglichkeit, Themen zuzuspitzen und notfalls auch zu skandalisieren, wenn Missstände andernfalls nicht aufgearbeitet werden können. Nicht weniger wichtig ist eine Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf der Höhe der Zeit. Das bedeutet vor allem, die schwindende Reichweite traditioneller Medien auszugleichen und die Bürger auf den Wegen und in den Formen mit Informationen zu versorgen, die sie erwarten: von Printprodukten über die ganze Breite der Sozialen Medien und vor allem, der persönlichen Begegnung.

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Aus dem, was die Bürger schließlich erreicht, muss sich zudem ein stimmiges Gesamtbild ergeben. „Nicht anders, aber besser“ ist auf diese Anforderung jedenfalls dann keine angemessene Antwort, wenn die politischen Alternativen klar zutage liegen. Thüringen ist dafür in der 6. Wahlperiode seines Landtags (2014–2019) ein geradezu idealtypisches Beispiel. LINKE, SPD und Grüne haben erstmals eine von einem Ministerpräsidenten der LINKEN geführte Landesregierung gebildet, deren Vordenker klar reformsozialistischen Vorstellungen verpflichtet sind. Landespolitik wird nicht als Rahmensetzung, sondern als Auftrag verstanden, lenkend in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kommunalen oder Bildungs- und Hochschulbereich einzugreifen. Zumindest soweit der Kompetenzbereich deutscher Länder dies zulässt. Auf der anderen Seite agiert als kleinere Oppositionsfraktion eine AfD, die sich unter den gleichen Kompetenzbeschränkungen mit einer nationalkonservativen Politik profiliert. Es fällt einer CDU-Fraktion unter diesen Umständen vergleichsweise leicht, ihren grundsätzlich anderen Politikansatz zu verfolgen. Ein paar Beispiele: In der Familienpolitik haben wir uns dafür eingesetzt, Familien direkt finanziell zu stärken und Familienzeit zu ermöglichen, statt ihnen für das letzte Kindergartenjahr kostenfreie Kita-Plätze anzubieten. In der Debatte über ein Bildungsfreistellungsgesetz hat die CDU darauf gedrungen, dass berufliche Fortbildung mitberücksichtigt wird, wenn schon die Arbeitgeber die Lohnkosten während der Freistellung tragen. Im Kommunalen Finanzausgleich lassen wir uns von der Vorstellung leiten, die finanzielle Selbstbestimmung der Kommunen zu stärken, statt sie durch Mitfinanzierungsanteile des Landes an den goldenen Zügel zu legen. Wir setzten uns dafür ein, Schulhorte in kommunaler Trägerschaft zu belassen, statt sie in die Hoheit des Landes zurückzuholen. Wir werben für die gleichmäßige Unterstützung aller Schultypen, statt Gemeinschaftsschulen zu privilegieren. Landkreise und Kreisfreie Städte sollen über das Schulnetz, ihre Schulstruktur und Schulstandorte selbst bestimmen, statt durch engmaschige Vorgaben ihrer Entscheidungsfreiheit beraubt zu werden. Unsere Hochschulpolitik orientiert sich an der Leistungsfähigkeit dieser Einrichtungen, statt sie unter der Fahne vermeintlicher Demokratisierung zu lähmen. Die Grundlinie wird leicht erkennbar. Freiheit heißt für die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag, im Geiste des Subsidiaritätsprinzips Verantwortung und damit auch Gestaltungsmöglichkeiten soweit wie möglich vor Ort zu belassen, in den Familien, den Kommunen, Schulen, mittelständischen Unternehmen. Wir sind nicht davon überzeugt, dass der Staat – in diesem Fall der Freistaat Thüringen – alles dies besser weiß und kann.

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3 Der außerparlamentarische Bereich In einem Punkt spitzten sich die entsprechenden Kontroversen auf besonders markante Weise zu: im Streit um die von der rot-rot-grünen Landesregierung bis zum Herbst 2017 mit Nachdruck betriebene Zwangs-Gebietsreform auf Kreisund Gemeindeebene. Die Anzahl der seinerzeit 23 Landkreise beziehungsweise Kreisfreier Städte hätte sich damit halbiert, zahlreiche Kreisstädte wären als Kristallisationspunkte des öffentlichen Lebens entfallen. Die Anzahl der knapp 850 Gemeinden wäre auf gut 100 zusammengeschrumpft. Dagegen hat sich die CDU von Anfang an konsequent gewandt. An diesem Punkt kommt auch die erhebliche Bedeutung der außerparlamentarischen Arena in den Blick. Für eine Volkspartei wie die CDU ist die kommunale Verankerung dabei von größter Bedeutung, die ihr Verbindungen zu zahlreichen lokalen Einrichtungen und Initiativen verschafft. Wohl keine andere Partei ist näher an den örtlichen Problemen. Die Wahlkreisbüros der Landtagsabgeordneten spielen dabei als Anlaufstellen für die Bürger und Kümmerer vor Ort eine ebenfalls nicht geringe Rolle. Gegen die Gebietsreform gründete sich ein Verein „Selbstverwaltung für Thüringen e. V.“, der entscheidend zur Mobilisierung der Bürger beigetragen hat. Es gelang ihm, in kurzer Zeit 140.000 Unterschriften gegen diese Vorhaben der Landesregierung zu sammeln. Hier eröffnete sich eine Möglichkeit, von der jede Oppositionsfraktion träumt: Seite an Seite mit einer Volksinitiative gegen eine parlamentarische Mehrheit vorzugehen und die erfolgreichste Sammlung in der Geschichte Thüringens zu unterstützen. Das Volksbegehren selbst musste nicht mehr durchgeführt werden, da die CDU-Fraktion im Rahmen einer Normenkontrolle gegen das von der ­rot-rot-grünen Parlamentsmehrheit verabschiedete Gebietsreformvorschaltgesetz geklagt hatte und Recht bekam: Der Thüringer Verfassungsgerichtshof erklärte es im Sommer 2017 für verfassungswidrig. Die Regierung Ramelow versuchte ihre Reform bis zum Herbst des gleichen Jahres durch allerhand Winkelzüge noch zu retten, gab sie dann jedoch auf. Dabei spielten auch die Medien eine Rolle. Die Journalisten griffen das handwerkliche Unvermögen der Regierung wiederholt auf, obgleich sie ursprünglich mehrheitlich mit der Gebietsreform sympathisiert hatten. Sehr spät, nach rund drei Jahren Regierungszeit, schwenkte die Regierungskoalition auf den Kurs ein, den die Union seit langem verfolgt und erfolgreich in ihrer Regierungszeit umgesetzt hat: Gemeinden freiwillig neu zu gliedern. Unbeschadet bleibender Differenzen einer Politik, die sich nach wie vor gegen eine Form des gemeindlichen Zusammenlebens der Verwaltungsgemeinschaften richtet, ist dieser Weg richtig. Für die Regierung selbst, bleibt er

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unglaubwürdig. Die Hälfte der nun anstehenden freiwilligen Neugliederungen erfüllen die Vorgaben des von der Linkskoalition selbst gesetzten Leitbildes nicht. Darüber ist innerhalb der Regierung ein Streit ausgebrochen, nach der Landtagswahl diese Gemeinden erneut und dann zwangsweise zu fusionieren. Das Beispiel zeigt anschaulich, wie Opposition ein Vorhaben der Regierung mit Unterstützung aus der Gesellschaft und der Verfassungsgerichtsbarkeit erfolgreich verhindern kann. Die Möglichkeit, mit diesem Thema im Wahlkampf zu mobilisieren, ist damit allerdings vorerst entfallen. Als Beleg für den eingangs erwähnten Zielkonflikt in der Oppositionsarbeit potenzieller Regierungsparteien ist es daher ebenfalls. Klientelparteien, deren Angebot sich an kleinere Teile der Wählerschaft und bestimmte Interessengruppen richten, kennen die Ambivalenz in dieser Schärfe nicht. Dafür hat die Arbeit mit diesen Interessengruppen für sie eine tendenziell größere Bedeutung, sofern sie mit der jeweiligen politischen Ausrichtung korrespondieren. Über das anschauliche Beispiel der verhinderten Zwangs-Gebietsreform hinaus, ist die Bedeutung der organisierten außerparlamentarischen Interessen und Arenen nicht ohne weiteres auf einen Nenner zu bringen. Einerseits ist ihre Bedeutung überragend, weil Oppositionsfraktionen dort Themen finden und entwickeln können, die in den Parlamenten nutzbar sind. Sie sind ebenfalls als Resonanzraum und zur Präsentation eigener politischer Vorstellungen wichtig. Andererseits gibt es eine doppelte Begrenzung: Organisierte Interessen, die den politischen Zielen einer Oppositionsfraktion widersprechen, taugen auch nicht als Verstärker der eigenen Botschaften. Schließlich haben regierungstragende Fraktionen überall dort einen Startvorteil, wo es um finanzielle Zuwendungen oder sonstige Interessen geht, die nur mit einer parlamentarischen Mehrheit durchgesetzt werden können. Vor allem dort, wo sich außerparlamentarischer Protest gegen die Regierung formiert, kommt eher die Opposition zum Zug. In Thüringen sind dies etwa zahlreicher Bürgerinitiativen, die sich gegen den forcierten Ausbau der Windenergie wenden. Sie suchen und finden auch deshalb in der CDU-Fraktion einen Partner, weil sie auf Entgegenkommen einer ­rot-rot-grünen Regierung ohnehin nicht rechnen können.

4 Einflussgrenzen parlamentarischer Opposition Damit ist einer der Faktoren umrissen, die Handlungsmöglichkeiten der parlamentarischen Opposition naturgemäß einschränken. Sie ist für Bürger, die aktuell etwas wollen und dazu das Ohr der Regierenden brauchen, einfach kein bevorzugter Ansprechpartner. Setzt eine Oppositionsfraktion ihr Anliegen auf die

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Tagesordnung des Parlaments, ist die Ablehnung das wahrscheinlichste Ergebnis. Um diesen Nachteil abzumildern, könnten Oppositionsfraktionen einen freilich riskanten Weg einschlagen: Sich in die Regierungsarbeit einbinden zu lassen. Rot-Rot-Grün in Thüringen hat dies in den besonders konfliktträchtigen Bereichen der Gebietsreform und der Schulpolitik probiert. Über das absehbare Ergebnis sollte man sich nicht täuschen. Der Preis für Retuschen an der vorgegebenen Linie ist das dann schwer zu entkräftende Argument: Ihr seid doch dabei gewesen! Es entspricht auch nicht der Aufgabe der Opposition in der parlamentarischen Demokratie, die Alternativen klar zu verdeutlichen. Wir haben keine Konkordanzdemokratie. Spannend ist die Frage, welchen Einfluss knappe Mehrheiten auf die Handlungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition haben. Auch in diesem Punkt ist die Antwort nicht so eindeutig. In Thüringen regierte in der 6. Wahlperiode Bodo Ramelow lediglich mit einer Stimme Mehrheit: Er konnte sich auf 46 ­rot-rot-grüne von 91 Stimmen stützen. Als im Sommer 2017 eine Abgeordnete der SPD-Fraktion zur CDU-Fraktion wechselte, wäre die linke Mehrheit eigentlich dahin gewesen. Eigentlich, denn die SPD-Fraktion hat ihrerseits einen Abgeordneten aufgenommen, der ursprünglich auf Platz 2 der AfD-Landesliste in den Thüringer Landtag gekommen ist und über eine Phase der Fraktionslosigkeit bei der SPD landete. Ansonsten lehrt auch in Thüringen die Erfahrung, dass knappe Mehrheiten eher disziplinieren. Sie lassen sich auch nur dann umdrehen – etwa in einem konstruktiven Misstrauensvotum oder einer Vertrauensfrage – wenn die Opposition geschlossen auftritt. Das ist mit der AfD-Fraktion ersichtlich nicht denkbar. Zudem: die aus ihr ausgeschiedenen Abgeordneten stützen eher die Koalitionsfraktionen zusätzlich. So bleibt die eine nicht zu vernachlässigende Randbemerkung, dass vormalig aus dem Protest der außerparlamentarischen Opposition gewählte AfD-Abgeordnete nun ausgerechnet eine von der Linkspartei angeführte Koalition stützen. Andere Einschränkungen empfinden besonders deutlich Fraktionen, die aus langer Regierungsverantwortung in die Opposition geraten: Der Informationsvorsprung von Regierungsfraktionen durch die Einbeziehung in die Arbeit des Kabinetts und die Expertise von Ministerien sind weg und sie müssen kompensiert werden. Das gleiche gilt für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Eine Staatskanzlei, acht Ministerien, drei Regierungsfraktionen sind mit ihren Stäben am Markt und setzen Nachrichten. Das erzwingt eine Konzentration auf aussichtsreiche Themen. Die bundespolitische Bühne ist fern. Ein Ministerpräsident hat in Berlin zunächst erst einmal politisches Gewicht, zumal dann, wenn er eine bis dato nicht gekannte politische Farbkombination präsentiert. Dass lässt sich nur mit enormem Kraftaufwand und dann sicherlich nur

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u­ nvollkommen kompensieren. Für Thüringens CDU-Fraktion hat seit 2013 der Vorsitz in der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzendenkonferenz diese Möglichkeit geboten, erstmals in der parlamentarischen Geschichte für einen ostdeutschen ­CDU-Fraktionsvorsitzenden. Nicht unerheblich ist, ob man sich die Oppositionsrolle mit einer oder mehreren anderen Fraktion teilen muss. So viel Aufmerksamkeit wie Bodo Ramelow als erster Ministerpräsident der LINKEN zunächst fand, galt auch dem AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke als dem besonders deutschnational und sozialnationalistisch agierenden Flügelmann der AfD. Drückt er auf den „braunen Knopf“, beschäftigt er damit tagelang die Medien. Beides hat an Bedeutung verloren1, weil irgendwann jede Geschichte auserzählt ist und das Interesse der Journalisten an den Fachthemen wieder in den Mittelpunkt rückt. Darauf hat die CDU-Fraktion gesetzt und sich nicht auf Überbietungswettbewerbe mit der in der 6. Wahlperiode im Steuergeld schwimmenden linken Regierungskoalition oder einer AfD eingelassen, die alle Übel dieser Welt in einer vermeintlichen kulturellen Zersetzung durch Zuwanderer sieht. Ein in Thüringen mit seinem Ausländeranteil von nicht einmal fünf Prozent unplausibler Gedanke. Belastet wird die Oppositionsarbeit, wenn die Parlamentsmehrheit und die Regierung den Geist vermissen lassen, der aus dem oben zitierten Satz „Her/ His Majesty’s Opposition“ spricht. LINKE, SPD und Grüne haben der CDU in Regierungsverantwortung gelegentlich „Arroganz der Macht“ vorgeworfen. Nicht ohne die nötige Selbstkritik ist anzumerken: Wir wissen jetzt, was das heißt. Die verschleppte oder oberflächliche Beantwortung von Anfragen, die Verweigerung hinlänglicher Antworten in Fachausschüssen, das unwürdige Feilschen um parlamentarische Rechte machen der Opposition ihre Aufgabe unnötig schwer. Das verfassungsrechtliche Scheitern der Gebietsreform hatte übrigens in dieser Haltung seine Ursache: Missachtung parlamentarischer Verfahrensrechte. Funktionierender Parlamentarismus benötigt ein ausreichendes Maß institutioneller Loyalität der Mehrheit gegenüber der Minderheit. Eine neue Qualität zeigte sich in Thüringen Mitte 2018. Die Regierung Bodo Ramelows kündigte an, bis Juni 2019 einen Landeshaushalt für 2020 im Landtag verabschieden zu wollen. Neu daran wäre, dass erstmals ein Haushalt ausschließlich für ein Jahr beschlossen würde, in dem der beschließende Landtag bereits Geschichte ist. Denn spätestens am 10. Dezember 2019 muss sich der neue,

1Im

Landtagswahljahr 2019 hat sich dies durch die Polarisierung zur Wahl und durch das komplizierte Wahlergebnis, bei dem erstmals die Parteien Die Linke und AfD die Mehrheit der Mandate erringen konnten, wieder massiv geändert.

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7. Thüringer Landtag konstituiert haben. Das rot-rot-grüne Kabinett dürfte sich dabei im Einklang mit der verfassungsrechtlichen Kommentarlage bewusst sein, dass es das Königsrecht dieses neuen Landtags, die Budgethoheit, beeinträchtigt. Damit wird nicht allein das Budgetrecht der künftigen Abgeordneten, sondern vor allem das Wählervotum entwertet, denn der Landeshaushalt ist die in Zahlen gegossene Politik. Auf diese verfassungsrechtlich mindestens zweifelhafte Missachtung grundlegender parlamentarisch-demokratischer Regeln wies die CDU-Fraktion deutlich hin.

5 Ansatzpunkte für eine stärkere parlamentarische Opposition Grenzüberschreitungen der eben skizzierten Art können und müssen deutlich markiert werden, politisch und notfalls auch rechtlich. Tut man es nicht, wird auf Dauer die politische Kultur des Landes beschädigt. Sich zunächst mit der Frage befassen zu müssen, wie die Handlungsmöglichkeiten parlamentarischer Opposition erhalten werden können, statt sie zu erweitern, ist Anlass zur Besorgnis. Jenseits dieser grundsätzlichen Probleme, geht es um Praktisches. Leistungsfähige Opposition setzt voraus, dass für die Kontrolle der Regierung und die Formulierung von Alternativen ausreichend Ressourcen vorhanden sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass Regierungsfraktionen leichter Zugang zu dem im Regierungsapparat gespeicherten Informationen und Wissen haben als Oppositionsfraktionen. Das wird sich niemals vollständig kompensieren lassen. Ein weiteres Feld betrifft die Öffentlichkeitsarbeit. Sie steht in einem ständigen Spannungsverhältnis zwischen der Informationspflicht gegenüber der Öffentlichkeit, dem berechtigten Verbot der Parteienwerbung und den Regelungen des Medien- und Rundfunkrechts. Während zur Abgrenzung zwischen Fraktions- und Parteiarbeit eine breite Rechtsprechung vorhanden ist, läuft das einschlägige Recht der dynamischen Entwicklung im Bereich der Sozialen Medien hinterher. So gibt es seit den 2010er Jahren immer wieder Debatten mit den Landesmedienanstalten, ob bestimmte Formate unter den Rundfunkbegriff fallen und daher reguliert, im Klartext: begrenzt werden müssen. Dies ist ein Thema, das im Grunde alle Parlamentsfraktionen angeht, jene in der Oppositionsrolle aber deutlicher trifft, da ihre Möglichkeiten zur Öffentlichkeitsarbeit beschränkter sind als jene des jeweiligen Regierungsapparates. Über diese praktischen Verbesserungen hinaus, käme es vor allem darauf an, für mehr politische Offenheit und Interessenabwägung über die bisher üblichen und zum Teil ritualisierten parlamentarischen Prozesse in der Debattenkultur zu sorgen und den parlamentarischen wie außerparlamentarischen Meinungs-

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bildungsprozess sorgfältiger und mit höherer Legitimation anzulegen. Deshalb schlug die CDU-Fraktion 2016 vor, fakultative Referenden in die Thüringer Landesverfassung aufzunehmen. Es wäre ein Quantensprung, der Thüringen zum Vorreiter bei der politischen Bürgerbeteiligung machen würde und eine Antwort, auf das immer mehr schwindende Vertrauen in die demokratischen Institutionen und ihre Vertreter. Danach könnten in Thüringen 50.000 Wahlberechtige, das entspricht zweieinhalb Prozent der derzeit rund 1,8 Mio. Stimmberechtigten, innerhalb von 100 Tagen einen Volksentscheid über Gesetze verlangen, die der Landtag beschlossen hat. Um ein Gesetz durch ein dem fakultativen Referendum folgenden Volksentscheid zu bestätigen oder aufzuheben, wäre so wie bisher in der Thüringer Verfassung schon geregelt, ein Viertel der Stimmberechtigten erforderlich, die zugleich eine Mehrheit der Abstimmenden sein müssten. Der Landtag hätte darüber hinaus die Möglichkeit, auf Grundlage der öffentlichen Debatte, ein verbessertes Gesetz zur Abstimmung zu stellen. Knapp zwei Drittel der Thüringer hatten in einer repräsentativen Umfrage 2016 ihre Zustimmung für diesen Vorschlag signalisiert. Ziel dieses Vorschlags ist es, die parlamentarische Arbeit zu stärken und gleichzeitig den Bürgern mehr Beteiligungsmöglichkeiten zwischen den Wahlen in die Hand zu geben. Die Idee folgt dem Ideal, parlamentarische Mehrheiten von Anfang an dazu anzuhalten, Interessen der Bürger nicht aus dem Blick zu verlieren und sich der Themen im Parlament anzunehmen, diese abzuwägen, zu diskutieren und gegebenenfalls auch in die Gesetzgebung zu bringen. Eine gründlichere Debatte und sorgfältiges Prüfen und eine Entschleunigung kann der Gesetzgebung nur guttun. Ein naheliegender Einwand ist: Durch eine Regierung, die Fehler zu vermeiden sucht, werden die Spielräume der parlamentarischen Opposition eher verkleinert als erweitert. Der Einwand hält einer näheren Überprüfung allerdings nicht stand. Oft sind es die Oppositionsfraktionen, die den Bürgern bei den in der Öffentlichkeit heftig diskutierten oder gar umstrittenen Vorhaben im Parlament eine Stimme geben. Diese Stimme erhält durch diese dann möglichen nachgelagerten Bürgervoten in der Debatte mehr Gewicht. Denn auf der Hand liegt auch, dass Oppositionsfraktionen eher profitieren, wenn Initiativen für ein besseres Gesetz zustande kommen. Wird der Erfolg von Oppositionsarbeit an konkreten Verbesserungen zu ebenso konkreten Vorhaben gemessen, liegt der Nutzen des Instruments ohnehin auf der Hand. Mit Blick auf das Oppositionsziel, die Regierung abzulösen, ist die Wirkung des fakultativen Referendums ambivalent. Für kluge Mehrheiten und im Wahlkreis verwurzelte Abgeordnete dürfte es ein zusätzlicher Anreiz sein, Fehler möglichst zu vermeiden und damit zugleich ihre politischen Gestaltungschancen durch Wiederwahl zu erhalten. Kommt es dennoch anders, spielt die Wirkung

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eines gegen die Regierungsmehrheit anberaumten Referendums und einer möglicherweise auch noch gewonnenen Volksabstimmung freilich klar der Opposition in die Hände. Doch diese Erwägungen können und dürfen am Ende nicht ausschlaggebend sein, denn über allem steht das Wohl der Bürger und des Landes. Dem dienen gute Gesetze. Das muss das erste und gemeinsame Ziel der in Regierungs- wie Oppositionsfraktionen im Parlament arbeitenden Abgeordneten sein. Dem weiß die Thüringer CDU-Landtagsfraktion sich auch in Regierungsverantwortung verpflichtet. Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes und haften gemeinsam für das Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Demokratie.

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1 Lob der Opposition Gelegentlich heißt es, die Opposition sei die Regierung im Wartestand. Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Opposition Gesetzesvorhaben und andere Vorschläge der Regierung in der Regel kritisiert und Alternativen zu ihnen vorschlägt. Schon dadurch empfiehlt sie sich bereits als mögliche nächste Regierungspartei. Und dennoch ist das eine zu einfache Bestimmung dessen, was Opposition sein soll. Das erkennt man schon daran, dass eine wichtige Funktion tendenziell verdrängt wird: die der Kontrolle der Regierung durch das Parlament, die durch die Oppositionsfraktionen nun einmal deutlich entschiedener betrieben wird als durch die Fraktionen der Regierungsparteien. Zudem garantiert die Opposition die Öffentlichkeit der Politik: Indem diskutiert, problematisiert und kritisiert wird, indem Regierungshandeln abgefragt und damit kontrolliert wird, gerät die Politik in den Fokus der Öffentlichkeit. Damit wird das Parlamentarische bereits überschritten und die gesellschaftliche Debatte gestärkt. Wie es ein bedeutender Philosoph und Ökonom des 19. Jahrhunderts einmal formulierte: „Das parlamentarische Regime lebt von der Diskussion, wie soll es die Diskussion verbieten? Jedes Interesse, jede gesellschaftliche Einrichtung wird hier in allgemeine Gedanken verwandelt, als Gedanken verhandelt, wie soll irgendein Interesse, eine Einrichtung sich über dem Denken behaupten und als Glaubensartikel imponieren? Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der G. Gysi (*)  MdB, Die Linke, Deutscher Bundestag, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Bröchler et al. (Hrsg.), Kritik, Kontrolle, Alternative, Regierungssystem und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29910-1_15

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Preßbengel hervor, der debattierende Klub im Parlament ergänzt sich notwendig durch debattierende Klubs in den Salons und in den Kneipen (…)“ (Marx [1852] 2009, S. 153–154). So jedenfalls Karl Marx im „Achtzehnten Brumaire“. Und so falsch lag er da nicht. Opposition, als das treibende Moment der Debatte, ist mehr, sie ist sogar entschieden mehr; denn für die Demokratie ist sie das Entscheidende. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass es ohne legale Opposition keine Demokratie gibt. Zwar ist ein Konsens in politischen Fragen denkbar. Ich erinnere mich an einen Allparteien-Antrag im Bundestag unmittelbar nach der Entdeckung des NSU. Jedoch ist der Konsens in einer Gesellschaft, die durch Vielfältigkeit von Bedürfnissen und Interessen, eine hochgradig ausdifferenzierte Arbeitsteilung und Interessengegensätze zwischen und innerhalb von sozialen Klassen gekennzeichnet ist, der Dissens das Wahrscheinlichere. Daran, an die Normalität des Dissenses und der Gegensätze, ist zu denken, wenn über die Opposition und ihre Rechte gesprochen wird. Ignoriert man diese, unterdrückt man am Ende das Recht auf Widerspruch. Damit jedoch läuft man auch Gefahr, die realen Widersprüche zu ignorieren, man läuft Gefahr, sich von der Wirklichkeit zu entfernen. Demokratie, als bloße Mehrheitsherrschaft, verlöre dann ihr Lebenselixier, die Debatte um gesellschaftliche Probleme und die optimalen Lösungen für diese Probleme. Was das bedeutet, hat die Entwicklung der staatssozialistischen Länder eindringlich demonstriert. Der Staatssozialismus hat das Problem gegensätzlicher Interessen ignoriert. Seine Annahme, dass mit der Beseitigung des Kapitalismus die antagonistischen Interessengegensätze verschwunden seien, mag sogar richtig gewesen sein, aber das bedeutete nicht, dass es keine Interessengegensätze mehr gab, die öffentlich debattiert und demokratisch vermittelt hätten werden müssen. Das politische System der DDR und anderer staatssozialistischer Systeme ließ die offene Diskussion um gesellschaftliche Entwicklungsprobleme immer nur ausnahmsweise zu, sie wurde nicht zum Normalzustand. Damit blieben diese Staaten hinsichtlich der Demokratieanforderungen, die an moderne Gesellschaften gestellt werden müssen, defizitär. Angesichts der ökonomischen Schwäche dieser Staaten wirkte sich das Demokratiedefizit besonders negativ aus, da eventuelle Korrekturmöglichkeiten unausgeschöpft blieben. Die andere Wirkung des Demokratiedefizits war die Ignoranz gegenüber der Gewährleistungspflicht von verfassungsmäßigen Grundrechten. Nicht zuletzt deshalb misslang die Anerkennung des Staates durch seine Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Nach dem Sieg des Westens im Kalten Krieg mag mancher denken, dass nun auch die liberale Demokratie und der Kapitalismus gesiegt haben, und zwar für alle Zeiten. Derartige Gedanken sind gefährlich. Sie machen blind für

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Gefährdungen, für selbstzerstörerische Dynamiken. Und die gibt es. Alles, was an der Anerkennung der demokratischen Staatsform „nagen“ könnte, gehört dazu. Als erstes wäre hier der Abbau des Sozialstaates im Zuge der neoliberalen Umgestaltung des Kapitalismus zu nennen. Der Sieg des Neoliberalismus hat ganz eindeutig auch etwas mit dem Scheitern des Staatssozialismus zu tun. Der Gedanke der Alternativlosigkeit ist nämlich nur dann plausibel, wenn Alternativen untergehen; und das ist ein Resultat des Scheiterns des Staatssozialismus. Mit dem Abbau des Sozialstaates wurde jedoch eine wichtige Legitimationsgrundlage der modernen Demokratie angegriffen. Weiter wäre hier zu nennen: Die Finanzkrise und das durch sie offenbarte Verhältnis des Staates zum großen Kapital. Solidarität wird vor allem mit Banken und Großkonzernen geübt. Der Verlauf der Eurokrise, verlässt man einmal die deutsche Perspektive und nimmt eine südeuropäische ein, wurde als rücksichtlose Machtausübung der Gläubigerstaaten gegenüber den Schuldenstaaten erlebt, einschließlich der entsprechenden Aussetzung der Demokratie. Parlamente wurden zu Vollzugsorganen von ­Troika-Diktaten. Die Zahl der Menschen in Demokratien wächst, die der Demokratie gleichgültig gegenüber stehen. Man muss vielleicht nicht dieses negative Bild malen. Aber man sollte kein Bild malen, das diese negativen Tendenzen ausspart. Denn diese greifen die Anerkennung demokratischer Gemeinwesen durch die Bürgerinnen und Bürger an. Was soll denn – im Ernstfall – verteidigt werden? Ein Bankenlobbyismus? Eine deutsche Vormachtstellung in Europa? Die Politik muss sich dieser destruktiven Tendenzen bewusst werden. „Es gibt keine Alternative“ heißt der Sache nach: Wählen könnte ihr, wen ihr wollt, aber es wird keine andere Politik geben. Die Aufgabe der Opposition ist es, diese Behauptung der Alternativlosigkeit stets aufs Neue zu widerlegen. Damit hat sie eine demokratische Funktion und eine Verantwortung für die Demokratie.

2 Erfolgskriterien Soweit zur Theorie. Doch es gibt auch Praxis, jede Menge Praxis, und da gelten andere Kriterien als „richtig“ und „falsch“. Hier geht es um Erfolg oder Misserfolg. Die parlamentarische Opposition hat viele Möglichkeiten zur erfolgreichen Arbeit. Ein Maß des Erfolgs, es muss nicht das entscheidende sein, ist das Wahlergebnis nach einer Wahlperiode. Weitere Maßstäbe sind der Bekanntheitsgrad von Politikerinnen und Politikern der Opposition oder die Bekanntheit des politischen Profils einer Oppositionspartei. Dabei muss das, was Leute über

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eine Partei glauben nicht identisch sein mit dem, was diese Partei tut. Bei den GRÜNEN denken immer noch viele, dass diese Partei eine linke Partei sei. Das sind jedoch Maßstäbe, die über die parlamentarische Arbeit selbst nur bedingt etwas aussagen. Denn diese Erfolgskriterien sind nicht konkret auf die parlamentarische Arbeit bezogen. Erfolge in einem konkreteren, unmittelbar parlamentarischen Sinn hat man immer dann, wenn man eine gesellschaftliche Aufmerksamkeit für ein bestimmtes Thema schafft. So ist es der LINKEN gelungen, durch hartnäckige Arbeit und im Zusammenspiel mit den Gewerkschaften, die das auch erst einmal verstehen mussten, die Mindestlohnforderung von einer rein verbalen Forderung zu einer anerkannten gesellschaftlichen Notwendigkeit zu machen. Gegen Ende der 17. Wahlperiode wurde deutlich, dass sich nicht einmal mehr CDU und CSU diesem Problem entziehen konnten. Zwar hat DIE LINKE den Mindestlohn nicht eingeführt, aber ohne sie gäbe es ihn wohl immer noch nicht. Er ist auch ihr Erfolg. Ebenso ist es gelungen, einfach durch stures Wiederholen, der Öffentlichkeit bewusst zu machen, dass die Bundeswehr in Afghanistan nicht einfach eine bewaffnete Entwicklungshelfertruppe war und ist, sondern dass sie dort Krieg führt. Es ist manchmal unvorstellbar, welche Hemmungen herrschen, das richtige Wort auszusprechen, aber genau diese Hemmungen müssen überwunden werden, um real über ein Problem sprechen zu können. Erst dadurch kam Bewegung in die Abzugsdiskussion. Schließlich darf man das Instrument der Kleinen Anfrage, überhaupt des Fragerechts, nicht unterschätzen. Regierungen sprechen nachvollziehbarer Weise ungern über gesellschaftliche Defizite, deren Behebung nicht zu ihrem Programm passen. Damit darüber gesprochen wird, ist diese Arbeit nötig. So ist das heute existierende Problembewusstsein dafür, dass Altersarmut schon bald ein Massenproblem werden wird, der stetigen Nachfragearbeit gerade der LINKEN zu verdanken, auf die dann gern durch Medien zurückgegriffen wird. Und so soll es ja auch sein. Der aktuelle Koalitionsvertrag lässt zwar keinerlei akzeptable Lösungsvorschläge erkennen, aber dass das Problem angekommen ist, das schon. Selbstverständlich gibt es noch die Ausschussarbeit, wo viel ausgebügelt werden kann. Ein besonderes Instrument sind die Untersuchungsausschüsse. Sie sind politisch wichtig, um die strukturellen Fehler und subjektiven Fehlentscheidungen bei gravierenderen Problemen aufzuklären. In den letzten Jahren gab es hier den NSU-Ausschuss und den Ausschuss zum ­NSA-Überwachungsskandal. Ich glaube, hier haben die Oppositionsparteien, in einem hohen Maß auch DIE LINKE, gute Arbeit geleistet.

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3 Außerparlamentarische Akteure Das Mindestlohnbeispiel verweist auf die Frage, wie sich Opposition und außerparlamentarische Akteure zueinander verhalten, welche Rolle außerparlamentarische Arenen für die Opposition spielen. Zwischen außerparlamentarischen Arenen und der parlamentarischen Opposition bestehen Beziehungen in zwei Richtungen. Die eine Richtung führt von der Opposition zu den außerparlamentarischen Arenen und Akteuren. So hat DIE LINKE innerhalb der Gewerkschaften viel Überzeugungsarbeit geleistet, damit diese sich mit der Mindestlohnforderung auseinandersetzten. Das war nicht einfach, weil die Gewerkschaften lange Zeit der Ansicht waren, dass der Mindestlohn ein Eingriff in die Tarifautonomie sei. Das ist er auch insofern, als dass er den Abschluss zu niedriger Tariflöhne verhindern soll. Im Prinzip jedoch bedeutet er eine Veränderung des Rahmens, innerhalb dessen Tarifautonomie praktiziert wird. Generell kann man auch sagen, dass es u. a. die außerparlamentarischen Arenen sind, die überhaupt erst geeignete Öffentlichkeiten für bestimmte politische Anliegen schaffen. Anders kann eine fachpolitische Akzeptanz nicht erreicht werden. In der anderen Richtung gibt es auch eine Wirkung. Selbstverständlich tragen außerparlamentarische Akteure Anliegen an die Fraktionen, damit auch an die Opposition, heran. Häufig ist das ein Weg, die Parteien überhaupt erst für ein Problem zu sensibilisieren. Im Fall der EU-Grenzschutz-Agentur FRONTEX und ihrer, gelinde gesagt, zweifelhaften Praktiken waren dies Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl oder das Deutsche Institut für Menschenrechte. Zum außerparlamentarischen Agieren gehören auch die wechselseitigen Wirkungen von Kundgebungen, anderen Veranstaltungen, Medienauftritten und Sprechstunden für Bürgerinnen und Bürger.

4 Grenzen Es gibt Situationen, wie wir sie beispielsweise in der letzten Wahlperiode in der Bundesrepublik hatten, dass die parlamentarische Opposition quantitativ marginalisiert ist. Dann wird die Wahrnehmung einiger Oppositionsrechte zur Angelegenheit des guten Willens der übergroßen Mehrheit, also letztlich zu einem Gnadenakt. Dem konnte durch Abmachungen abgeholfen werden, aber flexiblere verfassungsrechtliche Regeln wären allemal besser.

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Eine andere Einschränkung besteht darin, dass Regierung und Opposition allein schon beim Zugang zu Informationen keine „Waffengleichheit“ haben. Regierungsbefragungen im Plenum oder in Ausschüssen sind oftmals eine Art Katz-und-Maus-Spiel. Vielleicht wird das ja auch einmal als Kunstform oder Sportart etabliert: Finde eine möglichst ausweichende Antwort auf eine klar formulierte Frage! Auch das vorhin erwähnte Instrument der Anfragen hat Grenzen. Oft schon wurde unter Verweis auf sicherheitspolitische Erwägungen nicht oder nur ausweichend geantwortet. Oder ihr Sinn, Öffentlichkeit herzustellen, wurde durch Einstufung der Antworten als „geheim“ vereitelt. Dafür kann es im konkreten Fall durchaus Gründe geben. Aber diese müssten doch wenigstens ausgewiesen werden. Schließlich gibt es Geheimgremien. Diese sollen zwar die parlamentarische Einbindung absichern, aber die Abgeordneten, die in diesen Gremien wirken, können nicht öffentlich, auch nicht fraktionsöffentlich, über diese Dinge sprechen. Es gibt jedenfalls Grenzen. Es gibt drei Möglichkeiten, die Oppositionsrechte zu stärken. Zunächst ist es wichtig, dass Oppositionsrechte durch die Verfassung effektiver geschützt werden. Eine Mehrheit im Parlament kann noch so groß sein, das darf aber die Oppositionsrechte nicht schmälern. Nun ist mir klar, dass es Leute gibt, die „aufklärend“ belehren, dass es keine Oppositionsrechte geben würde, sondern nur Abgeordnetenrechte. Das mag schon so sein. Die können aber nur effektiv wahrgenommen werden, wenn sie wenigstens auch nur durch die Opposition wahrgenommen werden können. Und wie lähmend sich eine zu große Mehrheit auf die gesellschaftliche Debatte auswirkt, zeigten die ersten zwei Jahre der letzten Wahlperiode. Erst der Konflikt mit der durch die linke Partei SYRIZA geführten Regierung in Griechenland und dann die sogenannte Flüchtlingskrise haben zu gesellschaftlichen Diskussionen geführt. Beide Debatten haben übrigens auch gezeigt, wie Wohlstandschauvinismus und Ängste vor Flüchtlingen die längst lösungsbedürftigen Probleme unserer Gesellschaft an den Rand der Debatte drängten. Auch das ist ein Problem einer zu schwachen Opposition. Außerdem müssen die Grenzen des Fragerechts durch Geheimschutzanforderungen konkretisiert werden. „Geheim“ ist erst einmal nur eine Klassifizierung, keine Erklärung, erst recht keine Legitimation. Schließlich ist es wichtig, dass die Abgeordneten besser werden. Wie formuliert man eine Frage so, dass wirklich geantwortet werden muss, ohne Ausweichmanöver? Ich habe, als ich noch Fraktionsvorsitzender war, viele Kleine Anfragen gelesen. Manche waren fast schon Einladungen, darauf nur ausweichend zu antworten. Man muss das Ausweichrepertoire kennen. „Die Bundesregierung kommentiert keine Presseberichte“ beispielsweise. Daneben gibt es noch viele andere Manöver.

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Leider kann man die Forderung, „besser zu werden“, nicht ins Grundgesetz schreiben.

5 Fundamentalopposition Ein wichtiges Thema habe ich bisher ausgespart, aber man kommt nicht drum herum: Was ist Fundamentalopposition? Das ist zunächst einmal nur ein Wort aus dem Jargon des politischen Journalismus. Von Fundamentalopposition ist immer dann die Rede, wenn etwas unterstellt wird, das sich in den simplen Worten ausdrücken ließe: „Die wollen doch gar nicht regieren!“ Es ist also ein herabwürdigender Ausdruck. Dennoch sind damit bestimmte Phänomene gemeint, die in der Sache nur bedingt vergleichbar sind, jedoch in ähnlichen Situationen regelmäßig auftreten: Dann, wenn neue Parteien entstehen, die eine gewisse Etablierungschance haben, wird von Fundamentalopposition gesprochen. Als die GRÜNEN in der Etablierungsphase waren, später DIE LINKE, jetzt leider von rechts die AfD, wird immer von Fundamentalopposition gesprochen. Real läuft aber etwas anderes ab. Parteineugründungen haben immer dann eine Chance, wenn ein größerer Teil der Bevölkerung Interessen politisch artikuliert, die sie im Bundestag nicht vertreten sehen. Bei den GRÜNEN waren das Themen, die sich in den „Neuen sozialen Bewegungen“ wie der Frauenbewegung, der Schwulen- und Lesbenbewegung, der Anti-AKW- und Umweltbewegung und natürlich der Friedensbewegung ausdrückten. Da es damals weder bei den Sozialdemokraten noch bei den Liberalen noch bei den Konservativen ein Sensorium dafür gab, hatten die GRÜNEN eine Chance. DIE LINKE konnte den Widerstand gegen die Agenda 2010 und das Unbehagen am Neoliberalismus nutzen, um sich ein Wählerpotenzial zu erschließen, das weit über dem der alten PDS lag. Die AfD konnte die Irritationen, die zunächst die Euro-Politik, später die Flüchtlingspolitik, bei relevanten Bevölkerungsteilen auslöste, dadurch für sich nutzen, dass sie einen reaktionären Deutungsrahmen, der schon immer existierte, aktivierte. Junge Parteien sind in einer Sortierungsphase. Sie wissen noch um den Impuls, der sie zur parlamentarischen Kraft macht, sind aber zugleich unter Professionalisierungsdruck. Letzterer schützt sie zwar vor autodestruktiven Dynamiken (diese Schutzwirkung sollte man nicht überschätzen), er gefährdet aber objektiv die Bindung an die Schichten, denen man den Erfolg erst verdankte. Am deutlichsten wird das an der Sprache. Es gibt inzwischen mindestens zwei politische Sprachen. Die eine wird von ganz normalen Leuten, die im Hauptberuf gerade keine Politikerinnen und

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Politiker sind, gesprochen. Die andere wird von Leuten gesprochen, die hauptberuflich eng mit der Politik zu tun haben. Und da wird es unglaublich technokratisch. Wenn jemand im Fernsehen sagt: „Unterhalb eines Stundenlohns von 12 EUR lebt man unter der Armutsrisikogrenze“ hören die Leute schon wieder weg, bevor der Satz zu Ende ist. Anders der Satz: „Löhne unter 12 EUR sind Armutslöhne!“ Ein bisschen einfach, vielleicht zu einfach, aber in der richtigen Richtung und vor allem klar. Denn die Leute, die es etwas angeht, müssen auch verstehen können, um was es geht, nämlich um sie, wenn im Parlament debattiert wird. Wir müssen die Demokratie für die Bürgerinnen und Bürger attraktiv und erlebbar machen und sie ihnen so zurückgeben. Es kommt darauf an, wie ich das nenne, zu „übersetzen“. Man nehme folgendes Beispiel, das ich immer bringe: Bei einer Steuerreform von SPD und Grünen ging es darum, dass sie die Veräußerungserlössteuer von Kapitalgesellschaften strichen und bei Inhaberunternehmen verdoppelten. Dazu habe ich einen Redebeitrag gehalten, der ungefähr so ging: Wir beschließen heute folgende Steuerreform: Wenn die Deutsche Bank bisher was verkaufte, dann bekam sie dafür einen Kaufpreis – statt „Veräußerungserlös“ sagte ich „Kaufpreis“. Und auf diesen Kaufpreis, sage ich weiter, musste sie bisher eine Steuer bezahlen. Und wenn der Bäckermeister etwas verkaufte, bekam er auch einen Kaufpreis, und darauf musste er einen halben Satz Steuern bezahlen. Und jetzt, habe ich verstanden, erleben wir eine sozial-ökologische Reform, und die besteht darin, dass der Bäckermeister das Doppelte bezahlen muss und die Deutsche Bank nichts mehr. In der ersten Version versteht man normalerweise nichts, außer man kennt die technischen Termini. In der anderen Version verstehen alle, wer belastet und wer entlastet wird. Ich erzähle diese Anekdote deshalb so gern, weil ich damit eine Erinnerung verbinde. Abgeordnete sind meistens Fachabgeordnete und verstehen deshalb kaum etwas von dem, was gerade verhandelt wird, außer es ist ihr Gebiet. Dafür gibt es die Abstimmungsempfehlungen und das Vertrauen, dass da etwas Korrektes empfohlen wird. Nach meinem Beitrag sprangen plötzlich sozialdemokratische Abgeordnet aufgeregt auf und fragten den damaligen Fraktionsvorsitzenden Struck, ob das denn stimme, was ich gerade gesagt hätte. Beschlossen haben sie die falsche Richtung trotzdem. Ich befürchte jedoch, dass die Sprache der Technokratie auf dem Siegeszug ist. Auch das ist ein Grund für die Stärke der AfD. Wenn man sich selbst nur noch so ausdrücken kann, dass nur wenige verstehen, worum es geht, dann überlässt man es der reaktionären, radikalen Rechten, so zu sprechen, dass andere es

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v­ erstehen. Das Problem ist nur, dass es falsch ist, was sie sagen: sachlich und natürlich auch moralisch. Aber so gewann auch Trump den Wahlkampf. Um hier das Thema abzuschließen: „Fundamentalopposition“ taucht immer dann als abwertende Kennzeichnung auf, wenn Parteien noch in der Sortierungsphase stecken. Dahinter steckt aber immer auch der Wunsch, diese Parteien möglichst schnell wieder los zu werden. Klar ist jedenfalls, dass es kein wirklich guter Begriff ist.

6 Ein Widerspruch? Man kann sich jetzt aber fragen, ob ich nicht einen Widerspruch erzeugt habe. Zum einen lobe ich die Opposition, erhebe sie zum Garanten der Demokratie, zum anderen jedoch habe ich meine Ablehnung gegenüber der AfD nicht verhehlen können, weil ich das auch gar nicht will. Dabei müsste ich ihr doch alle positiven Attribute beilegen können, die ich der Opposition schon beilegte. Das ist das Problem des Populismus, der auf rechte wie linke Parteien Anwendung fand, aber auch zur Kennzeichnung von Politikern und Politikerinnen genutzt wurde. Damit meint man aber höchst unterschiedliche Dinge. Wenn ich z. B. Sigmar Gabriel wegen seines verbalen Agierens während der Auseinandersetzung mit der SYRIZA-Regierung des Populismus schelten würde, dann nicht nur aufgrund seiner Anrufung des „deutschen Arbeiters“; sondern ich würde es tun, weil er Beifall erheischte für etwas, das er ohnehin nicht ernst meinte. Denn nur kurze Zeit später malte er im Bundestag die schöne Utopie eines sozialdemokratisch ausgestalteten Europas aus. Noch später empfahl er seiner Partei, mit allen progressiven Kräften, er nannte ausdrücklich auch SYRIZA, zusammenzuarbeiten. Diesen Typus des Populismus nenne ich unernst aus Gefallsucht. Er ist nicht unschädlich, aber am meisten schadet er denen, die sich ihm Hingeben. Eine andere Form des Populismus nenne ich den formalen Populismus. Hier besteht das populistische Moment darin, dass der Glaube propagiert wird, dass eigentlich alles ganz einfach sei. Das Formale daran ist eben die Form „im Prinzip ist das doch ganz einfach“. Hier ist auch etwas Schädliches am Werk, denn die Komplexität unserer Gesellschaft wird unterschätzt. Damit werden Hoffnungen geweckt, die unmöglich alle erfüllt werden können. Richtig gefährlich wird der Populismus aber erst dann, wenn er das „Volk“ – ohne zu sagen, wer dazu gehören soll – gegen andere in Stellung bringt: die „Etablierten“, die Zuwanderer und Flüchtlinge, die emanzipierten Frauen und Vertreter fortschrittlicher Kultur,

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die Homosexuellen usw. Hier wird dann eine „Wahrheit“ konstruiert, die die „Etablierten“ angeblich bekämpfen, weil sie mit den schon genannten Gruppen verbandelt seien. Dieser Populismus sucht Anlehnungen an Nazidoktrinen, die dann natürlich von der bösen Presse „missverstanden“ werden; dieser Populismus will die Demokratie vielleicht nicht gänzlich abschaffen, auf jeden Fall aber autoritär transformieren. Wenn der Einzug der AfD einen demokratischen Gewinn darstellt, dann nicht deshalb, weil angeblich Unterdrückte „endlich“ das sagen dürfen, was sie schon immer an Unsinn im Kopf hatten, sondern aus einem anderen Grund: Weil er eine Mahnung ist an die Demokratie, wie fragil sie eigentlich geworden ist. Wer die Abschaffung der liberalen Demokratie verhindern will, muss sich zunächst zu ihr bekennen. Aber das wird nicht wirklich viel nützen. Vielmehr muss begriffen werden, was unsere Gesellschaft so angefressen hat, dass diese Kräfte so offen zum Vorschein kommen konnten. Das heißt, wir müssen den Neoliberalismus nicht nur dahin gehend begreifen, dass er ein Programm der Deregulierung und der Schwächung des Sozialstaats ist; das ist er ohnehin. Wir müssen verstehen, dass der Neoliberalismus auch ein Programm der Spaltung und Schwächung von Solidarität ist. In einer solidaritätsgeschwächten Gesellschaft entsteht jener Geist der aggressiven Ausgrenzung, der heute den Rechtspopulismus kennzeichnet. Wenn das wirklich verstanden und entsprechend konsequent gehandelt wird, dann kann unsere Demokratie das AfD-Signal richtig verarbeiten. Gelingt das nicht, dann sahen oder sehen wir in Ungarn, Polen, Dänemark, Holland, Österreich, Italien und vor allem in Trumps USA, was auf uns zukommen kann.

Literatur Marx, K. (2009). Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In K. Marx & F. Engels (Hrsg.), Werke (Bd. 8, S. 111–207). Berlin: Karl Dietz Verlag. (Erstveröffentlichung [1852]).