»Kritik im Handgemenge«: Die Marx'sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz 9783839441503

Marx within a political context - This book is about a new approach of how to see Marx` social criticism more from the p

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»Kritik im Handgemenge«: Die Marx'sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz
 9783839441503

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
KOMMUNISTISCHES DENKEN IN BEWEGUNG(EN)
Marx, Engels und der »wahre Sozialismus« oder: Die Geburt des »historischen Materialismus« aus dem Handgemenge
Marxʼ Gespenst: Die Kritik des Lumpen
Wissenschaft als »Organ« der Bewegung Konflikttheoretisches Denken bei Marx
BONAPARTISMUS UND KRISE
Ruhe nach dem Sturm Louis-Napoléon als zu korrigierender Fehler der Geschichte
Die Weltwirtschaftskrise 1857 und Marxʼ Krisenhefte
KRITIKMODI UND -MOTIVE
Produktivkraftentfaltung und kommunistisches Bewusstsein Zur Kritik eines Marxʼschen Kritikmotivs
Kapitalismus als Rätsel? Zur Kritik der Marxʼschen Kritik der politischen Ökonomie
Immanente Kritik oder Metakritik der Moral? Zu Normativität als Gegenstand und Grundlage der Marxʼschen Gesellschaftskritik
Fehlt Marx eine Theorie des Politischen? Marxʼ politische Kritik und die postmarxistische Marx-Kritik
WAHRHEITSPOLITIK UND DIE PRAXIS DER THEORIE
Die hohe Kunst der tiefen Schläge Die »Kritik im Handgemenge« als Vollzug kritischer Theorie
Das Proletariat gibt es nicht… Prolegomena zu einer Wahrheitspolitik nach Marx
Parteilichkeit der Theorie Zu Politik und Geltung der Wahrheit bei Marx
Über die Autorinnen und Autoren

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Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker (Hg.) »Kritik im Handgemenge«

Edition Moderne Postmoderne

Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker (Hg.)

»Kritik im Handgemenge« Die Marx’sche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz

Gefördert mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4150-9 PDF-ISBN 978-3-8394-4150-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder und Matthias Spekker | 7

KOMMUNISTISCHES DENKEN IN BEWEGUNG(EN) Marx, Engels und der »wahre Sozialismus« oder: Die Geburt des »historischen Materialismus« aus dem Handgemenge

Matthias Bohlender | 15 Marxʼ Gespenst: Die Kritik des Lumpen

Paul Stephan | 51 Wissenschaft als »Organ« der Bewegung Konflikttheoretisches Denken bei Marx

Christopher Senf | 73

BONAPARTISMUS UND KRISE Ruhe nach dem Sturm Louis-Napoléon als zu korrigierender Fehler der Geschichte

Anna-Sophie Schönfelder | 97 Die Weltwirtschaftskrise 1857 und Marxʼ Krisenhefte

Rolf Hecker und Kenji Mori | 139

KRITIKMODI UND -MOTIVE Produktivkraftentfaltung und kommunistisches Bewusstsein Zur Kritik eines Marxʼschen Kritikmotivs

Matthias Spekker | 161

Kapitalismus als Rätsel? Zur Kritik der Marxʼschen Kritik der politischen Ökonomie

Bastian Ronge | 203 Immanente Kritik oder Metakritik der Moral? Zu Normativität als Gegenstand und Grundlage der Marxʼschen Gesellschaftskritik

Lukas Egger | 221 Fehlt Marx eine Theorie des Politischen? Marxʼ politische Kritik und die postmarxistische Marx-Kritik

Oliver Flügel-Martinsen | 245

W AHRHEITSPOLITIK UND DIE P RAXIS DER THEORIE Die hohe Kunst der tiefen Schläge Die »Kritik im Handgemenge« als Vollzug kritischer Theorie

Antje Géra und Sebastian Schreull | 267 Das Proletariat gibt es nicht… Prolegomena zu einer Wahrheitspolitik nach Marx

Gregor Schäfer | 303 Parteilichkeit der Theorie Zu Politik und Geltung der Wahrheit bei Marx

Alex Demirović | 333

Über die Autorinnen und Autoren | 349

Vorwort M ATTHIAS B OHLENDER , A NNA -S OPHIE S CHÖNFELDER UND M ATTHIAS S PEKKER

Was heißt »Kritik im Handgemenge«? Was heißt »Gesellschaftskritik« überhaupt bei Marx? Und was macht das Spezifische der Marxʼschen Gesellschaftskritik aus? Schon ein kurzer Blick auf das Œuvre von Marx macht deutlich, wie eng der Begriff der Kritik mit seinen politischen und theoretischen Arbeiten verknüpft ist, so dass es fast unmöglich erscheint, eine auch nur annähernd zufriedenstellende Antwort zu geben. Von der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843/1844 bis zur Kritik des Gothaer Programms von 1875 sind fast alle wichtigen Texte von Marx in ihrer Selbstbezeichnung und ihrem Selbstverständnis nach »Kritiken«. Es sind Kritiken, Infragestellungen, Problematisierungen von gesellschaftlichen Verhältnissen und Zuständen, die es umzuwälzen und zu revolutionieren gilt. Gleichwohl gebraucht Marx nicht immer und nicht im Hinblick auf jeden Gegenstand dieselbe Stimme, um diese Kritiken zu artikulieren, ganz im Gegenteil: Er variiert je nach zeitlicher Lage, theoretischem Erkenntnisgegenstand und politischer Einschätzung auf vielfältige Weise sein kritisches Repertoire. Blickt man diesbezüglich auf die Marxforschung der letzten fünfzig Jahre, so haben sich bis heute zwei Richtungen oder zwei Linien zum Kritikbegriff bei Marx herausgebildet, die jeweils eine bestimmte Stimme der Kritik besonders hervorheben und zur tragenden Stimme des gesamten Werkes machen: Da gibt es jene Autorinnen und Autoren, die die Marxʼsche Kritik von ihrem späten Zentrum aus begreifen, vom Kapital und der Kritik der politischen Ökonomie, d.h. von einer wissenschaftlichen Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, deren Geheimnisse, Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche Marx enthüllt habe. Die Stimme der Kritik, so heißt es, komme hier zu ihrer vollen Entfaltung, weil sie nun die Reife und das Niveau einer eigenen wissenschaftlichen Darstellung und einer methodisch-methodologischen Reflexivität vorwei-

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sen kann. Demgegenüber gibt es jene Interpretinnen und Interpreten, die genau umgekehrt die frühe Stimme der Kritik bei Marx herausheben und sie gegen den Dogmatismus und Szientismus des späten Marx in Anschlag bringen. Hier eben in den frühen Texten, so der Grundtenor dieser Interpretationen, habe Marx mit dem Begriff der »Entfremdung« einer kritischen Gesellschaftstheorie ein sozialphilosophisch und normativ folgenreiches Instrumentarium an die Hand gegeben, um spezifische Pathologien einer nicht nur kapitalistisch vergesellschafteten Lebensweise offenzulegen und zu kritisieren. Kritik als Wissenschaft der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft auf der einen und Kritik als sozialphilosophische Reflexivität gesellschaftlicher Pathologien auf der anderen Seite! Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um zwei mächtige Stimmen der Kritik bei Marx; und doch machen die beiden Stimmen gerade in ihrer einfachen Gegenüberstellung und Aufzählung deutlich, dass etwas fehlt – etwas, das man das eigentliche politische Zentrum der Marxʼschen Kritik nennen könnte, etwas, das weder in der rein wissenschaftlichen noch in der sozialphilosophischen Konturierung der Kritik hinreichend deutlich benannt wird. In einem kleinen Text mit dem Titel Les trois paroles de Marx1 hat Maurice Blanchot diesen beiden Stimmen noch eine weitere, eine dritte Sprechweise der Kritik hinzugefügt. Auch Blanchot erwähnt zunächst die Sprechweise des wissenschaftlichen Diskurses und des kritischen Überprüfens, die letztlich darauf abziele, »die Idee der Wissenschaft selbst in Erschütterung« zu versetzen (Blanchot 2007: 146). Und er verweist auch auf eine weitere Sprechweise, die Marx als einen »Schriftsteller des Denkens« auszeichne, der sich des »philosophischen Logos bedient, sich mit den großen Substantiven behilft« (Entfremdung, Geschichte, totaler Mensch) und seine Redeweise »im Element der Reflexion sich entfalten lässt« (ebd.: 145). Doch der für unseren Zusammenhang vielleicht wichtigste Verweis von Blanchot ist der auf die Existenz einer dritten Sprechweise bei Marx: »Sie ist kurz und direkt [...]. Sie trägt keinen Sinn mehr, sondern sie ist ein Appell, eine Gewalt, die Entscheidung eines Bruchs. Sie sagt nichts im eigentlichen Sinne, sie ist die Dringlichkeit dessen, was sie ankündigt, welche an eine ungeduldige und immer exzessive Forderung gebunden ist, denn der Exzess ist das einzige Maß: So ruft sie zum Kampf auf und postuliert sogar (was wir uns beeilen zu vergessen) den ›revolutionären Terror‹, empfiehlt die ›permanente Revolution‹ und bezeichnet die Revolution immer als etwas, was

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Der Text erschien zunächst 1968 anonym in der ersten Nummer der Zeitschrift Comité unter dem Titel Lire Marx und wurde später wiederabgedruckt unter der Überschrift Les trois paroles de Marx.

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keine zeitlich begrenzte Notwendigkeit ist, sondern ein unmittelbar Bevorstehendes« (ebd.: 145 f.).

Was Blanchot hier neben den beiden anderen Stimmen von Marx als eigenständige politische Sprechweise benennt und hervorhebt, ist die Tatsache, dass die Marxʼsche Kritik immer auch eine spezifische Aktivität darstellt. Sie versteht sich wesentlich als einen politischen Einsatz vor dem Hintergrund sozialer Kämpfe und innerhalb von Macht- und Kräfteverhältnissen, in denen etwas Grundlegendes und Dringliches auf dem Spiel steht: die herrschaftsfreie und klassenlose Gesellschaft. Innerhalb eines bestimmten Zeitraums zwischen 1845 und 1847 verwandelt sich diese politische Stimme der Kritik in eine radikale, performative und parteiliche, d.h. kommunistische Praxis, diagnostiziert eine in Klassen gespaltene, antagonistische Gesellschaft und fordert alle intellektuellen Anstrengungen zur revolutionären Aufhebung dieser Gesellschaft und ihrer kapitalistischen Produktionsweise. Die Marxʼsche Kritik betreibt wissenschaftliche Analyse und normative Kritik der Gesellschaft; sie zieht – wenn es sein muss – alle Register der diskursiven, der kritischen Kunst: vom leichten Florett bis zum schweren Säbel, vom kurzen polemischen Essay bis zur umfassenden wissenschaftlichen Abhandlung. Denn die Marxʼsche Kritik begreift sich selbst als Teil einer umfassenden revolutionären Bewegung zur Umwälzung der bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaftsformation. Das ist ihre raison dʼêtre. Demzufolge weiß sie sich immer schon in einer Konstellation von Auseinandersetzungen, von Gegnern, Gegnerinnen und Fronstellungen. Es war ausgerechnet der frühe, der noch junghegelianische Marx, der für diesen Modus der Kritik und ihrer Praxis einen durchaus treffenden Begriff geprägt hat. In Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt er: »Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen.« (MEGA² I/2: 173)

Vielleicht hat man diese Stimme deshalb allzu gerne überhört und vergessen, weil sie etwas Gewalttätiges und Rücksichtsloses transportiert, weil sie eine Dringlichkeit besitzt und eine Beunruhigung hervorruft, die dem wissenschaftlichen und sozialphilosophischen Diskurs nicht angemessen erscheinen. Vielleicht auch ist sie eine zu gefährliche Stimme, die sich der zunehmenden Akademisierung und Kanonisierung von Marx versperrt. Aber müsste man sie nicht gerade deshalb zu Gehör bringen? Müsste man sie nicht, statt sie als theoretisch unzu-

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länglich abzuweisen oder als moralisch unerhört zu ignorieren, vielmehr auf Grund ihrer Gefährlichkeit erneut befragen? Die Beiträge in dem hier vorgelegten Band »Kritik im Handgemenge«. Die Marxʼsche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz wollen genau dies leisten. Es geht zunächst einmal darum, diese Stimme der Kritik wieder als eine bedeutende und zentrale Stimme der Marxʼschen Gesellschaftskritik hörbar zu machen. Es geht darum, die konfliktuellen Konstellationen, aus denen sie geboren wird, offenzulegen, den politischen Einsatz, den sie performativ vollzieht, zu beschreiben und nicht zuletzt die paradoxalen Effekte, die sie zeitigt, zu problematisieren und kritisch zu befragen. Die Beiträge wollen darüber hinaus aber auch diese Stimme der Kritik in ein Prisma, in ein genealogisches Instrument verwandeln, um die Marxʼschen Texte in ihrer Gesamtheit neu zu perspektivieren. Was passiert mit diesen Texten, was passiert mit den scheinbar so vertrauten Kategorien, Begriffen und Konzepten der Marxʼschen Analyse, wenn man sie unter dem Fokus oder der Sehweise eines Handgemenges liest? Wird nicht erst durch diese Fokussierung deutlich, auf welche Weise das Handgemenge geradezu konstitutiv ist für Marxʼ Kritik? Ein letzter Punkt, der in diesem Band unter der genannten Perspektivierung zur Sprache gebracht wird, ist die Frage: Auf welche Weise affiziert der Fokus des Handgemenges den Begriff der Gesellschaftskritik? Muss Gesellschaftskritik bei Marx nun nicht viel stärker als eine politische Aktivität verstanden werden, die sich nicht zuletzt auf drei ganz unterschiedlichen, aber gleichwohl miteinander verschränkten Feldern vollzieht: dem Feld der politischen Organisation innerhalb der Arbeiterbewegung, wo es darum geht, in diesen Organisationen einen neuen, »kritischen Kommunismus« zu instituieren; auf dem Feld einer ausgedehnten und intensiven journalistischen Praxis, die dazu dient, mit unterschiedlichen Registern die Stimme der Gesellschaftskritik sowohl an die Bourgeoisie als auch an die Arbeiterklasse zu richten; und nicht zuletzt auf dem Feld der Theorie oder Wissenschaft selbst, wo Marx bis in die Entwicklung ihrer Kategorien hinein nicht nur einen Kampf gegen die bürgerlichen politischen Ökonomen, sondern vor allem auch gegen seine Gegner innerhalb der sozialistischen Bewegung führt? Es geht uns in diesem Band also um dreierlei: die Sichtbarmachung des Handgemenges, in dem die Marxʼsche Kritik sich bewegt, die Sichtbarmachung der konstitutiven Rolle des Handgemenges für die Kritik und die Sichtbarmachung dessen, was sich für den Begriff der Gesellschaftskritik ergibt, wenn man die Marxʼschen Texte als politische Einsätze im Handgemenge begreift. Der hier vorliegende Band basiert zu einem großen Teil auf Vorträgen einer Tagung, die im März 2017 im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemein-

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schaft (DFG) geförderten Forschungsprojekts »Marx und die ›Kritik im Handgemenge‹. Zu einer Genealogie moderner Gesellschaftskritik« an der Universität Osnabrück stattfand. In erster Linie haben wir den Vortragenden zu danken, die sich auf unsere Fragestellungen eingelassen und unsere Perspektivierung des Marx’schen Kritikbegriffs um etliche Facetten bereichert haben; ebenso danken wir den zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die mit uns diskutiert und sowohl Antworten gesucht als auch neue, weiterführenden Fragen aufgeworfen haben. Darüber hinaus gilt unser besonderer Dank all denen, die an der Durchführung der Tagung und der Fertigstellung des Bandes aktiv mitgewirkt haben, insbesondere Astrid Lagemann, Grete Binder, Roman Rüschemeyer, Robert Schumacher und Franziska Niebuhr. Osnabrück, im Januar 2018

L ITERATUR Blanchot, Maurice (2007): »Marx lesen«, in: Ders., Politische Schriften 19581993, Zürich/Berlin: Diaphanes, S. 145-147. Marx, Karl (MEGA² I/2): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/2, Berlin: Dietz Verlag 1982, S. 170-183.

Kommunistisches Denken in Bewegung(en)

Marx, Engels und der »wahre Sozialismus« oder: Die Geburt des »historischen Materialismus« aus dem Handgemenge M ATTHIAS B OHLENDER Weil sie im Kampf miteinander gelegen haben, weil sie, wie Nietzsche sagt, versucht haben einander wehzutun, weil sie sich im Kriegszustand miteinander befinden, gelangen sie während einer kurzen Phase der Stabilisierung dieses Kriegszustandes in einen Zustand des Bruchs, in dem schließlich die Erkenntnis wie ein ›Funke zwischen zwei Schwertern‹ aufscheint. MICHEL FOUCAULT1

Als Marx und Engels sich in den 1840er Jahren in ihrem politischen Selbstverständnis neu orientierten und von ehemals liberalen und republikanischen Positionen Abstand nahmen, betraten sie ein äußerst breites und unübersichtliches Feld von unterschiedlichsten sozialistischen bzw. kommunistischen Denkströmungen und ihren entsprechend vielfältigen Gruppierungen, Bewegungen und organisatorischen Praktiken. Der Chartismus in Großbritannien beispielsweise war auf die politische Forderung des allgemeinen Männerwahlrechts fokussiert, der Owenismus um die soziale und ökonomische Herstellung von Gleichheit mittels Trade-Unions, Tauschbörsen und Produktivgenossenschaften zentriert. In Frankreich traf man auf offen christlich-religiöse und republikanische Sozialismen, auf den industriell-technologisch ausgerichteten Saint-Simonismus, die so-

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Foucault 2002a: 682.

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zialistischen Traumwelten der Fourieristen und Fourieristinnen sowie die ikarischen Anhänger/innen Etienne Cabets; es gab die revolutionären Geheimgesellschaften des Neobabouvismus und die mutualistisch-produzierenden Assoziationen von Proudhon; in Deutschland und der Schweiz propagierte Wilhelm Weitling die Vorstellung einer kommunitären Gütergemeinschaft und Moses Hess verfolgte die Idee einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit zum Kommunismus.2 Der große Erfolg von Lorenz von Steins Versuch einer ersten systematischen Bestandsaufnahme der Sozialismen und Kommunismen allein in Frankreich aus dem Jahr 18423 ist auch dadurch zu erklären, dass hier jemand, wenn auch aus einer liberal-konservativen Perspektive, scheinbar das unübersichtliche Feld des sozialistisch und kommunistisch Sagbaren ordnete, diesem Feld eine gesellschaftliche Problematik zuwies (das eigentumslose Proletariat) und eine grundlegende Demarkationslinie einzuziehen vermochte. Diese Linie verlief zwischen einer zwar durchaus problematischen, aber immerhin doch vernünftigen Artikulation der ›sozialen Frage‹ durch die Sozialisten und Sozialistinnen auf der einen und die geradezu gefährlichen und irrationalen Anschauungen des Kommunismus auf der anderen Seite. Neben dem Sozialismus eines Saint-Simon und Fourier, schreibt von Stein, »steht der Communismus, ein finstres drohendes Gespenst, an dessen Wirklichkeit Niemand glauben will, und dessen Dasein doch Jeder anerkennt und fürchtet.« (Stein 1842: 4)4 Steins im deutschsprachigen Raum erstmaliger Versuch einer ›Ordnung des Diskurses‹ folgten zwei weitere prominente Versuche aus dem sozialistischen und kommunistischen Lager. Im Jahr 1845 veröffentlichte Karl Grün aus dem Pariser Exil heraus Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien mit dem

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Zu diesem Feld der unterschiedlichsten Sozialismen und Kommunismen siehe für Großbritannien Claeys 1989, für Frankreich Pilbeam 2000 und für Deutschland Meyer 1999. Eine sehr gute historische Analyse dieses Feldes auch und gerade im Hinblick auf die Differenzen zum Marxismus bietet immer noch Weber 1989.

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Moses Hess schreibt beispielsweise 1844 über von Steins Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs: »[D]as größte Verdienst hat in dieser Beziehung unstreitig Stein durch sein erwähntes Buch sich erworben. Wer weiß, wie viele Jahre noch vergangen wären, bis Deutschland sich ernstlich mit dem Sozialismus beschäftigt hätte, wäre dieses Buch nicht zur rechten Zeit und Stunde erschienen.« (Hess 1961b: 297)

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Mit diesem Satz macht Stein gleichsam den Auftakt zur intellektuellen «Gespensterjagd« auf den Kommunismus, von der das Kommunistische Manifest in seinen ersten Sätzen noch zehren wird. Vgl. Schieder 2004: 484 ff.

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erklärten Versuch, wie er an Moses Hess schrieb, »den Stein etwas [zu] verdrängen und vor vielen Dingen die Angst [zu] nehmen« (zit. nach Köppe 2005: 131). Auch wenn Grün auf den ersten Blick vieles von dem wiederholt, was von Stein schon ausgebreitet hatte, so könnte die Ordnungslogik nicht unterschiedlicher sein. Grün folgt nicht einer philosophisch-politischen Teilung des Feldes (ungefährlich/gefährlich; rational/irrational), sondern einer geschichtsphilosophischen Entwicklung desselben; er rekonstruiert die sozialistischen Bewegungen entlang einer aufsteigenden, dialektischen Linie, an deren Ende dann die zur Lösung der gesellschaftlichen Problematik höchste und adäquateste theoretische und praktische Ausdrucksform erscheinen muss. In seinem Fall ist diese sozialistische Ausdrucksform mit zwei Namen verknüpft: Feuerbach und Proudhon. »Erinnere Dich des Ausdrucks, Fourier habe seinen Feuerbach gefunden. Nichts ist richtiger, als dieser Vergleich. Proudhon ist der französische Feuerbach, der praktische Feuerbach, der nicht nach dem Wesen des Christenthums, sondern nach dem Wesen des Eigenthums fragt.« (Grün 1845a: 404)

Mit der Parallelisierung von deutscher Philosophie (Feuerbach) und französischem Sozialismus (Proudhon) folgte Grün hier dem einflussreichen Grundtopos einer sozialistischen Wechselwirkungstheorie, den Moses Hess wohl zuerst, dann aber auch Feuerbach, Marx und andere Junghegelianer immer wieder verwendeten5 – ob nun in den Metaphern von Kopf und Herz, Theorie und Praxis oder Philosophie und Proletariat. Entgegen der Steinʼschen Ordnungspolitik einer strikten Demarkation zwischen denen, die zur Bewältigung der sozialen Frage kooptiert und solchen, die bekämpft, zensiert und polizeilich behandelt werden müssen, beschwört Grün eine deutsch-französische Allianz, einen mit Feuerbachs Humanismus amalgamierten Sozialismus zur Entwicklung einer »wahren menschlichen Gesellschaft«. Wiederum drei Jahre später erschien anonym in London eine schmale 23seitige Broschüre mit dem Titel Manifest der kommunistischen Partei, die einen weiteren wichtigen Versuch unternahm, das Feld der in Europa dominanten sozialistischen und kommunistischen Strömungen am Vorabend der europäischen Revolutionen neu zu sortieren. Im oft vernachlässigten dritten Abschnitt des Textes breiten Marx und Engels ein klar strukturiertes Panorama von Namen, Doktrinen und Theorien aus, die allesamt nach einem bestimmten und neuartigen

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Moses Hess hatte in seiner Schrift Die europäische Triarchie von 1841 den Grundstein gelegt und dabei auch noch England als dritte Größe einer sozialistischen Wechselwirkungstheorie angeführt. Siehe Hess 1961: 77-165.

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Maßstab geordnet sind: vom »reaktionären Sozialismus« über den »konservativen oder Bourgeoissozialismus« hin zum »kritisch-utopischen Sozialismus und Kommunismus«. Zunächst könnte man glauben, diesem Maßstab läge ebenfalls eine geschichtsphilosophische Entwicklungslinie à la Grün zugrunde; oder man ist geneigt, an Steins politische Demarkationslinie zu denken, wenn Marx und Engels am Ende allen diesen Strömungen mehr oder weniger eine reaktionäre, irrationale und gefährliche Seite attestieren. Doch beide Perspektiven führen in die Irre. Der neue Maßstab, nach dem nun das Feld geordnet wird, ist weder rein geschichtsphilosophisch noch rein politisch motiviert – jedenfalls nicht im zeitgenössischen Sinn. Der neue Maßstab sortiert und bewertet, affirmiert oder verwirft eine bestimmte Doktrin oder Lehre allein danach, ob und inwieweit sie nichts anderes ist als der theoretische Ausdruck einer wirklichen geschichtlichen, proletarischen Bewegung im revolutionären Klassenkampf: »Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfes, einer unter unseren Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung.« (MEW 4: 474 f.)

Es handelt sich hier tatsächlich um eine völlig neue Weise, nicht nur das gesamte diskursive Feld zu ordnen, sondern zu bestimmen, was kommunistisch gesagt werden kann und was die Grenzen des kommunistisch Sagbaren über- oder unterschreitet. Neu ist hier nicht allein, dass der Maßstab weder eine »Idee«, ein »Prinzip«, ein autoritatives Subjekt (»Weltverbesserer«) noch ein »System« bzw. eine Doktrin ist, nach der man sich zu richten habe; neu ist vielmehr auch, dass der Maßstab nun immanent an eine geschichtliche Bewegung im Klassenkampf gebunden wird, mit der Folge, dass nun alle »theoretischen Sätze« nach ihrer Position innerhalb dieses antagonistisch gedachten Klassenkampfes beurteilt werden. Selbst die Tatsache, dass Marx und Engels diesen neuen Maßstab, diese neue Weise den Kommunismus zu artikulieren, auszusprechen in der Lage sind, muss noch einmal selbstreflexiv eingeholt und an eine bestimmte Phase der geschichtlichen Bewegung des Klassenkampfes zurückgebunden werden. Die eigene Subjektivität, die Richtigkeit und Stabilität der Sprechposition hängen davon ab, dass sie in der Bewegung lokalisierbar sind und darin ihren legitimen Platz einnehmen: »In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse […] einen so heftigen, so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der re-

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volutionären Klasse anschließt […]. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgoisieideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.« (Ebd.: 471 f.; Herv. M.B.)

In der Geschichte des Marxismus hat man diesen neuen Maßstab dem späten Engels folgend historisch-materialistisch genannt (vgl. MEGA² I/32: 116); Marx selbst sprach bisweilen von einem »kritischen Kommunismus« (vgl. MEW 4: 358, MEGA² I/11: 420). Welchen Namen man auch immer hierfür verwendet hat, es berührt nicht die genealogischen Grundfragen, die meinen Überlegungen zugrunde liegen und die ich hier ein stückweit zu entfalten und genauer zu exemplifizieren versuche, nämlich: Woher stammt dieser neue Maßstab, diese neue Weise, das Feld des sozialistisch und kommunistisch Sagbaren zu ordnen? Wo findet man den Entstehungsherd für sein Erscheinen innerhalb dieses Feldes? Welche Schlachten – und vor allem gegen wen – mussten geschlagen, welche Kräfteverhältnisse umgekehrt werden, damit die neue Erkenntnisweise sich herausbilden und siegreich etablieren konnte?6 Marx und Engels haben selbst einen interessanten Hinweis gegeben als sie ihr eigenes Erscheinen als Kommunisten auf den zugespitzten Klassenkampf und das »Übergehen« zur revolutionären Klasse zurückführten. Sie haben sich selbst (»Bourgeoisideologen«, die zu Kommunisten werden) und ihre neue Artikulationsweise (»theoretisches Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung«) als Ergebnis eines grundlegenden Kampfes und einer Konversion gedeutet. Folgt man dieser Spur, so stößt man tatsächlich auf einen Kampf, ein Handgemenge, und man stößt auf eine Verwandlung von Marx und Engels, die sich in einer Phase intensiver Auseinandersetzungen zwischen 1845 und 1847 vollzieht. In dieser Phase kommt es zur »theoretischen Selbstverständigung« von Marx und Engels in der Arbeit an der Deutschen Ideologie; es kommt zu einer radikalen Abstoßung, einer Häutung im Hinblick auf die eigenen vormals geteilten Vorstellungen; zugleich sind beide intensiv damit beschäftigt, ein neues europaweites Netzwerk in Form von »Kommunistischen Korrespondenzkomitees« aufzubauen; und nicht zuletzt treten sie aktiv ein für eine diskursive und organisatorische Neuausrichtung des Bundes der Gerechten – eine der europaweit wichtigsten sozialistischen und

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In diesem Sinne verstehen sich die hier vorgelegten Überlegungen als Ergänzung zu vorangegangenen Arbeiten und als Bausteine zu einer Genealogie der Marxʼschen Gesellschaftskritik; siehe Bohlender 2013, 2016a und Bohlender i.E.

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kommunistischen Organisationen deutscher Handwerker/-innen und Arbeiter/ -innen.7 Wo aber genau in dieser so bedeutsamen Geburtsphase der neuen historischmaterialistischen Perspektive lässt sich der Zusammenhang von Kampf und Konversion, von Handgemenge und Verwandlung sichtbar machen? Wo ist der spezifische Entstehungsherd, der eben beides miteinander verbindet: die theoretische Häutung und den organisatorischen Neuanfang? Ich glaube, dass man für die Beantwortung dieser Frage auf ein Handgemenge schauen muss, das in der bisherigen Marx-Engels-Forschung eigentümlicher Weise vernachlässigt wurde8: Es handelt sich dabei um den zum Teil erbitterten, hasserfüllten und äußerst langwierigen Kampf von Marx und Engels gegen eine vor allem im deutschsprachigen Raum einflussreiche sozialistische Gruppierung, die sie den »wahren Sozialismus« nannten.9 Die leitende Figur dieser Gruppierung und ihre personifizierte Angriffsfläche ist Marxʼ ehemaliger Bonner Studienkollege, der Schriftsteller und Philosoph, Journalist und Politiker Karl Theodor Ferdinand Grün (1817-1887). Der Kampf gegen Karl Grün und den »wahren Sozialismus« ist vielleicht nicht der alleinige Faktor für die Entstehung der neuen historisch-materialistischen Artikulationsweise des Kommunismus, aber er bildet einen ersten massiven Entzündungsherd;10 in ihm wird sich Marx (stärker als Engels) in Ge-

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Zur Geschichte des Bundes, seiner Umbenennung und Auflösung 1852 siehe Schraepeler 1972 und Hundt 1993; eine neuere und sehr empfehlenswerte Darstellung bietet Lattek 2006.

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Wichtige Arbeiten sind die von Dowe 1970, Bridenthal 1971, Strassmaier 1973 und speziell zu Karl Grün Deichsel 1997 und Schöppe 2005. Für eine umfassende Perspektive auf den »wahren Sozialismus« vom Standpunkt einer marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung siehe Förder 1960 und Cornu/Mönke 1961.

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Bisweilen wird er auch als »philosophischer«, »wissenschaftlicher« oder »deutscher Sozialismus« bezeichnet. Der Begriff selbst ist wohl eine polemische Fremdbezeichnung von Marx und Engels, die auf den häufigen Gebrauch des Wortes »wahr« (»wahre menschliche Natur«; »wahre menschliche Gesellschaft« etc.) zurückgeführt werden kann. Karl Grün verwendet ihn zwar bisweilen, aber gerade nicht als eine partei- oder programmspezifische Bezeichnung: »Was der wahre Sozialismus will, ist die Auferbauung des besten Lebenssystems.« (Grün 1845b: 185)

10 Die Auseinandersetzung mit Max Stirner, die Austreibung von Wilhelm Weitling, die offenen und versteckten Attacken gegen Moses Hess, der Kampf gegen Proudhon, das sind sicherlich weitere solcher Entzündungsherde. Man kann in ihnen nicht den philosophischen Ursprung oder die theoretische Grundlage des »historischen Materialismus« ausmachen, denn die Genealogie, wie Foucault schreibt, »schafft keine sichere

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stalt von Grün von sich selbst lösen, von einer feuerbachianisch-sozialistischen »deutschen Ideologie«; fast zugleich werden er und Engels gegen den politischen Organisationseinfluss der »wahren Sozialisten« innerhalb des Bundes des Gerechten ankämpfen und ein eigenständiges kommunistisches »Parteiprogramm« entwickeln, um die eigene instabile und fragile Sprechposition innerhalb und außerhalb des Bundes zu festigen und zu legitimieren. Im Folgenden will ich versuchen, diesen massiven Entzündungsherd in drei Schritten etwas genauer auszuleuchten: Zunächst soll es darum gehen, den »wahren Sozialismus« hinsichtlich der Verbundenheit und der konzeptionellen Nähe von Marx und Engels zu dieser Gruppierung zu konturieren (1); erst dann wird in einem zweiten Schritt der ideologiekritische Einsatz gegen den »wahren Sozialismus« sinnfällig, insofern nun die Ideologiekritik sich als Waffe und als Medium der Konversion erweist (2); doch erst die dauerhafte Persistenz des »wahren Sozialismus« innerhalb des Bundes der Gerechten führt zu offenen politisch-strategischen Kämpfen und zu der grundlegenden Frage: Wer darf legitimer Weise (für) das »Proletariat« sprechen? (3)

1. K OALITIONEN

ODER : I M B ÜNDNIS MIT H ESS UND FÜR DIE MENSCHLICHE E MANZIPATION

G RÜN

Was genau war der sogenannte »wahre Sozialismus«? Mit einem nüchternen, historiographischen Blick betrachtet, erscheint jene intellektuelle Gruppierung von Personen, die unter diesen Namen subsumiert wurde, als eine der bedeutendsten und wirkmächtigsten radikal-sozialistischen Strömungen des deutschen Vormärz. Vor allem in den preußischen Rheinprovinzen und Westfalen konnte der »wahre Sozialismus« sich in den Jahren 1844 bis 1847 mit einer ganzen Reihe von Publikationen und Zeitschriftenprojekten sowie mit Vorträgen seiner Protagonisten (Moses Hess und Karl Grün) im politischen Raum als ein auch und gerade von der preußischen Obrigkeit ernstzunehmendes Sprachrohr linker bürgerlicher und zugleich plebejisch-proletarischer Gegenöffentlichkeit etablieren. Beeindruckend sind vor allem die immer wieder von Moses Hess, Hermann Püttmann, Otto Lüning, Karl Grün u.a. unter widrigsten finanziellen und Zensurbedingungen aus dem Boden gestampften Zeitschriften, wie beispielsweise: Die Rheinischen Jahrbücher für gesellschaftliche Reform (1845/46); Das Deut-

Grundlage; sie erschüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien« (Foucault 2002b: 173).

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sche Bürgerbuch (1844/1845); Der monatlich erscheinende Gesellschaftsspiegel (1845/1846), das Westfälische Dampfboot (1845-1848) und die Blätter der Zukunft (1845/1846). Das Flaggschiff aber dieser intellektuellen Gruppierung war die Trierʼsche Zeitung, die von 1844 bis 1848 unter der Mitarbeit von Moses Hess und der Leitung von Karl Grün das Programm eines reformorientierten Sozialismus, mit zum Teil anarchistischen (Proudhon) und antikommunistischen (gegen Cabet und später gegen Marx) Einschlägen, verbreitete.11 Schon ein oberflächlicher Blick auf die Namen der Personen und der Zeitschriften macht deutlich, wie eng Marx und Engels mit dem »wahren Sozialismus« verbunden waren. Nicht allein, dass Moses Hess für Marxʼ theoretische und publizistische Entwicklung zum Sozialisten und Kommunisten eine zentrale Rolle spielte;12 in fast allen genannten Zeitschriften und Jahrbüchern wurden wichtige Aufsätze und Texte der beiden veröffentlicht. Selbst noch der von Marx verfasste polemische Verriss von Karl Grüns Buch über Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien erschien 1847 im ›wahrsozialistischen‹ Westfälischen Dampfboot. Über die Nähe und Verbundenheit von Marx und Engels zum später gescholtenen »wahren Sozialismus« gibt auch ein Artikel von Friedrich Engels in der britischen New Moral World vom Dezember 1844 Aufschluss. Engels berichtet hier über die Fortschritte des Kommunismus in Deutschland und schreibt: »Die aktivsten literarischen Persönlichkeiten unter den deutschen Sozialisten sind: Dr. Karl Marx, Paris; Dr. M[oses] Heß, zur Zeit Köln; Dr. K[arl] Grün, Paris; Friedrich En-

11 Siehe zur Publizistik und zu den verschiedenen Verbindungen und Organisationen des »wahren Sozialismus« die historiographische, immer noch grundlegende Arbeit von Dowe 1970: 43-92. Für eine Einbettung in den gesamten Kontext der demokratischen Bewegungen im deutschen Vormärz siehe Sperber 1993. 12 Man denke hierbei nur an Moses Hessʼ Aufsatz Über das Geldwesen, der in der ersten Lieferung der Deutsch-Französischen Jahrbücher nicht mehr untergebracht werden konnte und dann erst 1845 in den Rheinischen Jahrbüchern zur gesellschaftlichen Reform erscheint. Gleichwohl spielt Hess im Kontext der Auseinandersetzung mit dem »wahren Sozialismus« eine zwieschlächtige Rolle. Er gilt schon in der Deutschen Ideologie als Urvater des »wahren Sozialismus« und wird so auch noch von Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei mehr oder weniger offen adressiert. Zugleich bleibt er der »Partei Marx« auch nach Verwerfungen treu oder kehrt zumindest immer wieder zu ihr zurück; innerhalb der »Partei« spielt er dann aber die Rolle eines »Oppositionskommunisten« (Naʼaman). Siehe Naʼaman 1982, darin insbesondere die Kapitel 6 bis 8.

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gels, Barmen (Rheinpreußen); Dr. O[tto] Lüning, Rheda/Westfalen; Dr. H[ermann] Püttmann, Köln und verschiedene andere.« (MEW 2: 512)13

Doch es sind nicht nur persönliche Beziehungen und gemeinsame publizistische Überschneidungen, die Marx und Engels mit den »wahren Sozialisten« in Berührung treten ließen; es gab auch unmittelbar inhaltliche, theoretische und theoriepolitische Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal waren beide in der junghegelianischen Bewegung verwurzelt, in dessen Zentrum ein Name stand, der allen als Referenzgröße galt: Feuerbach. Die unmittelbare Wirkung von Feuerbachs Wesen des Christentums (1841) hat Engels Jahre später so beschrieben: »Man muß die befreiende Wirkung dieses Buches selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer.« (MEGA² I/30: 131) Feuerbachs Religionskritik hatte mit der Figur der menschlichen (Selbst-)Entfremdung, der Projektion menschlicher Eigenschaften des »Gattungswesens« auf ein hypostasiertes Subjekt (Gott), die argumentative Plattform einer grundsätzlichen Kritik geliefert, die dann von Hess, Bauer, Marx und anderen weiterentwickelt und auf den Staat, das Geld oder das Privateigentum angewendet wurde. Doch der entscheidende Punkt, der vorerst Marx, Engels, Hess und Grün auf besondere Weise zusammenbinden sollte, war die Frage, auf welche Weise man die »neue Philosophie« Feuerbachs, seinen anthropologischen Sensualismus und materialistischen Humanismus, in eine »Philosophie der Tat« (Hess) oder eine »Wissenschaft der Praxis« (Grün) überführen könnte. Feuerbachs nicht minder wirkungsmächtige Schrift von 1843 über die Grundsätze der Philosophie der Zukunft wurde von den genannten Protagonisten als ein Schritt über die rein spekulative Kritik der radikalen Junghegelianer (Edgar und Bruno Bauer, Stirner, die Berliner »Freien«) hinaus gelesen, als ein Denken, das sich selbst überschreitet und in die sozialistischen Bewegungen und sozialen Kämpfe der »wirklichen Welt« hineinreicht. Feuerbachs neue

13 Ein weiteres Zeichen der Allianz von Hess, Grün und Marx findet man in einem Brief von Hess an Marx im Juli 1844; dort schreibt er: »In Kurzem wird das ganze gebildete Deutschland sozialistisch sein, und zwar radikal sozialistisch, ich meine communistisch. Die Triersche Zeitung fängt nun auch an, neben ihrem orthodoxen Fourierismus unsere Richtung zu vertreten. Diese Zeitung hat nur keine Redaktion und man kann eigentlich nicht von einer Tr. Ztg., sondern nur von ihren Correspondenten sprechen.

– Karl Grün, der immer besser wird, hat viel Verdienst um die Verbreitung unsrer Richtung in der deutschen Presse. Er ist unermüdlich. Wir leben hier zusammen und schießen täglich neue Breschen in das faule Gebäude unserer Zustände.« (Hess 1979: 434)

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deutsche Philosophie und der Sozialismus der französischen ouvriers liefen auf eine mächtige, neue emanzipatorische Synthese hinaus, die die »wahre« Vergesellschaftung des Menschen und der menschlichen Natur vorantreiben würde.14 Marx hat diese Synthese 1844 in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten auf eine geradezu überschwängliche Formel gebracht und ihr den Namen »Communismus« gegeben – man hätte sie ebenso gut auch »wahren Sozialismus« nennen können: »Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, die wahre Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung.« (MEGA² I/2: 263)

Von 1844 bis zum Frühjahr 1845 kann man von einer festen Allianz jener Junghegelianer sprechen, die sich nun offen zum Sozialismus/Kommunismus bekennen und im »Proletariat« bzw. den sozialistischen Bewegungen das Subjekt einer umfassenden menschlichen Emanzipation erkennen. Insbesondere die im Februar 1844 erschienenen Deutsch-Französischen Jahrbücher mit zentralen Beiträgen von Hess, Marx und Engels werden von Karl Grün geradezu mit Begeisterung aufgenommen. Grün sieht insbesondere in seinem ehemaligen Studienkollegen Marx den kommenden Philosophen, der mit »seine[m] seltenen Scharfsinn und seine[r] unerhört luciden Darstellungsgabe« (Grün 1844, zit. nach Köppe 2005: 106) die neue Philosophie über Feuerbach hinaus auf eine neue Ebene heben werde: »Die neue Philosophie hat nicht nur eine praktische Seite, sie tritt nicht nur an die Stelle der Religion, sondern ihre ganze Bedeutung ist die, praktisch zu werden, die Wissenschaft der Praxis zu sein, die Verhältnisse des Menschen menschlich zu gestalten, die Eigenthumsfrage, die Bildung, die Frage der Ordnung und vor allem die Frage des Uebergangs zu erledigen.« (Grün 2005: 436)

14 Zur grundlegenden Bedeutung von Feuerbach für den Sozialismus in Deutschland siehe den erhellenden Beitrag von Winiger 2013. Ebenso aufschlussreich sind dessen Ausführungen zu den konkreten Verbindungen von Feuerbach zu den verschiedensten Projekten der deutschen Sozialisten, Kommunisten und Handwerker in der Hochphase des Bündnisses zwischen Marx, Engels, Hess und Grün nach dem schlesischen Weberaufstand im Juni 1844; siehe dazu Winiger 2012.

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Tatsächlich lässt sich der Briefwechsel zwischen Marx und Ruge aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern problemlos als eine mögliche Programmatik des »wahren Sozialismus« lesen. Man findet dort vor allem im letzten Brief 15 neben den typischen Semantiken (»das wahre menschliche Wesen«, »die wahre Wirklichkeit«) die drei wichtigsten Topoi dieser feuerbachianisch-sozialistischen Allianz: a) den Topos einer notwendigen Synthese aus Sozialismus und Philosophie, aus dem Wissen über die politisch-ökonomische und die soziokulturelle Lebensweise des Menschen: »Und das ganze socialistische Princip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns eben so wohl um die andere Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern, also Religion, Wissenschaft etc., zum Gegenstand unserer Kritik zu machen.« (MEGA² I/2: 487)

b) den Topos der notwendigen Verwirklichung der Philosophie, ihres Praktisch-Werdens in den Kämpfen der sozialen Bewegungen: »Es hindert uns nichts, unsre Kritik an die Kritik der Politik, an die Partheinahme in der Politik, also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identificiren.« (Ebd.: 488) c) den Topos einer undogmatischen und bewusstseinsphilosophischen Reform oder Aufklärung der Welt: »Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysirung des mystischen sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um es wirklich zu besitzen.« (Ebd.: 488) Die besagte Allianz zwischen Marx, Engels, Hess und Grün in dieser Phase ist allerdings nicht nur von diesen gemeinsam geteilten Topoi geprägt, sondern ebenso sehr von einem Schulterschluss gegen die Angriffe jener radikalen Junghegelianer, die gerade die sozialistische und kommunistische Wende nicht mitvollzogen – allen voran die Gebrüder Edgar und Bruno Bauer. Man muss nur einen kurzen Blick auf Bruno Bauers im September 1844 erschienenen Aufsatz mit dem Titel Die Gattung und die Masse werfen, um deutlich erkennen zu können, wie hier die Frontlinien gezogen wurden: Diejenigen, so Bauer, die mit

15 Da man mittlerweile davon ausgehen kann, dass Ruge den Briefwechsel mit Marx nachredigiert hat, ist es angezeigt, auch bei den Briefen von Marx Ruge als »Koautor« zu nennen. Siehe Taubert u.a. 2009: 939 ff.

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Feuerbach den Boden der »reinen Kritik« verlassen und sich dem »Proletariat«, dem Sozialismus oder dem »französischen Kommunismus« zugewandt haben, haben an Stelle einer Verwirklichung der »Gattung« nichts anderes als die »Masse« gesetzt: »Die Masse als solche ist eine Erscheinung, die erst eintreten konnte, nachdem die spezifischen Unterschiede, in welche sich die Gattung bisher dargestellt hatte, erblaßt waren. Sie ist der Verfall der Gattung in die Menge der einzelnen Atome, die Auflösung der besonderen Schranken, welche die Individuen bisher zwar trennten, aber auch verbanden und in eine mannigfaltige Beziehung setzten; sie ist ein bloß elementarischer Stoff, der Niederschlag einer zersetzten organischen Gestalt.« (Bauer 1968: 215; Herv. M.B.)

Die »Masse« ist und bleibt ein geistloser »unorganischer Haufen«, und alle Versuche, durch Kritik, Theorie und Philosophie eine Synthese herstellen zu wollen, führen entweder in eine sozialistisch-bürokratische Verwaltung der »Masse« oder einen kommunistisch-despotischen »Nicht-Staat«.16 Während also die junghegelianisch-sozialistische Allianz ganz auf die Vereinigung von »Kopf« und »Herz«, von »Philosophie« und »Proletariat« setzt, halten Bruno Bauer und Co. dieser Allianz die nicht zu überwindende Schranke von »Geist« und »Masse« entgegen. Das ist, wenn man so will, die diskursive Kernproblematik, die Marx und Engels dazu treibt, die Heilige Familie zu verfassen.17 In Verteidigung der sozialistisch/kommunistischen Wende gegen Edgar und Bruno Bauers »Feldzüge der reinen Kritik« bekräftigen Marx und Engels vielleicht hier zum letzten Mal ihre Nähe zum später sogenannten »wahren Sozialismus«. Eine Schlüsselstelle der Heiligen Familie ist hierfür die Auseinandersetzung um Proudhon: Die Bauers werfen Proudhon vor, den gegenwärtigen Status der Philosophie nicht wirklich verstanden zu haben. Sie sei gerade nicht, wie Proudhon behauptet, reine, praxis- und menschenferne »Spekulation«, sondern vielmehr das Gegenteil: Sie habe sich mit der Praxis, der Welt und der »Masse« gemein gemacht und damit ihre kritische Urteilskraft verloren. Demge-

16 Vgl. ebd.: 222. Bruno Bauer übernimmt hier ohne Zweifel zentrale Topoi einer Kritik der »Massen«, wie sie zu dieser Zeit einschlägig von Alexis de Tocqueville in seiner Demokratie in Amerika Verwendung finden und dort ebenfalls indirekt gegen die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen in Frankreich gerichtet sind. Vgl. dazu Bohlender 2016b. 17 Etwa zeitgleich und in enger Kooperation mit Engels verfasst Moses Hess seinen Aufsatz Die letzten Philosophen, der im Wesentlichen eine Abrechnung mit Max Stirners Buch Der Einzige und sein Eigentum darstellt.

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genüber behauptet nun Marx: Ja, sie hat sich mit der Welt gemein gemacht, sie hat ihre kritische Fähigkeit zur Unterscheidung und Urteilsbildung verloren, aber die Bauers täuschen sich über den wichtigsten Verlust, den die Philosophie erlitten hat und den die »kritische Kritik« daher weiterhin perpetuiert: nämlich den Mangel, »praktisch eingreifen« zu können – und zwar im Interesse der »wirklichen Menschen«, der verachteten »Masse«, d.h. des Proletariats. In dieser entscheidenden Hinsicht ist daher Proudhon den Bauers haushoch überlegen: »Er [Proudhon] schreibt nicht aus dem Interesse der selbstgenügsamen Kritik, aus keinem abstrakten, selbst gemachten Interesse, sondern aus einem massenhaften, wirklichen, historischen Interesse, aus einem Interesse, das es weiter als zur Kritik, nämlich zur Krise bringen wird. Proudhon schreibt nicht nur im Interesse der Proletarier; er selbst ist Proletarier, Ouvrier. Sein Werk ist ein wissenschaftliches Manifest des französischen Proletariats und hat daher eine ganz andere historische Bedeutung als das literarische Machwerk irgendeines kritischen Kritikers.« (MEW 2: 43)

Auch wenn Marx die Beschränktheit der Proudhonʼschen nationalökonomischen Perspektive schon benennt und er ebenso Feuerbachs Humanismus nicht mehr uneingeschränkt Folge leistet, so bildet dieses deutsch-französische Autorenpaar – ganz nach dem Schematismus, den Hess und Grün ebenfalls teilen und propagieren18 – in der Heiligen Familie immer noch die zentrale Referenzgröße eines gemeinsamen sozialistischen Emanzipationsprojekts, das es gegen die junghegelianische »reine Kritik« zu verteidigen gilt. Wer von einer »geistlosen Masse« spricht, der sollte die geistreiche Stimme eines Proletariers wie Proudhon erst einmal verstehen lernen, und er sollte überhaupt einmal, wie Marx voller Enthusiasmus schreibt, »das Studium, die Wißbegierde, die sittliche Energie, den rastlosen Entwicklungstrieb der französischen und englischen Ouvriers kennen-

18 Hess spricht von Feuerbach als dem »deutschen Proudhon« (Hess 1961b: 293) und Grün spricht von Proudhon als dem »französischen Feuerbach« (Grün 1845a: 404). Das heißt jedoch nicht, dass Grün nicht ebenfalls die Beschränktheit des Proudhonschen Standpunktes kritisiert: »Die Revoluzion, als radikale, ist das Zerhauen aller Fäden zwischen der Zukunft und der Vergangenheit, eine Revoluzion, die keine Verbesserung innerhalb der Politik sein wird, sondern die Revoluzion gegen die Politik selbst, gegen die Resultate der ganzen Geschichte. Daß Proudhon dies nicht vollständig einsieht, das ist der Mangel seines Bewußtseins.« (Ebd.: 447)

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gelernt haben, um sich von dem menschlichen Adel dieser Bewegung eine Vorstellung machen zu können.« (Ebd: 89)19

2. K ONVERSIONEN ODER : D IE W AFFE DER I DEOLOGIEKRITIK IM E INSATZ Es gab also eine große Nähe, es gab Koalitionen und es gab Gemeinsamkeiten zwischen den »feuerbachianischen Sozialisten« Marx, Engels, Hess und Grün, die sich auf das theoretische Gerüst, die Sprache, die politisch-sozialen Zielsetzungen und auf die Gegnerschaft zu den radikalen Junghegelianern erstreckte. Umso erstaunlicher ist deshalb die Plötzlichkeit und die Schärfe, mit der Marx und Engels dann im Sommer 1845 den Angriff starten und ins Handgemenge mit dem nun so getauften »wahren Sozialismus«20 eintreten. Engels macht den Auftakt mit einem kleinen einleitenden Text zu einem Fragment Fouriers über den Handel, der dann im Deutschen Bürgerbuch von 1846 erscheint: »Die Deutschen fangen nachgerade an, auch die kommunistische Bewegung zu verderben. […] Kaum existiert der Kommunismus in Deutschland, so wird er von einem Heere spekulativer Köpfe akkapariert, die wunders meinen, was sie getan hätten, wenn sie Sätze, die in Frankreich und England schon Trivialitäten geworden, in die Sprache der hegelschen Logik übertragen und diese neue Weisheit als etwas noch nie Dagewesenes, als die ›wahre deutsche Theorie‹, in die Welt schicken […]. Unter all den pomphaften Redensarten, die jetzt in der deutschen Literatur als die Grundprinzipien des wahren, reinen, deutschen, theoretischen Kommunismus und Sozialismus ausgerufen werden, ist bis jetzt auch nicht ein einziger Gedanke, der auf deutschem Boden gewachsen wäre.« (Ebd.: 604 f.; Herv. M.B.)

19 Dieses überschwängliche Lob der Handwerker und Arbeiter des Bundes der Gerechten, die Marx in Paris kennenlernte, findet sich noch an zwei weiteren Stellen: In einem Brief an Feuerbach spricht er von der »Jungfräulichen Frische« und vom »Adel, der unter diesen abgearbeiteten Menschen hervorbricht« (MEGA² III/1: 64); in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten liest man von den »von der Arbeit verhärteten Gestalten«, aus denen uns »der Adel der Menschheit« entgegenleuchtet (vgl. MEGA² I/2: 289). 20 Die erste explizite Verwendung dieses Begriffs ist wohl in Engelsʼ Artikel Das Fest der Nationen in London zu finden, der in den Rheinischen Jahrbüchern zur gesellschaftlichen Reform von 1846 erscheint. Siehe MEW 2: 611.

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Ganz im Gegenteil, schreibt Engels weiter, hätten die »Deutschen« die Errungenschaften der Franzosen und Engländer »verhegelt« und im besten Falle noch einmal nachträglich erfunden. »Ich nehme hiervon meine eigenen Arbeiten nicht aus.«21 (Ebd.: 604) Es ist dieser letzte Satz, der mehr indiziert als einen Bruch mit den »wahren Sozialisten«, eine Zurückweisung ihres spekulativen, philosophischen Sozialismus/Kommunismus, eine Kritik ihrer Blindheit gegenüber den schon erbrachten theoretischen und praktischen Leistungen der französischen und englischen Autoren und Autorinnen; der letzte Satz markiert vielmehr implizit das Bekenntnis einer Konversion: ›Ja, ich war einstmals nicht besser als ihr, auch ich bin diesem Pfad des ›wahren Sozialismus‹ gefolgt, aber nun bin ich ein Kommunist geworden, ein Teil der proletarischen Bewegung.‹ Warum, so lässt sich fragen, ist ein solches Bekenntnis zur Konversion notwendig? Die Antwort hängt unmittelbar mit der neuen Art und Weise zusammen, wie Marx und Engels in Zukunft das Geschäft der Kritik ausüben werden. Noch in der Heiligen Familie wurden die Positionen von »Bruno Bauer und Konsorten« einfach zurück- oder zurechtgewiesen; es ging größtenteils darum, die Junghegelianer lächerlich zu machen, indem man ihnen ihre Unkenntnis, ihren Mangel und ihre Beschränktheit des Wissens offenlegte; sie konnten bestimmte Dinge nicht erkennen und verstehen, weil ihre junghegelianische Blickperspektive und Wahrnehmungsweise sie daran hinderte. Doch diese Art von Erkenntnishindernis konnte prinzipiell durch Aufklärung der Junghegelianer über ihre Beschränktheit beseitigt werden. Der neue Typus der Kritik und sein Einsatz als Ideologiekritik funktionieren dagegen anders: Zum einen sitzt das Erkenntnishindernis nicht mehr allein auf der Ebene des (falschen oder richtigen) Wissens, sondern muss nun in den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen, genauer: in der spezifischen Klassenlage der Subjekte gesucht werden. Die Ideen und Gedanken der Subjekte sind auf spezifische Weise der (adäquate oder widersprüchliche) Ausdruck der Stellung dieser Subjekte innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zum anderen sind diese Ideen und Gedanken Teil eines gesamtgesellschaftlichen Herrschaftszusammenhangs, insofern diese materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen die Subjekte ihre Ideen und Gedanken generieren, selbst Herrschafts-, genauer: antagonistische Klassenverhältnisse darstellen. Der neue Typus der Ideologiekritik verwandelt die Kritik daher in radikale Herrschaftskritik: eine Kritik der herrschenden Klassen sowie der herrschenden Ideologien. Er kritisiert demnach nicht die inhaltlichen Aussa-

21 Interessant ist, dass Engels nur eine einzige Ausnahme zulässt, einen einzigen deutschen Autor nennt, der »wirklich etwas getan hat«, und dies ist nicht etwa Marx, sondern Wilhelm Weitling. Siehe MEW 2: 605.

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gen der Ideologie (als falsch oder richtig), sondern dechiffriert diese Aussagen als Ausdruck einer zugeschriebenen klassenförmig beschränkten Bewusstseinsbzw. Gedankenform. Die Ideologiekritik vollzieht also eine Metakritik, eine Kritik des gesellschaftlichen Verhältnisses der Subjekte zu diesen Aussagen. An dieser Stelle aber wird die Frage nach der Notwendigkeit einer Konversion unmittelbar zwingend: Eine radikale Ideologie- und Herrschaftskritik dieser Art ist nur möglich, wenn man auf die Seite der Beherrschten, der Klasse des Proletariats, übergetreten ist, wenn man demnach die klassenförmig beschränkte Bewusstseinsform (kleinbürgerlich/bürgerlich) überwunden hat und zu einem kommunistischen Subjekt geworden ist. Schaut man sich nun den ideologiekritischen Einsatz gegen den »wahren Sozialismus« etwas genauer an, so offenbart sich dieser Einsatz nicht nur als Waffe im Handgemenge, sondern geradezu als Medium zu einer solchen kommunistischen Konversion. In jenem Konvolut von Manuskripten, das Marx und Engels zwischen 1845 und 1847 verfassten und das ursprünglich als Vierteljahrsschrift bzw. dann als eine zweibändige Buchpublikation den Titel Deutsche Ideologie tragen sollte,22 findet sich ein kleiner Text23, der in hoch konzentrierter und verdichteter Form die Kritik von Marx und Engels am »wahren Sozialismus« zusammenfasst. In diesem Text finden sich drei zentrale Bestimmungen über diese, wie es heißt, eigentümliche »deutsche Ideologie«, die sich mit dem »Kommunismus« und der »Proletariatsbewegung« in Verbindung gebracht hat und sich als »wissenschaftliche« und »wahre« Repräsentation derselben versteht. Da ist zunächst einmal das abschließende Urteil zu nennen, das Marx und Engels am Ende des Textes fällen:

22 Der vollständige Titel sollte einer Bemerkung von Marx zufolge lauten: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Socialismus in seinen verschiedenen Propheten. Zur Genese und Geschichte dieses Fragment gebliebenen Projekts, an dem zunächst auch Moses Hess, Joseph Weydemeyer und Roland Daniels beteiligt waren, siehe aus der mittlerweile umfassenden Literatur Taubert 1997 und vor allem Pagel/Hubmann/Weckwerth 2017a. 23 Der Text mit dem Titel »Der wahre Sozialismus« wird auf das Frühjahr 1846 datiert; die Autorenschaft wird zusammen mit der nachfolgenden größeren Abhandlung über Die Rheinischen Jahrbücher oder Die Philosophie des wahren Sozialismus Marx und Engels gemeinsam zugeschrieben. Siehe dazu die Textzeugenbeschreibung von Pagel/Hubmann/Weckwerth 2017b: 1540 ff.

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»Der wahre Sozialismus ist die vollkommenste soziale Literaturbewegung, die ohne wirkliche Parteiinteressen entstand & nun, nachdem die kommunistische Partei sich formirt hat, trotz ihr fortbestehen will. Es versteht sich daß seit dem Entstehen einer wirklichen kommunistischen Partei in Deutschland die wahren Sozialisten immer mehr auf Kleinbürger als Publikum, & impotente u. verlumpte Literaten als Repräsentanten dieses Publikums sich beschränken werden.« (MEGA² I/5: 517)

Das Bemerkenswerteste an diesem Urteil ist, dass hier mit großer Überzeugung das Verschwinden einer im Grunde harmlosen, »bloß literarischen« Bewegung angekündigt wird. Der »wahre Sozialismus«, so erfährt man hier, hat sich überlebt; er kann nicht mehr fortbestehen, weil er im Grunde seine wahren Adressaten (Proletariat) verloren hat und nur noch monologisch zu sich selbst (Kleinbürger) spricht; er ist machtlos und verlumpt – im Grunde kein ernsthafter Gegner (mehr). Nicht weniger bemerkenswert ist allerdings auch die Behauptung einer »wirklichen kommunistischen Partei in Deutschland«24, die gewissermaßen das Erbe des »wahren Sozialismus« antreten und nun die wirklichen Parteiinteressen des Proletariats artikulieren wird. Beide Punkte in diesem abschließenden Urteil – das Verschwinden des »wahren Sozialismus« und das Erscheinen der »kommunistischen Partei« – werden sich als voreilig und problematisch erweisen. Die zweite Bestimmung des »wahren Sozialismus« in diesem Text betrifft die eigentliche ideologiekritische Analyse seines Erscheinens und seines Mangels. Der »wahre Sozialismus« musste erscheinen und hatte seine Existenzberechtigung in Deutschland, weil er zu einem bestimmten Zeitpunkt nichts anderes darstellte als die historisch-politische und sozio-ökonomisch angemessene ideologische Ausdrucks- und Bewusstseinsform der deutschen Zustände und ihrer materiellen gesellschaftlichen Rückständigkeit. Hier liegen auch die Mängel und Irrtümer dieser »Literaturbewegung«: »Sie [die ›wahren Sozialisten‹] heben die kommunistischen Systeme, Kritiken & Streitschriften ab von der wirklichen Bewegung, deren bloßer Ausdruck sie sind & bringen sie dann in einen willkürlichen Zusammenhang mit der deutschen Philosophie. Sie trennen das Bewußtsein bestimmter geschichtlich bedingter Lebenssphären von diesen Lebens-

24 Es ist kein Zufall, dass die hier wahrscheinlich erstmalige Verwendung des Begriffs »kommunistische Partei« in Zusammenhang mit einer konkurrierenden sozialistischen bzw. kommunistischen Gruppierung auftaucht. Zum äußerst schillernden Begriff der »Partei« siehe Schieder 1991: 130 ff. Eine wichtige und umfassende theoretische Analyse des Parteikonzepts von Marx und Engels in der Periode 1846 bis 1848 bietet Löwy 2005: 119-148.

32 | M ATTHIAS BOHLENDER sphären und messen es an dem wahren, absoluten, d.h. deutsch-philosophischen Bewußtsein.« (Ebd.: 516)

Der »wahre Sozialismus« begreift die Sozialismen und Kommunismen Europas als Ideen, die nun der deutschen Verwissenschaftlichung harren. Nur die deutschen Vertreter des Sozialismus, heißt es, seien in der Lage »die Wahrheit des Kommunismus & Sozialismus, den absoluten, den wahren Sozialismus erst an den Tag zu bringen« (ebd.: 515 f.). Aus der vermeintlichen Verwissenschaftlichung des Sozialismus folgt eine Idealisierung bzw. Dekontextualisierung der parteilichen Interessen und der revolutionären Leidenschaften für die Sache des Proletariats. Am Ende verwandelt sich das Proletariat in »den Menschen« schlechthin. Damit ist für Marx und Engels der letzte Punkt ihrer ideologiekritischen Dechiffrierungsarbeit erreicht: Der »wahre Sozialismus« entpuppt sich als die »philanthropische Illusion« einer kleinbürgerlichen Ideologie, eine »Verklärung des proletarischen Kommunismus«, die den Klassenantagonismus und die revolutionäre Leidenschaft euphemisiert und sublimiert. Man muss hier nicht daran erinnern, wie sehr diese Kritik jenen philosophischen Kommunismus trifft, den Marx und Engels noch ein, zwei Jahre zuvor mit Moses Hess, Karl Grün und anderen feuerbachianischen Sozialisten teilten. Damit ist der Punkt erreicht, wo die letzte und genealogisch betrachtet wichtigste Bestimmung des »wahren Sozialismus« im Text erscheint. Sie hat die Form eines (selbst-)reflexiven Bekenntnisses über dessen welthistorische Bedeutung für das Erscheinen des Kommunismus in Deutschland: »Es war nach den in Deutschland faktisch vorliegenden Verhältnissen nothwendig, daß sich diese Zwischensekte bildete, daß eine Vermittlung des Kommunismus mit den herrschenden Vorstellungen versucht wurde. Es war ebenso nothwendig, daß eine Menge deutscher Kommunisten, die von der Philosophie ausgingen, erst durch einen solchen Übergang zum Kommunismus kamen & noch kommen, während Andere, die den Schlingen der Ideologie sich nicht entwinden können, diesen wahren Sozialismus bis an ihr seliges Ende predigen werden.« (Ebd.: 517; Herv. M.B.)

Wir haben es hier mit einer einzigartigen und geradezu monumentalen Geste gegenüber dem »wahren Sozialismus« zu tun. Denn: Was war dieser »wahre Sozialismus« letztendlich? Er war eine unbedeutende, kleine und kleinbürgerliche, machtlose und verlumpte, sektiererische deutsche Literatenbewegung, die nichts anders konnte, als einen bornierten »deutschen Sozialismus« hervorzubringen. Zugleich aber hatte diese unbedeutende Bewegung einen welthistorischen Sinn – und zwar als Geburtshelfer des »historischen Materialismus«. Ohne diese »Zwi-

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schensekte« hätten Marx und Engels die Konversion zum Kommunismus nicht vollziehen können, wären nicht das geworden, was sie sind, und hätten eben auch nicht das denken, artikulieren, niederschreiben können, was sie bisher dachten, artikulierten und niederschrieben. Erst diese »Zwischensekte« hat aus liberalen Junghegelianern zumindest feuerbachianische Sozialisten gemacht; und erst in der Auseinandersetzung mit dieser Literatenbewegung war es in diesem zurückgebliebenen Deutschland möglich, Kommunist zu werden. Marx und Engels halten zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes sogar letztendlich diese transitorische Brückenfunktion für einige »wahre Sozialisten« für durchaus intakt (»durch einen solchen Übergang […] kamen & noch kommen«) und es klingt geradezu versöhnlich und wie ein Angebot zum Übertritt, wenn es heißt: »Wir können daher nicht wissen ob diejenigen der ›wahren Sozialisten‹, deren hier kritisirte Schriften vor einiger Zeit verfaßt wurden, diesen Standpunkt noch behaupten oder ob sie weitergegangen sind.« (Ebd.: 517) Es dürfte aus diesen drei Bestimmungen (Urteil, Analyse, Bekenntnis) offensichtlich geworden sein, dass der »wahre Sozialismus« im Archiv der ideologiekritischen Gegner von Marx und Engels in dieser Periode einen sehr präzisen Platz einnimmt. Nicht der große Philosoph Feuerbach, nicht die kritischen Bauers und auch nicht der gespenstische Stirner übten diese Konversions- und Brückenfunktion aus, die es dem Kommunismus in Deutschland ermöglichte, in historisch-materialistischer Form in Erscheinung zu treten.25 Aber ist der Geburtsvorgang damit wirklich schon beendet? Im Frühjahr 1846 konstatieren Marx und Engels: Der »wahre Sozialismus« ist machtlos und geschlagen, die »kommunistische Partei« hat sich etabliert. Und tatsächlich hatte sich im Brüsseler Exil eine »Partei Marx« als Kommunistisches Korrespondenzkomitee gebildet und streckte nun ihre Fühler nach Paris, London, der Schweiz und

25 Nicht zuletzt hat die Neuausgabe der Deutschen Ideologie gezeigt (MEGA² I/5), dass die Entstehung des »historische Materialismus« nicht auf ein einziges Feuerbach-Kapitel zu reduzieren ist, insbesondere dann nicht, wenn es sich bei diesem Kapitel (»I. Feuerbach«) um eine nachträgliche editorische und wissenspolitische Konstruktion des Marx-Engels-Lenin-Instituts der KPdSU handelt, die dieser neuen, sogenannten materialistischen Weltanschauung wohl eine besondere philosophische und wissenschaftliche Dignität verleihen sollte. Vielmehr lässt sich jetzt erkennen, dass die Entstehung des »historischen Materialismus« in einer Zeitspanne zwischen Oktober 1845 und April/Mai 1847 wesentlich formativ und innerhalb einer Auseinandersetzung mit einem ganzen Ensemble von Gegnern (Stirner, Bauer, Feuerbach) verlief, zu denen unmittelbar auch jene feuerbachianischen Sozialisten (Grün, Hess u.a.) gehörten, die bislang kaum Beachtung fanden. Vgl. dazu Pagel/Hubmann/Weckwerth 2017a.

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Deutschland aus. Besonders mit dem Bund der Gerechten wollte man in engen Kontakt treten, um von den europaweiten Netzwerken dieser wichtigen Organisation der deutschen kommunistischen Arbeiterbewegung zu profitieren. Aber gerade hier sollte der Kampf gegen den »wahren Sozialismus« noch einmal neu einsetzen und auf ganz andere, erbitterte Weise ausgetragen werden. Dabei tritt nun neben die ideologiekritische Perspektive eine weitere hinzu: die Perspektive einer politischen und organisatorischen Strategie.

3. K ÄMPFE ODER : W ER DARF MIT WELCHEM R ECHT ( FÜR ) DAS P ROLETARIAT SPRECHEN ? Rückblickend betrachtet, muss die Niederschrift des Abschnitts über den »wahren Sozialismus« im dritten Kapitel des Manifests der kommunistischen Partei für Marx und Engels ein Moment der Frustration und Desillusionierung gewesen sein. Man hatte knapp zwei Jahre zuvor sein geräuschloses Verschwinden prognostiziert und dies auch mit einer neuen ideologiekritischen Analyse untermauert; nun aber war davon nicht mehr die Rede. Aus einer »impotenten und verlumpten Literatenbewegung« war jetzt »eine Waffe in der Hand der Regierungen gegen die deutsche Bourgeoisie« geworden, die sich »wie eine Epidemie« ausbreitete. Man musste sogar im letzten Satz feststellen: »Mit wenigen Ausnahmen gehört alles, was in Deutschland von angeblich sozialistischen und kommunistischen Schriften zirkuliert, in den Bereich dieser schmutzigen, entnervenden Literatur.« (MEW 4: 488) Dabei hätten Marx und Engels ohne Probleme auch schon im Frühjahr 1846 sehr gut sehen können, dass der »wahre Sozialismus« mit Karl Grün sich schon seit fast einem Jahr im Bund der Gerechten und den entsprechenden Arbeiterbildungsvereinen in London, Paris und den deutschen Städten in Westfalen und dem Rheinland etabliert hatte.26 Insbesondere in den Pariser Gemeinden des

26 Blickt man auf die richtungsweisende Debatte zwischen Karl Schapper und Wilhelm Weitling, die im Sommer 1845 im Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsverein geführt wurde, so war auch hier kaum zu übersehen, wie stark die führenden Londoner Kommunisten vom »wahren Sozialismus« geprägt waren. Gegen Weitling plädierte insbesondere Schapper für einen gewaltlosen und evolutiven Weg in den Kommunismus, der kommenden Generationen vorbehalten bliebe. ›Revolution‹ wurde abgelehnt und stattdessen für eine Reform des Bewusstseins plädiert. Die Debatte ist nach dem Protokollbuch des Londoner Arbeiterbildungsvereins leider nur fragmentarisch überliefert, siehe Nettlau 1922: 362-391 und Seidel-Höppner 2014: 814 ff.

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Bundes war der »wahre Sozialismus« unter Führung von August Hermann Ewerbeck (1816-1860) geradezu aufgeblüht. Als Engels dann im August 1846 nach Paris kam, um dort ein Kommunistisches Korrespondenzkomitee zu etablieren,27 machte er zunächst gemeinsame Sache mit den »wahren Sozialisten« gegen die kommunistischen Anhänger von Wilhelm Weitling.28 So schreibt er an Marx und das Komitee in Brüssel: »Unsre Geschichte wird hier sehr gut gehen. Evferbeck] ist ganz voll davon und wünscht nur, daß die offizielle Organisation eines Comités nicht übereilt werde, weil eine Spaltung bevorsteht. Der Rest der Weitlingianer, eine kleine Schneiderklique, steht nämlich im Begriff hier herausgeschmissen zu werden, und Ev. hält es für besser, daß dies erst abgemacht wird.« (MEGA² III/2: 30)

Doch schon einen Monat später begreift Engels die Lage: »Was sie [die Gemeindemitglieder des Bundes] nämlich dem Schneiderkommunismus entgegensetzen, ist weiter nichts als Grünsche menschenthümliche Phrasen und vergrünter Proudhon, den ihnen theils Herr Grün höchstselbst […] teils aber auch Amicus E.[werbeck] mit Mühe und Noth eingebläut hat. […] zuerst muß der Grün ausgetrieben werden […] und dann, wenn man ihnen diese Phrasen aus dem Kopf gebracht, hoff ich, mit den Kerls zu etwas zu kommen.« (Ebd.: 34 f.)

Der »wahre Sozialismus« verschwindet nicht einfach, er hat sich festgesetzt und muss nun aktiv »ausgetrieben« werden. Das »kommunistische Bewusstsein« dagegen ist bei den Handwerker-Arbeitern des Bundes, dem »Proletariat«, nicht einfach vorhanden, es muss nun »eingepaukt«, »die verduselten Schädel« müs-

27 Die briefliche Anfrage von Marx an Proudhon, ein solches Komitee für Paris zu etablieren, war krachend gescheitert – nicht zuletzt deshalb, weil Marx dort schon Karl Grün als eine »gefährliche Person«, als »literarischen Industrieritter«, »Scharlatan« und «Parasiten« denunzierte. Siehe den Briefwechsel in MEGA² III/2: 7 ff. und 205 ff. 28 Schon aus einem Brief von Ewerbeck an Marx im Mai 1846 wird ersichtlich, dass Ewerbeck ein Anhänger Grüns war und dessen Arbeit in den Gemeinden mit überschwänglichen Worten lobte, vor allem auch deshalb, weil dieser den »unseligen Messer und Gabelkommunismus« von Weitling bekämpfte und dessen Vertreibung beförderte. Siehe Ewerbeck 1979: 202 ff. Zu Vertreibung und Ausschluss von Weitling und seinen Anhängern aus dem Bund siehe Bohlender 2016a und die Darstellung bei Seidel-Höppner 2014: 899 ff.

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sen »geöffnet« werden (ebd.: 43). Der Kampf mit dem »wahren Sozialismus« um den alleinigen Anspruch, für das Proletariat sprechen zu können, spitzt sich dann noch einmal einen Monat später zu, als Engels an Marx berichtet: »Die hiesigen Straubinger bellen fürchterlich gegen mich. Namentlich 3-4 ›gebildete‹ Arbeiter die E[werbec]k und Grün in die Geheimnisse des wahren Menschenthums eingeweiht. Aber ich bin vermöge einiger Geduld und etwas Terrorismus durchgedrungen, die große Menge geht mit mir. Der Grün hat sich vom Kommunismus losgesagt, und diese ›Gebildeten‹ hatten große Lust mitzugehen. Da hab ich grade durchgehauen […] und den Kommunismus oder Nicht-Kommunismus kontradiktorisch diskutiren lassen. Heut Abend wird abgestimmt, ob die Versammlung kommunistisch ist oder, wie die Gebildeten sagen, ›für das Wohl der Menschheit‹.« (Ebd.: 51)

Gegen Ende des Jahres 1846 ist Engels so verzweifelt, dass er aufgeben will; der Widerstand der »Straubinger«, der »Knoten« und »Esel« – wie der einstmalige »Adel der Menschheit« nun genannt wird – gegen weitere Spaltungen und Vertreibungen, gegen die von Engels eingeführte rabiate Überwältigungspädagogik, führt zu einer ernüchternden Feststellung: »Wir haben eben aus dieser Geschichte gelernt, daß mit den Straubingern, solange nicht in Deutschland eine ordentliche Bewegung existirt, nichts anzufangen ist, selbst mit den besten nicht. […] Uns gegenüber erklären sich diese Jungens für ›das Volk‹, ›die Proletarier‹, und wir können nur an ein kommunistisches Proletariat appelliren das sich in Deutschland erst bilden soll.« (Ebd.: 67)

Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste Marx und Engels klar geworden sein, dass das Verschwinden des »wahren Sozialismus« und die damit einhergehende gleichzeitige Etablierung einer »kommunistischen Partei« kein einfacher Automatismus sein würden. Es hatte sich herausgestellt, dass ein politischer Kampf um die »Köpfe« und das richtige »kommunistische Bewusstsein« des Proletariats geführt werden musste – ein Kampf, für den das ideologiekritische Schwert zu fein geschliffen war. Dieser Kampf gegen den »wahren Sozialismus« wird daher dem »historischen Materialismus« auf zwei Ebenen die neue Dimension eines in der historischen Zeit und im politischen Raum verlaufenden strategischen Denkens hinzufügen. Da ist zunächst die organisationsstrategische Ebene, die die Brüsseler Kommunisten um Marx nun zwingt, 1847 in den Bund der Gerechten einzutreten, um aus ihm überhaupt jene »kommunistische Partei« (Bund der Kommunisten) zu formieren, von deren Existenz ein Jahr zuvor schon vollmundig die Rede

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war. Nun geht es darum, gegen harte Widerstände eine strategische Mehrheit im Bund zu organisieren. Man muss die Statuten und die Organisationsstruktur desselben neu ausrichten; die Ziele, Aufgaben und die taktischen Schritte festlegen; kurz: man muss ein wirkliches politisches Programm einer revolutionären Partei entwickeln, das sich von den alten bündischen Glaubensbekenntnissen und Katechismen radikal unterscheidet. Genau das wird das Manifest der kommunistischen Partei leisten. Der Bund der Gerechten war eine patriarchale, sozialistisch-kommunistische Geheimorganisation, die auf klandestinen, aber zutiefst demokratischen und solidarischen Strukturen errichtet war;29 das Ziel bestand im Wesentlichen darin, auf der Basis gegenseitiger Hilfe der Mitglieder Propaganda für die Verwirklichung der Gütergemeinschaft zu betreiben. Noch im Statutenentwurf des ersten Kongresses des Bundes der Kommunisten vom Juni 1847 heißt es: »Der Bund bezweckt die Entsklavung der Menschen durch die Verbreitung der Theorie der Gütergemeinschaft und die baldmöglichste praktische Einführung.« (Bund der Kommunisten 1983: 466) In den Statuten des Bundes der Kommunisten vom zweiten Kongress im Dezember 1847 hat der Ton sich dagegen radikal in Richtung der »Partei Marx« gewandelt: »Der Zweck des Bundes ist der Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der alten, auf Klassengegensätze beruhenden bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum.« (Ebd.: 626)

Maßgebliche Bedingung für die Mitgliedschaft sind jetzt: »Bekennung des Kommunismus«; »revolutionäre Energie und Eifer der Propaganda«, »Unterwerfung unter die Beschlüsse des Bundes« und besonders: »Enthaltung der Teilnahme an jeder antikommunistischen politischen oder nationalen Gesellschaft und Anzeige der Teilnahme an irgendwelcher Gesellschaft bei der vorgesetzten Behörde« (ebd.: 626).30 Dieses Statut zeugt zweifellos von der neuen organisationsstrategischen Dimension, die nun in das Denken und die Praxis von Marx und Engels Eingang gefunden hatte, und es trägt zugleich die Spuren des erbitterten Kampfes gegen die »wahren Sozialisten« und die Anhänger Weitlings, die

29 Zu den deutschen Geheimbünden in der Schweiz, Paris und London siehe Schraepeler 1972. 30 Zum Vergleich: In den Statuten vom Juni 1847 liest man u.a. folgende Eintrittsbedingungen: »männliches Betragen«, »Anerkennung der Grundsätze des Bundes«, »keiner politischen oder nationalen Verbindung anzugehören«; »sein Männerwort, treu zu wirken und verschwiegen zu sein« (Bund der Kommunisten 1983: 466).

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allesamt aus dem Bund ausgeschlossen wurden. In der Londoner Zentralbehörde des Bundes heißt es dazu lapidar: »Wo faules Fleisch ist, muss man schneiden.« (Ebd.: 582) Die neue Weise des Denkens zeigt sich aber noch auf einer anderen, der politisch-strategischen Ebene. Der Text, der diese Denkweise konsequent offenbart, ist ein unveröffentlichtes Fragment, das Engels im März oder April 1847 mit dem Titel Der Status quo in Deutschland verfasste. Es ist ein ausgesprochen bemerkenswerter Text, weil er erstmals klar und deutlich zwei Dinge miteinander verknüpft: eine strategische Einschätzung der gesellschaftspolitischen Lage der Klassen in Deutschland und eine massive Kritik des »wahren Sozialismus« als politisch-strategisches Hindernis für die proletarische Revolution. Ein Kernsatz des ersten Teils des Fragments lautet: »Der wahre Sozialismus ist durch und durch reaktionär.« (MEW 4: 42) Die Analyse des »wahren Sozialismus«, die Engels hier vorlegt, ist nicht mehr ausschließlich von einer ideologiekritischen Argumentationsfigur geprägt, sondern vor allem revolutionsstrategisch und parteitaktisch ausgerichtet. Warum ist der »wahre Sozialismus« reaktionär? Weil er zur falschen Zeit und unter den falschen historisch-gesellschaftlichen Bedingungen den prinzipiell richtigen Gegner attackiert – nämlich die deutsche Bourgeoisie. Die »wahren Sozialisten« haben nicht begriffen, dass Deutschland den normalen politischen Zustand, wie er in Frankreich und England vorherrscht, noch nicht erreicht hat. »In Deutschland ist die Bourgeoisie nicht nur nicht an der Herrschaft, sie ist sogar die gefährlichste Feindin der existierenden Regierungen. Diesen kam die Diversion der wahren Sozialisten gerade recht. Der Kampf gegen die Bourgeoisie, der den französischen Kommunisten nur zu oft Gefängnis oder Exil zuzog, zog unseren wahren Sozialisten nichts anderes zu als das Imprimatur.« (Ebd.)

Der Mangel des »wahren Sozialismus« besteht nicht nur darin, dass er die materialistischen Bedingungen von gesellschaftlichen Bewegungen ignoriert, er ist darüber hinaus auch nicht in der Lage, politisch zu denken:31

31 Der Begriff der Politik wird nun von Marx und Engels neu angeeignet, nachdem sie zunächst gemeinsam mit dem »wahren Sozialismus« eine Kritik der Politik gefordert hatten. Politik ist nun allerdings nicht mehr der Ausdruck einer staatlich beschränkten Form des politischen Willens, sondern jede interessengeleitete Handlungsweise, die innerhalb einer allgemeinen Strategie den Erfolg der proletarischen Bewegung befördert.

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»Aber unsere wahren Sozialisten sind keine Parteimänner, sondern deutsche Theoretiker. Es handelt sich für sie nicht um praktische Interessen und Resultate, sondern um die ewige Wahrheit. So brauchten sie ihre neuen Aufklärungen nur mit ihrem philosophischen Gewissen in Einklang zu bringen, um alsdann vor ganz Deutschland auszuposaunen, daß politischer Fortschritt, wie alle Politik vom Übel sei, daß namentlich die konstitutionelle Freiheit die dem Volk gefährlichste Klasse, die Bourgeoisie, auf den Thron erhebe und daß die Bourgeoisie überhaupt nicht genug angegriffen werden könne.« (Ebd.: 41)

In Deutschland aber, so Engels, muss erst die Bourgeoisie den Status quo beseitigen und die politische Macht übernehmen; sie muss die allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen herstellen, die dann eine proletarische Revolution ermöglichen. In diesem Sinne verhindert der »wahre Sozialismus« den prospektiven Weg in die Revolution. Neben dieser hier erstmals klar formulierten politischen Strategie: zuerst die bürgerliche, dann die proletarische Revolution,32 gibt Engels aber noch ein weiteres Argument zur Bekämpfung des »wahren Sozialismus«. Die deutsche Bourgeoisie verkennt aufgrund des öffentlichen Gebarens der »wahren Sozialisten« in diesen die Repräsentanten des deutschen Kommunismus und wirft diesem Kommunismus daher antibürgerliche Politik und Illiberalität vor. Mit dieser fatalen Verwechslung aber (wahrer Sozialismus = Kommunismus) verunmöglicht der »wahre Sozialismus« ein taktisches Bündnis der Kommunisten mit der Bourgeoisie zur Beseitigung des deutschen Status quo.33 Daher fordert Engels

32 Wie Kluchert (1985: 126 ff.) eindrucksvoll herausgearbeitet hat, gilt diese programmatische Linie über die März-Revolution hinaus bis zum Dezember 1848. Danach kommt es zu einer grundlegenden Neubewertung der gesellschaftspolitischen Lage und der strategischen Ausrichtung. Nun geht es darum, mit dem »Volk« gegen die »Konterrevolution«, also die Allianz von »Bourgeoisie« und absolutistischen Kräften, eine Front zu bilden – übrigens eine Strategie, die zuvor schon der verstoßene Weitling vorgeschlagen (vgl. Seidel-Höppner 2014: 1093 f.) und die Moses Hess zeitgleich zu Engelsʼ Fragment 1847 in der Artikelserie Die Folgen einer Revolution des Proletariats in der Deutschen-Brüsseler-Zeitung lanciert hatte (vgl. Hess 1961c). 33 Es ist hier sehr interessant, zu sehen, wie radikal sich Marx und Engels in ihrem politisch-strategischen Denken gewandelt haben. Noch ein gutes Jahr zuvor war ihnen der »wahre Sozialismus« nicht entschieden antibürgerlich und klassenantagonistisch genug. So heißt es in der Deutschen Ideologie: »Wenn also die theoretischen Vertreter der Proletarier irgend etwas durch ihre literarische Tätigkeit ausrichten wollen, so müssen sie vor Allem darauf dringen daß alle Phrasen entfernt werden, die das Bewußtsein der Schärfe dieses Gegensatzes [zwischen Privateigentümern und eigen-

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nun eine klare Trennung und Sichtbarmachung der Differenz zwischen »wahrem Sozialismus« und Kommunismus: »Es ist hohe Zeit, daß die deutschen Kommunisten endlich diese ihnen zugemutete Verantwortlichkeit für die reaktionären Taten und Gelüste der wahren Sozialisten ablehnen. Es ist hohe Zeit, daß die deutschen Kommunisten, die das deutsche Proletariat mit seinen sehr deutlichen, sehr handgreiflichen Bedürfnissen repräsentieren, sich aufs allerentschiedenste trennen von jener literarischen Clique [...], die selbst nicht weiß, wen sie repräsentiert, und deshalb wider Willen den deutschen Regierungen in die Arme taumelt […].« (Ebd.: 42)

Die kommunistische Partei muss »sich über ihre Stellung, über ihren Feldzugsplan, über ihre Mittel klarwerden, und der erste Schritt dazu ist die Desavouierung der sich an sie herandrängenden reaktionären Sozialisten.« (ebd.: 43) Ein taktisches Bündnis der Kommunisten mit der liberalen Bourgeoisie in Deutschland heißt jedoch nicht – beeilt sich Engels sogleich anzufügen –, dass hier der grundlegende Klassenantagonismus in Frage gestellt würde; es handelt sich eben um ein bloß taktisches Bündnis: »Wenn die Bourgeoisie, sozusagen unser natürlicher Feind, der Feind ist, dessen Sturz unsre Partei zur Herrschaft bringt, so ist der deutsche Status quo noch viel mehr unser Feind, weil er zwischen der Bourgeoisie und uns steht, weil er uns hindert, der Bourgeoisie auf den Leib zu rücken.« (Ebd.: 42 f.)

Das ist es, worauf Engelsʼ revolutionsstrategisches Denken hinausläuft: In Deutschland, diesem völlig verrückten Land, müssen die Kommunisten mit ihrem natürlichen Feind ein Bündnis eingehen, um jenen Feind (den Status quo) zu besiegen, der die Klarheit der antagonistischen Positionen und letztlich den endgültigen Sieg über den natürlichen Feind (die Bourgeoisie) verhindert. Der »wahre Sozialismus« ist der reaktionäre Feind, weil er als Repräsentant des Status quo fungiert, ein Bündnis mit der Bourgeoisie verhindert und die Transparenz des Klassenantagonismus trübt. Ein Blick auf diese teils organisationsstrategischen, teils nach außen gerichteten bündnistaktischen Kämpfe gegen den »wahren Sozialismus« offenbart

tumslosen Proletariern; M.B.] schwächen, alle Phrasen die diesen Gegensatz vertuschen & wohl gar den Bourgeois Gelegenheit bieten sich kraft ihrer philanthropischen Schwärmerei der Sicherheit halber den Kommunisten zu nähern.« (MEGA² I/5: 529; Herv. M.B.)

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nicht allein die vormalige Fehleinschätzung des Gegners und das in diesen Kämpfen neu gewonnene politisch-strategische Denken von Marx und Engels; es legt ebenso sehr die Kernproblematik dieser Kämpfe frei, nämlich die Frage: Wer darf in Zukunft für das Proletariat auf legitime Weise, d.h. kommunistisch sprechen? Wer hat die autoritative Sprechposition, um den Raum des kommunistisch Sagbaren abzustecken und zu bestimmen? Bis zum zweiten Bundeskongress im Dezember 1847, auf dem dann Marx und Engels beauftragt werden, das neue Programm des Bundes zu formulieren, war die Sprechposition der beiden äußerst instabil und unsicher.34 Eine autoritative Position zu erreichen, war nur um den Preis möglich, zunächst mit den »wahren Sozialisten« zusammen den »Schneiderkommunismus« von Weitling auszuschalten und danach den »wahren Sozialismus« von Grün selbst. Doch selbst als dieser Sieg errungen war, als die Londoner Zentralbehörde und die Mehrheit der Bundesmitglieder den »historischen Materialismus« leidlich akzeptierten und sich selbst als »deutsche kommunistische Partei« verstanden, blieb eine schwierige Frage offen: Wie sollten man als »kommunistische Partei« für ein deutsches Proletariat sprechen, wie sollte man repräsentieren, was es laut eigener Erfahrung mit den »Straubingern«, aber auch nach der gesellschaftspolitischen Analyse noch gar nicht wirklich gab? Im Status quo in Deutschland musste Engels feststellen, dass zwar »Ackerknechte, Tagelöhner, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter und [ein] Lumpenproletariat« (ebd.: 49) existierten, aber eben keine gemeinschaftlich organisierte Arbeiterklasse. Noch deutlicher hatte dies Heinrich Bürgers, ein enger Freund und Mitstreiter von Marx und Engels, in einem Brief an Marx vom August 1847 aus Köln formuliert. Es lohnt sich, diesen Brief etwas ausführlicher zu zitieren: »Die deutsche Bourgeoisie hat sich noch gar nicht als Bourgeoisie in unserm Sinne kennen gelernt; sie ist noch reichlich von jenem Philantropismus infizirt, der den Widerstreit einer ihm untergeordneten Klasse noch nicht ahnt. […] Der größte Theil muß erst durch die Praxis getrieben werden, die Consequenzen seines Klassenstandpunktes kennen zu lernen. Freilich erklärt sich das leicht, wenn man das deutsche Proletariat etwas näher ins Auge faßt. Eine completere Bewußtlosigkeit über seine Lage und Aussichten, als hier un-

34 Es war ja keineswegs so, dass Karl Grün und der »wahre Sozialismus« auf die Angriffe von Marx und Engels sowohl im Bund als auch in der Öffentlichkeit nicht reagiert hätten und nicht ebenfalls kräftig ausgeteilt hätten. Spätestens mit einem langen Leitartikel der Trierʼschen Zeitung vom Januar 1847 machte Grün deutlich, dass Marx mit seinem »fanatischen Socialismus« und »communistischen Fervor« die ganze sozialistische Bewegung in Verruf bringen würde. (vgl. Strassmaier 1973: 16 ff.)

42 | M ATTHIAS BOHLENDER ter dem allergrößten Theil herrscht, kann man sich kaum vorstellen. […] Nur Leute wie Heß oder Weitling können sich hierüber Illusionen machen; die deutschen Fabrikarbeiter und Brüder Straubinger müssen erst noch durch die hölzerne Mühle einer energisch konkurrirenden Bourgeoisie hindurch, um für eine Propaganda, die aus den Verhältnissen des Weltmarkts deduzirt, empfänglich zu werden. […] Vollends aber wäre es eine ungeheure Täuschung, wenn sich Wer einbildete, in Deutschland existire eine Kommunistische Parthei; es ist davon, soweit ich habe sehen können, überall keine Spur vorhanden.« (MEGA² III/2: 351 f.)

Keine Bourgeoisie, kein Proletariat, kein Klassenkampf, keine kommunistische Partei – nirgends! In dieser nüchternen Analyse macht Heinrich Bürgers zumindest für Deutschland den prekären Status des »historischen Materialismus« deutlich: Denn wenn es stimmte – und Marx hatte es gerade noch in seiner Streitschrift gegen Proudhon bekräftigt 35 – dass der Kommunismus eben kein naturrechtlich-normatives Ideal, keine utopische Doktrin, kein dogmatisches System, sondern vielmehr eine aus den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen sich historisch entwickelnde revolutionäre, proletarische Bewegung ist, dann eben konnte von einem Kommunismus in Deutschland (und wohl auch europaweit) überhaupt keine Rede sein. Welchen Status aber hatte dann der Bund der Kommunisten, die »kommunistische Partei«? Was war ihre Aufgabe? In welcher Beziehung stand sie zu den Klassen? Und überhaupt: Welche Rolle spielte sie nun in einem »Klassenkampf«, den es (noch) nicht gab und der zwischen einem »Proletariat« und einer »Bourgeoisie« ausgetragen werden würde, die beide ebenfalls (noch) nicht existierten, sondern erst noch »kommen sollten«?

4. K ONKLUSIONEN ODER : D IE S PRECHPOSITION

METAHISTORISCHE

Mit diesen Fragen kehre ich wieder zum Ausgangspunkt meiner kurzen Genealogie des »historischen Materialismus« zurück, nämlich zu jenem berühmten Manifest der kommunistischen Partei, das das Feld des kommunistisch Sagbaren

35 Siehe MEW 4: 143. Und auch Engels belehrt Karl Heinzen noch im September 1847 darüber, dass der Kommunismus keine Doktrin sei, »sondern eine Bewegung. Er geht nicht von Prinzipien, sondern von Tatsachen aus. Die Kommunisten haben nicht diese oder jene Philosophie, sondern die ganze bisherige Geschichte und speziell ihre gegenwärtigen tatsächlichen Resultate in den zivilisierten Ländern zur Voraussetzung.« (MEW 4: 321 f.)

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auf neue Weise artikulieren und zugleich ordnen und begrenzen sollte. Ich habe versucht, zu zeigen, dass diese neue Weise, den Kommunismus zu denken, innerhalb eines Handgemenges, einer erbitterten Auseinandersetzung entstand, die vom manifesten Erscheinen dieses Denkens nicht zu trennen ist. Der Kampf gegen den »wahren Sozialismus« bildet einen massiven Entzündungsherd des »historischen Materialismus« und schreibt sich auf vielfältige Weise in ihn ein. So zeigte sich, dass erst die diskursive Nähe zu und die parteiliche Allianz mit den feuerbachianischen Sozialisten Marx und Engels zwingen, eine ideologiekritisch angeleitete Konversion zu vollziehen, dass aber erst in den organisatorischen und politischen Kämpfen mit dem »wahren Sozialismus« und seinen proletarisch-plebejischen Anhängern im Bund der Gerechten/Kommunisten sich beide ein neues revolutionsstrategisches Denken aneignen. Der dreijährige Kampf gegen den »wahren Sozialismus« wird demnach – und das ist der entscheidende Punkt der Analyse – formativ geführt, d.h.: Weder besitzen Marx und Engels für sich selbst schon eine feste theoriepolitisch formierte Position, als der Kampf beginnt, noch ist ihre (Sprech-)Position innerhalb des Feldes der sozialistischen und kommunistischen Organisationen während des Kampfes stabil, dauerhaft und gesichert. Diese formative Dimension des »historischen Materialismus« endet auch nicht einfach mit dem Erscheinen des Manifests. Zwar konnte die »Partei Marx« sich im Bund Ende 1847 erfolgreich durchsetzen und ihre Sprechposition organisatorisch sichern,36 aber dafür war ihre theoriepolitische Position höchst prekär geworden. Der Kampf darum, wer auf legitime Weise für das Proletariat sprechen darf, war gewonnen, aber zentrale referentielle Kategorien der Theorie wie »Proletariat«, »Bourgeoisie«, »Klassenkampf«, »revolutionäre Bewegung« und »kommunistische Partei« waren ins Schwanken geraten. Es war schlicht und einfach unmöglich geworden, einer einfachen Repräsentations- bzw. Expressionslogik zu folgen, die besagt, dass in Deutschland eine »kommunistische Partei« existiert, die nichts anderes darstellt als den politischen Ausdruck der Stellung des Proletariats im Klassenkampf, nichts anderes als ein Artikulationsorgan einer schon existierenden revolutionären proletarischen Bewegung. Wenn man jedoch nicht für das Proletariat sprechen und auch nicht ihr unmittelbares Ausdrucksorgan sein konnte, was waren die »Partei« und der »historische Materialismus« dann? Das Manifest hat versucht, darauf eine erste Antwort zu geben, oder genauer: Das Manifest ist diese Antwort. Es ordnet

36 Aber auch diese vermeintliche sichere Position wird nur wenige Jahre halten. 1850 wird der Bund der Kommunisten faktisch in zwei Gruppierungen gespalten (Marx/Engels und Schapper/Willich), zwei Jahre später dann aufgelöst. Vgl. Lattek 2006: 67 ff. und 137 ff.

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und begrenzt nicht nur das kommunistisch Sagbare, es zeigt dem noch-nicht existierenden Proletariat mit Hilfe einer beispiellosen Rhetorik, was es sein wird, wenn es das vollzogen hat, was es gezwungen sein wird, zu vollziehen. Das Manifest ist eine völlig neue Weise, nicht mehr allein für, sondern performativ das Proletariat selbst zu sprechen.37 Die »Partei« und der »historische Materialismus« haben genau diese Aufgabe; sie stehen nicht mehr doktrinär über oder außerhalb der Bewegung, sie sind aber auch nicht bloß der einfache Ausdruck derselben; sie sind vielmehr, wie es heißt, »der entschiedenste, immer weitertreibende Teil« der Bewegung, »sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus« (MEW 4: 474). Die »kommunistische Partei« ist paradoxerweise innerhalb der Bewegung der Bewegung voraus; sie ist tatsächlich der theoretisch schon vorweggenommene und aus der metahistorischen Sprechposition des gelungenen revolutionären Augenblicks vollzogene ideelle Ausdruck der proletarischen Bewegung. In dieser, aus dem Handgemenge heraus geborenen metahistorischen Sprechposition verdichtet sich fortan die gesamte Problematik des »historischen Materialismus«, nämlich auf eine gegen Kritik geradezu selbstimmunisierende Weise alles zugleich sein zu wollen: Ausdruck, Repräsentation und Führungsmacht eines performativ behaupteten »Proletariats«, von dem man jetzt in der Gegenwart schon weiß, dass es die Revolution einstmals gemacht haben wird.

L ITERATUR Bauer, Bruno (1968): »Die Gattung und die Masse« (1844), in: Ders., Feldzüge der reinen Kritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 213-223. Bohlender, Matthias (2013): »Marx, ein Exzerpt und der ›falsche Bruder‹. Zu einer Genealogie der ›Kritik der politischen Ökonomie‹«, in: R. Jaeggi/D. Loick (Hg.), Karl Marx: Perspektiven der Gesellschaftskritik, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 34, Berlin: Akademie Verlag, S. 109-121 Bohlender, Matthias (2016a): »Marx und die ›Kritik im Handgemenge‹. Die Geburt des ›kritischen Kommunismus‹«, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2015/16, S. 137-159. Bohlender, Matthias (2016b): »Tocqueville im Gefängnis. Zur Genealogie demokratischer Gefahren«, in: Harald Bluhm/Skadi Krause (Hg.), Alexis de

37 Siehe dazu ausführlicher Bohlender i.E.; zur neuen performativen Rolle des Manifest siehe Puchner 2006: 23 ff.

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Marx’ Gespenst: Die Kritik des Lumpen P AUL S TEPHAN

I. E INLEITUNG : S TIRNER

ALS

S PRUNGBRETT

Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit derjenigen Kritik, durch die Marx’ und Engels’ eigenes kritisches Projekt erst zu sich selbst kommt: der Kritik an Max Stirner, die Marx in der Deutschen Ideologie, jenem bedeutenden Zeugnis der »Selbstverständigung« (MEGA² II/2: 102), entwickelt.1 Stirner wird hier als derjenige vorgestellt, der den Subjektivismus der Junghegelianer auf die äußerste Spitze treibt und somit die Notwendigkeit des Sprungs aus der Philosophie heraus in die wirkliche Wissenschaft demonstriert: »Man muß ›die Philosophie beiseite liegenlassen‹ […] man muß aus ihr herausspringen und sich als ein gewöhnlicher Mensch an das Studium der Wirklichkeit geben […]; und wenn man dann einmal wieder Leute wie Krummacher oder ›Stirner‹ vor sich bekommt, so findet man, daß man sie längst hinter und unter sich hat.« (MEW 3: 218)2

Als Sprung handelt es sich bei diesem die Kritik erst konstituierenden Moment um einen willkürlichen Gewaltakt, der sich nicht bruchlos aus immanenter Kritik

1

Vgl. den Abschnitt III, »Sankt Max« (MEW 3: 101-438).

2

Es folgt unmittelbar der bekannte Satz über »Onanie und Geschlechtsliebe« (ebd.), gegen den freilich – unabhängig davon, dass Marx hier kritiklos in die moralische Ablehnung der Masturbation einstimmt – einzuwenden wäre, dass die Grenze zwischen beiden in actu ebenso fließend ist wie diejenige zwischen »Philosophie und Studium der wirklichen Welt« (ebd.).

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ableiten lässt.3 Ziel des Aufsatzes ist es, diesem Gewaltakt, der bürgerlichen Individualismus vom Kommunismus trennt, nachzugehen und davon ausgehend eine Kritik am Marxʼschen und Engelsʼschen von Hegel geerbten Anti-Individualismus, Objektivismus und geschichtsphilosophischen Optimismus zu üben. Ich werde dafür zunächst Marx’ und Engels’ Kategorie des Lumpenproletariats vorstellen und ihrer immanenten Widersprüchlichkeit überführen und dann dagegen versuchen, Stirners radikalen Individualismus einer wohlwollenden Relektüre zu unterziehen.4

3

Entgegen dem zitierten Selbstbekenntnis des jungen Marx behauptet Engels in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, dass Marx’ Verdienst gerade darin bestünde, die Hegelsche Dialektik – im Gegensatz zu Feuerbach und den anderen Junghegelianern – gerade nicht einfach beiseitegelegt, sondern – dem eigenen Anspruch Hegels folgend – wirklich aufgehoben zu haben (vgl. MEGA² I/30: 132). Allerdings spricht auch er von einem Entschluss, der Marx’ (und sein eigenes) Projekt erst initiiere und der aus bloßer immanenter Kritik somit nicht einfach folgt: »Das heißt, man entschloß sich, die wirkliche Welt – Natur und Geschichte – so aufzufassen, wie sie sich selbst einem jeden gibt, der ohne vorgefaßte idealistische Schrullen an sie herantritt; man entschloß sich, jede idealistische Schrulle unbarmherzig zum Opfer zu bringen, die sich mit den in ihrem eignen Zusammenhang, und in keinem phantastischen, aufgefaßten Tatsachen nicht in Einklang bringen ließ. Und weiter heißt Materialismus überhaupt nichts.« (Ebd.: 148) ›Entschluss‹, ›Entscheidung‹ und ›Sprung‹ sind nun alles Kategorien, die innerhalb des Hegelschen Systems zwar ihren Platz haben (vgl. insbesondere die Bedeutung der Kategorie des »Sprungs« im Kapitel über »Knotenlinien von Maßverhältnissen« der Wissenschaft der Logik [Hegel 1986c: 435-438]), jedoch grundsätzlich kritisch beäugt werden als Spielraum der individuellen Willkür gegenüber der Objektivität des »Weltgeistes« (vgl. etwa Hegels berühmte Kritik des Sprungs in der »Vorrede« der Grundlinien der Philosophie des Rechts [Hegel 1986a: 26]). Es sollte Kierkegaard vorbehalten bleiben, diese Kategorien aus den Klauen der Hegelschen Logik zu entreißen und wieder zu ihrem philosophischen Recht zu verhelfen (vgl. Adorno 2003a: 136-150), auch wenn Marx den Sprung weg von Hegel genauso vollzieht. Auch Stirner empfiehlt das willkürliche Abbrechen der Reflexion als »ein Aufspringen«, das »den Alp der religiösen Welt von der Brust« »schleudert«, als Heilmittel gegen die »Besessenheit« (Stirner 2009: 156) von metaphysischen Ideen.

4

Überraschenderweise gibt es für dieses Vorhaben nur sehr wenige Anknüpfungspunkte in der Sekundärliteratur. Eine Ausnahme bildet die – allerdings eher soziologische als philosophische und deswegen im Detail von meiner Argumentation erheblich

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II. D AS »L UMPENPROLETARIAT «

ALS

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S CHRECKGESPENST

Stirner bzw. sein »Einziger« wird von Marx wiederholt als »Lump« bezeichnet.5 Damit meint Marx einen Egoisten, der über kein wirkliches, sondern nur eingebildetes bzw. erschlichenes Eigentum (also: Lumpen) verfügt und eine völlig asoziale, nicht auf ehrlicher Arbeit (oder: Kapitalerträgen oder Grundrente) fußende Existenz führt, einen »Mensch von nur idealem Reichtum« (MEW 3: 213). Der Lump bzw. »Lumpenproletarier« bleibt Marx’ und Engels’ Schreckgespenst. Es ist der »Auswurf[…], Abfall, Abhub aller Klassen« (MEGA² I/11: 142). Es handelt sich dabei um einen eigenartigen Fremdkörper in ihrer Theorie: eine nicht ökonomisch, sondern moralisch bestimmte Gruppe von Menschen. Die Lumpenproletarier zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich radikal auf den Standpunkt des »vereinzelten Einzelnen« (MEW 3: 384)6 stellen. Sie sind mithin zu allen Schandtaten bereit, sofern es nur ihrem persönlichen Profit dient. In Gestalt zwielichtiger Figuren wie Napoleon III. können sie gar die Macht im Staat an sich reißen und somit den Sieg der proletarischen Revolution wenigstens temporär verzögern.7 Während sie im Kleinbürgertum8 und den Bauern9 etwa

abweichende, insbesondere den entscheidenden ›Faktor Hegel‹ gänzlich ausblendende – äußerst umfangreiche Studie von Bescherer (2012). 5

Vgl. etwa MEW 3: 214, 342.

6

Wie den Begriff des »Lumpen« entwickelt Marx auch den berühmten des »vereinzelten Einzelnen« erst in seiner Polemik gegen Stirner und entwendet ihn von jenem, der ihn affirmativ im Kontext seiner Proudhon-Kritik gebraucht (vgl. Stirner 2009: 254). Der »vereinzelte Einzelne« ist für Stirner gerade kein Lump, sondern der eigentliche Eigentümer, der sich gegen die Willkür des Kollektivs erwehren muss, das ihn zu enteignen trachtet, indem es sein Eigentum als Schein zu delegitimieren versucht. Sowohl der Begriffe des »vereinzelte Einzelnen« – der sich etwa bei Hegel nicht findet – als auch der des »Lumpen« (als philosophischer Terminus) scheinen originäre Schöpfungen Stirners zu sein.

7

Bonaparte sei der »Chef des Lumpenproletariats«, der »einzige[n] Klasse […], auf die er sich unbedingt stützen kann« (MEGA² I/11: 142). Unter seinem Regime habe »[d]ie französische Bourgeoisie […] das Lumpenproletariat zur Herrschaft gebracht« (ebd.: 175).

8

Vgl. etwa die Einschätzung in MEGA² I/21: 172, wo Engels trotz der Wankelmütigkeit des Kleinbürgertums von »sehr guten Elemente[n]« in ihm spricht, »die sich den Arbeitern von selbst anschließen.« Im 18. Brumaire ist der ärgste Gegenspieler Bonapartes eine Allianz aus Kleinbürgern und Proletariern.

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durchaus wichtige Bündnispartner sehen, haben Marx und Engels für diese Gruppe nur moralische Entrüstung übrig und fordern offen ihre gewaltsame Bekämpfung, da sie jeder Argumentation unzugänglich sei. So schreibt Engels in seiner Analyse des deutschen Bauernkriegs: »Das Lumpenproletariat, dieser Abhub der verkommenen Subjekte aller Klassen, der sein Hauptquartier in den großen Städten aufschlägt, ist von allen möglichen Bundesgenossen der schlimmste. Dies Gesindel ist absolut käuflich und absolut zudringlich. Wenn die französischen Arbeiter bei jeder Revolution an die Häuser schrieben: Mort aux voleurs! Tod den Dieben! Und auch manche erschossen, so geschah dies nicht aus Begeisterung für das Eigentum, sondern in der richtigen Erkenntnis, dass man vor allem sich diese Bande vom Hals halten müsse. Jeder Arbeiterführer, der diese Lumpen als Garde verwendet oder sich auf sie stützt, beweist sich schon dadurch als Verräter an der Bewegung.« (MEGA² I/21: 172)10

Diese Tendenz zur Verlumpung ist nun freilich kein Alleinstellungsmerkmal einer bestimmten Personengruppe. In Rekurs insbesondere auf Gedanken Hegels stellen Marx und Engels im Gegenteil die Diagnose, dass sich moderne Gesellschaften generell dadurch auszeichnen, dass sich in ihnen die Vergesellschaftung der Menschen über ihre Konstitution als »vereinzelte Einzelne« vollzieht.11 Dem-

9

In den »Ackerbautagelöhner[n]« fänden »die Industrie-Arbeiter der Städte ihre zahlreichsten und natürlichen Bundesgenossen« (MEGA² I/21: 173). Die Bauern, die selbst im Besitz von Gehöften sind, verfolgen freilich ein grundsätzlich reaktionäres Interesse (vgl. ebd.) und bilden im 18. Brumaire einen zentralen Rückhalt für Bonaparte.

10 In seinem frühen Text Die Lage der arbeitenden Klasse in England erkennt Engels immerhin noch an, dass das Verbrechen, insbesondere der Diebstahl als spontane Infragestellung der als ungerecht empfundenen bürgerlichen Eigentumsordnung eine, wenn auch unzureichende, Form proletarischen Widerstands sein kann (MEW 2: 430). 11 Vgl. Marxʼ Kritik der Naturalisierung des Individuums durch die Klassiker der politischen Ökonomie in MEGA² II/1.1: 21 f. Der Gedanke, dass sich erst die moderne Zeit durch eine nie dagewesene Individualisierung und Subjektivierung – die freilich in Wahrheit allein auf der Grundlage eines ihr vorausgehenden Allgemeinen bzw. Objektiven stattfindet, an dem sie sich quasi parasitär bedient und das sie zugleich auf bösartige Weise zu zersetzen droht – auszeichnet, ist bereits bei Hegel – hier indes noch im Rahmen seiner Philosophie des Geistes – ubiquitär. Seine deutlichste Formulierung findet diese Idee vielleicht am Ende der Vorlesungen über die Philosophie der Religion (Hegel 1986b: 339-343): Hegel hält dort den selbstzerstörerischen Charakter

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gemäß sind zunächst alle Mitglieder der modernen Gesellschaft Lumpen: Alle treten sich auf dem Markt als von allen natürlichen und gesellschaftlichen Bestimmungen losgelöste Individuen gegenüber, deren Beziehungen solche des Vertrages sind. Als Lumpen kennen sie nichts als ihren Eigennutz und versuchen, die anderen zu übervorteilen – am besten durch Betrügereien und Raub. In der im Kapital entfalteten Urgeschichte der kapitalistischen Produktionsweise werden dementsprechend die Urkapitalisten als Räuberbande beschrieben, die die Bauern und Bäuerinnen von ihrem Land vertreiben, um auf ihm profitabel Viehzucht betreiben zu können. Die ehemaligen Bauern und Bäuerinnen bilden nun in Marx’ eigener Beschreibung das Proto-Proletariat, das sich, frei von allen feudalen Ketten, in den Städten sammelt und nun den ersten Kapitalisten als Reservoir an billigen Arbeitskräften dient.12 Diese Urproletarier/-innen sehen dem Lumpenproletariat, von dem sie sonst so dezidiert geschieden werden, nun zum Verwechseln ähnlich: »Die Väter der jetzigen Arbeiterklasse wurden zunächst gezüchtigt für die ihnen angethane Verwandlung in Vagabunden und Paupers. Die Gesetzgebung behandelte sie als ›freiwillige‹ Verbrecher und unterstellte, daß es von ihrem guten Willen abhänge, in den nicht mehr existirenden alten Verhältnissen fortzuarbeiten.« (MEGA² II/5: 589)

Den Unterschied zwischen Proletariat und Lumpenproletariat muss man sich so vorstellen, dass die Lumpenproletarier/-innen tatsächlich freiwillige, aktive Verbrecher/-innen sind, den Arbeitern und Arbeiterinnen hingegen die Verlumpung passiv angetan wird.13 Die Proletarier/-innen wollen daher so schnell wie mög-

des modernen Geistes scharf fest, ohne irgendeine Form der Vermittlung anzubieten. Er lässt das Problem einfach als offene Frage stehen: Weder die Vernunft in Gestalt der Philosophie noch die Autorität in Gestalt des Staates kann dem modernen Partikularismus Einhalt gebieten. 12 Vgl. den Abschnitt über »[d]ie sog. ursprüngliche Akkumulation« im ersten Band des Kapital (MEGA² II/5: 574-610). 13 Marx unterscheidet auch im Kapital das »eigentliche[] Lumpenproletariat« (MEGA² II/5: 518), bestehend aus »Vagabunden, Verbrechern, Prostituirten« (MEGA² II/5: S. 518) vom Rest »des tiefste[n] Niederschlag[s] der relativen Surpluspopulation« (MEGA² II/5: 518), auch von den »Verkommene[n], Verlumpte[n], Arbeitsunfähige[n]« (MEGA² II/5: 519). Was die differentia specifica zwischen beiden Gruppen sein könnte, verrät implizit folgende Stelle des Buches: »Sie [die durch die frühneuzeitliche Vertreibung der leibeigenen Bauern von ihrem Land entstandenen ›Urproletarier‹, auf die weiter unter noch zurückzukommen sein wird; P.S.] verwandelten sich

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lich ihren Lumpenstatus verlassen und sich ihr Geld durch ehrliche Arbeit verdienen, indem sie sich bei denen verdingen, die sie zuvor aus ihrer Scholle verjagten. Erst diese Unterwerfung unter den kapitalistischen Arbeitsprozess diszipliniert sie und befähigt sie, revolutionär zu werden. Die Lumpenproletarier/ -innen hingegen vollziehen diesen Schritt nun anscheinend willentlich nicht und versuchen, sich individuell ohne Arbeit durchzuschlagen mit dem Ziel, idealerweise irgendwann zum Kapitalisten aufzusteigen – freilich keinem der protestantischen Verzichtsethik verpflichtetem Kapitalisten, sondern einem verschwenderischen, faulen Kapitalisten, einem Lumpenkapitalisten14. Dabei ist klar, dass die kapitalistische Produktionsweise diese Möglichkeit, durch – gemessen an der bürgerlichen Leistungsethik, also ihrem eigenen Grundprinzip 15 –

massenhaft in Bettler, Räuber, Vagabunden, zum Theil aus Neigung, in den meisten Fällen durch den Zwang der Umstände.« (MEGA² II/5: 589) Lumpenproletarier/innen im engsten Sinne wären – auf dem Reflexionsniveau des Kapital – somit nur diejenigen, die aus Neigung in die Kriminalität abdriften, nicht diejenigen, die es nur widerwillig aus Not heraus tun und, sobald es die materiellen Umstände erlauben, wieder einer regulären Tätigkeit nachgehen. 14 Um solche ›Lumpenkapitalisten‹ handelt es sich v. a. bei der »Finanzaristokratie«, von der es in Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850 heißt, sie sei »in ihrer Erwerbsweise wie in ihren Genüssen […] nichts als die Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft.« (MEGA² I/10: 122) Sie kennzeichne »die schrankenlose, mit den bürgerlichen Gesetzen selbst jeden Augenblick kollidirende Geltendmachung der ungesunden und liederlichen Gelüste« (ebd.). Marx erwähnt an dieser Stelle, dass sich von Seiten der Industriekapitalisten und des Kleinbürgertums eine moralische Entrüstung gegen diese verlumpte Finanzaristokratie auch in manifest antisemitischer Form geäußert habe, distanziert sich davon jedoch nicht, sondern spricht sogar selbst mit Bezug auf sie vom »Frankreich der Börsenjuden« (ebd.). 15 Schon Hegel bezeichnet es als Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft, dass Subsistenz durch die Arbeit vermittelt sein soll, und führt das als Argument gegen die staatliche Armenhilfe an (vgl. § 245 der Grundlinien der Philosophie des Rechts; Hegel 1986a: 389 f.). In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Marx und Engels das Problem des Lumpenproletariats keineswegs erfinden, sondern von Hegel erben, bei dem es unter dem Namen »Pöbel« im Abschnitt über die »Polizei« in den Grundlinien der Philosophie des Rechts auftaucht (Hegel 1986a: 381-392). Schon Hegel erkennt nämlich das Problem des Entstehens einer Schicht von Arbeitslosen, die – selbst, wenn sie es wollen – nicht arbeiten können, da ihnen die Möglichkeit dazu fehlt. Hier sieht selbst er ein im Rahmen der modernen Gesellschaft nicht endgültiges lösbares

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illegitime Quellen wie Glücksspiel, Raub, Almosen, Staatsalimente und Betrug an Geld zu kommen, an allen Ecken und Enden schafft und diese Geschäftszweige gar, wie Marx selbst schreibt16, eine relativ wichtige Rolle im ökonomischen Gesamtprozess spielen. Sie schafft zugleich die Unmöglichkeit für Zahllose, auf ehrliche Art ihr Brot zu verdienen. Könnte man den/die Proletarier/-in so nicht einfach nur als Lumpen verstehen, der das Glück hat, einer legitimen Tätigkeit nachgehen zu können – ein ›Glück‹, das zugleich durchaus in vielerlei Hinsicht ein Unglück ist (ist das Lohnarbeiter/-innendasein doch ein recht zweischneidiges Los)?

Problem. Auch bei Hegel entsteht der Pöbel allerdings nicht allein durch die Armut: »Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, daß der Mensch, der auf die Zufälligkeit angewiesen ist, leichtsinnig und arbeitsscheu wird […]. Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht.« (Hegel 1986a: 388 f.) Der Pöbel – den es, wie Hegel an anderer Stelle schreibt (vgl. Ruda 2011: 76 f.), auch bei den Reichen geben kann – ist also die äußerste Zuspitzung des von Hegel beklagten modernen Subjektivismus und Individualismus, der zu einem Zerfall des Sozialen führen könne. Marx und Engels knüpfen in diesem Punkt gerade nicht an den Linkshegelianismus an (der das subjektiv-individualistische Moment der Hegelschen Philosophie, Hegels Modernismus, gerade zuspitzt – wie etwa bei Stirner), sondern an das rechte, konservative Element in Hegels Philosophie – das sie nicht ›vom Kopf auf die Füße stellen‹ (vgl. MEGA² I/30: 149), sondern einfach weitgehend unverändert übernehmen mit all dem brutalen Zynismus, der damit einhergeht (Hegel nimmt dezidiert in Kauf, dass man den Pöbel verhungern lässt; Hegel 1986a: 389 f.). Vgl. zu dieser ganzen Problematik das äußerst instruktive Buch über Hegels Pöbel von Frank Ruda (2011), das leider fundamental daran krankt, dass Ruda krampfhaft das Marxʼsche Proletariat mit Hegels Pöbel zu identifizieren versucht und somit die eigentliche Tiefendimension der Problematik, die sich keineswegs einfach mit einem Sprung von Hegel zu Marx kitten ließe, übersieht. Es bedarf zur Lösung des Problems sicherlich einer philosophischen Parteinahme für den Pöbel und das ›Lumpenpack‹ – doch diese ist nur möglich als Parteinahme für den modernen Individualismus und Subjektivismus und führt somit sowohl von Hegel als auch von Marx weg. 16 Vgl. die recht unterhaltsam zu lesende »Abschweifung über productive Arbeit« (MEGA² II/3: 280-284).

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Dasselbe Problem der Ununterscheidbarkeit begegnet einem, wenn man versucht, unter dem ›Proletariat‹ nur diejenigen zu verstehen, die sich bewusst als Klasse konstituieren und für eine allgemeine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kämpfen. Auch sie würden ja den allgemeinen Nutzen nur als Mittel ihres individuellen verstehen und sich von den Lumpen nur durch eine andere Wahl der Mittel unterscheiden. Die Differenz müsste also in der Wahl der Zwecke liegen. In der Tat erschiene jemand, der aus zweckrationalen Überlegungen heraus das Risiko eines revolutionären Kampfes eingeht, als vollkommen irrational gemessen an seinem ganz partikularen Eigennutz. In der gewaltsamen Konfrontation mit einem übermächtigen Gegner kann man schließlich sterben – wieso nicht lieber sein Glück in der Spielhalle oder als Taschendieb versuchen? Um Proletarier/-in im vollen Sinne zu werden, bedarf es mithin einer moralischen Entscheidung, die nicht allein auf zweckrationale Überlegungen reduzierbar ist. Man muss wirklich vom Willen getrieben sein, nicht nur für seinen partikularen Eigennutz, sondern für das Allgemeinwohl zu kämpfen. Wenn dies so ist, steht dies allerdings im direkten Widerspruch zu den Äußerungen von Marx und Engels, die in ihren Schriften von der Deutschen Ideologie an Formen eines moralisch begründeten Kommunismus immer wieder als kleinbürgerliche Spinnereien denunzieren. Ihr geschichtsphilosophischer Optimismus speist sich gerade daraus, dass sie meinen, zeigen zu können, dass die Proletarier/-innen ganz von selbst, ohne alle moralische Zutat, revolutionär werden und die kapitalistische Gesellschaft stürzen würden. Für diesen zentralen geschichtsphilosophischen Punkt gibt es im Marx’schen und Engels’schen Werk nun allerdings keine zureichende Begründung. Marx’ und Engels’ Hauptargument basiert einfach nur auf der Annahme, dass der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen von sich aus die Transformation vom Kapitalismus zum Kommunismus bewirken werde – der Klassenkampf des Proletariats sei im Grunde nur ein Reflex derselben.17 Doch diese Theorie krankt daran, dass sie die »relative Autonomie« (Althusser) der nicht-ökonomische Sphären vollkommen ausblendet; sie bietet keinerlei Erklärung dafür, wie sich der abstrakte Widerspruch auf der Strukturebene konkret in wirkliches Handeln umsetzt. So werden etwa die – vor dem Hintergrund unserer heutigen Erfahrung realistischer als die von Marx und Engels prognostizierte

17 Kernargument dafür, dass die kapitalistische Produktionsweise »mit der Nothwendigkeit eines Naturprozesses« (MEGA² II/5: 609) ihre eigene Negation erzeuge, ist ihre Tendenz zur Monopolbildung (MEGA² II/5: 608-610) – die allerdings, wie die Geschichte zeigt, durchaus politisch gebändigt werden kann.

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Tendenz erscheinenden – Alternativen, dass der strukturelle Widerspruch des Kapitalismus irgendwie wirtschaftspolitisch eingehegt werden könnte, wie auch die schlimmere, dass der Kapitalismus zwar zusammenbricht, dieser Zusammenbruch jedoch in einem Rückfall in vormoderne Verhältnisse statt in einer Vollendung der Moderne in einer kommunistischen Gesellschaft mündet, vollkommen ausgeblendet. Plausibilisieren lässt sich diese geschichtsphilosophische Annahme allenfalls dadurch, dass man – wie es bei Marx und Engels an manchen Stellen anklingt18 – davon ausgeht, dass es eine zwangsläufige Verelendungstendenz im Kapitalismus gebe, die dazu führe, dass die unerträglichen Lebensumstände es aus einem zweckrationalen Kalkül heraus den Proletariern und Proletarierinnen immer naheliegender erscheinen lässt, das Risiko der offenen Konfrontation mit dem Kapital einzugehen. Doch dagegen erhebt sich der Einwand, dass es doch wiederum ein erhebliches Maß an moralischer Stärke braucht, um sich im Zustand größter Verelendung nicht korrumpieren zu lassen und sich doch einem faschistischen Racket oder dergleichen anzuschließen. Als zweites Moment heben Marx und Engels daher hervor, dass die Proletarier – im Gegensatz zu den reaktionären Klassen – in der Fabrikarbeit und im gemeinsamen Klassenkampf eine Erfahrung gelebter Solidarität machen, die aus ihnen ein wirkliches Kollektivsubjekt macht, das dann den Kapitalismus stürzen kann. 19 Doch auch hier ist nicht ersichtlich, warum die Vergemeinschaft automatisch zum Sieg der Proletariats führen soll angesichts der gleichzeitigen Individuierungstendenz der Arbeiter/-innen – zumal der Kapitalismus auch immer wieder äußerst individualisierende Arbeitsverhältnisse hervorbringt.20

18 Diese Verelendungstheorie – die ihre theoretische Begründung v. a. im Abschnitt »Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Accumulation« im ersten Band des Kapital findet (MEGA² II/5: 494-574) – hat dezidiert eine geschichtsphilosophische Schlagseite: »Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vortheile dieses Umwandlungsprozesses usurpiren und monopolisiren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisirten Arbeiterklasse.« (Ebd.: 609) 19 Vgl. etwa den zweiten Teil des in Fn. 18 zitieren Satzes. 20 Dieter Thomä unterscheidet in seiner sehr instruktiven Diskussion des Marxʼschen ›Lumpenproblems‹ vor dem Hintergrund seiner Motivgeschichte des »puer robustus« (Thomä 2016: 289-334) zwei bei Marx und Engels zu findende Versionen der Begründung vom revolutionären Charakters des Proletariats, die sich beide auch im Ka-

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Ohne ein gewisses moralisches »Hinzutretendes«, um einen Ausdruck Adornos zu gebrauchen (vgl. Adorno 2003c: 227 ff.), scheint es mit der Revolution also nichts zu werden. Doch es ist zugleich fraglich, woher dieses Hinzutretende kommen soll vor dem Hintergrund einer Anthropologie, der zufolge der Mensch wesentlich über seine ökonomischen Interessen bestimmt ist. Der Verdacht liegt folglich nahe, dass Marx und Engels dem Lumpenproletariat genau deshalb mit so großer Aggressivität begegnen müssen, weil sich in ihm ein blinder Fleck in ihrer Theoriebildung, genauer: eine grundlegende Diskrepanz zwischen ihrer deskriptiven Analyse der modernen Gesellschaft, ihren moralischen Überzeugungen und ihren politischen Vorstellungen und Hoffnungen, symptomal verdichtet. Während sie auf der Ebene der Deskription davon ausgehen, dass Moral primär ein Deckmantel ökonomischer Interessen sei und die moderne Gesellschaft dahin tendiere, überkommene Moralsysteme zu zersetzen und die Menschen moralisch zu degenerieren,21 gehen sie doch im Hintergrund von starken

pital finden: Die hier genannte ›Verelendungstheorie‹ (vgl. ebd.: 317-323) und die ›Vergemeinschaftungstheorie‹ (vgl. ebd.: 323-329), der zufolge die Arbeiter/-innen sich durch ihre Konzentration in den Fabriken einen historisch neuen Grad von Kollektivität ausbilden würden. (Meines Erachtens [wenigstens als Argument dafür, dass die Proletarier/-innen nicht ›verlumpbar‹ sind] wäre ihnen noch die ›Disziplinierungstheorie‹ hinzuzugesellen [s. o.].) Während die ›Vereledungstheorie‹ an ihrem Objektivismus scheitere – denn sie unterstelle den Proletariern und Proletarierinnen einen objektiven Hang zur Revolution völlig losgelöst von ihren konkreten Denk- und Vergemeinschaftungsformen – sieht Thomä in der ›Vergemeinschaftungstheorie‹ einen vielversprechenden Ansatz für die Konzeption eines ›revolutionären Subjekts‹. Allerdings taugt dieses revolutionäre Subjekt, das sich erst in konkreten Praktiken der Solidarisierung entwickelt und nicht schon von vorneherein feststeht, nicht mehr zu derart hochtrabenden metaphysisch-geschichtsphilosophischen Ambitionen, wie sie ihm Marx aufbürdete: Es steht nicht a priori fest, dass es das moralisch Gute tut oder auch nur will. Der/die antikollektivistische Außenseiter/-in, der/die moderne Individualist/-in, der Lump wird so doch wieder ins Recht gesetzt (vgl. ebd.: 329-334). 21 Oder anders ausgedrückt: Mit der fortschreitenden Verelendung des Proletariats und der damit einhergehenden Zuspitzung des Klassenkampfes wird der illusorische Charakter der Moral immer offenkundiger. Insofern wird deren Zersetzung von Marx und Engels nicht beklagt. Andererseits führt Marx sie auch in seiner Beschreibung der empirischen Verelendung des britischen Proletariats im ersten Band des Kapital als durchaus entscheidenden Faktor an, der belegen soll, wie schlecht dessen Lage ist (vgl. den Abschnitt »Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Accumulation«

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moralischen Überzeugungen aus. Als gute Hegelianer wollen sie beide Ebenen – Interesse und Moral – freilich nicht dualistisch gegenübertreten lassen, sondern eine Form der Vermittlung finden: nämlich das Proletariat als diejenige Klasse, in der Partikular- und Allgemeininteresse zusammenfällt.22 Dass es der Imagination eines böswilligen Störenfrieds bedarf, um das empirische wie begriffliche Scheitern dieser Konzeption zu erklären, liegt auf der Hand.23 Es gibt für dieses Dilemma nun verschiedene Lösungen, von denen in der marxistischen Literatur sicherlich keine unversucht blieb. Dabei suchte man entweder nach neuen revolutionären Subjekten, kehrte zurück zu Versionen des moralischen Sozialismus oder revidierte die Marxʼsche Anthropologie. In der Praxis versuchte man diesem Dilemma nicht allzu selten mit terroristischen Methoden, wie sie bei Engels (s. o.) bereits anklingen, Herr zu werden und Erziehungsdiktaturen verschiedenen Typs zu schaffen – und so die Absurdität von Arbeiterstaaten zu schaffen, die auf die wirklichen Arbeiter/-innen, sobald diese offensiv für ihre Interessen kämpfen, schießen lassen.24 Wie sähe nun die

[MEGA² II/5: 494-574]). Die Zersetzung der Moral wird also keineswegs einseitig zynisch bejubelt, sondern durchaus als Form der Entmenschlichung angesehen. 22 So bereits der Grundgedanke in der »Einleitung« von Zur Hegelschen Rechtsphilosophie (MEGA² I/2: 170-183). 23 Es handelt sich mithin um eine typische Figur der Abspaltung, wie sie für moralistische Ideologien aller Art charakterisierend sind: Da das ›Eigene‹ das ‚Gute‹ sein muss, muss das eigene Schlechte auf einen äußeren ›Bösen‹ projiziert werden, der dann als Feind bekämpft werden kann. Nietzsche analysiert diesen Abspaltungsmechanismus als Grundmerkmal aller moralistischen Denkweisen in der ersten Abhandlung von Zur Genealogie der Moral (vgl. Nietzsche 2012: 257-289), grundlegend ist er Adorno und Horkheimer zufolge für den modernen Antisemitismus (vgl. Adorno/Horkheimer 2004: 196-209). Nicht von ungefähr greifen Marx und Engels in ihrer Kritik des Lumpen Motive aus Antiziganismus, Antisemitismus, Rassismus und Antikosmopolitismus auf (vgl. hierzu auch Stallybrass 1990 und Fn. 14 des vorliegenden Aufsatzes). 24 Eines der markanten Ereignisse (das hier nur beispielhaft herausgegriffen werden soll – es wären noch einige weitere zu nennen), in dem sich dieser Grundwiderspruch der ›realsozialistischen‹ Staaten deutlich manifestierte, ist die gewaltsame Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 in der DDR, der mindestens 55 Personen zum Opfer fielen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2004). Dem massenhaften, landesweiten Streik gegen eine geplante Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent schlossen sich vor allem Bauarbeiter/-innen und Beschäftigte industrieller Großbetriebe an, deren Interessen die SED doch gerade zu vertreten beanspruchte. Um die

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Alternative aus, all diese Lösungsversuche ganz aufzugeben und sich schlicht damit abzufinden, dass alle Menschen in der modernen Gesellschaft reine Egoisten bzw. Egoistinnen seien, die niemals eine Revolution im Marxʼschen Sinne durchführen werden? Für eine solche Alternative steht philosophisch Max Stirner.

III. S TIRNERS »L UMP «

RECONSIDERED

Den Begriff des »Lump« entwendet Marx von Stirner selbst. Bei Stirner hat er genau dieselbe Grundbedeutung: Er bezeichnet jemanden, der über nur unwirkliches Eigentum verfügt, als »Mensch von nur idealem Reichtum« (Stirner 2009: 276)25. Das ist bei Stirner nun genau der Kommunist, der sich mit dem zufrieden gibt, was ihm staatlicherseits zugeteilt wird, anstatt sich das anzueignen, was in seiner Macht liegt.26 Marx entrüstet sich besonders über diesen Teil von Stirners Kritik und behauptet, Stirners Zerrbild des Kommunismus habe mit dem wirklichen überhaupt nichts zu tun.27 Die Ähnlichkeiten zwischen Stirners Darstellung passivierender Klientelwirtschaften und den real existierenden sozialistischen Experimenten ist derweil frappierend genug, um sich die Sache noch einmal genauer anzusehen. Stirners »Einziger« wäre als ein trotziger Non-Konformist zu beschreiben, der durchaus zu Recht darauf insistiert, dass die kommunistische Bewegung ihrem eigenen Anspruch, eine nicht-repressive Versöhnung zwischen sozialem Allgemeinem und individueller Besonderheit herzustellen, nicht gerecht wird:

mit diesem kurzen Aufscheinen des realen Antagonismus’ zwischen Staats- und Arbeiter/-inneninteressen verbundene Traumatisierung schnellstmöglich abzuwehren, wurde der Streik nur wenige Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus in verschwörungstheoretischer Manier als »das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen« (Neues Deutschland 18.06.1953) abgetan. Nicht zufällig war in der DDR-Presse am übernächsten Tag von den Streikenden als »Lumpenpack« (Neues Deutschland 19.06.1953) die Rede, mit dem die ›ehrlichen Arbeiter/-innen‹ nichts zu tun hätten. 25 Marx zitiert an der oben zitieren gleichlautenden Stelle explizit Stirner. 26 Vgl. das Kapitel über den »sozialen Liberalismus« (Stirner 2009: 124-131). 27 Vgl. MEW 3: 186-214. Der Abschnitt ist mit etwa 67.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen) deutlich länger als Stirners entsprechender Text, der gerade einmal etwa 16.000 zählt, und einer der längsten von Marx’ Stirner-Kritik.

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zum einen, weil sie in Wirklichkeit gar nicht die wirklichen Interessen der empirischen Proletarier/-innen vertritt; zum anderen, weil sie zur Umsetzung ihres hehren Ziels Mittel bemüht, die dieser Intention diametral entgegenlaufen und sie als unglaubwürdig erscheinen lassen. Wird die Klassenherrschaft, anstatt durch eine staatenlose Gesellschaft ersetzt zu werden, nicht durch die nicht viel bessere einer heuchlerischen bürokratischen Kaste ersetzt – heuchlerisch, weil es sich in Wahrheit auch nur um eine weitere Bande von Lumpen handelt? Stirner ist ein Zyniker, der auf alle zeigt, die behaupten, irgendeine Form von Allgemeinheit zu repräsentieren, und ruft: ›Du bist doch auch nur ein Lump!‹ Dagegen hält er eine Ethik der bewussten Lumpigkeit, die darum freilich, in seinen Begriffen, aufhört, lumpig zu sein, da sich der selbstbewusste Lump nicht mehr mit Lumpen abspeisen lässt, sondern sich so viel aneignet, wie er nur kann. Befreit von jedem allgemeinen Interesse regrediert dieser Einzelne freilich zu einer in der Tat recht armseligen und traurigen Gestalt: Er hört genau auf, ein wirkliches Individuum zu sein – das sich doch nur unter Bezugnahme auf irgendein Allgemeines überhaupt konstituieren kann –, zugleich hat er sich jedoch auch von allen leiblichen Impulsen freigemacht. Weder von Moral noch vom Bedürfnis getrieben erstarrt sein Bemühen so zur reinen Selbstbehauptung um ihrer selbst willen – und dadurch gerade wird das ›Selbst‹, das es da zu behaupten gibt, entkernt, ein gespenstisches Nicht-Ich. In ihrer positiven Wendung bietet die Stirnerʼsche Philosophie so tatsächlich ein bizarres Schauspiel, das eine allzu leichte Beute für Polemiken à la der von Marx abgibt. Umso verdächtiger ist, dass Marx ihr so viel Platz einräumt – sie ist länger als Der Einzige und sein Eigentum, das schon selbst ein äußerst geschwätziges Buch ist28 – und gegen Stirner mit so großer Vehemenz agiert. Auch wenn Marx und Engels Stirner im Spätwerk nur noch selten erwähnen, wird er ab und an doch herangezogen als besonders infamer Verfechter einer lumpenproletarischen Haltung, die zugleich mit dem Anarchismus assoziiert wird. 29

28 Der Einzige und sein Eigentum zählt etwa 777.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen), Marx’ Kritik etwa 840.000. 29 So heißt es etwa in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie: »Stirner bleib ein Kuriosum, selbst nachdem Bakunin ihn mit Proudhon verquickt und diese Verquickung ›Anarchismus‹ getauft hat.« (MEGA² I/30: 147) In der Schrift Ein Komplott gegen die Internationale Arbeiterassoziation, in der eine angebliche »Verschwörung« der Anarchisten um Bakunin aufgedeckt werden soll, heißt es daher: »Ihre [der IAA; P.S.] Gründer und die Vertreter der Arbeiter-Organisation beider Welten, die auf den internationalen Kongressen die Allgemeinen Statuten der Association sanktionierten, vergaßen, daß gerade die Weite ihres Programms selbst

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Stirner nun freilich als wichtigen Vordenker des Anarchismus zu lesen, ist ein unverdientes Lob: Denn sein radikaler Individualismus richtet sich gegen alle politischen Richtungen. Eine politische Organisierung von konsequenten Stirnerianern und Stirnerianerinnen würde früher oder später zerfallen, Stirners ›politische‹ Utopie nennt sich »Verein« und wäre eine allein auf individuellem Eigennutz gegründete Organisation, die keinen Selbstzweck darstellte, sondern bloßes Mittel ihrer Mitglieder.30 Das Wort »Verein« ist nun freilich verräterisch: Denn auch Marx und Engels gebrauchen die Rede vom »Verein freier Menschen« (oder ähnliche Begriffe wie »Vereinigung« oder »Assoziation«) ja an mehreren prominenten Stellen zur Charakterisierung ihres eigenen politischen Endziels. Kommunismus ist ja schließlich definiert als eine Gesellschaft, in der Allgemeines und Partikulares nicht mehr zerfällt, in der zwischen Eigen- und Allgemeinnutz keine Differenz mehr bestünde.31 Die Verve der Gegnerschaft demonstriert so eine fundamentale Ähnlichkeit. Der Unterschied besteht nur darin, dass Marx und Engels davon ausgehen, dass es eines langwierigen politischen Kampfes bedürfe, um den Kommunismus zu erreichen, während Stirner behauptet, ein nicht-entfremdeter Zustand ließe sich jederzeit durch einen bloßen Entschluss zur Verweigerung bereits im Hier und Jetzt realisieren. Vom Standpunkt des Stirnerʼschen »Einzigen« aus betrachtet ist der politische Kampf eine sinnlose Anstrengung, die bestenfalls dazu führt, dass sich einige wenige politische Führer auf Kosten ihres

den Declassirten erlauben würde, sich einzuschleichen und im Schooße der Association geheime Organisationen zu bilden, deren Tätigkeit sich nicht gegen die Bourgeoisie und die bestehenden Regierungen, sondern gegen die Internationale selbst richten würde.« (MEGA² I/24: 476) Der Begriff der »Declassirten« wird in einer Fußnote wie folgt erklärt: »Declassirte, déclassés, heißen im Französischen diejenigen aus den besitzenden Klassen hervorgegangenen Leute, die von ihrer Klasse ausgestoßen oder aus ihr ausgetreten sind, ohne darum Proletarier zu werden; z. B. Industrieritter, Pickelhäringe, gewerbsmäßige Spieler, die meisten Literaten und Politiker von Profession usw. Auch das Proletariat hat seine Deklassierten; sie bilden das Lumpenproletariat.« (Ebd.) Hier findet man spätere parteikommunistische Denkweisen und Politikstile bereits deutlich vorgeprägt. 30 Vgl. Stirner 2009: 215-322. Zur Frage nach Stirners Anarchismus vgl. die ausführliche, auch schon im Kontext der Untersuchung der ›Marx/Stirner-Frage‹ geführte Diskussion in Stephan 2015: 53 f., insb. Fn. 6 (ebd.: 59). 31 Es ist generell bezeichnend, wieviel Marx und Engels implizit von Stirner übernehmen, gerade hinsichtlich seiner Feuerbach-Kritik (vgl. die umfangreiche Studie Eßbach 1982).

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naiven Gefolges bereichern. Vom Standpunkt des Marxʼschen Kommunisten aus betrachtet ist der Einzige ein fauler Tunichtgut, der individuell regrediert und die gemeinsame Sache verrät. Es lässt sich demgegenüber freilich auch eine andere Lesart von Stirners Einzigem benennen: Eine, die ihn als primär negative Figur betrachtet, als Kritiker oder Kritikerin, der bzw. die permanent Einspruch erhebt gegen falsche, repressive Formen der Versöhnung, aber nicht einfach die eigene partikulare Perspektive zum Allgemeinen verabsolutiert oder davon ausgeht, dass von vorneherein jede Form von Engagement für eine Versöhnung zum Scheitern verurteilt ist, sondern die kommunistischen Umwälzungsbemühungen mit einer gewissen wohlwollenden Skepsis und im Beharren auf seinen bzw. ihren Eigensinn mit einer distanziert-engagierten Haltung beobachtet und sich darin auch temporär einbringt.

IV. F AZIT : Z WISCHEN L UMP E IN L ÖSUNGSVERSUCH

UND

ARBEITER –

Marx’ und Engels’ Kritik am Lumpen bleibt von großer – nicht zuletzt gegenwarts-diagnostischer – Relevanz: Die von Marx und Engels befürchtete Verlumpung des bürgerlichen Individuums hat im Zeichen der neoliberalen Scheinindividualisierung ein wahrhaft besorgniserregendes Maß erreicht; sie geht allerdings mit einer realen Entkernung des Individuums Hand in Hand – insofern lohnt es sich gerade heute, Stirner zu lesen, und zwar als Vordenker neoliberaler Ideologie32. Donald Trump ist sicherlich ein Lumpenkönig – und mit Recht verweisen zahlreiche Kommentatoren und Kommentatorinnen darauf, dass es zum Verständnis der augenblicklichen Geschehnisse in den USA und anderswo viel bringt, Marx’ 18. Brumaire zu Rate zu ziehen, wird hier der Bonapartismus als Syndrom moderner Gesellschaften doch erstmals auf seinen Begriff gebracht wird.33 Fraglich an dieser Schrift ist nur, dass Marx systematisch die Möglichkeit ausblendet, dass der Bonapartismus kein nur vorübergehendes Phänomen darstellt, kein letztes Aufbäumen eigentlich dem Untergang geweihter Restklassen,

32 Vgl. Helms 1966. Stirners Verteidigung der Asozialität lässt sich natürlich auch als Kritik an der neoliberalen Unterwerfung der Einzelnen unter die Zwänge des Marktes lesen und geht insofern in dieser Charakterisierung nicht ganz auf. 33 Vgl. etwa Brumlik 2017 a/b, Fluss/Miller 2016, Derian 2016 und Mix 2017 (Brumlik 2017a zustimmend kommentierend).

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sondern eine permanente Möglichkeit des entwickelten Kapitalismus.34 Statt es bei einer einmaligen Wiederkehr zu belassen, wiederholt sich die Tragödie als Farce endlos – und genau darin besteht die eigentliche Tragik dieser Periode, vor der Marx und Engels die Augen verschlossen.35 Zu ergänzen wäre dabei, dass es keinesfalls nur Erdogan, Trump, Putin und Konsorten sind, die heute den Bonapartismus verkörpern. Vielmehr sind Züge des Bonapartismus längst Teil des kapitalistischen Normalbetriebs geworden, die von den genannten nur ins Extrem verzerrt werden. Gerade der Sozialstaat lässt sich als ein bonapartistisches Unterfangen beschreiben, insofern er mittels eines völlig aufgeblähten Staatsapparats die Menschen in passive Empfänger/-innen staatlicher Alimentierungen verwandelt und somit mit sanfter Repression mit dem Bestehenden versöhnt.36 Insbesondere angesichts dessen hat Stirners Kritik am Staat als passivierenden Almosenverteiler heute eine vielleicht größere Relevanz denn je – auch wenn man den Sozialstaat gegen seine neoliberal motivierte Abschaffung als soziale Errungenschaft verteidigen wollen mag. Verlumpung (und mithin Bonapartismus als verlumptes Allgemeines) ist also nichts, was die gewöhnliche Ordnung einfach so von außen heimsuchen würde, sondern sie ist selbst konstitutiver Bestandteil moderner Gesellschaften. Doch

34 Marx kann allenfalls plausibilisieren, dass es sich beim Bonapartismus um ein metastabiles Regime handelt, da es immer wieder zwischen den verschiedenen Klasseninteressen hin- und herlavieren muss und es somit keiner Klasse wirklich recht machen kann, sich vielmehr um ständige spektakuläre Ablenkungsmanöver wie kulturelle Großveranstaltungen und außenpolitische Erfolge bemühen muss und sich dadurch lächerlich und unglaubwürdig macht (vgl. MEGA² I/11: 188 f.). Doch wieso sich ein metastabiler Zustand nicht auch verstetigen können soll – schließlich haben ja Marx’ eigener Analyse zufolge alle Klassen außer dem Proletariat ein mehr oder weniger starkes Interesse am Erhalt des Kapitalismus – und warum sich nicht, womöglich sogar: große, Teile des Proletariats von den bonapartistischen Zugeständnissen befriedigen lassen sollen, dafür hat Marx nur die wenig befriedigende – weil moralische und nicht analytische – Antwort ›Das sind eben Lumpen‹ anzubieten. Selbst bei einem – unwahrscheinlichen – völligen Verschwinden der ›Restklassen‹ wäre dies zumindest eine Option. 35 Zur Problematik des Lumpen als ewig wiederkehrendem Problem kritischer Theorie aus einer etwas anderen Perspektive vgl. Schreull 2014. 36 Dies zeigt schon ein Blick auf die Genese des Sozialstaats als Mittel der Ruhigstellung der Arbeiterbewegung und die umfangreiche, in Teilen durchaus ›progressive‹, soziale Reformpolitik Louis Bonapartes. Vgl. zur Verbindung von Bonapartismus und Ausbau des Staatsapparates zum Zwecke der ›Wohltätigkeit‹ MEGA² I/11: 178 f. & 187 f.

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gerade weil das so ist, führt Marx’ und Engels’ Kritik des Lumpen (im Sinne eines genitivus obiectivus) ins Leere: Gerade, weil Marx und Engels spüren, in Wahrheit kein Argument gegen den Lump zu haben, müssen sie gegen ihn mit moralischer Empörung und Gewalt reagieren. Vielmehr gälte es, die Kritik des Lumpen (im Sinne eines genitivus subiectivus) ernst zu nehmen und in ein politisches Projekt zu integrieren, das das Kollektiv nicht über die Einzelnen stellt, sondern das Programm der nicht-repressiven Versöhnung ernsthaft verfolgt: eine Synthese von individualistisch-anarchistischen und kommunistischen Impulsen. Der Lump bleibt die Bremse auf dem Arsch des Kommunismus, der/die Antreiber/-in der »wirkliche[n] Bewegung« (MEW 3: 35). Diese Funktion kann er/sie freilich nur einnehmen, wenn er/sie sich nicht einfach zynisch mit der Verlumpung abfindet, sondern als Lump eine Kritik der Lumpen (im wörtlichen Sinne) artikuliert. Diese Kritik besteht letztendlich in nichts als der negativen Aussage, dass etwas noch zu lumpig ist.37

V. N EKROLOG : R EQUIEM

FOR A

D REAM

Der Titel dieses Textes ist mithin nicht nur – was offensichtlich ist – eine Anspielung auf den berühmten ersten Satz des Manifests der kommunistischen Partei, sondern selbstverständlich auch auf Derridas berühmten Text zu Marx, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale (2004). Das Lumpenproletariat ist ein Gespenst in dem präzisen Derridaʼschen Sinne, dass es eine ›anwesende Abwesenheit‹ in Marx’ und Engels’ Texten markiert: Wie sich im Laufe der Argumentation gezeigt hat, ist es im Gegensatz zum Proletariat – das ja (jedenfalls für Marx und Engels selbst) gerade kein Gespenst ist, sondern eine unmittelbare Gegenwart, eine »wirkliche Bewegung« (MEW 3: 35), die zum Kommunismus treibt (das ist ja genau die

37 Ist damit das Problem ›gelöst‹? Nein, weder die Philosophie noch die Gesellschaft, deren Selbstreflexionsmedium sie sein will, scheinen in dieser Hinsicht über Hegel (vgl. Fn. 11) hinaus zu sein: Zwischen der Forderung nach Fixierung eines Allgemeinen und der individualistischen Skepsis klafft ein nicht zu schlichtender Abgrund. Wir haben es mit einer Aporie des modernen Denkens wie auch einem objektiven Widerspruch der modernen Gesellschaft zu tun. ›Lösen‹ lässt er sich nicht, indem man sich auf die eine oder die andere Seite des Gegensatzes schlägt: Eine ›Lösung‹ könnte vielmehr allenfalls darin bestehen, die Unlösbarkeit dieses Problems auf der Grundlage der vorhandenen theoretischen und praktischen Mittel voll anzuerkennen. Diesen Punkt verfehlten Stirner und Marx gleichermaßen.

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Pointe des Manifests im Speziellen und des »wissenschaftlichen Sozialismus«38 im Allgemeinen: zu zeigen, dass der Kommunismus kein Gespenst, keine ›bloße Idee‹ ist, da er über eine leibhafte Manifestierung verfügt) – gerade durch seine Abwesenheit, seine Ungreifbarkeit bestimmt. Es ist überall und nirgends zugleich. Im Sinne des Derridaʼschen (zweifellos von Levinas’ Ethik des Anderen inspirierten39) Begriffs der Gerechtigkeit40 – die immer eine Gerechtigkeit gegenüber dem Abwesenden, dem Gespenst, ist – ist es genau dasjenige, dem der Marxismus Gerechtigkeit schuldet – eine Gerechtigkeit, die ihm bislang qua Befangenheit des Mainstream-Marxismus in einer schlechten, von Hegel her ererbten »Ontologie der Präsenz« (Derrida 2004: 232) verwehrt wurde. Das »Lumpenproletariat« steht genau für denjenigen Teil der unterdrückten Menschheit, den die Marxismen seit jeher aus der Masse des ›legitimen Proletariats‹ ausgeschlossen haben, um dessen Identität zu garantieren, und die im Namen des Fortschritts auf dem »Kehrichthaufen der Geschichte«41 landeten. Die ›naiven‹ Maschinenstürmer/-innen, die Anarchisten und Anarchistinnen, die ›unzuverlässigen‹ Intellektuellen, die Matrosen von Kronstadt, auch die Trotzkisten und Trotzkistinnen selbst, die Opfer des Gulags, die Toten der Mauer, die jüdischen Ärzte und Ärztinnen, die Brillenträger/-innen, der eigensinnige Student aus Adornos spätem Text (vgl. Adorno 2003b: 763) etc.: Nur, wenn sich der Mar-

38 Vgl. etwa Engels’ Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (MEGA² I/27: 583-647). Interessant ist dabei, dass Marx und Engels etwa noch im Manifest ätzend gegen diejenigen, die sich einen »wissenschaftlichen Sozialismus« auf die Fahne schreiben, polemisieren, weil dies eine leere, idealistische, von der Praxis entfremdete Phrase sei (vgl. MEW 4: 486, 491). 39 Derrida führt in Marx’ Gespenster den Begriff der Gerechtigkeit anhand eines Levinas-Zitats ein (Derrida 2004: 41; vgl. dazu auch Derrida 1976). 40 Dieser Begriff steht im Zentrum von Marx’ Gespenster (vgl. Derrida 2004: 40-49). 41 Leo Trotzki zitiert sich in seiner Geschichte der russischen Revolution selbst: »Nein, hier ist eine Verständigung nicht am Platz! Jenen, die von hier weggegangen sind, wie jenen, die mit solchen Vorschlägen kommen, müssen wir sagen: ihr seid armselige Einzelgänger, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt, schert euch hin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Kehrichthaufen der Geschichte!« (Trotzki 2010: 563) Es sind also Lumpen (»Einzelgänger«, »Bankrotteure«), die auf jenen »Kehrichthaufen« gehören. Die hier ausgesprochene Selbstgewissheit Trotzkis, sich ganz vorne an der Lokomotive des Fortschritts zu befinden und die Massen der Arbeiter/-innenschaft hinter sich zu haben, sollte sich nur wenig später gegen ihn selbst wenden. Er beschwört in dieser Passage eine Rhetorik der Reinheit und Sauberkeit, wie sie auch für Faschismus und Islamismus typisch ist (vgl. Emcke 2016: 165-183).

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xismus seinen Gespenstern stellt und ihnen endlich Gerechtigkeit wiederfahren lässt, anstatt an seiner Politik der präsentischen Identität (›Du bist ein echter Prolet – Du nicht‹) festzuhalten, wird er sich erneuern können.42 Das ist die vielleicht wesentlichste moralische wie politische ›Lehre‹ dieses Beitrags, so es eine gibt.

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42 Und es handelt sich mitnichten um ein Problem der ›dunklen Vergangenheit‹ der linken Bewegung. Im Gegenteil scheint es im Zuge der allgemeinen Faschisierung des gesellschaftlichen Klimas immer absurdere Dimensionen anzunehmen und die Linke immer mehr zu einem unglaubwürdigen Racket reiner Klientelpolitik zu verkommen, die die Stimme des/der inneren Kritikers/Kritikerin so vehement ersticken muss wie eh und je. Man denke etwa an die jüngste Debatte um den Sammelband Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten (l’Amour laLove 2017), in dem genau das Problem linker Identitätspolitik am Beispiel der ›queeren Szene‹ diskutiert wird. Judith Butler und Sabine Hark betitelten ihre argumentativ äußerst schwache Antwort auf den Sammelband, einen gemeinsamen verfassten Artikel in der Zeit, vielsagend mit »Die Verleumdung« (2017). Wie eh und je wird also in der ›globalen‹ – selbst in der ›identitätskritischen‹ – Linken auf Kritik von innen heraus mit einer Rhetorik des ›Verrats‹ und der ›Nestbeschmutzung‹ reagiert.

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Wissenschaft als »Organ« der Bewegung Konflikttheoretisches Denken bei Marx C HRISTOPHER S ENF

1. E INLEITUNG Die Frage nach der Funktion kritischer Intellektueller im Verhältnis zu den politischen Kämpfen sozialer Bewegungen, insbesondere in Zeiten sozialer Umbrüche und Krisen, ist seit jeher bedeutsam für kritische Theorien der Gesellschaft. Einflussreiche Antworten darauf treten in schillernden Begriffen wie »organische Intellektuelle« subalterner Klassen (Gramsci 2002, Heft 12, §1: 1497 ff.), »intellektuelle Seite des historischen Prozesses der Emanzipation« (Horkheimer 1937: 189) oder »reflexiver Zusammenhang« zwischen sozialen Konflikten und Kritischer Theorie (Honneth 2002: 95) zu Tage. Auf unterschiedliche Weise werden hierbei soziale Bewegungen als die Inspirationsquellen für kritische Theorien der Gesellschaft präsentiert sowie eine Nutzbarmachung der Einsichten der Theorien für den Erfolg ihrer Konfliktpraktiken betont. Dass kritische Intellektuelle die Aufgabe wahrzunehmen hätten, soziale Bewegungen reflektierend zu begleiten, wird auch in aktuellen Debatten immer wieder eingefordert (vgl. Flügel-Martinsen 2017: 251). Selten findet dabei Beachtung, dass bereits in Marxʼ Werk interessante Positionen sichtbar werden, wie dieses außergewöhnliche Selbstverständnis kritischer Gesellschaftstheorien konzeptualisiert werden könnte. Zwei Positionen stechen aus seinem vielschichtigen Werk heraus: 1) Nur aus einer in der Gesellschaft bereits praktisch wirksamen Kritik kann theoretische Kritik erwachsen. 2) Theoretische Kritik der Gesellschaft bildet sich nicht nur in ihrem Kontext heraus, sondern müsse sich zum wissenschaftlichen »Organ« derselben machen (MEW 4: 143). In diesem Artikel möchte ich klären, wie diese organische Relationsbestimmung zwischen kritischer Theorie und Praxis systematisiert werden kann und welche Aufgaben daraus für Marxʼ kritische Gesellschaftstheorie re-

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sultieren. Hierfür werde ich im ersten Abschnitt – aufbauend auf seinen Frühschriften – skizzieren, welche gesellschaftstheoretischen Elemente damit einhergehen, sich als wissenschaftliches Organ einer sozialen Bewegung zu positionieren. Im zweiten Abschnitt werde ich – auf Grundlage ausgewählter Textpassagen aus Marxʼ politisch-historischen Schriften und seinem Kapitel zum Kampf um die Länge des Arbeitstags im Kapital – aufzeigen, wie diese Elemente in seinen konflikttheoretischen Analysen zur Anwendung kommen. Ziel ist es, zu verdeutlichen, dass sich Marxʼ kritische Gesellschaftstheorie in sozialen Konflikten ihrer Zeit empirisch verankert sieht und der gesellschaftstheoretischen Reflexion derselben widmet. Diese kann insofern als wissenschaftliches »Organ« einer Bewegung verstanden werden, als Marx seine intellektuelle Arbeit als parteinehmenden und parteibildenden Beitrag zum Konflikt der Arbeiterbewegung positioniert. Theoretisch erarbeitete Einsichten sollten der Bewegung zur Aufklärung über die Geschichte, Bedingungen, Chancen, Praktiken und Strategien ihres Konflikts zur Verfügung gestellt werden und zu ihrem politischen Erfolg beitragen. Diese Auseinandersetzung mit Marxʼ konflikttheoretischem Denken liefert auch Antworten auf die Frage nach der Funktion kritischer Intellektueller in Zeiten multipler Krisen und globaler Umbrüche.

2. D AS T HEORIE -P RAXIS -P ROBLEM IN M ARX ʼ F RÜHSCHRIFTEN In Marxʼ Frühschriften tritt eine bemerkenswerte Relationsbestimmung zwischen wissenschaftlicher Arbeit und politischer Praxis zu Tage. In ideologiekritischer Abgrenzung zu einflussreichen Sozialisten und Philosophen seiner Zeit – in Form sarkastischer Sticheleien und zynischer Tiraden, die sich durch seine Schriften wie Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Die Heilige Familie oder Deutsche Ideologie ziehen – bringt Marx diese Relationsbestimmung unter den Begriff der Wissenschaft als »Organ« der Bewegung. In der Schrift Das Elend der Philosophie skizziert er diese am prägnantesten, wenn er dargelegt, inwiefern Sozialisten und Kommunisten die intellektuellen Repräsentanten der Arbeiterinnen und Arbeiter sind: »Aber in dem Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie es nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihrem Auge abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. [...] Von diesem Augenblick an

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wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden« (MEW 4: 143).

Mein Eindruck ist, dass sich in diesen Äußerungen gereifte Positionen zu Herausforderungen bündeln, mit denen sich Marx seit seiner Hegel-Kritik konfrontiert sieht. Darin argumentiert er bereits, dass das Proletariat seine geistigen Waffen in der Philosophie finde, welche daher der »Kopf« ihrer Emanzipation sei (MEGA² I/2: 183). Was anfänglich noch als Aufgabe der Philosophie bestimmt wird, traut Marx wenig später nur noch der realitäts- und praxisnäheren empirischen Wissenschaft zu. Seine Relationsbestimmung bleibt jedoch die gleiche: Intellektuelle Theoriearbeit soll sich in Form gesellschaftskritischer Forschung mit einer praktischen Bewegung verbinden, um sozialen Wandel zu befördern (vgl. Bayertz 2016: 279-287). Anhand weiterer Textausschnitte aus seinen Frühschriften werde ich skizzieren, wie diese Relation zwischen kritischer Theorie und Praxis verstanden werden kann, sowie zentrale gesellschaftstheoretische Elemente seines Konzepts der Wissenschaft als »Organ« der Bewegung zusammentragen. 2.1 Ausstieg aus der Philosophie und Hinwendung zur empirischen Gesellschaftstheorie Implizit scheint es Marx in den Frühschriften um ein angemessenes Verständnis zu gehen, welche Aufgaben kritischen Intellektuellen in der Gesellschaft zukommen und wie sie jene zu erledigen haben. Er wendet sich gegen eine Form der Kritik, die sich – wie er sie in der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie zum Ausdruck bringt – nur als »Leidenschaft des Kopfes« (MEGA² I/2, 172) positioniert und die sich nur gegen das »geistige Aroma« (ebd.: 170) der Verhältnisse wendet. Vor allem die philosophischen Kritikformen in Deutschland »von Strauß bis Stirner« (MEW 3: 19) bewertet Marx so, dass sie nur Irrtümer kritisierten und forderten, Bewusstsein zu verändern, um einen Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse herbeizuführen (vgl. ebd.: 19 ff.). Diese Kritikformen führten laut Marx jedoch lediglich einen »philosophischen Kampf mit dem Schatten der Wirklichkeit« bzw. gegen eine »Herrschaft des Gedankens« (ebd.: 14). In Abgrenzung zu diesen bewusstseinsphilosophischen Kritikformen tritt er für eine Fokusverschiebung ein: Anstatt sich auf das theoretische Widerlegen von Irrtümern, religiösen Vorstellungen und ideologischer Rechtfertigung überkommener Herrschaft zu fokussieren, sollten diejenigen gesellschaftlichen Verhältnisse in den Blick genommen und kritisch analysiert werden, die für ihre Stabilität erst illusionärer Verschleierungen bedürfen. (Vgl.

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ebd.: 7) Er erhebt die Gesellschaft zum Objekt der Kritik. Die Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse müsse die philosophische Kritik defizitärer Ideen und religiöser Vorstellungen ersetzen. (Vgl. ebd.: 21) Gründe für diese Fokusverschiebung treten in seinen Frühschriften immer wieder hervor und diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die kritikwürdigen Verhältnisse sind real (vgl. ebd.: 25), historisch gewachsen (vgl. MEW 4: 548), gefestigt durch materielle Gewalt (vgl. MEGA² I/2: 173), basieren auf einem gesellschaftlichen Praxiszusammenhang (vgl. MEGA² IV/3: 19 ff.), folgen einer spezifischen Produktion sowie Reproduktion (vgl. ebd.: 21), und begünstigen verschleiernde Ideologien (vgl. ebd.: 22). Sie könnten daher nicht allein durch kritisches Denken und das Explizieren von Irrtümern verändert werden, denn »nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein« (ebd.: 21). Marx richtet sich gegen die Praxis »philosophischer Marktschreierei« (ebd.: 18) sowie gegen die Forderung nach einer »Reform des Bewusstseins« (Bayertz 2016: 283). Dagegen stellt er die Position, dass die »wirkliche Welt […] nicht bekämpft [wird], wenn nur ihre Ideologien bekämpft werden« (MEW 3: 20). Seines Erachtens ist die theoretische Kritik überkommener Herrschaftsideologien zwar die notwendige, aber keine hinreichende Bedingung gesellschaftlicher Veränderung. Daher hält Marx bereits in seiner Schrift Die Heilige Familie zugespitzt fest: »Ideen können nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen. Ideen können überhaupt nichts ausführen. Zum Ausführen der Ideen bedarf es Menschen, welche eine praktische Gewalt aufbieten.« (MEW 2: 126)

Anhand dieser Äußerung wird ein weiteres Element seiner theoretischen Fokusverschiebung und des damit verbundenen Konzepts von Wissenschaft als »Organ« einer Bewegung sichtbar: Marx erhebt nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Objekt der Kritik, sondern bestimmt zudem, dass sich diese Kritik in Form von Praxis vollziehen müsse. Indem er die Gesellschaft als geschichtliches Resultat politischer und ökonomischer Aktivitäten realer Subjekte definiert, bestimmt er Praxis als die Triebkraft sozialen Wandels. (Vgl. MEW 3: 45) Zentraler Bezugspunkt dieser neuen Form kritischer Gesellschaftstheorie wird die kollektive Konfliktpraxis von Klassen und deren Ringen um Emanzipation (vgl. ebd.: 33 f.) bzw. »revolutionäre Praxis« (MEGA² I/2: 177; MEGA² IV/3: 20). Konfliktpraxis wird insofern als Vollzugsform von Kritik bestimmt, als sie die Überwindung derjenigen Probleme verspricht, mit denen sich kritische Intellektuelle wie Marx seit der Zeit des Vormärz konfrontiert sahen (vgl.

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MEGA² I/2: 172). Stichwörter sind hier religiös begründete Herrschaft bei gleichzeitiger Herausbildung säkularer Institutionen, politische Verfolgung und das Aufkommen sozialer Probleme im Kontext der Industrialisierung (vgl. Arndt 2015: 41 ff.). Die Lösung für diese Probleme sieht Marx im Ausstieg aus der realitäts- und praxisfernen Philosophie (vgl. MEW 3: 218) und einer wissenschaftlichen Hinwendung zum – wie er sagt – »wirklichen Leben« (ebd.: 27), den »wirklichen Problemen« (ebd.: 7) und darin stattfindenden »wirklichen Kämpfen« (MEW 2: 87). Insbesondere soziale Kämpfe sieht er als praktische Ausdrucksform von Kritik, zu denen sich die theoretische Kritik in ein solidarisches Reflexionsverhältnis setzen müsse. In der Deutschen Ideologie fassen Marx und Engels diese theoretische Wende dann wie folgt zusammen: »Die Voraussetzungen, mit denen wir beginnen […] Es sind die wirklichen Individuen, ihre Aktionen und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre Aktionen erzeugten« (MEW 3: 20). Dieser emphatische Wirklichkeitsbezug markiert Marxʼ Hinwendung zur Wissenschaft. Und Wissenschaft kommt seines Erachtens zum Resultat, dass »nicht die Kritik, sondern die Revolution die treibende Kraft der Geschichte […] ist« (ebd.: 38). Was als einseitige Praxisfokussierung mit Revolutionshoffnung erscheint (vgl. Bayertz 2016: 283) – in Marxʼ Thesen zu Feuerbach sogar wie die Unmittelbarkeit zwischen Theorie und Praxis aussieht (vgl. MEGA² IV/3: 21) – sind zugespitzte Antworten auf die Frage, was theoretische Arbeit kritischer Intellektueller leisten muss, um die skizzierten Probleme ihrer Zeit wirkmächtig angehen und verändern zu können. Marxʼ Antwort ist: Kritische Theorie der Gesellschaft muss offenbar empirisch informiert ausloten, aufklären und praktischen Einfluss darauf nehmen, inwiefern kämpferisch beförderter sozialer Wandel möglich ist, um mit praktischen Lösungen für die bisher nur theoretisch analysierten Probleme rechnen zu können (vgl. Bayertz 2016: 283 f.). 2.2 Aktive und passive Bedingungen revolutionären Wandels Zusammenfassend zeichnet sich Marxʼ theoretische Fokusverschiebung und der damit verbundene Ausstieg aus der traditionellen Philosophie (vgl. Arndt 1985: 54 ff.) durch mindestens zwei entscheidende Charakteristika aus. 1) Ein Charakteristikum ist die theorieinterne Hinwendung zur empirisch informierten Erforschung und Kritik gegenständlicher Vermittlungszusammenhänge der Gesellschaft. Dem damaligen Paradigma der Naturwissenschaft folgend (vgl. Bayertz 2015: 298) und inspiriert durch die in England sich herausbildende politische Ökonomie im Anschluss an Smith und Ricardo (vgl. MEW 4: 141) sollen systematisch geordnete und gesicherte Kenntnisse die Wissenschaft-

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lichkeit seiner Theorie gewährleisten. Diese empirisch fundierte und methodisch reflektierte Theorie setzt Marx moralisch und utopisch begründeten Theorien entgegen. Diese würden nur externe Maßstäbe an die Gesellschaft herantragen. Dem entgegen bringt er eine Theorieform in Stellung, die wir heute als Geschichts- und Sozialwissenschaft bezeichnen könnten. Mit ihr soll der praktisch gemachte und historisch vergängliche Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse offengelegt und anhand der Explikation innerer Widersprüche deren Überwindung als objektive Möglichkeit erörtert werden. Diese Theorieform bündelt sich in seinen späteren Schriften in einer ausgereiften Ökonomietheorie, in der er die inneren Prinzipien und Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und die daraus resultierenden Antagonismen offen zu legen versucht. (Vgl. Heinrich 2011) 2) Das zweite Charakteristikum ist die theorieexterne Verankerung jener Theorieform in kollektiven Konfliktpraktiken, die revolutionären gesellschaftlichen Wandel beförderten. Wie dieser außergewöhnliche Zusammenhang zwischen empirisch informierter, kritischer Gesellschaftstheorie und der Konfliktpraxis sozialer Bewegungen verstanden werden kann, wird klarer, wenn sich Marx den sog. »aktiven und passiven« Bedingungen für revolutionären Wandel widmet (MEGA² I/2: 178). Zu den passiven Bedingungen revolutionären Wandels zählt Marx auf der einen Seite insbesondere die Reife bzw. die geschichtliche Herausbildung von gesellschaftlichen Klassenverhältnissen. Zu den aktiven Bedingungen revolutionären Wandels rechnet er auf der anderen Seite die theoretische Verarbeitung dieser Verhältnisse und die Einsicht in darin auftretende systematische Benachteiligungen der arbeitenden Klassen und Chancen zur praktischen Veränderung derselben. Diese »Erarbeitung von Bewusstsein« (MEW 4: 491) schildert er im Manifest als Aufgabe kommunistischer Intellektueller und in seiner Kritik an Hegel als Hinzufügen von Druck zum »wirklichen Druck« (MEGA² I/2: 173). Offenbar sollen sich kritische Intellektuelle laut Marx der Aufgabe annehmen, ihre mit Mitteln empirischer Wissenschaft erarbeiteten Einsichten in die Struktur und Dynamik der modernen gesellschaftlichen Verhältnisse denjenigen zur Verfügung zu stellen, die unter diesen leiden (vgl. MEW 2: 86) und sich praktisch empören (vgl. MEW 3: 372 ff.). Als Aufklärungsinstanz (vgl. MEW 4: 491) soll ihre theoretische Arbeit auf diese Weise zur aktiven Bedingung revolutionären Wandels werden (vgl. MEW 3: 37 f.). Dabei müssten sie aber von der Einsicht geleitet sein, dass die von ihnen analysierten gesellschaftlichen Probleme nur durch Konfliktpraktiken desjenigen kollektiven Akteurs beseitigt werden können, der sich bereits in zentralen Kooperationsstrukturen der Gesellschaft befindet (MEGA² I/25: 10 ff.). Dieser Akteur müsse sich – Marxʼ Kenntnissen der

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englischen Industrialisierung und seiner damit verbundenen Entwicklungserwartung für das westliche Europa folgend – entfalten (vgl. MEGA² I/2: 182 f.), Wissen über seine gesellschaftliche Position (vgl. MEW 3: 31) und systematische Benachteiligung generieren (vgl. MEW 4: 181 f.) und vor allem anfangen, sich politisch zu organisieren (vgl. ebd.: 143). Um diese emphatische Einheit zwischen empirisch informierter, kritischer Gesellschaftstheorie und revolutionärer Konfliktpraxis herstellen zu können, verweist Marx in seinen Frühschriften auf ein weiteres Element, das berücksichtigt werden müsste, so dass kritische Wissenschaft als »Organ« einer Bewegung fungieren könnte. Er und Engels verweisen in ihrer Schrift Die Heilige Familie auf den falschen Gegensatz zwischen einer vermeintlich reinen fortschrittlichen, theoretischen Kritik von Intellektuellen auf der einen Seite und einer dummen, rückschrittlichen, empörten Masse auf der anderen. (Vgl. MEW 2: 82) Diese Kritikform sei laut Marx und Engels vom innergesellschaftlichen Subjekt revolutionären Wandels abgetrennt. Zugespitzt schreiben sie: »[Sie] adressiert […] sich nicht an die empirischen Menschen, sondern an das ›Innerste der Seele‹, rückt sie, […] dem Menschen nicht auf seinen groben, etwa in die Tiefe eines englischen Kellers oder in die Höhe einer französischen Speicherwohnung hausenden Leib, sondern ›zieht‹ sich ›durch und durch‹ durch seine idealistischen Darmkanäle.« (Ebd.: 85)

Stattdessen müsse der Fokus kritischer Gesellschaftstheorie auf die Massen, auf ihre empirischen Handlungen und Interessen gelegt werden. Sie dürfe sich nicht über alltägliche Leidenserfahrungen, über den »wirklich sinnlichen Kopf« und das »wirklich sinnliche Joch« geschichtlicher Individuen hinwegbewegen (ebd.: 87), sondern müsse sich »zur Wesenstätigkeit des wirklichen in der Gesellschaft lebenden, leidenden, an ihre Qualen und Freuden teilnehmenden, menschlichen Subjekten machen« (ebd.: 170). Soziales Leiden und kollektive Empörung stellen für Marx offenbar diejenigen empirischen Ausgangspunkte dar, deren Ursachen die empirisch informierte Gesellschaftstheorie analytisch zu durchdringen hat und von denen ausgehend überhaupt erst mit einer revolutionären Praxis und einem damit verbundenen revolutionären Wandel gerechnet werden kann. Die skizzierte Verschränkung von aktiven und passiven Bedingungen revolutionären Wandels tritt auch in Marxʼ Auseinandersetzung mit dem Begriff der Bewegung in seinen Frühschriften auf. Wenn er von der Arbeiterbewegung spricht (vgl. MEW 2: 162; MEW 4: 474), schildert er ein »geschichtliches Resultat« (MEW 3: 43) und etwas, das Geschichte »modifiziert« (MEW 4: 139); Praktiken, die »gesellschaftlich produziert« (ebd.: 182) sind als auch »produzie-

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rend wirken« (MEW 3: 21). Er deutet das gesellschaftliche Phänomen der Bewegung als »erzeugt und erzeugend« (ebd.: 5). Die Arbeiterinnen und Arbeiter seien demzufolge in ihren Konfliktpraktiken bewegt und gesellschaftlich bewegend oder wie Marx im Elend der Philosophie sagt: »Materialien der Ökonomen sind das bewegte und bewegende Leben der Menschen« (MEW 4: 126). Politisch relevantere Sätze finden sich in diesem Kontext in der Deutschen Ideologie: »Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.« (MEW 3: 35) In einem Artikel aus dem Jahr 1848 bringt Marx diese Dimension von Bewegung ebenfalls pointiert zum Ausdruck, wenn er anmerkt: »So ist nicht der Kommunismus kommunistisch, sondern die politische Ökonomie, die bürgerliche Gesellschaft« (MEW 4: 512). Das hat zur Konsequenz, dass die Arbeiterbewegung als Träger revolutionären Wandels in Marxʼ Werk ein geschichtliches Resultat der Gesellschaft ist. Er präsentiert diese als eine innergesellschaftliche Instanz der Transzendenz. Aufgrund des asymmetrischen Aneignungs- und Ausbeutungsverhältnisses und des daraus resultierenden Konflikts zwischen Kapital und Arbeit, welcher in den Institutionen und ökonomischen Verkehrsformen der kapitalistischen Gesellschaft eingelassen sei, sei ein latenter Grundkonflikt in der Gesellschaft vorhanden, der diese Bewegung wiederkehrend reproduziere. (Vgl. MEW 3: 69) Interessanterweise sei Marx zufolge sogar kritische Gesellschaftstheorie geschichtliches Resultat des latenten Grundkonflikts. Er hebt in der Deutschen Ideologie hervor: »selbst wenn diese Theorie […] in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen [tritt], so kann dies nur dadurch gehen, dass die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Widerspruch getreten sind« (ebd.: 31 f.). Noch prägnantere Sätze finden sich hier: »Die Existenz revolutionärer Gedanken in einer bestimmten Epoche setzt bereits die Existenz einer revolutionären Klasse voraus« (MEW 3: 47). Es wird erkennbar, dass theoretische Gesellschaftskritik bei Marx eine außertheoretische, praktische Verankerung besitzt. Manifestationen der latenten Konfliktstruktur der modernen Gesellschaft scheinen kritischen Intellektuellen – u.a. in Form eigener Unrechtserblebnisse, Erlebnisse von Systemkrisen und insbesondere durch politische Kämpfe sozialer Bewegungen – von derartiger gesellschaftlicher Brisanz, dass wissenschaftliche Gesellschaftskritik nötig und revolutionärer Wandel möglich erscheint. Als Zwischenkonklusion des ersten Teils kann daher festgehalten werden, dass Marx in seinen Frühschriften ein gesellschaftstheoretisches Programm skizziert, dass sich durch zwei Aspekte auszeichnet: 1) theorieintern durch empirisch informierte immanente Kritik – innere Widersprüche der Gesellschaft sollen auf-

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gedeckt und Wandel als objektive Möglichkeit präsentiert werden; 2) theorieextern durch die Verbindung mit einer sozialen Bewegung – diejenige Instanz der Gesellschaft soll gestärkt werden, die die Kritikwürdigkeit der Verhältnisse aufzeigt und praktisch für einen Wandel derselben eintritt.

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KONFLIKTTHEORETISCHE

ANALYSEN

Im zweiten Teil werde ich zeigen, wo sich Marx den »wirklichen Kämpfen« (MEW 2: 87) der Gesellschaft zuwendet und die Elemente seines gesellschaftstheoretischen Selbstverständnisses »Wissenschaft als Organ der Bewegung« anwendet. Hierfür widme ich mich – basierend auf den politisch-historischen Schriften, aber auch anhand des Kapitels zum Arbeitstag im Kapital – der Explikation seiner konflikttheoretischen Analysen und werde aufzeigen, welche situativen Auslöser, Motive und Effekte Marx für den sozialen Konflikt der Arbeiterbewegung skizziert. Dies soll dazu beitragen, weitere Elemente seines gesellschaftstheoretischen Selbstverständnisses freizulegen und die dahinterliegende Relationsbestimmung zwischen kritischer Theorie und Praxis zu explizieren. Ich beginne mit kurzen Erläuterungen zu den situativen Auslösern, in denen sich laut Marx die latente unterschwellige Konfliktstruktur der modernen Gesellschaft in kollektiven Kämpfen manifestiert und dadurch die Möglichkeit revolutionären Wandels befördert (vgl. MEW 3: 34). 3.1 Situative Auslöser sozialer Konflikte Als erstes müssen sozioökonomische Krisen genannt werden, die laut Marx dazu beitragen, dass sich soziale Konflikte manifestieren und revolutionär zuspitzen können (vgl. MEGA² I/10: 123 ff.). Darunter versteht Marx – bspw. in seiner historiographischen Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich – eine Handelskrise, wie sie 1847 in England ausbrach und negative Effekte auf Frankreich nach sich zog. Eine dadurch hervorgerufene Depression in der Ökonomie und Armutsanstieg in der Bevölkerung sieht er als Auslöser für langanhaltende Konflikte in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts. (Vgl. ebd.: 122) Der Erklärungsansatz, dass latente Konflikte in ökonomischen Krisenzeiten offen zu Tage träten, befindet sich bereits im Manifest, wo Marx betont, dass die bürgerliche Ökonomie effizient, aber zu eng sei, um eine effiziente Gattungsreproduktion und Güterverteilung zu gewährleisten. (Vgl. MEW 4: 468 ff.) Diese Diskrepanz breche sich in Krisenzeiten stets als »Empörung« der Produktivkraft Arbeit gegenüber den Produktionsverhältnissen Bahn. Hier geht Marx sogar davon aus,

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dass wiederkehrende Überproduktionskrisen des Kapitals den latenten Konflikt zwischen Proletariat und Bourgeoisie immer deutlicher zu Tage treten ließen und so langfristig eine revolutionäre Situation beförderten. (Vgl. ebd.: 467) Neben sozioökonomischen Krisen deutet Marx Transformationen in den Produktionsverhältnissen als Auslöser für das Manifestwerden des latenten gesellschaftlichen Grundkonflikts zwischen Kapital und Arbeit. In Auseinandersetzung mit dem »Kampf um die Schranken des Arbeitstags« im Kapital (MEGA² II/5: 181 ff.) zeigt er kleinteilig auf, wie die Transformation vom Manufakturzum industrialisierten Fabrikwesen die Arbeiterinnen und Arbeiter in langanhaltende Kämpfe um materielle Existenzgrundlagen sowie Normen und Formen ihrer Arbeit zwang. Er schildert Versammlungen, Streiks, Sabotage und Gesetzesforderungen als Manifestationsformen des Konflikts. (Vgl. ebd.: 193; 219) Anhand vieler Fallbeispiele und amtlicher Urkunden erläutert Marx das autoritäre Streben der Fabrikbesitzer danach, ihre Maschinen ununterbrochen laufen und Lohnabhängige daran schuften zu lassen. (Vgl. ebd.: 188 ff.) Er schildert ihre Herabwürdigung zu regelrechten Arbeitssklaven, die weder vom Lohn hätten leben können, noch Zeit für ihr Privatleben hätten. (Vgl. ebd.: 207 ff.) Auch schildert er unwürdige Lebens- und Arbeitsbedingungen der englischen Industriearbeiter/-innen, die im Takt der Maschinen funktionieren und günstig Arbeit verrichten mussten. (Vgl. ebd.: 346 f.) In Anbetracht unerträglicher Arbeitszeiten, Arbeitsabläufe, des Lärms, der ungesunden Arbeitssituationen in den Fabriken und aufgrund mangelnder Hygiene in Industriequartieren formierte sich demzufolge laut Marx die englische Arbeiterbewegung in dieser Phase der Etablierung des industrialisierten Fabrikwesens. (Vgl. ebd.: 212 f.) Dabei schildert er – u.a. auch im späteren Kapitel »Maschinerie und große Industrie«, wo er an die Analyse des Arbeitstags anknüpft (vgl. ebd.: 335) – zunächst den Kampf gegen die Maschinen geführt von dem Milieu der Handwerker, die die Abwertung ihrer Tätigkeiten und das Nutzloswerden ihres Standes befürchteten (vgl. ebd.: 351 f.). Diese Konfliktform beurteilt er aber als unreifen Anpassungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit bzw. als »rohe Form der Arbeiterempörung gegen die Maschinerie« (ebd.: 352). Hingegen als reifen Konflikt präsentiert er die Kämpfe des sich organisierenden englischen Industrieproletariats (vgl. ebd.: 238) für die Durchsetzung des gesetzlichen Normalarbeitstags, für die Abschaffung der Kinderarbeit (vgl. ebd.: 241), für die Regelung von Frei-und Überstunden sowie von Pausenzeiten (vgl. ebd.: 335 f.). Neben diesen ökonomischen Dynamiken verweist Marx auf politische Situationen, die als Auslöser für das Manifestwerden latenter Konflikte gelten können. In der Schrift Klassenkämpfe in Frankreich zeigt er auf, wie Rückschritte in der gesetzlichen Regelung des Arbeitstages, im Steuer- und Wahlrecht zu breiten

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Protestkoalitionen gegen die Regierung führten. (Vgl. MEGA² I/10: 136 ff.) Besonders interessant ist der geschilderte Kampf der Kleinbürger, gemeinsam mit dem sich herausbildenden Proletariat, gegen eine von royalen und bürgerlichen Akteuren forcierte Aufhebung der rechtsstaatlichen Errungenschaften der Februarrevolution 1848. Marx skizziert den Kampf um die Staatsmacht, einen Kampf zwischen bürgerlicher und sozialer Republik. (Vgl. ebd.: 136 ff.) Konfliktgegenstände waren das allgemeine Wahlrecht und Arbeitsrecht in den Arbeitshäusern. Er zeigt, wie sich dieser Konflikt auf diversen Ebenen manifestierte. Marx schildert konfrontative Wahlkämpfe, militante Demonstrationen und Streiks in Frankreich jener Zeit. Den Aufstand im Juni 1848 deutet er sogar als »erste große Schlacht« zwischen Kapital und Arbeit (ebd.: 137). Zudem präsentiert Marx das Problem der finanziellen Überschuldung weiter Teile der Bevölkerung und des Staates als gesellschaftlichen Auslöser sozialer Konflikte. Als erkenntnisreich kann seine Deutung der Orleansmonarchie in Frankreich seit 1830 – ebenfalls in Die Klassenkämpfe in Frankreich – herangezogen werden. Er schildert ein großes Defizit des Staates, welcher nur durch Kredite privater Gläubiger Aufgaben erledigen konnte. Außerdem schildert er die übermäßige Privatverschuldung des Kleinbürgertums in Paris sowie massenhafte Hypothekenverschuldung französischer Bauern. (Vgl. ebd.: 38 f.) Angesichts dessen, dass zur gleichen Zeit die Staatsinstitutionen durch Akteure der Finanzwirtschaft besetzt gewesen waren, kommt er zum zugespitzten Urteil, dass diese Monarchie eine »Aktienkompanie zur Exploitation des französischen Nationalreichtums« gewesen ist (ebd.: 121). Die Februarrevolution 1848 deutet Marx sogar als Ausdruck der Rebellion gegen die »Bankokratie« (ebd.: 131). Es ist interessant, dass er das Problem der öffentlichen und privaten Überschuldung als Quelle sozialer Konflikte begreift. Beachtenswert ist, dass er auf ambivalente Formen dieser Konflikte hinweist. So stellt er dabei fest, dass potenziell revoltierende Klassen befriedet und instrumentalisiert wurden, indem sie durch das Prinzip »Pumpen und Schenken« in Herrschaftsordnungen involviert würden (MEGA² I/11, 136). Am Beispiel Napoleon III. zeigt er auf, dass schuldenfinanzierte Belustigung und Bezahlung subalterner Klassen die Basis eines Herrschaftsmodells sein konnte, das sich antielitär inszenierte. (Vgl. ebd.: 137 ff.) Zudem diskutiert Marx in seinem Gesamtwerk wiederholt die tragischen Initiativen oppositioneller Politiker, die im Kontext sozialer Konflikte zur sozialen Lösung des Problems der Staatsschulden in Regierungsämter gehievt wurden, jedoch stets scheiterten. (Vgl. MEGA² I/13: 476 ff.) Was kann aus Marxʼ historischen Konfliktanalysen, in denen er diverse situative Auslöser für soziale Konflikte schildert, geschlussfolgert werden? Meiner Interpretation zufolge gibt er Auskunft darüber, unter welchen »passiven« Be-

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dingungen (MEGA² I/2: 178) bzw. gesellschaftlichen Krisenphänomenen Konfliktpraxis entstehe und inwiefern dabei mit revolutionärem Wandel gerechnet werden könne. Dabei zeigt er auf, dass es stets konkreter Konfliktgegenstände bzw. »politischer Bankettfragen« bedürfe (MEGA² I/10: 195 ff.), so dass sich die latente gesellschaftliche Konfliktstruktur bzw. das »rebellische Verhältnis« der Arbeit zum Kapital (MEGA² II/4.1: 65) in kollektiven Kämpfen manifestiere. Er macht deutlich, dass sich diese politischen Kämpfe der Arbeiterbewegung nur in Verbindung mit ökonomischen Krisen und reifen Klassenverhältnissen revolutionär entfalteten. Im Anschluss an Marxʼ Reflexionen im 18. Brumaire bringt Engels diese Position zugespitzt auf den Punkt, wenn er sagt, dass sich mit einer vollbeschäftigten und gut bezahlten Arbeiterklasse keine Revolution machen lasse. (Vgl. MEGA² I/11, 205 ff.) Offenbar bedarf es stets konkreter Anlässe sowie existenziellen Handlungsdrucks. Zudem verweist die Diversität der Manifestationsformen des Konflikts zwischen sozialen Klassen in Marxʼ Werk – in Form von Meetings, Streiks, strategischen Bündnissen, Sabotage, Demonstrationen, Wahlkämpfen und Gesetzforderungen etc. – auf eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten und Konfliktpraktiken für umfassenden gesellschaftlichen Wandel. Dies entschärft die Perspektive auf Marx als einen Theoretiker des »mehr oder minder versteckten Bürgerkriegs« (MEGA² II/5: 238). Im Kontext seiner hier grob skizzierten Konfliktanalysen erscheint er vielmehr als Theoretiker eines historisch kontextualisierten und strategisch angemessenen Klassenkampfs, der darauf aus ist, bereits innerhalb existierender Institutionen radikalen Wandel zu erzielen (vgl. MEW 18, 160). 3.2 Motivationen für soziale Konflikte Im Anschluss an diese Erläuterungen situativer Auslöser sozialer Konflikte in Marxʼ Werk wird der nächste Themenaspekt seiner konflikttheoretischen Analysen sichtbar: Konfliktmotivationen. Implizit präsentiert er Sozialkürzungen, Armut, Überschuldung und gravierende Einschnitte in Lebens- und Arbeitsverhältnisse als motivationale Quellen sozialer Konflikte. Er schildert diese Aspekte als derart brisant, dass Betroffene gegen diese aufbegehrten. Darüber hinaus – und dies scheint mir der wichtigste Aspekt – rekonstruiert er eine historische Entwicklungstendenz im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, in dessen Verlauf sich die Gegenstände, Formen und Motive transformieren. Frühere Klassenkämpfe schildert er als lebensnotwendige Reaktionsformen ausgebeuteter Subjekte. Er schildert ihre Empörung darüber, dass sie sich aufgrund von Gütermangel nicht materiell reproduzieren konnten. So spricht er in Die Klassenkämpfe in Frankreich u.a. davon, dass sie die Wahl hatten, zu »ver-

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hungern oder los[zu]schlagen« (MEGA² I/10: 137). Das bedeutet, Marx führt die früheren Konfliktmotivationen ausgebeuteter Subjekte auf das natürliche Bedürfnis nach körperlicher Reproduktion und einen Willen zur Selbsterhaltung zurück. Zugleich deutet er diese als unreife Motivationsquellen. Einzig die Effekte derartig motivierter sozialer Konflikte bewertet er als interessant. Seines Erachtens hätten die frühen Formen der Klassenkämpfe einen Bewusstseinswandel hin zu gruppenbezogener Betroffenheit, die Vereinigung von Subjekten als auch die Herausbildung ausdifferenzierter Klasseninteressen vorangetrieben. (Vgl. MEW 4: 471) Ausdifferenzierte Klasseninteressen – d.h. hier kollektiv erarbeitete, geteilte, politisch artikulierte Zwecksetzungen – präsentiert Marx hingegen als reife motivationale Quellen des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit und zugleich als Resultate ihrer Konfliktgeschichte. Dieses Element seines konflikttheoretischen Denkens wird z.B. in seiner Auseinandersetzung mit dem Kampf um die Länge des Arbeitstags sichtbar. Marx betont, dass sich Gesetzesforderungen der englischen Fabrikarbeiter nicht aus utopischen Überlegungen, sondern aus dem historischen Verlauf ihres Kampfes gegen die »Orgien« des Kapitals (MEGA² II/5: 219) in der Ökonomie entwickelten. (Vgl. ebd.: 335 ff.) In diesem Konfliktverlauf seien feudalistische Anhängsel überwunden, defizitäre Problemannahmen verworfen und Einsicht in gruppenbezogene Betroffenheit von industrieller Ausbeutung befördert worden. (Vgl. ebd.: 352) Zudem sei sich das Proletariat im historischen Verlauf ihres Kampfes bewusstgeworden, dass die soziale Einhegung der kapitalistischen Produktionsweise einzig durch das »übermächtige gesellschaftliche Hindernis« der Staatsgewalt durchgesetzt werden konnte (ebd.: 241). Jene Andeutungen wiederholen sich in späteren politisch-historischen Schriften. So beurteilt Marx die Pariser Kommune von 1871 als »endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (MEGA² I/22: 204 f.). Er resümiert, dass die Pariser mit der Kommune danach gestrebt hätten, »die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schooß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben« (ebd.: 206). Meiner Interpretation zufolge implizieren Marxʼ Äußerungen eine geschichtliche Entwicklungstendenz im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, eine Tendenz, in der sich Konfliktmotive der Arbeiter/-innen weg von individuell bedürftigen, vereinzelten Ansprüchen (vgl. MEGA² II/5: 238) hin zu kollektiv geteilten, aufgeklärten Eigeninteressen ausdifferenzieren. Während die erstgenannten einen partikular flüchtigen Charakter hätten und durch instrumentelle Befriedigungstaktiken leicht abklängen (vgl. MEGA² I/11, 136), hätten diese Interessen einen universellen (vgl. MEGA² I/2: 180 ff.) sowie stabilen Charakter.

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Marx schildert diese als kollektiv reflektierte Handlungsmotive, die sich aus strategischen Zielen (vgl. MEW 4: 181) hin zu institutionell besseren materiellen Bedingungen gruppenbezogener Reproduktion speisten. Diese Motive implizierten die Einsicht in spezifische Handlungsmöglichkeiten, geschichtliche Herausforderungen (vgl. MEGA² I/22: 206) und kollektiv herbeiführbare Lösungen. Sie hätten die Überwindung derjenigen Bedingungen zum Handlungsziel, die die Klasse als systemischen Grund ihrer Notlage identifiziert haben. Aufgeklärte Eigeninteressen begründeten sich demzufolge aus der kollektiven Überzeugung, dass einzig die gemeinsame kämpferische Überwindung der herrschenden Produktionsweise vor konjunkturellen Krisen schützen (vgl. MEGA² II/5: 352) und ein soziales Zusammenleben mit gerecht organisierter Produktion garantieren könne. Idealtypisch skizziert Marx dies bereits im Manifest: Er geht dort von einem Prozess zunehmender Organisierung, Professionalisierung, Bewusstwerdung und zielorientierter Einigung der Arbeiterinnen und Arbeiter im historischen Verlauf ihrer Kämpfe aus. In diesem Prozess werde sie sich von einer Klasse an sich zur Klasse für sich wandeln, die auf Basis gewachsener Einsichten in ihre Stellung in den Produktionsverhältnissen ihre Interessen forcieren könne. Auf dem Höhepunkt der motivationsverändernden Entwicklung sollen sie sich vereinigen und als kollektiven Fortschrittsakteur wahrnehmen, welcher auf Basis gewachsener Einsichten in institutionelle Bedingungen eines gerechten Zusammenlebens Wandel befördere. (Vgl. MEW 4: 470 ff.) Letztlich schildert er mit der geschichtlichen Entwicklungstendenz der Motive der Arbeiterinnen und Arbeiter den Reifungsprozess der aktiven Bedingungen revolutionären Wandels und der dafür notwendigen Konfliktpraxis sozialer Klassen. Im Modus sozialer Konflikte würden sich ihre Motive hin zu Interessen ausdifferenzieren und als universelle Menschheitsinteressen durchschaubar werden. (Vgl. MEGA² I/2: 181 f.) Marx rekonstruiert einen kumulativen Bildungsprozess im Verlauf der historischen Kämpfe. (Vgl. Meyer 1973: 205 ff.) Er versucht durch historische Konfliktanalysen aufzuzeigen, dass die Konflikte der Arbeiterbewegung den Reifungsprozess ihrer praktischen Handlungskompetenzen beförderten, wodurch die Klasse überhaupt erst als revolutionäres Handlungssubjekt konstituiert wird. Das heißt, Marx zufolge kann revolutionärer Wandel nicht unmittelbar erfolgen, sondern erst nach erfolgter politischer Organisation und einer im Konfliktmodus beförderten praktischen sowie theoretischen Reifung der kollektiven Konfliktakteure (vgl. ebd.: 236).

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3.3 Effekte sozialer Konflikte Abschließend widme ich mich den Konflikteffekten bei Marx. Dabei kann zunächst festgehalten werden, dass er die historischen Kämpfe der Arbeiter/-innenklasse unverkennbar als diejenige Instanz bewertet, die revolutionären Wandel befördert, weshalb er diese organisatorisch-strategisch begleitete (vgl. MEGA² I/20: 9 ff.). Nichtsdestotrotz wurde im Verlauf des Artikels erkennbar, dass Marx die Wirkungsmacht dieser Kämpfe nicht überbewertet. Vielmehr schildert er in seinen Schriften sozialen Wandel, der von kollektiven Konfliktakteuren getragen wird, ohne dass er den sozialen Wandel als von Akteuren umfänglich intendierte Prozesse darstellt. Marx schildert kämpferisch beförderte Transformationen und langfristige gesellschaftliche Transitionen, die sich hinter dem Rücken der Konfliktakteure (vgl. MEGA² II/5: 25) abspielen. Er fokussiert sich auf unintendierte Konflikteffekte. Dieses außergewöhnliche Element seines konflikttheoretischen Denkens werde ich im weiteren Verlauf anhand von vier Beispielen verdeutlichen. 1) Marx schildert in seiner Schrift Die Klassenkämpfe in Frankreich den historischen Verlauf des Sieges der Ordnungspartei gegen Aufstände subalterner Klassen. Er zeigt, wie diese Partei – getragen von Orleanisten und Legitimisten – die Staatsmacht erlangte und eine Exekutivdiktatur etablierte, und schildert, wie unter ihrer Herrschaft die sozialen und Freiheitsrechte beschnitten sowie rechtsstaatliche Errungenschaften und Mitbestimmungsrechte rückgängig gemacht wurden und Privilegien der Grundeigentümer und Aristokraten reetabliert wurden. Er beschreibt die Partei als die Verfechterin der Restauration. (Vgl. MEGA² I/10: 125) Zugleich deutet er ihre Flucht in die postfeudale Monarchie als die für diese Zeit einzig mögliche Herrschaftsform, da weder das hinter den Orleanisten stehende »Finanzkapital«, noch das hinter den Legitimisten stehende »Grundkapital« hätte herrschen können. (Vgl. ebd.: 163) Marx zeigt auf, dass diese royalistischen Restaurateure gegen ihren Willen »bürgerliche Republikaner« gewesen seien. Im Rahmen ihrer Herrschaft hätten sie die Eigentumsordnung stabilisiert, Vermögenskonzentration forciert und im Kampf gegen die »rote Gefahr« die Zentralisierung der republikanischen Staatsgewalt befördert. Er resümiert, dass sie nicht die feudale Ordnung reetabliert, sondern die Entfaltung der bürgerlichen Ordnung vorangetrieben hätten. (Vgl. ebd.: 142 f.) 2) Dass sich Akteure, die im Verlauf eines Konfliktgeschehens hegemonial werden, über die Effekte ihrer Konfliktpraktiken täuschen, tritt ebenfalls in Marxʼ Auseinandersetzung mit dem 18. Brumaire hervor. Er schildert ein Massenspektakel multipler Kämpfe zwischen diversen Gruppen, in dessen Verlauf sich Louis Bonaparte als »patriarchaler Wohltäter aller Klassen« (MEGA² I/11:

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187) inszenierte und zur Macht putschte (vgl. ebd.: 105). Marx schildert, wie dieser ein autoritäres Regime etablierte, auf dessen Höhepunkt er zum Kaiser gekrönt wurde. Als Napoleon III. konstituierte er royalistische Ministerien, bündelte die Exekutivgewalt in seinen Händen und stärkte die Macht des sog. Finanzkapitals. (Vgl. ebd.: 153 f.) Trotz all dieser zielgerichteten Restriktionen macht Marx in seinen Studien in erster Linie auf die unintendierten Effekte durch Napoleon III. aufmerksam und resümiert, dass der Bonapartismus notwendig gewesen sei, »um die Masse der französischen Nation von der Wucht der Tradition zu befreien und den Gegensatz der Staatsgewalt zur Gesellschaft rein herauszuarbeiten« (ebd.: 187). Anhand dieser zwei historischen Konfliktanalysen (Beispiel 1 und 2) tritt folgendes Element seines konflikttheoretischen Denkens hervor: Er schildert Epochenübergange (weg von feudaler Produktion hin zur kapitalistischen Ökonomie; weg von Ständen hin zu republikanischen Institutionen), die sich im Modus sozialer Konflikte vollziehen (vgl. MEGA² I/10: 127) – Übergänge, die sowohl von der Ordnungspartei als auch vom Bonapartismus getragen wurden, obwohl diese Akteure restaurative Ziele intendierten. Marx rekonstruiert unintendierte Konflikteffekte. Dieses Element seines Denkens tritt besonders stark zu Tage, wenn er die These vertritt, dass diese Akteure »die historische Aufgabe ihrer Zeit, die Entstehung und Entfaltung der modernen bürgerlichen Gesellschaft« vollbracht hätten (MEGA² I/11: 97). 3) Von diesem Punkt aus wird erkennbar, weshalb Marx auch die Niederlagen der Arbeiterbewegung nie enttäuscht schildert, sondern anhand dieser versucht, bedeutenden unintendierten Wandel aufzudecken. Ich komme zum dritten Beispiel: In Marxʼ Schlusssätzen seiner historisch-politischen Studien tritt fortwährend eine erstaunliche Perspektive hervor. Obwohl die von ihm analysierten proletarischen Kämpfe scheiterten, zieht er stets einen Schluss, der exemplarisch u.a. in seiner Analyse des Mailänder Aufstands zu Tage tritt, wo er zugespitzt sagt, dass die Revolution selbst dann siegt, wenn sie fehlschlägt (vgl. MEW 8: 528). Was bloß als Stilmittel und Durchhalteparole erscheint, ist ein wichtiges Element seines konflikttheoretischen Denkens. Marx geht davon aus, dass das Scheitern proletarischer Kämpfe positiven Wandel befördert, da er diesem Scheitern einen Lerneffekt zuordnet (vgl. Meyer 1973: 205 ff.). Er misst soziale Konflikte nicht an den artikulierten Primärzielen, sondern an den unintendierten Sekundäreffekten. Er kann gescheiterte Kämpfe positiv bewerten, da er aufzeigt, dass Akteure im Modus des Scheiterns auf Defizite und Probleme ihrer Kämpfe aufmerksam wurden, d.h., ihren Niederlagen kann ein pädagogischer Effekt zugeschrieben werden. Anhand zahlreicher historischer Beispiele zeigt er auf, dass die Arbeiterbewegung nach Niederlagen genötigt war, vorrevolutionäre Organi-

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sationsformen abzuschütteln, zeitgemäße Ziele zu formulieren und adäquateres Klassenbewusstsein auszuprägen (vgl. MEGA² I/11: 101 ff.; MEGA² II/5: 352). Dies wird auch am Ende seiner Studie zur Pariser Kommune sichtbar. Ihre Niederschlagung durch das deutsche und französische Militär beurteilt Marx nicht als Ausdruck der endgültigen Unterdrückung des Proletariats, sondern als den Niedergang der nationalen Bourgeoisien. Die Niederschlagung der Kommune habe den internationalen Charakter der Klassenherrschaft verdeutlicht. Marx resümiert: »die französischen Arbeiter bilden nur die Vorhut des ganzen modernen Proletariats.« (MEGA² I/22: 222) So wird auch hier sichtbar: Marx deutet Niederlagen des Proletariats aus historischer Rückschau als unvermeidbar. Sie bedürften der Reife des Klassenbewusstseins und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zugleich macht er deutlich, dass beide Reifungsprozesse im Modus der historischen Konflikte der Arbeiterbewegung vollzogen würden. (Vgl. MEGA² I/10: 577 ff.) 4) Als letztes Beispiel werde ich Marxʼ Analyse des Kampfes um den Normalarbeitstag im Kapital heranziehen: Marx schildert jahrzehntelange soziale Konflikte (vgl. MEGA² II/5: 181 ff.), in denen zunächst nur Teilerfolge erzielt wurden. Er erläutert die Einschränkung der Kinderarbeit, der Wochenarbeitszeit und Arbeitszeit für Frauen. Erst nach einem halben Jahrhundert sozialer Konflikte seien fabrikinterne Regelungen durch die allgemeine Begrenzung des Arbeitstags auf 10 Stunden erweitert worden, zuerst in Frankreich 1847/48 und später in England 1850. (Vgl. ebd.: 241) Erstaunlicherweise fokussiert sich Marx nicht auf das Zelebrieren dieses Erfolgs. Er zeigt, dass die gesetzliche Regulierung des Arbeitstags, erkämpft durch die Arbeiterbewegung, Reaktionen der englischen Bourgeoisie erzwang. Aufgrund ihres Konkurrenzdrucks zu anderen Produzenten reagierte diese auf die Arbeitszeitverkürzung mit Lohnsenkungen, öffentlichen Petitionen und politischer Agitation. Vor allem schildert Marx, dass sie mit Steigerung der Produktivität reagierte. (Vgl. ebd.: 335) Die Bourgeoisie erhöhte den Einsatz von Maschinen, beschleunigte Arbeitsabläufe und erhöhte das Aufgabenpensum, so dass in kürzerer Zeit mehr produziert werden konnte. Nicht zuletzt zwang sie die Lohnarbeiter/-innen, in kürzerer Zeit schneller zu arbeiten. So zeigt Marx auf, dass die Regulierung des Arbeitstags, Mechanisierung und Effizienzsteigerung beförderte. (Vgl. ebd.: 343) Mit diesem ökonomischen Effekt kommt die von ihm umschriebene Konfliktdynamik zwischen Kapital und Arbeit im Kampf um die Länge des Arbeitstags aber noch nicht zum Ende. Marx zeigt vielmehr auf, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter auf die Beschleunigung ihrer Arbeit wieder mit Kämpfen zur Verkürzung des Arbeitstags (mit Tendenz zum Achtstundentag) reagierten, worauf die Fabrikbesitzer wiederum mit Mechanisierungen und Effizienzsteigerungen im Produktionsablauf reagierten.

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Letztlich schildert Marx eine Entwicklungstendenz hin zur Verkürzung des Arbeitstags, getrieben durch permanente Produktivkraftsteigerungen. (Vgl. ebd.: 353) Er präsentiert eine unintendierte Entwicklungstendenz in der Ökonomie, befördert durch den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Während die arbeitende Klasse versucht, die Normen und Formen der gesellschaftlichen Arbeit erträglich umzugestalten und sichere Reproduktionschancen zu erkämpfen, versucht die vermögende Klasse, unabhängiger von menschlicher Arbeitskraft zu werden, indem sie sich, getrieben von Marktkonkurrenz und dem Erpressungspotenzial der Arbeiter/-innen, in einen maßlosen Prozess der Effizienzsteigerung und Mechanisierung begibt. (Vgl. ebd.: 207) Im Kampf um den Normalarbeitstag schildert Marx die Kämpfe des Proletariats als Folge und Ursache der permanenten Produktivkraftentfaltung. Ihre kämpferisch durchgesetzte Regulierung der Arbeitswelt hätte jene Entfaltung in Form eines unintendierten Sekundäreffekts vorangetrieben. So kann der Konflikteffekt expliziert werden, dass sich die Produktivkraftentfaltung bei Marx im Modus sozialer Aushandlungskonflikte eigendynamisch vollzieht. (Vgl. ebd.: 335 ff.) Trotz der Tatsache, dass Marx in seinen hier skizzierten konflikttheoretischen Analysen vor allem unintendierte Effekte hervorhebt, besteht kein Zweifel, dass er intentionale Konfliktpraktiken forcieren will. Seine kritische Theorie zielt auf eine Verschärfung des latenten gesellschaftlichen Grundkonflikts. Bei aller Dringlichkeit der Kämpfe um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten zielt sie auf die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, forciert durch kollektive Konfliktpraktiken des Proletariats. Und dies setzt laut Marx Einsichten in die systemische Ungerechtigkeit dieser Verhältnisse und in die Möglichkeit ihrer Abschaffung voraus. Als intellektuelles Organ der Arbeiterbewegung versucht er diese Einsichten in ihren Organisationen zu implementieren. Mittels seiner historischen Analysen sowie seiner ökonomischen Arbeitswerttheorie (vgl. MEGA² II/5: 432) will er daher stets auch dazu beitragen, dass die Bewegung die Wirksamkeit ihrer alltäglichen Kämpfe nicht überschätzt. Er zeigt auf, dass neben den negativen Wirkungen die Ursachen der als ungerecht angesehenen Verhältnisse bekämpft werden müssen, um die Befreiung der Arbeiter/-innenklasse zu erringen. Seine Zielstellung ist klar: die wiederkehrenden Abwehrkämpfe gegen die Zumutungen der systemischen Ausbeutung fremder Arbeitskraft haben ihre Grenzen. Die revolutionäre Losung müsse lauten: »Nieder mit dem Lohnsystem!« (MEW 16: 152).

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4. S CHLUSSFOLGERUNGEN Was kann aus den hier rekonstruierten Elementen konflikttheoretischen Denkens bei Marx im Hinblick darauf geschlussfolgert werden, dass er seine empirisch informierte, kritische Gesellschaftstheorie in den frühen Schriften als »Organ« einer Bewegung konzipiert? Ohne in Anspruch zu nehmen, diese Frage abschließend beantworten zu können – u.a. aufgrund diverser Brüche im Entstehungsprozess von Marxʼ Früh-, politisch-historischen sowie ökonomischen Spätschriften –, traten folgende Aspekte im Rahmen meines Artikels als bedeutsam hervor: Es wurde deutlich, dass sich Marx den vielfältigen sozialen Konflikten der bürgerlichen Moderne aus der geschichtlichen Rückschau widmet. Er analysiert Geschichtliches. Seine Konfliktanalysen vollzieht er auf die doppeldeutige Weise, die eingangs im Begriff der Bewegung sichtbar wurde. Er analysiert einerseits die historisch-spezifischen, gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen von Konflikten, andererseits ihre Effekte auf die Gesellschaft. Er schildert, wie die Konfliktpraktiken der Arbeiter/-innenklasse befördert wurden und zudem, wie diese die Gesellschaft kämpferisch »modifizierten« bzw. »bewegten« (MEW 4: 126). In überaus kleinteiligen geschichtlichen Analysen konzentriert Marx sich aber nicht etwa darauf, ob die öffentlich-artikulierten Primärziele der Konfliktakteure umgesetzt wurden, sondern auf die unintendierten Sekundäreffekte kollektiver Konfliktpraktiken. Insbesondere anhand der Erläuterungen zu den von Marx geschilderten Klasseninteressen und Konflikteffekten wurde dies exemplarisch sichtbar. Er zeigt in seinen politisch-historischen Schriften auf, dass sich im Modus historischer Konflikte des Proletariats die Motive, Ziele, Problemanalysen, Organisationsformen kollektiver Akteure und die Verhältnisse in der bürgerlichen Moderne wandelten bzw. entfalteten. Implizit macht Marx deutlich – und dies ist ein besonderes Element seines konflikttheoretischen Denkens –, dass diese unintendierten Handlungseffekte vergangener Konflikte als historische Bewegung hin zur Reifung derjenigen Bedingungen begriffen werde können, die er bereits in seinen Frühschriften als aktive und passive Momente der Revolution beschreibt (vgl. MEW 1: 386). Diese, durch soziale Konflikte angestoßene, Bewegungsdynamik in der Geschichte der bürgerlichen Moderne müsse durch kritische Intellektuelle und deren Gesellschaftstheorie offenbar begrifflich eingeholt werden bzw. wie Marx im Eingangszitat des Artikels formuliert: Sie müssen »sich Rechenschaft [ablegen] von dem, was sich vor ihrem Auge abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen« (MEW 4: 143). Das bedeutet, die Aufgabe kritischer Intellektueller besteht laut Marx darin, sich zur parteinehmenden und parteibildenden Instanz des zentralen Konfliktakteurs der

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Gesellschaft zu machen, d.h. zu einem lebenswichtigen Teil des politischen Organismus der Arbeiterbewegung. Als eine Reflexionsinstanz sozialer Konflikte sollen sie diese Bewegung über ihre gesellschaftliche Positionierung, ihr Gewordensein, ihre vergangenen Kämpfe, Transformationstendenzen, Kräfteverhältnisse, strategischen Bündnisoptionen, Chancen für Veränderung sowie über Risiken ihrer Konfliktpraktiken aufklären. (Vgl. ebd.: 471 ff.) Kritische Intellektuelle sollen Einsichten über vergangene Kämpfe dieser Bewegung zur Verfügung stellen, um Chancen für radikale Transformation bzw. revolutionären Wandel in zukünftigen Kämpfen zu erhöhen. »Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewusstes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden«, so Marx (ebd.: 143). Nur unter der Voraussetzung dieser intellektuellen Unterstützung scheint Marx davon auszugehen, dass sich die Arbeiterbewegung in ihren Konflikten und ihrem alltäglichen politischen »Handgemenge« (MEGA² I/2: 173) gegen andere Akteure durchsetzen und so hegemonial werden kann. Marxʼ Selbstverständnis kritischer Gesellschaftstheorie kann daher insofern als »Organ« einer Bewegung verstanden werden, als sich diese Theorie in außertheoretischen, kämpferischen Praktiken empirisch verankert sieht und zugleich ihre intellektuelle Theoriearbeit als Bedingung für den Erfolg dieser Praktiken begreift. Letztlich begründet er somit eine Form immanenter Kritik der Gesellschaft, die sich der empirisch informierten Diagnose der sozialen Verhältnisse widmet und ihre Maßstäbe in den emanzipatorischen Praktiken von Konfliktakteurinnen und -akteuren findet.

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Honneth, Axel (2000): Das Andere der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max (1937): »Traditionelle und Kritische Theorie«, in: Alfred Schmidt (Hg.), Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 162-216. Marx, Karl (MEGA² I/2): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. 1/2, Berlin: Dietz, 1982, S. 170-183. Marx, Karl (MEGA² I/10): »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/10, Berlin: Dietz 1977, S. 119-196. Marx, Karl (MEGA² I/10): »Protokoll der Sitzung der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten vom 15. September 1850«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/10, Berlin: Dietz 1977, S. 577-580. Marx, Karl (MEGA² I/11): »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/11, Berlin: Dietz 1985, S. 96-189. Marx, Karl (MEGA² I/13): »The Reaction in Spain«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/13, Berlin: Dietz 1985, S. 476-481. Marx, Karl (MEGA² I/20): »Manifest an die arbeitende Klasse Europas, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. 1/20, Berlin: Dietz 1992, S. 16-25. Marx, Karl (MEGA² I/22): »Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation an alle Mitglieder in Europa und den Vereinigten Staaten. Übersetzung aus dem Englischen von Friedrich Engels«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/22, Berlin: Dietz 1978, S. 179-226. Marx, Karl (MEGA² I/25): »Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei [Kritik des Gothaer Programms]«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/25, Berlin: Dietz 1985, S. 9-25. Marx, Karl (MEGA² II/5): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/5, Berlin: Dietz 1983. Marx, Karl (MEGA² IV/3): »ad Feuerbach«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. IV/3, Berlin: Akademie Verlag 1998, S. 19-21. Marx, Karl (MEW 4): »Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ›Philosophie des Elends‹«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1972, S. 63-182. Marx, Karl (MEW 4): »Der ›Débat social‹ vom 6. Februar über die Association démocratique«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1972, S. 511513.

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Marx, Karl (MEW 8): »Das Attentat auf Franz Joseph, Der Mailänder Aufstand, Britische Politik, Disraelis Rede, Napoleons Testament«, in: Marx-EngelsWerke, Bd. 8, Berlin: Dietz 1960, S. 526-534. Marx, Karl (MEW 16): »Lohn, Preis und Profit«. Marx-Engels-Werke, Bd. 16, Berlin: Dietz 1962, S. 101-152. Marx, Karl (MEW 18): »Rede über den Haager Kongreß«, in: Marx-EngelsWerke, Bd. 18, Berlin: Dietz 1962, S. 159-161. Marx, Karl/ Engels, Friedrich (MEW 2): »Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten«, in: Marx-EngelsWerke, Bd. 2, Berlin: Dietz 1970, S. 3-223. Marx, Karl/ Engels, Friedrich (MEW 3): »Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten« in: Marx-Engels-Werke, Bd. 3, Berlin: Dietz 1969, S. 9-513. Marx, Karl/ Engels, Friedrich (MEW 4): »Das Manifest der kommunistischen Partei«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin: Dietz 1972, S. 461-493. Meyer, Thomas (1973): Der Zwiespalt in der Marxʼschen Emanzipationstheorie, Kronberg: Scriptor.

Bonapartismus und Krise

Ruhe nach dem Sturm Louis-Napoléon als zu korrigierender Fehler der Geschichte A NNA -S OPHIE S CHÖNFELDER

Die ungefähr 500 Artikel, die Marx und Engels zwischen 1852 und 1861 für die New York Tribune (NYT) sowie einige deutsch- und englischsprachige Arbeiterzeitungen verfassen, behandeln diverse Themen der europäischen Politik und Wirtschaft. Was sie von Regierungsgeschäften, Aufständen, Handelsbilanzen, Kriegen, Krisen und politischen Debatten berichten, wird von der New Yorker Redaktion wegen des pointierten und hintergründigen Stils geschätzt – sofern es dem politischen Profil der Zeitung nicht zuwiderläuft und daher dem Druck vorenthalten bleibt. In diesen Texten dienen ausgewählte Fakten und historische Erklärungen mehr der Untermauerung eigener Ansichten und Prognosen als der systematischen Ausarbeitung einer Theorie. Marx reagiert kurzfristig auf ein je aktuelles Geschehen, um der »sogenannten ›Public Opinion‹« (MEGA² III/9e: 370) eine kommunistische Perspektive hinzuzufügen. Gerade deshalb werden die Artikel oft hastig, mitten im unabgeschlossenen Verlauf von Ereignissen zusammengestellt. Ihr mitunter vorläufiger Charakter liegt aber auch daran, dass die für die Berichterstattung erforderlichen Informationen Marx erst nach und nach erreichen; zudem muss er unter Zeitdruck schreiben (oder an Engels delegieren), um genügend Artikel für ein auskömmliches Honorar zustande zu bringen. Kann es sein, dass unter solchen Bedingungen die argumentative Stringenz oft zugunsten möglichst aktueller Kommentare vernachlässigt werden musste? Tatsächlich finden sich in Marxʼ Journalismus der 1850er Jahre einige Stellungnahmen, die auf den ersten Blick alles andere als stringent wirken. So müsste sich angesichts seiner Verachtung für Russland eine spöttische Darstellung desjenigen Bündnisses verbieten, das 1854 an der Seite des Osmanischen Reiches im Krieg gegen Russland steht. Marx tönt jedoch in der Tribune, die Heere der westlichen Allianz würden sich bloß im Nichtstun und im gegenseitigen Verzehr ihrer Vorräte unterstützen (vgl. MEGA² I/13c: 372). Auch tut derselbe

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Marx, der sonst die Entwicklung von Industrie und Dampfkraft begrüßt, ausgerechnet die Förderung des Eisenbahnbaus in Frankreich mit den Worten Charles Fouriers als »industriellen Feudalismus« zum Zweck von Spekulationsgewinnen ab (MEW 12b: 34). Obendrein plädieren Marx und Engels 1859 dafür, Preußen müsse Österreich im Sardinischen Krieg beispringen, obwohl diese beiden Mächte noch bis vor kurzem der monarchistischen ›Heiligen Allianz‹ angehört hatten und Österreich gerade im Begriff ist, die von europäischen Demokraten begrüßte italienische Nationalbewegung zu unterdrücken. Manch überraschendes Manöver oder sachliche Fehleinschätzung in Marxʼ und Engelsʼ Artikeln mag eine Konzession an die Erfordernisse prompter Berichterstattung sein. Den genannten Beispielen jedoch wird man mit einer solchen Erklärung nicht gerecht. Sie würde ignorieren, vor welche Probleme die Absicht, die Gegenstände ihrer Zeitungsbeiträge stets ins Verhältnis zu einer künftigen Revolution zu setzen, die beiden Autoren führt. Nähert man sich ihren journalistischen Texten unter diesem Gesichtspunkt, ist zu erkennen, dass sie immer aufs Neue davon handeln, ob und inwiefern die je aktuelle internationale Konstellation von Akteuren und Entwicklungen zu größeren gesellschaftlichen Umbrüchen führen kann. Nicht für jedes politische oder ökonomische Ereignis haben Marx und Engels eine endgültige Einschätzung parat, denn einige Ziele der Akteure bleiben schwer durchschaubar, und die Folgen des beobachteten Geschehens sind kaum abzusehen. Immer jedoch ist ihnen daran gelegen, zu Beurteilungen zu gelangen, die die Perspektive der ›kommunistischen Partei‹ zum Ausdruck bringen. Vor axiomatischen Aussagen schrecken sie bei diesem Unterfangen nicht zurück. So tauchen in ihren Artikeln der 1850er Jahre noch oftmals Elemente aus dem Manifest der Kommunistischen Partei auf, etwa die Forderung nach der Überwindung ständisch-religiöser Sozialordnungen und das Begrüßen von Fortschritten in Produktivkraft und Welthandel. Diese Maximen helfen allerdings nur selten bei der Einschätzung politischer Akteure. Nachdem Marx und Engels 1848-1851 schmerzlich hatten erfahren müssen, dass ›Kleinbürger‹, ›Bourgeoisie‹ und andere nicht-proletarische Klassen keineswegs der Rolle als Wegbereiterinnen für eine proletarische Revolution nachkommen, die das Manifest für sie vorgesehen hatte, stellt sich die Frage nach klaren Kriterien für Bündnisse wie für Feinderklärungen neu. In einer Lage, die nicht nur durch die uneindeutigen Interessenlagen der gesellschaftlichen Machtgruppen unübersichtlicher geworden ist, sondern auch durch Marxʼ und Engelsʼ erweiterten Blickwinkel, der nun immer mehr über die westeuropäischen Länder hinaus reicht, versuchen sie weiterhin, den »idealsoziologisch« entworfenen Instanzen des Klassenkampfs

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»realsoziologische«1 Akteure zuzuordnen. Dabei halten sie sich zurück, bestimmte Parteien oder Gruppen eindeutig zu Bündnispartnern zu erklären. Umso leichter fällt es ihnen dagegen, auf der internationalen Bühne die größten Gegner zu identifizieren. Denn der französische Coup dʼÉtat von 1851 hat eine neue Frontstellung erzeugt: Die etwa vierjährigen Kämpfe um eine zweite Republik waren in eine bonapartistische Restauration des Kaiserreichs gemündet – ein Schock2, der weitaus mehr an Marxʼ und Engelsʼ Gewissheit einer letztlich revolutionären gesellschaftlichen Entwicklung nagt als die Fortexistenz von Monarchien in anderen Ländern, die ohnehin noch keiner politischen Emanzipation verdächtig geworden sind. Seither sind die beiden intensiv damit beschäftigt, Louis-Napoléon zu bekämpfen, dessen Kaisertum die autoritäre Lösung des Klassenkonflikts in Frankreich lieferte und die gesellschaftliche Herrschaft der Bourgeoisie verstetigen half. Sobald man berücksichtigt, welch hohen Rang Marxʼ Frontstellung gegen Louis-Napoléon – neben derjenigen gegen das russische Zarenreich – unter all seinen Kriterien für journalistische Urteile einnimmt, erweisen sich seine oben genannten, scheinbar widersprüchlichen Manöver im Fall des Krimkrieges, des Eisenbahnbaus und des Sardinischen Krieges als Ausdrücke derselben klaren Agenda. Denn Marx ergreift einfach jede Gelegenheit, den Kaiser öffentlich zu attackieren: Um dessen Selbstinszenierung als neuer Napoleon zu konterkarieren, gibt er ihn als schlechten Feldherren der Lächerlichkeit preis, der bloß seine innenpolitische Schwäche mit einem militärischen Abenteuer auf der Krim kaschieren wolle. Der Eisenbahnbau in Frankreich wiederum wird durch den Crédit Mobilier finanziert, ein öffentliches Kreditsystem, das Marx für eine Strategie Louis-Napoléons hält, um seinem Regime gegen politische Widerstände ›Zeit zu kaufen‹, da es öffentliche Arbeiten von seiner persönlichen Gunst abhängig mache und zugleich durch die Fixierung privaten Kapitals die Illusion einer Auflösung des Klassenverhältnisses erzeuge (vgl. MEW 12b: 20-36).

1

Mit diesen Begriffen behelfe ich mir in Anlehnung an eine Unterscheidung, die Ernst Nolte vorgeschlagen hat (vgl. Nolte 1974), bevor er sich der deutschen Öffentlichkeit als Holocaust-Relativierer empfahl.

2

Während die meisten Kommentare darin einig sind, dass Marx mit den sarkastischen und parodistischen Darstellungen im 18. Brumaire des Louis Bonaparte sein Entsetzen über den Erfolg des Usurpators verarbeitet, gelangt Peter Stadler zu der irritierenden Feststellung, dass »Marx den Untergang des bürgerlichen Parlamentarismus in Frankreich im Dezember 1851 mit Gleichmut, ja nicht ohne Schadenfreude hingenommen [hat] – drohte doch aus dem Gewaltstreich des neuen Cäsar eine Umwertung aller bürgerlichen Werte hervorzugehen.« (Stadler 1964: 124)

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Schließlich ist der französische Kaiser auch der Grund, warum sich Marx im Sardinischen Krieg für dessen Gegner Österreich ausspricht, denn als »imperialistische[r] Quasimodo« (MEW 13s: 453) habe er nicht die Befreiung der Italienerinnen und Italiener von der Habsburgermonarchie im Sinn, sondern vor allem territoriale Expansion. In dem Maße, wie Marx also bei jedem Thema, das auch nur entfernt mit Frankreich in Verbindung zu bringen ist, in Frontstellung zu Louis-Napoléon geht, erhält diese den Charakter eines wesentlichen ordnenden Prinzips für seine Einschätzungen. Ich werde illustrieren, wie sich in dieser Frontstellung Topoi der Kritik aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte fortsetzen (während andere in den Hintergrund treten), wobei Marx und Engels im Laufe ihrer langfristigen Beobachtung auch neue Charakterisierungen des Zweiten Kaiserreichs entwickeln. LouisNapoléon gilt ihnen noch immer als Symptom einer Gesellschaft, deren bürgerliche Klasse mit der Selbstentmachtung des 1848 erkämpften Parlaments ihre Unfähigkeit zur politischen Herrschaft unter Beweis gestellt hat. Darüber hinaus versuchen sie nun aber, ihr englisch- und deutschsprachiges Zeitungspublikum davon zu überzeugen, dass hinter der revolutionären Fassade des französischen Regimes nichts anderes als die Blockade jeglicher progressiven gesellschaftlichen Entwicklung steckt (1). In dem Maße, wie der Gegner Louis-Napoléon einen Orientierungspunkt für die Positionierung im Handgemenge darstellt, ja vielleicht sogar der Ausrufung eines Handgemenges dient in einem Jahrzehnt, in dem, wie Engels schreibt, »der europäische Kontinent in politischer Hinsicht wie mit einem Leichentuch bedeckt« (MEW 12k: 654) ist, offenbart die Fixierung auf ihn jedoch auch blinde Flecken und strategische Probleme in Marxʼ Denken. Exemplarisch für diese blinden Flecken fokussiere ich mich im Folgenden auf seine eingeschränkte Sicht auf eines der dynamischsten gesellschaftlichen Phänomene ihrer Zeit, nämlich die nationalen Unabhängigkeits- und Einigungsbewegungen in Italien, Deutschland und Ungarn. Besonders prägnant tritt seine (Nicht-)Einschätzung des Nationalismus in seinen Zeitungsartikeln über den Sardinischen Krieg hervor (2). Dieser ist auch der Anlass für Marxʼ und Engelsʼ letztlich ungelösten ›Partei‹-Konflikt mit Ferdinand Lassalle, der sie eindringlich an die Herausforderung erinnert, der sich ihre journalistische Praxis immer schon zu stellen hat. Es geht um nichts geringeres als die strategische Frage, wie man als kommunistischer Publizist überhaupt zu den je aktuellen internationalen Regierungsaktionen Stellung nehmen muss, will man auf die Entstehung eines revolutionären Bewusstseins einwirken (3).

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1. D EMASKIERUNG MIT DEN M ITTELN DES J OURNALISMUS In den Jahren nach dem Coup dʼÉtat gewinnen Marx und Engels aus der Feinderklärung gegen den französischen Kaiser oft Gewissheit darüber, welche Position es zu unübersichtlichen internationalen Ereignissen aus revolutionärer Perspektive einzunehmen gilt. 3 Dabei setzt sich in ihren Beiträgen für NYT, People’s Paper, Neue-Oder-Zeitung und Das Volk ein zentraler Topos der Kritik aus dem 18. Brumaire fort4: sie erinnern immer wieder daran, dass das Zweite Kaiserreich »niemals eine moralische Grundlage besaß außer der zeitweiligen Demoralisierung aller Klassen und aller Parteien.« (MEW 12e: 389) LouisNapoléon stellt sich ihnen als Symptom einer an revolutionären Epochen reichen, zur republikanischen Verfassung jedoch unreifen französischen Gesellschaft dar. Seine Chance war daraus erwachsen, dass die Revolution von 1848 ebenso wenig wie ihre Vorgängerinnen »ein Attentat auf die Ordnung« (MEW 5a: 135) war, sondern erneut die Herrschaft der bürgerlichen Klasse bestehen lassen hatte. Da »die Privatbourgeois nur fortfahren können, die andern Klassen zu exploitiren und sich ungetrübt des Eigenthums, der Familie, der Religion und der Ordnung zu erfreuen, unter der Bedingung, daß ihre Klasse neben den andern Klassen zu gleicher politischer Nichtigkeit verdammt werde« (MEGA² I/11: 136), opferten die politischen Repräsentanten der Bourgeoisie ihre Macht einem Regime, dem sie mehr als allen republikanischen Institutionen zutrauten, jedes

3

Selbst nach den Maßstäben des engen Gedankenaustauschs zwischen Marx und Engels stellt die Figur Louis-Napoléon eine Besonderheit dar. Sie wird zum gemeinsamen Motto in einem sich über zwei Jahrzehnte erstreckenden Dialog, den Engels direkt nach dem Coup dʼÉtat mit Schilderungen der Selbstinszenierung des Usurpators eröffnet. Auf Beobachtungen und Wortschöpfungen aus seinem Brief vom 3.12.1851 gehen einige prägnante Formulierungen in Marxʼ 18. Brumaire zurück (Ähnlichkeit des neuen Regimes mit dem »Prätorianerregiment der römischen Kaiserzeit«, Wiederholung eines Ereignisses »einmal als große Tragödie und das zweite Mal als lausige Farce«, und nicht zuletzt die titelgebende Anspielung »Travestie des 18. Brumaire«). Vgl. MEGA² III/4b. Zu den Differenzen zwischen Marx und Engels in puncto Louis-Napoléon vgl. Wippermann 1983: 58-60 und Kluchert 1985: 365 f.

4

Zu den wenigen Untersuchungen, die das Phänomen Louis-Napoléon auch in Marxʼ und Engelsʼ an den 18. Brumaire anschließenden, insbesondere journalistischen Schriften weiterverfolgen, zählen Rubel 1960, Wippermann 1983, Rüdiger 2010 und in Ansätzen Nolte 1974. Leider belässt Rubel es beim Zusammentragen sämtlicher Äußerungen Marxens zum Thema, ohne diese zu kommentieren.

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weitergehende revolutionäre Begehren unterdrücken zu können. Marxʼ und Engelsʼ Feinderklärung beschränkt sich also nicht auf eine triviale personifizierte Herrschaftskritik, denn Louis-Napoléon ist mehr als nur der neueste in einer langen Reihe von Monarchen. Seine Regentschaft führt ihnen täglich vor Augen, wie schwierig eine Selbstregierung der Bürger unter den Bedingungen einer antagonistischen Klassenspaltung ist, und dass politische Emanzipation bislang auf eruptive Kämpfe mit kaum anhaltenden Errungenschaften begrenzt war. Vor allem aber nimmt sie, weil sie den letzten gesellschaftlichen Konfliktherd in Europa beseitigt, Marx und Engels einen wichtigen Bezugspunkt, der ihre Gewissheit einer bald aufflammenden proletarischen Revolution viele Jahre lang getragen hatte.5 Hatte Marx im 18. Brumaire den Weg Louis-Napoléons zum Thron in Form eines Bühnenstücks6 dargestellt, bei dem der Usurpator die absteigende Kurve der Revolution zu seinen eigenen Gunsten zu nutzen weiß, als die Republikaner

5

Gerhard Kluchert sieht die Erfahrung des Staatsstreichs bei Marx und Engels in ein neues »Deutungsmodell« münden: sie halten die Revolution nun nicht mehr für ein sich parallel zur Entwicklung der Produktivkräfte aufbauendes Geschehen (wie bis Dez. 1848), ebenso wenig für ein alleiniges Resultat politischen Handelns der verschiedenen Klassen und Parteien (wie bis zum Frühjahr 1850), sondern beziehen die Wirtschaftskrise als revolutionsbedingenden Faktor ein. Vgl. Kluchert 1985. Demnach nutzen Marx und Engels zeitgenössische Ereignisse, um den systematisch-theoretischen Rahmen ihrer Kritik immer weiter zu aktualisieren. In ihren journalistischen Texten der 1850er Jahre, die Kluchert als »Nebenprodukte eines Schaffens, das jetzt weitgehend im Zeichen der Kritik der politischen Ökonomie steht« (ebd.: 395) abtut, wird darüber hinaus erkennbar, wie oft die beiden Autoren die Bahnen der vorhandenen Deutungsmodelle verlassen. Denn Marx und Engels wollen im Fall von Enttäuschungen ihrer revolutionären Hoffnungen nicht nur sich selbst »neuen Mut und neues Vertrauen geben« (ebd.: 193; 392), sondern auch anderen. Wenn sie Rückschläge zu einem notwendigen Schritt innerhalb einer langfristig dennoch revolutionären Entwicklung erklären, sucht Kluchert nach der theoretischen Verallgemeinerung dieses ›so mußte es kommen‹ (vgl. ebd.: 356). Ich stelle einer solchen Suche die Fokussierung des Handgemenges voran, in dem Marx und Engels sich bisweilen zu einem verzweifelt-demonstrativen Optimismus genötigt sahen.

6

William Clare Roberts betont, dass Marx sich in der Rolle des Dramatikers die Möglichkeit schuf, den Coup dʼÉtat nicht ausschließlich dem großen Schurken anzulasten. Mittels der komplexen Konstellation von Charakteren konnte er die entscheidende Funktion der sozialen Kräfte und Parteien verdeutlichen, die die Machtstellung LouisNapoléons überhaupt erst ermöglicht haben. Vgl. Roberts 2003.

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in wohlgeordneter Dramaturgie sämtliche Machtpositionen in Legislative und Militär preisgeben, macht er es sich in seinen journalistischen Schriften der folgenden Jahre zur Aufgabe, dieser französischen Regierung alle Verkleidung herunterzureißen. Die Metapher des Theaters hatte dazu gedient, eine sarkastische Distanz zu den erschütternden Ereignissen aufzubauen und den Eindruck einer Niederlage abzuschwächen. Nun darf sie sich jedoch nicht so weit verselbständigen (vgl. Tomba 2013: 37-45), dass dem Kaiser tatsächlich dauerhaft das gelingt, was Marx im 18. Brumaire als Trick zum Zweck der Usurpation beschrieben hatte: der französischen Bevölkerung weiszumachen, »daß ein Mann Namens Napoleon ihnen alle Herrlichkeit wiederbringen werde«, und sich selbst als genau dieser Mann auszugeben (MEGA² I/11: 180). Schon bevor der neue Napoleon tatsächlich ins Spiel gekommen war, hatten Marx und Engels die Revolutionäre von 1848 dafür kritisiert, sich so sehr dem »Opium der ›patriotischen‹ Gefühle und Redensarten von 1793« (MEW 5b: 450) hinzugeben, dass sie darüber die ökonomischen Grundlagen der Klassengegensätze beständig ignorierten und folglich unangetastet ließen (vgl. ebd.). Hier liegt die Ambivalenz von Marxʼ Sicht auf die politische Geschichte Frankreichs begründet: Das Land habe zwar die fortschrittlichste Tradition, da im 18. Jahrhundert den Ständen die politische Bedeutung genommen und damit der Weg für ein politisches Leben frei gemacht worden sei, das von sozialen Unterschieden absehe und so »den Menschen wieder herstellte« (MEGA² I/2: 476). Doch in dem Maße, wie die Revolutionen des 19. Jahrhunderts daran anknüpften, perpetuierten sie jedes Mal die Affirmation, die ihre bürgerlichen Vorgängerinnen den sozialen Verhältnissen entgegengebracht hatten. Umso schlimmer also, wenn nun der trügerische Abglanz der Französischen Revolution auch noch unwidersprochen von einem Usurpator vereinnahmt wird, der von der mangelnden Radikalität der 1848er-Republikaner profitiert hatte. Deshalb will Marx als Journalist in den 1850er Jahren verhindern, dass die deutsche oder die amerikanische Öffentlichkeit »das Frankreich des DezemberStaatsstreichs« (MEW 12j: 641) tatsächlich für die Nachfolgerin der Französischen Revolution halten könnte. Um der Inszenierung politischer Pseudo-Ereignisse ein Ende zu setzen (vgl. Rüdiger 2010: 171), charakterisiert er LouisNapoléon in der NYT so oft wie möglich als »mittelmäßigen Berufsspieler« (MEW 13f: 275), der nicht aus eigener Stärke oder Genialität, sondern nur als »demütiger Diener des Zufalls« (ebd.) an die Macht gekommen sei.7 Auch für

7

Dass Marx seinen Einfluss als Journalist bewusst für eine »anti-bonapartistische Politik« (MEW 13f: 275 f.) nutzt, geht aus seiner Aussage hervor: »Von allen Zeitungen, die sich rühmen können, mehr als nur lokalen Einfluß zu haben, ist die ›Tribüne‹

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seine Mitarbeit bei Das Volk, der Zeitung des deutschen Arbeitervereins in London, ist die Entlarvung Louis-Napoléons ein Hauptanliegen, wie Marx mit der Eröffnung seines zweiten Beitrags für das Blatt zu verstehen gibt: »Die Reaktion exekutiert das Programm der Revolution. In diesem scheinbaren Widerspruche beruht die Stärke des Napoleonismus, der sich noch heute als Mandatar der Revolution von 1789 betrachtet« (MEW 13o: 414). Um Louis-Napoléon dieser falschen Kostümierung zu überführen, spielen Marx und Engels häufig spöttisch auf den Titel von dessen Buch (Des idées napoléoniennes, Paris 1839) an, in dem er Monarchie, Katholizismus und innere Ordnung zu zentralen Regierungsprinzipien erklärt hatte. Der Versuch des Neffen, nominell in die Fußstapfen des respektablen Onkels Napoléon I zu treten, soll mit den Mitteln der Parodie als alberner Propagandatrick bloßgestellt werden: »Hier ist Ruhm, hier sind napoleonische Ideen, Freiheit, Nationalität, Unabhängigkeit, alles was ihr wollt; aber marchons, marchons!« (MEW 13n: 391) So weit ist der Duktus des 18. Brumaire wiederzuerkennen. In seinen journalistischen Schriften entwickelt Marx aber auch neue Topoi der Kritik an Louis-Napoléon, die über seine Darstellungen von 1852 hinausgehen. Wenn er in mehreren Tribune-Artikelserien die ökonomischen Details des Crédit Mobilier erläutert, scheint Marx darauf zu setzen, dass die Enthüllung eines Schwindels Empörung provozieren möge8; er skandalisiert, dass Louis-Napoléon sich mit seiner Geldpolitik zur Bezwingung wirtschaftlicher Krisen wesentlich auf die Ausnutzung von Privatvermögen der französischen Bevölkerung stütze und diese indessen mit falschen Prosperitätsversprechen ruhigstelle. Während die »Gesellschaft des 10. Dezember«, die Marx als Stütze des Staatsstreichs identifiziert hatte, in der Publizistik der 1850er Jahre kaum noch Erwähnung findet, erscheint der Kaiser nun immer häufiger als größenwahnsinniger Spieler, der dauernd mittels infrastruktureller Großprojekte von der eigenen innenpolitischen Schwäche ablenken muss (vgl. MEW 12i; MEW 13h). Auch die Ermächtigung der Armee im Inneren (vgl. MEW 12f) und die Kriege gegen Russland 1854-

vielleicht die einzige, die sich nie dazu hergegeben hat, […] ihn als Genie und einen Mann von überragender Willenskraft hinzustellen.« (Ebd.: 275) Selbstverständlich meint Marx damit seine eigenen Korrespondenzen. 8

1855 kündigen die Direktoren des Crédit Mobilier eine neue Höchstsumme (240 Mio. Francs) für die Emission von Wertpapieren an. Da die Öffentlichkeit einem gesteigerten Umlauf von Papiergeld alarmiert entgegensieht, unterbindet die Regierung im März 1856 das Vorhaben. Marx reagiert in den Sommern 1856 und 1857 sowie in der ersten Jahreshälfte 1858 auf diesen ersten Mißerfolg der bonapartistischen Finanzpolitik mit ausführlichen journalistischen Kritiken des Crédit Mobilier.

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1856 und gegen Österreich 1859 deuten Marx und Engels als Kompensation eines drohenden Prestigeverlusts von Louis-Napoléon. »Er hofft, durch Verwicklungen draußen ein Sicherheitsventil gegen die Unzufriedenheit im Innern zu finden.« (MEW 12d: 255; ähnlich: MEW 13r; MEW 13s) Diesem Zweck diene ebenfalls die propagandistische Inszenierung der Amnestie für einen Teil der politischen Gefangenen und Verbannten (vgl. MEW 11c: 594). Je mehr Marx und Engels diesen Topos der Kompensation schwindenden Ansehens in den Vordergrund rücken, gehen sie nicht nur über die Thesen aus dem 18. Brumaire hinaus, sondern widersprechen ihnen sogar: Um die Leserinnen und Leser der Tribune von der wankenden Position des Kaisers zu überzeugen, suggeriert Marx nämlich, der »Antagonismus zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem coup dʼétat« sei ein »grundlegende[r]«, der bald »erneut aufleben« werde (MEW 13r: 448). Auffällig ist, dass Marx den französischen Kaiser auch in solchen Momenten als unfähigen Hanswurst diffamiert, wenn dieser Durchsetzungskraft und Stärke zeigt. In seinen und Engelsʼ Darstellungen ist kaum zu unterscheiden, ob LouisNapoléon die Aufgaben als Staatsmann nicht durchaus geschickt erfüllt – etwa mit machtpolitischer Weitsicht im Konflikt mit anderen Großmächten oder durch seine wirtschaftspolitischen Innovationen9 –, oder ob er mit jeder seiner Aktionen bloß aufs Neue sein angeblich fehlendes Ansehen in der Bevölkerung eingesteht. Denn so sehr sie Louis-Napoléon dämonisieren wollen, sehen sie sich stets vor, dass ihre Darstellung des französischen Kaisers nicht in Überhöhung umschlägt. Dies wird nicht einfacher, je länger dessen Regime andauert: Wie lässt sich jemand noch überzeugend als opportunistischer und ängstlicher ›Diener des Zufalls‹ hinstellen, der sich Jahr um Jahr an der Macht behaupten kann?10

9

Zu den von Marx und Engels verkannten bzw. ignorierten Erfolgen von LouisNapoléons Sozial- und Wirtschaftspolitik vgl. Wippermann 1983: 63-72. Diese eingeschränkte Wahrnehmung mag dazu beigetragen haben, dass Marx sich angesichts der Wirtschaftskrise von 1856/57 »des guten Glücks mit dem Frankreich so davonkommt« (MEGA² III/8: 229) wunderte. Vgl. dazu Fiehler 2016 sowie die Beiträge von Rolf Hecker/Kenji Mori und Bastian Ronge in diesem Band.

10 Ernst Nolte fällt auf, wie schwer Marx sich tut, in der Anpassungsfähigkeit an die verschiedenen Interessen- und Lebenslagen in der französischen Bevölkerung wie auch an diplomatische Herausforderungen eine Stärke Louis-Napoléons zu sehen. Auch findet er es merkwürdig, dass Marx der französischen Bourgeoisie in Artikeln von 1855 und 1858 eine anti-bonapartistische Haltung bescheinigt, obwohl die Billigung des Coup dʼÉtat durch die Bourgeoisie eines seiner zentralen Argumente im 18. Brumaire gewesen war. Vgl. Nolte 1974: 165 und Fn 51. Allerdings bringt Nolte

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Immerhin in seinen militärischen Fähigkeiten meinen Marx und Engels ein Terrain ausgemacht zu haben, auf dem sie ihn stets so erbärmlich und nichtig wie möglich erscheinen lassen können (vgl. exemplarisch MEGA² I/14c; MEW 13c). Ihre ›anti-bonapartistische Öffentlichkeitsarbeit‹ steht also vor der komplizierten Aufgabe, Louis-Napoléon als entscheidenden Gegner aufzubauen, ihn zugleich aber machtlos und angreifbar dastehen zu lassen. Dabei scheinen Marx und Engels auch selbst Fakten schaffen zu wollen: Sie versuchen, seinen Sturz quasi performativ voranzutreiben, indem sie diesen unentwegt voraussagen. Als könnten sie den ›Fehler Louis-Napoléon‹ mit ihren publizistischen Feldzügen aus der Geschichte herauskorrigieren und durch beharrliche Negativmeldungen das erwünschte »politische Wiedererwachen« (MEW 12l: 661) wahrmachen, erklären sie wiederholt, ganz Frankreich habe bald genug vom Zweiten Kaiserreich und werde sich dagegen auflehnen (vgl. MEGA² I/12c; MEW 13n; MEW 13p; MEGA² I/18a).11 Ein Attentat auf LouisNapoléon, wie es etwa der italienische Unabhängigkeitskämpfer Felice Orsini im Januar 1858 versucht hatte12, würde allein nicht hinreichen, diesen Fehler der

diese beiden Beobachtungen in keinen Zusammenhang – diesen sehe ich in Marxʼ Anspruch, Louis-Napoléon mit journalistischen Mitteln als schwach erscheinen zu lassen. 11 Dass Marx und Engels, wenn sie von der Absicherung der Herrschaft LouisNapoléons durch die Armee berichten, bisweilen im gleichen Atemzug den Zusammenbruch des Regimes vorhersagen, wird von Wolfgang Wippermann resümiert (vgl. Wippermann 1983: 64), ohne auf den augenfälligen Widerspruch in dieser Darstellung einzugehen, den ich in der performativen Aufgabe des Journalismus begründet sehe. Diesen Aspekt des Marxʼschen Denkens arbeitet Charles Barbour in Bezug auf die Jahre 1841 bis 1852 heraus: Marxʼ Texte seien selbst politische Akte, insofern sie Rhetorik und Polemik zum Zweck des Überzeugens einsetzten, und gerade deshalb setzten sie die Existenz einer öffentlichen Debatte voraus. Vgl. Barbour 2012: 35. »Marx's point is strategic, and his essay needs to be approached, […] not only as a description, but also as an enactment of the strategies it contains. It is, in other words, an example of what it states.« (Ebd.: 31) 12 Orsinis Attentat gilt als der historisch erste Akt des Terrorismus in Europa. Wie Carola Dietze zeigt, nutzte hier im Vergleich zu allen früheren politisch motivierten Mordversuchen erstmals ein Attentäter die öffentliche Aufmerksamkeit, die er durch seine Tat erhielt, zur Verbreitung einer Botschaft. Vgl. Dietze 2016: 135-204. Marx entgeht die Besonderheit des Verfahrens gegen Orsini nicht, von dem er aus französischen Zeitungen erfährt: »Während des gesamten Gerichtsverfahrens wurde die Neu-

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Geschichte auszuräumen. Im Gegenteil: Engels schreibt nach dem Attentat an Marx, er »hoffe nur daß der Kerl [Louis-Napoléon; A.-S.S.] nicht ermordet wird« (MEGA² III/9a: 108), denn dies würde bloß dafür sorgen, dass dessen Stelle von einem anderen Kandidaten aus der Dynastie eingenommen werde, die Aussichten für eine »Rev. von Unten« (ebd.) würden sich aber aufgrund der zu erwartenden Repression verschlechtern. Damit der Coup dʼÉtat wirklich vergolten wird, muss Louis-Napoléon nach Ansicht von Marx und Engels von innen, durch ein antimonarchisches Aufbegehren der Bevölkerung gestürzt werden. Während Marx dieser Hoffnung durch die erwähnten Behauptungen wachsenden Unmuts in der französischen Bevölkerung Ausdruck verleiht, meint Engels, insbesondere unter den Italienerinnen und Italienern sowie unter den Französinnen und Franzosen ein grundsätzliches Verlangen nach republikanischen politischen Institutionen ausmachen zu können (vgl. MEW 12k; MEGA² I/18b). Dabei nutzt er die Suggestivkraft eines Perspektivwechsels: Der republikanische Geist in der Bevölkerung dient ihm als Beweis dafür, dass Louis-Napoléon leicht zu durchschauen wäre, wenn man nur mit den Erwartungen ernst machen würde, die dieser mit seinen ›idées napoléoniennes‹ schürt. Solche Darstellungen verbinden sich oft mit dem impliziten Appell zu entschlossenen Taten, einem Topos, der sich durch den 18. Brumaire gezogen hatte13. In Marxʼ und Engelsʼ Publizistik der folgenden Jahre verliert er zwar an Nachdruck – möglicherweise als Konzession an die Tatsache, dass die Zeitungen, für die sie schrieben, ohnehin nicht diejenigen erreichten, die sich am Sturz des französischen Kaisers beteiligen würden. Der Groll über die »Entscheidungslosigkeit« (MEGA² I/11: 118) als Grund einer »Helden- und Ereignißarmen Zeit« (ebd.: 129) ist aber in vielen ihrer Artikel noch immer zu vernehmen, jetzt mit einer neuen Wendung: Marx bedauert nicht mehr kopfschüttelnd, dass der Republik von 1848 von Beginn an die Entschlossenheit zur Selbstbehauptung gefehlt habe, sondern er

gierde von Paris durch die außergewöhnliche Prozeßführung erregt, die in den Annalen der politischen Prozesse Frankreichs ohne Beispiel ist.« (MEW 12g: 408) 13 Über die ›Februarperiode‹ 1848 schreibt Marx im 18. Brumaire, »daß die von ihr improvisirte Regierung sich selbst für provisorisch erklärte, und wie die Regierung gab Alles, was in dieser Periode angeregt, versucht, ausgesprochen wurde, sich für nur provisorisch aus. Niemand und Nichts wagte das Recht des Bestehens und der wirklichen That für sich in Anspruch zu nehmen.« (MEGA² I/11: 103) Insofern Marx hier suggeriert, dass zaghafte Republikaner den Usurpator bekommen, den sie verdienen, nimmt er indirekt ein Argument John Stuart Mills vorweg, der zehn Jahre später betonen wird, eine Regierung könne stets nur so gut sein wie die Tugenden in der Bevölkerung. Vgl. Mill 2016.

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beschwört nun gemeinsam mit Engels stetig die Notwendigkeit entscheidender Ereignisse, als wollte er der Revolution auf die Sprünge helfen, indem er ihre Geschichte nach ihrer Niederlage weiterschreibt. Bei ihrer Suche nach entscheidenden Ereignissen lassen die beiden Autoren auch die ›Kabinettskriege‹ der europäischen Mächte sowie die Handels- und Kolonialkriege Englands in Asien nicht aus: Wäre der Krimkrieg von den Westmächten entschlossener geführt worden und dabei noch mit einer ökonomischen Krise zusammengetroffen, so hätte Russland, das ständig danach strebe, den Einflussbereich der »Monarchical Counter Revolution« (MEGA² I/14b: 198) international auszudehnen, ein entscheidender Schlag verpasst werden können (vgl. MEGA² I/13a; MEGA² I/13c: 373 f.; MEW 11a).14 In den Schwierigkeiten der Briten bei der Verwaltung ihrer Kolonien und der Bekämpfung dortiger Aufstände wiederum liege die Chance einer ernstlichen Schwächung der ökonomisch und industriell weit fortgeschrittenen Weltmacht, mit der es die proletarischen Revolutionäre ja letztlich aufnehmen müssten (vgl. Schönfelder/Spekker 2016). Bemerkenswert unter Marxʼ und Engelsʼ Positionierungen zu Kriegsereignissen ist aber besonders diejenige zum Sardinischen Krieg, als Frankreich 1859 an der Seite des nach Unabhängigkeit strebenden Sardinien-Piemont gegen Österreich kämpft. Während der Revolution von 1848/49 hatten sie in Österreich noch vor allem die Konterrevolution erblickt15, doch nun ergreifen sie Partei für die Habsburgermonarchie. Verblüffend ist dies nicht, sobald man berücksichtigt,

14 Peter Stadler merkt zu Engelsʼ Artikeln über den Krimkrieg an: »bei aller Sachkunde waltet dabei ein Ton der Unlust vor – als wären die am Konflikt beteiligten Mächte mit Bedacht den von Marx und Engels für sie bereitgehaltenen Verstrickungen ausgewichen.« (Stadler 1964: 130) 15 Vgl. Engelsʼ Artikel vom Januar 1848: »in keinem Lande haben sich Feudalismus, Patriarchalismus und demütige Spießbürgerei unter dem Schutze des väterlichen Haselstocks unbefleckter und harmonischer erhalten als in Östreich.« (MEW 4: 504) Im November 1848 spricht sich Marx anlässlich des Wiener Oktoberaufstandes, der unter anderem aus Solidarität mit dem ungarischen Kampf gegen die Habsburgerherrschaft entstanden war, »für Wien gegen den kaiserlichen Schinderhannes« (MEW 5c: 453) aus. Auch während des Krimkrieges warnt Engels vor einer »Austrian supremacy« (MEGA² I/14b: 197) und betont kurz darauf, dass »der Panslawismus nicht eine russische, sondern eine österreichische Erfindung ist« (MEGA² I/14d: 288), die dadurch Vorschub erhalte, dass Österreich »die drei einzigen Nationen in seinen Besitzungen, die historische Lebenskraft besitzen und beweisen: Deutsche, Italiener und Ungarn« (ebd.: 291) nicht gegen das slawische Vordrängen unterstütze.

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wie sehr sie darauf zählten, dass die Position Louis-Napoléons durch militärische Misserfolge geschwächt werden könnte.

2. N ATIONALISMUS

ALS NAPOLEONISCHE I DEE ?

Mit ihren Kommentaren zum Sardinischen Krieg begeben sich Marx und Engels von vornherein in ein brisantes Handgemenge. Denn unter europäischen Demokratinnen und Demokraten wurden das demokratische und das nationale Prinzip zumeist als zusammengehörig begriffen. In dem Maße wie Forderungen nach nationaler Einheit und Unabhängigkeit gezielt gegen monarchische Regierungen in Anschlag gebracht wurden, die nationale Grenzen stets von oben, mittels machtpolitischer Aushandlung und Durchsetzung von Gebietsansprüchen gezogen hatten, gingen sie Hand in Hand mit Forderungen nach einer republikanischen Verfassung (vgl. Benner 1995: 9; 114). Auch Marx und Engels steht es nicht grundsätzlich fern, Nationalbewegungen zu unterstützen, schließlich sprechen die beiden sich zwischen den 1840er und den 1880er Jahren immer wieder insbesondere für die polnische und irische nationale Unabhängigkeit aus. Wenn sie jedoch 1859 während des Krieges von Sardinien-Piemont und Frankreich gegen Österreich die pro-italienische Haltung der meisten deutschen Republikanerinnen und Republikaner nicht ungebrochen teilen, zeigt sich, dass sie keineswegs von einer unbedingten Verbindung zwischen Nation und Demokratie ausgehen. (vgl. Naʼaman 1971: 307). Solange nämlich die italienische Unabhängigkeitsbewegung akzeptieren muss, dass der französische Kaiser »sich selbst angemaßt hat, als sein [Italiens, A.-S.S.] Beschützer aufzutreten« (MEW 13f: 278), könne eine solche Verbindung allenfalls ein Wunschbild sein, das der Kaiser zum Zweck seiner territorialen Ansprüche instrumentalisiert. Damit diese Instrumentalisierung nicht gelingt, pocht Marx in seinen publizistischen Stellungnahmen zum Sardinischen Krieg häufig auf die Unterscheidung zwischen einerseits Louis-Napoléons eigennützigen Motiven16 und andererseits einem »pure popular character« (MEGA² I/18d: 465) der italienischen Bewegung. Der Krieg habe bereits »die widerlichste Combination v. Bonapartismus u. Nationalitätsredensarten« (MEGA² III/10c: 102 f.) provoziert, so dass es nun vor allem auf Abgrenzungen ankomme. Gewissermaßen stellt Marx ein neues Kriterium für die Beurteilung von Nationalbewegungen auf: die volkstümlichen Appelle und Losungen von

16 Zu diesen Motiven zählt Marx vor allem Kompensation schwindenden Ansehens und Expansionsstreben, vgl. exemplarisch MEW 13f; MEW 13q; MW 13j; MEGA² I/18a.

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Vorkämpfern der ungarischen und italienischen Bewegung, wie etwa Lajos Kossuth und Giuseppe Mazzini, müssen vor einem prinzipiellen Misstrauen gegen bonapartistische Interessen und Allianzen bestehen. Da eine Revolution nicht nur den Enthusiasmus demokratischer Kräfte, sondern eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung voraussetze, gelte es zuvorderst, die größten Hemmnisse dieser Entwicklung aus dem Weg zu räumen. Die Mahnung aus dem 18. Brumaire, der Coup dʼÉtat habe die revolutionäre Unreife der französischen Gesellschaft offenbart, wird also zu einem Prüfstein für die Positionen politischer Bewegungen und Akteure zugespitzt: wer den ›anti-bonapartistischen Vorbehalt‹ nicht teilt, muss mit Marxʼ rücksichtsloser Kritik rechnen. Leicht ist es allerdings nicht, diesen Vorbehalt öffentlich zu behaupten. Denn die »Reaktion erfüllt eben die Forderungen der Revolution, wie Louis Bonaparte diejenigen der italienischen Nationalpartei erfüllt.« (MEW 13o: 414) Folglich wird die Instrumentalisierung der italienischen Nationalbewegung durch LouisNapoléon zu einem der wichtigsten Argumente Marxens während des Sardinischen Krieges. Bereits 1854 hatte er die Avancen des französischen Kaisers gegenüber Italien als instrumentelles Verhältnis charakterisiert: »Napoleon is seriously convinced that he is the man, not only to set Italy on fire, but also to draw the exact line which the flame shall be forbidden to cross.« (MEGA² I/13b) Als Marx und Engels dann den Zeitpunkt des Kriegsausbruchs nahen sehen, schreiben sie, »das durch bonapartistische Intrigen genährte politische Fieber« (MEW 12k: 656) in Italien diene in erster Linie dem Zweck, »den Napoleonismus […] in ganz Europa wiederherzustellen« (MEW 13f: 276), keineswegs aber einer ernsthaften Unterstützung der nationalen Bewegung. Um zu unterstreichen, wie wenig der französische Kaiser ernsthaft einen Krieg um Italiens Willen führen wolle, gibt sich Marx »überzeugt, daß Napoleon III., wenn er seine eigenen Ziele erreicht hat, es nicht wagen wird, Italien bei der Erlangung der Freiheit, die er Frankreich verweigert, zu unterstützen« (MEW 13a: 165). Solche Parallelen zwischen dem Verrat an der französischen Bevölkerung 1848 und dem aktuellen an der italienischen Bevölkerung sind zu dieser Zeit ein häufiges Stilmittel Marxens: Louis-Napoléon »möchte glauben machen, daß er sich ausschließlich bemüht um die Herbeiführung der italienischen Unabhängigkeit und die Wiederherstellung jenes Mächtegleichgewichts, das durch das Übergewicht Österreichs gestört wurde. Diejenigen, die sich erinnern an die Versicherungen, die der Kaiser abgab, und an die Schwüre, die er als Präsident der Französischen Republik leistete, werden kaum geneigt sein, seinen bloßen Erklärungen unbedingtes Vertrauen zu schenken« (MEW 13j: 321).

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Während des italienischen Krieges ist damit besonders gut zu beobachten, wie beharrlich Marx die oben skizzierte Strategie seiner Darstellung des französischen Kaisers – als dämonisch und empörend, zugleich aber als schwach und nichtig – verfolgt. Denn neben den Hinweisen auf Louis-Napoléons betrügerische Absichten wird hier zugleich jeglicher Vorstellung entgegengetreten, jemand wie er könne überhaupt als Unterstützer einer Volksbewegung ernst zu nehmen sein. Deren Schicksal sei schon deshalb nicht unter seiner Kontrolle, weil er wohl kaum beabsichtige, »der französischen Armee, nachdem ihr die Eroberung Italiens, wo sie als Befreier empfangen werden würde, fast versprochen war, nunmehr zu befehlen, mit gesenkten Waffen stillzustehen, während österreichische Truppen die heiße Glut des italienischen Aufstandes austreten« (MEW 13b: 176).

Marx versucht also auch, entgegen Louis-Napoléons Selbstinszenierung als Schutzherr Italiens, eine deutliche Trennung zwischen der Unabhängigkeitsbewegung, die »Italien für die Italiener […] gewinnen« (MEW 13a: 165) wolle, und dem von Expansionsabsicht und außenpolitischem Zugzwang geleiteten Monarchen vorzunehmen. Kurz vor Beginn der militärischen Auseinandersetzungen verknüpft er die Unvereinbarkeit dieser beiden Kräfte zusätzlich mit einer außergewöhnlich direkten Reflexion seiner eigenen Perspektive als kommunistischer Journalist: Sollte es wider Erwarten nicht zum Krieg Frankreichs und Sardiniens gegen Österreich kommen, »ist es nicht unwahrscheinlich, daß der brennende Haß der Italiener gegen ihre Unterdrücker […] sich in einer allgemeinen Revolution Luft machen wird. Wir beschränken uns darauf, zu sagen: nicht unwahrscheinlich – denn, wenn eine sich lange nicht erfüllende Hoffnung das Herz quält, so stimmt eine sich lange nicht erfüllende Voraussage den Verstand skeptisch.« (MEW 13a: 161)17

17 Um Marxʼ Denken der Revolution nach 1848 als rein wissenschaftliches zu rekonstruieren, zieht Martin Hundt Passagen aus dem 18. Brumaire heran, in denen die »Selbsttäuschungen« bürgerlicher Revolutionäre über den Inhalt ihrer Kämpfe kritisiert werden (vgl. Hundt 1987). Wenn Hundt demgegenüber der »Revolutionstheorie des Marxismus« (ebd.: 36) ein »exaktes Wissen über die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung« (ebd.: 55) attestiert, klammert er das Hoffende und Präskriptive der Marxschen Perspektive auf die Revolution aus.

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Wer im Namen derjenigen sprechen kann, die ihrem Hass gegen die Unterdrücker in einer Revolution Luft machen werden, darüber lässt Marx sein Zeitungspublikum nicht im Zweifel. Die italienischen Politiker und Milizionäre werden als revolutionär oder konterrevolutionär qualifiziert, je nachdem welches Licht der ›anti-bonapartistische Vorbehalt‹ auf sie wirft. Geradezu exemplarisch wendet er diesen Vorbehalt auf die Person Mazzini an. 18 Als dieser bald nach der Niederschlagung der Römischen Republik von 1849 mit einer Geldspendenkampagne eine erneute Erhebung gegen die österreichische Herrschaft vorbereiten wollte, hatte Marx ihm in der Tribune entgegengehalten: »After the terrible experience of ʼ48 and ʼ49, it needs something more than paper summonses from distant leaders to evoke national revolutions.« (MEGA² I/12a: 43) 19 Mazzini verfüge weder über das richtige Vokabular noch über die Autorität zum Anführen eines Aufstands (vgl. MEGA² I/12b: 62)20. Was den geringen »political value« (MEGA² I/12d: 532) von »Mazziniʼs eternal conspiracy« (MEGA² I/12a: 43) angeht, hat Marx auch später keine Zweifel. Trotzdem ist im Mai 1858 etwas anders geworden: »…eine Erweiterung seiner Auffassungen ist wahrnehmbar« (MEW 12i: 420), leitet Marx seine ausführ-

18 Nach diesem Kriterium charakterisiert Marx auch andere nationalistische Akteure wie den sardinischen Ministerpräsidenten Camillo Benso von Cavour, den Protagonisten der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung Lajos Kossuth und den italienischen Guerillakämpfer Giuseppe Garibaldi. Vgl. MEW 13t; MEGA² I/18d; MEGA² I/18e. 19 Marx erklärt es für lächerlich, »eine Anleihe von 10 Millionen francs für revolutionärer zu halten als eine Gewinnung von 10 Millionen Menschen« (MEGA² III/4a: 205). Auch findet er, »his bombastic proclamations« (MEGA² I/12a: 43) zeugten von Mazzinis Illusion, Revolutionen könnten auf Befehl gemacht werden. 20 Ironischerweise finden Mazzinis ›Revolutionsanleihe‹ ebenso wie die von Gottfried Kinkel nach italienischem Vorbild initiierte deutsche Kampagne viel Zuspruch in sozialistischen und demokratischen Kreisen (vgl. Lattek 2006: 99-107), sogar mehr, als alle publizistischen Projekte Marxens in dieser Zeit. Dennoch gibt Marx sich gegenüber solchen Aufrufen an ein breites Publikum ganz erhaben, wenn er ihnen die Unterscheidung politischer Akteure nach Klasseninteressen entgegenhält: Mazzini sehe nur schwerfällig ein, »that, even in the case of national insurrections against foreign despotism, there exists such a thing as class-distinctions« (MEGA² I/12b: 63). Ähnlich hatten Marx und Engels 1850 die Initiatoren einer deutschen ›Revolutionsanleihe‹ in der Neuen Rheinischen Zeitung. Revue als »Werbunteroffiziere der Verschwörung« (MEGA² I/10: 282) verunglimpft, die »dem revolutionären Entwicklungsproceß vor[…]greifen« und darüber »aufs tiefste die mehr theoretische Aufklärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen« (ebd.: 283) verachteten.

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liche Wiedergabe einer neuen Proklamation Mazzinis in der Tribune ein, und meint damit nicht nur, dass dessen Kritik »bei gesellschaftlichen Realitäten […], bei den Interessen der verschiedenen Klassen« (ebd.: 421) angelangt sei, sondern lobt vor allem, dass Mazzini nun die »Hohlheit« (ebd.: 424) von »Napoleons glühenden Versprechungen« (ebd.: 421) bloßlege. Während des Sardinischen Krieges findet er erneut wohlwollende Worte für Mazzini: »Sein Rat an die nationalen Freiwilligen, eine klare Trennungslinie zwischen ihrer eigenen Sache und derjenigen der gekrönten Betrüger zu ziehen und ihre Proklamationen niemals mit dem schändlichen Namen Louis-Napoleon zu entehren«, sei als »bewundernswerte Tat moralischen Muts und patriotischer Hingabe« (MEW 13m: 365)21 zu würdigen. Patriotische Hingabe? Nirgendwo in diesen Artikeln beurteilt Marx Mazzinis nationalistische Forderungen, den Inhalt der ganzen »Nationalitätsredensarten«! Jede beliebige politische Bewegung, die für eine demokratische Republik kämpfen würde, auch wenn sie dabei bestehende Staatsgrenzen nicht antasten wollte, müsste sich neben dem ›insurrektionalistischen Vorbehalt‹ vor allem am ›anti-bonapartistischen Vorbehalt‹ messen lassen. Marx geht es um die konkreten politischen Strategien jener, die für gesellschaftliche und politische Modernisierung eintreten, ganz gleich ob sie dabei zufällig auch eigene Flagge, Sprache und Mythos etablieren wollen. Es ist auffällig, dass Marxʼ Beurteilung der gegen die österreichische Herrschaft aufbegehrenden Volksbewegungen mit keiner eigenständigen Analyse des Nationalismus einhergeht, eines Phänomens, dessen Umsichgreifen im 19. Jahrhundert ihm sicherlich gewahr war. Was in der Epoche des Nationalismus geschah, konnte Marx nicht gleichgültig sein, immerhin entstand eine neue politische Mythologie, die als Doktrin formuliert und als massenbewegendes Sentiment mobilisierend wirksam wurde (vgl. Osterhammel 2009: 584). Er, der dauernd nach einer Sprache suchte, die die Kraft hätte, sowohl das ›Proletariat‹ als auch die ›Bourgeoisie‹ gegen provinzielle Borniertheit einzustimmen und ihnen ihre antagonistischen Interessen vor Augen zu führen, hätte die Nationalbewegungen als Gegenspielerinnen zu seinen eigenen politischen Eingriffen wahrnehmen können, denn vielen Nationalismen ging es um einen aus eigenen Kräften leistungsfähigen Wirtschaftsraum, oft auch um eine homogene Kultur mit eigenen Symbolen und Werten. Umgekehrt wäre auch denkbar gewesen, dass Marx sich für die »Politik der Nationsbildung« (ebd.: 583) noch vorbehaltloser

21 Dies sind vor allem Bekenntnisse in der Öffentlichkeit. Unter einander äußern sich Engels und Marx weiterhin abschätzig über Mazzini. Vgl. MEGA² III/9b; MEGA² III/9j; MEGA² III/9h.

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ausgesprochen hätte, schließlich hatte sie eine starke anti-monarchische und konstitutionalistische22 Komponente. Doch weder vergewissert sich Marx der wachsenden politischen Bedeutung nationalistischer Programme23, noch müht er sich mit so etwas wie einer Ideologiekritik des Nationalismus, auch generalisiert er nicht das Verhältnis zwischen nationalen Bewegungen und seiner eigenen revolutionären Agitation (vgl. Löwy 1974: 370). Erica Benner spricht deshalb von einem »apparently untheoretical treatment of national issues« (Benner 1995: 93) bei Marx und Engels, die vielmehr »action-guiding maps of the complex social terrains in which national aspirations werde pursued« (ebd.: 99) entwickeln. Entscheidend für die Positionierung der beiden Autoren zu Nationalbewegungen sind nämlich die konkreten Ziele dieser Bewegungen im je gegebenen Moment, deren politische Strategien sowie gegebenenfalls deren Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Kräften. Vielleicht ist Marxʼ eigentümlich eingeschränkter Blick auf den Nationalismus besser zu begreifen, wenn man berücksichtigt, dass er nationale Einigung schlicht nicht als Selbstzweck akzeptiert. Bei seinen liberalen und demokratischen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen beobachtet er, wie gesellschaftliche und politische Reformvorschläge sich bisweilen in eine nationalistische Agenda kleiden, bis sie dann nahezu in dieser aufgehen. Worauf es ihm hingegen ankommt, sind strategische Urteile über die Verdienste oder Fehler je spezifischer Bewegungen, wobei er oft, aber nicht immer, nach den involvierten Klasseninteressen fragt. Solange manche Nationalismen eine autoritäre Regierung akzeptieren, während andere die Republik ausrufen, solange die einen protektionistisch und die anderen modernisierend argumentieren, erscheint es Marx müßig, sich über den Eigensinn nationaler Aspirationen den Kopf zu zerbrechen. Der ›anti-bonapartistische Vorbehalt‹ fällt im Kontext des Kampfs um Italien also auch deshalb besonders ins Auge, weil er hier mit der Unterstützung für nationalistische Forderungen kollidiert, die Marx in anderen Zusammenhängen durchaus gewährt. Ob Marx Nationalbewegungen unterstützt, entscheidet er aber nicht um ihrer selbst willen, sondern je nach ihrer Funktion in der von ihm er-

22 Eine Ahnung von Marxʼ Erwägungen zu Verfassungsfragen vermittelt seine Artikelserie Revolutionary Spain, die 1854/1855 in der Tribune erschien. Vgl. MEGA² I/13d: 416-465. 23 Engels ist der Politik des Nationalismus gegenüber aufmerksamer, beispielsweise antizipiert er in Savoyen, Nizza und der Rhein die Zeit, wenn »die großen europäischen Nationalitäten sich mehr consolidirt haben« (MEGA² I/18b: 377) werden. Dann würden es nicht mehr auf Eroberung angewiesene Herrscher sein, die den nationalen Status von Gebieten wie Savoyen bestimmen.

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warteten weltweiten revolutionären Entwicklung. »Marx and Engels saw nationalism as an important tactical factor to be manipulated in an ideological and political struggle.« (Petrus 1971: 823) Wenn Nationalbewegungen wie im Fall von Irland das Zentrum der bürgerlichen Welt aufmischen, oder wenn sie wie im Fall von Polen die russische Hegemonie infrage stellen, ist Marx von der Partie, doch ebensogut entzieht er seine Unterstützung auch wieder, wenn sich die weltpolitische Konstellation ändert (vgl. ebd.). Vor diesem Hintergrund ist zu begreifen, warum dieses Thema selten außerhalb ihrer Zeitungsartikel anzutreffen ist. Kaum eine Textgattung ermöglicht Marx und Engels nämlich so gut wie die journalistische kurzfristige strategische Eingriffe24, mit denen sie die verschiedenen europaweit auftretenden Nationalismen, je nach der aktuell feststellbaren Konstellation von Kräften und Interessen, dem progressiven oder dem konservativen Lager zuordnen. Bei aller argumentativen Wendigkeit, mit der die beiden Autoren auf Änderungen in dieser Konstellation reagieren, orientieren sich ihre Eingriffe an zwei Konstanten: der Hoffnung auf eine Revolution und dem anti-Bonapartismus. Der enge Zusammenhang dieser beiden Bezugspunkte ist zu erkennen, wenn Marx ankündigt, »daß mit der Bildung einer echten Republik in Frankreich die piemontesische Monarchie verschwinden und sich in einer italienischen Republik auflösen wird.« (MEW 12a: 16; Herv. A.-S.S.) Die Priorität der Gegnerschaft zu LouisNapoléon ist für Marx also gewissermaßen die weltpolitische conditio sine qua non, ohne deren Erfüllung an Revolution nicht zu denken ist. Daher muss, als eine so schlagkräftige Armee wie die österreichische es mit dem französischen Kaiserreich aufnimmt, die Abneigung gegen die Habsburgermonarchie in den Hintergrund treten, immerhin entsteht durch den Sardinischen Krieg die Chance, den ›anti-bonapartistischen Vorbehalt‹ prägnant in der aktuellen weltpolitischen Konstellation auszubuchstabieren. Aber wer soll sich eigentlich davon angesprochen fühlen; wer soll ihr oder sein Handeln nach diesem Vorbehalt ausrichten? Es ist nicht leicht zu rekonstruieren, ob Marx beim Verfassen seiner Artikel für die Tribune ein Publikum mit spezifischen politischen Neigungen im Sinn hatte. Seine argumentative Vielseitigkeit nährt aber die Vermutung, dass er mit seinen Darlegungen nicht nur eine einzige Gruppe

24 Karl-Heinz Leidigkeit weist darauf hin, dass es ein »wesentlicher Gesichtspunkt der Korrespondenztätigkeit« von Marx und Engels gewesen sei, »auf die aktuellen Ereignisse schnell zu reagieren« (Leidigkeit 1984: 136), damit nicht andere Autoren zuerst die Gelegenheit zu einer Stellungnahme erhielten.

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Leserinnen und Leser, sondern gerade eine Reihe verschiedener Adressatinnen und Adressaten25 erreichen wollte. Als mit dem Friedensvertrag von Villafranca der Krieg beendet ist, hält Marx all denjenigen, »die an Louis Bonapartes demokratische Mission geglaubt haben« (MEW 13q: 423), vor Augen, dass das ernüchternde Ergebnis des Krieges eine Übereinkunft »zwischen einem Habsburger und einem Bonaparte« (ebd.: 424) sei, die die »Abhängigkeit Piemonts von Frankreich« sowie die »dominierende militärische Position« Österreichs (ebd.: 425) besiegele und die Italiener ihrer »own angry impotence« (MEGA² I/18a: 8) überlasse. Wen sonst, wenn nicht potentielle Revolutionärinnen und Revolutionäre – bürgerliche wie sozialistische – sollte es kümmern zu erfahren, dass Louis-Napoléon erst die italienische Unabhängigkeit versprochen hat, nun aber »ganz Italien der nominellen Herrschaft des Papstes unterw[e]rfen« (MEW 13q: 426) wolle? Ein anderes Publikum muss Marx hingegen im Sinn haben, wenn er die schwelende Gewalt italienischer Nationalisten betont. Louis-Napoleóns »Furcht vor der italienischen Rache« (MEW 13f: 278) sei nicht unbegründet, da »die Dolche der italienischen Attentäter erneut versuchen« werden, ihn zu töten (MEW 13p: 422). An Sozialistinnen und Sozialisten kann Marx sich hier kaum wenden, denn ihnen will er Insurrektion und Verschwörung als politische Strategie ja gerade ausreden. Eher könnten die Politiker in den europäischen Regierungen angesprochen sein, die Louis-Napoléon als rechtmäßigen Regenten anerkennen und mit ihm diplomatische Beziehungen unterhalten. Sie wären die passenden Adressaten, die vor einem die kaiserliche Herrschaft bedrohenden Szenario erschrecken können. Zu viel Vertrauen in Louis-Napoléon sieht Marx auch bei der preußischen »pseudo-demokratische[n] Partei« (MEW 13k: 326), eine Chiffre, mit der er niemand anders als Carl Vogt meint, dem er vorwirft, »mit Napoleondors gekauft worden« (MEW 13k: 326) zu sein. Das Hauptthema des publizistischen wie juristischen Kampfes ist damit vorgezeichnet, in den sich Marx in den fol-

25 Dass Marx verschiedene politische bzw. gesellschaftliche Gruppen adressiert, ja geradezu an sie appelliert, korrespondiert mit einer methodischen Veränderung in seinen politischen Schriften nach dem Coup dʼÉtat. Hans-Peter Jaeck legt dar, dass Marx nun Handlungen, Motive, sogar die Inaktivität der Beteiligten stärker in seine Erklärungen politischer Ereignisse einbezieht, nachdem er in den Klassenkämpfen in Frankreich vor allem systemhafte Bedingungen betont hatte (vgl. Jaeck 1988: 150-153). Jaeck nennt dies den Übergang von einer ›kausalanalytischen Darstellung‹ zu einer ›genetischen Beschreibung‹. »Damit war der Motivation, dem Wissen und Meinen der historisch Lernenden und Handelnden innerhalb der historischen Erklärung der ihnen gebührende Platz eingeräumt.« (Ebd.: 153)

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genden eineinhalb Jahren vertiefen und der in seinem Pamphlet Herr Vogt26 kulminieren wird. Zuvor sendet er der Tribune noch ein Manuskript, in dem er denselben Vorwurf unter anderem gegen Lajos Kossuth und den ebenfalls für die amerikanische Zeitung korrespondierenden Aurelius Ferenc Pulszky erhebt. Dass der Artikel tatsächlich gedruckt wird (vgl. MEW 13t), nimmt Marx mit ebenso viel Erstaunen wie Genugtuung zur Kenntnis (vgl. MEGA² III/10b: 46), meint er damit doch allen, die »über die österreichische Brutalität so erbittert [sind], daß sie in der Politik des Dezemberhelden Liberalismus entdecke[n]« (MEW 13k: 326), vor Augen geführt zu haben, dass sie zu den Betrogenen gehören. Dennoch scheint es Marx nicht ganz wohl damit zu sein, dass seine Feinderklärung gegen Louis-Napoléon ohne ein Mindestmaß an Parteinahme für die Habsburgermonarchie nicht zu haben ist. »Auf die Gefahr hin, einer österreichfreundlichen Haltung bezichtigt zu werden« (MEW 13q: 424), macht er daher einen bemerkenswerten Kunstgriff. Wenn er von dem »großen Dilemma« spricht, in dem sich »das deutsche Volk im allgemeinen und die Bevölkerung Norddeutschlands im besonderen« (MEW 13g: 282) am Vorabend des Sardinischen Krieges befänden, schildert er nichts anderes als die Paradoxie seiner eigenen Position: Der Behauptung, »ganz Deutschland [sei] von einer außergewöhnlichen Einheitlichkeit des Gefühls durchdrungen. Niemand erhebt seine Stimme zugunsten von Louis-Napoléon« (ebd.: 280), stellt er sogleich die Versicherung zur Seite, die preußische Bevölkerung würde nichtsdestotrotz »für Italien gegen Österreich Partei ergreifen« (ebd.: 282). Offenbar ist Marx sich bewusst, dass die Fixierung auf Louis-Napoléon auch politisch-strategische Probleme mit sich bringt. Schon als er, wie oben geschildert, seine anti-bonapartistische Position gegen verschiedene politische Lager profiliert, ist er zu einem argumentativen Spagat genötigt. Denn die verschiedenen ›Parteien‹ in Preußen könnten in dem Vorbehalt gegen Louis-Napoléon »alles Antiliberale, was der Wendung gegen Fkch in der Illusion anzuhängen schien« (MEGA² III/10c: 103), entdecken. Zwar entzieht Marx seine Aussagen immer wieder der Auslegung, er würde typisch deut-

26 Bedenkt man den ›anti-bonapartistischen Vorbehalt‹ als wesentliches Kriterium der politischen Positionierungen Marxens in den 1850er Jahren, entfällt etwas von dem Eindruck närrischer Verbissenheit, den sein Pamphlet Herr Vogt in der Marxforschung bisweilen erweckt. Wie Marx in diesem Zusammenhang die Vergleiche von Frauen und Schwarzen Männern mit Affen kommentiert hätte, zu denen Vogt aufgrund von Körpervermessungen gelangt war, lässt sich nur spekulieren, da Vogt seine rassistischen Untersuchungen (Vorlesungen über den Menschen) erst 1863 vorlegt.

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schen Franzosenhass verbreiten, indem er betont, das kaiserliche Regime könne den Gegensatz zwischen sich und der französischen Bevölkerung nur noch durch Gewalt und Propaganda überbrücken (vgl. MEW 11b; MEW 12f; MEW 12e; MEW 12h; MEGA² I/18a). Doch die Unterscheidung zwischen Regime und Bevölkerung allein sichert Marxʼ Position noch nicht gegen die »Confusion in den Köpfen« (MEGA² III/9g: 427) ab. Gegenüber Engels verkündet er daher das Gebot: Die entscheidende »revolutionäre Pointe aber ist der Sache einfach dadurch zu geben, daß der Gegensatz gegen Rußland noch stärker betont wird als der gegen Boustrapha« (ebd.). Tatsächlich wird Engels einige Monate später die Verbindung zwischen dem russischen Zaren und Louis-Napoléon unterstreichen, wenn er in seiner Broschüre Savoyen, Nizza und der Rhein den Sardinischen Krieg militärisch und politisch resümiert (vgl. MEGA² I/18b: 378-383), und auch Marx streut diesen Topos wo es geht in seine Tribune-Artikel ein (vgl. MEW 12d; MEW 13o; MEW 13i). Louis-Napoléon muss letztlich als russischer Agent27, als Werkzeug des zweiten, noch größeren Hortes der Konterrevolution dargestellt werden, um die Gegnerschaft gegen ihn sowohl vom antiliberalen wie vom österreichfreundlichen Beiklang zu befreien.

3. H ERAUSFORDERUNGEN AN DEN › ANTI - BONAPARTISTISCHEN V ORBEHALT ‹ Anstatt also seine eigenen Schwierigkeiten bei der Positionierung zu verwickelten Macht- und Interessenkonstellationen durchblicken zu lassen, verweist Marx lieber auf die ›Confusion in den Köpfen‹ der anderen – womöglich, weil er nicht einmal sich selbst eine Verunsicherung eingesteht.28 Gewiss ist es auch ratsam, sich einen Gestus der Überzeugtheit zuzulegen, sobald man sich im journalistischen Textgenre bewegt. Denn hier steht Marx vor der schwierigen Aufgabe, die kommunistische Perspektive in strategische, gegenüber allen möglichen Wechselfällen abgesicherte Stellungnahmen zu verpacken, zugleich aber seine Leserinnen und Leser glauben zu machen, dass es sich dabei stets um die einzig richtige Interpretation der Ereignisse handelt, von denen nicht wenige überdies längst vorauszusehen gewesen seien. Ausgerechnet jemand wie Lassalle, dem er im Vertrauen gegenüber Engels so liebenswürdige Namen wie »Berliner Klug-

27 William F. Drischler zeichnet nach, wie Marx das Motiv ›Louis-Napoléon als russischer Agent‹ in Herr Vogt ausbaut. Vgl. Drischler 2003. 28 Zu einer ›männlichen Form des Fragens in größten Zweifeln‹ vgl. den Beitrag von Antje Géra und Sebastian Schreull in diesem Band.

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scheisser« (MEGA² III/9h: 475) verpasst, führt Marx aber vor Augen, dass der ›anti-bonapartistische‹ Vorbehalt, mit dem er seinen überzeugten Gestus noch steigert, in den eigenen Reihen nicht bedingungslos geteilt wird. Wenn Lassalle Marx in ausführlichen Briefen über politische und literarische Fragen immer wieder zur Klärung und Abstimmung ihrer Positionen zum Sardinischen Krieg drängt, bringt er die strategischen Herausforderungen zur Sprache, denen Marx sich als Journalist zwar permanent gegenübersieht, die er aber sonst kaum als solche kenntlich macht. Das Ungewöhnliche seiner Diskussion mit Lassalle liegt darin, dass er hier weder das weitgehende Einvernehmen seines Gegenübers schon voraussetzen (wie zumeist mit Engels), noch sein Gegenüber im Fall größerer Divergenzen einfach delegitimieren kann. Er muss sich vorsehen, Lassalle nicht vor den Kopf zu stoßen, da er zeitgleich im Bemühen um die Drucklegung seiner Kritik der politischen Ökonomie bei Franz Duncker zwischen 1858 und 1859 auf den »ausserordentlichen Eifer u. Ueberredungstalent von Lassalle« (MEGA² III/9c: 294) angewiesen ist, der die Kommunikation mit dem Berliner Verleger vor Ort unterstützt. Zudem kommt Lassalle, dessen Kontakte auch über Berlin hinaus weit verzweigt sind, Marxʼ Bitten um Informationen über politische Entwicklungen in Preußen immer wieder bereitwillig nach. Meist widerstrebend und mit längerem Zögern, aber dennoch pflichtbewusst geht Marx also auf Lassalles Aufforderungen zur Erklärung seiner Haltung zum Sardinischen Krieg ein. Diesmal kann er nicht nur die Position seines Gegenübers kritisieren, sondern muss sich ihm auch selbst erklären, wenn er entgegengehalten bekommt: »Deine Taktik begreife ich noch gar nicht.« (MEGA² III/10a: 42) Lassalle, der sich ebenso wie Marx unter dem »Banner der revolutionären Partei« (MEGA² III/9f: 411) verortet, publiziert kurz nach Beginn des Sardinischen Krieges anonym in Preußen eine Broschüre (Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens), in der er »eine Stimme aus der Demokratie« (Lassalle 1859: III) sprechen lässt. Um einer antifranzösischen Agitation in Preußen entgegenzuwirken, unterscheidet er die Person Louis Napoléon von »allen demokratischen Instinkten Frankreichs« (Lassalle 1859: 36; 58), die durch einen deutschen »Offensiv-Krieg« der Zerstörung ausgeliefert wären (ebd.: 56). Preußen werde Österreich sowieso auf kurz oder lang gegen Frankreich beispringen (vgl. ebd.: 65)29, ohne dass die demokratischen Kräfte Einfluss auf diese Entwicklung

29 Ähnlich wie Lassalle vertraten auch Gottfried Kinkel, Arnold Ruge und Carl Vogt die Ansicht, die politische Liberalisierung Deutschlands hänge von einer preußischen Führungsrolle unter Ausschluss Österreichs sowie von einer Zurückdrängung der Furcht vor den Franzosen ab. Vgl. Hecker 2015.

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nehmen könnten. Deshalb liege in den Händen der Revolutionäre »nur eine Einwirkung darauf: ob der Krieg populär sein soll oder nicht.« (MEGA² III/9i: 487) Gegenüber Marx erklärt Lassalle es als »unsere Pflicht«, das preußische Volk davon zu überzeugen, »der Krieg werde im volksfeindlichen, im dynastischen, im contrerevolutionären Sinne, also gegen sein Interesse unternommen.« (ebd.) Marx jedoch kann mit dieser Unterscheidung zwischen der Bevölkerung und der Regierung Preußens nicht mitziehen. Sein Artikel Spree und Mincio, den er kurz nach Erscheinen von Lassalles Broschüre im Volk veröffentlicht, liest sich wie eine direkte Replik auf Den italienischen Krieg. Bislang, so Marx, übe sich Preußen in nichts als Untätigkeit, wo doch im Kampf gegen das französische Kaiserreich kein Mittel zu viel sein könne. »Preußens bewaffnete Vermittelung, d.h. seine Allianz mit Österreich, bedeutet die Revolution.« (MEW 13n: 392; ähnlich in MEW 13s: 456-464) So sehr Lassalle auch beteuert, dass Preußen schon den Kriegseintritt vorbereite, was sich in einem allgegenwärtigen »nationale[n] Geschrei« (MEGA² III/9i: 486) gegen Frankreich niederschlage, hält Marx daran fest, es könne der ›revolutionären Partei‹ einzig darum gehen, »theils die preußische Regierung in ihrer jämmerlichen Schwäche bloszustellen, theils u. vor allem die Bonapartistischen Delusions zu enthüllen.« (MEGA² III/10c: 103) Die erste Herausforderung also, an die Marx durch den Disput mit Lassalle gemahnt wird, sind die ideologischen Konsequenzen einer prinzipiell gegen Frankreich gerichteten Haltung. Lassalle schlägt in seiner Broschüre vor, der in Deutschland verbreiteten »Franzosenfresserei« (Lassalle 1859: 17) mit einer Unterscheidung zwischen Louis-Napoléons »demokratischen theoretischen Prinzipien«30 und dessen »tyrannischen Regierungsmitteln« (vgl. Lassalle 1859: 21) zu begegnen. Natürlich ist Marx schnell zur Stelle, um die ›idées napoléoniennes‹ zum bloßen Trugbild zu erklären. Über das ideologische Problem des deutschen Franzosenhasses jedoch schweigt er. Lassalle kann ihn noch so oft auf den »blutigen Antagonismus gegen den romanisch-socialen Geist« (MEGA² III/9i: 486) in Deutschland hinweisen, den sich Marx »dort, zehn Jahre fern von hier« (ebd.) wohl gar nicht mehr vorstellen könne – dass der Krieg die Dynamik nationalistischer Stimmung in Deutschland verschärft und die Loyalität der Bevölkerung zu ihrer monarchischen Regierung stärkt, scheint ihm keine weitere kritische Anstrengung abzuverlangen.

30 Wolfgang Wippermann weist darauf hin, dass es nicht völlig hergeholt ist, LouisNapoléon als Anhänger demokratischer Prinzipien zu beschreiben, da dieser plebiszitäre Verfahren tatsächlich erfolgreich nutzte. Vgl. Wippermann 1983: 62 f.; 71.

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Während Lassalle überlegt, dass die Bereitschaft zur Demokratisierung nur dann gegen den »deutschen Spießbürgerindividualismus« (ebd.) populär gemacht werden könne, wenn die Deutschen sich nicht zugleich gegen den französischen Feind über alle politischen Differenzen hinweg miteinander identifizieren, verständigen Marx und Engels sich darüber, dass sie, da sie durch ihre bisherigen öffentlichen Äußerungen bereits »des odium generis Bourgeois überführt« seien (MEGA² III/10e: 193), sich doch wenigstens bei der »Exposition unsrer ital. Politik« Gehör verschaffen können, indem sie »die populäre, nationale Seite vertreten.« (Ebd.) Engels setzt diese Idee um, indem er sich den deutschen Nationalismus in seiner Broschüre Savoyen, Nizza und der Rhein argumentativ zunutze macht (vgl. MEGA² I/18b). Marx verfolgt seinerseits, Lassalles Schilderungen der demokratie- und frankreichfeindlichen Stimmung in Deutschland ungeachtet, seinen journalistischen Stil weiter, mit dem er so oft schon das Erhoffte suggestiv als Tatsache behauptet hat: in der Tribune erscheint von ihm die mit ›Berlin‹ unterzeichnete Meldung: »Man hört bereits eine leise, aber vernehmbare Stimme im Volk die Worte murmeln: ›Verantwortung! Wäre die Revolution von 1848 nicht durch Betrug und Gewalt niedergeschlagen worden, stünden sich Frankreich und Deutschland nicht wieder in Waffen gegenüber […].‹« (MEW 13l: 355)31

Selbst im deutschsprachigen Volk nimmt Marx nicht Stellung zum Problem einer nationalistischen Stimmung, sondern proklamiert allenfalls: Die »Armee, welche den Kampf gegen Frankreich und Rußland ausfechten muß« könne sich nur aus einem deutschen Volk rekrutieren, »das sich mit der ganzen, vernichtenden Energie revolutionärer Begeisterung erhebt«, nicht aber aus einem, »das die teutschen Gedichte des teutschen Ludwig deklamiert« (MEW 13n: 393). Die

31 Ähnliches suggeriert Marx auch in MEGA² I/18c: 414. Willi Tonn schließt aus solchen Äußerungen, dass Marx »zu diesem Zeitpunkt den Aufschwung der deutschen revolutionär-demokratischen Bewegung vor allem in Preußen erwartete« (Tonn 1986: 103). In Tonns Darstellung taucht allerdings nicht auf, dass Marx diese Erwartung ungeachtet der Hinweise auf eine monarchistische, deutschnationale Atmosphäre äußerte. Tonn fügt hinzu, dass »diese Einschätzung sich nicht direkt in konkrete Aktionen der Volksmassen umsetzte« (ebd.), fragt sich jedoch nicht, woher diese Diskrepanz kommen könnte. Sogar Maximilien Rubel, der sich sonst auf die reine Wiedergabe von Marxʼ Aussagen beschränkt, kommentiert, dass Marx hier einen Wunsch als Gewissheit präsentiert. Vgl. Rubel 1960: 81.

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Herausforderung, den antifranzösischen Nationalismus in seine publizistische Argumentation einzubeziehen, nimmt Marx also schlicht nicht an. Die zweite Herausforderung steht hiermit in einem engen Zusammenhang. Lassalle und Marx bewegen sich in ihrer Diskussion dauernd um die Frage, wie die Entwicklung einer revolutionären Stimmung in Frankreich zu beeinflussen sei. Dabei unterscheidet Lassalle Phasen, in denen gute Voraussetzungen für eine anti-bonapartistische Agitation bestehen von solchen, in denen diese Agitation den »vollständigsten objectiven Verrath der Parteisache« (MEGA² III/10g: 300) bedeuten würde. Der Sardinische Krieg biete die denkbar schlechtesten Voraussetzungen, um sich öffentlich gegen Louis-Napoléon auszusprechen, da er »durch das demokratische Princip der Befreiung Italiens (ganz gleich, welches seine Gründe waren) gedeckt« (ebd.) sei. Jederzeit solle man »eine so feindliche Stellung einnehmen, wie wir nur können« (ebd.), nur dann nicht, wenn das französische Regime für das Nationalitätenprinzip kämpft. Denn je länger und erfolgreicher es das tue, umso mehr werde es damit auch innerhalb der eigenen Bevölkerung demokratische Forderungen wecken (vgl. Naʼaman 1971: 311). Gewissermaßen taktieren Marx und Lassalle also unter umgekehrten Vorzeichen: Lassalle glaubt wirklich an die Entstehung einer anti-bonapartistischen Stimmung in Frankreich und will gerade deshalb abwarten, bis sich LouisNapoléon nach und nach von selbst die Blöße gibt, um »nicht ihn durch eigne Uebereilung daran zu verhindern.« (MEGA² III/10h: 396) Marx indessen räumt zwar im persönlichen Dialog mit Lassalle ein, nicht wirklich Anzeichen einer Erhebung gegen das Regime wahrnehmen zu können. »Die ausserordentliche Kühle, womit sein [Louis-Napoléons; A.-S.S.] Project in Fkch aufgenommen ward, ist natürlich nicht ermunternd. Die Massen zeigen sich indifferent.« (MEGA² III/9d: 299) Umso vehementer beschwört er aber in seinen öffentlichen Artikeln den bevorstehenden Umsturz. Könnte sich Marx bewusst dagegen entschieden haben, ein präzises Bild von der gesellschaftlichen Atmosphäre im Zweiten Kaiserreich zu zeichnen? Es ist auffällig, wie weit er in seinen Zeitungsartikeln hinter der soziologischen Tiefe des 18. Brumaire zurückbleibt. Nachdem er hier bereits so etwas wie massenpsychologische Überlegungen angestellt hatte, um die affektiven Faktoren der Unterstützung für Louis-Napoléon in verschiedenen Bevölkerungsgruppen in den Blick zu nehmen, macht er als Journalist Zugeständnisse an die Vollständigkeit seiner Gesellschaftsanalyse, ja sogar an die Wahrheit seiner Aussagen. Das Revolutionäre seines Journalismus der 1850er Jahre besteht gewissermaßen darin, die Vorboten einer neuen Revolution so vehement und so oft auszurufen, dass sie wahr werden mögen. So sehr er dabei seinem Publikum die Illusionen über die Rechtschaffenheit der politischen Eliten und die Harmonie des ökono-

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mischen Prozesses nehmen will (vgl. Schönfelder 2016), so wenig bringt er aber zur Sprache, dass auch der Konservatismus oder gar die aktive Zustimmung zu einer autoritären Regierung in der französischen Bevölkerung selbst für das Ausbleiben einer wirksamen Opposition verantwortlich sein können.32 Lassalles Befürchtung, jedes Szenario jenseits eines französischen Sieges über Österreich werde das deutsche Gemüt noch mehr mit der preußischen Monarchie versöhnen und aufs Neue die Entstehung einer italienischen Republik verhindern, könnte Marx an die Herausforderung des kommunistischen Journalisten erinnert haben, auch in nicht-revolutionärer Zeit immer irgendwo Anzeichen gesellschaftlicher Emanzipation aufspüren und sich deshalb ständig zwischen optimistischen Prognosen und ernüchternden Tatsachen bewegen zu müssen. Doch die Diskussion mit Lassalle wird sich, statt in einer Überprüfung der eigenen journalistischen Strategie, in einer weiteren Abgrenzungsbewegung innerhalb der ›Partei‹ niederschlagen. Im Laufe des Briefwechsels zwischen London, Manchester und Berlin vergewissern Marx und Engels sich nämlich gegenseitig ihrer wachsenden Wut über Lassalle. In Engelsʼ Ausstoß »Der Kerl ist selbst schon halber Bonapartist […]. Mit solchen Leuten ist nicht raisonniren« (MEGA² III/10d: 188) stimmt Marx ein: »Nun sieh den gespreizten Affen! Kaum glaubt er – aus seinen bonapartistisch gefärbten Augen sehend – uns auf einem schwachen Punkt zu ertappen, wie bläht er sich, […] wie wirft er sich in – allerdings possirliche Positur.« (MEGA² III/10f: 233) Mit seiner taktischen Überlegung, die Frontstellung gegen Louis-Napoléon je nach aktueller weltpolitischer Konstellation zu betonen oder aber zu verschweigen, hat Lassalle nichts weniger als die prinzipielle Gültigkeit des ›anti-bonapartistischen Vorbehalts‹ infrage gestellt! In Marxʼ Konflikt mit Lassalle überlagern sich damit zwei Arenen des Handgemenges. Während er sich im internationalen Handgemenge um die Bedingungen der Möglichkeit einer Revolution mit Louis-Napoléon herumschlägt, muss Marx die Priorität dieses Gegners wiederum in einem weiteren Handgemenge um die »Partheidisciplin« (MEGA² III/9g: 431) durchsetzen. Innerhalb einer ohnehin »so wenig zahlreichen Parthei (die aber hoffentlich durch Energie ersezt, was ihr an Zahl abgeht)«, dürfe nicht auch noch jeder »das Recht [haben]

32 Engels kritisiert in seiner Broschüre Po und Rhein zwar die ›Theorie der natürlichen Grenzen‹ der mitteleuopäischen »Großmachtspolitiker«, die bei Deutschland ein Recht auf die Polinie und bei Frankreich ein Recht auf die Rheinlinie sehen, erwähnt aber mit keinem Wort die national mobilisierende Kraft solcher Expansionsansprüche innerhalb der deutschen oder französischen Bevölkerung. Vgl. MEW 13e.

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seine Ansicht darzulegen, ohne sich um den Andern zu kümmern.« (MEGA² III/10c: 103) Neben Lassalle haben weitere deutsche Demokraten ihre Stellungnahmen zum italienischen Krieg veröffentlicht, darunter Carl Vogt (Studien zur gegenwärtigen Lage Europas), Karl Blind (Ueber Staat und Nationalität) und Bruno Bauer (Text nicht überliefert). Das Thema ist umkämpft, da nicht zuletzt auch eine deutsche nationale Einigung auf dem Spiel steht. In Marxʼ Augen scheint jedoch niemand überhaupt »klare politische Prinzipen [zu] besitzen oder den Scharfsinn, die diplomatischen Ränke zu durchschauen.« (MEW 13t: 507) In einem Brief an Engels fasst er alle – aus seiner Sicht fehlgeleiteten – Positionen zur italienischen und deutschen Nationalität, zu den Regierungen Frankreichs, Österreichs und Preußens zusammen und kommt zu dem Schluss: »Unter allen diesen Confusions, u. da nach meiner Ansicht Deutschlands Schicksal in der Waage schwebt, halte ich es für nöthig, daß wir beide ein Partheimanifest erlassen.« (MEGA² III/9g: 428, Herv. A.-S.S.) In Marxʼ Anspruch, die Position der ›Partei‹ endgültig festzulegen und auszusprechen, wiederholt sich damit der rigorose Gestus, mit dem er bereits 1847 die Auseinandersetzungen im Bund der Kommunisten erst geschürt und dann mit einem Machtwort beendet hat, das ebenfalls Manifest heißen sollte (vgl. Bohlender 2016). Gut ein Jahrzehnt später entsteht schließlich keine weitere Schrift mit diesem Titel, obwohl Engels zustimmend auf den Vorschlag reagiert hatte. Jedoch lassen sich aus Engelsʼ Broschüren Po und Rhein und Savoyen, Nizza und der Rhein sowie aus Marxʼ kurz darauf erscheinendem und mehrere Engelssche Thesen aufgreifendem Pamphlet Herr Vogt mögliche Grundlinien des geplanten »Partheimanifests« erahnen.33 Jede der drei Schriften verteidigt den ›antibonapartistischen Vorbehalt‹ auf einer spezifischen Ebene: In Po und Rhein umreißt Engels diejenige Außenpolitik und Militärstrategie, zu der Preußen im Angesicht des Bonapartismus gedrängt werden müsse; in Savoyen, Nizza und der Rhein blickt er darauf zurück, wie der Sardinische Krieg die expansionistischen Absichten und die prorussische Loyalität Louis-Napoléons ans Licht gebracht habe; in Herr Vogt schließlich pocht Marx darauf, dass die Integrität einer demokratischen Bewegung mit der Bereitschaft zu bonapartistischen Allianzen steht und fällt.

33 Den einander ergänzenden und ›manifestartigen‹ Charakter der Schriften Herr Vogt, Po und Rhein und Savoyen, Nizza und der Rhein betonen Rubel 1960: 80 und Tonn 1986: 101 f.

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4. E IN S YMPTOM ,

DAS DIE B EHANDLUNG SEINER EIGENEN U RSACHE BLOCKIERT

In Marxʼ publizistischen Beiträgen und in seiner Auseinandersetzung mit Lassalle zeigt sich das Phänomen des Nationalismus von zwei Seiten: von einer demokratischen, die danach verlangt, dass sich die Auflösung einer ständischen Gesellschaftsordnung auch in den politischen Institutionen niederschlage; und von einer ideologischen, die die Gleichheit des ›Volkes‹ statt in der Ebenbürtigkeit seiner Mitglieder in der Abgrenzung von äußeren (und inneren) Feinden sucht. Die Frage, wie die politischen Reform- und Modernisierungsbewegungen des 19. Jahrhunderts diese beiden Seiten reflektiert und gewichtet haben, muss ebenso weiterer Forschung überlassen werden wie diejenige, welche Rolle die erste Seite in gegenwärtigen Nationalismen überhaupt noch spielt. Wenn Lassalle versucht, den Nationalismus von dessen nach außen hin feindseliger Seite abzulösen, hat er nichts grundsätzlich anderes im Sinn als Marx: Die Bekämpfung von Imperien, die nicht nur mit ihrer Großmachtpolitik kulturelle und sprachliche Differenzen einverleiben, sondern die als Monarchien auch die Selbstregierung gleicher Bürger verhindern. Die frühen institutionellen Formen solcher Selbstregierung zu torpedieren war die Bedingung der Herrschaft LouisNapoléons. Sein erfolgreicher Staatsstreich hatte die politische Realität so weit hinter bereits möglich Gewordenes zurück katapultiert, dass Marx die Erwartung aufgeben muss, eine andere Klasse werde dem revolutionären Proletariat den Weg bereiten. Louis-Napoléon ist ein Hauptfaktor dieser im Sinne des Manifests ›fehlerhaften‹ Konstellation, die die Revolutionäre nicht nur im Londoner Exil marginalisiert, sondern auf dem ganzen Kontinent in die Defensive zwingt. Seit die Bourgeoisie aus Angst vor weitertreibenden Kräften alle politische Macht abgegeben und sich dem »militärischen und bürokratischen Despotismus« (MEW 12k: 658) gefügt habe, weil dieser das Aufbegehren der unteren Klassen am effektivsten in Schach halten kann, sehen Marx und Engels im ›anti-bonapartistischen Vorbehalt‹ eine immer größere Dringlichkeit. Deshalb pochen sie in den 1850er Jahren darauf, dass zunächst wieder wahrzumachen wäre, was deutsche Demokraten nur ungeachtet der Erfahrungen von 1848/49 nicht aufhören zu behaupten und was preußische ›Philister‹ gegen das ›welsche‹ Nachbarland wettern: dass Frankreich für politische Liberalität und Emanzipation stünde.34

34 Dass Marx und Engels nicht nur die Existenz des Zweiten Kaiserreichs beendet, sondern seine gesellschaftlichen Grundlagen zerstört wissen wollten, zeigt sich auch in der Zweiten Adresse über den deutsch-französischen Krieg von 1870: »[…] begrüssen

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Hatte Marx sich im 18. Brumaire damit auseinandergesetzt, wie der Staatsstreich gegen die soeben erkämpften republikanischen Institutionen überhaupt möglich werden konnte, nutzt er in den darauf folgenden Jahren seine journalistischen Mittel, um Louis-Napoléons Methoden des Machterhalts vorzuführen. Gewissermaßen schreibt Marx dagegen an, dass jeder politische, militärische oder finanzielle Erfolg des Zweiten Kaiserreichs immer nur weiter den Skandal seiner Errichtung verblassen lässt. Hauke Brunkhorst schließt von der Beobachtung, dass Marx sich nach 1851 nicht mehr normativ auf eine egalitär herrschaftsbegründende Verfassung bezieht, auf einen Rückzug der Marxʼschen Kritik aus der Mitte der Gesellschaft (vgl. Brunkhorst 2007: 169-175). Doch kann wirklich von einem Rückzug die Rede sein, wenn Marx in dieser Zeit immer wieder aktuelle politische Erfahrungen in seine Kritik einfließen lässt? Angesichts der drängenden Sprache, die er als Journalist entfaltet, müssen Marxʼ Texte vielmehr als praktische Eingriffe verstanden werden, mit denen er die Meinung einer breiten Öffentlichkeit, nur zu gern sogar das Los einer europäischen Großmacht, beeinflussen würde. Da er allerdings für ein sehr heterogenes Publikum schreibt, kann Marx keine allgemeine Zustimmung zu seiner auf die Revolution hin ausgerichteten Perspektive voraussetzen. Umso mehr muss er also die Argumentation immer zugleich zuspitzen und beweglich halten. Als Journalisten ›senden‹ Marx und Engels aber nicht nur, um eine diffuse Öffentlichkeit zu erreichen, sondern auch, um einen Absender mit einem spezifischen Profil zu etablieren. Mit jedem ihrer Artikel wollen sie mehr als nur die Sicht eines einzelnen politischen Kommentators artikulieren. Ihre journalistische Praxis hat Anteil an der Errichtung einer Instanz, die die Kritik mit der Autorität einer ›Partei‹ ausstatten soll. Insofern findet innerhalb des Handgemenges, in dem eine kommunistische Stimme die Beurteilung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung Europas beansprucht, ein weiteres Handgemenge um das Sprechen für bzw. als eine Partei statt. Dass eine solche Instanz besonders in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche vonnöten ist, um festzulegen, ob und warum die Ereignisse in Richtung Revolution weisen, daran hatte Engels sich und Marx direkt nach dem Coup dʼÉtat erinnert: »es ist gar nicht zu läugnen daß wenn die revolutionäre Partei, in einer revolutionären Entwicklung, anfängt entscheidende Wendepunkte passiren zu lassen ohne ein Wort

wir die Republik in Frankreich, aber unter trüben, hoffentlich grundlosen Ahnungen. Jene Republik […] ist proklamirt worden nicht als eine sociale Eroberung, sondern als eine nationale Vertheidigungsmaßregel.« (MEGA² I/21: 497)

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dreinzusprechen oder, wenn sie sich einmischt, ohne zu siegen, sie mit ziemlicher Sicherheit als für einige Zeit caput angesehen werden kann.« (MEGA² III/4c: 269)

Als Marx klar wird, wie viele unterschiedliche Positionen zum Sardinischen Krieg und zur deutschen Nationalfrage unter deutschen Demokratinnen und Demokraten zirkulieren, drängt es ihn, erneut deutlich zu machen, dass die revolutionäre Perspektive keine Aushandlungssache ist: »Wir müssen jezt durchaus auf Partheidisciplin halten od. alles wird in den Dreck geritten.« (MEGA² III/9g: 427) Zu diesem Zeitpunkt ist der ›anti-bonapartistische Vorbehalt‹ längst der Prüfstein geworden, an dem sich zeigen soll, ob politische Akteure und Programme noch den Hoffnungen von 1848 verpflichtet sind. Nur wer sich überhaupt daran stört, dass das Zweite Kaiserreich die Fortsetzung des Klassenkampfs verhindert, wird nicht selbst zum Gegner der ›Partei Marx‹. Nicht immer sind Dauer und Auswirkungen der Ereignisse absehbar, über die Marx als Journalist berichtet, und nicht immer lassen sich die Absichten der beteiligten Akteure in eine eindeutige Konstellation – revolutionär oder konterrevolutionär – bringen. Immer aber will Marx seinen aktuellen politischen Eingriff mit einem prinzipiellen Geltungsanspruch für die kommunistische ›Partei‹ vermitteln. Sicherlich kann eine Vergewisserung über den oder die ›größten Gegner‹ die Verlegenheit abschwächen, in die dieser Anspruch Marx bei mancher Positionierung bringt, da so zumindest einige Klarheit geschaffen wird. Doch verfehlte es die Tragweite seines ›anti-bonapartistischen Vorbehalts‹, würde man nun schließen, zum Zweck der journalistischen Elaboration dessen, wofür Kommunistinnen und Kommunistinnen zu hoffen und zu kämpfen haben, hätte er sich schlicht am französischen Kaiser festgebissen. Die Identifizierung dieses Gegners ist mehr als bloß ein Mittel der Vereinfachung für propagandistische Zwecke. Denn Louis-Napoléon steht überhaupt nur deshalb im Zentrum von Marxʼ Positionen zur internationalen Politik, weil die neuartige Qualität von dessen Herrschaft weit über den 18. Brumaire hinaus nicht aufhört ihn zu beschäftigen. Nicht Marx beißt sich also an Louis-Napoléon fest, sondern der Bonapartismus nagt hartnäckig an Marx und hinterlässt Male der Erkenntnis in seinem Denken. Zunächst einmal erkennt Marx die Angewiesenheit des Bonapartismus auf die Mobilisierungskraft des nationalistischen Populismus. Von Lassalle lässt er sich zwar äußerst ungern daran erinnern, dass die nationalistische Mobilmachung sowohl in der deutschen als auch in der französischen Gesellschaft einen fruchtbaren Boden hat und damit als relevanter Faktor bei der Entwicklung revolutionären Bewusstseins gelten müsste. Doch auf der Seite des französischen Kaisers, der den nationalistischen Populismus gleichsam zur Regierungstechnik

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macht, hat Marx das Phänomen durchaus klar im Blick. Als sich dessen Regime nach zwanzig Jahren dem Ende neigt, kommt Marx in Der Bürgerkrieg in Frankreich erneut auf die Schlüsselfunktion des nationalistischen Populismus zurück: »schließlich gab es [das Zweite Kaiserreich, A.-S.S.] vor, alle Klassen zu vereinigen durch die Wiederbelebung des Trugbilds des nationalen Ruhms.« (MEGA² I/22: 200) Wenn es einen Grund gibt, warum die Bezugnahme des Regimes auf die ›idées napoléoniennes‹ als zutreffend zu bezeichnen wäre, ist es wohl das ›Nationenprinzip‹, das zu den zentralen Losungen der Französischen Revolution gehört hatte (vgl. Osterhammel 2009: 702; 754 f.). Die erhebliche gesellschaftliche Integrationskraft dieses Prinzips half Louis-Napoléon dabei, über zwei Jahrzehnte jeglichen revolutionären Versuch zu verhindern. Die zweite Erkenntnis Marxens über das bonapartistische Regime betrifft dessen perfektioniertes Klientelsystem. In seinen journalistischen Texten schlüsselt er immer wieder die Versprechungen und Begünstigungen auf, die LouisNapoléon den jeweiligen gesellschaftlichen Gruppen (Landbevölkerung, Arbeitern, Industriellen, etc.) sowie Teilen seines Machtapparats (Beamte, Armee, etc.) zugesteht, um sich ihre Loyalität zu sichern. Tatsächlich konnte Frankreich mittels einer gründlichen ökonomischen Modernisierung während der Dauer des Zweiten Kaiserreichs seinen Rückstand gegenüber England weitgehend aufholen (vgl. Wippermann 1983: 73). Marx hat ein aufmerksames Auge für die sozial befriedende Wirkung einer Wirtschaftspolitik, die den Interessen aller Klassen ein Stück entgegenkommt. Schließlich erfasst Marx auch die ideologische Funktion des neuen Kreditsystems, welches das bonapartistische Regime zu konsolidieren half, weil es ihm Unabhängigkeit von der stets ungewissen Kooperationsbereitschaft der französischen Großbankiers gewährte (vgl. Ricciardi 2015: 520-522). Unter Rückgriff auf die ökonomische Schule Saint-Simons erzeuge der Crédit Mobilier die Illusion, ein durch öffentlichen Kredit geschaffener allgemeiner Wohlstand könne den Antagonismus der Klassen verschwinden lassen (vgl. MEW 12b: 27). Mit dem Begriff »kaiserlicher Sozialismus« (ebd.: 24) beschreibt Marx die graduelle Zerstörung von Privateigentum durch dessen staatliche Aneignung, ohne dass diese Vergesellschaftung von Kapital mit einer Überwindung des Klassenverhältnisses einherginge. Damit führt er den Zusammenhang von Kapitalakkumulation und Krise genau an demjenigen Finanzinstrument vor, das die bürgerliche Ökonomie gegen politische und wirtschaftliche Krisen absichern soll. Mit der Feinderklärung gegen den französischen Kaiser beweist Marx also ein feines Gespür für autoritäre Methoden gesellschaftlicher Befriedung. LouisNapoléon ist ein Symptom, das die Behandlung seiner eigenen Ursache blockiert. Ihn zu bekämpfen bedeutet nichts anderes als die Verstetigung der bür-

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gerlichen Gesellschaftsordnung anzugreifen; ihre Resistenz gegen die Revolution wieder aufzubrechen. Um allerdings den Bonapartismus wirklich theoretisch durchzuarbeiten, hätte Marx das Phänomen auch über die Person LouisNapoléon hinaus verfolgen müssen. Denn der französische Kaiser ist den Weg autoritärer Krisenlösung nicht als einziger gegangen, sondern hat ihn für folgende Herrschaftssysteme vorgezeichnet. Seither haben ›bonapartistische‹ Techniken wie die Schaffung nationaler Mythen unter Berufung auf ruhmreiche Vorbilder oder die Überbrückung sozialer Antagonismen durch staatliche Konjunkturmaßnahmen und Krisenverwaltung immer wieder dazu gedient, eine radikale Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu unterbinden.

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Marx, Karl (MEGA² III/9b): Brief an Friedrich Engels vom 8.10.1858, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Dietz 2003, S. 217-219. Marx, Karl (MEGA² III/9c): Brief an Joseph Weydemeyer vom 1.2.1859, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Dietz 2003, S. 292-294. Marx, Karl (MEGA² III/9d): Brief an Ferdinand Lassalle vom 4.2.1859, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Dietz 2003, S. 298-300. Marx, Karl (MEGA² III/9e): Brief an Ferdinand Lassalle vom 28.3.1859, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Dietz 2003, S. 369-371. Marx, Karl (MEGA² III/9g): Brief an Friedrich Engels vom 18.5.1859, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Dietz 2003, S. 426-431. Marx, Karl (MEGA² III/9h): Brief an Friedrich Engels vom 1.6.1859, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Dietz 2003, S. 475-476. Marx, Karl (MEGA² III/10b): Brief an Friedrich Engels vom 10.10.1859, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/10, Berlin: Dietz 2000, S. 46. Marx, Karl (MEGA² III/10c): Brief an Ferdinand Lassalle vom 22.11.1859, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/10, Berlin: Dietz 2000, S. 102-104. Marx, Karl (MEGA² III/10f): Brief an Friedrich Engels vom 9.2.1860, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/10, Berlin: Dietz 2000, S. 231-236. Marx, Karl (MEW 5a): »Die Junirevolution« (Neue Rheinische Zeitung, 29.6.1848), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 5, Berlin: Dietz 1959, S. 133-137. Marx, Karl (MEW 5b): »Die Pariser ›Réforme‹ über die französischen Zustände« (Neue Rheinische Zeitung, 3.11.1848), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 5, Berlin: Dietz 1959, S. 448-450. Marx, Karl (MEW 5c): »Die neuesten Nachrichten aus Wien, Berlin und Paris« (Neue Rheinische Zeitung, 5.11.1848), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 5, Berlin: Dietz 1959, S. 453-454. Marx, Karl (MEW 11b): »Der englisch-amerikanische Konflikt – Vorgänge in Frankreich« (New-York Daily Tribune, 25.2.1856), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 11, Berlin: Dietz 1978, S. 588-593. Marx, Karl (MEW 11c): »Das Frankreich Bonapartes des Kleinen« (The Peopleʼs Paper, 5.4.1856 sowie gleichlautend in New-York Daily Tribune, 14.4.1856), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 11, Berlin: Dietz 1978, S. 594-599. Marx, Karl (MEW 12a): »Sardinien« (The Peopleʼs Paper, 17.5.1856), in: MarxEngels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 1969, S. 15-19. Marx, Karl (MEW 12b): »Der französische Crédit mobilier« (dreiteilige Artikelserie, New-York Daily Tribune, 21.6./24.6./11.7.1856), in: Marx-EngelsWerke, Bd. 12, Berlin: Dietz 1969, S. 20-36. Marx, Karl (MEW 12d): »Die orientalische Frage« (New-York Daily Tribune, 27.8.1857), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 1969, S. 254-259.

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Die Weltwirtschaftskrise 1857 und Marx’ Krisenhefte 1 R OLF H ECKER UND K ENJI M ORI

V ORBEMERKUNGEN In der zweiten Jahreshälfte 1857 und in den ersten drei Monaten 1858 findet eine gewichtige Verdichtung in Marxʼ Arbeitsweise statt – er geht nicht in die Bibliothek des Britischen Museums, sondern verwandelt sein bescheidenes Arbeitszimmer in ein Analysezentrum, wie er Engels am 18. Dezember 1857 mitteilt: »Ich arbeite ganz colossal, meist bis 4 Uhr Morgens. Die Arbeit ist nämlich eine doppelte: 1) Ausarbeitung der Grundzüge der Oekonomie« – wie er schon am 8. Dezember bemerkt hatte, »damit ich wenigstens die Grundrisse im Klaren habe vor dem déluge« (MEGA² III/8: 210) – »2) die jetzige Crisis. Darüber – ausser den Artikeln an die Tribune – führe ich blos Buch, was aber bedeutend Zeit wegnimmt. Ich denke, daß wir about Frühling zusammen ein Pamphlet über die Geschichte machen […]. Ich habe 3 grosse Bücher angelegt – England, Germany, France. Die Geschichte über America liegt alles Material in der Tribune. Man kann das später zusammenstellen.« (Ebd.: 221) Marx arbeitet an seinem ökonomischen Manuskript Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (so wird es bei seiner Erstveröffentlichung 1939 bezeichnet, siehe MEGA² II/1) – er schreibt an den Heften I bis IV im Zeitraum von etwa Mitte Oktober 1857 bis Ende Januar 1857. Weiterhin legt er sich drei

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Im Folgenden werden Forschungsergebnisse vorgestellt, wie sie von der Bearbeitungsgruppe des MEGA-Bandes IV/14 an der Tohoku Universität Sendai/Japan – zu ihr gehörten: Kenji Mori, Rolf Hecker (Berlin), Izumi Omura und Atsushi Tamaoka unter Mitwirkung von Fritz Fiehler (Husum) und Timm Graßmann (Berlin) – erarbeitet wurden und in der Einführung und den Textgeschichten dargelegt werden.

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große Kontorbücher an, in denen er Material über Frankreich, England und Nordeuropa (einschließlich Hamburg) sammelt. Er wertet die wichtigsten britischen Tageszeitungen aus (ausschneiden, thematisch ordnen, einkleben – etwa 1500 Ausschnitte und Auszüge). Und er verfasst – wie bereits zitiert – die wöchentlichen Artikel für die New York Daily Tribune (Tribune), für die er als Londoner Korrespondent tätig ist. Insgesamt sind es 10 Artikel über die Krise (November bis Februar), davon sieben unter Verwendung des gesammelten Materials. Der Hinweis auf die mögliche Ausarbeitung eines »Pamphlets«, das er für Frühjahr 1858 in Aussicht nehmen wollte, war eine typische Äußerung von Marx. Allerdings hatte er 1857 schon zwei Pamphlet-Versuche abgebrochen, nämlich die Revelations of the Diplomatic History of the 18th Century (MECW 15: 25-96) und ein Pamphlet gegen Bruno Bauers Einschätzungen des Krim-Krieges. Für ein Krisen-Pamphlet hätten sich folgende inhaltliche Schwerpunkte angeboten: Wirtschaftslage in Frankreich, Konkurse, Geldmarkt, Rohstoff- und Industriemarkt und letztlich Arbeitsmarkt. Und es gäbe auch eine Schrift von Thomas Tooke und William Newmarch, mit der sich Marx hätte auseinandersetzen können: A History of Prices, and of the State of the Circulation, during the Nine Years 1848-1856, die gerade erschienen war.

1. D ER AUSBRUCH

DER

W ELTWIRTSCHAFTSKRISE

Am 6. Dezember 1856 prognostizierte Marx eine größere Krise: »Dieser Zusammenbruch ist trotz der Verzögerung gewiß; in der Tat kündigt der chronische Charakter, den die gegenwärtige Finanzkrise angenommen hat, nur einen heftigeren und unheilvolleren Ausgang dieser Krise an. Je länger die Krise andauert, um so schlimmer wird die Abrechnung.« (MEW 12: 80)

Acht Monate später behauptete er erneut, dass das Finanzdebakel in Frankreich kommen werde. Gleichzeitig nahm er den Bankrott der Ohio Life Insurance in New York, der am 24. August 1857 bekanntgegeben und der zum Auslöser der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 1857 wurde, erst sehr viel später zur Kenntnis. Am 13. Oktober 1857 brach in New York eine Börsenpanik aus; 20.000 Menschen stürmten die Banken. Am gleichen Tag teilte Charles Dana, Redakteur der Tribune, Marx mit, dass er künftig nur noch einen Artikel pro Woche schreiben und sich dabei auf zwei Themen konzentrieren soll, nämlich auf den Krieg in Indien und auf die ökonomische Krise (MEGA² III/8: 496). Anderen

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europäischen Korrespondenten war gekündigt worden. Diese Hiobsbotschaft traf Marx hart – er konnte zwar weiter Artikel schreiben, aber nun weniger, was einer Einkommenseinbuße gleichkam. Er nutzte die Situation dahingehend, Engels zu beauftragen, die Artikel über Indien auszuarbeiten, um sich selbst ausschließlich der Krise zu widmen. Am 20. Oktober schätzte Marx in einem Brief an Engels die wirtschaftliche Situation wie folgt ein: »Die americanische Crise – von uns in der Novemberrevue 1850 [siehe MEGA² I/10: 448488] als in New York ausbrechend vorhergesagt – ist beautiful. Der Rückschlag auf die französische Industrie war immediate, da die Seidenwaren jezt wohlfeiler in New York verklopft als in Lyon producirt werden. Der Jammer der englischen moneyarticle-writers, daß ihr englischer trade sound, aber ihre Kunden im Ausland unhealthy seien, ist originell und munter. Wie stehtʼs mit den Manchester Fabricanten? Die Glasgower haben, wie sich jezt herausstellt, viel auf Consignation verschickt.« (MEGA² III/8: 184)

Jedoch hatte Engels den Ernst der Lage wohl so noch nicht eingeschätzt, denn er eilte erst am 5. November von Jersey nach Manchester; ein Treffen mit Marx in London kam wegen einer Zugverspätung nicht zustande. Am 6. November sandte Marx seine erste offizielle Stellungnahme zur Krise nach New York, es ist der Artikel Der Bankakt von 1844 und die Geldkrise in England, der am 21. November in der Tribune veröffentlicht wurde (MEW 12: 314-319; im Original: MECW 15: 379-384). In seinem Notizbuch von 1857 notierte er unter diesem Datum: »England monetary crisis (R. Peels act.)« (RGASPI, 1.1.5868). In ihm gab er einen historischen Rückblick auf das britische Bankgesetz von 1844, das die Trennung von Notenausgabe- und Bank-Abteilung der Bank von England und die Einhaltung eines bestimmten Verhältnisses zwischen der Herausgabe von Banknoten und der Edelmetallreserve vorschrieb, und analysierte die gegenwärtige Geldkrise. Seine Prognose war, dass die britische Regierung bald dieses Gesetz aufheben werde. Die beiden folgenden, noch im November abgefassten Artikel betrafen die Handelskrise in England. Gleichzeitig schien ihm klar geworden zu sein, dass er einen größeren Überblick benötigte, um alle Zusammenhänge zu erfassen. Jedenfalls formulierte Marx etwa zeitgleich im Heft II der Grundrisse eine prophetische Hypothese über die Globalisierung: »Endlich der Weltmarkt. Uebergreifen der bürgerlichen Gesellschaft über den Staat. Die Crisen. Auflösung der auf den Tauschwerth gegründeten Productionsweise und Gesell-

142 | ROLF H ECKER UND K ENJI M ORI schaftsform. Reales Setzen der individuellen Arbeit als gesellschaftlicher und vice versa.« (MEGA² II/1: 187)

In Erwartung des Ausbruchs der Finanz- und Wirtschaftskrise in Frankreich legte er sich nunmehr das Heft »France« – wie auf dem Titelblatt notiert – an, um die Entwicklung der Börsenkurse und die Finanzpolitik in Frankreich kontinuierlich zu verfolgen. Der Economist vom 7. November 1857 schien ihm Recht gegeben zu haben. Er schnitt aus den Seiten 1240 und 1241 Passagen aus und sortierte die Ausschnitte auf den ersten fünf Seiten des Heftes unter den Überschriften: »France. Bourse«, »Report of the Minister of Finance in the Moniteur«, »Bank of France and Railway companies« und »French trade« (MEGA² IV/14: 4/5, 10, 13, 16).

2. D IE E NTWICKLUNG IN F RANKREICH Marx verband mit einer Krisensituation die Möglichkeit für gesellschaftliche Veränderungen. Das betraf vor allem Frankreich, wo Marx zu dieser Zeit die größten Chancen für eine revolutionäre Umwälzung sah. Wie er dies verstand, kam bereits zwei Jahre vorher in einer öffentlichen Rede zum Ausdruck, in der er hervorgehoben hatte, dass der »Antagonismus zwischen moderner Industrie und Wissenschaft auf der einen Seite und modernem Elend und Verfall auf der andern Seite, dieser Antagonismus zwischen den Produktivkräften und den gesellschaftlichen Beziehungen unserer Epoche« eine Tatsache sei. Und aus diesem Antagonismus erwüchsen »die neuen Kräfte der Gesellschaft« – »und das sind die Arbeiter«. So gab er der Hoffnung Ausdruck, dass die Arbeiter »der durch diese Industrie erzeugten sozialen Revolution helfen [werden], einer Revolution, die die Emanzipation ihrer eignen Klasse in der ganzen Welt bedeutet« (MEW 12: 4). Diese neue Klasse – die Arbeiterklasse – würde die 1848 begonnene Revolution fortführen und zu einer neuen Gesellschaft aufbrechen. In Marx’ Fokus stand vor allem Frankreich, von dem er schon seit 1856 mehrfach behauptet hatte, dass es kurz vor dem Zusammenbruch stehen würde, vor allem wegen der »gigantischen Spekulation mit russischen Eisenbahnlinien« (ebd.: 79). In diese Beschäftigung fiel auch das bereits erwähnte Studium der Schrift A History of Prices… (IISG, Marx-Engels Collection, B 89) mit Schwerpunkt Frankreich. Nunmehr stellte er fest, dass der Einfluss der Krise auf die französische Industrie »immediate« war, aber wie gestaltete sich nun der Krisenverlauf wirklich? Dafür seien drei Beispiele angeführt, die alle drei den Erwartungen von Marx zuwiderliefen:

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Erstens. Da ist zunächst die Eisenbahnfinanzierung durch die Bank von Frankreich. Mit Blick auf die an der Pariser Börse gehandelten Wertpapiere war nicht zu übersehen, dass die Kurse für Staatsanleihen oder die Aktien von Eisenbahngesellschaften zwar unter Druck geraten waren, aber von einem Absturz nicht die Rede sein konnte. Dieser moderate Krisenverlauf war offenkundig zwei Umständen zu verdanken, nämlich zum einen, dass der Verlust an Gold und Silber ausblieb. In einer Krise werden einer Notenbank Devisen oder Handelswechsel zum Umtausch in Gold oder Silber vorgelegt. Davon weniger betroffen, hatte die Bank von Frankreich Kreditvergabe und Notenausgabe nicht einzuschränken. Mit der verbliebenen Reserve konnte sie ihre Absicht glaubhaft machen, die Finanzierung des Eisenbahnbaus abzusichern. Nicht ohne Erinnerungen an 1847 hatte sich die bonapartistische Regierung für die Stützung des Eisenbahnbaus ebenso stark gemacht, wie sie auf eine Rücknahme der von der Bank von Frankreich im Gleichklang mit der Bank von England heraufgesetzten Zinssätze drang. Zweitens. Die Krise wirkte sich auf den Warenmärkten aber vergleichsweise moderat und recht unterschiedlich aus. Das industrielle Lyon und manche andere Provinz traf es mehr als Paris. Das Zentrum folgte aber der Provinz mit Lohnkürzungen, Entlassungen und Kurzarbeit. In der Misere sah sich die französische Wirtschaft einer ruinösen Zinspolitik der Bank von Frankreich ausgesetzt. Als jedoch am 26. November 1857 die Rücknahme des Diskontsatzes erfolgte, konnten Wirtschaft und Öffentlichkeit wieder auf Besserung hoffen. Drittens. Marx verfolgte aufmerksam die Entwicklung der Preise für Lebensmittel. Unter dem Eindruck der Krise von 1847 stand die Frage im Raum, ob es wiederum zu Schwierigkeiten in der Versorgung und damit zu Hungerrevolten kommen würde. Diese Gefahr schien durch die vom bonapartistischen Regime immer wieder hervorgehobene vorteilhafte Ernte im Herbst 1857 gebannt zu sein. Aber mit der Krise drohte der Agrikultur ein Verfall ihrer Preise, den die Regierung mit der Liberalisierung des Getreidehandels zu verhindern suchte. So sollten die Bäckereien für eine antizyklische Bevorratung von Mehl sorgen. Die Preise blieben aber unter Druck. Diese Preisentwicklung belastete die städtische Bevölkerung, die mit der Krise in Gewerbe und Handwerk erhebliche Einkommensverluste erlitt. So blieb die städtische Nachfrage nach Lebensmitteln geschwächt. Dank der Staatseingriffe konnte die Agrarkrise jedoch eingegrenzt werden. Für Marx war es ein »Rätsel«, warum Frankreich von der Weltkrise relativ verschont blieb. Diesem Rätsel widmete er einen Brief an Engels vom 25. Dezember 1857, in dem er wiederum zum Ausdruck brachte, dass Napoleon 1858 »schwerlich davonkommen« würde (MEGA² III/8: 231), sowie einen Zeitungs-

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artikel Französische Krisis, der am gleichen Tag geschrieben und in der Tribune vom 12. Januar 1858 veröffentlicht wurde (MEW 12: 347-352; MECW 15: 413418). Dort hob er insbesondere das Argument hervor, dass Frankreichs Handelsbilanz gegenüber den wichtigen Handelspartnern wie Großbritannien, den USA und auch den Hansestädten positiv war.

3. K ONKURSE – H AUPTMERKMAL

DER

K RISE

Inzwischen entwickelte sich auch die Krise in Großbritannien. Während es bis Mitte Oktober keine beunruhigende Symptome gegeben hatte, ereignete sich am 27. Oktober 1857 der Zusammenbruch der Borough Bank von Liverpool, dem Anfang November der weiterer schottischer Banken folgte, bis am 10. November Sanderson & Co, ein bedeutender Wechselmakler in London, zusammenbrach. Mitte November fiel der Gold- und Silbervorrat der Bank von England auf 7,17 Mio. und die Notenreserven auf 1,46 Mio. Pfund (MEGA² IV/14: 83). In diesem Moment schritt die Regierung ein und kündigte am 12. November den Bankakt von 1844 auf und begann mit dem Gelddrucken. Marx konstatierte am 24. November, dass die Suspension des Bankakts »nur soweit wirken [konnte], als sie das künstliche surplus des Panic’s abnahm, das der Akt geschaffen hat« (MEGA² III/8: 202). Und weiter meinte er, dass sich das banking department der Bank von England am nächsten Tag als insolvent hätte erklären müssen. Drei Tage später trug Marx in sein bereits erwähntes Notizbuch ein: »Monetary Crisis. (Money Market. Recently of the B.o.E. Trade Reports.)« – der Artikel darüber erschien am 15. Dezember in der Tribune (MEW 12: 335338; MECW 15: 400-403). Die Aufkündigung des Bankakts durch die Regierung rechtfertigte der Schatzkanzler Sir George Lewis am 4. Dezember vor dem Unterhaus als eine rechtzeitige und richtige Entscheidung. Am 11. Dezember schrieb Marx einen Artikel über die englische Produktion und die hereinbrechende Industriekrise in England (Notizbuch: »Produce and Industrial Crisis Impending in England.«); der Beitrag erschien am 26. Dezember unter dem Titel The Commercial and Industrial State of England in der Tribune (der Beitrag wurde erst nach Erscheinen der MEW identifiziert und ist daher nicht in ihr enthalten). Die darin enthaltene Darstellung der Entwicklung des Finanzmarkts im Verhältnis zu den Rohstoff- und Industriemärkten in Großbritannien legt nahe, dass er jetzt Material für eine spezielle Untersuchung sammeln wollte. Auf dem Titelblatt seines zweiten Krisenheftes notierte Marx: »Book of the Crisis of 1857« und das Datum »Lond. 12. Dec. 1857«. An diesem Tage erhielt

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er Engelsʼ Brief vom 11. Dezember. Die darin enthaltenen Äußerungen über die »Wechselreiterei«, in der, so Engels, »die Überproduction sich versteckt« (MEGA² III/8: 217), übernahm Marx gleich auf der ersten Heftseite. Gleichzeitig griff er die Anregung von Engels auf, der etwas später schrieb: »Vergiß nicht Dir die balance-sheets der Falliten zu notiren« (ebd.: 219). Dazu hatte er in seinen Briefen die Firmeninsolvenzen aufgezählt, die Marx nun mit ihren Verbindlichkeiten ebenfalls auf der ersten Heftseite notierte (siehe MEGA² IV/14: 78). Marx begann seine Recherche im Book of the Crisis of 1857 mit der Aufstellung von Konkursdaten, die er noch vor dem Abschnitt über den Geldmarkt zusammengetragen hatte. Unter der Überschrift »Failures« stellte er aus Pressemeldungen vom 14. November 1857 bis zum 23. Januar 1858 etwa 240 konkrete Konkursfälle zusammen (vgl. ebd.: 78-82, 166-177, 328-332). Konkurse sind die augenscheinlichsten Krisensymptome, deren Anzahl und Verbindlichkeitsumfang als Gradmesser einer Krise gilt. Schon am 19. Dezember schätzte die Times die Gesamtsumme der Verbindlichkeiten von während der Krise in Insolvenz gegangenen Firmen auf etwa ₤ 50 Mio., doppelt so hoch wie in der Krise von 1847. Symbolisch für die neue Krise war die Zahlungseinstellung von fünf Großbanken mit einer Gesamtverbindlichkeit von ₤ 23 Mio. Das notierte Marx ebenso wie die Informationen über millionenschwere Insolvenzen des amerikanischen Bankhauses Dennistoun and Co. (2,1 Mio.) und des Billbrokers (Wechselmakler) Sanderson, Sandeman, and Co. (5,3 Mio.). Marx hat natürlich nicht alle Konkurse erfassen können, z. B. finden sich keine Angaben über Insolvenzen im Einzelhandel oder Dienstleistungssektor, wie etwa von Lebensmittelhändlern, Bäckern, Gastwirten und Hotelbesitzern. Er konzentrierte sich bei den bis zum 10. Dezember erfolgten Insolvenzen, die er auf der ersten Seite des Book of the Crisis of 1857 registrierte, auf die Hauptstadt und bemühte sich anhand der Times und des Economist, alle Londoner Konkursfälle zu erfassen. Dabei handelt es sich meistens um Londoner Handelshäuser, die vor allem im skandinavischen, deutschen und amerikanischen Handel tätig waren. Nach dem 11. Dezember verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Verzeichnisse auf Produzenten und Fachhändler aus den Industriegebieten des Landes, insbesondere aus der Textil- und Eisenindustrie (übrigens werden im MEGA-Band fast 1000 Firmen erwähnt). Diese Schwerpunktverlagerung signalisiert offenbar die Erweiterung der Recherche auf die Industrie, also den Bereich, den Marx als eigentlichen Krisenherd ansah.

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4. D ER G ELDMARKT

UND DIE

B ANK VON E NGLAND

Marx beobachtete den englischen Geld- und Wertpapiermarkt unter vier Aspekten: die Bank von England, den Gold- und Silbermarkt (bullion market), den Darlehens- (loan market) und Effektenmarkt (security market). Die EconomistAusgabe vom 14. November berichtete über diejenige Woche, die als Höhepunkt der Krise von 1857 gilt. In dieser Zeit stellten zwei Großbanken ihre Zahlung ein, die Western Bank of Scotland und die City of Glasgow Bank. Der von der Bank von England angehobene Diskontsatz erreichte die historische Höhe von 10% und führte zur Suspendierung des Bankgesetzes von 1844. Genau zu diesem Zeitpunkt begann Marx, Bilanzdaten und Economist-Kommentare zusammenzustellen. Da die Bilanzlage der Bank die tiefsten Werte aufwies, gab es entgegen seiner Erwartung keine Zuspitzung der Finanzkrise, sondern er dokumentierte ihr Abklingen. Die wichtigsten Stationen im Erholungsprozess der Bilanzlage der Bank von England im November/Dezember waren folgende: Am 12. November 1857 wurde das Bankgesetz suspendiert und Banknoten für ₤ 2 Mio. zusätzlich ausgegeben, indem Staatsanleihen des gleichen Betrags von der Bank- zur Notenabteilung übertragen wurden. Am 18. November begann die »Reserve« der Bank von England wieder zuzunehmen, die der Economist und Marx als Summe von Noten- und Münzenreserve in der Bankabteilung der Bank von England definierten. Das traf am 25. November auch für die Edelmetallreserve (»Bullion«) der Bank von England zu, die als Summe von Gold und Silber in der Emissionsabteilung und der Münzreserve der Bankabteilung definiert war. Diese Vermehrung von »Bullion« galt als »improvement in the situation of the Bank« (MEGA² IV/14: 87). Diese Erholung fand statt dank der zunehmenden Goldeinfuhr aus den USA und Australien, die durch neue Fundstellen, z. B. in den Goldminen Kaliforniens, möglich wurde. Ein besonderes Ereignis im Krisenverlauf hob Marx hervor: Am 16. Dezember 1857 traf das Postschiff Atlantic mit ₤ 340 000 in Goldbarren aus New York in Liverpool ein (vgl. ebd.: 184), während der Raddampfer Central America mit 21 Tonnen Gold bereits am 12. September vor der Küste Floridas in einem Sturm gesunken war. Die Ankunft des Goldes markierte einen Wendepunkt im Krisenverlauf auf dem Geldmarkt und den Märkten der Baumwollindustrie, denn dieser Goldimport trug entscheidend zur Vermehrung der Goldreserve der Bank von England bei und erleichterte damit die Kreditvergabe. Am 2. Dezember begann der Bestand an privaten Wertpapieren in der Bank von England abzunehmen, dessen Höhe bis dato den Druck der Geldnachfrage

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auf diese Bank dargestellt hatte. Diese Abnahme (verbunden mit der Abnahme der privaten Einlagen in der Bank) bedeutete auch eine zunehmende Bereitschaft der Geschäftsbanken und Diskonthäuser, mit von der Bank von England abgehobenem Geld wieder selbst Diskontgeschäfte zu übernehmen. Am 24. Dezember setzte die Regierung das Peel’sche Bankgesetz wieder in Kraft. Der Zweck der zusätzlichen Herausgabe von ₤ 2 Mio. Banknoten hatte sich erfüllt. Zugleich senkte die Bank von England den Diskontsatz von 10% auf 8%. Die Times erklärte am 28. Dezember die »crisis f. beendigt«, wie Marx bemerkte (ebd.: 180). Nach dem Jahreswechsel ging die Lockerung des Markts durch zunehmende Geldzufuhr weiter. Die erste Meldung des Jahres über den Diskontmarkt lautete: »Geld sucht eifrig nach employment.« (Ebd.: 312) Wegen der Schwierigkeit, Darlehensmöglichkeiten zu finden, wurden die Aktienbanken sogar gezwungen, neue Einlagen abzulehnen. Weiter hieß es im Laufe des Januars im Economist: jetzt kehre sich wegen der »Plethora« von Geld und der Konkurrenz unter Geldbesitzern die Lage der Geld- und Wechselbesitzer um, so dass die letzteren nun den ersteren gegenüber im Vorteil seien. Die bereits erwähnte Prognose von Marx, dass die britische Regierung bald das Bankgesetz von 1844 aufheben werde, war die einzige, die sich als richtig erwies. Im Brief an Engels vom 8. Dezember 1857 verbuchte er deshalb für diesen Artikel seine »Satisfaction«, weil andere führende Medien diese Suspendierung für unwahrscheinlich gehalten hatten (MEGA² III/8: 209).

5. D ER R OHSTOFF -

UND I NDUSTRIEMARKT IN DER

K RISE

Marx nahm an, dass es in dieser Krise zu einer »Doppelkrise« kommen würde. Die rapide Ausweitung der industriellen Produktion würde das Angebot an Rohstoffen übertreffen, wobei dann eine Unterproduktion von Rohstoffen mit einer Überproduktion von Industrieprodukten zusammenfiele. Marx war sehr daran interessiert, seine Vorhersage anhand von empirischen Daten zu beweisen. Nach seiner These sollte auf die Finanzkrise eine industrielle Krise folgen und diese Industriekrise, als deren Schwerpunkt er die Textilindustrie betrachtete, mit der Krise auf dem Rohstoff- und Agrarmarkt zusammenfallen. Die Textilindustrie war der mit Abstand wichtigste Industriezweig Großbritanniens in den 1850er Jahren, der mehr als die Hälfte der britischen Exportumsätze erzielte. Es war deshalb folgerichtig, dass Marx in seiner Konjunkturanalyse das Augenmerk auf diese richtete, was sich in der Gliederung der Exzerpte in den Krisenheften auch deutlich widerspiegelt. Im Book of the Crisis of 1857

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und im Book of the Commercial Crisis, das Marx im Anschluss daran anlegte, ist der Rohstoffmarkt in die »Rohstoffe für Textilgewebe« und die »Rohstoffe nicht für Textilgewebe« gegliedert. Unter den letzteren sind alle sonstigen Rohstoffe zusammengefasst wie Metalle, Felle und Leder, Kolonialwaren sowie Getreide. Die Textilindustrie ist einerseits an die Rohstoffmärkte für Baumwolle, Wolle, Seide, Flachs und Leinen als ihre Beschaffungsmärkte und andererseits an die Industriemärkte für Garn, Stoff, Bekleidung, Spitzen und Teppiche als Absatzmärkte angeschlossen. Innerhalb der Textilindustrie nahm die Baumwollindustrie mit einem Anteil von 63% am Exportwert der britischen Textilien im Jahre 1857 eine dominante Stellung ein, gefolgt von Wolle (22%), Leinen (10%) und Seide (5%). Um dieser Rolle der Baumwollindustrie gerecht zu werden, exzerpierte Marx neben den Preisen für Rohbaumwolle auch Preise für Fertigprodukte der Baumwollindustrie wie Garn, Stoff, Hemdenstoff. Die Zeitreihen der von Marx aus dem Economist systematisch gesammelten Preisdaten für Rohstoffe und Fertigprodukte der Baumwollindustrie verdeutlichen bestimmte Merkmale der betreffenden Zeitperiode: Baumwolle und Textilprodukte erfuhren einen drastischen Preissturz von 34% bzw. 23% zwischen dem 22. Oktober und dem 17. Dezember. Vor dem Krisenausbruch hatte das Preisniveau für Baumwolle und für Textilprodukte im Vergleich zum Jahr 1856 wesentlich höher gelegen. Und zwar war der Beschaffungspreis stärker angestiegen als der Absatzerlös, so dass sich im Verlauf der Krise die Ertragssituation der Industrie ständig verschlechterte. Nach dem Ende des Preisfalls im Dezember stellten beide Preise das Vorjahresniveau (100) wieder her. In der Zeitspanne vom 3. Dezember bis zum 21. Januar erreichten die Preise um den 17. Dezember ihren Tiefpunkt und begannen um den 24. Dezember, an dem der Bankakt wieder in Kraft trat und der Diskontsatz von 10% auf 8% gesenkt wurde, sich wieder zu erholen. Und zwar stieg der Rohstoffpreis wieder stärker an als der Textilproduktpreis, wie das vor dem Krisenausbruch der Fall gewesen war. Die Entwicklung der Baumwollindustrie, die Marx auf diese Weise dokumentierte, bestand also im Wesentlichen in einer Wende zum Besseren und nicht in einer kontinuierlichen Verschärfung der Krise. Innerhalb der Textilindustrie war der Krisenverlauf jedoch von Branche zu Branche unterschiedlich. So wies die zweitgrößte Sparte der Textilindustrie, Wolle, im Gegensatz zur Baumwollbranche keine nennenswerte Erholung während dieses Zeitraums auf.

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6. D ER ARBEITSMARKT

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WIRD ERSTMALS BEOBACHTET

Marx exzerpierte aus The Manchester Guardian für den Zeitraum vom 9. bis zum 19. Dezember Angaben der von Kurzarbeit betroffenen Arbeiter und Betriebe in Manchester bzw. Salford. Die Kurzarbeitsstatistik für Manchester, die mittwochs vom Polizeipräsidenten der Stadt zusammengestellt wurde, erschien vom 26. Dezember 1857 an jeden Donnerstag in der genannten Zeitung, also von jenem Zeitpunkt an, als die Kurzarbeit in der Stadt ihren Höhepunkt erreicht hatte. Diese Statistik über die Beschäftigungslage bestätigt das beim Rohstoffund Industriemarkt konstatierte Krisenmerkmal: für die Entwicklung der Märkte ergibt sich der 16. Dezember als Wende zu einer langsamen Erholung. Allerdings war es in der betrachteten Zeit der Seidenindustrie noch nicht besser als der Baumwollindustrie in ihrer schlimmsten Phase ergangen. Bei den Arbeitskonflikten, von denen in der Presse berichtet wurde, handelte es sich überwiegend um gegen Lohnkürzungen gerichtete Streiks, Demonstrationen und Versammlungen von Schiffsbauern, Eisengießern, Töpfern, Grubenarbeitern, Eisenschmieden, Seeleuten, Nagelschmieden, Drahtwerkarbeitern und Knopfmachern. Besonders intensiv verfolgte Marx den Streik von Grubenarbeitern und Eisenschmieden im Industriegebiet The Potteries in North Staffordshire, der am 16. Dezember 1857 als Reaktion auf die Ankündigung einer Tageslohnkürzung um 6 Pence durch die Arbeitgeber begonnen hatte und in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei eskalierte (MEGA² IV/14: 281 f., 283 f., 288 f.). The Manchester Guardian meldete am 11. Januar 1858 schließlich die Rückkehr fast aller Arbeiter zum Arbeitsplatz und die Geltung des neuen reduzierten Lohns (vgl. ebd.: 454). Die Proteste der Armenhilfeempfänger richteten sich gegen den sogenannten »Arbeitshaustest« zum Empfang der Armenhilfe, den Betrag und Auszahlungsmodus der Armenhilfe sowie die Arbeitsbedingungen in den Arbeitshäusern (Workhouses), die nach dem Armengesetz von 1834 überall errichtet wurden, um die Massenverelendung einzudämmen. Sie vereinten Wohnen und Arbeiten für arbeits- und mittellose Menschen (Pauper) unter einem Dach nach einheitlichen Regeln und sah eine zehnstündige Arbeitszeit vor. Mit besonderem Interesse verfolgte Marx die »Meuterei« der »out-door pauper labourers« in Preston, d. h. derjenigen Armenhilfeempfänger, die für Arbeiten außerhalb des Arbeitshauses, in diesem Fall im Moor, eingesetzt waren. Diese protestierten gegen die Entscheidungen der zuständigen Fürsorgebehörde (»Board of Guardians«), die Hilfeleistung zweitäglich statt wie bisher täglich zu zahlen und für die Tagesleistung ganztägig statt wie bisher halbtägig arbeiten zu lassen (vgl. ebd.: 447 f.).

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Außerdem lenkten Pressemeldungen über die Zustände der Arbeiter aus wichtigen Industriegebieten des Landes Marxʼ Aufmerksamkeit insbesondere auf die erbärmliche Situation der (beschäftigten und arbeitslosen) Seidenweber vor allem aus Macclesfield, Spitalfield und Stockport, die »may absolutely perish in a land of plenty« – wie es der Morning Star am 11. Januar bezeichnete (ebd.: 456). Das lässt sich verstehen, weil die Seidenindustrie anders als die Baumwollindustrie während der ganzen Rechercheperiode immer noch in einer tiefen Rezession steckte.

7. D AS E NDE

DER

K RISE ?

Am 25. Dezember 1857 schrieb Marx an Engels erneut über die Auswirkungen der Krise – und zwar auf Frankreich. Er blieb bei seiner Hoffnung, dass die eigentliche Krise in Frankreich bald ausbrechen werde – zu jener Zeit verkündeten die britischen Zeitungen, dass die Finanzkrise vorbei sei. In der Times hieß es am 29. Dezember: »the financial crisis is virtually at an end« (ebd.: 170). Davon unbeeindruckt legte sich Marx am 2. Januar 1858 ein drittes großes Buch mit dem Titel The Book of the Commercial Crisis an. Er klebte zu Beginn einen Ausschnitt über »The returns of the Bank of England« aus dem Morning Star vom 2. Januar ein und ergänzte die Daten im Wochenrhythmus, also am 9. und 16. Januar (vgl. ebd.: 296). Nunmehr verfolgte er, wie sich der Geldmarkt erholte und in der Folge Wirtschaft und Handel aus der Krise herausfanden. Um den 7. Januar verfasste er den Artikel Der britische Handel (erschienen am 3. Februar, MEW 12: 359-368; MECW 15: 425-434). Darin griff er die Debatte auf, die sich an der Rede von Lord Derby, dem Oppositionsführer im Oberhaus, am 4. Dezember entzündet hatte und in der dieser falsche Zahlen über den Wert des britischen Imports verwandt hatte. Marx hatte diese Debatte verfolgt und entsprechende Ausschnitte, einschließlich der veröffentlichten Statistik, aus dem Wochenblatt The Free Press in sein Book of the Crisis of 1857 eingeklebt (MEGA² IV/14: 154-159). Darauf griff er nun bei der Ausarbeitung seines Artikels zurück. Lord Derby löste übrigens wenig später, nämlich am 20. Februar 1858 Lord Palmerston als Premierminister ab. Am 12. Februar schrieb Marx einen weiteren Artikel über die Wirtschaftskrise in Frankreich (veröffentlicht am 12. März, MEW 12: 394-398; MECW 15: 459-463). Darin erklärte er, dass es keines Beweises bedürfe, dass die Machtstellung Napoléons ins Wanken geraten muss, wenn die Finanz- und Agrarkrise in Frankreich ihren Kulminationspunkt erreichen wird – er prognostizierte: »der Krach steht jedoch immer noch bevor« und schlussfolgerte:

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»Diese Notlage in der Landwirtschaft zusammen mit der Handelsdepression, dem Stagnieren der Industrie und der noch bevorstehenden Handelskatastrophe muß das französische Volk in jene Geistesverfassung versetzen, in der es bereit ist, sich in neue politische Wagnisse einzulassen.« (MEW 12: 395 f.)

Diese Erwartung sollte sich jedoch zunächst nicht erfüllen. Kurz nachdem Marx den Economist vom 20. Februar erhalten hatte, übertrug er daraus Daten über die Entwicklung des Geldmarktes in sein Book of the Commercial Crisis (MEGA² IV/14: 297-305). »Take all in all, so hat die Crisis wie ein braver alter Maulwurf gewühlt.« – mit dieser Anspielung auf Shakespeares Hamlet in seinem Brief an Engels vom 22. Februar (MEGA² III/9: 75) hatte sich offenbar das Thema der Krise für Marx zunächst erledigt.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Die Krisenhefte von Marx sind in erster Linie eine Dokumentation von Krisenerscheinungen auf verschiedenen Märkten im Zeitraum von November 1857 bis Februar 1858. Wegen ihrer vielfältigen und akribischen Datenerfassung wäre es nicht ganz verfehlt, sie als eine Fortsetzung von Tookes und Newmarchs A History of Prices zu betrachten, die die wirtschaftliche Entwicklung in England und Frankreich bis 1856 zum Gegenstand hatte. Während diese dogmenhistorischen Klassiker durch die Widerlegung der quantitätstheoretischen Auffassung von Preisentwicklungen und die Kritik am Bankgesetz von 1844 motiviert waren, sieht sich Marx zur Anfertigung der Krisenhefte insbesondere durch das Bedürfnis veranlasst, seine bis dahin vertretenen Krisenhypothesen empirisch zu beweisen. Unmittelbare Ergebnisse der Studien in den Krisenheften sind offensichtlich die sieben Tribune-Artikel, die parallel verfasst wurden. Schwerwiegender jedoch sind ihre indirekten und theoretischen Konsequenzen. Erstens. Es handelt sich dabei um die erste thematische Auseinandersetzung von Marx mit der Vielheit der Märkte in seinem Forschungsprozess. Er ist hier mit der Tatsache konfrontiert, dass Krisenphänomene in einzelnen Ländern und auf einzelnen Teilmärkten eines Landes in ihrem zeitlichen Ablauf (wie zwischen Geldmarkt und Warenmarkt) und ihrer Betroffenheit (wie zwischen Baumwoll-, Woll- und Stahlindustrie) äußerst unterschiedlich sind. Diese enorme Vielfalt der Märkte stellt ihn unweigerlich vor das theoretische Problem, wie das Netzwerk von unterschiedlichen Teilmärkten in seiner Funktion und Dysfunktion zusammenhängt, und wie seine Dynamik im Grunde bestimmt ist: ein Problem, das in den Grundrissen, und zwar in den nach den Krisenheften

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verfassten Heften, in Angriff genommen werden sollte. Weiterhin revidiert Marx seine Prognose über die Dauer des Produktionszyklus und damit verbundener Krisen, den er Anfang der 1850er Jahre noch auf vier bis fünf Jahre veranschlagt hat (vgl. MEGA² I/10: 459). Aufgrund der Erneuerungsperiode des fixen Kapitals (Anlagen und Maschinen) formuliert er erstmals in den Grundrissen: »Es kann durchaus keinem Zweifel unterliegen, daß der Cyclus, den die Industrie durchläuft, seit der Entwicklung des capital fixe in grossem Maaßstab in einem plus ou moins zehnjährigen Zeitraum zusammenhängt mit dieser so bestimmten Gesammtreproduktionsphase des Capitals.« (MEGA² II/1: 597)

Zweitens. Um auf ein eingangs angeführtes Zitat zurückzukommen: Das Verhältnis zwischen sozialer Revolution und Überproduktionskrise in Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen jener Zeit – wie z.B. mit Johann Georg Büsch, Albert Schäffle und Max Wirth, die 1858 Studien über die Krise veröffentlichten – wäre ohne Zweifel ein spannendes Thema für ein Pamphlet gewesen. Marx muss jedoch erkennen, dass die Steuerungsmaßnahmen der französischen wie auch der britischen Regierung in kurzer Zeit zu einer Entspannung an den Geld- und Kapitalmärkten führten und steigende Exporte in neuerschlossene Märkte die Industriekonjunktur wieder angekurbelten. So sollte der erste Schritt einer Theoretisierung seiner in den Krisenheften dokumentierten Beobachtung dann in Heft IV der Grundrisse getan werden, an dem er parallel arbeitete. Die Krise wird dort durch den Begriff der »allgemeinen Überproduktion« untersucht. Darin schien ihn auch Engels bestärkt zu haben, der ihm am 11. Dezember geschrieben hat: »Bei dieser Krise ist die Überproduction so allgemein gewesen wie noch nie, sie ist auch in den Colonialwaaren unleugbar und ebenso im Korn. Das ist das Famose, und muß kolossale Folgen haben. Solange die Überproduction sich nur auf die Industrie beschränkte war die Historie doch nur halb, sowie sie aber auch den Ackerbau und in den Tropen ebensogut wie in der gemäßigten Zone ergreift, wird die Sache großartig.« (MEGA² III/8: 217)

In seinem Artikel Industrie und Handel in der Tribune vom 23. September 1859 schlussfolgert Marx: »Das Gesetz besagt: Wenn durch Überproduktion und Überspekulation eine Krise herbeigeführt worden ist, so haben sich doch die Produktivkräfte der Nation und die Aufnahmefähigkeit des Weltmarkts in der Zwischenzeit so sehr ausgedehnt, daß sie nur zeitweilig von dem höchsten erreichten Punkt zurückgehen und daß nach einigen Schwankungen, die

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sich über Jahre erstrecken, die Produktionsstufe, die das Maximum der Prosperität in einer Periode des industriellen Zyklus bezeichnet, zum Ausgangspunkt der nächstfolgenden Periode wird.« (MEW 13: 497; MECW 16: 493)

In dieser Zusammenfassung bringt Marx die Idee auf den Punkt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte –, die Arbeitskräfte und die Produktionsmittel (eingeschlossen die natürlichen Ressourcen und den technischen bzw. wissenschaftlichen Fortschritt) – die entscheidende Triebkraft für die Entwicklung der Gesellschaft und ihrer adäquaten Produktionsverhältnisse ist. So nimmt er in den folgenden Jahren – während der Ausarbeitung des Kapitals – Abstand von dem Gedanken eines unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Krise und Revolution. Drittens. Im Frühjahr löst sich die Idee von einem Pamphlet in einem größeren Plan auf – dem sogenannten 6-Bücher-Plan. In einem Brief an Ferdinand Lassalle vom 22. Februar 1858 ist von Büchern über Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit, Staat, Auswärtiger Handel, Weltmarkt (MEGA² III/9: 73) die Rede. Der erste Band würde nach der »short outline« (Brief an Engels vom 2. April 1858, ebd.: 122) die Abschnitte über das Kapital en général, die Konkurrenz, den Kredit und das Aktienkapital beinhalten – also alles Themen, mit denen er sich in den letzten Monaten empirisch beschäftigt hatte. Marx äußert erstmals die Idee, das erste Kapitel »Das Kapital im Allgemeinen« als Folge zwanglos erscheinender Hefte herauszugeben. An Lassalle schreibt er: »Die Arbeit, um die es sich zunächst handelt, ist Kritik der ökonom. Categorien oder, if you like, das System dẹṛ bürgerlichen Oekonomie kritisch dargestellt. Es ist zugleich Darstellung dẹṣ Systems u. durch dịẹ Darstellung Kritik desselben.« (Ebd.: 72) Nach dieser Ankündigung spricht Lassalle mit dem Berliner Verleger Franz Duncker und fordert Marx anschließend in dessen Namen auf, nähere Auskünfte über das geplante Werk und den Umfang der Lieferungen zu geben (vgl. ebd.: 87 f.). Marx legt daraufhin seine Vorstellungen dar, meint pro Lieferung mit 4-6 Bogen auszukommen, wobei das Gesamtwerk etwa 30-40 Bogen umfassen würde. »Die erste Lieferung müßte unter allen Umständen ein relatives Ganzes sein, u. da in ihr dịẹ Grundlage für dịẹ ganze Entwicklung enthalten ist, würde sie schwerlich unter 5-6 Bogen zu machen sein. Doch werde ich das bei der finalen Ausarbeitung sehen. Sie enthält 1). Werth, 2) Geld, 3) dạṣ Capital im Allgemeinen. (Productionsproceß dẹṣ Capitals, Circulationsproceß des Capitals; Einheit v. beiden od. Capital u. Profit (Zins.)) Es bildet dieß eine selbstständige Brochure.« (Ebd.: 96-99)

Damit ist der neue, jedoch vorläufige Plan für das künftige Werk gelegt.

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L ITERATUR Block, Klaus-Dieter/Hecker, Rolf (1991): »Das ›Book of the Crisis of 1857‹ von Karl Marx«, in: Carl-Erich Vollgraf/Richard Sperl/Rolf Hecker (Hg.), Studien zum Werk von Marx und Engels (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 1991), Hamburg: Argument, S. 89-102. Dana, Charles (MEGA² III/8): Brief an Karl Marx vom 13.10.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 496. Engels, Friedrich (MEGA² III/8): Brief an Karl Marx vom 11.12.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990: S. 217-218. Engels, Friedrich (MEGA² III/8): Brief an Karl Marx vom 17.12.1857, in: MarxEngels Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 219-220. Fiehler, Fritz (2016): »Krisentheorie und Konjunkturforschung bei Marx. Über Revolution, Überproduktion und Herrschaft in der Neuen Rheinischen Zeitung. Politisch-ökonomische Revue von 1850«, in: Carl-Erich Vollgraf/Richard Sperl/Rolf Hecker (Hg.), Zu den Studienmaterialien von Marx und Engels (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2014/15), Hamburg: Argument, S. 178-193. Hecker, Rolf (1999): »Die Entstehungs-, Überlieferungs- und Editionsgeschichte der ökonomischen Manuskripte und des ›Kapital‹«, in: Elmar Altvater u.a.: Kapital.doc. Das Kapital (Bd. I) von Marx in Schaubildern mit Kommentaren, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 221-242. Hecker, Rolf (2016): »Thematische Vielfalt und inhaltliche Konstanten in Marx’ Studienmaterialien«, in: Carl-Erich Vollgraf/Richard Sperl/Rolf Hecker (Hg.), Zu den Studienmaterialien von Marx und Engels (Beiträge zur MarxEngels-Forschung. Neue Folge 2014/15), Hamburg: Argument, S. 89-105. Heinrich, Michael (2016): »Das Programm der Kritik der politischen Ökonomie«, in: Michael Quante/David P. Schweikard (Hg.) Marx Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler, S. 71-118. Krätke, Michael R. (1999): »Kapitalismus und Krisen. Geschichte und Theorie der zyklischen Krisen in Marx’ ökonomischen Studien 1857/58«, in: CarlErich Vollgraf/Richard Sperl/Rolf Hecker (Hg.), Geschichtserkenntnis und kritische Ökonomie (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 1998), S. 5-45. Krätke, Michael R. (2008): »Marx’s ›books of crisis‹ of 1857–8«, in: Marcello Musto (Hg.), Karl Marx’s Grundrisse. Foundations of the critique of political economy 150 years later, Abingdon: Routledge, S. 169-175. Krätke, Michael R. (2017): Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx, Hamburg: VSA.

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Marx, Karl (MEGA² I/10): »Revue. Mai bis Oktober 1850« (Neue Rheinische Zeitung. Politisch-ökonomische Revue), in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/10, Berlin: Dietz 1977, S. 448-488. Marx, Karl (MEGA² II/1): Ökonomische Manuskripte 1857/58 (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie), in: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/1, Berlin: De Gruyter 2006 (2., unveränd. Aufl.). Marx; Karl (MEGA² III/8): Brief an Friedrich Engels vom 20.10.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 184-187. Marx; Karl (MEGA² III/8): Brief an Friedrich Engels vom 24.11.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 202-204. Marx; Karl (MEGA² III/8): Brief an Friedrich Engels vom 8.12.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 208-210. Marx; Karl (MEGA² III/8): Brief an Friedrich Engels vom 18.12.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 221-222. Marx; Karl (MEGA² III/8): Brief an Friedrich Engels vom 25.12.1857, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/8, Berlin: Dietz 1990, S. 229-232. Marx, Karl (MEGA² III/9): Brief an Friedrich Engels vom 22.2.1858, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Akademie 2003, S. 74-75. Marx, Karl (MEGA² III/9): Brief an Friedrich Engels vom 2.4.1858, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Akademie 2003, S. 121-125. Marx, Karl (MEGA² III/9): Brief an Ferdinand Lassalle vom 22.2.1858, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Akademie 2003, S. 71-73. Marx, Karl (MEGA² III/9): Brief an Ferdinand Lassalle vom 11.3.1858, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Akademie 2003, S. 96-99. Marx, Karl (MEGA² IV/14): »1857 France«, in: Marx- Engels-Gesamtausgabe, Bd. IV/14, Berlin: De Gruyter 2017, S. 3-75. Marx, Karl (MEGA² IV/14): »Book of the Crisis of 1857«, in: Marx- EngelsGesamtausgabe, Bd. IV/14, Berlin: De Gruyter 2017: S. 77-294. Marx, Karl (MEGA² IV/14): »The Book of the Commercial Crisis«, in: MarxEngels-Gesamtausgabe, Bd. IV/14, Berlin: De Gruyter 2017: S. 295-501. Marx, Karl (MEW 12): »[Rede auf der Jahresfeier des ›Peopleʼs Paper‹ am 14. April 1856 in London]« (The People Paper, 19.04.1856), in: Marx-EngelsWerke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 3-4. Marx, Karl (MEW 12): »[Die Wirtschaftskrise in Frankreich]« (New-York Daily Tribune, 22.11.1856), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 74-79. Marx, Karl (MEW 12): »[Krise in Europa]« (New-York Daily Tribune, 6.12.1856), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 80-82.

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Marx, Karl (MEW 12): »[Der Bankakt von 1844 und die Geldkrise in England]« (New-York Daily Tribune, 21.11.1857), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 314-319. Marx, Karl (MEW 12): »[Die Handelskrise in England]« (New-York Daily Tribune, 15.12.1857), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 335-338. Marx, Karl (MEW 12): »Französische Krisis« (New-York Daily Tribune, 12.1.1858), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 347-352. Marx, Karl (MEW 12): »Der britische Handel« (New-York Daily Tribune, 3.2.1858), Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 359-368. Marx, Karl (MEW 12): »[Die Wirtschaftskrise in Frankreich]« (New-York Daily Tribune, 12.3.1858), Marx-Engels-Werke, Bd. 12, Berlin: Dietz 2017 (8. Aufl.), S. 394-398. Marx, Karl (MEW 13): »Industrie und Handel« (New-York Daily Tribune, 23.9.1859), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 13, Berlin: Dietz 2015 (12. überarb. Aufl.), S. 496-499. Marx, Karl (MECW 15): »Revelations of the Diplomatic History of the 18th Century«, in: Marx-Engels-Collected-Works, Bd. 15, Moskau: Progress Publishers 1986, S. 25-96. Marx, Karl: »[The Commercial and Industrial State of England]«, in: New York Daily Tribune, Nr. 5206 vom 26.12.1857, S. 4, Sp. 2-4. Mori, Kenji (2017): »Karl Marx’s Books of Crisis and the Concept of Double Crisis: A Ricardian Legacy«, in: Marcel van den Linden/Gerald Hubmann (Hg.), Marx’s Capital: An Unfinishable Project?, Leiden/Boston: Historical Materialism Book Series (in Vorbereitung). Mori, Kenji (2017): »Karl Marx’s Books of Crisis and the Production Theory of Crisis«, in: Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XXXI, Berlin (in Vorbereitung). Archive IISG: Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam RGASPI: Russländisches Staatliches Archiv für Sozial- und Politikgeschichte, Moskau.

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Marx, Engels: Schriften MECW: Marx-Engels Collected Works (Werkausgabe in englischer Sprache, 50 Bände). Zeitgenössische Literatur Büsch, Johann Georg (1858): Geschichtliche Beurtheilung der großen Handelsverwirrung im Jahre 1799. Nebst Anm. mit bes. Bezugnahme auf die Krisis von 1857 von H. S. Hertz, Hamburg. [In der persönl. Bibliothek von Marx] Callender, William Romaine (1858): The commercial crisis of 1857: its causes and results: being the substance of a paper read before the Manchester Statistical Society: with an appendix comprising a list of upwards of 260 English failures in 1857–8, London: Longman. Evans, D. Morier (1859): The History of the Commercial Crisis 1857–58 and the Stock Exchange Panic of 1859, London: Groombridge and sons. Gibbons, James Sloan (1859): The Banks of New York, their dealers, the clearing House, and the Panic of 1857, New York. Juglar, Clément (1889): Des Crises Commerciales et de leur retour périodique en France, en Angleterre et aux États-Unis, Paris (2. Aufl. 1862). Macleod, Henry Dunning (1855): The Theory and Practice of Banking: with the Elementary Principles of Currency; Prices; Credit; and Exchanges. Vol. I, London: Longman. McCulloch, John Ramsay (1859): Geld und Banken, Leipzig: J.J. Weber. Michaelis, Otto (1873): »Handelskrisis von 1857«, in: Volkswirthschaftliche Schriften, Bd. 1, Berlin: F.A. Herbig. Schäffle, Albert (1886): »Die Handelskrisis von 1857 in Hamburg, mit besonderer Rücksicht auf das Bankwesen«, in: Gesammelte Aufsätze, Bd. 2. Tübingen: Lauppʼsche Buchhandlung, S. 23-66. Tooke, Thomas/Newmarch, William (1857): »A History of Prices, and of the State of the Circulation, during the Nine Years 1848 – 1856«, in: Two Volumes; Forming the Fifth and Sixth Volumes of the History of Prices from 1792 to the Present Time, Bde. V–VI, London. Tooke, Thomas/Newmarch, William (1858): Die Geschichte und Bestimmung der Preise während der Jahre 1793–1857, Dresden. Wirth, Max (1858): Geschichte der Handelskrisen, Frankfurt: Sauerländer (4. Aufl. 1890). [Auszüge im Notizkalender für 1869]

Kritikmodi und -motive

Produktivkraftentfaltung und kommunistisches Bewusstsein Zur Kritik eines Marxʼschen Kritikmotivs M ATTHIAS S PEKKER

Was dem traditionellen Marxismus der höchste Trumpf des Historischen Materialismus, die wohl wichtigste Einsicht der materialistischen Geschichtsauffassung ist, hat sich insbesondere in der neueren wissenschaftlichen Marxforschung einigen Einspruch eingehandelt: die These von der Produktivkraftentwicklung als Motor der menschlichen (Emanzipations-)Geschichte und notwendiger Bedingung der Möglichkeit einer kommunistischen Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, deren eigenes notwendiges Resultat diese Überwindung damit zugleich aber ist. Anders als bei vielen anderen Topoi des Marxismus, die in der jüngeren Rezeption gerne auf vermeintliche oder tatsächliche Popularisierungen und Verfälschungen des Marxʼschen Werkes durch Engels geschoben werden, findet sich die wohl berühmteste Formulierung jener These bei Marx selbst, und zwar im Vorwort zum Ersten Heft von Zur Kritik der politischen Ökonomie: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung gerathen die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen, oder was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigenthumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche socialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Ueberbau langsamer oder rascher um.« (MEGA² II/2: 100 f.)

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Hier benennt Marx nicht einfach ökonomische Umstände, die einer Umwälzung der bestehenden Verhältnisse förderlich sind, sondern stellt vielmehr apodiktisch die conditio sine qua non jeglicher sozialen Revolution auf: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schooß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.« (Ebd.: 101)

Zwar ist das Publikationsmedium dieser Sätze ein Vorwort, dem nicht ohne Weiteres der Status einer wissenschaftlichen Ausführung zugesprochen werden kann, doch es finden sich sehr wohl auch an vielen Stellen in der wissenschaftlichen Kritik der politischen Ökonomie selbst, gerade auch im Kapital, Passagen, die den Schluss nahelegen, man habe es hier mit Resultaten höchster Wissenschaftlichkeit zu tun. So resümiert Marx gegen Ende des ersten Bandes des Kapital: »Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Koncentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigenthums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriirt.« (MEGA² II/5: 609)

Derartige Aussagen stehen dort, wo sie über die theoretische Erklärung der Produktivkraftentfaltung als solcher und deren Folgen für die Kapitalakkumulation hinaus ein revolutionstheoretisches Gepräge erhalten,1 zunächst einmal in einem recht offensichtlichen Spannungsverhältnis zu den zentralen wert- und kapitaltheoretischen Darlegungen im Kapital: Von einem revolutionären Subjekt, das eine solche Enteignung der Kapitalisten und Abschaffung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse durchführen werde, ist in den vorangehenden Kapiteln noch keine Rede gewesen – im Gegenteil baut Marxʼ Kritik ja ganz wesentlich auch darauf auf, dass Bourgeoisie wie Proletariat gleichermaßen in »objektive[n] Gedankenformen« (ebd.: 47) befangen sind und die Verhältnisse nicht ohne weiteres durchdringen. Es drängt sich insofern die Frage auf, wie diese so disparaten Passagen wissenschaftstheoretisch in die Argumentation der Kritik der politischen Ökonomie einzuordnen sind. Wenn die Arbeiter/-innen bis zu diesem

1

Wenn ich im Folgenden – etwas hölzern – vom ›Produktivkraftentfaltungs-Paradigma‹ spreche, ist es immer in diesem revolutionstheoretischen Kontext gemeint.

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Punkt im Kapital unter werttheoretischem Fokus als Arbeitskraftbehälter und Quelle des Werts, sozialgeschichtlich als beherrschte und ausgebeutete Klasse und politisch als für die Verbesserung, nicht Abschaffung ihrer Ausbeutungsbedingungen Kämpfende dargestellt worden sind, lässt sich dann ihre Transformation hin zur revolutionären »Volksmasse« (ebd.: 610) und »organisirten Arbeiterklasse« (ebd.: 609), die die kapitalistischen Produktionsverhältnisse abschaffen werde, überhaupt immanent aus der wissenschaftlichen Darstellung erklären? Vor dem Hintergrund, dass der traditionelle Marxismus auch in seiner akademischen Gestalt eher beschworen hat denn ernsthaft begründen konnte, dass hier eine vermeintliche »materialistische Widerspruchsdialektik […] mustergültig und in vollendeter Weise« vorliege (ebd.: 53*), die beweise, wie die Produktivkraftentwicklung die »historische Mission« der Arbeiterklasse begründe, »das kapitalistische Privateigentum an den Produktionsmitteln zu beseitigen« (Jahn 1984: 19), scheint die Zurückweisung derartiger Marxʼscher Passagen als widersprüchlich zum wissenschaftlichen Anspruch des Kapital zunächst der gangbarere Weg zu sein. So interpretiert etwa Michael Heinrich sie als von Marx eigentlich bereits überwundene geschichtsphilosophische Überbleibsel, die keinen »wissenschaftlichen Gehalt« beanspruchen könnten; da sie aber ohnehin »nicht konstitutiv für die wissenschaftliche Analyse«, sondern lediglich »Einzelstellen« oder publikumswirksame »Beigaben« seien, könne man ohne Probleme auch auf sie verzichten (Heinrich 1997: 138). Damit folgt Heinrich implizit dem gängigen Muster, einen ›exoterischen‹ vom eigentlich wissenschaftlichen, ›esoterischen‹ Marx abzuspalten,2 was das Problem jedoch weniger löst, als es vielmehr wegdiskutiert. Eine solche Lesart wird weder dem Umstand, dass das historischmaterialistische Paradigma das gesamte Marxʼsche Werk durchzieht, noch der politischen Intention, die Marx mit seiner wissenschaftlichen Kritik verband, gerecht, sondern führt, wie deutlich werden soll, zu einer Verengung der Marxʼschen Kritik (wenngleich auf ganz zentrale Argumente!), deren durchaus problematischer Kontext so aber ausgeblendet wird. Um die Bedeutung des Produktivkraftentfaltungs-Paradigmas und seines Zusammenhangs mit der Kritik der politischen Ökonomie zu beleuchten, möchte ich deshalb eine andere Herangehensweise an dieses offenkundige Problem vorschlagen: Will man verstehen, wie, vor allem aber weshalb Marx die proletarische Revolution an die Entwicklung der Produktivkräfte innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse selbst bindet, mit denen diese Entwicklung dann

2

Zur Problematisierung der Behauptung einander strikt entgegengesetzter ›esoterischer‹ und ›exoterischer‹ Teile im Marxʼschen Werk siehe Spekker 2017 sowie Krug 1999.

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schließlich in Widerspruch gerate, hilft eine Kapital-immanente Interpretation allein nicht weiter, sondern muss in einem weiteren Schritt genealogisch an den Entstehungsherd dieser These zurückgegangen werden.3 Hier wird sich zeigen, wie der später sogenannte ›historische Materialismus‹ ganz zentral auch als politisch motivierte Abkehrbewegung vom philosophischen, wesentlich von Feuerbach inspirierten Sozialismus und Kommunismus deutscher Provenienz nachvollzogen werden muss, den Marx und Engels ab 1845/1846 als »wahren Sozialismus« verwerfen und von nun an bekämpfen werden. Ganz besonders das Theorem von der Dialektik zwischen den Produktivkräften einerseits und den Verkehrs- und Produktionsverhältnissen andererseits markiert hier das, was Engels Jahrzehnte später Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (vgl. MEGA² I/27) nennen sollte. Diese Entwicklungsdialektik ist der entscheidende Schritt, um sich von den »Allgemeinbegriffe[n] Feuerbachscher Provenienz« losmachen zu können, die – so ist sich Andreas Arndt mit Marx und Engels einig – »umso entbehrlicher [werden], je mehr die Antizipation des Sozialismus/Kommunismus wissenschaftlich fundiert ist, objektive Möglichkeit bezeichnet.« (Arndt 1985: 40) Damit notwendig verbunden ist aber eine Entwicklungslogik, die diese objektive Möglichkeit erst an das Ende einer völligen Entfaltung der Produktivkräfte in Form der »großen Industrie« (MEGA² I/5: 70 et passim) setzt, die Revolution also gegen allen Spontaneismus, gegen sogenannte ›frühsozialistische‹ wie auch anthropologische oder moralphilosophische, normative Fundierungen eines kommunistischen Bewusstseins ›vertagt‹. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Marx (und Engels) eine solche wissenschaftliche Fundierung überhaupt gelingt, gar gelingen kann; ob die wissenschaftliche Antizipation der Produktivkraftentwicklung revolutionäres bzw. bewusst kommunistisches Handeln, ohne das der Übergang in eine höhere Gesellschaftsform nicht sinnvoll denkbar ist, überhaupt materialistisch begründen kann. 4 Dieser Anspruch erscheint fragwürdig – umso mehr, je weiter die wissenschaftliche Kritik

3

Meine Ausführungen stehen hier in einem engen Zusammenhang mit dem ebenfalls in diesem Band vorliegenden Artikel von Matthias Bohlender, der die Geburt des »historischen Materialismus« aus dem Handgemenge untersucht.

4

Hier soll indes nicht behauptet werden, dass sich die Reflexionen Marxens und Engelsʼ über revolutionäres bzw. kommunistisches Bewusstsein völlig auf ihre Aussagen zur Produktivkraftentfaltung reduzierten. Auch Überlegungen zur Bedeutung proletarischer Organisierung für die Entstehung revolutionären Bewusstseins etwa haben eine wichtige Rolle gespielt, wie z.B. Martin Hundt (1986) darstellt, der allerdings nichtsdestotrotz den Primat der objektiven ökonomischen Entwicklung betont.

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Marxens voranschreitet. Was jedoch darüber hinaus eine genealogische Perspektive aufdecken kann, ist, dass mit ihm ein politisches Motiv verbunden ist. Im Folgenden werde ich nun zunächst die revolutionstheoretischen Implikationen, die das Produktivkraftentfaltungs-Paradigma in der ›reifen‹ Ökonomiekritik Marxens enthält, rekonstruieren (1), um in einem weiteren Schritt auf den Entstehungsherd dieses Nexus zurückzugehen und verständlich zu machen, dass der Anspruch Marxens und Engelsʼ, die kommunistische Bewegung der Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise ›materialistisch‹ aus deren zu ihrem Höhepunkt entfalteter innerer Widersprüchlichkeit zu erklären, keineswegs das Resultat einer überzeugenden wissenschaftlichen Analyse der Produktionsverhältnisse war. Im Gegenteil entsprang die Motivation für eine rein materialistische Begründung revolutionärer Bewegung, die der weiteren Forschung bereits vorausging, wesentlich auch dem politischen »Handgemenge« mit anderen sozialistischen und kommunistischen Strömungen, insbesondere denen, die Marx und Engels als »wahren Sozialismus« titulieren werden (2). Auf dieser genealogischen Klärung der Herkunft der materialistischen Revolutionsbegründung aufbauend werde ich schließlich diskutieren, wie sich Marxʼ Versuch, gegen jede philosophische Begründung der Möglichkeit des Kommunismus diesen einzig als objektives Resultat ökonomischer, noch gar nicht abgeschlossener Entwicklungen darzustellen, in einen performativen Widerspruch verstrickt, weil er mit diesem Paradigma Annahmen invisibilisiert, ohne die nicht nur dieses selbst gar nicht plausibel wäre, sondern die auch zentrale Argumente seiner Ökonomiekritik erst denkbar gemacht haben (3). Statt also das auch im Kapital noch durchschlagende historisch-materialistische Paradigma unmittelbar zu affirmieren oder aber einfach zu verwerfen, weil es sich in die (heute) gängige Auffassung davon, was den wissenschaftlichen Kernbestand der Kritik der politischen Ökonomie ausmache, nicht passend einfügt, soll es vielmehr als Indikator erfasst werden, von dem aus sich die weitgehende Unkenntlichmachung nicht gedeckter philosophisch-kommunistischer Annahmen im Kapital sowie dessen Anspruch und damit zugleich Last begreifen lassen, eine wissenschaftliche Begründung des Kommunismus zu sein.

1. »B ILDUNGSELEMENTE EINER NEUEN UND DIE U MWÄLZUNGSMOMENTE DER ALTEN G ESELLSCHAFT « Im kurzen, aber berüchtigten Abschnitt über die Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation – so die ab der zweiten Auflage des Kapital eingefügte Überschrift – formuliert Marx das Szenario einer Geschichte der Expro-

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priationen. Nach dem Muster der spekulativen Grundfigur Hegels folgt hier auf eine Epoche, in der der Arbeiter als Kleinbauer und Handwerker Eigentümer seiner Arbeitsbedingungen war, deren Negation durch das kapitalistische Privateigentum und die Ausbeutung fremder Arbeit, die wiederum selbst einen Zentralisationsprozess in Gang setzt, an dessen Ende die Negation der Negation folgen und die »Stunde des kapitalistischen Privateigenthums« (MEGA² II/5: 609) schlagen werde. Diese Prognose folgt weniger dem Muster einer Zusammenbruchstheorie, sondern entspringt einer Theorie der Entwicklung der Produktivkräfte, mit der ein wachsendes revolutionäres Bewusstsein einhergehe. Dessen Begründung kommt denkbar einfach daher und scheint vor allem darauf ausgerichtet zu sein, den Leserinnen und Lesern unmittelbar einleuchtend zu machen, dass hier tatsächlich eine bereits in der Logik der kapitalistischen Produktionsweise angelegte Entwicklung walte, die der »Nothwendigkeit eines Naturprozesses« (ebd.) folgt. Denn mit den Produktivkräften entwickele sich auch die »cooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Oekonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinirter, gesellschaftlicher Arbeit« (ebd.). Das Verblüffende an dieser Aufzählung ist nun, dass Marx hier Formen, die wesentlich einer kommunistischen Produktionsweise eignen, als immanentes Resultat der kapitalistischen Produktionsweise selbst präsentiert. Entsprechend ist der Beweggrund für deren revolutionäre Überwindung nicht die »Masse des Elends, des Drucks, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung«, deren Wachsen diese Entwicklung unter noch kapitalistischen Vorzeichen begleitet, sondern die Empörung der in der Produktion immer mehr und mit Bewusstsein vereinten Arbeiterklasse darüber, dass »alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses« von einer immer kleiner werdenden Zahl an »Kapitalmagnaten« eingestrichen werden (ebd.). Marx präsentiert hier die Verwandlung der Arbeiterklasse in eine revolutionäre Klasse als Effekt der kapitalistischen Produktivkraftentfaltung und unterstreicht diesen Mechanismus noch, indem er das Kapitel mit einem Verweis auf den berühmten Abschnitt aus dem Manifest der Kommunistischen Partei beschließt, in dem das Proletariat als selbstgemachter »Todtengräber« der Bourgeoisie dargestellt wird: Es sei der »Fortschritt«, die »Entwicklung der großen Industrie« selbst, die so »an die Stelle der Isolirung der Arbeiter durch die Kon-

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kurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Association« setzt (ebd.: 610, Fn. 252; vgl. MEW 4: 473 f.).5 Welchen Status haben nun diese Ausführungen im Rahmen der Gesamtargumentation des Kapital? Der wert- und kapitaltheoretischen Argumentation so äußerlich, wie gerne angenommen, ist dieses Unterkapitel schon allein deshalb nicht, weil es sich – und das ist bei seiner Kritik bislang unterbelichtet geblieben – zentral gegen Sozialismen wendet, die zurück zum kleinen Privateigentum an handwerklichen und bäuerlichen Produktionsmitteln wollen. Dass diesem aber eine Dynamik wesentlich ist, die notwendig auf Mehrwertproduktion und Kapitalakkumulation geht, derartige Verhältnisse also auf einem »gewissen Höhegrad […] die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt« bringen (MEGA² II/5: 608), ist aus werttheoretischer Sicht durchaus schlüssig, und es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass sich Marxʼ Werttheorie in nicht unerheblichem Maße auch der Auseinandersetzung mit dem Proudhonismus ver-

5

Im Kapital eine verelendungstheoretische Fundierung revolutionären Klassenkampfes zu erblicken, die ihre theoretische Begründung im Kapitel über Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Accumulation erhalte (so z.B. auch Paul Stephan im vorliegenden Band), ist hingegen nicht haltbar. Gegen solche Interpretationen, die sich einzig auf den oben zitierten Halbsatz über das Wachsen des Elends berufen können, ist zu halten, dass Marx im Akkumulations-Kapitel keinerlei Zusammenhang zwischen Verelendung und revolutionären Handlungen, geschweige denn revolutionärem Bewusstsein aufmacht, wie auch sonst sich in den Marxʼschen Schriften ab 1846 keine verelendungstheoretischen Begründungen der Revolution mehr finden. Die Marxʼsche Formulierung, dass das Elend, »aber auch die Empörung« (MEGA² II/5: 609; Herv. M.S.) wachse, ist im Gegenteil gerade nicht als konsekutiver oder gar kausaler Zusammenhang zu verstehen, sondern beide, Elend und Empörung, stellen zueinander im Kontrast stehende Folgen der hier geschilderten kapitalistischen Entwicklung dar – ein Kontrast, mit dem Marx, wie ich noch zeigen werde, die Opfer, die der Kapitalismus abverlangt, als notwendiges Übel hinstellt, durch das man halt hindurch müsse. Die revolutionstheoretische Inanspruchnahme ökonomischer Verelendung indes, die auch von Engels gegen Eugen Dühring klar zurückgewiesen wird (vgl. MEGA² I/27: 349 f.), geht insbesondere auf Rosa Luxemburgs Interventionen im Revisionismusstreit zurück und wurde schließlich von Lenin zugespitzt und kanonisiert; vgl. Wagner 1976: 22 ff. (der allerdings selbst jener Fehlinterpretation der Geschichtlichen Tendenz aufsitzt; vgl. ebd.: 19 f.); vgl. ferner Heinrich 2005: 127.

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dankt,6 der nicht zuletzt einer der Hauptgegner ist, auf den die hier diskutierten Ausführungen zielen. Während aber auch die kommunistische Zukunftsprognose diese Gegnerschaft widerspiegelt, ist ihr Anspruch auf wissenschaftliche Triftigkeit dennoch prekär. Allerdings tauchen derartige Prognosen nicht nur am Ende des Kapital im Abschnitt, der die historischen Grenzen der systematischen Darstellung nach Vergangenheit und (im soeben nachgezeichneten, sehr viel kürzeren Ausmaß) Zukunft hin überschreitet, sondern auch im zentralen Abschnitt über Die Produktion des relativen Mehrwerts auf, und zwar im langen Kapitel über Maschinerie und große Industrie, also jenem Teil, der eben die systematische Entfaltung der Produktivkräfte und ihre Auswirkung auf den Arbeitsprozess analysiert. Im Rahmen seiner Schilderung der Gesundheits- und Erziehungsklauseln in der englischen Fabrikgesetzgebung der 1860er Jahre konstatiert Marx zwar unzweideutig, dass die kapitalistische Form der großen Industrie »im ununterbrochnen Opferfest der Arbeiterklasse, maßlosester Vergeudung der Arbeitskräfte und den Verheerungen gesellschaftlicher Anarchie sich austobt« (ebd.: 399). Doch sei dies nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite schaffe nämlich die unaufhörlich fortschreitende technische Basis der modernen Industrie – und nicht etwa das wachsende Elend! – die »Umwälzungsfermente[...]« (ebd.: 400) der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Sie erst habe die Teilung der Arbeit, die gegenseitige Abhängigkeit der Arbeitszweige in einer Form vorangetrieben, die es erstmals ermögliche, sie als Ausdruck eines gesellschaftlichen Produktionsprozesses zu erkennen,7 und die diesen Produktionsprozess zudem zum prospektiven Gegenstand bewusster Planmäßigkeit mache. Zugleich revolutioniere die große Industrie somit den Arbeitsprozess in einer solchen Weise, dass sie, da dieser Prozess beständigen »Wechsel der Arbeit, Fluß der Funktion, allseitige Beweglichkeit des Arbeiters« (ebd.: 399) erfordere, gezwungen sei, die »möglichste Vielseitigkeit des Arbeiters als allgemeines gesell-

6

Vgl. zur Bedeutung der Auseinandersetzung mit Proudhon für die Kritik der politischen Ökonomie Spekker 2016, Brentel 1989: 191 ff. sowie den im vorliegenden Band publizierten Artikel von Lukas Egger.

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Es ist alles andere als Zufall, dass sich just in diesem Argumentationszusammenhang der andere der beiden einzigen Verweise Marxens auf das Kommunistische Manifest findet. Hier zitiert Marx die berühmte Passage, wonach in Folge der ununterbrochenen Produktivkraftentwicklung »[a]lles Ständische und Stehende verdampft […] und die Menschen […] endlich gezwungen [sind], ihre Lebensstellungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen zu anzusehn.« (MEGA² II/5: 399, Fn. 306; vgl. MEW 4: 465)

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schaftliches Gesetz der Produktion anzuerkennen, und die Verhältnisse seiner normalen Verwirklichung gemäß umzugestalten.« (Ebd.: 400) Weil die große Industrie also in einen Widerspruch zur kapitalistischen Form der Arbeitsteilung, zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen gerate, werde es für sie »zu einer Frage von Leben und Tod, […] das Theilindividuum, welches bloßer Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion ist, durch das total entwickelte Individuum, für welches die verschiednen gesellschaftlichen Funktionen ebenso viele verschiedne Bethätigungsweisen sind«, zu ersetzen (ebd.; Herv. M.S.). Wenn entsprechend die neuerlichen Fabrikgesetze, auch gegen die Interessen der einzelnen Kapitalisten, etwa die Kinderarbeit an gleichzeitige Beschulung knüpften, so verallgemeinerten sie letzten Endes nur Erfordernisse, die dem gesetzlichen Gang der großen Industrie selbst notwendig entsprängen, weshalb Marx hier mit Robert Owen konstatiert, dem Fabriksystem entsprieße »der Keim der Erziehung der Zukunft«, die in der Verbindung von produktiver Arbeit, Unterricht und Gymnastik die »einzige Methode zur Produktion vollseitig entwickelter Menschen« liefere (ebd.: 396).8 Auf den ersten Blick scheint allerdings die Argumentation, dass die moderne Produktivkraftentfaltung in Gestalt der großen Industrie das total entfaltete Individuum hervorbringe, im Widerspruch zur Entwicklung zu stehen, die Marx u.a. im Kapitel über Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Accumulation schildert: die Verdrängung geschickterer, vornehmlich männlicher Arbeitskräfte durch ungeschicktere, einfachere und schließlich auch billigere Arbeit (oft von Frauen und Kindern) (vgl. ebd.: 511 f.), die Reduktion der Arbeit auf einfachste Operationen infolge technischer Entwicklung. Dass es sich hier keineswegs um einen Widerspruch ›Allseitigkeit vs. Einfachheit‹ handelt, macht eine bemerkenswerte Formulierung im ökonomischen Manuskript von 1861-1863 deutlich, aus der ersichtlicher wird, was genau Marx unter vollseitiger Entwicklung versteht. Hier setzt er sich ausführlich mit den Analysen Andrew Ures auseinander, der als »schamloser Apologet des Fabriksystems« dessen »Geist« richtig aufgefasst habe, welcher sich u.a. in der »Aufhebung der Hierarchie der Fähigkeiten, […] Brechen der hinter ›der Theilung der Arbeit‹ verschanzten Specialitäten […], Unterwerfung unter den Stundenzeiger und die Fabrikgesetze [hier im

8

Bekanntlich sah Marx in einer gesetzlich stark regulierten und mit Unterricht verbundenen Kinderarbeit ein wichtiges zivilisatorisches, die allseitige Entwicklung des Individuums beförderndes Instrument, von dem er auch in seiner Kritik am ersten Programm der neugegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands 1875 schrieb, es sei »eins der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft« (MEGA² I/25: 25).

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Sinne der Gesetzmäßigkeiten der Fabrik; M.S.]« manifestiere (MEGA² II/3.6: 2022). Und genau hier erblickt Marx eine »wiedergewonnene Allgemeinheit des Arbeiters«, die im kapitalistischen Fabriksystem allerdings »nur an sich« existiere, »insofern er gleichgültig gegen seine Arbeit [ist], deren Inhalt ausser ihm liegt und sofern er keine Specialität entwickelt« (ebd.).9 Hier lenkt nicht der Mensch die Produktion, sondern (noch) die Fabrik den Menschen – seine Arbeit ist eine ihm entfremdete Tätigkeit. Doch es ist gerade die – unter den Vorzeichen des kapitalistischen Lohnsystems verheerende – zunehmende Einfachheit der Arbeit, die die Allgemeinheit des Arbeiters begründet: Sie schafft die Bedingungen, den Produktionsprozess in eigene Regie zu nehmen 10 – eine Regie, die aber nicht das einzelne Individuum übernimmt, sondern die bewusst gesellschaftlich handelnden Individuen gemeinsam »als Gesellschaftskörper« (MEGA² II/1.2: 581), deren Allgemeinheit somit zugleich eine »Universalität [ihrer] realen und ideellen Beziehungen« ist (ebd.: 440; Herv. M.S.).11 Marx begreift in seinen Reflexionen zur technischen Seite der Produktion des relativen Mehrwerts – und das ist die Klammer zum Kapitel über die Geschichtliche Tendenz – das moderne Fabriksystem als – wie er unter erneuter Berufung auf Owen schreibt – »Ausgangspunkt der socialen Revolution« (MEGA²

9

Schon im Elend der Philosophie hält Marx u.a. mit Ure gegen Proudhon, der zurück »zum Handwerksmeister des Mittelalters« wolle, dass die revolutionäre Seite der Fabrik gerade darin bestehe, »die Spezialisten und den Fachidiotismus«, also »jede besondere Entwicklung« beseitigt und so erst »das Bestreben nach einer allseitigen Entwicklung des Individuums fühlbar« gemacht zu haben (MEW 4: 157).

10 So zitiert Marx im Manuskript über mehrere Seiten hinweg zustimmend ganze Passagen aus dem Werk Die Bewegung der Production (1843) des linken Radikaldemokraten Wilhelm Schulz, der darlegt, wie durch die Fabrik und das Maschinenwesen der »Mensch … der verständige, mehr geistig als körperlich thätige Lenker und Leiter der Naturkräfte« werde und sein Produkt »nicht mehr im Verhältnis mit seiner eignen körperlichen Anstrengung« stehe (MEGA² II/3.6: 2089). Auch Schulz affirmiert hier nicht unmittelbar den Ist-Zustand im Fabrikwesen, sondern dessen Potential. Der mit der Maschinerie immer stärker sich zuspitzenden Ausbeutung ist er sich völlig bewusst – vgl. hierzu die ebenfalls sehr langen Passagen, die Marx bereits 1844 in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten wiedergibt (MEGA² I/2: 216 ff.). 11 Vgl. auch Marxʼ Bestimmung des Kommunismus als »[f]reie Individualität, gegründet auf die universelle Entwickelung der Individuen und die Unterordnung ihrer gemeinschaftlichen, gesellschaftlichen Productivität als ihres gesellschaftlichen Vermögens« (MEGA² II/1.1: 91).

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II/5: 408, Fn. 322), weil es »die Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungselemente der alten Gesellschaft« (ebd.: 408) heranreife. All das kommt nun zwar weniger deterministisch daher als die behauptete »Nothwendigkeit eines Naturgesetzes«, mit der sich die »Negation der Negation« vollziehen werde (ebd.: 609), doch wird man Marxʼ Argumentation und der ihr zugrunde liegenden Intention in gleich doppelter Hinsicht nicht gerecht, wenn man hier nun lediglich – wie das exemplarisch Heinrich tut – »die materiellen (und nicht bloß erdachten) Möglichkeiten einer neuen Gesellschaftsformation« formuliert sieht, mit denen Marx »zugleich die Widersprüche und Auflösungstendenzen, die in der kapitalistischen Produktionsweise angelegten ›Minen‹« aufzeigen könne (Heinrich 1997: 137). Denn zum einen begreift Marx diese erst im Zuge der Produktivkraftentwicklung entstehenden Möglichkeiten als notwendige Bedingung für eine Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse, und zum anderen geht es hier keineswegs nur um die materiellen (i.S.v. technischen) Voraussetzungen für die Durchsetzung einer kommunistischen Planmäßigkeit der Produktion, sondern entsprechend dem materialistischen Paradigma, dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, um die materiellen Bedingungen, erst unter denen die Arbeiter/-innen sich nicht bloß über ihr Elend empörten, sondern revolutionäres Bewusstsein entwickelten. Dass diese beiden Aspekte im Kapital nicht sofort ins Auge springen, hat nicht zuletzt mit den systematischen Darstellungsebenen zu tun, auf denen sich Marx hier noch bewegt und von denen aus der gedankliche Übergang zu konkreten Auflösungserscheinungen des Kapitals und zur Handlungsebene revolutionärer Akteurinnen und Akteure als unvermittelter Sprung erscheinen muss.12 Deutlicher werden diese revolutionstheoretischen Dimensionen des Produktivkraftentfaltungs-

12 Entsprechend ist hier vom Klassenkampf jenseits seiner für die Marxʼsche Erklärung des Übergangs von absoluter zu relativer Mehrwertproduktion relevanten Gestalt (als Kampf um die Länge des Arbeitstags und höhere Löhne) auch gar keine Rede. Wenn wiederum Axel Honneth am Kapital die Abwesenheit der konkret handelnden Akteure und ihrer normativen Orientierungen kritisiert, ist das zwar offenkundig auch Ausdruck seines Unverständnisses der systematischen Darstellungsebenen, auf denen sich die Marxʼsche Kritik hier bewegt, doch hat er, wie noch deutlich werden soll, nichtsdestotrotz nicht ganz unrecht, wenn er Marx vorwirft, die Individuen strukturalistisch auf ökonomisch determinierte Kollektivsubjekte zu reduzieren (vgl. Honneth 2011: 587 ff.).

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Paradigmas in der Marxʼschen Kritik der politischen Ökonomie, wenn man sich den Grundrissen zuwendet.13 Schon aus den Ausführungen im Kapitel vom Geld wird sehr viel ersichtlicher als aus der Darstellung im Kapital, dass es Marx nicht nur um die werttheoretische Erklärung der Produktivkraftentwicklung unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen geht, sondern er diese als notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zum Kommunismus begründen will, da erst sie die »materiellen Productionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine Klassenlose Gesellschaft verhüllt« (MEGA² II/1.1: 92) enthielten und die »Uebergangsbedingung« (ebd.: 94) zu dieser schüfen. Denn erst das Kapital zerstöre alle naturwüchsigen, bornierten Verhältnisse der Individuen, indem es durch die tauschwertbasierte Produktion das Individuum »von sich und von andren« entfremdet, so »aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst producirt« (ebd.). Es ist die »grosse geschichtliche Seite« (ebd.: 241), »the great civilising influence« (MEGA² II/1.2: 322) des Kapitals, durch die »äusserste Form der Entfremdung« hindurch (ebd.: 417), in der dem Individuum in den Wertformen sein gesellschaftliches Vermögen gegenübertritt, die gesellschaftlichen Produktivkräfte, die »universelle Aneignung der Natur wie des gesellschaftlichen Zusammenhangs durch die Glieder der Gesellschaft« (ebd.: 322) zu entwickeln, denn erst auf einem solchen Ent-

13 Insofern ist es etwas verwunderlich, dass Heinrich in seinem kritischen Artikel gegen die Geschichtsphilosophie bei Marx die Grundrisse nur soweit behandelt, als der hier formulierte »processirende Widerspruch« (MEGA² II/1.2: 582) der fortwährenden Minimierung der einzigen Wertquelle Arbeitszeit, den Heinrich als Zusammenbruchstheorie deutet, in den späteren ökonomischen Manuskripten und im Kapital in der Behandlung des relativen Mehrwerts aufgeht, wo die Möglichkeit des Zusammenbruchs schließlich nicht mehr vorkommt (vgl. Heinrich 1997: 134 f.). Dass die Grundrisse jedoch sehr viel häufiger und umfänglicher als das Kapital und ausgerechnet auch an der hier diskutierten Stelle revolutionstheoretische Überlegungen und Prognosen enthalten, spricht Heinrich nicht an. So wird aber – wenngleich wohl unbeabsichtigt – der Eindruck erweckt, dass das problematische Paradigma in der Kritik der politischen Ökonomie nur noch an unbedeutenden Stellen, etwa im Kapitel über die Geschichtliche Tendenz, auftauche, was Heinrichs Grundthese natürlich sehr entgegenkommt. Inwieweit das Produktivkraftentfaltungs-Paradigma im Marxʼschen Werk z.T. auch krisen- bzw. zusammenbruchstheoretische Implikationen hat oder von Marx in diese Richtung ausformuliert wird, soll im vorliegenden Artikel nicht näher verfolgt werden.

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wicklungsstand werde die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse reale Möglichkeit und schließlich deren »leztes Resultat« (ebd.: 587). Während Marx nun aber im Kapital mit der Produktivkraftentfaltung hauptsächlich die materiellen Voraussetzungen einer kommunistischen Produktionsweise (ansatzweise) darstellt, erörtert er in den Grundrissen immer wieder explizit die auf dieser Grundlage sich vollziehende Entwicklung revolutionärer Subjektivität, ohne die auch von »Bildungselemente[n] einer neuen […] Gesellschaft« (MEGA² II/5: 408) zu reden schlechterdings unsinnig wäre – denn letztere bildet sich nicht von selbst, sondern wird von Menschen gebildet: »Die Erkennung der Producte als seiner eignen und die Beurtheilung der Trennung von den Bedingungen seiner Verwirklichung als einer ungehörigen, zwangsweisen – ist ein enormes Bewußtsein, selbst das Product der auf dem Capital ruhenden Productionsweise« (MEGA² II/1.2: 371; Herv. M.S.).

Marx weiß, dass die Produktivkraftentwicklung nur die Basis der »wirkliche[n] Entwicklung der Individuen« sein kann, wenn ihre Schranke – die kapitalistische Produktionsweise – auch »als Schranke gewußt ist, nicht als heilige Grenze gilt« (ebd.: 440). Das Bewusstsein habe aber selbst immer eine Schranke, da sie dem jeweiligen »bestimmten Grad der Entwicklung der materiellen Productivkräfte« (ebd.: 439) entspreche. Wie entsteht laut Marx also revolutionäres Bewusstsein, das die kapitalistischen Verhältnisse als verkehrte und durch eine kommunistische Gesellschaft zu ersetzende erkennt? – Offenbar einzig als Resultat dieser Verhältnisse selbst. (Vgl. ebd.: 623) Diesen Punkt macht Marx entsprechend an keiner Stelle so deutlich wie im Kapitel über Fixes Kapital und Entwicklung der Produktivkräfte der Gesellschaft: Im Zuge der Produktivkraftsteigerung durch die große Industrie reduziere sich die aufzuwendende Arbeit im Vergleich zum fixen Kapital immer weiter, der Mensch erhebe sich zum »Wächter und Regulator« über den Produktionsprozess, er entwickele sich zum gesellschaftlichen Individuum und erkenne sich so »als der grosse Grundpfeiler der Production und des Reichthums« (ebd.: 581), damit aber auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als borniert gegen die von ihr selbst hervorgebrachte Entwicklung: »Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichthum beruht, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die grosse Industrie selbst geschaffne.« (Ebd.)14

14 Die hier vorgebrachte Begründung revolutionären Bewusstseins hat jüngst noch einmal der Guido Starosta stark gemacht, der hier exemplarisch hervorgehoben werden

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Es soll an dieser Stelle nun nicht darum gehen, nach der Rekonstruktion der in Marxʼ Kritik der politischen Ökonomie vorhandenen revolutionstheoretischen Überlegungen die Analyse mit einem (recht unschweren) Urteil darüber abzuschließen, ob Marx eine in den kapitalistischen Verhältnissen angelegte Entwicklung beweisen oder doch nur ihre Möglichkeit aufzeigen konnte. Viel entscheidender ist die Frage, was Marx eigentlich dazu getrieben hat, die »transitorische[...] Nothwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise« (MEGA² II/5: 477) nachzuweisen zu versuchen, von der er dermaßen überzeugt schien, dass ihm auf die Feststellung, dass allein in den englischen Kohlenwerken zwischen 1851 und 1861 etwa 10.000 Menschen getötet worden waren (vgl. MEGA² II/3.1: 324), geradezu zynisch folgendes durch die Schreibfeder ging:

soll, weil sich in seiner Kritik an ›neuer Marx-Lektüre‹ und ›Open Marxism‹ im Grunde genau der Widerspruch offen ausdrückt, der – wie in den folgenden Kapiteln plausibilisiert werden soll – die Marxʼsche Kritik der politischen Ökonomie im Innersten durchzieht. Starosta hält gegen Theoretiker wie Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt (›neue Marx-Lektüre‹) einerseits, Werner Bonefeld, Richard Gunn und Adrian Wilding (›Open Marxism‹) andererseits, dass die von beiden Gruppen gleichermaßen geteilte Feststellung, die Individuen unter kapitalistischen Verhältnissen seien einzig Personifikationen ökonomischer Kategorien, zwar aufschlussreich sei, in ihrer konkreten Begründung aber zu kurz greife. Sie alle reduzierten nämlich den Kern der Kritik der politischen Ökonomie auf eine reductio ad hominem, wonach Marx die ökonomischen Kategorien auf ihren menschlichen Ursprung zurückführe. (Vgl. Starosta 2017: 367) Dadurch werde es ihnen jedoch unmöglich, revolutionäre Subjektivität plausibel zu begründen, und während erstere Gruppe diese Frage ohnehin umgehe, griffen die Vertreter der letzteren in unterschiedlicher Weise auf »a moment of exteriority to capitalist social relations« (ebd.: 369) zurück – auch dort, wo sie etwa, wie Bonefeld an Adornos Negative Dialektik anknüpfend, das in der begrifflichen Zurichtung nicht Aufgehende im Subjekt zum Ort der Subversion machten (vgl. ebd.: 373). Starosta hingegen betont, dass der Wert als Kapital höchstselbst das Subjekt der Entwicklung sei, die im Zuge der reellen Subsumtion aus der Arbeiterin bzw. dem Arbeiter ein Subjekt mache, »that is fully and objectively aware of the social determinations of her/his individual powers and activity and who therefore consciously recognises the social necessity of the expenditure of her/his labour power in organic association with the other producers.« (Ebd.: 391) Die »revolutionary political consciousness of the working class«, die die mit dieser entfalteten Universalität im Widerspruch stehenden Produktionsverhältnisse abschaffen werde, könne daher nichts anderes sein als »a concrete mode of existence of their productive consciousness« (ebd.).

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»It is, in fact, only at the greatest waste of individual development that the development of general men is secured in those epochs of history which prelude to a socialist constitution of mankind. › Sollte diese Qual uns quälen, Da sie unsre Lust vermehrt, Hat nicht Myriaden Seelen Timurʼs Herrschaft aufgezehrt?‹« (Ebd.: 327)15

2. D ER E NTSTEHUNGSHERD

DES

P ARADIGMAS

Geht man zurück zum Entstehungsherd dieses Produktivkraftentfaltungs-Paradigmas, sieht man sich mit einer kaum entwirrbaren Gemengelage konfrontiert, die – wie wohl kein anderer Abschnitt in Marxʼ und Engelsʼ Biografie – gekennzeichnet ist von z.T. radikalen philosophischen Brüchen, persönlichen und politischen Spaltungen, Ausschlüssen und Neuorientierungen: Innerhalb der wenigen Monate von Herbst 1845 bis Frühjahr 1846 bringen die beiden eine materialistische Geschichtstheorie zu Papier, die nicht nur den entscheidenden Einspruch gegen die soeben selbst noch weitgehend geteilte Philosophie Ludwig Feuerbachs liefern soll, sondern zur effektiven Waffe im Parteibildungsprozess wird. Den Anstoß für das in Form einer Vierteljahresschrift angedachte Großprojekt, das, zu Lebzeiten von Marx und Engels nie veröffentlicht, unter dem Titel Die deutsche Ideologie berühmt werden sollte, gaben Bruno Bauer und Max Stirner.16 Nach längerer Nichtbeachtung der Heiligen Familie hatte Bauer

15 Die hier nur minimal vom Original abweichende vierte Strophe von Goethes An Suleika aus dessen Gedichtsammlung West-Östlicher Divan (1819/1827) zitiert Marx noch einmal in nahezu identischem Zusammenhang im Ökonomischen Manuskript 1863-1865 (MEGA² II/4.2: 125) sowie prominent bereits 1853 in The British Rule in India (MEGA² I/12: 173). Vgl. für die sich hier ausdrückende Haltung Marxens auch seine Bemerkung, die sentimentalen Kritiker der Ricardoʼschen Ansichten zu einer »Production um der Production halber« hätten vergessen, dass die »Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch« (hier nicht im noch zu erörternden Feuerbachʼschen, sondern in einem quasi zoologischen Sinne), »die höhre Entwicklung der Individualität nur durch einen historischen Proceß erkauft wird, worin die Individuen geopfert werden« (MEGA² II/3.3: 768). 16 Siehe zur Entstehungsgeschichte der Manuskripte zur Deutschen Ideologie die ausführliche (und mit manch tradierter Fehlannahme aufräumende) Einführung von Ulrich Pagel, Gerald Hubmann und Christine Weckwerth im wissenschaftlichen Ap-

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im Herbst 1845 in seinem Artikel Charakteristik Ludwig Feuerbachs endlich auf die Kritik Marxens und Engelsʼ reagiert, sie aber als bloße »Consequenzen Feuerbachs« hingestellt. Dieser Vorwurf hat Marx und Engels nicht nur zu einer Replik herausgefordert, weil sie in den vorangegangenen Monaten begonnen hatten, jenseits der Feuerbachʼschen Philosophie eigenständig ökonomische Studien zu betreiben, sondern war vor allem deshalb so gravierend, weil Bauer den Kommunismus als bloßen Feuerbachianismus denunzierte (vgl. MEGA² I/5: 155 [MEW 3: 91]). In dasselbe Horn stieß auch Stirner in seinem bereits ein Jahr zuvor erschienenen Buch Der Einzige und sein Eigentum, wo er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Feuerbach den Kommunismus als bloße Propagierung der Philosophie vom menschlichen Wesen, dem Menschen usw., also als selbst noch religiös befangen kritisiert hatte (vgl. ebd.: 259 ff. [186 ff.]).17 Marxʼ und Engelsʼ schriftliche Auseinandersetzung mit Feuerbach, die schnell die Gestalt einer materialistischen Geschichte der Arbeitsteilung, der Produktivkräfte und des Privateigentums annahm, entstand zunächst in genau diesem Rahmen und war Teil der Manuskripte ihrer Bauer- und Stirner-Kritik, bevor sie sie dann als Konvolut für ein später auszuarbeitendes eigenständiges Kapitel »I. Feuerbach« auskoppelten.18

parat zur jüngst erschienenen Neuedition in der Marx-Engels-Gesamtausgabe; Pagel/Hubmann/Weckwerth 2017: 725-799. 17 »Charakteristisch ist es aber, daß die Heiligen Bruno & Max die Vorstellung Feuerbachs vom Kommunisten sogleich an die Stelle des wirklichen Kommunisten setzen, was theilweise schon deswegen geschieht, damit sie auch den Komunismus als ›Geist vom Geist‹, als philosophische Kategorie, als ebenbürtigen Gegner bekämpfen können« (MEGA² I/5: 57 [MEW 3: 42]). 18 Dazu ist es de facto nie gekommen; das in der ersten MEGA¹ 1932 publizierte und so auch später in den MEW vorliegende Kapitel ist eine vom Marx-Engels-Lenin-Institut der Kommunistischen Partei der Sowjetunion besorgte Kompilation von Textteilen aus mehreren Manuskripten. Um zumindest eine Ahnung davon zu vermitteln, wie hier verschiedene Abschnitte aus insgesamt neun unterschiedlich langen Manuskripten in einen neuen Zusammenhang gebracht worden sind, nicht zuletzt aber auch deshalb, weil die neuedierte Deutsche Ideologie selbst in vielen Fachbibliotheken zum Zeitpunkt der Veröffentlichung meines Artikels noch nicht vorliegt, gebe ich bei Verweisen auf MEGA² I/5 auch die jeweilige Stelle in MEW 3 an.

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Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die gesamte Feuerbachkritik Marxens und Engelsʼ zu rekonstruieren.19 Stattdessen ist zu klären, wie hier erstmals in aller Deutlichkeit das Produktivkraftentfaltungs-Paradigma auftritt, wie Marx und Engels es begründen und in welchem Zusammenhang es zu den konkreten theoretischen und politischen Auseinandersetzungen steht, in denen sie während dieser Zeit steckten. Das Argumentationsmuster, mit dem Marx und Engels insbesondere auf Stirners Feuerbachkritik reagieren, folgt grundsätzlich der Strategie, den innerphilosophischen, und das heißt hier zentral: den feuerbachianischen Diskurs so weit zu verlassen bzw. zu überschreiten, dass die Feuerbachʼschen Kategorien nicht mehr unmittelbar verteidigt, nichtsdestotrotz aber auch Stirners plumpem Empirismus keine Konzessionen gemacht werden. Statt wie Stirner gegen die von ihm als selbst noch abstrakt kritisierte vermeintliche Unmittelbarkeit Feuerbachʼscher Kategorien wie ›der Mensch‹ oder das ›Gattungswesen‹ den unmittelbar konkreten, je individuellen Menschen, also Stirners ›Einzigen‹ zu halten und jede Form von Vermittlung abzuweisen, geht es Marx und Engels darum, die materiellen Vermittlungsstrukturen offenzulegen, die hinter den Feuerbachʼschen (sowie generell den (jung-)hegelianischen) Abstrakta stehen. Das zentrale materialistische Motiv, wie Marx es apodiktisch bereits in seinen – unmittelbar nach seiner ersten Lektüre von Stirners Einzigem notierten – Thesen ad Feuerbach ausdrückt, ist die Aufdeckung der »gesellschaftlichen Verhältnisse«, deren »ensemble« (MEGA² IV/3: 21) der Mensch sei. (Vgl. Arndt 1985: 53 ff.) Auch die materialistische Kritik des Bauerʼschen Selbstbewusstseins verfährt auf diese Weise. Interessant ist nun, wie rigoros Marx und Engels diesen Ansatz gleich zu Beginn ihrer Arbeit an der Deutschen Ideologie auf den Anspruch zuspitzen, »den wirklichen Produktionsprozeß, & zwar von der materiellen Produktion des unmittelbaren Lebens ausgehend, zu entwickeln & die mit dieser Produktionsweise zusammenhängende & von ihr erzeugte Verkehrsform, also die bürgerliche Gesellschaft in ihren verschiedenen Stufen als Grundlage der ganzen Gesellschaft aufzufassen & […] die sämmtlichen verschiedenen theoretischen Erzeugnisse & Formen des Bewußtseins, Religion, Philosophie, Moral &c &c aus ihr zu erklären u. ihren Entstehungsprozeß aus ihnen zu verfolgen« (MEGA² I/5: 45 [MEW 3: 37 f.]; Herv. M.S.).

19 Ebensowenig sollen mit den folgenden Problematisierungen grundsätzlich die wichtigen Kritikpunkte infrage gestellt werden, die Marx und Engels an Feuerbachs Sensualismus und Naturalismus vorbringen.

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Diesen Gedanken setzen Marx und Engels in mehreren Anläufen in Form einer Geschichte der Arbeitsteilung und dieser entsprechender Eigentumsformen um und formulieren in dem Zusammenhang das in dieser Form klassisch gewordene geschichtsmaterialistische Theorem: »Diese verschiedenen Bedingungen [des Produzierens; M.S.], die zuerst als Bedingungen der Selbstbethätigung, später als Fesseln derselben erschienen, bilden in der ganzen geschichtlichen Entwicklung eine zusammenhängende Reihe von Verkehrsformen, deren Zusammenhang darin besteht, daß an die Stelle der früheren, zur Fessel gewordenen Verkehrsform, eine neue, den entwickelteren Produktivkräften & damit der fortgeschrittenen Art der Selbstbethätigung der Individuen entsprechende gesetzt wird, die à son tour wieder zur Fessel & dann durch eine andre ersetzt wird. Da diese Bedingungen auf jeder Stufe der gleichzeitigen Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen, so ist ihre Geschichte zugleich die Geschichte der sich entwickelnden & von jeder neuen Generation übernommenen Produktivkräfte & damit die Geschichte der Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst.« (Ebd.: 103 f. [72])

Dieses in der Deutschen Ideologie an etlichen Stellen ausgebreitete Theorem der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen (bzw. -bedingungen) (vgl. z.B. ebd.: 88 [60]; 89 f. [73 f.]; 487 f. [417]; 496 f. [424 f.]) lässt sich – in auffälligem Kontrast zum Status, den es im Traditionsmarxismus bekommen sollte – kaum als belastbares Ergebnis umfangreicher wissenschaftlicher Forschung behaupten (vgl. Reichelt 1983: 41 f.), doch wird es für Marx und Engels zur zentralen Grundlage der politisch folgenreichen Behauptung, dass mit der »großen Industrie« als Resultat der Produktivkraftentfaltung »auch die Aufhebung des Privateigenthums erst möglich« sei (ebd.: 70 f. [66]; Herv. M.S.). Dieses Paradigma unterfüttern Marx und Engels mit einem ganzen Arsenal an Begründungen. Auf der einen Seite stehen hier Überlegungen über bestimmte technische und erst mit der großen Industrie sich entfaltende notwendige Voraussetzungen für eine kommunistische Produktionsweise, etwa die Entwicklung von schnellen Kommunikationsmitteln (vgl. ebd.: 91 [61]) oder generell einem Produktionsniveau, ohne welches »nur d. Mangel \ Nothdurft verallgemeinert, also mit der Nothdurft auch der Streit um das Nothwendige wieder beginnen u. die ganze alte Scheisse sich herstellen müßte« (ebd.: 38 [34 f.]). Nun reflektieren Marx und Engels hier aber keineswegs nur über den Produktivkraftstand, der erreicht sein müsste, damit der kommunistische Grundsatz »Jeder nach seinen Fähigkeiten, Jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEGA² I/25: 15) auch praktisch umsetzbar wäre, sondern sie wollen – entsprechend ihrer Geschichtstheorie – die völlige Entfaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse als notwendige Vor-

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bedingung eines revolutionären Umsturzes begründen. In dieser Logik vollziehen sich im Grunde nach dem Vorbild der Hegelʼschen List der Vernunft die durch fortschreitende kapitalistische Arbeitsteilung sich entfaltenden Produktivkräfte als »nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des Privateigenthums« (MEGA² I/5: 110 [MEW 3: 67]) naturwüchsig über den Individuen, die durch ihr Handeln nur bewusstlos als gesellschaftlicher Zusammenhang wirken. Erst die so entfaltete große Industrie – »die zu einer Totalität entwickelten & nur innerhalb eines universellen Verkehrs existirenden Produktivkräfte« – schaffe die notwendigen Voraussetzungen zu ihrer kollektiven Aneignung, die »selbst weiter nichts [ist] als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten.« (Ebd.: 112 [67 f.]; Herv. M.S.)20 Kein Bauerʼsches Selbstbewusstsein, kein Feuerbachʼsches menschliches Wesen, natürlich auch kein Stirnerʼsches Ich bestimmt hier die soziale Revolution, sondern einzig die objektive materielle Entwicklung der ökonomischen Kräfte. Entsprechend ist auf der anderen Seite für Marx und Engels revolutionäres Bewusstsein genauso wie jegliches Bewusstsein bedingt »durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte & des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Anderes sein als das bewußte Sein, & das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß« (ebd.: 135 [26]).21 In Übereinstimmung mit der späteren Argumentation in den ökonomiekritischen Schriften wird in der Deutschen Ideologie erstmals generell revolutionäres Bewusstsein als Konsequenz der Stellung im entfalteten kapitalistischen Pro-

20 In Grundzügen findet sich dieser Gedanke schon 1844 in den ÖkonomischPhilosophischen Manuskripten, wo Marx in Auseinandersetzung mit Smiths, Says, Skarbeks und James Mills Überlegungen zur Arbeitsteilung schreibt: »Eben darin, daß Theilung der Arbeit und Austausch Gestaltungen des Privateigenthums sind, eben darin liegt der doppelte Beweis, sowohl daß das menschliche Leben zu seiner Verwirklichung des Privateigenthums bedurfte, wie andrerseits, daß es jetzt der Aufhebung des Privateigenthums bedarf.« (MEGA² I/2: 313) Allerdings fehlen hier noch – entsprechend der noch starken Verwurzelung Marxens in der Feuerbachʼschen Philosophie – die Implikationen einer rein materialistischen Revolutionstheorie. Marx geht stattdessen an dieser Stelle dazu über, sich abschließend Gedanken über die alles verkehrende Macht des Geldes zu machen. 21 Ein Jahr später wird Marx es im Elend der Philosophie dann folgendermaßen auf den Punkt bringen: »Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten.« (MEW 4: 181)

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duktionsprozess bestimmt, der erst die so abstrakt entwickelten Individuen »als Individuen miteinander in Verbindung […] treten« lasse (ebd.: 111 [67]). Erst der mit den entfalteten Produktivkräften entstandene universelle Verkehr der Menschen setze »weltgeschichtliche, empirisch universelle Individuen an die Stelle der lokalen« (ebd.: 38 [35]), die Revolution sei entsprechend die Verwirklichung dessen, was bis hier als gewissermaßen an sich existierend geschaffen worden sei: die »Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen« (ebd.: 113 [68]).22 Diese Argumentationsgänge, die die materialistische Geschichtsauffassung begründen sollen, stehen also im Wesentlichen in den Manuskripten für ein projektiertes Feuerbach-Kapitel, und dass sie einen fundamentalen Einspruch gegen Feuerbach darstellen, daran lassen auch Marx und Engels keinen Zweifel, wenn sie etwa schreiben, dass »der Mensch«, wie ihn die Philosophen als »treibende Kraft der Geschichte dargestellt« haben (ebd.: 114 [69]), real erst das Resultat des geschichtlichen Prozesses sei, wie er bis hier skizziert wurde. Tatsächlich aber, so möchte ich verdeutlichen, haben Marx und Engels hier weniger den Philosophen aus Bayern zum Hauptgegner, als vielmehr den sich insbesondere an Feuerbach anlehnenden deutschen Kommunismus und Sozialismus – was sich umso mehr erhellt, je stärker man den Blick auch auf die politischen Konflikte richtet, die Marx und Engels in dieser Zeit ausfechten: Dass Bauer und Stirner mit ihren nun von Marx und Engels kritisierten Schriften nicht einfach zu einer innerphilosophischen Debatte beitragen wollten, sondern politisch interveniert haben, ist bereits erwähnt worden. Ihr Gegner ist der Kommunismus, und indem sie sich auf Feuerbach stürzen, greifen sie ihn in seinen Grundfesten an, denn: Der deutsche bzw. deutschsprachige Kommunismus und Sozialismus in der Zeit des Vormärz ist feuerbachianisch. Das gilt für seine publizistischen Organe ebenso wie für die führenden theoretischen Köpfe dieser Bewegung, etwa, wie Engels auflistet, Moses Hess, Karl Grün, Otto Lüning, Hermann Püttmann – und Marx und Engels! (Vgl. MEW 2: 512) Nicht nur war Marxʼ und Engelsʼ Denken ebenso stark von den Feuerbachʼschen Schriften, allen voran Das Wesen des Christentums (1841) und die Grundsätze

22 Auf die z.T. erheblichen Unterschiede in der Bestimmung der Gründe für die Entfaltung der Produktivkräfte, die es zwischen der Deutschen Ideologie und der reifen Ökonomiekritik Marxens gibt (vgl. hierzu z.B. Reichelt 1983: 50-55), werde ich nicht weiter eingehen. Worum es mir in meinem Artikel geht, ist das sich durchziehende Motiv Marxens, die Entstehung kommunistischen Bewusstseins und die Abschaffung der kapitalistischen Verhältnisse materialistisch aus einer gesetzmäßigen ökonomischen Entwicklung zu erklären.

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der Philosophie der Zukunft (1843), beeinflusst wie das der anderen Denker; auch die persönlichen und politischen Verbindungen dieser jungen Radikalen untereinander waren teilweise recht eng, und man begriff sich nach außen hin, wie aus Engelsʼ anonym verfasstem Artikel für Robert Owens New Moral World im Dezember 1844 deutlich wird, als eine Bewegung. Die Motive ihrer Schriften und Artikel glichen sich stark, sei es die Übersetzung des Feuerbachʼschen Humanismus in Sozialismus respektive Kommunismus (und vice versa), sei es die Vorstellung von der kritischen (deutschen) Philosophie als Kopf und dem Proletariat als Herz der Revolution, sei es die Anwendung der religionskritischen Projektionsthese auf die ökonomischen und politischen Gestaltungen des menschlichen Zusammenlebens.23 Die philosophische Grundierung des deutschen Kommunismus sah man nicht als Defizit gegenüber den proletarischen Bewegungen in Frankreich und England an, sondern stellte die Eigenständigkeit des deutschen Beitrags heraus. So schrieb auch Engels noch in seiner im Frühjahr 1845 erschienenen Studie Die Lage der arbeitenden Klasse in England in Übereinstimmung mit Hessʼ Die europäische Triarchie: »Die industrielle Revolution hat für England dieselbe Bedeutung wie die politische Revolution für Frankreich und die philosophische für Deutschland« (ebd.: 250; vgl. Stedman Jones 1988: 251 f.). Auch versuchte man, Feuerbach persönlich von den kommunistischen Konsequenzen seiner Philosophie zu überzeugen;24 entsprechend freudig fiel Engelsʼ Mitteilung in seinem zweiten anonymen Artikel über den Raschen Fortschritt des Kommunismus in Deutschland in der New Moral World vom 2. Februar 1845 aus, dem zufolge sich Feuerbach nun in Reaktion auf Stirners Angriffe als Kommunist bezeichne und mit seiner Begeisterung für Wilhelm Weitlings Garantien der Harmonie und Freiheit (1842) jetzt die Verbindung hergestellt sei, die Marx in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie prognostiziert hatte (Philosophie und Proletariat als ›Kopf und Herz der Revolution‹). (Vgl. MEW 2: 515) Wie erklärt sich aber dann der Bruch zunächst mit Feuerbach, Grün, den Rheinischen Jahrbüchern und kurz darauf auch mit Hess, der selbst zeitweise an der Deutschen Ideologie beteiligt gewesen war und bereits vor Marx eine Kritik an Stirner verfasst hatte? Warum kritisierten Marx und Engels die deutschen Kommunisten und Sozialisten, mit denen zusammen sie sich noch bis in die Mitte des Jahres 1845 hinein als einige Bewegung verstanden hatten (vgl. ebd.:

23 Vgl. ausführlicher zu dieser anfänglichen Gemeinsamkeit Matthias Bohlenders Artikel im vorliegenden Band. 24 Vgl. etwa Marxʼ Brief an Feuerbach vom 11. August 1844 (MEGA² III/1: 63 ff.) sowie Engelsʼ Auskunft an Marx von Februar/März 1845 (MEGA² III/1: 266 f.).

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515 ff.), nun als »wahre Sozialisten«, denen sogar ein eigenes großes Kapitel in der Deutschen Ideologie gewidmet werden sollte? Hier lohnt es, sich noch einmal vor Augen zu führen, dass Marx und Engels zu der Zeit, als sie das Produktivkraftentfaltungs-Paradigma ausformulierten, tief in den Organisationsdebatten und -kämpfen der im Entstehen begriffenen europäischen Arbeiterbewegung verstrickt waren. Dieses Handgemenge ist gerade auch deshalb zu berücksichtigen, weil die argumentativen Waffen, mit denen in der Deutschen Ideologie Feuerbach und seine Anhänger bekämpft werden, keineswegs allein das Resultat einer rein immanenten Kritik der Philosophie des Gattungswesens sind. Jenes Paradigma hat im Gegenteil von vornherein eine politische Schlagseite. Die sich vor allem im Frühjahr 1846 in Brüssel abspielenden Kämpfe in befriedigendem Maße darzustellen, bedürfte indes einer eigenen umfangreichen Studie;25 stattdessen mögen an dieser Stelle einige Schlaglichter ausreichen: Zu dieser Zeit versuchten sich Marx und Engels an der Etablierung sogenannter Kommunistischer Korrespondenz-Komitees, es ging ihnen um die Organisierung einer europäischen Partei mit einer gemeinsamen verbindlichen Lehre und einer einheitlichen Strategie. Hier kam es im Brüsseler Komitee am 30. März 1846 zum offenen Eklat Marxens mit der damaligen Zentralfigur des Bundes der Gerechten, dem Handwerkerkommunisten Wilhelm Weitling, sowie mit den Anhängern Karl Grüns, aber auch zur zunehmenden Entfremdung mit dem auf eine plurale Bewegung setzenden Hess, der zu dieser Zeit die Ausschlusspraxis der »Sichtung«, die Marx und Engels nun forcieren, zunächst noch mittrug. Den Kern der Marxʼschen Vorwürfe fasst Weitling selbst in einem Brief an Hess folgendermaßen zusammen: »Der ›Handwerkerkommunismus‹, der ›philosophische Kommunismus‹ müssen bekämpft werden, das Gefühl muß verhöhnt werden, das ist bloß so ein Dusel« (Weitling 1983: 307). Ein wesentliches Motiv ist also dies: Weder mit einer auf moralische Menschenliebe und zünftlerische Traditionen setzenden Handwerkerbewegung noch mit einer wirklichkeitsfremden »Literaturbewegung« (MEGA² I/5: 517 [MEW 3: 443]) lässt sich eine politisch schlagkräftige kommunistische Bewegung machen!26 Das Gleiche gilt auch für Proudhon, den man zunächst noch als Pariser Korrespondenten zu gewinnen getrachtet hatte, mit dem der Bruch kurz darauf aber ebenfalls vollzogen wurde, da er – statt die revolutionäre Umwälzung der Produktionsweise – die über den

25 Siehe zu diesem Entstehungsherd des »kritischen Kommunismus« insbesondere Bohlender 2016. 26 Damit nehmen Marx und Engels ausgerechnet die beiden wichtigsten Fraktionen im Bund der Gerechten, also der damals bedeutsamsten internationalen Arbeiterinnenund Arbeiterorganisation, ins Visier.

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Weg zinsloser Kredite gehende Etablierung einer Ökonomie von Kleinproduzenten und -bauern in einem gerechten Tauschsystem favorisierte.27 Dagegen griffen Marx und Engels nun, um ihre Gegner aus dem Feld zu schlagen, zur Figur des »progressiven Industrialismus«, wie Petra Weber es treffend ausgedrückt hat (Weber 1989: 153).28 Dieser move ist auch deshalb so interessant, weil sie damit gegen den »wahren Sozialismus« ein Motiv wenden, das in seinen Anfängen, die es bei Engels hat, noch zusammenging mit einer feuerbachianischen Begründung des Kommunismus.29 Nun wird dem philosophischen Kommunismus plötzlich die »Proletariatsbewegung Frankreichs & Englands« entgegengehalten (MEGA² I/5: 515 [MEW 3: 441]) und ihm seine Eigenständigkeit abgesprochen, indem er herabgesetzt wird zu einer bloßen nachträglichen »Verklärung des proletarischen Kommunismus« mit den Mitteln der Philosophie (ebd.:

27 Vgl. ausführlicher zu den Gründen des Konfliktes Marx-Proudhon Spekker 2016. 28 Dass diese Figur, die v.a. im Zuge der Arbeit an der Stirner-Kritik ausformuliert wurde, zentral gegen die politischen Gegner innerhalb der eigenen Reihen gerichtet, bzw. wie sehr die Stirner-Kritik schon von vornherein mit der Kritik an den philosophischen Kommunisten verbunden war, mag neben der engen zeitlichen und z.T. argumentativen Verflechtung auch eine Bemerkung Joseph Weydemeyers, der zeitweise an der Niederschrift der Deutschen Ideologie beteiligt war, in einem Brief an Marx vom 30. April 1846 verdeutlichen: »Auf die Behauptung, von der Du sprachst, daß es überflüssig sei, den ›Stirner‹ zu kritisiren, bin ich schon bei Einigen gestoßen […]. Mir ist dagegen die Nothwendigkeit dieser Kritik noch einleuchtender geworden wie früher. Die Herrschaft der Idee steckt den Leuten, besonders den Kommunisten selbst noch gewaltig in den Köpfen, wenn der Unsinn auch nicht mit Stirnerscher Klarheit hervortritt, das Kategorien- und Konstruktionswesen findet sich auch in Schriften realeren Inhaltes, in denen das Baugerüst besser bekleidet und versteckt ist.« (MEGA² III/1: 532 f.) 29 Es findet sich – wie Gareth Stedman Jones gezeigt hat – zuerst in Engelsʼ Texten zur ökonomischen Lage Englands und der englischen Arbeiterklasse von 1844/45 (vgl. Stedman Jones 1988). Engels bringt hier erstmals die Entstehung der Arbeiterbewegung in England in einen Zusammenhang mit der industriellen Entwicklung (vgl. z.B. MEGA² I/3: 554; MEW 2: 349 f.), betont aber nichtsdestotrotz den politischen bzw. philosophischen Charakter der Revolution in Frankreich bzw. Deutschland (vgl. ebd.: 250). Ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung des ProduktivkraftentfaltungsParadigmas war zudem sicherlich Marxʼ Rezeption der ›linken‹ englischen Ökonomen Owen und Bray während seiner Manchester-Reise zusammen mit Engels im Juli 1845 (vgl. Graßmann 2015: 55-64).

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516 [442]).30 Während der Kommunismus in Frankreich und England Ausdruck »wirkliche[r] Parteiinteressen«, das »Bewußtsein bestimmter geschichtlich bedingter Lebenssphären« sei, habe in Deutschland aufgrund dessen historischer Rückständigkeit notwendig der »wahre Sozialismus« aufblühen müssen – dass es diesem nicht um die »wirklichen Menschen« gehe, entspricht dann dem Umstand, dass es in Deutschland noch gar kein nennenswertes Proletariat gebe (ebd.: 516 f. [442 f.]). Was die »wahren Sozialisten« also der französischen Bewegung vorwerfen – den Mangel an philosophischer Begründung –, gerät dieser Bewegung nun zu Ehren. Wie Marx und Engels schon an früherer Stelle schreiben, gehe »das Bewußtsein über die Nothwendigkeit einer gründlichen Revolution, das kommunistische Bewußtsein« (ebd.: 43 [69]) vom Proletariat aus, und wenn sie dann den »wahren Sozialisten« deren geschichtliche Überholtheit vorhalten, weil es nun eine »wirkliche[...] kommunistische[...] Partei in Deutschland« gebe (ebd.: 517 [443]), widerspricht das weder der behaupteten Rückständigkeit Deutschlands noch der Tatsache, dass von einer solchen Partei in Deutschland zu dieser Zeit im Grunde gar nicht die Rede sein konnte. Vielmehr verweist auch diese Aussage auf den politischen Charakter ihrer Argumentation, denn sie zementiert ihren eigenen Führungsanspruch, den sie zur selben Zeit in Brüssel auch praktisch erheben. Das kommunistische Bewusstsein könnte sich nämlich »natürlich auch unter den andern Klassen vermöge der Anschauung der Stellung dieser Klasse bilden« (ebd.: 43 f. [69]; Herv. M.S.), und genau diese Stellung meinen Marx und Engels durch ihre materialistische Anschauung der wirklichen proletarischen Bewegungen unter den fortgeschrittensten ökonomischen Verhältnissen begriffen zu haben. Den politischen Anspruch, der sich in der materialistischen Argumentation ausdrückt, stellt auch Hess – obwohl er zu diesem Zeitpunkt mit der ›Partei Marx‹ bereits gebrochen hat – in seinem letzten (bekannten) Brief an Marx vom 28. Juli 1846 noch einmal klar heraus: »Mit Deinen Ansichten über die communistische Schriftstellerei, die Du neuerdings Daniels mittheiltest, bin ich vollkommen einverstanden. So nothwendig im Anfange ein Anknüpfen der communistischen Bestrebungen an die deutsche Ideologie war, so nothwendig ist jetzt die Begründung auf geschichtliche und ökonomische Voraussetzungen, sonst wird

30 In diesem Zusammenhang wird auch Lorenz Stein, an dessen im deutschsprachigen Raum damals bahnbrechendem Werk Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs (1842) sich Hess und insbesondere Grün abgearbeitet hatten, soweit gewürdigt, als er »wenigstens versuchte, den Zusammenhang der sozialistischen Literatur mit der wirklichen Entwicklung der französischen Gesellschaft darzustellen.« (Ebd.: 552 [480]).

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man weder mit den ›Sozialisten‹, noch mit den Gegnern aller Farben fertig.« (MEGA² III/2: 270; Herv. M.S.)

Wie also werden Marx und Engels mit ihren Gegnern – zumindest ihrem Anspruch nach – fertig? Indem sie demonstrativ jegliche Verbindung zum philosophischen Kommunismus, überhaupt zu jeglicher (im weitesten Sinne) normativen Begründung kommunistischen Bewusstseins kappen und dagegen ostentativ auf die eine, streng wissenschaftliche Begründung einer Entwicklung revolutionären Bewusstseins bzw. revolutionärer Kräfte abheben, die sie rein materialistisch »aus der wirklichen Entwicklung der Gesellschaft« (MEGA² I/5: 537 [MEW 3: 464]), aus dem gesetzmäßig verlaufenden ökonomischen Fortschritt glauben, deduzieren zu können. Der Fokus liegt nun auf Klassenkämpfen, wie sie eben nicht in Deutschland, sondern insbesondere in England mit seinen am weitesten entwickelten Produktivkräften vorzufinden seien. Damit machen sie die Möglichkeit der Revolution aber abhängig von der ›Reife‹ der ökonomischen Verhältnisse, und während für die »wahren Sozialisten« ebenso wie für den Berufsrevolutionär Weitling31 die Verhältnisse gewissermaßen schon immer reif sind für ihre kommunistische Abschaffung, verschieben Marx und Engels unter Verweis auf den ökonomischen Entwicklungsstand in den meisten Teilen Europas, allen voran aber in Deutschland, die Revolutionsmöglichkeit kurzerhand auf die Zukunft. Was das praktisch bedeutet, gibt der zerknirschte Weitling so wieder: »Von der Verwirklichung des Kommunismus kann zunächst nicht die Rede sein, die Bourgeoisie muß erst ans Ruder kommen.« (Weitling 1983: 307) 32

31 Der Handwerkerkommunismus wird in der Deutschen Ideologie nur en passant, aber vernichtend abgewatscht, indem Marx und Engels betonen, dass nur »die von aller Selbstbethätigung vollständig ausgeschlossenen Proletarier der Gegenwart […] im Stande [sind], ihre vollständige, nicht mehr bornirte Selbstbethätigung, die in der Aneignung einer Totalität von Produktivkräften & der damit gesetzten Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten besteht, durchzusetzen« (ebd.: 112 [68]). Das trifft auf die Handwerker, die zwar bereits ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, aber nach wie vor »unter ein einziges Produktionsinstrument subsumirt« sind (ebd.: 113 [68]), nicht zu. Hier deutet sich zudem bereits die Unterscheidung an, die Marx später zwischen reeller und zunächst nur formeller Subsumtion unter das Kapital machen wird. 32 Vgl. auch Bohlender 2016: 145. Marxʼ und Engelsʼ Weggefährte Heinrich Bürgers wiederum wird es etwa ein Jahr später in einem Brief an Marx folgendermaßen ausdrücken: »Der größte Theil muß erst durch die Praxis getrieben werden, die Consequenzen seines Klassenstandpunktes kennen zu lernen. Freilich erklärt sich das leicht, wenn man das deutsche Proletariat etwas näher ins Auge faßt. Eine completere Be-

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Es ist dieser politische Entstehungsherd, dessen Niederschlag nicht nur in der kanonisch gewordenen Charakterisierung des Kommunismus registriert werden sollte: »Der Communismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird; M.S.]. Wir nennen Communismus die wirkliche Bewegung welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jezt bestehenden Voraussetzung.« (MEGA² I/5: 37 [MEW 3: 35])

Mit ihr fertigen Marx und Engels dann auch Feuerbach ab: Das nun auch öffentliche Bekenntnis Feuerbachs zum Kommunismus in seiner Replik auf Stirners Einzigen in Wigandʼs Vierteljahrsschrift im Juli 1845 wird als Selbstmissverständnis abgetan; Feuerbach verwandle, wenn er sich als »Gemeinmensch, Kommunist« (Feuerbach 1970: 441) behauptet, lediglich die Bezeichnung für »den Anhänger einer bestimmten revolutionären Partei« »in der bestehenden Welt« in eine »bloße Kategorie« (MEGA² I/5: 54 ff. [MEW 3: 41]). Kommunist zu sein, ist aber, so Marxʼ und Engelsʼ Botschaft, keine Frage der Ideologie, auch kein »Prädicat ›des‹ Menschen« (ebd.: 54 [41]), sondern einzig durch die materiellen Verhältnisse bedingt. Die unmittelbar politischen Konsequenzen dieses neuen wahrheitspolitischen Paradigmas sind bekannt: Marx und Engels werden im nun neu benannten Bund der Kommunisten, dem sie 1847 beitreten, auf dessen erstem Kongress im Juni desselben Jahres den Ausschluss der Anhänger Weitlings, Grüns und Proudhons erwirken und auch im ein Jahr darauf erscheinenden Manifest der Kommunistischen Partei einzig für sich und die Ihren die »Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung« reklamieren (MEW 4: 474). Während er in seinem erstmals 1982 erschienenen Artikel über Engels und die Geschichte des Marxismus die Entstehung des Historischen Materialismus und die Abstreifung des feuerbachianischen Ballasts noch grundsätzlich als wissenschaftstheoretische Erfolgsgeschichte dargestellt hatte, nimmt sich Gareth

wußtlosigkeit über seine Lage und Aussichten, als hier unter dem allergrößten Theil herrscht, kann man sich kaum vorstellen. […] Nur Leute wie Heß oder Weitling können sich hierüber Illusionen machen; die deutschen Fabrikarbeiter und Brüder Straubinger müssen erst noch durch die hölzerne Mühle einer energisch konkurrirenden Bourgeoisie hindurch, um für eine Propaganda, die aus den Verhältnissen des Weltmarkts deduzirt, empfänglich zu werden.« (MEGA² III/2: 351)

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Stedman Jonesʼ Blick auf dieses Kapitel der Marxʼschen und Engelsʼschen Theorieentwicklung heute kritischer aus und kommt über Intention und Folgen der in der Deutschen Ideologie formulierten Kritik zu einem Urteil, dem ich – nicht unbedingt in der Wortwahl, jedoch in der Sache und vor allem in Hinblick auf das Produktivkraftentfaltungs-Paradigma – zustimmen möchte: »Um die Herausforderung Stirners abzuwehren, griff Marx bildlich gesprochen auf eine Massenvernichtungswaffe zurück; entsprechend groß war der Kollateralschaden. Da er der Verbindung mit einer moralisierenden und quasireligiösen Form des Humanismus nicht entgehen konnte, bestand seine Lösung darin, sämtlichen Ideen jegliche autonome Rolle abzusprechen. So konnte ein Ziel, das als ›kategorischer Imperativ‹ oder als Vollendung der ›Religionskritik‹ begonnen hatte, aufrechterhalten und gleichzeitig jede Verbindung zwischen Sozialismus und Ethik brutal geleugnet werden. Eine raffinierte, aber unaufrichtige Lösung.« (Stedman Jones 2012: 178)

3. K ONSTITUTION UND I NVISIBILISIERUNG Wenn Marx und Engels den »wahren Sozialismus« als eine für die deutschen Verhältnisse notwendige »Zwischensekte« darstellen, über deren philosophische Herangehensweise man den »Übergang zum Kommunismus« geschafft habe (MEGA² I/5: 517 [MEW 3: 443]), weshalb jener nun auch überflüssig sei, dann sagt das letztlich mehr über die Autoren der Deutschen Ideologie aus, als ihnen lieb sein kann. Denn anders, als sie hier suggerieren, war die Philosophie nicht einfach ein Umweg, über den sie schließlich doch noch zur wirklichen proletarischen Bewegung und den ökonomischen Tatsachen gelangt sind, die sie nun wissenschaftlich auf den Punkt bringen können, indem sie einfach »nur sich Rechenschaft ab[…]legen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt« (MEW 4: 143). Im Gegenteil speisen sich Marxʼ und Engelsʼ Vorstellungen von der Revolution, aber auch – davon gar nicht zu trennen – zentrale Gedanken der wissenschaftlichen Ökonomiekritik nach wie vor auch aus feuerbachianischen Annahmen. Diesen Zusammenhang hat Marx mit dem ProduktivkraftentfaltungsParadigma nicht überwunden, sondern lediglich invisibilisiert. Ob er sich dessen bewusst war oder nicht, ist dabei nachrangig, viel interessanter sind die Folgen, die diese Invisibilisierung der genetischen Herkunft der Marxʼschen Theorie für deren nachfolgende Rezeption gezeitigt hat. So sollte alle Emphase für die Empirie nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon Marxʼ und Engelsʼ Verweis auf die kommunistischen, proletarischen Bewegungen nicht gerade unproblematisch ist. Aus bloßer Anschauung der ›wirkli-

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chen Bewegung‹ jedenfalls werden sie kaum ihren Begriff von Kommunismus entwickelt haben können, wie nicht nur ihre häufigen Selbstkorrekturen bezeugen.33 Es stellt sich auch als durchaus schwierig dar, zu dieser Zeit in Europa eine Massenbewegung zu finden, die tatsächlich Marxʼ und Engelsʼ Vorstellungen entsprochen hätte. Selbst der englische Sozialismus – und das heißt zu dieser Zeit wesentlich: Owenismus – tat das nicht, der zwar eine Vorstellung von gemeinschaftlicher Güterproduktion auf dem Stand der Produktivkräfte hatte, jedoch kaum revolutionär und politisch auftrat (und auch von seinen Gegnern nicht als politische, sondern als Kulturbewegung wahrgenommen wurde; vgl. Schieder 1984: 938).34 Auch die popular economists hatten zwar »der Theorie des Kapitals zuerst den Fehdehandschuh« hingeworfen (MEGA² II/5: 238), ver-

33 Man denke nur an Marxʼ anfängliche Würdigung Weitlings als genialen Theoretiker des deutschen Proletariats (vgl. MEGA² I/2: 459), seine Betonung, Proudhon schreibe als Proletarier im Interesse der Proletarier (vgl. MEW 2: 43), oder Engelsʼ nachträgliches Eingeständnis, dass die Mitglieder der Pariser Sektion des Bundes der Gerechten wohl doch nur »Straubinger«, jedenfalls keine Proletarier seien (vgl. MEGA² III/2: 66 f.). 34 Ironischerweise war es der wenig später als »wahrer Sozialist« angegriffene Hermann Kriege, der im Juni 1845 Marx ausdrücklich auf das Fehlen einer revolutionären proletarischen Bewegung in England hinzuweisen versuchte: »Mein lieber Marx, wo sind diese englischen Arbeiter, für die der Engels so schwärmt? Ich habe Gelegenheit gehabt, mit den Häuptern der hiesigen Sozialisten bekannt zu werden, ich sage Dir, die scheelsten Philister, die man sehen kann. Und dann, wie wenig sind dieser Sozialisten gegen die zahllose Massen der Arbeiter? Wenn Du diese willst kennen lernen, da sieh sie Dir an, wenn der Reichthum Old Englands zu der most gracious Queen Ball fährt. Da stehen sie mit den abgearbeiteten Cadavern, jauchzen über den Glanz ihrer Nation und verhöhnen voll Verachtung den Fremden, der es sich herausnimmt, die Pracht auch mit anzusehen. Und dann diese durchgehende Heuchelei zur Verbergung der Armuth, lieber acht Tage keinen Bissen Brod, als eine Stunde ohne Hut! — Die englischen Sozialisten zerfallen in drei gleich lächerliche Parteien, die sich auf den Tod hassen. Die Einen schwärmen für ein gemüthliches Leben in Nord America, die Zweiten wollen friedliche Durchführung des Sozialismus in England, werden aber nächstens Banquerout machen (Germanyhall), die Dritten schimpfen auf die vorigen als gingen sie nicht weit genug, wollen von Gemeinschaft Nichts wissen und predigen den kahlsten Atheismus ohne Saft und Kraft, ihr Blatt the movement ist aber schon entschlafen. Einen eigentlich revolutionären Kerl habe ich noch nicht verspürt. England ist das Land der Propaganda, der freien Presse, man redet, schmiert, liesʼt und säuft Thee.« (MEGA² III/1: 470 f.)

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harrten aber selbst noch – wie Marx in seiner Streitschrift gegen Proudhon am Beispiel John Francis Brays ausführt – auf deren theoretischem wie moralischem Standpunkt. Dass aber der Entwicklungsstand der Produktivkräfte ursächlich für ein kommunistisches Bewusstsein sein soll, das auf die revolutionäre Abschaffung der Klassen- und Eigentumsverhältnisse und deren Ersetzung durch eine gemeinschaftlich organisierte gesellschaftliche Produktion durch total entwickelte Individuen zielt, diese Annahme steht in einem auffälligen Missverhältnis zur Wirklichkeit, die Marx und Engels so vollmundig gegen alle philosophische Begründung des Kommunismus halten. Hier wird, so meine These, weniger ein Missverständnis als vielmehr eine Projektionsleistung Marxens und Engelsʼ deutlich: Wie schon die anfängliche Begeisterung, die Marx an den Tag legt, als er erstmals im Pariser Exil mit kommunistischen Arbeiterversammlungen in Berührung kommt, 35 so ist auch Marxʼ und Engelsʼ Verständnis von der kommunistischen Bewegung mit dem Ziel einer »Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4: 482), weniger Resultat der bloß empirischen Beobachtung konkreter realer Bewegungen und einer objektiven materiellen Entwicklung, sondern selbst noch Ausdruck einer spekulativen Interpretation der Bewegung und der bisherigen und sich noch weiter zu vollziehen habenden Geschichte. So, wie Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten, hier noch in wesentlicher Übereinstimmung mit der Feuerbachʼschen Methode, die Geschichte als Geschichte des menschlichen Gattungswesens, das sich unter der Form der Entfremdung von seiner Lebenstätigkeit entwickelt, also vom Resultat einer vollen-

35 »Wenn die communistischen Handwerker sich vereinen, so gilt ihnen zunächst die Lehre, Propaganda etc als Zweck. Aber zugleich eignen sie sich dadurch ein neues Bedürfniß, das Bedürfniß der Gesellschaft an und was als Mittel erscheint, ist zum Zweck geworden. Diese prakti[sche] Bewegung kann man in ihren glänzendsten Resultaten anschaun, wenn man socialistische französische ouvriers vereinigt sieht. Rauchen, Trinken, Essen etc sind nicht mehr da als Mittel der Verbindung und als verbindende Mittel. Die Gesellschaft, der Verein, die Unterhaltung, die wieder die Gesellschaft zum Zweck hat, reicht ihnen hin, die Brüderlichkeit d[er] Menschen ist keine Phrase, sondern Wahrheit bei ihnen und der Adel der Menschheit leuchtet un[s] aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen.« (MEGA² I/2: 289) Man beachte hier auch die argumentative Nähe zu Hegels Begründung der Korporationen als den Orten, wo sich – obwohl sie zunächst nur Mittel zur Förderung der individuellen bzw. ständischen Interessen ihrer Mitglieder sind – ein Gemeinsinn entwickelt, die Interessen ins Allgemeine, Sittliche umschlagen. Wie nun bei Marx, ist dieser qualitative Umschlag schon bei Hegel zumindest immanent wenig überzeugend.

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deten wahrhaften Gattungseinheit her deren Entfaltung in einer Abfolge verkehrter Formen begreift, so verfahren Marx und Engels letzten Endes auch noch mit der vermeintlich ›wirklichen Bewegung‹. Das wird besonders frappant an Engelsʼ Schlussfolgerung aus dem Eingeständnis, mehr in den Mitgliedern der Pariser Sektion des Bundes der Gerechten gesehen zu haben, als sie wohl einstweilen waren: »wir können nur an ein kommunistisches Proletariat appelliren das sich in Deutschland erst bilden soll.« (MEGA² III/2: 67) Nimmt man das als Ausdruck des Selbstverständnisses ernst, mit dem Marx und Engels nicht nur der deutschen, sondern im Grunde allen real existierenden sozialistischen Bewegungen zu dieser Zeit gegenübertreten, wird deutlich, dass die ›wirkliche Bewegung‹ mit ihrer Ausrichtung auf Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und Eigentumsverhältnisse und Etablierung einer gemeinschaftlichen planmäßigen Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses doch eher eine Unterstellung ist, mit der Marx und Engels die bestehenden Verhältnisse so zu begreifen vermögen, dass diese Bewegung notwendig als deren bestimmte Negation erscheint.36 Und die sich so ergebende »Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung« (MEW 4: 474) wissen Marx und Engels politisch sehr gut gegen ihre Gegner innerhalb der Arbeiterbewegung durchzusetzen. Nun könnte man natürlich, um zum Ausgangproblem zurückzukehren, die heute gängige Kritik am Produktivkraftentfaltungs-Paradigma einfach wiederholen und sich nach der hier vorgelegten Rekonstruktion von dessen Herkunft aus einer politisch-philosophischen Gemengelage umso mehr darin bestätigt sehen, es zugunsten der wissenschaftlichen Kritik der politischen Ökonomie tatsächlich besser fallenzulassen. Dass ein solches Vorgehen der Durchgängigkeit dieses Paradigmas in der Marxʼschen Ökonomiekritik kaum gerecht wird, ist bereits betont worden. Entscheidender ist hier aber etwas anderes: Konnte am Entstehungsherd des Paradigmas nachvollzogen werden, dass es Marx und Engels auch darum ging, mit seiner Hilfe alle philosophischen Quellen des Kommunismus auszutrocknen und dessen Begründung auf rein wissenschaftlichem, sprich:

36 Wie sehr Marx mit der materialistischen These, der zufolge die Produktivkräfte (und mit ihnen das Vermögen des Arbeiters) so weit entwickelt sein müssen, dass die Produktionsverhältnisse ihnen zur absoluten Schranke werden und die Arbeiter revolutionäres Bewusstsein erlangen müssen, selbst noch dem Muster der Feuerbachʼschen Religionskritik folgt, wonach erst auf dem Kulminationspunkt einer nicht mehr zu überbietenden Verkehrung des Bewusstseins, nämlich des Protestantismus, der Umschlag zu einer Erkenntnis des eigenen Gattungswesens erfolgt, hat überzeugend Helmut Reichelt (1983) dargelegt.

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materialistischem Wege als Resultat der ökonomischen Entwicklung selbst zu bewerkstelligen, dann drängt sich natürlich die Frage auf, ob es diese Funktion nicht auch in der Kritik der politischen Ökonomie noch hat. Einer Lesart des Kapital, die sich im Wesentlichen nur auf die kategoriale Darstellungsweise der kapitalistischen Verhältnisse kapriziert, wie Marx sie im Kapital geliefert hat, stellt sich die Frage natürlich nicht in dieser Weise. Anders sieht es aus, wenn man stärker in den Forschungsprozess, besonders in die Suchbewegungen eintaucht, wie sie Marxʼ Bemühungen um das richtige Verständnis der ökonomischen Kategorien und ihres Zusammenhangs kennzeichnen. Bereits an anderer Stelle (vgl. Spekker 2016) habe ich ausführlicher dargelegt, wie Marx in den Grundrissen angefeuert durch seine Auseinandersetzung mit den proudhonistischen Geld- und Stundenzetteltheorien und den ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen von Geld, Tauschwert und Arbeit wesentliche Einsichten für seine weitere wissenschaftliche Kritik gewinnt. Was hier ins Auge springt, ist die eigentümliche Anwesenheit feuerbachianischer Denkfiguren, und das kommt nicht von ungefähr. Der Proudhonismus will im Grunde lediglich das Austauchsystem reformieren; die auf privat-arbeitsteiliger Warenproduktion beruhenden Produktionsverhältnisse rührt er nicht an, sondern reproduziert und verewigt im Gegenteil das individualistische Arbeitsverständnis der bürgerlichen Ökonomie. Das drückt sich gerade auch in seiner Vorstellung von der Bestimmung des Tauschwerts durch die je konkret aufgewandte Arbeitszeit aus, die mit der Ersetzung des Geldes durch Stundenzettel gesichert werden soll. Marx dagegen erkennt die Notwendigkeit der Existenz des Geldes in der warenproduzierenden, kapitalistischen Gesellschaft (von der Proudhons Ideal nur ein mystifizierender Ausdruck ist), denn: »Das Geld ist die Arbeitszeit als allgemeiner Gegenstand, oder die Vergegenständlichung der allgemeinen Arbeitszeit, die Arbeitszeit als allgemeine Waare.« (MEGA² II/1.1: 100) Hier hat Marx erstmals den später so genannten Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit erkannt und damit die Grundlage für den Begriff der abstrakten Arbeit als Wertsubstanz geschaffen. Das Interessante ist nun, dass Marx zu dieser Erkenntnis nicht – wie in der späteren Darstellung – durch Analyse des Begriffs warenproduzierender Arbeit, sondern durch die Konfrontation der bürgerlichen (und proudhonistischen) Vorstellungen von Geld und Arbeit mit der kommunistischen Weise »gemeinschaftliche[r] Production« (ebd.: 102) gelangt. Der Tauschwert und seine dingliche Gestalt als Geld seien notwendige Formen, weil die bürgerliche Produktion »nicht unmittelbar gesellschaftlich ist, nicht the offspring of association«, und die Individuen »nicht associirt sind auf der Grundlage der gemeinsamen Aneignung und Controlle der Productionsmittel« (ebd.: 91 f.). Die feuerbachianischen Konnotationen kann Marx hier kaum verbergen, sowohl das

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Projektionstheorem als auch die Gattungsphilosophie sind unschwer erkennbar. 37 So heißt es entsprechend schon einige Zeilen zuvor: »Im Tauschwerth ist die gesellschaftliche Beziehung der Personen in ein gesellschaftliches Verhalten der Sachen verwandelt; das persönliche Vermögen in ein sachliches« (ebd.: 90), und an späteren Stellen wird das Geld in Anlehnung an die Feuerbachʼsche Religionskritik als »Gott in der Welt der Waaren« (ebd.: 146) und »reale[s] Gemeinwesen« (ebd.: 150) begriffen. In weiteren Reflexionen über den Inhalt des Austauschverhältnisses geht Marx sogar soweit, zu konstatieren, dass die tauschvermittelte Privatproduktion zeige, »daß jeder als Mensch über sein eignes besondres Bedürfniß etc übergreift und daß sie sich als Menschen zu einander verhalten; daß ihr gemeinschaftliches Gattungswesen von allen gewußt ist« (ebd.: 166 f.). Hier greift Marx also, um die kapitalistischen Tauschverhältnisse zu begreifen, wieder auf ein philosophisches Repertoire zurück, mit dem er bereits in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten den Kommunismus – in nach späteren Maßstäben eigentlich ›wahrsozialistischer‹ Manier – als »vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordne Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen« beschrieben hatte (MEGA² I/2: 263). Diesem eigne Arbeit als Gattungstätigkeit, als »die gemeinschaftliche Thätigkeit und der gemeinschaftliche Genuß, d.h. die Thätigkeit und der Genuß, die unmittelbar in wirklicher Gesellschaft mit andern Menschen sich äussert und bestätigt« (ebd.: 267). Das heißt nun allerdings mitnichten, dass Marx in den Manuskripten von 1844 und in seiner Ökonomiekritik die kapitalistischen Verhältnisse auf diese Weise normativ kritisierte.38 Aber – und das ist der entscheidende Punkt – seine Vorstellungen von einer kommunistischen Gesellschaft, die ihren Gehalt offenkundig doch auch aus seinem feuerbachianischen Erbe beziehen, sind ebenso wenig einfach Ableitungen aus einer vorangegangenen ›materialistischen‹ Durchdringung der kapitalistischen Verhältnisse und Vermittlungsformen, son-

37 Auch in der Deutschen Ideologie schreiben Marx und Engels noch: »Und endlich bietet uns die Theilung der Arbeit gleich das erste Beispiel davon dar, daß solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern & gemeinsamen Interesse existirt, solange die Thätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig getheilt ist, die eigne That des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht.« (MEGA² I/5: 34 [MEW 3: 33]) 38 Vgl. für eine solche Interpretation des Kritikmaßstabs im Kapital z.B. Zimmermann 1986: 239 und Lange 1978: 25.

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dern im Gegenteil deren Erkenntnis vorausgesetzt, für diese konstitutiv, gewissermaßen der Schlüssel, über den weder die Proudhonisten noch die bürgerlichen Ökonomen mit ihrem methodologischen Individualismus verfügten. Erst ausgehend von einem Verständnis von Arbeit als einem gesellschaftlichen Vermögen, als dem, was die Menschen erst als eine Gattung – und zwar nicht im mengentheoretischen oder quasi-zoologischen, sondern im relational-tätigen Sinne (vgl. Bak 2006: 32) – ausmacht und was Marx dort hervorholt, wo er als Kommunist die ›kleinbürgerlichen‹ Ideale des Proudhonismus auf dem Feld der Ökonomie widerlegen muss, schafft er einen entscheidenden Durchbruch für sein weiteres Verständnis der ökonomischen Kategorien. Hatte er – mit ziemlicher Sicherheit angeregt durch den feuerbachianischen Sozialisten Hess39 – schon in Zur Judenfrage und den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten das Geld als Ausdruck einer Verkehrung, als »entfremdete[s], entäussernde[s] und sich veräussernde[s] Gattungswesen der Menschen«, als das »entäusserte Vermögen der Menschheit« (ebd.: 320) dargestellt, so erklärt er auch in den Grundrissen, dass sich erst im Geldausdruck der gesellschaftliche Charakter der Arbeit bestätigt, weil diese als warenproduzierende und selbst warenförmige hier unmittelbar ungesellschaftlich verausgabt wird. Diese Denkfigur führt ihn nicht nur zu der Erkenntnis, dass die Privatarbeit aufgrund ihres atomistischen Charakters sich in ihrem Tauschwert notwendig von sich selbst als bloß besonderer Arbeit unterscheidet, dass es ohne Geld also auch keine Wertproduktion gibt, weil erst das Geld durch sein Gleichgelten mit der konkreten Warenwelt die abstrakte wertschaffende Arbeit als gesellschaftliche Substanz der Warenwelt materialisiert und misst und insofern ihre Existenzbedingung ist. Sie reüssiert entsprechend auch noch im wichtigen Fetischkapitel des Kapital, wo die unscheinbare Verwendung des Kollektivsingulars Mensch noch einen kleinen Wiederschein des von mir dargestellten Zusammenhangs mit der Gattungsphilosophie gibt, wenn Marx schreibt, dass es den scheinbar naturnotwendigen Wertformen »auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert« (MEGA² II/5: 49; Herv. M.S.; vgl. Schmidt 1971: 132, Fn. 2). Wie kommt es nun aber, dass ausgerechnet in den Grundrissen nicht nur ein solcher Feuerbachianismus wieder aufleuchtet und uns hier implizit auch Auskunft über die Herkunft des Marxʼschen Kommunismusverständnisses gibt, sondern dieses für die weitere Ausarbeitung der Kritik der politischen Ökonomie so zentrale Manuskriptkonvolut zugleich auch – wie ich in Kapitel 1 dargelegt habe

39 Vgl. Hessʼ Artikel Über das Geldwesen von 1843 (Hess 1980).

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– ausführliche Reflexionen über den Zusammenhang von Produktivkraftentfaltung und objektiver Möglichkeit des Kommunismus enthält? Hat Marx nun implizite philosophisch-kommunistische Vorannahmen, die seiner Erkenntnis des polit-ökonomischen Gegenstands vorausgehen, oder ist das Wissen um den Kommunismus samt dem zu seiner Durchsetzung notwendigen Bewusstsein erst Resultat der wissenschaftlichen Erkenntnis des ökonomischen Entwicklungsgangs? Geht man vom Selbstverständnis des Wissenschaftlers aus, das Marx gegen Thomas Robert Malthus hält, dürfte eigentlich nur Letzteres zutreffen. So schreibt Marx: »Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrthümlich sie immer sein mag), sondern von aussen, ihr fremden, äusserlichen Interesse entlehnten Standpunkt zu accomodiren sucht, nenne ich ›gemein‹.« (MEGA² II/3.3: 771)40 Tut Marx aber nicht genau das hier Vorgeworfene, wenn er auch über jene philosophisch-kommunistischen Annahmen vermittelt erst die kapitalistischen Produktionsverhältnisse auf den Begriff bringt? Dieser Verlegenheit kann er – und hier wiederholt sich gewissermaßen die Motivlage, die am Entstehungsherd des Produktivkraftentfaltungs-Paradigmas nachvollzogen werden konnte – nur entgehen, wenn er, seinem Wissenschaftsanspruch entsprechend, zeigen kann, dass die Vorannahmen seiner Theorie keine ideologischen, unhinterfragten Setzungen sind, indem er sie im Laufe seiner wissenschaftlichen Darstellung wieder einholt, ihre Geltung als objektiv ausweist. Erst diese Beweislast, die Marx seiner Kritik der politischen Ökonomie damit aufbürdet, macht vielleicht verständlich, warum er hier immer wieder auf diesem Paradigma herumreiten muss: Nur wenn es ihm gelingt, den Kommunismus als objektiv in den kapitalistischen Verhältnissen angelegt, als deren in ihnen selbst sich mit Notwendigkeit entwickelnde bestimmte Negation auszuweisen, die keinem äußerlichen Standpunkt, keiner Vorstellung vom Gattungswesen oder ähnlichem entspringt, werden auch seine Vorannahmen ihre philosophische Eigenständigkeit verloren, wird sich sein Zugang zu den polit-ökonomischen Kategorien als objektiv erwiesen haben. Während dieser argumentative Zusammenhang von Marx selbst hier nicht explizit gemacht wird,41 kann man die Verrenkungen, die hierzu nötig sind, an

40 Vgl. für eine solche Interpretation Heinrich 2006: 383 f. 41 Dass seine Ausführungen zur Geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation hingegen kein bloßes Beiwerk sind, sondern er tatsächlich mit seiner Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise im Kapital begründet habe, dass diese selbst notwendig ihre Negation durch die kommunistische Gesellschaft erzeugt, hat Marx selbst noch einmal in seinem 1877 verfassten, jedoch nie abgeschickten Brief an die Redaktion der Otetschestwennyje Sapiski betont. (Vgl. MEW 19: 111)

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solchen Rezeptionen nachvollziehen, wie sie beispielsweise Christoph Lieber und Axel Otto leisten, die den Bezug zwischen philosophischer Herkunft und wissenschaftlicher Kritik so bestimmen: »Das die gesamte Geschichte ›überbietende Bewußtsein‹, von dem Marx in den Frühschriften emphatisch spricht (I.2/289), findet seine Begründung aus der späteren Kritik der politischen Ökonomie; diese wiederum ist nur das selbstkritische theoretische Destillat eines sozialen Prozesses der Etablierung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und praktischer sozialer Auseinandersetzungen.« (Lieber/Otto 1997: 42; Herv. M.S.)

Es ist bemerkenswert, wie die Autoren hier – Marxʼ eigenes Verständnis sehr wohl richtig nachvollziehend – die genetische Herkunft der Theorie nachträglich mit einer (widerspiegelungstheoretischen) Vorstellung wissenschaftlicher Objektivität, die letzten Endes einem recht konventionellen Empirismus bzw. Positivismus Vorschub leistet, einstreichen, statt auf den konstitutiven Einfluss zu reflektieren, den die philosophisch-kommunistischen Annahmen als durchaus eigenständiger, subjektiver Faktor auf die spätere Wissenschaft haben. Dass in Marxʼ wissenschaftlicher Kritik der politischen Ökonomie am Ende auf wundersame Weise das als objektives Resultat wiederkehrt, was er bereits zu Beginn seiner theoretischen Bemühungen in den Gegenstand hineingelegt hat, lässt sich bei aller methodischen Nähe Marxens zu Hegel auch nicht dialektisch lösen, sondern muss sich schließlich vielmehr zu einem performativen Widerspruch auswachsen: Denn Marx knüpft nicht nur die technische Möglichkeit des Kommunismus, sondern gar die Entstehung eines kommunistischen Bewusstseins – wie ich ausführlich rekonstruiert habe – an die völlige Entfaltung der Produktivkräfte und die damit erst einhergehende Entwicklung total entfalteter Individuen. Die Herkunft der kommunistischen Annahmen, die der Theorie bereits konstitutiv vorausgingen, wäre so aber nicht materialistisch begründet, sondern infrage gestellt – ein kommunistisches Bewusstsein hätte es ja im Grunde noch gar nicht geben können! Die Prominenz des Produktivkraftentfaltungs-Paradigmas in der Marxʼschen Theorie verweist also auf einen vielfach übersehenen Zug der Kritik der politischen Ökonomie: Sie will – als negative Kritik der ökonomischen Kategorien – auch die objektive wissenschaftlich-immanente Begründung des Kommunismus als bestimmter Negation der kapitalistischen Produktionsweise liefern. Gelingen tut ihr das offenbar nicht, sie bleibt verwiesen auf eine letzten Endes nicht materialistisch gedeckte philosophische Perspektive. Nun konnte sich Marx, der entsprechend seiner 2. Feuerbachthese wusste, dass die »Frage, ob dem menschlichen Denken – gegenständliche Wahrheit zukomme – […] keine Frage der

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Theorie, sondern eine praktische Frage« sei und »der Mensch die Wahrheit i.e. Wirklichkeit u. Macht, Diesseitigkeit seines Denkens« in der »Praxis« beweisen müsse (MEGA² IV/3:20), gerade auch insofern noch auf die wirkliche Praxis zu seiner Zeit stützen, als seinem Versuch einer wissenschaftlichen Begründung des Kommunismus selbst wieder eine performative Seite eignet, mit der er die Arbeiterbewegung in seinem Sinne ausrichten konnte. 42 Spätestens da aber, wo die Entfaltung der Produktivkräfte realhistorisch keineswegs eine »höhere[..] Gesellschaftsform […], deren Grundprincip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist« (MEGA² II/5: 477), sondern im Gegenteil bislang einzig die technischen Instrumente zur totalen Beherrschung und sogar Vernichtung geschaffen hat; wo sie vor allem aber weniger einem kommunistischen Bewusstsein denn autoritärem Massenwahn Vorschub geleistet hat, kann die Frage nach der Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft nicht mehr so verhandelt werden, wie Marx das getan hat. Statt das Produktivkraftentfaltungs-Paradigma jedoch einfach abzuspalten oder aber traditionsmarxistisch unbeirrt an ihm festzuhalten, wäre gerade die Reflexion auf seine Funktion und seinen Entstehungsherd als Ausgangspunkt zu nehmen, um darüber nachzudenken, ob und wie eine befreite Gesellschaft noch denkbar wäre.43 Dass auch die Marxʼsche Kritik der politischen Ökonomie, die »das Bestehende im Hinblick auf künftige Beherrschbarkeit durch solidarisch handelnde Individuen« begreift (Schmidt 1971, S. 132, Fn. 2), auf philosophische Annahmen angewiesen bleibt, mag deutlich geworden sein. Ob sich ausgerechnet Feuerbach als notwendige philosophische Grundlage eignet, ist eine andere Frage.

L ITERATUR Arndt, Andreas (1985): Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Bochum: Germinal Verlag. Bak, Zanghyon (2006): Das Menschen- und Weltbild bei Feuerbach und Marx. Frankfurt a.M.: Peter Lang.

42 Dem entspricht, dass Marxʼ umfangreiches Engagement in der Internationalen Arbeiterassoziation in dieselbe Zeit fällt wie seine Hauptarbeit an der Kritik der politischen Ökonomie. 43 Gegen den Dogmatismus etwa Guido Starostas, für den die Blamage des materialistischen Paradigmas durch das 20. und 21. Jahrhundert offenbar gar nicht stattgefunden hat, hat die wieder stärker philosophische Reflexion, etwa unter Rückgriff auf die Negative Dialektik Adornos, entsprechend auch historisch recht.

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Stedman Jones, Gareth (2012): »Einführung«, in: Ders., Das Kommunistische Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels. Einführung, Text, Kommentar. München: C.H.Beck, S. 9-227. Wagner, Wolf (1976): Verelendungstheorie – die hilflose Kapitalismuskritik, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag. Weber, Petra (1989): Sozialismus als Kulturbewegung. Frühsozialistische Arbeiterbewegung und das Entstehen zweier feindlicher Brüder. Marxismus und Anarchismus, Düsseldorf: Droste Verlag. Weitling, Wilhelm (1983): Brief an Moses Hess vom 31. März 1846, in: Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien Band 1, 1836-1849, Berlin: Dietz Verlag. Weydemeyer, Joseph (MEGA² III/1): Brief an Karl Marx vom 30. April 1846, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/1, Berlin: Dietz Verlag 1975, S. 532-533. Zimmermann, Rolf (1986): »Das Problem einer politischen Theorie der Emanzipation bei Marx und Habermas und die Frage nach ihrer ethischen Fundierung«, in: Emil Angehrn/Georg Lohmann (Hg.), Ethik und Marx. Moralkritik und normative Grundlagen der Marxschen Theorie, Königstein/Ts.: Hain Verlag bei athenäum, S. 239-267.

Kapitalismus als Rätsel? Zur Kritik der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie1 B ASTIAN R ONGE

Das Marxʼsche Denken als Ausdruck einer Kritik im Handgemenge zu interpretieren, sprich als Effekt einer andauernden Auseinandersetzung mit konkurrierenden Positionen, steht vor einer besonderen Herausforderung, wenn es um das Thema Ökonomie geht.2 Hier steht Marx nämlich vor der doppelten Herausforderung, das Verhältnis seiner kritischen Theorie sowohl gegenüber der klassischen politischen Ökonomen klären zu müssen, als auch gegenüber politisch ähnlich motivierten Kritikformen wie beispielsweise derjenigen von PierreJoseph Proudhon. Marx meistert diese Schwierigkeit der doppelten Positionierung, indem er die kapitalistische Ökonomie als einen rätselhaften Zusammenhang begreift und darstellt. Oder besser gesagt: Marx könnte besagte Herausforderung auf diese Weise meistern. Tatsächlich scheinen ihm Reichweite und Implikationen des von ihm verwendeten Rätselbegriffs nicht bewusst zu sein. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo er den Begriff des Rätsels rein alltagssprachlich und synonym mit dem Begriff des Geheimnisses verwendet. Aber selbst an jenen Stellen im Kapital, wo Marx den Begriff des Rätsels auf theoretisch gehaltvolle Weise verwendet – wenn er beispielsweise vom »Räthselhafte(n) der Aequivalentform« (ebd., 90) oder vom »Augen blendende[n] Räthsel des Wa-

1

Ich bedanke mich herzlich bei den Herausgebern und der Herausgeberin des Bandes für die kritischen Hinweise, die mir bei der Klärung und Präzisierung des Anspruchs und der argumentativen Struktur des Textes geholfen haben.

2

Vgl. hierzu Bohlender 2016; Spekker/Schönfelder 2016 und mit Bezug zur Marxʼschen Kritik der politischen Ökonomie Spekker 2016.

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renfetischs« (MEGA2 II/5, 59; II/6, 121) spricht3 – scheint er keine ausgereifte Theorie des Rätsels in der Hinterhand zu haben. Der Begriff des Rätsels scheint hier bestenfalls den selben Status wie jene Marxʼschen »Metaphern«, von denen Louis Althusser gesagt hat, dass sie »fast schon vollkommene Begriffe sind« und »denen es eigentlich nur daran fehlt, dass sie als solche erfasst und damit als Begriff festgehalten und entwickelt worden sind« (Althusser 2015: 432). Der vorliegende Beitrag ist daher weniger ein Beitrag zur Marx-Forschung im engeren Sinne, als ein Beitrag zur Marx-Kritik. Vorausgesetzt, man versteht Kritik im spezifischen Sinne der romantischen Kunstkritik als einen theoretischen Modus, in dem es nicht um »die Beurteilung eines Werkes« geht, sondern darum, »die geheimen Anlagen des Werkes auf[zu]decken« und »seine verhohlenen Absichten [zu] vollstrecken«.4 Es geht mir im Folgenden nicht darum, die starke These zu vertreten, dass Marx ein Theoretiker des Rätsels gewesen ist und sich seine Kritik der Politischen Ökonomie als Rätseltheorie des Kapitalismus rekonstruieren lässt.5 Vielmehr gehe ich von der schwachen These aus, dass sich im Marx’schen Werk an verschiedenen Stellen Hinweise darauf finden lassen, dass sich der Kapitalismus als ein Rätsel begreifen und analysieren lässt. Im Folgenden möchte ich das Potenzial dieser bei Marx angelegten Idee entfalten und zwar ausschließlich mit Blick auf die eingangs erwähnte doppelte Herausforderung, die Marx’sche (Kritik der) Politischen Ökonomie im Handgemenge konkurrierender Theorien sowohl gegenüber der klassischen politischen Ökonomie à la Adam Smith (Teil 1) als auch gegenüber der sozialistischen Ökonomiekritik Pierre-Joseph Proudhons (Teil 2) positionieren zu müssen. Marx selbst hat dieses Potenzial weder erkannt noch ausgeschöpft. In diesem Sinne geht der vorliegende Beitrag mit Marx über Marx hinaus und muss denjenigen, die mit Marx bei Marx bleiben, spekulativ erscheinen. Gleichwohl scheint mir eine solche kri-

3

Für die Annahme, dass es sich hierbei um eine technische Verwendungsweise des Rätselbegriffs handelt, also mit dem Begriff etwas Bestimmtes gemeint ist, spricht auch die Tatsache, dass die Mehrheit der Rätsel-Stellen im Kapital erst im Zuge der Überarbeitung der Erstausgabe im Dezember 1871/Januar 1872 Eingang in den Text gefunden haben.

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Benjamin 2008: 74. Vgl. hierzu auch Steiner 1989 und Allerkamp/Orozco/Witt 2015.

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Eine solches Projekt könnte an die Forschungsresultate der so genannten neuen MarxLektüre anschließen, die in ihrer Rekonstruktion der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie als »kritische Kategorienlehre« (Brentel 1989: 15) immer wieder die Marx’sche Idee der Verrätselung des Gesellschaftlichen in und durch die Ökonomie thematisieren, ohne dabei jedoch den Marx’schen Begriff des Rätsels rätseltheoretisch zu explizieren. Vgl. hierzu symptomatisch Kirchhoff 2004.

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tische Interpretationshaltung gegenüber Marx gerechtfertigt zu sein: Nicht nur, weil sie sich auf eine Rezeptionstradition berufen kann, die von der frühen Kritischen Theorie bis zu Jacques Derrida reicht, sondern auch, weil sie sich auf Marx selbst beziehen kann, der sein eigenes Denken ebenfalls für einen fortwährend fortzusetzenden Zusammenhang gehalten hat.

1. T EIL : J ENSEITS DER KLASSISCHEN POLITISCHEN Ö KONOMIE Rätseldenken stellt eine spezifische kognitive Tätigkeit dar, die – vereinfacht gesagt – drei aufeinander aufbauende Schritte umfasst.6 Rätseldenken beginnt mit dem Gewahrwerden des Rätselbildes, das heißt mit der Fähigkeit, etwas als etwas Rätselhaftes wahrzunehmen und in ein angemessenes Rätselbild zu übersetzen. Der zweite Schritt besteht darin, die im Rätselbild verborgene Ambivalenz durch die Wahl des richtigen Kontextes sichtbar zu machen, was die Voraussetzung für den dritten und letzten Schritt des Rätseldenkens ist: Die Schlussfolgerung auf die Regel, die dem Rätselbild zugrunde liegt und seinen rätselhaften Charakter zum Verschwinden bringt. Beginnen wir die Rekonstruktion des Rätselbegriffs im Marx’schen Denken mit dem ersten Schritt. Das Rätseldenken muss die empirische Erscheinung als Rätselbild anschauen lernen, das heißt als ein abgeschlossenes, in sich komplexes Gebilde, das eine zugrundeliegende Rationalität virtuell enthält, ohne dass sie auf den ersten Blick sichtbar wäre. Behilflich ist ihm dabei die rätselhafte Erscheinung selbst, die in der Regel über einen so genannten ›Block‹ verfügt, das heißt über ein Element, das die oder den Betrachter/in darauf hinweist, dass mit dem vorliegenden Phänomen in epistemischer Hinsicht etwas nicht stimmt. In dem folgenden Rätsel, das ich immer wieder zu Illustrationszwecken heranziehen werde, besteht das ›blockierende‹ Element in den offensichtlich falschen Resultaten der ersten beiden Zeilen.

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2+8

=2

9–1+8

=3

3+9

=?

Ich beziehe mich hierbei unter anderem auf die Analysen des Rätseldenkens, wie sie die renommierte Rätselforscherin Elli Köngäs-Maranda vorgelegt hat (vgl. KöngäsMaranda 1971a und Köngäs-Maranda 1971b).

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Die dortigen Ergebnisse 2 und 3 weisen den bzw. die Betrachter/in darauf hin, dass er oder sie es augenscheinlich nicht mit gewöhnlichen mathematischen Gleichungen zu tun hat; folglich das Fragezeichen der dritten Zeile nicht einfach durch die Antwort 12 aufgelöst werden kann. Den rätselhaften Gleichungen liegt offensichtlich eine andere Logik zugrunde als diejenige der Addition und Subtraktion von Zahlwerten. Dieses Gewahrwerden des Rätselcharakters eines Phänomens und seiner Darstellung in einem ihm angemessenen Rätselbild ist die conditio sine qua non des Rätseldenkens. Wer nicht erkennt, dass das empirisch Gegebene rätselhaft ist und nicht vermag, dies in ein adäquates Rätselbild zum Ausdruck zu bringen, der kann auch nicht im Modus des Rätseldenkens über das Gegebene nachdenken. Dies gilt auch für den Fall der kapitalistischen Ökonomie. Das große Verdienst der klassischen politischen Ökonomie, wie sie etwa von Adam Smith verkörpert wird, sieht Marx darin, die grundsätzliche Rätselhaftigkeit der ökonomischen Erscheinungswelt erkannt und sich an die Konstruktion eines entsprechenden Rätselbildes gemacht zu haben. Die Merkantilisten des 17. Jahrhunderts hatten bis dato gar nicht wahrgenommen, dass mit der Erscheinungsweise der ökonomischen Phänomene in der so genannten Preis- bzw. Geldform etwas nicht stimmt. Ähnlich wie das heutige Alltagsbewusstsein, so hat auch das theoretische Bewusstsein der Merkantilisten keinen Anstoß daran genommen, dass alle ökonomischen Waren – egal ob es sich um Produkte oder Dienstleistungen handelt – ihren Wert in der Form ›X kostet Y‹ ausdrücken. Folgerichtig – oder besser gesagt: folgefälschlich – sahen die Merkantilisten den Wohlstand einer Gesellschaft in der größtmöglichen Anhäufung von Geld und Gold. Anders Adam Smith: Er kritisiert Theorie und Praxis der Merkantilisten vehement, weil sie seiner Ansicht nach in einem grundlegenden Irrtum über die wahren Ursachen ökonomischen Reichtums befangen sind. Sie erkennen nicht, dass die Arbeit die eigentliche Quelle des ökonomischen Werts einer Sache im Besonderen und des gesellschaftlichen Reichtums im Allgemeinen darstellt. Smith vollzieht damit laut Marx einen epochalen Perspektivenwechsel auf die Erscheinungswelt des Ökonomischen. »Die späte wissenschaftliche Entdeckung, daß die Arbeitsprodukte, sofern sie Werthe, bloss sachliche Ausdrücke der in ihrer Production verausgabten menschlichen Arbeit sind, macht Epoche in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit«. (MEGA2 II/6: 42)

Die klassische politische Ökonomie erkennt hier zum ersten Mal den rätselhaften Charakter der (kapitalistischen) Wirtschaftswelt, das heißt die Tatsache, dass die Erscheinungsweise des ökonomischen Werts in der Preis- bzw. Geldform kein

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einfaches Faktum ist, sondern ein rätselhaftes Phänomen, das nach Erklärung verlangt. Allerdings scheitert sie daran, das richtige Rätselbild für diesen Sachverhalt zu finden und kann somit nicht den zweiten Schritt des Rätseldenkens bewältigen, der darin besteht, innerhalb des Rätselbildes das entscheidende Element in seinem alternativen Bedeutungsgehalt zu erfassen. Hierzu ist es notwendig, den gegebenen und gewohnten Bedeutungskontext hinter sich zu lassen. Im Fall des beispielhaften Rätselbildes – 2+8

=2

9–1+8

=3

3+9

=?

– bedeutet dies, vom Kontext des Addierens bzw. Subtrahierens von Zahlwerten zu abstrahieren. Erfolgreiches Rätseldenken muss dem unwiderstehlichen Zwang habituell verfestigter Denk- und Deutungsmuster widerstehen, um den richtigen alternativen Bedeutungskontext feststellen und das ambivalente Element des Rätselbildes in seiner anderen Bedeutung erkennen zu können. Das Problem dabei ist, dass quasi jedes Element des Rätselbildes in zahlreiche alternative Bedeutungskontexte gestellt werden kann: Die Ziffern können für Buchstaben stehen oder als bildliche Elemente mit besonderen Eigenschaften wahrgenommen werden; die Additions- und Subtraktionszeichen können andere logische Operationen meinen oder als zu zählende graphische Elemente gemeint sein, die einzelnen Gleichungen können zu vervollständigende Zeichnungen darstellen, die man im Querformat betrachten muss, usw. Um das richtige Element im richtigen alternativen Bedeutungskontext sehen zu können, bleibt dem oder der Rätselratenden nichts Anderes übrig, als mit Hilfe diagrammatischer Techniken andere Sichtweisen auf das Rätselbild auszuprobieren.7 Er oder sie wird das Rätselbild in seiner Materialität manipulieren – mit dem Stift mögliche Fortsetzungen notieren, auf einen Zettel ähnliche Gleichungen kritzeln, es hin und her drehen und auf den Kopf legen usw. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Marx ebenfalls einen intensiven Gebrauch von diagrammatische Praktiken macht und zwar ausgerechnet an jenem Ort, wo er den Begriff des Rätsels zum ersten Mal in einer theoretisch gehaltvollen Bedeutung zu verwenden scheint, nämlich in den so genannten Krisen-

7

Mit diagrammatischen Techniken sind hierbei – im Anschluss an die Arbeiten von Sibylle Krämer und Frederik Stjernfelt – epistemischen Praktiken gemeint, die genuin mit Formen der Veranschaulichung verbunden sind. Vgl. hierzu insbesondere Krämer 2016 und Stjernfeldt 2007.

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heften (books of crisis), die Marx in den Jahren 1856/57 anlegt. In diesen Jahren wird die Weltwirtschaft von einer schweren Krise heimgesucht, die – anders als von Marx und Engels erwartet – ausgerechnet Frankreich verschont. Dieses Rätsel Frankreich zu lösen, wird von Marx zu einer theoretischen Aufgabe ersten Ranges erklärt.8 Um zu einer Lösung zu kommen, legt Marx die so genannten Krisenhefte an, in denen er sich mit Hilfe diagrammatischer Praktiken wie der Anfertigung von Tabellen, Kollagen von Zeitungsartikeln etc. das Krisengeschehen vor Augen zu stellen versucht – in der Hoffnung, so könnte man mit Rückgriff auf das Vokabular der Rätseltheorie sagen –, durch diese diagrammatischen Visualisierungsstrategien das richtige Rätselbild für die französische Krise zu finden und somit die verborgene Gesetzmäßigkeit innerhalb des empirischen Beobachtungsmaterials sichtbar zu machen. Ein anderes und vermutlich das prominenteste Beispiel für die Marxʼsche Verwendungsweise diagrammatischer Techniken ist die Wertform-Analyse im Kapital. Dass Marx bei seiner Analyse der Wertform auf Aristoteles zurückgreift und diesen als seinen Vordenker inszeniert, der nur aufgrund des Entwicklungsstadiums der antiken Wirtschaftsform nicht zu dem gleichen Ergebnis wie Marx gekommen ist (vgl. MEGA2 II/6: 91 f.), darf nicht über die Novität der Marxʼschen Analyse hinwegtäuschen. Es ist Marx, der als erster und einziger die ökonomische Erscheinungsweise des Werts in ein graphisches Rätselbild übersetzt: »χ Waare A = y Waare B oder: χ Waare A ist y Waare B werth« (ebd.: 81)

Dieses Rätselbild der einfachen Wertform ist – wie jedes Rätselbild – kein einfaches Abbild der Empirie, sondern eine Konstruktion. Im Fall des Rätselbildes der einfachen Wertform handelt es sich um das Ergebnis einer bereits erfolgten Analyse, die Marx zu der Erkenntnis geführt hat, dass das »Geheimniß aller Werthform [...] in dieser einfachen Werthform« steckt, so dass bereits »[i]hre Analyse [...] die eigentliche Schwierigkeit« (ebd.: 81) bietet. Mit anderen Worten: Marx glaubt mit der graphischen Darstellung der einfachen Wertform das angemessene Rätselbild gefunden zu haben, um das Rätselhafte der ökonomischen Erscheinungswelt – die Erscheinungsweise des Werts in der Geld- bzw. Preisform – darstellen und lösen zu können. Er geht damit nicht nur einen entscheidenden Schritt über Aristoteles hinaus, sondern auch über die klassische

8

In einem Brief an Engels vom 25. Dezember 1857 hält Marx fest, dass »es jetzt unsre erste Aufgabe ist, klar über die französischen Zustände zu werden« (MEGA² III/8: 229).

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bürgerliche Ökonomie, die nämlich nicht erkennt, „daß schon der einfachste Werthausdruck, wie 20 Ellen Leinwand = 1 Rock, das Räthsel der Aequivalentform zu lösen giebt« (ebd.: 90) und stattdessen »mit stets erneutem Vergnügen den Katalog all des Waarenpöbels ableiert, der seiner Zeit die Rolle des Waarenaequivalents gespielt hat« (ebd.). Dank der (rätsel)bildlichen Darstellung »χ Waare A = y Waare B oder: χ Waare A ist y Waare B werth« (ebd.: 81) wird es für den Leser und die Leserin des Kapitals möglich, das entscheidende ambivalente Element des Rätselbildes in seiner Doppelbedeutung zu sehen. Über den richtigen Bedeutungskontext hat Marx den Leser bzw. die Leserin bereits im vorangegangenen Kapitel über den »Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit« (ebd.: 75) in Kenntnis gesetzt. Dort hatte er erläutert, dass Arbeit im Kapitalismus nicht nur konkrete Arbeit ist, die den Gebrauchswert einer Sache hervorbringt, sondern auch und vor allem abstrakte Arbeit, die für die Entstehung des Werts verantwortlich ist. Diese Unterscheidung erlaubt es nun, das ambivalente Element des Rätselbildes – das Gleichheitszeichen »=« bzw. den sprachlichen Ausdruck »ist wert« – in seiner anderen Bedeutung zu verstehen. Im gewöhnlichen und gewohnten Bedeutungskontext des Marktes, in dem das Alltagsbewusstsein des Lesers bzw. der Leserin befangen ist, verweisen die Ausdrücke »=« bzw. »ist wert« ausschließlich auf den Marktpreis einer Ware. Dass eine Kutsche 100 Pfund wert ist, bedeutet nichts Anderes, als dass sie 100 Pfund kostet, das heißt für 100 Pfund erworben werden kann. Erst wenn man von diesem gewohnten Bedeutungskontext abstrahiert und durch den Bedeutungskontext der (abstrakten) Arbeit ersetzt, erkennt man, dass die Elemente »=« bzw. »ist wert« noch eine andere Bedeutung haben, insofern sie für den gesellschaftlichen Wert stehen, der im Äquivalenzverhältnis zweier Waren zum Ausdruck kommt. Es ist wie bei dem eingangs gestellten Rätsel: 2+8

=2

9–1+8

=3

3+9

=?

Auch dort muss sich der bzw. die Betrachter/in vom gewohnten Kontext der Addition bzw. Subtraktion von Zahlen freimachen und den entscheidenden alternativen Bedeutungskontext finden – in diesem Fall: das Addieren von Kreisflächen –, um das entscheidende ambivalente Element innerhalb des Rätselbildes in seiner Doppeldeutigkeit erkennen zu können, nämlich dass die Kreisflächen sowohl Bestandteil der geschriebenen Ziffern 8 und 9 sind, als auch eigenständige, zählbare Bildelemente. Nur wer diese Ambivalenz erkannt hat, kann den dritten und

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letzten Schritt des Rätseldenkens vollziehen, nämlich die Regel erkennen, die dem Rätselbild zugrunde liegt und ihm jeden Anschein von Rätselhaftigkeit nimmt. Auf dieselbe Weise muss das Rätselbild »χ Waare A = y Waare B oder: χ Waare A ist y Waare B werth« (ebd.: 81) in den alternativen Bedeutungskontext abstrakter Arbeit gestellt werden, um das entscheidende Element »=« bzw. »ist wert« in seiner Ambivalenz – als Ausdruck des Marktpreises und Ausdruck des Wertes – erkennen und im letzten Schritt auf die verborgene Gesetzmäßigkeit des Rätselbildes schließen zu können. Das Schicksal der klassischen bürgerlichen Ökonomie à la Adam Smith besteht darin, dass sie zwar die Rätselhaftigkeit der Preis- bzw. Geldform erkennt, aber nicht zwischen konkreter und abstrakter Arbeit unterscheidet und somit nicht in der Lage ist, das richtige Rätselbild zu konstruieren. Smith und die anderen Vertreter der klassischen bürgerlichen Ökonomie sehen in der Arbeit nur einen »individuelle[n] Prozeß zwischen Mensch und Natur, der für den Menschen [...] Mühe und Last bedeutet« (Heinrich 2017: 206), so dass sie das Rätsel der Preis- bzw. Geldform nicht lösen können. Nur wer die »zwieschlächtige Natur der in der Ware enthaltenen Arbeit« (MEGA2 II/6: 75) erkannt hat, kann die Rätselhaftigkeit der Geld- und Preisform in ein angemessenes Rätselbild übersetzen, die Ambivalenz des darin enthaltenen Elements »wert sein« erkennen und somit auch den dritten und letzten Schritt des Rätseldenkens vollziehen. Es verwundert daher nicht, wenn Marx konstatiert, dass der Doppelcharakter der Arbeit der entscheidende »Springpunkt ist, um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht« (ebd.) und im Begriff der abstrakten Arbeit seine ureigene theoretische Entdeckung sieht, die seine Theorie in entscheidender Weise von derjenigen der Vertreter der klassischen politischen Ökonomie unterscheidet. Die Bedeutung dieser Erkenntnis unterstreicht auch Engels, wenn er im Vorwort zum zweiten Band des Kapital schreibt, dass Marx nur deswegen den Mehrwert entdecken konnte, weil er »zum ersten Mal« erkannt hat, »welche Arbeit, und warum, und wie, [...] Werth bildet« (MEGA2 II/13: 18).9

9

Engels beschreibt die Marx’sche Entdeckung des Mehrwerts übrigens auf eine Weise, die sich rätseltheoretisch interpretieren lässt: Ebenso wie die Vorgänger von Lavoisier das Element des Sauerstoffs »bloß dargestellt haben, ohne auch nur zu ahnen, was sie dargestellt hatten« (MEGA² II/13: 18), während Lavoisier das dargestellte Element als Sauerstoff erkennen konnte, weil er von dem bis dahin geltenden Bedeutungskontext der »phlogistische(n) Chemie« (ebd.: 17) abstrahiert hat, ebenso hat Marx den Mehrwert entdeckt, der von seinen Vorgängern nur als »Produkten-Werththeil[…]« (ebd.) dargestellt wurde, ohne als Mehrwert begriffen zu werden, indem er von der bis dahin geltenden Vorstellung vom Wert abstrahiert hat. Es scheint so, als ob Engels hier be-

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Der dritte und letzte Schritt des Rätseldenkens besteht darin, wie schon angedeutet wurde, die Regel zu erkennen, die dem Rätselbild zugrunde liegt und für seine rätselhafte Erscheinungsweise verantwortlich ist. Logisch betrachtet handelt es sich bei dieser Art von Schlussfolgerung um eine Abduktion.10 Der oder die Ratende muss vom Ergebnis (dem Rätselbild) zugleich auf die Regel und den Fall schließen. Er oder sie muss erkennen, aufgrund welcher zugrundeliegenden Regel das Rätselbild genau diejenige spezifische Gestalt besitzt, die es besitzt. Eine solche Einsicht in das allgemeine Warum (Regel) und spezifische Weshalb (Fall) des Rätselbildes löst dessen Rätselhaftigkeit auf und verwandelt das Rätselbild in eine Art Evidenzbild, das keinerlei Fragen mehr aufwirft. In dem Rätselbild 2+8

=2

9–1+8

=3

3+9

=?

besteht die Abduktion darin, auf die folgende Regel zu kommen: »Addiere in jeder Reihe die Kreisflächen und notiere ihre Summe hinter dem Gleichheitszeichen.« Wer diese Regel erkannt hat, für den oder die verwandeln sich die vermeintlich verrückten Gleichungen der ersten beiden Zeilen in wahre Aussagen und der- oder diejenige kann mühelos das Ergebnis der dritten Gleichung angeben – 1 – und somit das Rätsel lösen. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass die Epistemologie des Rätsels die Besonderheit besitzt, dass sie Lösungen kennt, die zwar richtig, aber unwahr sind. Es kann durchaus sein, dass der oder die Rätselratende eine Regel findet, die ebenfalls die spezifische Erscheinungsform des Rätselbildes erklärt, ohne dass es sich dabei um die dem Rätselbild in Wahrheit zugrundeliegende Regel handelt. Diese epistemische Eigentümlichkeit macht die Anwesenheit eines Rätselgebers bzw. einer Rätselgeberin notwendig, der oder die die wahre Lösung des Rätsels kennt, so dass sie notfalls Lösungen zurückweisen kann, die zwar richtig, aber

schreibt, was wir soeben als zweiten Schritt des Rätseldenkens kennengelernt haben: Marx abstrahiert vom herkömmlichen Bedeutungskontext und ist daher in der Lage, den »Produkten-Werththeil« als ambivalentes Element wahrzunehmen und als Mehrwert zu dechiffrieren. 10 Der Begriff der Abduktion wurde ursprünglich von Charles S. Peirce ausgearbeitet. Er bezeichnet eine Form des Schlussfolgerns, die sich vom Akt der Induktion und der Deduktion unterscheidet: In der Abduktion wird eine »neue Regel [type] konstruiert, die zugleich klarmacht, was der Fall (token) ist« (Reichertz 2013: 18).

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trotzdem unwahr sind. Die Gruppe der Rätselratenden selbst ist hierzu nicht in der Lage, weil dem Rätselbild kein Kriterium zu entnehmen ist, das es erlauben würde, aus der Anzahl von richtigen Lösungen die wahre Lösung zu bestimmen. Anders gesagt: Im Fall des Rätsels ist die Wahrheit selbst das Kriterium für die Richtigkeit bzw. Falschheit der Lösung.11 An dieser Stelle wird auch die besondere wissenschaftstheoretische bzw. revolutionstheoretischen Attraktivität des Rätselparadigmas deutlich. Das Rätselparadigma ermöglicht es, konkurrierenden Theorien die Berechtigung absprechen zu können, ohne ihnen im Einzelnen ihre sachliche Falschheit nachweisen zu müssen. Es kann nämlich durchaus sein, dass konkurrierende Theorien ebenfalls richtige Lösungen für ein bestimmtes Rätsel angeben können – zum Beispiel die Konjunkturtheorie für das rätselhafte Auf und Ab der Volkswirtschaften. Eine Rätseltheorie des Kapitalismus könnte diese formal richtigen Lösungen allerdings mit leichter Hand als unwahre Lösungen zurückweisen, weil sie das Rätsel des Kapitalismus als solches nicht zum Verschwinden bringen. Genau dies würde aber der wahren Lösung des Rätsels des Kapitalismus gelingen. Sie würde nicht nur die Rätselbilder des Kapitalismus in Evidenzbilder verwandeln, sondern darüber hinaus das Rätsel des Kapitalismus als solches auflösen. Das Rätselparadigma beinhaltet eine utopisch-revolutionäre Dimension: Den Kapitalismus als Rätsel zu betrachten, bedeutet zwischen Theorie und Praxis, zwischen Rätseldenken und Revolution, einen Zusammenhang zu postulieren bzw. zumindest die Hoffnung auf die Existenz eines solchen Zusammenhangs zu bewahren. Eines Tages wird die wahre Lösung des Rätsels des Kapitalismus erkannt werden und somit der Kapitalismus selbst verschwinden.12

11 Rätsel besitzen also jenes Wahrheitskriterium des verum index sui et falsi, das Louis Althusser zum Dreh- und Angelpunkt seiner von Spinoza inspirierten, anti-hegelianischen Marx-Interpretation macht (vgl. hierzu Peden 2014: 145), ohne dass er dabei allerdings die Verbindung zwischen diesem Wahrheitskriterium und der bei Marx latent angelegten Epistemologie des Rätsels erkennen würde. 12 Es gibt zwei weitere Gründe, die das Rätselparadigma für Revolutionstheorien interessant machen: Erstens sind Rätsel in der Kulturgeschichte häufig als existenzielle Prüfungen verstanden worden. Bei den so genannten ›Halsrätseln‹ entscheidet die richtige bzw. falsche Lösung eines Rätsels über Leben und Tod der oder des Ratenden (vgl. Jolles 1957: 131 ff.). Ein Rätsel nicht zu lösen kann den Tod bedeuten (wie im Fall des Rätsels der Sphinx) oder auch das eigene Leben retten (wie im Fall von Turandot, die von ihren Freiern verschont bleibt, solange diese die von ihr gestellten Rätsel nicht lösen können). Zweitens können Rätsel der Initiation dienen. Im erfolgreichen Lösen eines Rätsels beweist die oder der Rätselratende ihre oder seine Würdigkeit, in einen

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2. T EIL : D IESSEITS

DER P ROUDHON ʼ SCHEN DER POLITISCHEN Ö KONOMIE

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K RITIK

Das Rätselparadigma erlaubt es nicht nur, die Differenz zwischen klassischer politischer Ökonomie und Marxʼscher Theorie als Differenz hinsichtlich der Konstruktion des Rätselbildes zu artikulieren, sondern besitzt darüber hinaus das Potenzial, die Grenze zwischen der Marx’schen Kritik der Politischen Ökonomie und jenen kritischen Theorien zu markieren, die ihrem eigenen Anspruch nach ebenfalls revolutionär sein wollen wie diejenige von Pierre-Joseph Proudhon. Wie bereits eingangs erwähnt wurde, verwendet Marx die Begriffe Rätsel und Geheimnis häufig synonym. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Begriff des Geheimnisses ausgesprochen kritisch sieht. Denn: Durch den Begriff des Geheimnisses wird das theoretische Denken zu leicht in die unfruchtbaren Höhen der »spekulativen Konstruktion« (MEW 2: 59) à la Hegel geführt wie bei manchen Junghegelianern. Am Ausführlichsten setzt sich Marx mit dieser ›Geheimnisvariante‹ der Hegelʼschen Dialektik in seinen Beiträgen zur Heiligen Familie auseinander, insbesondere in seiner kritischen Kommentierung von Franz Zychlin von Zychlinskis (Pseudonym: Szeliga) »kritische[r] Darstellung der ›Mystères de Paris‹« (ebd.) des französischen Autors Eugen Sue. Dort kritisiert Marx, dass Gesellschaftskritik im Modus der ›Geheimiskrämerei‹, so wie sie von Szeliga gefordert und praktiziert wird, nicht dazu führt, das wirklich »Verborgene zu enthüllen«, sondern stattdessen, bereits »Enthüllte[s] zu verbergen« (ebd.: 58). Verantwortlich hierfür ist der Begriff des Geheimnisses, der die gefährliche Tendenz besitzt, sich als »selbstständiges Subjekt« zu inszenieren, »das sich in den wirklichen Zuständen und Personen inkarniert« (ebd.: 63). Soll heißen: Das Paradigma des Geheimnisses verführt das Denken dazu, sich nicht mehr mit dem wirklich verborgenen Gesetzmäßigkeiten der Phänomene auseinanderzusetzen, sondern sich stattdessen damit zufriedenzugeben, über alle Phänomene den Schleier desselben abstrakten Geheimnisses zu werfen, um dieses anschließend ohne weiteren Erkenntnisgewinn zu lüften. Diese Geheimnisvariante der Hegelʼschen Dialektik sieht Marx nicht nur beim Junghegelianer Szeliga am Werk, sondern auch bei Pierre-Joseph Proudhon und dessen missglücktem Versuch, die Hegelʼsche Dialektik auf das Gebiet

bestimmten sozialen Kreis, zum Beispiel eine revolutionäre Bewegung, aufgenommen zu werden (vgl. Jolles 1958: 135 f.). Durch Verrätselung des revolutionären Wissens kann garantiert werden, dass nur politisch Gleichgesinnte in seinen Besitz kommen.

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der Ökonomie anzuwenden.13 Im Elend der Philosophie liefert Marx eine ausführliche Kritik dieses Proudhonʼschen Unternehmens, die auch von der Gegenüberstellung mit Ricardos wissenschaftlicher, dem Paradigma des Rätsels verpflichteter Erforschung des Ökonomischen lebt. Laut Marx sucht Proudhon gezielt »einzelne ökonomische Thatsachen […], die er martert und fälscht, um sie als Beispiele, als bereits bestehende Anwendungen, als eine der Verwirklichung seiner neuschöpferischen Ideen hinstellen zu können« (MEGA 2 I/30: 252). Oder um es mit dem Vokabular der in der Heiligen Familie entwickelten Kritik an der Geheimniskrämerei-Dialektik zu sagen: »Nachdem er die Kategorie ›das Geheimnis‹ aus der wirklichen Welt erzeugt hat, erzeugt er die wirkliche Welt aus dieser Kategorie« (MEW 2: 63). Proudhon glaubt, die kapitalistische Wirtschaft würde auf dem Geheimnis des ›konstituierten Werts‹ basieren, und macht sich daran, hinter jedem ökonomischen Phänomen dieses Geheimnis zu enthüllen. Wie Szeliga »›das Geheimnis‹ in ein selbständiges Subjekt [verwandelt], das sich in den wirklichen Zuständen und Personen inkarniert« (ebd.), so abstrahiert Proudhon von der »wirklichen Bewegung« der bürgerlichen Produktion, »um neue Prozesse zu erfinden und die Welt nach einer angeblich neuen Formel einzurichten« (MEGA2 I/30: 252).14 Demgegenüber nimmt Ricardo die

13 Althusser erkennt, dass die kritische Auseinandersetzung mit der Hegelʼschen Dialektik den Beginn der wissenschaftlichen Phase von Marx markiert (vgl. hierzu Althusser 1975: 42 f). Allerdings sieht er nicht, dass sich die Kritik auf die Geheimnisvariante der Hegelʼschen Dialektik bezieht und nicht für ihre Rätselvariante gilt. Was es allerdings bedeutet, die Hegelʼsche Dialektik als Form eines Rätseldenkens zu interpretieren, müsste noch geklärt werden. 14 Oder wie es pointiert in dem Brief an Pawel W. Annenkow vom 28. Dezember 1846 heißt: »Ainsi, au lieu de considérer les catégories politico-économiques comme des abstractions faites des relations sociales réelles, transitoires, historiques, M. Proudhon, par une inversion mystique, ne voit dans les rapports réels que des incorporations de ces abstractions.« (MEGA² III/2: 75) (»Statt daher die politisch-ökonomischen Kategorien als Abstraktionen von den wirklichen, vorübergehenden, historischen gesellschaftlichen Beziehungen anzusehen, sieht Herr Proudhon, infolge einer mystischen Umkehrung, in den wirklichen Verhältnissen nur Verkörperungen dieser Abstraktionen.«, MEW 4: 552). Das Ergebnis ist »une phantasmagorie, qui a la présomption, d’être une phantasmagorie dialectique« (MEGA² III/2: 72); also eine Phantasmagorie, welche den Dünkel hat, eine dialektische Phantasmagorie zu sein oder wie es in der MEW zurückhaltender übersetzt heißt: eine »Phantasmagorie, die den Anspruch erhebt, dialektisch zu sein.« (MEW 4: 549) Eine pointierte Darstellung des Verhältnisses von Proudhon und Marx liefern Bohlender 2013 und Starosta 2016. Eine detail-

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kapitalistische Wirtschaft als Rätsel ernst, deren irritierende Erscheinungswelt durch Auffinden der richtigen, ihr zugrundeliegenden Regeln gelöst werden muss. »Ricardo konstatiert die Wahrheit seiner Formel, indem er sie aus allen wirthschaftlichen Vorgängen ableitet, und auf diese Art alle Erscheinungen erklärt, selbst diejenigen, welche im ersten Augenblick ihr zu widersprechen scheinen, wie die Rente, die Akkumulation der Kapitalien, und das Verhältnis der Löhne zu den Profiten. Gerade das ist es, was seine Lehre zu einem wissenschaftlichen System macht« (MEGA2 I/30: 252, Herv. B.R.)

Die Wissenschaftlichkeit von Ricardos Theoriebildung besteht laut Marx also darin, dass er – im Unterschied zu Proudhon – die ökonomische Wirklichkeit nicht als ein Geheimnis behandelt, sondern als ein Rätsel, dessen irritierende Rätselbilder (Rente, Akkumulation der Kapitalien, das Verhältnis der Löhne zu den Profiten) durch die Erkenntnis der zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeit in Evidenzbilder aufgelöst werden müssen. Folgerichtig stellt Ricardo einen wesentlichen Bezugspunkt für Marx’ eigene Reflexion des Ökonomischen dar, während er Proudhon in der französischen Erstausgabe des Elends der Philosophie als Geheimniskrämer karikiert. »Das Werk des Herrn Proudhon ist nicht ganz einfach eine Abhandlung über politische Ökonomie, ein gewöhnliches Buch, es ist eine Bibel: ›Mysterien‹, ›Geheimnisse, dem Buch Gottes entrissen‹, ›Offenbarungen‹, nichts davon fehlt.« (MEW 4: 66.)15

Das Paradigma des Rätsels ermöglicht es also nicht nur, die Marx’sche Position gegenüber der klassischen politischen Ökonomie zu bestimmen, sondern auch die Differenz zwischen seiner Kritik der politischen Ökonomie und derjenigen Proudhons zu bezeichnen.

lierte, allerdings wenig thesenstarke Darstellung des Verhältnisses von Proudhon und Marx findet sich in Hilmer 1997. 15 Im Original: »L’ouvrage de M. Proudhon n’est pas tout simplement un traité d’économie politique, un livre ordinaire, c’est une Bible: ›Mystères,‹ ›Secrets arrachés au sein de Dieu,‹ ›Révélations,‹ rien n’y manque.« (Marx 1847: 2) In der von Friedrich Engels herausgegebenen deutschen Ausgabe von 1885 fehlt interessanterweise diese als Motto vorangestellte Bemerkung, siehe hierzu MEGA2 I/30: 238.

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S CHLUSS Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist gewesen, die Marx’sche Redeweise vom Rätsel im Kontext seiner (Kritik der) Politischen Ökonomie ernst zu nehmen. Ob sich Marx den epistemologischen Implikationen des Begriffs des Rätsels vollständig bewusst gewesen ist, darf bezweifelt werden. Nichtsdestotrotz scheint es vielversprechend zu sein, die bei Marx zweifellos angelegte Rätselrede zu kritisieren und Schlüsselfragen, die sich im Zusammenhang mit der Marx’schen (Kritik der) Politischen Ökonomie stellen, vor dem Hintergrund des Rätselparadigmas neu zu betrachten. Hierzu gehört sicherlich die Frage nach der Positionierung der Marx’schen Theorie gegenüber der klassischen politischen Ökonomie und konkurrierenden Kritikformen, wie sie im vorliegenden Beitrag thematisiert wurde. Dazu zählen aber auch die Fragen der werkgeschichtlichen Entwicklung der Marxʼschen (Kritik der) Politischen Ökonomie, des Stellenwerts der dialektischen Methode innerhalb der Marx’schen Ökonomiekritik16 oder auch des Verhältnisses von Marx zu Ricardo17. All diese Fragen versprechen vor dem Hintergrund des Rätselparadigmas in neuem Licht zu erscheinen. Das Ziel des vorliegenden Artikels bestand nicht darin, das Rätsel des Marx’schen Gebrauchs des Rätselbegriffs vollständig zu entziffern, sondern den Leser und die Leserin davon zu überzeugen, dass eine rätseltheoretische Kritik der Marx’schen (Kritik der) Politischen Ökonomie ein lohnenswertes Unterfangen ist.

L ITERATUR Althusser, Louis (1975): Elemente der Selbstkritik, Berlin: Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung. Althusser, Louis (2015): »Das Objekt des Kapital«, in: Louis Althusser/Étienne Balibar/Roger Establet/Pierre Macherey/Jacques Rancière (Hg.), Das Kapital lesen (Vollständige und ergänzte Ausgabe mit Retraktionen zum ›Kapital‹), Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 263-439.

16 Vgl. hierzu u.a. Fulda 1974, Göhler 1980, Backhaus 2006, Reichelt 2008: 194-261. 17 Vor dem hier skizzierten Hintergrund ließe sich die zum Beispiel Frage aufwerfen, ob Marx nicht – zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner theoretischen Entwicklung – in Ricardo einen verwandten Rätseltheoretiker gesehen hat. Dies würde die hervorgehobene Bedeutung erklären, die Ricardo in der Marx’schen Auseinandersetzung mit den Vertretern der klassischen politischen Ökonomie spielt (vgl. hierzu u.a. Napoleoni 1974).

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218 | B ASTIAN RONGE

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Immanente Kritik oder Metakritik der Moral? Zu Normativität als Gegenstand und Grundlage der Marx’schen Gesellschaftskritik 1 L UKAS E GGER

Die Frage nach den normativen Grundlagen kritischer Gesellschaftstheorie im Allgemeinen und der Marx’schen im Besonderen hat seit den Interventionen von Jürgen Habermas in den 1960er und 1970er Jahren Dauerkonjunktur. Vor allem im Zuge der zögerlichen Marx-Renaissance in der jüngeren Vergangenheit hat die Debatte um die von ihm bei Marx vermissten normativen Fundamente von Gesellschaftskritik (vgl. Habermas 1976: 10 f.) noch an Intensität zugenommen. Davon zeugen einige Sammelbände und Monographien zu diesem Themenkomplex.2 Von besonderem Interesse scheint dabei das Konzept der immanenten Kritik zu sein, wie es maßgeblich von der frühen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entwickelt worden ist.3 Dieses geht davon aus, dass sich Kritik nicht ›von außen‹ an den kritisierten Gegenstand heranführen lasse, sondern dass die nor-

1

Der Vortrag, auf dem dieser Text basiert, wurde auf der Tagung, die dieser Band dokumentiert, mit dem Untertitel Zur Bedeutung von Freiheit und Gleichheit für den Marxschen Kritikbegriff gehalten. Dieser Untertitel wurde bei der Ausarbeitung durch einen – wie ich denke – passenderen ersetzt. Zudem führten die anregenden Diskussionen auf der Tagung dazu, dass, vor allem im letzten Teil dieses Textes, Argumente näher ausgeführt, verfeinert und korrigiert wurden. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder, Matthias Spekker sowie sämtlichen anderen Vortragenden, Mitdiskutanten und Mitdiskutantinnen für ihre Anregungen, Anmerkungen und Kritik bedanken.

2

Vgl. z.B. Elbe/Ellmers/Dumbadze 2011; Lindner 2011, 2013; Henning 2015; Ell-

3

Vgl. z.B. Stahl 2013; Romero 2014. Jaeggi 2014.

mers/Hogh 2017.

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mative Messlatte dem Objekt der Kritik selbst entnommen werden müsse, um es anhand dieser kritisieren zu können. Anstatt diese normativen Maßstäbe jedoch einfach aufzunehmen, müsse gezeigt werden, dass spezifische Ideale zwar institutionalisiert und allgemein akzeptiert sind, zugleich aber notwendig unverwirklicht bleiben oder zumindest nur defizitär verwirklicht werden können. Dieser Widerspruch zwischen Begriff und Realität würde schließlich den Imperativ von gesellschaftlicher Transformation aufzeigen. Als paradigmatisches Beispiel für eine so verstandene immanente Kritik gilt in vielen Publikationen der letzten Jahre Marx’ Kritik der politischen Ökonomie (vgl. z.B. Jaeggi 2014: 285; Stahl 2013: 48). Marx hätte im Kapital versucht, die Selbstauffassung der bürgerlichen Gesellschaft, die verwirklichte Freiheit und Gleichheit darzustellen, durch einen Abgleich von Ideal und Realität zu destruieren. Ich will jedoch im Folgenden darlegen, dass die behauptete Gemeinsamkeit dieser Variante von immanenter Kritik mit Marx’ Kritikmodus nur für eine kurze Phase seines Schaffens, in der ersten Hälfte der 1840er Jahre, haltbar ist, in der er stark vom junghegelianischen Diskurs geprägt war (vgl. Kratz 1979). Mit der Deutschen Ideologie entfernt sich Marx von normimmanenter Kritik4, und diese wird in seinem ökonomiekritischen Spätwerk einer expliziten Kritik unterzogen. Ab 1845 entwickelt Marx eine Kritik an Moral als ideologischer Form (vgl. Haug 1986), die sich die allgemein akzeptierten, immanenten Normen der bürgerlichen Gesellschaft zum Gegenstand anstatt zum Bezugspunkt macht. Er leistet damit etwas, das Michael Heinrich treffend als »Metakritik des neuzeitlichen Moraldiskurses« (Heinrich 2014: 378) bezeichnet hat. Dieses Moment der Marx’schen Ideologiekritik will ich herausarbeiten und von seinem frühen Kritikverständnis abgrenzen. Dafür werde ich zunächst an ein paar Beispielen zeigen, wie von Vertreter/innen der Kritischen Theorie normimmanente Kritik konzipiert wird, und darlegen, dass diese Interpretation sich durchaus zurecht auf das Kritikverständnis von Marx in seiner frühen Staatskritik beziehen kann. In einem zweiten Schritt will ich jedoch einwenden, dass bei Marx ab 1845 eine Distanzierung von diesem Modus der Kritik zu beobachten ist. Die Auseinandersetzung mit Pierre-Joseph Proudhon wird sich dabei als besonders bedeutend erweisen. Dadurch wird in einem dritten Schritt auch deutlich werden, dass die reservierte Stellung, die Ethik im Marx’schen Spätwerk innehat und die ab und an den Eindruck eines

4

Da es verschiedene Definitionen von immanenter Kritik gibt, werde ich, um deutlich zu machen, dass es um die kritische Inanspruchnahme von immanenten Wertvorstellungen geht, im Anschluss an Urs Lindner den Begriff der Normimmanenz bzw. normimmanenten Kritik verwenden (vgl. Lindner 2011: 107 ff.; ebd. 2013: 91 f.).

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›quasi-nietzscheanischen‹ Antimoralismus erweckt, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politisch-strategische Gründe hat, die im Zusammenhang mit Marx’ Interventionen innerhalb der Arbeiter/-innenbewegung stehen. Abschließend werde ich daher noch einige Bemerkungen anschließen, wie Marx’ Moralkritik und die bei ihm ebenso anzutreffenden ethischen Anklänge zu vereinen sind. Dabei werde ich für den aristotelisch-perfektionistischen Zugang argumentieren, wie er beispielsweise von Lindner (vgl. Lindner 2011; ebd. 2013) und Henning (vgl. Henning 2011; ebd. 2017) vertreten wird, und zugleich konstatieren, dass sich zwar durchaus ethische Evaluationen im Kapital finden lassen, diese jedoch nur ein akzidentielles Moment des Marx’schen Kritikmodus ausmachen.

G RUNDZÜGE

NORMIMMANENTER

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Normimmanente Kritik kann mehrere Formen annehmen. Rahel Jaeggi, eine ihrer prominentesten, aktuellen Vertreter/-innen, definiert sie in ihrem Buch Kritik von Lebensformen als Kritik, welche die normativen Vorstellungen einer Gesellschaft zu ihrem Ausgangspunkt macht und diese als wahr anerkennt und lediglich moniert, sie seien innerhalb der gegebenen Ordnung nicht realisierbar. Die gesellschaftlichen Institutionen würden zugleich auf Normen beruhen und diese generieren, müssten die Erwartungen, die in diese gesetzt werden, aber notwendigerweise frustrieren (vgl. Jaeggi 2014: 284). Dieser Widerspruch von Ideal und Wirklichkeit würde folglich zum Imperativ führen, die Ordnung, die die Verwirklichung der durch sie selbst bedingten Ideale permanent verbaut, zu überwinden. Dabei würden jedoch nicht nur die kritisierten gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch die Werte selbst transformiert. Jaeggi unterscheidet daher die immanente von der internen Kritik. Letztere wolle lediglich die Realität dem Ideal anpassen, ohne dass dabei die Normen selbst verändert würden (vgl. ebd.: 263 ff.). In anderen Zugängen, beispielsweise bei Titus Stahl (2013) oder José M. Romero (2014), wird wiederum jede Form der Kritik als immanente Kritik bezeichnet, die sich die in Praktiken inhärenten Normen zum Bezugspunkt für dieselbe macht – unabhängig davon, ob die Ideale selbst im Zuge ihrer Überwindung transformiert werden sollen. Als allgemeine Eigenschaft von normimmanenter Kritik kann daher festgehalten werden, dass sie ihren Gegenstand an seinen inhärenten, normativen Maßstäben misst, ohne ihm ein externes, normatives Kriterium gegenüberzustellen, wie z.B. ein überhistorisches Ideal oder metaphysisches Prinzip (vgl. Romero 2014: 7).

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Diese aktuelle Auffassung normimmanenter Kritik von Jaeggi und anderen Autoren und Autorinnen deckt sich trotz Differenzen im Detail durchaus mit denen der frühen Kritischen Theorie. Adorno z.B. beschreibt Ideologiekritik als »Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung« und führt weiter aus: »Unwahr werden eigentliche Ideologien erst durch ihr Verhältnis zu der bestehenden Wirklichkeit. Sie können ›an sich‹ wahr sein, so wie die Ideen Freiheit, Menschlichkeit, Gerechtigkeit es sind, aber sie gebärden sich, als wären sie bereits realisiert.« (Adorno 2003: 473)5 Als Bezugspunkt für diese Auffassung dient vielen Vertreter/-innen von normimmanenter Kritik der junge Marx der frühen 1840er Jahre, vor allem sein berühmter Brief an Arnold Ruge.6 Darin heißt es, dass Kritik »aus den eigenen Formen der existirenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln« müsse (MEGA² III/1: 55), anstatt dem Sein abstrakt ein Sollen entgegenzusetzen. Die Kommunisten entwickelten »aus den Principien der Welt neue Principien« (ebd.: 56). Der immanente, normative Bezugspunkt für Marx ist hier – noch ganz nach Hegel und den Junghegelianern – ›die Vernunft‹. Marx meint, der politische Staat enthalte »in allen seinen modernen Formen die Forderungen der Vernunft«, und er unterstelle zugleich »überall die Vernunft als realisirt. Er geräth aber eben so überall in den Widerspruch seiner ideellen Bestimmung mit seinen realen Voraussetzungen.« (Ebd.: 55) Die verwirklichte Vernunft wäre nach dieser Auffassung die Übereinstimmung von Moral und Recht im Staat. Dementsprechend kritisiert Marx auch an Hegel in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, dieser habe den Staat schon als verwirklichte Moral beschrieben, ohne zu sehen, dass »die Moral unstaatlich und der Staat unmoralisch« sei (MEGA² I/2: 118), weil die Vernunft im Staat eben noch nicht zu sich gekommen sei. D.h., der Vernunft wird hier eine »eigenständige, normativ signifikante Existenz« (Stahl 2014: 37) innerhalb der Geschichte zugesprochen, die im politischen Staat materialisiert, aber nur defizitär verwirk-

5

Eine solche Ideologiekritik hielt Adorno für die spätkapitalistische Periode allerdings für nicht mehr durchführbar. Unter dem Einfluss von Kulturindustrie und nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts könne Kritik nur noch rein negativ vorgehen. Freyenhagen (2017) bezeichnet Adornos Ethik, die sich positiven Bestimmungen des Guten und Wahren verweigert und ihren Fokus auf menschliches Leid legt, daher als einen metaethischen Negativismus bzw. negativen Aristotelismus.

6

Heinrich wendet ein, dass der Briefwechsel zwischen Marx und Ruge, der in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wurde, »nur mit einer gewissen Vorsicht zu benutzen« sei (Heinrich 2014: 97, Fn. 22). Marx selbst habe Engels zufolge angemerkt, dass Ruge hier seine Intentionen entstellt hat (vgl. MEW 37: 527).

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licht sei. Der Widerspruch zwischen dem normativen Prinzip und seiner defizitären Verwirklichung wird dann sogleich als treibender, dialektischer Widerspruch, als Versprechen auf eine höhere und bessere Zukunft aufgefasst, in der sich Philosophie und Wirklichkeit gleich geworden sind und damit der junghegelianische Wunsch einer Verwirklichung der Philosophie erfüllt ist (vgl. Kratz 1979: 166 f.). In diesem Sinne kann Marx’ frühe Staatskritik als normimmanente Kritik aufgefasst werden. Von Vertreter/-innen der Kritischen Theorie wird nun diese Auffassung von Kritik des jungen Marx auch als Interpretationsgrundlage für sein ökonomiekritisches Spätwerk herangezogen. Dadurch wird das Kapital als Selbstkritik des bürgerlichen Bewusstseins aufgefasst, wobei die Gesellschaft darin mittels ihrer eigenen normativen Auffassungen an sich selbst gemessen werde. Das wird in einer von Hans-Georg Backhaus angefertigten Seminarmitschrift von 1962 deutlich, wo Adorno Marx’ Vorgehen folgendermaßen charakterisiert: »Die liberale Theorie wird [im Kapital; L.E.] mit ihrem eigenen Anspruch konfrontiert, bezogen auf den Tauschakt. ›Ihr sagt, es werden Äquivalente getauscht, es findet ein freier und gerechter Tausch statt, ich nehme Euch beim Wort, jetzt wollen wir sehen, wie es damit aussieht.‹ Das ist immanente Kritik.« (Adorno 2011: 505)

Diese Interpretation findet sich auch bei den späteren Generationen der Frankfurter Schule wieder.7 Rahel Jaeggi beschreibt Marx’ Kapitalismuskritik so, dass dieser »anhand der Normen von allgemeiner Freiheit und Gleichheit innerhalb des kapitalistischen Arbeitsmarktes [zeigen würde,] dass die im Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft verankerten und in ihrer sozialen Struktur implizierten Normen durch die in dieser Gesellschaft ebenso bestehenden sozialen Praktiken außer Kraft gesetzt werden.« (Jaeggi 2014: 285)

D.h., die Freiheit und Gleichheit in der Zirkulationssphäre und ihre angeblich defizitäre Verwirklichung über diese hinaus bildeten den normativen Maßstab für

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Vgl. z.B. Habermas (1963: 79 ff., 1976: 10 f.) und Benhabib (1986: 105 ff.). Dadurch soll natürlich keine bruchlose Kontinuität zwischen der frühen Kritischen Theorie und ihren diskurs- und anerkennungstheoretischen Nachfolger/-innen behauptet werden. In diesem speziellen Punkt, nämlich der Interpretation des Kritikmodus von Marx im Kapital als normimmanente Ideologiekritik, stimmen frühe und spätere Kritische Theorie jedoch ausnahmsweise überein.

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Marx’ Kritik am Kapitalismus. Diese Interpretation findet sich, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, auch bei Titus Stahl: Marx würde im Kapital analysieren, wie »die Praktiken der kapitalistischen Ökonomie von Normen strukturiert sind, die einerseits bestimmte Orientierungen der Teilnehmer sowohl normativ einfordern als auch funktional benötigen – etwa die Ideale der formalen Freiheit und Gleichheit –, deren Befriedigung sie aber andererseits konstitutiv nicht einlösen können.« (Stahl 2013: 48)

Zumindest nach Marx werden die Normen der formalen Freiheit und Gleichheit jedoch keineswegs durch die kapitalistischen Praktiken und Institutionen außer Kraft gesetzt. Wie ich nun zeigen will, ist ihre Verwirklichung in der Zirkulationssphäre untrennbar mit der Ausbeutung und damit materieller Ungleichheit in der Produktion verknüpft, weshalb diese Wertvorstellungen für Marx auch keinen normativen Überschuss oder ein irgendwie systemsprengendes Potential enthalten.

V ON DER NORMIMMANENTEN K RITIK DER M ORAL

ZUR

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Marx’ Kritik an den immanenten Normen der Zirkulationssphäre ist eingebettet in eine umfassendere Kritik an Moral als ideologischer Form im Zuge der Entwicklung seiner Ideologiekritik. Gerechtigkeitsvorstellungen werden dabei – zumindest nach dem epistemologischen Einschnitt8 der um 1845 in Marx’ Denken stattfindet – zunehmend als idealisierte Formen der ökonomischen Austauschverhältnisse und den damit zusammenhängenden Willensverhältnissen konzipiert und gelten Marx strikt als historisch-relativ (vgl. Maihofer 1992: 65 ff.). Diese Moralkritik lässt sich in zwei Phasen aufteilen: zuerst eine von Marx in den Schriften zwischen 1845 und 1849 vertretene, recht abstrakte Moralkritik auf Basis einer tendenziell empiristischen Gesellschaftstheorie und dann eine ab

8

Michael Heinrich (2014: 144 ff.) bestimmt diesen Einschnitt, ähnlich wie schon Louis Althusser (1968: 31), als Bruch mit der junghegelianischen Wesensphilosophie. Kratz (1979: 198-213) legt dar, wie dieser Einschnitt durch die Auseinandersetzung mit Max Stirner ausgelöst wurde, die dazu führte, dass Marx die junghegelianische Problematik hinter sich lassen konnte.

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1849 im Zuge der Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie entwickelte Metakritik moderner Moraldiskurse.9 Die erste Phase lässt sich vor allem an der Deutschen Ideologie von 1845 festmachen – der Schrift, in der Marx und Engels, wie Marx später schrieb, mit ihrem »ehemaligen philosophischen Gewissen« abrechnen wollten (MEGA² II/2: 101 f.). Der Junghegelianismus wurde von ihnen als bloße negative Spiegelung des Althegelianismus aufgefasst. Während letzterer die gesamte Wirklichkeit unter logische Begriffe subsumiert und damit als vernünftig legitimiert hätte, hätte ersterer diese Voraussetzung aufgenommen, jedoch die Begriffe als theologisch und unvernünftig kritisiert (vgl. MEW 3: 20 f.). Dieser metaphysische Philosophietypus, der die Welt mit der Philosophie versöhnen will, wird von Marx und Engels in langen polemischen Exkursen, die sich größtenteils gegen Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer und Max Stirner richten, verabschiedet. Der Begriff, unter dem sie den vormals von ihnen selbst vertretenen Modus des Denkens kritisieren, ist jener der Ideologie. Marx und Engels konzipieren den Zusammenhang von Denken und Wirklichkeit neu: Die Produktionsverhältnisse und die Formen, in denen sich die Menschen über diese Verhältnisse klar zu werden versuchen, werden als voneinander abhängige Ebenen einer gesellschaftlichen Totalität konzipiert (vgl. Kratz 1979: 245 ff.; Heinrich 2014: 147 f.). Als Ideologien gelten ihnen dabei in der Deutschen Ideologie kognitive Formen, die die Realität verzerrt wiedergeben – eine Möglichkeit, die sich erst durch die Arbeitsteilung, ferner durch die »Teilung der materiellen und geistigen Arbeit« ergeben hätte (MEW 3: 31). Die Trennung von Kopf- und Handarbeit habe dazu geführt, dass sich ein Teil der herrschenden Klasse von den materiellen Lebensbedingungen losreißen und sich ausschließlich mit geistiger, intellektueller Tätigkeit beschäftigen konnte. Diese Intellektuellen fungierten dann als die »aktiven konzeptiven Ideologen derselben« (ebd.: 46), die lediglich die praktischen Erfahrungen aus ihrer Klassenposition theoretisch überhöhten und verallgemeinerten, um anschließend den Rest der Bourgeoisie mit diesen Ideologien zu versorgen, wobei sich letztere zu diesen lediglich passiv und rezeptiv verhielte (vgl. ebd.: 47). Zudem verfüge die besitzende Klasse über die Mittel der geistigen Produktion und Distribution, d.h., nur sie habe Zugang zu den Institutionen, in

9

Diese Periodisierung stimmt überein mit Althussers Einteilung der Marx’schen Schriften in (ideologisches) Frühwerk, Werke des Bruchs bzw. des Übergangs und wissenschaftliches Spätwerk (vgl. Althusser 1968: 34 f.). Werden die absoluten Trennstriche, die Althusser zwischen diesen Phasen zieht, ein wenig aufgeweicht, erweist sich die Einteilung in heuristischem Sinne als durchaus hilfreich für die Untersuchung der Marx’schen Theorieentwicklung.

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denen theoretisches Wissen produziert wird, und zu den Instanzen, durch die diese Theorien dann verbreitet werden. »Die herrschenden Gedanken sind« daher, wie es in der Deutschen Ideologie weiter heißt, »nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.« (Ebd.: 46) Die rein geistig tätigen Ideologen würden in abstrakten Begriffen unter dem Schein der Universalität lediglich ihre Klasseninteressen verdolmetschen, welche schließlich, da die Herrschenden über die Produktions- und Distributionsmittel von Wissen verfügen, verallgemeinert würden. Damit werden auch Moralvorstellungen von Marx und Engels nunmehr als die »[i]deell ausgedrückten Existenzbedingungen der herrschenden Klasse« verstanden (MEW 3: 405), was sich auch im Kommunistischen Manifest zeigt, wo Moral neben Gesetz und Religion als bürgerliches Vorurteil bezeichnet wird, hinter dem sich »bürgerliche Interessen verstecken« (MEW 4: 472). Als wissenschaftlicher Gegensatz zur Ideologie – worunter auch die Moral als Teil des ideologischen Überbaus fällt (vgl. MEW 3: 26) – wird von Marx und Engels zu diesem Zeitpunkt tendenziell10 ein recht platter Empirismus eingefordert, der die wirklichen Individuen und ihre materiellen Lebensbedingungen »auf rein empirischem Wege« konstatieren will (ebd.: 20). Daher verwerfen sie jede Kritik am Kapitalismus ausgehend von Ideen wie Freiheit und Gleichheit, da durch solche leeren Abstraktionen das Interesse der Herrschenden nur verdeckt werde (vgl. ebd.: 235). Zumindest teilweise wird der Ideologiebegriff damit in eine Manipulationstheorie überführt, die den Grund für herrschaftsaffirmatives Bewusstsein darin sieht, dass die Bourgeoisie es geschafft habe, durch ihre Ideologen und die geistige Distribution ihrer Ideen die Beherrschten gefügig zu machen (vgl. Heinrich 2014: 140, 144 f.). Hier wird deutlich, dass Marx seine frühe normimmanente Kritik, in der sich eine normativ aufgeladene Vernunft in der Geschichte nach und nach verwirklicht, ab 1845 zunehmend durch eine abstrakte, (der Selbstauffassung nach) nicht-normative Moralkritik auf Basis eines materialistischen Verständnisses von Gesellschaft ersetzt hat. Moral gilt vor diesem Hintergrund als luftige Abstraktion, losgelöst von der harten, empirischen Wirklichkeit, was in der Deutschen Ideologie aus der Teilung zwischen Kopf- und Handarbeit hergeleitet wird und

10 Es lassen sich in der Deutschen Ideologie auch Stellen finden, die auf eine komplexere Sozialtheorie hindeuten, bspw. wenn Marx und Engels die für den Kapitalismus zentrale »Verwandlung der persönlichen Mächte (Verhältnisse) in sachliche« (MEW 3: 74) thematisieren. Daher ist auch nur von einer empiristischen und manipulationstheoretischen Tendenz zu sprechen.

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in letzter Instanz auf Klasseninteressen zurückzuführen sei, die durch Moral verhüllt würden. Die Hoffnung bezüglich einer gesellschaftlichen Transformation wird auch nicht mehr im Widerspruch zwischen normativem Ideal und der Wirklichkeit des Staates gesucht, sondern in jenem zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verortet (vgl. MEW 3: 37 ff.).11 Daneben finden sich in der Deutschen Ideologie trotz des den gesamten Text durchziehenden antimoralischen Gestus immer wieder ethische Argumentationsmuster, beispielsweise wenn Marx und Engels Stirner für seinen negativ verengten Freiheitsbegriff kritisieren (vgl. MEW 3: 287; auch Lindner 2013: 182 f.). Dieser scheinbare Widerspruch zwischen offenem Antimoralismus und zugleich eindeutiger Inanspruchnahme ethischer Kategorien hat – vor allem im anglo-amerikanischen Raum in den 1970er und 1980er Jahren (vgl. dazu Geras 1985) – unter Marxisten und Marxistinnen einige Debatten ausgelöst. Auch im Kapital ist dieser Antimoralismus zu finden. Ich werde mich im letzten Teil dieses Textes dieser Problematik zuwenden. Bezüglich der Ideologiekritik von Marx und Engels muss jedoch festgehalten werden, dass sie durch ihren Bezug auf das Basis-Überbau-Schema, die sehr abstrakt gefasste Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeit und das tendenziell manipulationstheoretische Verständnis von Ideologie noch nicht auf der Höhe des Kapitals ist.12 Marx steht hier noch auf dem Standpunkt, den er später an Thomas Hodgskin in den Theorien über den Mehrwert kritisieren wird, nämlich dass dieser den Schein der Verhältnisse als »rein subjektive Täuschung« auffasse, »hinter der sich der Betrug und das Interesse der ausbeutenden Klassen versteckt« (MEGA² II/3.4: 1432), anstatt zu sehen, wie jener aus den Erscheinungsformen der realen Verhältnisse selbst resultiert. Schärfe gewinnt Marx’ Kritik der Moral erst durch die Auseinandersetzung mit dem französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon sowie den sogenannten ›ricardianischen Sozialisten‹ – einer Gruppe linker, englischer Ökonomen in der Nachfolge von Robert Owen – wie z.B. dem gerade erwähnten Thomas Hodgskin, William Thompson, John Bray und John Gray (vgl. dazu Hoff 2008).

11 Lindner beschreibt diesen Übergang bei Marx als einen von Normimmanenz zu Widerspruchsimmanenz (vgl. Lindner 2011: 109). 12 Wobei Lindner (2013: 180 f.) zuzustimmen ist, dass die Struktur des Marx’schen Ideologiekonzepts in der Deutschen Ideologie weitgehend mit jener des Kapital übereinstimmt, wenn sie auch im Detail noch defizitär ist.

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D IE AUSEINANDERSETZUNG MIT P ROUDHON DIE K RITIK DER N ORMIMMANENZ

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Helmut Brentel hat einmal festgestellt, dass die »Bedeutung Proudhons für die Anlage der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie […] nicht hoch genug einzuschätzen« sei (Brentel 1989: 191). Das gilt nicht nur für Marx’ ökonomische Einsichten, sondern auch für seinen Kritikmodus. Marx entwickelt in der Auseinandersetzung mit Proudhon auch eine Kritik der von ihm vormals selbst vertretenen Normimmanenz und damit auch seine Ideologie- und Moralkritik weiter. Die erste deutliche Stellungnahme gegen den zuvor von Marx vertretenen Kritikmodus findet sich schon im Elend der Philosophie, einer größtenteils polemischen Abfertigung von Proudhon von 1847. Einer von Marxʼ Hauptvorwürfen an Proudhon ist dabei, dass dieser lediglich die Theorien der ›ricardianischen Sozialisten‹ plagiiert habe (vgl. MEW 4: 98). Einen von diesen, nämlich John Bray, kritisiert Marx für den Versuch, eine normimmanente Kritik des Kapitalismus zu unternehmen. Bray hatte in seiner Schrift von 1839 Die Leiden der Arbeiterklasse und ihr Heilmittel kritisiert, dass beim Austausch von Kapital und Arbeit kein Äquivalententausch, sondern Betrug stattfinde. In seiner utopischen Vision vom Sozialismus müsse dementsprechend der wahre und gerechte Äquivalententausch erst noch verwirklicht werden (vgl. Hoff 2008: 55 ff.). Marx kritisiert nun, »daß dieses egalitäre Verhältnis, dieses Verbesserungsideal, welches er [Bray; L.E.] in die Welt einführen will, selbst nichts anderes ist als der Reflex der gegenwärtigen Welt und daß es infolgedessen total unmöglich ist, die Gesellschaft auf einer Basis rekonstituieren zu wollen, die selbst nur der verschönerte Schatten dieser Gesellschaft ist. In dem Maße, wie der Schatten Gestalt annimmt, bemerkt man, daß diese Gestalt, weit entfernt, ihre erträumte Verklärung zu sein, just die gegenwärtige Gestalt der Gesellschaft ist.« (MEW 4: 105)

Noch kann Marx, auf Basis der Theorie von Ricardo, die er zu diesem Zeitpunkt noch für die korrekte, wenn auch ahistorische »wissenschaftliche Darlegung des gegenwärtigen ökonomischen Lebens« (ebd.: 81) hält, aber nicht sagen, woraus dieser verschönerte Schatten resultiert. In der Rede vom ›Reflex‹, der auch in der Deutschen Ideologie an prominenter Stelle vorkommt (vgl. MEW 3: 26), wird noch der Basis-Überbau-Schematismus deutlich, dem sich Marx erst in den kommenden Jahrzehnten allmählich entledigen wird. Erst nachdem Marx 1849 nach London übersiedeln muss und dort mit seinen ökonomischen Studien, wie er selbst im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie schreibt, wieder

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ganz von vorne anfängt (vgl. MEGA² II/2: 102), kommt er diesem Schatten langsam auf die Spur. Dafür ist seine Auseinandersetzung mit Proudhons ökonomischer Theorie zentral. Proudhon entwickelt in seinen beiden Hauptwerken Was ist das Eigentum? und Philosophie des Elends eine systematische Kritik der Nationalökonomie, wobei er auch die seit John Locke übliche Formationstheorie – die Herleitung von Eigentum aus eigens geleisteter Arbeit – kritisiert (vgl. Proudhon 1963a: 62 ff.). Arbeit gebe nach Proudhon lediglich das Recht auf Besitz, den er vom Eigentum unterscheidet, und Eigentum – so der berühmte Ausspruch von Proudhon – sei Diebstahl (vgl. ebd.: 21). Zugleich formuliert er eine »Theorie des ›konstituierten‹ Wertes« (Brentel 1989: 2005), die davon ausgeht, dass der Wert einer Ware und der Wert der zu ihrer Produktion angewandten Arbeit ident sind (vgl. Proudhon 2003: 89). Daher sei auch der Warenwert lediglich durch unmittelbare Arbeitszeit messbar und Waren nur über deren direkten Vergleich gerecht austauschbar. »In der Gesellschaft ist Gerechtigkeit also nichts anderes, als die Verhältnismäßigkeit der Werte.« (Ebd.: 85) Geld gilt ihm dabei als bloße Ware und einfaches Tauschmittel. Durch das Geld als indirekte Repräsentation von Arbeitszeit sei jedoch auch die Möglichkeit einer ungerechten Abweichung vom Wert gegeben, die sich in Profit, Zins und Grundrente ausdrücke. Arbeit erzeuge einen natürlichen Überschuss der gesellschaftlichen Produktion, der jedoch vermittels des Eigentums und der Macht des Geldes einseitig abgeschöpft werde, wodurch die Zirkulation selbst krisenhaft erlahmen könne (vgl. Brentel 1989: 208 f.). Ausgehend von dieser rein zirkulativen, auf den Austauschprozess fokussierten Kritik ist sein praktischer Lösungsvorschlag eine Tauschbank, wo Arbeitsprodukte, direkt gemessen an der für sie aufgewendeten Arbeitszeit, ausgetauscht werden sollen. Da »das Geld nur ein Vermittler, ein Werkzeug der Spekulation, eine Fessel für die Freiheit des Handels« sei (Proudhon 1963b: 125), soll eine egalitäre und gerechte Warenproduktion ohne Geld und Zins deren ungerechte Auswirkungen beseitigen. Diese Theorie schlägt vor allem innerhalb der französischen Arbeiter/-innenbewegung hohe Wellen, weshalb sich Marx ab den späten 1840er Jahren intensiv mit ihr beschäftigt, um diesen Zugang zu widerlegen. Die politische Motivation der Kritik an Proudhons Tauschbankutopie schlägt sich in zentralen Einsichten Marxens in den Zusammenhang von Arbeit, Wert und Geld in der kapitalistischen Produktionsweise nieder (vgl. Spekker 2016: 202). Gegen Proudhon und andere Theoretiker wie John Gray oder dem Proudhon-Anhänger Alfred Darimon stellte Marx heraus, dass die Vorstellungen einer direkt über Arbeitszeit repräsentierende Stundenzettel vermittelten Warenproduktion von unmittelbar vergesellschafteter Arbeit ausgehen müssen. Waren-

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produktion impliziert allerdings indirekte, nachträgliche Vergesellschaftung der Arbeiten vermittels des Werts. Erst im Tausch der Produkte gegen Geld stellt sich heraus, ob die zu ihrer Herstellung aufgewandte Privatarbeit Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit ist. Daher kann die »in den Producten incorporirte Arbeitszeit« (MEGA² II/1.1: 70), jenseits des Austauschs mit dem Geld als einzigem, allgemeinem Wertmaß, nicht wertbestimmend sein. Proudhons widersprüchliche »Philisterutopie« (MEGA² II/5: 40, Fn. 23) von der Warenproduktion ohne Geld, in der jede Ware unmittelbar austauschbar ist, lasse, so Marx, »den Pabst bestehn, aber macht jeden zum Pabst« (MEGA² II/1.1: 61). Dies sei wiederum logische Konsequenz aus Proudhons theoretischem Zugang, der die einfache Zirkulation für den ökonomischen Gesamtprozess hält. Denn Marx kommt, wie er in den Grundrissen schreibt, zu dem Ergebnis, »daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion […] Glieder einer Totalität bilden« (ebd.: 35). Die einfache Zirkulation sei lediglich »Vermittlung vorausgesetzter Extreme« (ebd.: 177). Zugleich bildet sie aber die Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft insofern, als sie die phänomenale, dem spontanen Bewusstsein zugängliche Erscheinung der kapitalistischen Produktionsweise ist. Durch sie wird aber zugleich verdeckt, was in ihr geschieht – Marx spricht von einem »Nebel, unter dem sich noch eine ganze Welt versteckt« (MEGA² II/1.2: 524) –, und sie erscheint damit als gesellschaftliche Realität an sich. Die nicht empirisch zugänglichen, strukturellen Zusammenhänge, die die Formen erst hervorbringen, die in der einfachen Zirkulation auftauchen und vom spontanen Bewusstsein erfasst werden, können jenseits der wissenschaftlichen Betrachtung nicht begrifflich reproduziert werden. In dieser »begriffslose[n] Form« (MEGA² II/15: 173), vom Standpunkt der einfachen Zirkulation, wird die Gesellschaft sowohl von der bürgerlichen Ökonomie und Sozialphilosophie als auch von Proudhon und vor ihm den ›ricardianischen Sozialisten‹ betrachtet. Marx kritisiert allerdings nicht nur diesen falschen analytischen Standpunkt, sondern auch den Versuch, die Bestimmungen der einfachen Zirkulation – den freien und gleichen Tausch – als normativen Maßstab für Gesellschaftskritik zu verwenden. Nach Proudhon sei »der Gegenstand der Wissenschaft von der Wirtschaft« die Gerechtigkeit, und diese finde »ihren Ausdruck im Wert« (Proudhon 2003: 563). Eine nach Marx historisch-spezifische Form der Inbezugsetzung der gesellschaftlichen Arbeit wird von Proudhon als ewiges Ideal und wissenschaftlicher Maßstab verkündet. Damit wird von ihm auch die negative Freiheit und abstrakte Gleichheit der Zirkulationssphäre als Keimzelle eines gesamtgesellschaftlich zu verwirklichenden Idealzustandes bestimmt (vgl. ebd.: 77). Die dem Warentausch »entsprechenden Bestimmungen« (MEGA² II/2: 61) von Freiheit und Gleichheit sind aber gerade deshalb für Marx kein geeigneter Maßstab für

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die Kritik am Kapitalverhältnis, weil sie, wie Marx im Urtext erklärt, selbst Produkte desselben sind. Dort schreibt er: »Der in der Circulation entwickelte Tauschwerthprocess respektirt daher nicht nur die Freiheit und Gleichheit, sondern sie sind seine Producte; er ist ihre reale Basis. Als reine Ideen sind sie idealisirte Ausdrücke seiner verschiednen Momente.« (Ebd.: 60) Als reine Ideen, d.h. selbstzweckhafte, moralische Kategorien sind die bürgerlichen Wertvorstellungen für Marx historisch-relative Produkte dieser Produktionsweise. Nur vor dem Hintergrund des Kapitalismus und seiner, dem spontanen Bewusstsein zugänglichen, Austauschbeziehungen können sie plausibel werden und »die Festigkeit eines Volksvorurtheils« erlangen (MEGA² II/6: 92; vgl. auch Heinrich 2014: 378). Die Bestimmungen der einfachen Zirkulation bilden die Bedingung der Möglichkeit für das Entstehen der bürgerlichen Moralphilosophie.13 Marx betreibt also keine normimmanente Kritik der bürgerlichen Wertvorstellungen, die für ihn nur Idealisierungen der Austausch- und Rechtsverhältnisse – »[r]eproducirt in andren Potenzen« (MEGA² II/2: 60) – sind. Er kritisiert stattdessen ihre grundsätzlichen, materiellen Voraussetzungen. In diesem Sinne ist seine Kritik an den Ideologien, die der einfachen Zirkulation entnommen werden, eine Metakritik des modernen Moraldiskurses, da schon dessen Grundkategorien auf die unvermittelt betrachtete kapitalistische Zirkulation zurückgeführt werden. Die Formbestimmtheit des moralischen Diskurses drückt sich darin aus, dass er historisch-spezifische Kategorien in ewige Wahrheiten übersetzt, womit er die historisch-spezifischen Verhältnisse, auf die sich moralische Vorstellungen beziehen, wiederum verewigen würde. Durch die Moral als ideologische Form wird »der für alle Spießbürger so tröstliche Beweis geliefert […], daß die Form der Waarenproduktion ebenso ewig ist als die Gerechtigkeit.« (MEGA² II/5: 52, Fn. 33) Sie trennt seit David Hume Sein und Sollen und schafft damit einen abgetrennten Bereich des Denkens, der sich um die Letztbegründung von Gerechtigkeitsidealen dreht und schließlich, aufgrund der versuchten Universali-

13 Kuhne (2017: 198) sieht an diesem Punkt von Marx’ Argumentation einen Rückfall in das Basis-Überbau-Schema. Jenes zeichnet sich allerdings dadurch aus, dass Ideologien als passiver Reflex der ökonomischen Basis und diese damit als kausaler Ursprung sämtlicher Bewusstseinsformen gilt. Marxʼ späte Moralkritik stellt allerdings keine solchen deterministischen Kausalbeziehungen her, sondern fokussiert auf die Ermöglichungsbedingungen von ideologischen Bewusstseinsformen. Es geht ihm darum, die scheinbare Plausibilität der von ihm widerlegten Theorien zu ergründen (vgl. Bhaskar 2015: 67 ff.).

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sierung widerstrebender Interessen, in einem unendlichen Zirkel münden muss (vgl. Demirović 2017: 404 ff.). Daher bezeichnet es Marx im Urtext auch als Irrtum Proudhons, den Sozialismus »als Realisation der von der französischen Revolution nicht entdeckten, sondern historisch in Umlauf geworfnen bürgerlichen Ideen nachweisen [zu] wollen« (MEGA² II.2: 60 f.). Das »System der Freiheit und Gleichheit aller« sei keineswegs durch Geld und Kapital verfälscht worden, noch sei die Freiheit und Gleichheit einfach noch nicht voll durchgesetzt (ebd.). »Das Tauschwerthsystem und mehr das Geldsystem sind in der That das System der Freiheit und Gleichheit.« (Ebd.) Daher hält es Marx für ein überflüssiges Geschäft, »den idealen Ausdruck, das verklärte und […] von der Wirklichkeit selbst als aus sich geworfne reflectierte Lichtbild, selbst wieder verwirklichen zu wollen.« (Ebd.: 61) Genau das ist es aber, was Proudhon betreibt, wenn er in Was ist Eigentum? schreibt, es müsse die »Idee der Gerechtigkeit«, die er mit dem freien Tausch von gleichen Werten identifiziert, vom Eigentumsrecht befreit werden, um die bürgerliche »Revolution zu vollenden« (Proudhon 1963a: 23). Proudhons Kapitalismuskritik ist also – in direktem Gegensatz zu jener von Marx – eine normimmanente Kritik der kapitalistischen Produktionsweise par excellence. Er will zeigen, dass »[d]ie Gerechtigkeit, die Adam Smith so gerne errichten möchte«, auf Basis der Eigentumsordnung »undurchführbar ist, […] sie sogar zu Ungerechtigkeit wird und […] dieser Widerspruch dem Wesen der Dinge innewohnt.« (Proudhon 2003: 572) Marx’ Argument lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die bürgerlichen Ideale von Freiheit und Gleichheit sind ideologische Reflexionsformen der Bestimmungen der Zirkulationssphäre, die »in der That ein wahres Eden der angebornen Menschenrechte« (MEGA² II/5: 128) darstellt und wo Freiheit und Gleichheit in den Austausch- und Rechtsbeziehungen real verwirklicht sind. Diese ist allerdings nur als Vermittlung einer auf Ausbeutung basierenden kapitalistischen Produktionsweise denkbar und damit intrinsisch mit der Unfreiheit in der Produktion und der materiellen Ungleichheit der Klassen verbunden, was Marx als die immanenten Widersprüche dieser Freiheit und Gleichheit beschreibt. Entgegen seiner frühen Staatskritik, die diese Abweichungen der Wirklichkeit vom Ideal noch für Kritik nutzbar machen wollte, hält er ein solches Vorgehen nun für »fromm« und »albern« (MEGA² II.2: 61). Hier ließe sich natürlich einwenden, dass Marx diesen Schritt weg von der Normimmanenz nicht ausreichend begründet und nicht zwischen Genese und Geltung moralischer Kategorien unterscheidet (vgl. Kuhne 2017: 198). Schließlich wendet Marx selbst ein, dass sich Abweichungen vom idealen Ausdruck der einfachen Zirkulation finden lassen. Beispielsweise zeigt ein näherer Blick auf

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die bürgerliche Legitimation von Eigentum als gerechter Konsequenz eigens geleisteter Arbeit, dass diese dem wissenschaftlichen Blick nicht standhält (vgl. MEGA² II/5: 496 f.). Marx’ Argument gegen normimmanente Kritik besteht aber darin, dass sie die entnommenen Kriterien aus dem gesellschaftlichen Kontext herauslöst, formal begründen und anschließend als Maßstab für Gesellschaftskritik verwenden will. Damit werden bei Proudhon und anderen die Normen ihrer historischen Spezifik beraubt (zumindest das kann man der normimmanenten Kritik in der Tradition der Kritischen Theorie allerdings nicht vorwerfen) und schließlich gegen ihre eigenen Konstitutionsbedingungen in Anschlag gebracht. Marx ging davon aus, dass Moral keine Veränderung stipuliert, sondern im Gegenteil radikale Kritik und Praxis eher hemmt – wie er es auch an Proudhon und seinen Anhänger/-innen beobachten konnte. Die moderne Moralphilosophie von Kant bis Rawls hat Marx in diesem Punkt auch bestätigt und gezeigt, dass sich die immanenten Normen des Kapitalismus ohne große Schwierigkeiten so formalisieren lassen, dass sie die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse stärken, statt sie anzugreifen. »Das Feld des Normativen ist in der Gegenwart nicht immer schon Teil der Lösung, sondern nicht selten Teil des Problems.« (Henning 2017: 71)

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POLITISCHE E LEMENT DER M ARX ’ SCHEN M ORALKRITIK Oft wird, wenn heute über das Marx’sche Werk diskutiert wird, vergessen, dass Marx nicht nur Kapital und Grundeigentum ein furchtbares Missile (vgl. MEW 31: 541) entgegenschleudern wollte, sondern auch stets versucht hat, seine theoretischen Gegner innerhalb der Arbeiter/-innenbewegung auf wissenschaftlichem Wege zu bezwingen. »[U]nsrer Parthei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen« (MEGA² III/9: 295), hieß für Marx auch, sich im Handgemenge der konkurrierenden Sozialismen durchzusetzen.14 Marx’ wissenschaftliche Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise beinhaltet nicht nur eine Kritik an der in den spontanen Verkehrungen der Alltagspraxis befangenen bürgerlichen Ökonomie, sondern auch an linken Kapitalismuskritiken, die denselben Mystifikationen verhaftet bleiben (vgl. Heinrich 2014: 378). Seine Kritik der Moralform sollte den utopischen Sozialismus von Proudhon und anderen, der »den vom Kapitalismus produzierten Verwerfungen primär mit moralischen Appellen an Liebe und Gerechtigkeit [entgegentreten wollte,] deren analytischer Gehalt gen

14 Zum politischen Entstehungsherd von Marx’ Ökonomiekritik vgl. Spekker 2016.

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Null tendierte« (Lindner 2013: 182), endgültig entkräften. Die Zentralität, die für ihn die Widerlegung von Proudhon einnimmt, lässt sich daran ablesen, dass Marx in mehreren Briefen angesichts der Veröffentlichung von Zur Kritik der politischen Ökonomie betont, dass mit seiner Publikation nun der »Proudhonismus in der Wurzel vernichtet« sei (MEGA² III/9: 521) und er damit einen theoretischen Beitrag geleistet hätte, dass sich der Kommunismus dieses »›falschen Bruders‹« (ebd.: 295), wie Marx den Proudhonschen Sozialismus bezeichnet, endlich entledigen kann (vgl. dazu Bohlender 2013). Da Proudhon die Gerechtigkeit im Tausch zu gleichen Werten schon angelegt sah, jedoch davon ausging, dass diese durch das Eigentum korrumpiert würde, sah er die Reformierung der Zirkulation als geeignetes politisches Mittel an und lehnte dementsprechend jede gewaltsame, revolutionäre Erhebung der Arbeiter/-innenklasse ab. Marx erkannte in der moralischen Komponente dieser Kritik einen der zentralen Eckpfeiler der Theorie seines Gegners. Daher musste auch sie angegriffen werden. Die moralisierende Kritik bzw. Moral überhaupt sah Marx als Bedrohung der sozialistischen Arbeiter/-innenbewegung an. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn er 1864 an Engels schreibt, er habe beim Verfassen der Inauguraladresse der ersten Internationale widerstrebend »Phrasen« von Pflicht, Recht, Wahrheit, Moral und Gerechtigkeit einschalten müssen, die er jedoch so zu platzieren wusste, »daß es einen Schaden nicht thun kann« (MEGA² III/13: 43). Marx’ Hoffnung lag nicht in der moralischen Ablehnung des Kapitalismus durch die Lohnabhängigen – im Gegenteil sah er Ethik eher als Vehikel des Reformismus an –, sondern im Bewusstsein der ausgebeuteten Klasse für ihre »geschichtlichen Sendung« (MEGA² I/22: 206), wie er im Bürgerkrieg in Frankreich von 1871 schreibt.

F AZIT : F ORMKRITIK DER M ORAL UND ETHISCHE B EWERTUNGEN – EIN PERFORMATIVER W IDERSPRUCH IN DER POLITISCHEN Ö KONOMIE ?

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An dieser Stelle lässt sich fragen, ob Marx’ Metakritik des neuzeitlichen Moraldiskurses von diesem politisch sowie geschichtsphilosophisch motivierten Immoralismus zu trennen ist. Die normimmanente Kritik in der Tradition der Frankfurter Schule bietet hierfür durchaus eine Lösung an. Anstatt für die Begründung ihrer Kritik auf die historische Dynamik zu verweisen, wie im historischen Materialismus üblich, setzt sie ihre Hoffnungen auf Transformation auf die inhärenten Widersprüche zwischen akzeptierten, real vorhandenen Normen,

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ohne diese selbst begründen zu müssen. Damit kann sie normativ kritisieren, entgeht aber zugleich dem abstrakten Formalismus der Moralphilosophie und ist (im Gegensatz zu Proudhon) auf keine ahistorischen Letztbegründungen angewiesen. Allerdings – und hier liegt, denke ich, das Problem bei der Normimmanenz – muss sie ebenso wie der historische Materialismus von einem in der Realität wirksamen, treibenden, dialektischen Widerspruch ausgehen. Zwar ist dieser nicht mehr zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verortet, sondern zwischen bürgerlichem Ideal und kapitalistischer Wirklichkeit, er ist aber dennoch auf ein Prinzip angewiesen, nach dem soziale Institutionen durch Normen konstituiert sind, die aber zugleich ihrer »normativ-funktional beschriebenen Aufgabenstellung – ›nicht entsprechen‹« (Jaeggi 2014: 290). Wenn sich keine Normen auffinden lassen, die gewisse gesellschaftliche Verhältnisse konstituieren und aber zugleich über diese hinausweisen, ist dann auch – nimmt man die Normimmanenz beim Wort – keine Kritik mehr möglich. Kritik muss sich demnach, wenn sie strikt normimmanent vorgehen will, darauf verlassen, dass die bereits institutionalisierten Wertvorstellungen irgendeine Form von Geltungsüberschuss in sich tragen. Gerade die Marx’sche Ökonomiekritik, die als Paradebeispiel einer solchen immanenten Kritik präsentiert wird, argumentiert jedoch, dass die immanenten Normen der kapitalistischen Produktionsweise eben gerade nicht zwangsweise über sich hinausweisen. Eine Alternative zum Lösungsweg der Kritischen Theorie wäre es, – wie das beispielsweise Michael Heinrich versucht – den Marx’schen Kritikbegriff von jeglichem normativen Gehalt freizusprechen. Der kritische Stachel des Kapitals sei vor allem in der Destruktion der objektiven, aus der ökonomischen Praxis entspringenden Gedankenformen und den diese lediglich verdoppelnden Theorien zu verorten (vgl. Heinrich 2014: 380 ff.).15 Ich denke, dass Heinrich damit näher an dem dran ist, was Marx unter der von ihm postulierten Einheit von Darstellung und Kritik der Kategorien der politischen Ökonomie versteht (vgl. MEGA² III/9: 72). Problematisch an diesem Zugang ist andererseits, dass sämtliche Stellen im Kapital, an denen Marx eindeutig normativ argumentiert, ausgeklammert werden müssen. Heinrich löst dieses Problem, indem er die »dichten ethischen Begriffe« (Lindner 2011: 91), die Marx zur Beschreibung und zugleich

15 Lediglich das normative Prinzip, dass Wahrheit besser als Illusionen ist, muss als conditio sine qua non für solche Kritik in Anschlag gebracht werden. Jedoch ist dieses zu akzeptieren nicht nur Grundlage jedes moralischen, sondern überhaupt jedes wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Diskurses (vgl. Bhaskar 2015: 63). Angesichts der Beliebtheit des postmodernen Wahrheitsrelativismus muss jedoch leider sogar diese Norm heutzutage begründet und verteidigt werden.

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Verurteilung von negativ eingeschätzten, sozialen Verhältnissen verwendet, lediglich als stilistisches Mittel bzw. drastische Bezeichnungen (vgl. Heinrich 1992: 92; Fn. 6) begreift, denen keine normativen Fundamente zugrunde liegen würden. Das wird dadurch untermauert, dass Marx den Ausbeutungsbegriff – der meist als Paradebeispiel für einen wertenden Begriff im Kapital angeführt wird – auch für die Nutzung von Maschinen und natürlichen Ressourcen gebraucht (vgl. Heinrich 2017: 427; MEGA² II/5: 315 f., 352) und damit nicht ein negativ evaluiertes, zwischenmenschliches Verhalten, sondern einen objektiven Vorgang beschreibt. Hier muss allerdings eingewandt werden, dass manche Stellen im Kapital schlicht nicht in solchen drastischen, aber wertneutralen Schilderungen aufgehen. So spricht Marx davon, dass der kapitalistische Produktionsprozess die Arbeiter/-innen »verstümmeln«, »entwürdigen« und »entfremden« würde (MEGA² II/5: 520). Hier ist es kaum möglich, keine normativen Evaluationen zu entdecken. Jene Interpreten und Interpretinnen, die Marx in der Tradition des aristotelischen, ethischen Perfektionismus verorten und argumentieren, dass dieser den Kapitalismus ablehnt, da er dem Aufblühen der Menschen und der möglichen Entwicklung menschlicher Anlagen im Weg steht, können hier, denke ich, die plausibelste Antwort geben. Allen W. Wood (2004: 128 ff.) hat in der angloamerikanischen Debatte schon früh die Auffassung vertreten, es sei zwischen auf Gerechtigkeit zielenden, von Marx abgelehnten ›moral goods‹ und individueller Selbstentfaltung dienenden, von Marx akzeptierten ›nonmoral goods‹ zu unterscheiden. Marx benutzt eine im Kapital größtenteils implizite, minimalistische Anthropologie, auf Basis derer »die volle und freie Entwicklung jedes Individuums« (MEGA² II/5: 477) als normatives Kriterium dient. Urs Lindner arbeitet heraus, wie Marx »anhand einer sozio-historisch dynamisierten Konzeption menschlicher Natur« (Lindner 2013: 349) zeigt, wie der kapitalistische Produktionsprozess auf diese natürlichen Anlagen negative Auswirkungen zeitigt, anstatt einer selbstzweckhaften Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten zuzuarbeiten. Das Aufblühen (›flourishing‹) der Menschen diene Marx als Maßstab zur Bewertung von gesellschaftlichen Verhältnissen und nicht als moralische Handlungsanleitung. Evaluationen werden hier nicht auf Präskriptionen reduziert, ganz im Gegensatz zum Moraldiskurs ausgehend von Hume (vgl. Lindner 2011: 92). Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass normativ aufgeladene Begriffe zur Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse, die immer notwendig mit normativen Orientierungen der handelnden Akteurinnen und Akteure verbunden sind, angemessener sind als wertfreie Begriffe (vgl. Sayer 2011: 53). Für Vertreter/-innen normimmanenter Kritik ist der Perfektionismus nicht akzeptabel, da die selbstzweckhafte Entfaltung menschlicher Potenziale von die-

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sem als ›äußerliches‹ Kriterium betrachtet wird. Jedoch ist es fraglich, warum gesellschaftliche Verhältnisse, die schließlich aus menschlichen Fähigkeiten und Anlagen in ihrem Zusammenwirken emergieren (und diesen damit keineswegs äußerlich sind), nicht gerade anhand der Rückwirkung dieser Verhältnisse auf jene Fähigkeiten und Anlagen kritisiert werden sollten. Mit diesem Kriterium steht der perfektionistische Zugang auf festeren Beinen als die Normimmanenz und könnte auch in einer vollends zynisch und mit sich selbst identisch gewordenen Gesellschaft die Auswirkungen des Kapitalismus fundiert kritisieren. Im Gegensatz dazu läuft normimmanente Kritik, wie Marx schon an Bray bemerkte (MEW 4: 105), ständig Gefahr, dass der von ihr verlangte Rekurs auf immanente Werte, schließlich auf eine Gesellschaft hinausläuft, die einfach noch mehr so ist, wie sie sowieso schon ist (vgl. Henning 2017: 69). Doch auch der perfektionistische Zugang wird problematisch, wenn er Marx’ Kritikbegriff auf ethische Evaluationen reduziert. Eine solche Reduktion arbeitet dem bürgerlichen Vorurteil zu, bei Marx’ Kritik handle es sich nicht um Wissenschaft, sondern um das Ergebnis einer vorgefassten (negativen) Bewertung des Kapitalismus. Die Formkritik, als Einheit von Wissenschaftskritik und epistemischer Kritik, wird dadurch von etwas abhängig gemacht, das nur ein akzidentielles Moment des Marx’schen Kritikmodus bildet.16 Die Kritik der politischen Ökonomie bliebe, auch ohne ethische Evaluationen, – als Kritik am kategorialen Apparat einer wissenschaftlichen Disziplin und der ihr zugrunde liegenden objektiven Gedankenformen – in ihrem Kern erhalten. Ethische Evaluationen sind Zuarbeiter, nicht Grundlage von Marx’ Formkritik. Durch sie wird diese Kritik jedoch nicht depotenziert, sondern im Gegenteil ihrem Gegenstand noch adäquater.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (2003): »Beitrag zur Ideologienlehre«, in: Gesammelte Schriften Bd. 8 (hrsg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 457-478. Adorno, Theodor W. (2011): »Theodor W. Adorno über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie. Aus einer Seminarmitschrift im Sommer-

16 Der kantianische Zugang von Frank Kuhne wird in dieser Hinsicht problematisch, wenn er behauptet, die Kritik im Kapital sei vollständig von der normativen Kategorie der praktischen Subjektivität abhängig (vgl. Kuhne 2017: 190).

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I MMANENTE K RITIK ODER M ETAKRITIK

DER

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Fehlt Marx eine Theorie des Politischen? Marxʼ politische Kritik und die postmarxistische Marx-Kritik O LIVER F LÜGEL -M ARTINSEN

Die neueren postmarxistischen Kritiken an Marxʼ Gesellschaftskritik lassen – bei allen Unterschieden, die hier offenkundig zwischen verschiedenen Ansätzen bestehen – in zumindest einem Punkt eine große Gemeinsamkeit erkennen: Marx fehle im Wesentlichen eine Theorie des Politischen, die es ihm ermöglichen würde, den pluralistischen Charakter moderner Emanzipationsbewegungen angemessen zu erfassen. Von Castoriadisʼ früher Kritik des Marxʼschen Ökonomismus (vgl. Castoriadis 1990) über die Diagnose einer unauflösbaren Spannung zwischen Klassenkampftheorie und politischer Ökonomie, die Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie (Laclau/Mouffe 2012) entfalten, bis hin zu Rancières Vorwurf, Marxʼ historisches Narrativ, das das Proletariat als Subjekt eines letzten Klassenkampfs inauguriert, verweise letztlich auf ein »Jenseits der Politik« (Rancière 2002: 96) – stets laufen die Einwände auf den Vorwurf zu, Marx verfüge nicht über eine Theorie des Politischen, die es ermöglichen würde, den Pluralismus und die radikale Kontingenz von Gesellschaft zu denken. Selbst Miguel Abensour, dessen Marx-Lektüre unter den jüngeren Auseinandersetzungen mit Marx wohl als der couragierteste Versuch verstanden werden kann, einen politischen Marx wiederzuentdecken, sieht sich schließlich zu konzedieren genötigt, dass Marxʼ Kritik bürgerlicher Politik – die nach Abensours Überzeugung nicht nur in Frühschriften wie Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, sondern auch in späteren Texten wie Der Bürgerkrieg in Frankreich auftaucht – »eng mit der Kritik der politischen Ökonomie verknüpft ist und ihr letztlich untergeordnet wird« (Abensour 2012: 199). Nachdem ich mich in jüngerer Zeit in zwei Veröffentlichungen einerseits mit Marx als einem wichtigen, durch zunächst ethische, dann ökonomistische Engführungen aber auch eingeschränkten Vorläufer und Impulsgeber eines kontingenztheoretischen kritischen Denkens des Politischen und politischer Subjekti-

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vierungsprozesse auseinandergesetzt (vgl. Flügel-Martinsen 2017: 85-111) und andererseits Castoriadisʼ Marxkritik im Lichte gegenwärtiger Herausforderungen postmarxistischen Denkens reflektiert habe (vgl. Flügel-Martinsen 2016), wird es im Folgenden explizit um die Frage gehen, ob sich bei Marx Ansatzpunkte für ein Denken des Politischen finden lassen, das eine radikale politische Kritik ermöglicht. Der Aufsatz verfolgt hierbei eine doppelte Zielsetzung: Zum einen wird die postmarxistische Marx-Kritik thetisch rekonstruiert, die behauptet, Marx fehle es entschieden an einer eigenständigen Theorie des Politischen und die darin ein klares Defizit ausmacht. Zum anderen werden einige Schriften Marx’ selbst noch einmal einer – wenngleich dem Format eines Aufsatzes geschuldet eher kursorischen – Sichtung auf den Stellenwert des Politischen in ihnen unterzogen. Ich gehe dabei in drei Schritten vor. Die ersten beiden Schritte reflektieren auf unterschiedliche Weise, warum die Frage, ob sich bei Marx ein Denken des Politischen findet oder nicht, überhaupt von Gewicht ist. Sie ist es, wie ich im ersten Abschnitt argumentieren werde, allein schon aus rezeptionsgeschichtlichen und systematischen Gründen, denn Marx ist in der Theoriegeschichte kritischen Denkens stets zumindest als ein entscheidender Impulsgeber einer kontingenztheoretischen kritischen politischen Theorie und Gesellschaftstheorie wahrgenommen worden (1.). Zugleich erfolgte diese Bezugnahme auf Marx gerade innerhalb des oben kurz angerissenen losen, d.h. allenfalls durch thematische Berührungspunkte, aber kaum personell oder gar denkschulenmäßig verbundenen Kreises postmarxistischer Autorinnen und Autoren zu keinem Zeitpunkt ohne grundlegende Kritik an Marx. Besonders hervorstechend ist dabei der Vorwurf, Marx verdränge zusehends die Dimension des Politischen.1 Da die Frage, ob Marx über eine Theorie des Politischen verfügt, im vorliegenden Aufsatz vor dem Hintergrund dieser postmarxistischen Kritik an ihm verstanden wird, ist es erforderlich, die Hauptlinien dieser Kritik kurz in Erinnerung zu rufen (2.). Dabei wird dann auch ex negativo ausgewiesen, warum und inwiefern die Dimension des Politischen für eine kritische Theorie der Gesellschaft von Gewicht ist. Die eigentliche Spurenlese in den Marxʼschen Texten wird dann in einem dritten Schritt erfolgen (3.). Und hier ist es wichtig, zu betonen, dass es im vorliegenden Rahmen keinesfalls um eine weitausgreifende systematische Exegese des heute mehr denn je in seiner Vielgesichtigkeit wahrgenommenen Marxʼschen Oeuvres

1

Diesen Einwand hat in jüngerer Zeit auch noch einmal prominent Axel Honneth in seinem Versuch einer Aktualisierung der Idee des Sozialismus formuliert (vgl. Honneth 2015).

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gehen kann.2 Vielmehr werde ich mich auf einen ersten Erkundungsgang beschränken, der sich drei Texten zuwendet: Zunächst dem ausufernden HegelExzerpt und -Kommentar Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843, in dem Marx eine emphatische Vorstellung wahrer Demokratie entwickelt (3.1); hernach der 1851/52 vor dem Hintergrund der Erfahrung des Scheiterns der 1848er Revolution(en) verfassten Bonapartismus-Analyse Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte; und schließlich dem deutlich hoffnungsfroheren Kommentar zur Pariser Kommune Der Bürgerkrieg in Frankreich von 1871. Marx’ Schriften im Lichte der postmarxistischen Kritik an ihm nochmals explizit auf Anhaltspunkte für eine Theorie des Politischen abzuklopfen, erscheint mir allein schon deshalb geboten, weil die genannten Marx-Kritikerinnen und -kritiker, wie sich noch genauer zeigen wird, durchaus deutliche Tendenzen dazu haben, der Konstruktion eines auf die ökonomische Gesellschaftstheorie zulaufenden Verständnisses von Marx’ Werk zu folgen.3 Obwohl der ÖkonomismusVorwurf fraglos Ansatzpunkte in vielen Marxʼschen Texten findet, verstellt das häufig mit ihm einhergehende und weitverbreitete Standardnarrativ, demzufolge sich politische Dimensionen in Marxens Frühschriften fänden, die aber sukzessive durch das Koordinatensystem einer systematischen politisch-ökonomischen Großtheorie abgelöst würden, ein angemessenes Verständnis seiner Texte. Die These, die vor allem im dritten Teil dieses Aufsatzes geprüft wird, geht nicht nur von einer deutlich pluralistischeren Anlage von Marx’ Texten aus, sondern sie versteht diese im Sinne der Herausgeberin und der Herausgeber des vorliegenden Bandes als eine Kritik im Handgemenge politisch-sozialer Auseinandersetzungen4 und liest sie im Anschluss an Quentin Skinners Vorschlag als

2

Harald Bluhm hat in einem ebenso kenntnisreichen wie pointensicheren Aufsatz zu den editionsgeschichtlichen Wechselfällen der MEGA-Projekte nachdrücklich darauf hingewiesen, dass der dort sichtbar werdende Marx - der »MEGA-Marx« (Bluhm 2017) - nicht auf den Fluchtpunkt eines ökonomischen Hauptwerkes hin konstruiert werden kann, sondern viele verschiedene Facetten und Dimensionen aufweist.

3

In seiner Unterscheidung von fünf Marx-Fiktionen bezeichnet Harald Bluhm diesen Strang der marxistischen Marxkonstruktion als den einer auf das Kapital als Hauptwerk zulaufenden Teleologie (vgl. Bluhm 2017: 45-47).

4

Programmatisch wird die These einer Kritik im Handgemenge entwickelt in: Bohlender 2016; Anna-Sophie Schönfelder (2016) rekonstruiert diese Kritikform in Marx’ journalistischen Arbeiten und Matthias Spekker (2016) arbeitet heraus, dass das politische Handgemenge auch den Einsatzkontext von Marx’ Auseinandersetzung mit der politischen Ökonomie darstellt.

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Interventionen in jene politischen Konflikte, die ihre Entstehungskontexte bilden (vgl. Skinner 2009).

1. M ARX

ALS I MPULSGEBER EINER KONTINGENZTHEORETISCHEN KRITISCHEN POLITISCHEN UND G ESELLSCHAFTSTHEORIE

Jenseits des Ökonomismus-Vorwurfs bildet Marx einen wichtigen Referenzpunkt einer Vielzahl an Ansätzen zu einer kritischen politischen Theorie und einer kritischen Gesellschaftstheorie, die deutlich über ein ökonomietheoretisch fundiertes Verständnis von Gesellschaft hinausgehen. Diese einflussreiche Stellung als Impulsgeber kritischen Denkens verdankt sich nach meinem Eindruck vor allem zwei Topoi oder Dimensionen in Marx’ Denken, die nicht im engeren Sinne als marxistisch bezeichnet werden können: Erstens denke ich dabei an die enge Verknüpfung von Gesellschaftskritik und Gesellschaftsanalyse, die sich als Eröffnung der Perspektive einer kritischen Sozialwissenschaft verstehen lässt; und zweitens scheint mir die kontingenztheoretische Dimension in Marx’ Denken wesentlich zu sein, die ihn dazu führt, Subjekte ebenso wie die politisch-sozialen Strukturen und Kontexte, in die diese eingelassen sind, als historisch erzeugt und damit wandelbar zu begreifen. Beide Dimensionen von Marx’ Denken müssen eher in Kontinuität zu als in Abgrenzung von Hegel verstanden werden. Sie eröffnen aber, denkt man im Anschluss an sie über die Konturen und die Ausrichtung Politischer Theorie nach, eine deutlich andere Perspektive auf Fragen der Politischen Theorie als sie von den heute weitverbreiteten, ja dominanten liberalen moraltheoretischen Zugängen zur Politischen Theorie im Gegenwartsdenken, die im Anschluss an Kant operieren (u. a. bei Rawls, Habermas und Forst), nahegelegt wird.5 Mit dieser Kontinuitätsbehauptung zwischen Marx und Hegel folge ich einer unorthodoxen Interpretationslinie, die spätestens mit Herbert Marcuses Vernunft und Revolution (Marcuse 1962) einsetzt, der Hegels Analyse der bürgerlichen Gesellschaft als kritische Soziologie moderner Gesellschaften liest. Heute vertritt etwa Frederick Neuhouser eine solche Zurückweisung der starken Abgrenzung von Hegel und Marx, wie sie von Marx teils selbst nahegelegt wurde: »Hegel war Idealist (und Marx war keiner), aber der Sinn, in dem Hegel ein Idealist war, ist mit einem Zugang zur Sozialtheorie kompatibel, der viel von dem beinhaltet, was Marx als Materialismus verstand. Tatsächlich

5

Für eine fulminante Kritik der liberalen, moralphilosophischen Zugänge zur Politischen Theorie vgl. Geuss 2011.

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hat Marx wahrscheinlich einen Großteil seines Materialismus aus der Weise erlernt, in der Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts soziale Institutionen analysiert«. (Neuhouser 2013: 27) – Wie nun lassen sich diese beiden Dimensionen genauer fassen, die Marx zum Impulsgeber eines solchen zugleich gesellschafts- und politiktheoretischen kritischen Denkens werden lassen? a. Wenn Honneth den dominanten liberalen Spielarten der politischen Philosophie der Gegenwart »ihre Abkopplung von der Gesellschaftsanalyse und damit die Fixierung auf rein normative Prinzipien« (Honneth 2011: 14) zum Vorwurf macht, dann lässt sich im Anschluss an Marx und Hegel im Gegensatz dazu ein gesellschaftstheoretisch informierter Zugang zu Fragen der Politischen Theorie skizzieren. Wodurch sich Marx’ kritische Theorie, auch dort, wo sie wie etwa in der Entfremdungslehre der Pariser Manuskripte die Form normativer Kritik annimmt, durchgängig auszeichnet, ist, dass sie stets eine umfassende und tiefgehende Analytik sozialer und politischer Ordnungen nicht nur mitumfasst, sondern diese geradezu zum Ausgangspunkt der kritischen Überlegungen macht. An diesem Punkt löst Marx gewissermaßen das Projekt ein, das sich in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts zwar immerhin schon angekündigt hat, das Hegel dort aber nur in ersten Umrissen ausgeführt hat. Lässt sich Hegels Rechtsphilosophie das Postulat entnehmen, dass alles Nachdenken über politische, aber auch moralische oder soziale Fragen zuvorderst eine gesellschaftstheoretische und zeitdiagnostische Erfassung der Kontexte erfordert, in die es unweigerlich eingelassen ist (vgl. Hegel 1986), dann können Marx’ Schriften in dieser Kontinuitätslinie als umfassender Versuch gelten, der Kritik eine gesellschaftstheoretisch informierte Analyse an die Seite zu stellen. Marx geht damit tatsächlich – allerdings eher in der Nachfolge Hegels als in Abkehr von ihm – über die Abstraktionen der Philosophie hinaus, indem er die Perspektive einer kritischen Sozialwissenschaft eröffnet. Zugleich verwechselt er diese aber keineswegs mit einer bloßen Beschreibung des Bestehenden. Ihm steht vielmehr von Anfang an klar vor Augen, dass Gesellschafts- und Gegenwartsanalyse kritisch-distanzierend operieren müssen, und dass diese kritische Analyse auf eine theoretische Rückbindung angewiesen bleibt, weil die kritisch-sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Prozessen und Mechanismen nicht naiv auf deren Abbildung zielen darf – diese müssen vielmehr, wie es schon Hegel klar vor Augen stand, entschlüsselt werden. Ohne die Umsetzung dieses Programms in Marx’ Schriften hier im Einzelnen nachverfolgen zu wollen, lässt sich so aber als ein erster wesentlicher Impuls festhalten, dass aus Marx’ (ebenso wie aus Hegels) Sicht die Reflexion praktischer Fragen auf eine eingehende Analyse der sozialen Wirklichkeit, mithin auf die Denkmittel einer kritischen Sozialwissenschaft angewiesen bleibt.

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b. Diese Perspektive einer kritischen Sozialwissenschaft entwickelt ihre eigentliche konzeptionelle Sprengkraft allerdings erst im Verbund mit zwei ebenfalls schon bei Hegel vorfindlichen Annahmen zur – wenn man es etwas hochtrabend in der Sprache der philosophischen Tradition formulieren will – Ontologie des Politischen und des Sozialen. Diese muss nämlich, das lehren uns Marxens in historische Formierungs- und Wandlungsprozesse vordringende Unternehmungen vor allem, in ihrer stets veränderlichen, ja kontingenten Beschaffenheit begriffen werden. Um es knapp zu benennen: Was Marx wiederum im Anschluss an Hegel mit großem Nachdruck unterstreicht, ist, dass soziale und politische Ordnungen ebenso wie die in ihnen befindlichen Subjekte als historisch wandelbar verstanden werden müssen, ohne dass sich eine überzeitliche Form angeben ließe. Marx ist demnach ein radikaler Kontingenztheoretiker und von dort her rühren seine immer wieder vorgetragenen Invektiven gegen Naturalisierungen. Beide Dimensionen ermöglichen es zusammengenommen, die Gewordenheit von Gesellschaftsordnungen und Subjektivität kritisch zu denken. Dass Marx damit eine entscheidende Inspirationsquelle gerade auch für diejenigen Positionen ist, die sich vorsichtig unter dem Begriff des Postmarxismus zusammenfassen lassen, zeigt sich allein schon an dem Umstand, dass deren Überlegungen zu einer kritischen Theorie der Gegenwartsgesellschaften bei allen Absetzungsbewegungen, die sie gegenüber Marx vollziehen, und bei allen Differenzen, die sich zwischen ihnen ergeben, zweifelsohne diese beide Rahmenannahmen erstens einer Verknüpfung von Kritik und Gesellschaftsanalyse und zweitens eines kontingenztheoretischen Verständnisses von Subjekten und sozio-politischen Strukturen als gemeinsame Schnittmenge teilen. Das lässt sich bereits mit wenigen Hinweisen verdeutlichen: Castoriadis’ gesamte theoretische Unternehmung (vgl. Castoriadis 1990) lässt sich so etwa als Suche nach einer gesellschaftsanalytisch informierten kritisch-emanzipatorischen Praxis-Theorie beschreiben, die das Emanzipationspotential von Gesellschaften just im kontingenten Charakter ihrer Strukturen ausmacht. Auch bei Laclau und Mouffe liegt die Verknüpfung von kritischer Gesellschaftsanalyse und Kontingenztheorie geradezu überdeutlich zu Tage: Sie ist schlicht das Kernanliegen sowohl ihres gemeinsam verfassten Theorieentwurfs Hegemonie und radikale Demokratie als auch späterer in Einzelautorinnenschaft und Einzelautorenschaft verfasster Aufsätze und Bücher. Es ist in ihrem Fall vermutlich nicht unplausibel, die Entscheidung, den eigenen Theoriezugang als postmarxistisch zu bezeichnen und den Bezug zu Marx dadurch sichtbar zu lassen, so zu deuten, dass sie damit genau dieses Marx’sche Erbe wachhalten möchten. Und selbst wenn sich bei Rancière polemische Spitzen gegen die Sozialwissenschaften finden (vgl. Rancière 2002: 102-104), weil

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auch diese daran beteiligt seien, den politischen Streit beiseite zu schieben, so bemüht auch er sich zweifelsohne um eine kritische Gesellschaftsanalyse und betont den radikal kontingenten Charakter politischer Subjektivierungen und institutioneller Ordnungen (vgl. Rancière 2002: 28). Und Marx lässt sich in diesen Hinsichten sogar auch als mindestens indirekter Impulsgeber für Positionen deuten, die sich nicht nur deutlich von ihm distanzieren, sondern die die Bezugnahme auf ihn weitgehend vermeiden: Man denke hier nur an die Arbeiten Michel Foucaults. In ihnen finden sich einerseits deutliche Distanzierungsgesten, expressis verbis vor allem gegenüber dem Marxismus, aber auch unter Nennung von Marx selbst, wenn Foucault polemisch notiert: »Der Marxismus ruht im Denken des neunzehnten Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser. Das heißt: Überall sonst hört er auf zu atmen.« (Foucault 1974: 320) Andererseits rücken Foucaults kritische Analysen, sobald der Blickwinkel etwas weiter gefasst wird, deutlich in die Nähe von Marx’ Projekt einer kritischen und kontingenzsensiblen Sozialwissenschaft, denn sowohl Marx als auch Foucault spüren auf ihre je eigene, in dieser grundsätzlichen Hinsicht aber verbundene Weise den Konstitutions- und Wandlungsprozessen von Subjektivität und sozialen Ordnungen nach – und beide betonen dabei die Bedeutung von Machtbeziehungen und Konfliktkonstellationen.6 Die postmarxistische Kritik macht Marx dabei aber den Vorwurf, er verschenke bzw. verkürze das damit entwickelte Potential, indem er diese Überlegungen in eine politisch-ökonomisch angelegte Geschichtsphilosophie einbettet; das wird nun etwas genauer zu betrachten sein.

2. M ARX UND DIE FEHLENDE T HEORIE DES P OLITISCHEN : G RUNDLINIEN POSTMARXISTISCHER M ARX -K RITIK Wie häufig bei Sammelbegriffen, die verschiedene Autorinnen und Autoren miteinander verknüpfen, korrespondiert dem damit umrissenen Feld eher ein loser sachlich-thematischer Zusammenhang als eine Denkschule, die sich als solche begreifen würde. Das gilt auch für den Begriff des Postmarxismus, den im Wesentlichen wohl Chantal Mouffe und Ernesto Laclau zur Selbstbeschreibung heranziehen (vgl. Laclau/Mouffe 2012 und Laclau 2007), der aber von anderen

6

Wie sich hier ein kritischer Denkweg von Hegel und Marx über Nietzsche bis zu Foucault nachzeichnen lässt, der von großer Bedeutung für die Perspektive eines kritischen Denkens des Politischen ist, rekonstruiere ich in Teil 2 meiner Studie Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution – Gesellschaftsordnung – Radikale Demokratie (Flügel-Martinsen 2017: 63-158).

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Autorinnen und Autoren, die dem damit angedeuteten thematischen Zusammenhang zugerechnet werden können, nicht notwendigerweise verwendet wird. Dennoch lassen sich vier hauptsächliche Linien einer postmarxistischen Marxkritik herausarbeiten, zu denen unterschiedliche Autorinnen und Autoren beigetragen haben, auf die im Folgenden – mit den soeben umrissenen Einschränkungen im Hinterkopf – als postmarxistische Positionen verwiesen wird. Diese vier Kritiklinien lassen es ausgesprochen fragwürdig erscheinen, in welchem Maße es möglich ist, im Anschluss an die Marxʼschen Schriften eine eigenständige kritische Theorie des Politischen zu entfalten – im Gegenteil sprechen sie Marx geradezu die Fähigkeit dazu ab. Soll daher nach Anschlusspunkten für eine Theorie des Politischen bei Marx gesucht werden, wie für den anschließenden Abschnitt (3.) avisiert, dann ist es zuvor erforderlich, diejenigen Punkte zu benennen, die einem solchen Vorhaben aus postmarxistischer Sicht im Wege stehen. a. An erster und entscheidender Stelle ist hier eine unbewältigte werkimmanente Spannung zwischen politischer Ökonomie und Klassenkampf zu nennen. Das Problem ist dabei aus postmarxistischer Perspektive vor allem die geschichtsphilosophische Einbettung der Perspektive der politischen Ökonomie: Die Geschichtsphilosophie, so argumentieren unabhängig voneinander etwa Cornelius Castoriadis und Ernesto Laclau, schiebt politische Kämpfe letztlich beiseite. Castoriadis entwickelt diesen Vorwurf in Gesellschaft als imaginäre Institution und hält dort zum Verhältnis der Subjekte des Klassenkampfes und der Marxʼschen Geschichtsphilosophie fest: »Die Klassen sind Agenten des Geschichtsablaufs, aber dessen unbewußte Agenten [...]; sie werden eher behandelt als daß sie handeln, wie Lukács sagt.« (Castoriadis 1990: 53) Der damit erhobene Einwand, Marx’ Geschichtsphilosophie raube den Subjekten im Grunde konzeptionell jegliche Perspektive auf eine eigenständige widerständige Performativität, indem sie gleichsam zu Marionetten in einem sie immer schon einfassenden und übersteigenden Geschichtstheater gemacht werden, auf dessen Textbuch sie letztlich keinen Einfluss haben, findet sich als kritische Diagnose einer Ambiguität in Marx’ Geschichtsverständnis auch bei Ernesto Laclau. Laclau zeichnet dabei eine aus seiner Sicht unauflösbare Spannung innerhalb Marx’ Denken nach, die sich zwischen seinem Verständnis der Geschichte als objektivem Prozess einerseits und der Klassenkampftheorie andererseits ergibt. Während es die Klassenkampftheorie erforderlich machen würde, dass ergebnisoffene politische Auseinandersetzungen möglich sind, die die Konturen gesellschaftlicher Verhältnisse und damit auch den Verlauf der Geschichte zu ändern in der Lage sind, suche die Marxʼsche Geschichtstheorie dem entgegengesetzt nicht nur einen außerhalb der Sphäre politischen Handelns liegenden Mechanis-

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mus sozialen und politischen Wandels zu identifizieren (Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften als Motor der Geschichte), sondern zudem auch den Verlauf vorab festzulegen. Laclau konstatiert daher: »Ich kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass es unmöglich ist, diese beiden Sichtweisen miteinander zu vereinbaren, und dass die sogenannte ›Krise des Marxismus‹ zu einem Großteil aus dieser Unmöglichkeit resultierte.« (Laclau 2007: 25) b. Eine zweite Kritik reflektiert gewissermaßen die Folgen dieser Tendenz zur ökonomistischen Engführung für die Analyse sozialer und politischer Bewegungen. Hier lautet der Einwand knapp gefasst, dass Marx und der Marxismus nicht in der Lage seien, die Pluralität sozialer und politischer Kämpfe zu erfassen. Stellvertretend für viele andere Autorinnen und Autoren, die diese Kritik gegen Marx erheben7, sei deren Struktur hier kurz am Vorwurf des Klassismus erörtert, wie er von Laclau und Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie (Laclau/Mouffe 2012) formuliert wird. Laclau und Mouffe halten damit zunächst diagnostisch fest, dass im Marxʼschen Denken eine starke Tendenz dazu besteht, die Arbeiterklasse für »den privilegierten Akteur« zu halten, »bei dem die Haupttriebkraft sozialer Veränderung liegt« (ebd.: 220). Demgegenüber machen sie im zweiten Teil dieses Einwands geltend, dass die Realität gesellschaftlicher Konflikte deutlich pluralistischer verstanden werden müsse und dass man deren Charakter vollkommen verfehle, wenn andere Auseinandersetzungen gleichsam in ein Ableitungsverhältnis zum ökonomietheoretisch fundierten Kampf der Arbeiterklasse gebracht werden. Vielfach hänge, so Laclau und Mouffe, der Erfolg emanzipatorischer Kämpfe, auch des Kampfes der Arbeiterklasse, zudem von Faktoren wie »der Radikalisierung einer Pluralität demokratischer Kämpfe« ab, »die zum großen außerhalb der Klasse selbst entschieden werden« (ebd.: 220). Laclau beschreibt das hegemonietheoretische Projekt, dessen Konturen er gemeinsam mit Mouffe in Hegemonie und radikale Demokratie entworfen hat, rückblickend als Versuch, weder dem Marxʼschen Theorieapparat zu folgen noch ihn einfach hinter sich zu lassen. Das postmarxistische Vorhaben sucht nach Laclaus Überzeugung über die bei Marx diagnostizierten Engführungen hinauszugehen, ohne den Kontakt zu Marx vollständig zu kappen (vgl. Laclau 2007 und 2014), macht Marx aber dabei den Vorwurf, die eigenständige und sogar vorrangige (vgl. Laclau 2007: 36) Bedeutung des Politischen systematisch zu verdrängen.

7

Dass Marx die Komplexität sozialer und politischer Kämpfe nicht angemessen erfasst, machen u.a. auch Castoriadis, Rancière und Honneth gegen ihn geltend.

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c. Die damit angedeutete Verdrängung des Politischen im Marxʼschen Denken bildet eine dritte wesentliche Kritiklinie. Der Zuspitzung halber werde ich wiederum darauf verzichten, ein Panorama der von verschiedenen Seiten vorgebrachten und in diese Richtung gehenden Überlegung zu zeichnen, sondern mich statt dessen exemplarisch auf den Vorwurf eines metapolitischen Beiseitesetzens von Politik konzentrieren, wie er von Jacques Rancière in Das Unvernehmen entwickelt wird. Aus Rancières Sicht fügt sich Marx in die von der Antike bis in die Gegenwart reichende Tradition der »›Politik der Philosophen‹« (Rancière 2002: 93) ein, obwohl sich Marx’ eigenes Projekt einer Aufhebung der Philosophie ja ebenso wie Rancières Kritik der Politik der Philosophen als ein Bruch mit den eingefahrenen Bahnen der abendländischen Philosophiegeschichte verstehen lässt. Diese Politik der Philosophen besteht nach Rancières Überzeugung wesentlich darin, Schluss mit der Politik zu machen. 8 Rancière zufolge ist diese Tendenz zur Verabschiedung von Politik systematischer Bestandteil von Marx’ Theorieprogramm: Marx richtet demnach von der Warte der politischen Ökonomie aus einen ideologiekritischen Blick auf politische Prozesse, Akteure und Institutionen, der diese insgesamt als Unwahrheit, Falschheit oder gar Lüge entlarvt: »Die Meta-Politik ist der Diskurs über die Falschheit der Politik« (ebd.) und etwas später: »Die Politik ist die Lüge über ein Wahres, das Gesellschaft heißt.« (Ebd.: 94) Worauf sich Rancière hier bezieht, ist die in verschiedenen Marxʼschen Schriften auftauchende Überzeugung, dass der emanzipatorische Kampf nicht auf dem Feld der Politik ausgetragen werden könne, da diese bestenfalls als Selbsttäuschung der Akteure erscheinen müsse. Vielmehr sei mithilfe einer politisch-ökonomisch angeleiteten Ideologiekritik ein Feld gleichsam unterhalb der Politik herauszuarbeiten, das die tiefere Logik gesellschaftlicher Strukturen und Konflikte offenbart, die auf der Ebene der Politik unsichtbar bleiben oder jedenfalls nur verzerrt zu Tage treten würden. Rancière ist daher überzeugt, dass Marx den politisch-demokratischen Streit allenfalls zum Epiphänomen degradiere. Letztlich aber geht es Marx nach Rancières Eindruck sogar darum, die Politik gänzlich beiseite zu setzen: Zum einen stelle sich die Marxʼsche Ideologiekritik (vgl. dazu ebd.: 97 f.) nämlich als Projekt der Überwindung von Politik dar und zum anderen setze Marx perspektivisch auf ein Reich der Freiheit, in dem für politischen Streit kein Raum mehr vorgesehen ist. Für diese Einwände finden sich Referenzen in Marx’ Texten. Zu denken ist hier nur an Formulierungen aus dem ersten Band des Kapitals, in denen Marx von

8

Es ist hier nicht der Ort, Rancières weitere Argumentation nachzuzeichnen. Diese rekonstruiere ich ausführlich in: Flügel-Martinsen 2015 und 2017: Teil 3.

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einer »bewußte[n] planmäßige[n] Kontrole« spricht, unter die der »gesellschaftliche[...] Lebensprocess[...]«9 (MEGA2 II/10: 78) gebracht werden soll. d. Die vierte Kritik schließlich zieht gewissermaßen die Konsequenzen aus den verschiedenen Verdrängungen des Politischen, die in den anderen drei Kritiken diagnostiziert wurde. Sie wendet ein, dass Marx schlicht eine Vorstellung emanzipatorischer demokratischer Politik, die auf gesellschaftliche Umgestaltung zielt, fehlt, ja fehlen muss, da er auf die Hoffnung einer radikalen Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft fixiert blieb, an deren Ende den oben skizzierten Einwänden zufolge eine Welt ohne Politik stehen sollte. Diesen letzten Punkt möchte ich hier allerdings lediglich noch benennen. Zum einen, weil der Vorwurf wirkliche Konturen erst vor dem Hintergrund zumindest kurzer Rekonstruktionen der verschiedenen Vorstellungen emanzipatorischer demokratischer Politik gewinnen könnte, wie sie auf unterschiedliche Weise in Form etwa eines hegemonietheoretischen Konzepts radikaler Demokratie bei Laclau und Mouffe (vgl. Laclau/Mouffe 2012: 189-238), eines demokratischen Streits der Anteillosen bei Rancière (vgl. insgesamt Rancière 2002) oder des Projekts einer demokratischen Lebensform bei Honneth (vgl. Honneth 2015: Kap. IV) entwickelt werden. Zum anderen aber wird der nun folgende abschließende Abschnitt ja gerade der Frage nachgehen, ob Marx nicht doch mehr Gesichter hat, als einheitliche Autorfiktionen suggerieren10, und ob darunter nicht auch ein politisches Antlitz ist, dem zumindest Dimensionen demokratischer Emanzipationspolitik nicht gänzlich fremd sind.

3. S PUREN EINER T HEORIE DES P OLITISCHEN BEI M ARX ? E INE KRITISCHE R E -L EKTÜRE Trifft die postmarxistische Kritik den ganzen Marx oder trifft sie eher bestimmte marxistische Vereinheitlichungsversuche? Kurz: Verfügt Marx, der in seinen politisch-historischen Schriften ja durchaus Elemente einer Theorie politischer Kämpfe entwickelt, tatsächlich über keine Theorie des Politischen oder wird sie vielleicht nur an vielen Stellen verdrängt, taucht aber an anderen wieder auf und besitzt vielleicht sogar einige Inspirationskraft für das gegenwärtige Nachdenken

9

Marx , Kapital I, MEW 23, Berlin 1972, 94.

10 Aus marxismus-kritischer Perspektive hat insbesondere Castoriadis geltend gemacht, dass Marx’ Vielschichtigkeit sich einer theoretischen Vereinheitlichung sperre (vgl. etwa Castoriadis 1990: 20).

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über eine Praxistheorie radikaldemokratischer politischer Emanzipationsbemühungen? Die Theorie politischer Kämpfe verschwindet, wie wir sogleich anhand einer exemplarischen Exegese dreier Schriften aus verschiedenen Schaffensperioden sehen werden, nicht einfach zugunsten einer geschichtsphilosophisch eingebetteten umfassenden Theorie der politischen Ökonomie. Statt eines Verschwindens einer eigenständigen Bedeutung des Politischen in Marx’ Denken können wir – um die exegetische Kernthese kurz zu umreißen – so vielmehr je nach den Rahmenbedingungen der maßgeblichen politischen Konfliktlinien konzeptionelle Wechselfälle beobachten: 1843 eine emphatische Vorstellung wahrer Demokratie, 1851/52 eine resignative Zurückweisung der Sphäre und der Semantik des Politischen und 1871 das Wiederaufflammen der Hoffnung auf eine politische Revolution der herrschenden Verhältnisse. a. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie [1843]. Vor allem in seinen Frühschriften, am deutlichsten vielleicht in seinem als Hegel-Kommentar angelegten Text Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, stellt Marx politiktheoretische Überlegungen zu einer Demokratietheorie an, die er unter dem Rubrum der »wahren Demokratie« diskutiert (MEGA2 I/2: 32). Dort findet sich eine geradezu emphatische politische Theorie der Demokratie. Marx entwickelt seine Demokratietheorie in Form polemischer Spitzen gegen Hegel. Das zeigt sich schon an der allgemeinen Bestimmung von Demokratie als »Einheit des Allgemeinen und Besondern« (ebd.: 31) – Hegel selbst hatte sein gesamtes Philosophieren gegen Kant, dem er die Fixierung auf das formale und abstrakte Allgemeine zum Vorwurf gemacht hat, als eine Verschlingung von Allgemeinem und Besonderem verstanden, die er Marx zufolge aber gerade verfehlt. Marx nun wendet den Vorwurf der Abstraktheit gegen Hegel selbst und konturiert davon ausgehend sein Demokratieverständnis: Die Verfassung in der Demokratie hat nach seiner Überzeugung im Unterschied zur Verfassung des Staates der Hegelschen Rechtsphilosophie als Grund den »wirklichen Menschen, das wirkliche Volk« (ebd.). Erst die demokratische Verfassung ermögliche daher Freiheit: »Die Verfassung erscheint als das, was sie ist, freies Produkt des Menschen [...]« (ebd.). Für Marx ist Demokratie die politische Gestalt, die den abstrakten Staat, den er in Hegels Rechtsphilosophie ausmacht, absterben lässt: »In der Demokratie ist die Verfassung, das Gesetz, der Staat selbst nur eine Selbstbestimmung des Volkes [...]« (ebd.: 32). Demokratie erscheint hier demnach als Mittel, um die politische Sphäre und die Sphäre der Gesellschaft miteinander zu verknüpfen und eine abstrakte Verselbständigung zu vermeiden. Eine Skepsis gegen die institutionelle Politik des modernen Staates gibt es auch hier, aber Marx’ Überlegungen zur

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Demokratie lassen sich durchaus als Beiträge zu einer Theorie des Politischen entlang der Unterscheidung institutioneller Politik (bei Marx: abstrakter, politischer Staat) und einem instituierenden, aber auch subvertierenden Politischen (bei Marx: wahre Demokratie) denken11 – das Marx dann allerdings, was ein anderes Thema wäre, doch etwas substanziell (wirklicher Mensch, wirkliches Volk) zu denken scheint. Miguel Abensour zufolge lassen sich Marx’ Überlegungen zu einer ›wahren Demokratie‹ jedenfalls als eine radikale Demokratietheorie lesen, die die Demokratie gegen den Staat in Stellung bringt und mit der sich Marx von seiner eigenen, folgt man Abensours Rekonstruktion (vgl. Abensour 2012: Kap. 1), noch kurz zuvor (1842) erprobten Begründung eines vernünftigen Staates absetzt. 12 Allein: Diese Denkbahn scheint er einfach liegenzulassen. Ist das also nur eine Episode der Frühschriften? b. Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte [1851/52]. In dieser Schrift erscheint die Analyse von (politischen) – die Klammer ist, wie gleich sichtbar werden wird, kein Zufall – Kämpfen in einem deutlich anderen Licht; auf die politische Semantik wird nur noch pejorativ Bezug genommen. Hier spiegelt sich Rancières Eindruck am deutlichsten wider, dass Marx die Politik verdränge, weil er sie für die Lüge über ein Wahres, die Gesellschaft, halte, das politökonomisch zu verstehen ist (vgl. Rancière 2002: 94). Eingangs schließt Marx zunächst an die Idee an, dass Menschen ihre eigene Geschichte machen und weist dabei darauf hin, dass das nicht autonom, sondern unter gegebenen Bedingungen geschehe (vgl. MEGA2 I/11: 96). – Das ließe allerdings noch großen Spielraum für eine gestalterische Politik. Schon die Deutung der Französischen Revolution folgt dann aber einem eher engen Verständnis der Erfüllung historischer Aufgaben (vgl. ebd.: 97). Die Revolutionäre voll-

11 Vgl. zu meiner Lesart der Unterscheidung von Politik und Politischem: Flügel-Martinsen 2017: 161-193. 12 Das ist insgesamt die These, die Abensour in einem zugleich dichten und experimentellen Marx-Kommentar entwickelt, in dem er Marx von einem im Anschluss an seinen Lehrer Claude Lefort gelesenen Machiavelli her als radikalen Demokraten zu deuten vorschlägt (vgl. Abensour 2012). Matthias Bohlender wendet gegen eine solche Marx-Interpretation, die beim frühen Marx des Jahres 1843 einen radikaldemokratischen Republikanismus ausmacht und diesen gegen die Kritik der politischen Ökonomie der späteren Schriften in Stellung bringt, ein, dass durch die damit verbundene Abwendung vom späteren Marx der Kritik der politischen Ökonomie die Kritik des Kapitalismus als Kritik einer Herrschaftsform aus dem Blick gerät (vgl. Bohlender 2018 i.E.).

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brachten, so diagnostiziert Marx, »die Aufgaben ihrer Zeit« (ebd.). Und dies blieb nicht auf Frankreich beschränkt, auch im übrigen Kontinentaleuropa wurden die »feudalen Gestaltungen« (ebd.) weggefegt und eine der Produktionsweisen der bürgerlichen Gesellschaft entsprechende Umgebung geschaffen. Wenig später wird diese Rückbindung politischer Akteure an soziale und historische Strukturbedingungen dann an der Gegenüberstellung von Bourbonenund Orléans-Herrschaft schon beinahe so stark schematisiert – Bourbonen: großes Grundeigentum, Orléans: Kapital – wie in der holzschnittartigen Darstellung historischer Umwälzungen im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859 (vgl. MEGA2 II/2: 99-103). Hier tritt dann die von Rancière hervorgehobene Tendenz, dass die Sphäre der Politik wenn nicht eine des Lugs, so doch mindestens eine der Täuschung, ja auch der Selbsttäuschung ist, besonders plastisch hervor. Die Individuen mögen über das, was sie tun, denken, was sie wollen, es sind bloße Einbildungen. Über die Entstehung von Denkweisen und Lebensanschauungen hält Marx so fest: »Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, daß sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.« (MEGA 2 I/11: 121 f.) Für die Haltungen in politischen Kämpfen heißt das: »[S]o muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden« (ebd.: 122) – hier geht die Zurückweisung der eigenständigen politischen Dimension (die, wie wir gleich sehen werden, noch sehr viel drastischer zum Ausdruck gebracht wird) mit einem eigenartigen Objektivismus einher: Es ist die Rede von wirklichen Interessen, die sich durch die politik-ökonomische Brille eines wohlverstandenen Materialismus auch gegen die Selbsttäuschungen der Akteure erkennen ließen. Die Entfaltung dieser objektivistischen Theorie wirklicher Interessen zieht eine drastische Abwertung der politischen Semantik mit sich: Parteien »verrichteten« so »ihr wirkliches Geschäft [...] unter einem gesellschaftlichen, nicht unter einem politischen Titel« (ebd.); die »blos politische Form« wird »abgestreift« (ebd.: 123); die »politischen und literarischen Vertreter einer Klasse« kommen so »im Kopfe nicht über die Schranken hinaus« (ebd.: 124), über die diese im gesellschaftlichen Leben nicht hinauskommt – sie sind daher im Wortsinne beschränkt. Marx analysiert so etwa auch im berühmten Abschnitt IV von Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte die Beteiligung der politischen Vertreter der Bourgeoisie an der Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts (das eigentlich selbst eine genuine Forderung bürgerlicher Politik ist) in diesem polit-ökonomi-

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schen Sinne: Die »Aechtung des allgemeinen Wahlrechts« erscheint Marx daher als »eine der Nothwendigkeiten des Klassenkampfes« (ebd.: 139), denn ein allgemeines Wahlrecht würde taktische Nachteile für die Bourgeoisie gegenüber jenen abhängigen und besitzlosen Klassen bedeuten, die im Falle von dessen Einführung über ein politisches Gewicht verfügen würden, das die Klasseninteressen der Bourgeoisie bedroht. Auch die Analyse der politischen Akteure mithilfe eines Klassenbegriffs, der weitgehend objektivistisch ökonomisch verstanden wird, unterstreicht zunächst Marx’ Degradierung der Politik zum Epiphänomen: »Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstehen, bilden sie eine Klasse.« (Ebd.: 180)

Allerdings findet sich selbst an dieser Stelle, in einer Schrift, in der Marx Politik kaum ernst zu nehmen scheint, doch noch ein Hinweis darauf, dass die politische Dimension dadurch nicht einfach überflüssig wird: Mögen die ökonomischen Kriterien die objektiven Bedingungen für die Konstitution einer Klasse sein, so hält Marx dennoch nachdrücklich fest, dass diese verfehlt werde, also keine Klasse bestehe, wenn »keine politische Organisation unter ihnen erzeugt« (ebd.: 180) wird.13 c. Der Bürgerkrieg in Frankreich [1871]. Die eigentlich spannende Frage ist nun, ob eine eigenständige Theorie des Politischen und eine starke Vorstellung demokratisch-emanzipatorischer Politik nach der Etablierung der Klassentheorie mit der für die Marxʼschen Revolutionshoffnungen zentralen Klasse des Proletariats und dessen geschichtstheoretisch-ökonomistischer Einbettung letztlich verdrängt werden – wie selbst Abensour fragt (Abensour 2012: 183), der ansonsten eine sehr wohlwollende Lesart von Marx’ Beitrag zur politischen Theorie entwickelt. Allerdings handelt es sich nach Abensours Eindruck eben um eine Ambiguität (ebd.: 200) und nicht einfach um eine begriffliche Ablösung, denn nach seinem Dafürhalten schwelt das Demokratiedenken in Marx’ Werk fort, jederzeit bereit, sich zu entzünden – und als ein solcher Funke lodert es, wie Abensour betont, dann etwa auch im späteren Werk in den Überlegungen zur Kommunalverfassung in der Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich im Jahre 1871 auf (vgl. ebd: 191 ff.).

13 Ich danke Anna-Sophie Schönfelder für den Hinweis, dass Marx selbst an Stellen wie diesen, die auf den ersten Blick das Gepräge einer strikt ökonomisch-objektivistischen Kategorienbildung aufweisen, das Politische nicht gänzlich beiseite setzt.

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Zwar folgt auch die dortige Analyse des politischen Geschehens auf den ersten Blick konsequent der polit-ökonomischen Entschlüsselung von Handlungslogiken, aber bei näherer Betrachtung zeigt sich dennoch rasch, dass Marx in diesem Text weit davon entfernt ist, die Politik zur Nebensache, ja zum reinen Phänomen einer Täuschung bzw. Selbsttäuschung zu machen.14 Die Lesart eines Wiederauftauchens der Politik auch in diesem späten Marx-Text wird vor allem durch zwei Umstände gestärkt: Erstens nimmt Marx mit seiner Deutung der Kommunalverfassung positiv auf eine Form politischer Selbstregierung Bezug und entwickelt dabei sogar so etwas wie Ansätze zu einer Theorie radikaler Demokratie, die in ihrer Emphase den beinahe drei Dekaden älteren Überlegungen aus dem Jahre 1843 kaum in etwas nachstehen. Man denke hier nur an Formulierungen, in denen Marx die Kommune zugleich als »Arbeiterregierung« und – übrigens in Wiederaufnahme der aus dem Hegel-Kommentar von 1843 bekannten Semantik des Wahren – als »wahre Vertreterin aller gesunden Elemente der französischen Gesellschaft« (ebd.: 208) bezeichnet. Zweitens wird dieser politischen Dimension nun sogar eine entscheidende Funktion bei der Umgestaltung der sozialen Verhältnisse zugemessen. So begreift er – und auch hier treten wiederum radikaldemokratische, gesellschaftliche Verhältnisse und Strukturen grundlegend umgestaltende Dimensionen hervor – die Kommune als »Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfes der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte« (MEGA 2 I/22: 204 f.) – hier ist dann nicht nur nicht, wie in Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, von ›blos politisch‹ die Rede, sondern der politischen Form wird grundlegendes Gewicht beigemessen. Zwar koppelt Marx die Erfolgsaussichten der Kommune an die Umstürzung der ökonomischen Verhältnisse, aber er traut dies prinzipiell einer politischen Form zu, die somit eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber dem engen politikökonomischen Korsett erhält. – Zu einer wirklichen Theorie des Politischen kann sich Marx freilich auch hier nicht durchringen, hält er doch letztlich fest, dass die Kommune »nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen [hat],

14 Abensour hält zwar an der Diagnose fest, dass Politik im Ganzen in den späteren Marx-Texten der Kritik der politischen Ökonomie »schließlich untergeordnet wird« (Abensour 2012: 199). Aber er vertritt zugleich die Auffassung, dass eine politische, aus Abensours Sicht dabei übrigens auch »antistaatliche Matrix [...] in Marx’ Werk fortbesteht und stets in der Lage ist, wieder zum Vorschein zu kommen und neue Früchte zu tragen« (ebd.). Ein herausragendes Beispiel wäre dann der Kommentar zur Pariser Kommune.

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die sich bereits im Schooß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben« (ebd.: 206). Aber immerhin scheinen hier Spuren einer politischen Kritik auf, die diesen Namen verdient – auch wenn es sich nur um Spuren handelt und das Gesamtbild das bekannte ambivalente Gepräge behält. Castoriadis hat daher recht, wenn er festhält, dass Marx’ Theorie »weit davon entfernt ist, jene systematische Einheitlichkeit und Geschlossenheit zu besitzen, die ihr manche gerne zusprächen«. (Castoriadis 1990: 20) Dann könnte es aber, anders als Castoriadis, der sich stark von Marx distanziert, es nahezulegen scheint, auch aus der Perspektive einer kritischen Theorie des Politischen durchaus lohnenswert sein, nach Perlen im Marxʼschen Meer der Ambivalenz zu tauchen. Der vorliegende Aufsatz konnte nur erste Vorbereitungen für ein solches Perlentauchen liefern. Zwei wichtige Hinweise lassen sich den hier angestellten Überlegungen aber entnehmen. Erstens deutet sich nachdrücklich an, an die Stelle der überzogenen und exegetisch wenig hilfreichen Lesarten, die von einer stringenten Werkentwicklung ausgehen, ein offeneres Bild der Marx’schen Schriften zu setzen, das vor allem Marx’ Empfänglichkeit für die politischen Entwicklungen seiner Zeit ernst nimmt: Marx’ Arbeiten als Kritik im Handgemenge zu lesen, würde dann eben auch bedeuten, die Niederschläge politischer Wahrnehmungen auf die systematischen Thesen in bestimmten Texten genau zu verfolgen. Historische Kontexte lassen sich nicht einfach en passant umreißen, es liegt aber mit Blick auf die drei hier herangezogenen Texte nahe, den Stellenwert des Politischen in ihnen mit der Aufbruchstimmung des Vormärz, der Katerstimmung der nach dem Scheitern der 1848er Revolution einsetzenden Restauration und dem erneuten Aufflammen einer Hoffnung auf emanzipatorische Politik, das durch die Pariser Kommune befeuert wurde, in Verbindung zu bringen. Ein zweiter Hinweis betrifft die bereits angedeutete Pluralität der Marx’schen Schriften, die ernst genommen zu einer veritablen postmarxistischen Marx-Lektüre führen kann: Einer solchen Lektüre zufolge, die durch die obige Auseinandersetzung mit drei Marx-Texten wenigstens angedeutet werden sollte, ist die Suche nach einem einheitlichen Kern des Marx’schen Denkens weniger fruchtbar als die Suche nach Motiven und Gedankenlinien, die in bestimmten Marx-Texten formuliert werden und in anderen weniger oder vielleicht auch gar nicht. Eine solche Lektüre würde Marx’ Arbeiten nicht als wilden Steinbruch ausbeuten, aus dem sich hier und da ein Brocken edlen Gesteins herauslösen ließe. Sie würde vielmehr der Tragfähigkeit und auch der Inspirationskraft Marx’scher Überlegungen nachgehen, ohne dies gleich mit der Absicht zu verbinden, sie in eine einheitliche Theorie und in eine konsistente Werkdeutung zu bündeln. Der Vorteil einer solche Lektürestrategie liegt nach meinem Dafürhalten ganz klar darin, dass nicht der eine gegen den anderen Marx ausgespielt wer-

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den muss: Die Wiederentdeckung eines politischen Marx muss also nicht die analytische und kritische Kraft des Kritikers der politischen Ökonomie dementieren. In ihrem Ausgangspunkt kann aber getrost Abstand von Versuchen genommen werden, die politischen Überlegungen in ein abschließendes systematisches Verhältnis zur Kritik der politischen Ökonomie zu setzen. So gesehen könnte eine der produktivsten Implikationen postmarxistischer Marxismus- und Marxkritiken die Aufforderung zu einer unvoreingenommenen Marx-Lektüre sein. Und das ist doch allemal einen Versuch wert.

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Wahrheitspolitik und die Praxis der Theorie

Die hohe Kunst der tiefen Schläge Die »Kritik im Handgemenge« als Vollzug kritischer Theorie A NTJE G ÉRA UND S EBASTIAN S CHREULL Für Männer / Überzeugen ist unfruchtbar. WALTER BENJAMIN

1

Titel theoretischer Schriften sind Artikulationen eines Versprechens: Sie zeigen an, was der ihnen folgende Text darzulegen, zu erhellen, zu kritisieren beansprucht und welche Probleme er dadurch zu lösen trachtet. Äußern manche Titel ihr Versprechen eher bescheiden, so treten andere mit einer gewissen Großmäuligkeit auf. So auch der unsrige. Er scheint nicht nur von einem, sondern gleich von mehreren, und nicht nur von kleinen, sondern durchaus großen Versprechen zu künden. Das ist untrennbar mit kritischer Theorie verknüpft: Wenn sie von sich behauptet, ›kritisch‹ zu sein, dann spricht sie dies anderen Theorien ab, die notwendiger Weise genau dies in Anspruch nehmen müssen, um überhaupt als Theorien zu gelten. Kritische Theorie ist wesentlich polemisch. Und dieses Polemische geht nicht in ihrem Streben nach dem Begreifen gesellschaftlicher Verhältnisse auf, sondern ist verbunden mit ihrem Anspruch, das Leiden an diesen gesellschaftlichen Verhältnissen aufzuheben, Moment gesellschaftlicher Veränderung zu sein. Die mit dieser Aufgabe und diesem Anspruch verbundene Frage, wie sich kritische Theorie vollzieht, wie ihre Praxis bestimmt ist, macht kritische Theorie selbst zu einem Handgemenge, denn über ihre Beantwortung herrscht keine Einigkeit. Aufgabe dieses Textes wird es sein, dieses Bild einer ›Kritik im Handgemenge‹ als Konstellation derjenigen Aspekte darzustellen, die für eine Reflexion des Vollzugs kritischer Theorie bestimmend sind.

1

Benjamin 1985: 12.

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Eines der Versprechen, welches unsere auf dem schmalen Grat zwischen Anschaulichkeit und Albernheit wandelnde Titelformulierung einer ›hohen Kunst der tiefen Schläge‹ scheinbar nahelegt, wäre, dass wir eine Art ›Gebrauchsanweisung‹, ein Rezept für die richtige Praxis kritischer Theorie geben – dies jedoch stünde im Widerspruch zu einer Auffassung kritischer Theorie, wie wir sie im Folgenden entfalten wollen. Ein weiteres Versprechen könnte aus der ›Tiefe‹ der Schläge herausgelesen werden, als ob es in unserer Deutung dieses Handgemenges darum ginge, zu zeigen, wie kritische Theorie ihre Gegner möglichst schnell zu Fall bringt und ein für alle Mal erledigt, indem sie direkt auf deren verwundbarste, schwächste und empfindlichste Stellen zielt. Von ›höherer Kunst‹ dürften wir aber in diesem Falle nicht sprechen, eher von einem Verhalten, das sich allenfalls in besonders aussichtslosen oder verzweifelten Situationen als Taktik rationalisieren ließe – aber als Haltung oder Modus von Kritik problematisch ist. Als Strategie taugt diese Form des ›tiefen‹ Schlages nicht, sie bereitet vielmehr die Wiederkehr des Gegners vor, wird er doch auf seine Stärke pochen können, die ja überhaupt nicht berührt worden ist. Mit einer ›hohen Kunst‹ der ›tiefen Schläge‹ geht es uns keineswegs um die Sicherung der in einer androzentrischen Tradition stehenden Auffassung von Auseinandersetzung als rücksichts- und gnadenloser Durchsetzung der eigenen selbstgewissen Position im Kampf. Nicht das unter die Gürtellinie zielende Foul auf dem Fußballrasen wäre das der ›hohen Kunst der tiefen Schläge‹ verschwisterte Bild, sondern dasjenige einer Kunst, die darin besteht, die Kraft des Gegners gegen ihn selbst zu wenden, wie sie sich in der japanischen Kampfkunst Aikidō findet: »Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht.« (Hegel 1986: 250). Diese Kunst wäre nicht einfach die Kunst, über die ein einzelnes Individuum kraft seiner Intentionalität, Genialität und Durchsetzungsfähigkeit verfügt, sondern eine Kunst, die vermittelt über die Kunst und Kraft des Gegners in einem gemeinsamen Tun aufgehoben ist. Wir möchten die ›Kritik im Handgemenge‹ als Bild lesen, das unterschiedliche Aspekte des Begriffs immanenter Kritik konstelliert – als Modus kritischer Theorie, wie sie sich auf ihre Gegenstände oder Gegner einlässt und gerade nicht durch den »Anspruch eines überlegenen ›Standpunkts‹« (Adorno 1998: 13) charakterisiert ist. Kritische Theorie ist somit für uns keine schulförmige Ausprägung des Marxismus oder eine bestimmte Generation von Intellektuellen, sondern eine bestimmte Haltung gegenüber dem Erbe, das wesentlich durch den Namen Marx geprägt ist, aber sich in und durch Erbstreitigkeiten in einer ungeheuren Weise vermehrt, durch stete An- und Enteignungen transformiert wird.

D IE HOHE K UNST

DER TIEFEN

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Diese Haltung begreift gerade die stetigen Auseinandersetzungen als das, was das Erbe zusammenhält: Die Kämpfe gewährleisten, dass sich das Erbe aktualisiert, indem Momente verworfen werden. Bis zur »Bestätigung durch den Sieg«, so heißt es pathetisch bei Horkheimer in Bezug auf die kritische Theorie, »währt auch der Kampf um ihre richtige Fassung und Anwendung« (Horkheimer 1988: 215). Kritische Theorie ist dann nicht nur im Handgemenge, weil sie eben Gesellschaft kritisiert, sondern sie ist selbst Schauplatz eines Handgemenges um ihren angemessenen Vollzug. Die »kantianische Wende« (Weingarten/Ohme-Reinicke 2012c: 116) kritischer Theorie, die mit der »Theorie des kommunikativen Handelns« postulierte, einen normativen Maßstab für ihre Vollzüge etabliert zu haben, war flankiert von Kritiken, die grundsätzlich die Konsensorientierung mit der Bedeutsamkeit des Dissenses (vgl. bes. Wellmer 2007 und Düttmann 2004: 38) konfrontierten. Gegenwärtig lassen sich nicht nur Bemühungen vernehmen, kritische Theorie stärker auf eine Theorie gesellschaftlicher Praxis auszurichten, die vom quasitranszendentalen Begründungsmuster wieder abweicht (vgl. Stahl 2013 und Celikates 2009). Explizit finden sich mit den Arbeiten von Volker Schürmann (vgl. 2002: 117-139 und 2011: 44-48) und Michael Weingarten (vgl. 2012b: 306-314) auch Versuche, das Bild einer ›Kritik im Handgemenge‹ so für eine Reflexion der Vollzugsform kritischer Theorie aufzuschließen, dass kritische Theorie als (sich selbst als Praxis reflektierendes) Moment gesellschaftlicher Praxis begriffen wird. Konnten wir uns in einer Rekonstruktion einiger Momente, die das Handgemenge-Bild für ein Nachdenken über die Vollzugsform kritischer Theorie konstelliert, auf diese Ausarbeitungen stützen, so begegnete uns die Metapher im Kontext der Marxʼschen Gebrauchsweise bisweilen recht widerspenstig, und es erschien uns so, als ob die ›Karriere‹ des Ausdrucks sich eher einer Auslösung aus seiner ›ursprünglichen‹ Bedeutung verdankt. Bemerkenswert ist, wie diese drei Worte ›Kritik im Handgemenge‹ zirkulierten: Auf wie vielen Flugblättern las man sie, in wie vielen Abhandlungen bildeten sie einen Schlusspunkt! Und doch ist der Ausdruck ›Kritik im Handgemenge‹ nur an einer einzigen Stelle des Marxʼschen Oeuvres zu finden, als hätte Marx bloß nach einer griffigen Formulierung gesucht, die als ›Schlagwort‹ trifft, aber ohne begrifflich-systematische Reichweite ist: Kurz flackert sie auf, um sogleich im nächsten Textabsatz von einer weiteren Pathosformel verdrängt zu werden. Die drei Worte erscheinen in der im Februar 1844 gemeinsam veröffentlichten ersten und zweiten Lieferung der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in jener Einleitung zu einem dadurch angekündigten Werk Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, das seit November 1841 als Vorhaben durch die Briefe und Manuskripte geistert. Gegen die

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Annahme, dass die Handgemenge-Metapher in ihrem Gebrauch von Marx selbst nichts weiter sei als ein kurzweiliger rhetorischer Glücksgriff, wollen wir einen kleinen Corpus von Texten untersuchen, die in diesen Jahrbüchern in direkter zeitlicher Nähe zum Handgemenge-Bild veröffentlicht wurden und genetisch in einem Zusammenhang stehen. Dass wir uns dabei auf eine bestimmte historische Phase beschränken, ist keineswegs einer übergeordneten theoretischen Modellierung geschuldet, die diesen Corpus durch einen »epistemologischen Einschnitt« (Althusser 2011: 207) von einem ›reiferen‹ Werk abtrennte 2. Es wäre nun sicherlich ein sehr fruchtbares Unterfangen, die ›Kritik im Handgemenge‹ im Ausgang von den späteren Marxʼschen Arbeiten einer Kritik der politischen Ökonomie als Vollzugsform kritischer Theorie zu rekonstruieren. Was unserer Ansicht nach jedoch die Auseinandersetzung mit den Schriften der 1840er Jahre so spannend macht, ist gerade die sich in begrifflichen und argumentativen Spannungen spiegelnde Marxʼsche Suchbewegung nach angemessenen Bildern, begrifflichen Mitteln und Kategorien, nach trefflichen Ausdrucks- und Darstellungsformen für eine kritische Theorie.3 Mit dieser Suchbewegung werden nämlich einige Probleme aufgerufen, die eine Praxis der Theorie je und je wieder heimsuchen. In unserem Versuch einer Plausibilisierung, dass dieses ominöse ›Handgemenge‹ auch und gerade unter Berücksichtigung des argumentativen Kontextes als ein die Vollzugsform kritischer Theorie in wesentlichen Momenten erschließendes Bild zu verstehen ist, werden wir in vier Schritten vorgehen: Wir werden zunächst den Bildcharakter des ›Handgemenges‹ ernst nehmen und uns anhand eines ›Gegenbildes‹ – Immanuel Kants ›Gerichtshof der Vernunft‹ – vergewissern, was hier für eine ›traditionellere Theorie‹ einsteht. Mithilfe einer kurzen Darlegung der Deutungen der ›Kritik im Handgemenge‹ durch Schürmann und Weingarten werden wir umreißen, wie in ihm Immanenz, Wahrheit und Parteilichkeit zusammenkommen. Wir legen damit die Grundlagen unserer Auslegung des Bildes offen, um nachvollziehbar zu machen, von welchen begrifflichen Überlegungen aus wir uns in die Rekonstruktion der Texte begeben haben (I).

2

Uns geht es dabei weniger um das Urteil, dass durch den Bruch mit Feuerbach sich das Marxʼsche Oeuvre radikal ändert, als vielmehr um die dieses Urteil tragende Modellierung, die aus guten Gründen von Althusser selbst verworfen wurde; siehe zu diesem althusserianischen Zusammenhang die luzide Rekonstruktion von Hackbarth (2015: 176-198).

3

Wie Marx nur kurze Zeit später in den 1850er Jahren in seinem bisher nur wenig erforschten journalistischen Schreiben Wege erprobt, dieses zu einer Vermittlungsebene zwischen seiner wissenschaftlich-theoretischen und politischen Praxis zu machen, rekonstruiert überzeugend Schönfelder 2016.

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Anschließend wollen wir uns in einem zweiten Schritt in die Marxʼschen Schriften selbst begeben, um nachzuvollziehen, welche Aspekte hier mit diesem Bild in einem Zusammenhang stehen, und uns dabei vornehmlich auf die Figur der Immanenz konzentrieren (II). In einem dritten Schritt werden wir den bis dahin nur angedeuteten Spannungen nachgehen, die sich nun am Bild der ›Kritik im Handgemenge‹ gerade in der Lektüre der Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie deutlicher zeigen werden (III). In einem letzten Schritt wagen wir dann noch einen Ausblick: auf mögliche Gründe für diese Spannungen und darauf, wie Marx selbst an diesem Bild weiter arbeitet (IV).

I. V OM ›G ERICHTSHOF DER V ERNUNFT ‹ ZUM ›K LASSENKAMPF IN DER P HILOSOPHIE ‹ Die Besonderheit – aber auch die Problemlage – eines Verständnisses von Kritik als ›Kritik im Handgemenge‹ wird deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, von welchen Konzeptionen sich diese absetzt. Aus diesen Konzeptionen sei hier exemplarisch – und eher zu heuristischen Zwecken als über den Weg einer sorgsam ausgefalteten immanenten Kritik – ein Moment aus Kants Formulierung einer transzendentalen Vernunftkritik angeführt.4 In seiner Metaphorik stellt es ein ›Gegenbild‹ zur ›Kritik im Handgemenge‹ dar und hilft uns, zu veranschaulichen, was die Handgemenge-Metapher auf der bildlichen und konzeptuellen Ebene leistet.5

4

Mit dieser führt Kant die sich seit dem 17. Jahrhundert vollziehende Ausweitung des Kritik-Begriffs fort. Dieser richtet sich nicht mehr bloß auf die »philologische Beurteilung von Texten« im Sinne einer »Sicherung des authentischen Textes und gemeinten Text-Sinnes« oder auf Fragen der Auslegung von ästhetischen Werken, sondern beginnt, »alle Bereiche gesellschaftlichen und intellektuellen Lebens« zu umfassen (Röttgers 2010: 1318 f.). »Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß«, auch »Religion [...] und Gesetzgebung«, heißt es in der Kritik der reinen Vernunft (Kant 1956: A XI).

5

Wenn wir den Ausdruck der ›Kritik im Handgemenge‹ im Folgenden als Metapher verstehen, dann beziehen wir uns damit gerade nicht auf eine Metaphern-Konzeption, die Metaphern als kontingente, durch andere Ausdrücke ersetzbare ›uneigentliche Rede‹ versteht. Vielmehr thematisieren Metaphern in der Bezugsform ›mittlerer Eigentlichkeit‹ (komplexe) Sachverhalte, die sich ›rein eigentlich‹ oder ›rein uneigentlich‹ nicht adäquat thematisieren ließen – beispielsweise Verhältnisse und Praxen. Zu einer Konzeption von Metaphorizität in diesem Sinne, die auch die Reflexion der Be-

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Im Blick auf den »Kampfplatz« (Kant 1956: B XV) der philosophischen Auseinandersetzungen seiner Zeit formuliert Kant in der Kritik der reinen Vernunft als Aufgabe der Kritik, das »bloße [...] Herumtappen« verschiedener Positionen zu beenden und es in den »sicheren Gang einer Wissenschaft« zu überführen (ebd.: B VII, vgl. auch B XIV, B XXIII, B XXX). Steckt in der Formulierung des ›sicheren Ganges‹ durchaus ein – wenngleich linear fortschreitend verstandenes – Moment von Prozessualität, so scheinbar auch noch in der Modellierung dessen, was denn das ›Sichere‹ sichern soll. Kant formuliert es als ›Prozess‹ im buchstäblichen Sinne eines ›Rechtsprozesses‹: als regelgeleitetes Verfahren, für das er das Bild einer Vernunft als »Gerichtshof über dem Kampfplatz metaphysischer Streitereien« (Schürmann 2002: 121) nutzt.6 In einem gewissen Sinn bleibt also »in der Kantischen Philosophie der Prozesscharakter der Kritik als eines Verfahrens im Gegensatz zu einer Doktrin, als eines Ensembles von Lehrinhalten einer Wissenschaft [...] bestehen« (Röttgers 2010: 1319). Indem jedoch der Prozess »als Zivilprozess konkurrierender Parteiinteressen mit einem selbst interesselosen Richter« (ebd.) verstanden wird, ist dieser Modus von Kritik eine Kritik des Handgemenges, in der von einem neutralen Ort aus, sozusagen von oben herab auf die Gemengelage geblickt wird, ohne sich als in diese involviert zu verstehen. Nach Art eines »bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt« (Kant 1956: B XIII), habe die Vernunft »einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlosen Anmaßungen [...] nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen abfertigen könne« (ebd.: A XI f.). Gerade weil die Kritik nicht selbst in die »Streitigkeiten [...] verwickelt« sei, sondern nach »ewigen und unwandelbaren Gesetzen« und feststehenden Grundsätzen urteile, sei sie als Richterin des Gerichtshofs legitimiert (vgl. ebd.: A 751). Die Kritik selbst ist somit nicht als eine vom Streit affizierte konzipiert und in dieser Hinsicht nicht als prozessuale, sondern lediglich als prozessierende: Sie nimmt einen ›Hochsitz‹ der Neutralität ein, von dem aus sie die Lage überblickt, die streitenden Positionen nach feststehenden ›Gesetzen‹ danach prüft, ob sie sich selbst in ihnen in vernünftiger Weise repräsentiert findet – ob ihnen also Wahrheit zukommt –

deutung solcher Metaphern tätigkeitstheoretisch – das heißt hier im Ausgang eines unhintergehbaren, dialogisch verstandenen Vollzugs – rekonstruiert, siehe König 1994. Zu einer an diese Konzeption anknüpfenden Darlegung der Bedeutung von Metaphern für die Formulierung dialektischer Theoreme siehe Holz 2000. 6

Die Gerichtshof-Metaphorik spielt nicht nur in der Kritik der reinen Vernunft mehrfach eine wichtige Rolle (vgl. Kant 1956: A229, A669, A 740, A 751), sondern auch in Kants Spätwerk der Metaphysik der Sitten (Kant 1969: 438-40).

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und daraufhin ihr Urteil fällt mit dem Ziel, den Streit zu beruhigen. Die ›Gesetze‹ oder ›Grundsätze‹, die dem Prüfverfahren als Maß zugrunde liegen, brauchen hierbei selbst nicht mehr zur Debatte zu stehen, denn sie gründen in der »Natur unserer Vernunft [...], und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten« (ebd.: A 668). Ohne »Grundsätze« dagegen ist die »Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen [...] als durch Krieg«, der immer nur in den kurzzeitigen, »unsichere[n] Friede[n]« münden kann (ebd.: A 751). Die Kritik, die ihren Prozess entlang des algorithmischen Geländers fester Grundregeln führt, gewährt hingegen »einen ewigen Frieden«. Es ist die transzendente Hobbesʼsche Figur des Leviathans7, der als Friedensstifter des rechtlosen und daher kriegerischen Naturzustandes über seinen Untertanen thront und durch sein Regiment der Furcht die Sicherheit derer garantiert, welche »sich dem gesetzlichen Zwange [...] unterw[o]rfen« (ebd.: A 752) haben, die Kant hier für den Gegensatz einer in »die Ruhe des gesetzlichen Zustandes« führenden, prozessierenden ›Natur der Vernunft‹ und den regellosen, kriegerischen Streitereien einer ›Vernunft im Stande der Natur‹ nutzt. Die sich hier verbindende Metaphorik von Streit und Auseinandersetzung mit einem kriegerischen Zustand, von einer darüber erhabenen Kritik mit einem transzendent verorteten, friedenssichernden Regiment der Rechtssetzung macht noch einmal deutlich, dass der ›Gerichtshof der Vernunft‹ als ›Kritik über dem Handgemenge‹ eine ›Kritik des Handgemenges‹ darstellt und damit als Gegenbild einer ›Kritik im Handgemenge‹ fungieren kann. Diese dagegen kennt nun gerade keinen neutralen Richterstuhl: Die ›Kritik im Handgemenge‹ begreift

7

Es kann hier leider nicht ausgeführt werden, inwiefern sich Kant nicht ohne Grund in die Tradition der Hobbesʼschen vertragstheoretischen Konzeption einer staatlichen Gemeinschaft stellt (Hobbes 1966). Für eine kritische Darlegung der problematischen politischen Implikationen derartiger Souveränitätsfiguren sei auf Hetzel 2015 verwiesen. Eine sich von transzendenten Begründungsmustern absetzende Tradition verliefe entlang von Auseinandersetzungen mit ›politischen Gemeinwesen‹, wie sie sich im Ausgang von Aristotelesʼ Verständnis eines ›zoon politikon‹ (Aristoteles 1994) über Spinozas im Tractatus politicus (diametral zur Hobbesʼschen Souveränitätsfigur) entwickelte immanente Konzeption einer ›multitudo‹ (Spinoza 2010) bis hin zu Hegels Naturrechtskritik und Sittlichkeitsbegriff (Hegel 1986 und 2002) rekonstruieren ließe. Zu den gegenwärtigen Anknüpfungspunkten an solche immanenten Konzeptionen des Politischen siehe Saar 2013.

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sich als Akteurin in dieser Auseinandersetzung, die sich stets aufs Neue im Ausfechten, Aushandeln und damit Verändern der eigenen Position in der Auseinandersetzung konstituiert. Sie ist kritisch, indem sie als in der Auseinandersetzung stehend begriffen wird. Die Prozessualität reicht hiermit tiefer als eine ›Verfahrenssicherungsprozessualität‹, die in der Gerichtshof-Metapher ausgedrückt ist. Die ›Kritik im Handgemenge‹ versteht sich nicht von den Bedingungen der Möglichkeit eines Vermögens der Vernunft zur Wahrheitssicherung her, sondern von ihrer sich wirklich vollziehenden bzw. vollzogen habenden Wahrheitspraxis. Bevor wir uns jedoch weiteren Annäherungen an die Frage widmen, was es heißen kann, Kritik mithilfe der Handgemenge-Metapher als Praxis zu reflektieren, sollten wir noch einmal kurz innehalten. Was die Kantische Kritik als ›oberster Gerichtshof der Vernunft‹ doch zum Gegenstand ihrer Prüfung hat, sind »Rechte und Ansprüche unserer Spekulation« (Kant 1956: B 697; Herv. G./S.), also eines Nachdenkens über Gegenstände, die laut Kant nicht über einen Erfahrungsbezug verifizierbar sind. Die in diesem Nachdenken aufkommenden Fragen der reinen Vernunft sind metaphysische Fragen nach der Möglichkeit von Freiheit, der Unsterblichkeit der Seele oder der Existenz eines Gottes. In Beantwortung dieser Fragen stößt die Vernunft auf Widersprüche, die sich nicht auflösen lassen – weswegen, so Kant, »es eigentlich gar keine Polemik der reinen Vernunft geben müsse«: Keine der Positionen verfüge über die Mittel, um »aus dem Streite heraus[zu]kommen« (ebd.: A 750/B 778), weil die in Frage stehenden »Behauptungen der reinen Vernunft über die Bedingungen aller möglichen Erfahrung hinausgehen« (ebd.: A 751/B 779). Deswegen braucht es eine übergeordnete Instanz, die hier für Ruhe und Ordnung sorgt. Auch wenn wir bereits die partielle Unredlichkeit unserer Rekonstruktion der Kantischen Auffassung über seinen Gebrauch der Metapher des ›Gerichtshofs der Vernunft‹ angedeutet haben, ist an dieser Stelle noch einmal der Einsatz zu betonen, unter dem wir diesen Vergleich tätigen und der uns erlaubt, die Bilder des Gerichtshofs und des Handgemenges als Ausdruck gegensätzlicher Konzeptionen von Kritik zu lesen: Beide Bilder werden gebraucht, um Modi von Kritik auszudrücken, und darin sind sie auch erst einmal vergleichbar. Aber könnte es nicht dennoch sein, dass wir hier Äpfel mit Birnen vergleichen? Ist nicht der Gegenstandsbereich, auf den sich Kants Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Leitmetapher des ›Gerichtshofs‹ richtet, von vornherein derart anders gelagert als derjenige einer ›Kritik im Handgemenge‹, die sich (in einer noch darzulegenden Weise) auf eine Kritik vernünftiger gesellschaftlicher Praxis richtet? Geht es damit in den Auseinandersetzungen des Gerichtshofs und des Handgemenges nicht um ganz unterschiedliche Problemlagen, die eine Vergleichbarkeit nur um den Preis eines Überstrapazierens der Bilder erlaubte? Mit dieser Frage säßen wir allerdings selbst schon

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unhinterfragt einer Unterscheidung auf, welche den kantischen Überlegungen zu Grunde liegt: derjenigen einer theoretischen und praktischen Vernunft, die wir wiederum als eine gegensätzliche Verfasstheit der Momente ›Theorie‹ und ›Praxis‹ verstehen würden. Das Bild einer ›Kritik im Handgemenge‹ aber arbeitet nun gerade an der Problematik dieser Unterscheidung, indem es Momente einer Auffassung von Kritik als Praxis konstelliert, in der Praxis als das Übergreifende seiner selbst (Praxis) und seines Gegenteils (Theorie) bestimmt ist.8 Der Unterschied einer ›Kritik im Handgemenge‹ zu einer Kritik, die auf ihrem unbedingten Posten ein Prüfungsverfahren von Bedingungen der Möglichkeiten von Wahrheit(sansprüchen) exerziert, wird nicht primär an der Stelle der Gegenstände dieses Prüfverfahrens virulent, sondern in den Präsuppositionen der philosophischen Perspektive. Wir wollen kurz umreißen, warum das für ein komplexes Verständnis der Handgemenge-Metapher wichtig ist. Auf Grundlage des bisher (hauptsächlich) anhand der Gerichtshof-Metapher Dargelegten ließe sich nämlich plausibilisieren, dass es im Grunde nur eines kleinen Schrittes bedürfte, um von einer Bestimmung von Kritik als ›Gerichtshof der Vernunft‹ zur ›Kritik im Handgemenge‹ zu gelangen – indem wir Habermasianerinnen oder Habermasianer werden: Wir entlassen die Richterin und lassen die in der Auseinandersetzung Begriffenen ab sofort mittels des ›Handgemenges‹ ihre Angelegenheiten selbst regeln. Wir sichern lediglich die Bedingungen dessen, dass unser Streit einen möglichst gewaltfreien Verlauf und irgendwann ein Ende nimmt sowie zu einem vernünftigen Ergebnis kommt: Wir fassen damit die Kritik also selbst »als einen Prozess auf[...], der in herrschaftsfreier Diskussion eine fortschreitende Auflösung von Dissens einschließt. Eine solche Diskussion steht unter der Idee eines allgemeinen und ungezwungenen Konsenses derer, die an ihm teilnehmen« (Habermas 1982: 64). Es ist nun auf den ersten Blick nicht leicht zu bestimmen, worin sich diese Konzeption von der ›Kritik im Handgemenge‹ unterscheiden sollte. Es ist aber doch ein Unterschied, der deutlich wird im Blick darauf, was es heißt, etwas als Praxis zu reflektieren: Wenn ich so auf die Auseinandersetzung reflektiere, dass ich mich frage, welche ›Geltungsbedingungen‹, welche Bedingungen der Möglichkeit mir das Resultat ›Wahrheit‹ sichern – selbst wenn diese lediglich »als der zwanglose Zwang des besseren Arguments und das Motiv der kooperativen Wahrheitssuche« (Habermas 1991: 123) gefasst wären, brauche ich, um diese Bedingungen zu bestimmen und dabei nicht in einen »Begründungsregress« (Tulatz 2018: 14) zu geraten – gleichsam schon vor der Auseinandersetzung den Maßstab dessen, was als Wahrheit gelten dürfen soll. Das

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Die dialektische Figur des ›übergreifenden Allgemeinen‹ erläutert Baumann 2012.

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Handgemenge wäre dann lediglich der situative Rahmen, innerhalb dessen über das ›richtige‹ Erkennen, den individuell unterschiedlichen ›Zugang‹ zu ›einer Wahrheit‹ gestritten werden könnte. ›Wahrheit‹ bliebe eine – außerhalb der praktischen Auseinandersetzung des Handgemenges – transzendent begründete Instanz. Damit nähmen wir das Bild des Handgemenges nun gerade nicht als eines, dass uns erlaubte, an ihm auf Vollzugsdimensionen von Kritik zu reflektieren, indem wir in unserem Nachdenken an einem »wirkliche[n] Tun in seinen Vollzügen« (ebd.: 17) ansetzten, sondern wir vollzögen eine konstitutionstheoretische Deutung, indem wir einer Reflexion »vorgängige[r] Ermöglichungsbedingungen« nachgingen (ebd.: 16).9 Schürmann weist nun demgemäß an der Konzeption einer ›Kritik im Handgemenge‹ aus, dass ihr »Wahrheit [...] als wesentlich praktisch [gilt]« (Schürmann 2002: 123). In seiner Auslegung des Handgemenges ist es unmöglich, »dass ein Handgemenge lediglich durchsetzt, was vor dem Gemenge bereits ausgemacht war«. Wenn sich – im Unterschied zur rein theoretisch verstandenen Wahrheit traditioneller Philosophie – Wahrheit »in gesellschaftlicher Praxis allererst bildet«, dann ist es gerade nicht so, »daß der Maßstab dessen, was denn eine gute, wahre, vernünftige Praxis ist, [...] vor dieser Praxis bereits feststeht – und also auch nicht rein theoretisch erkannt werden kann, um dann die Praxis an diesem Maßstab zu messen. [...] Vielmehr bildet sich auch der Maßstab ›vernünftiger Praxis‹ selbst allererst in dieser Praxis.« (Schürmann 2002: 123)

Zu einer Reflexion von Kritik als Vollzug, als ›Kritik im Handgemenge‹ gehört dann auch, auf eine transzendente, unbedingte und neutrale Instanz der Sicherung von Wahrheitsbegründungen zu verzichten – die ›Kritik im Handgemenge‹

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Um die Metapher der ›Kritik im Handgemenge‹ begrifflich-systematisch von der Kantischen Gerichtshof-Konzeption zu unterscheiden und sie wirklich als vollzugstheoretische Figur zu explizieren, ist eine ausführliche Erläuterung einer immanenzphilosophischen, d.h. an Praxen orientierten Konzeption mitsamt einer Unterscheidung handlungs- und vollzugstheoretischer sowie konstitutions- und rekonstruktionstheoretischer Konzeptionen unerlässlich – wir bleiben dies in unserer Arbeit leider schuldig, wollen aber auf die wegweisende Darlegung von Tulatz 2018 verweisen, in der die für eine angemessene Reflexion von Praxis notwendigen Verhältnisbestimmungen luzide entwickelt werden. Zu den Implikationen einer rekonstruktionstheoretischen Perspektive für eine begriffliche Bestimmung von Praxis in unserem Sinne vgl. zudem Weingarten 2003: 34 f.; Werlen/Weingarten 2005: 202 f.; Müller 2015: 265 f.; Kertscher/Müller 2015: 122 ff. und 217 f.; Baumann 2010: 163-172.

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ist parteilich, sie zeichnet sich aus durch eine »praxeologische Perspektivität« (Schürmann 2010: 1913). Dass zum Modus einer ›Kritik im Handgemenge‹ eine wesentlich parteilich und ›praktisch‹ gefasste Wahrheit gehört, meint allerdings weder, dass es um bloße bekenntnisgeleitete Standpunktwahrheit ginge, noch, »daß Wahrheit nur im praktischen Tun zu erkennen ist«. Nach einem solchen pragmatischen Verständnis des Verhältnisses von Wahrheit und Praxis »steht die Wahrheit als solche [...] fest, aber sie zu erkennen, ist ein praktisches Problem« (ebd.). Das Handgemenge fungierte dann lediglich als Instanz einer (praktischen) Bewährungsprobe der theoretischen Position. Diese Auffassung ist bestimmten marxistischen Traditionen durchaus nicht fremd, in der es Argumentationslinien gibt, die sich mit Schürmann als »philosophische[r] Stalinismus« (Schürmann 2011: 47) bezeichnen lassen: Für sie steht die »jeweilige Klassen›wahrheit‹ [...] bereits vor dem Klassenkampf fest, und das Problem ist ausschließlich, welche sich durchsetzt und sich dadurch als die einzig wahre Wahrheit erweist« (Schürmann 2002: 123). Dadurch ist diese Konzeption – zusammen mit derjenigen von Habermas – weitaus näher an dem kantischen Gegenbild zur ›Kritik im Handgemenge‹ als an dem, was wir später als Marxʼsche Auffassung zu rekonstruieren versuchen werden. Sie repräsentiert eine unterkomplexe Lesart von Althussers Auffassung, dass »Philosophie in letzter Instanz Klassenkampf in der Theorie ist« (Althusser 1975: 104), indem sie nur den letzten Teil dieser Formulierung liest (›Klassenkampf in der Theorie‹) und ihn als Standpunktdurchsetzung missversteht. Eine komplexere Lesart dieses Postulats hingegen setzte den Praxischarakter der Wahrheit und das Moment der Parteilichkeit der ›Kritik im Handgemenge‹ so in ein Verhältnis, dass ›Philosophie‹ als Medium der Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis im Ausgang einer parteilichen Praxis der Theorie bestimmt werden würde. Parteilich ist sie zunächst in dem Sinne, dass sie selbst immer schon bedingt ist durch ihr notwendiges Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Praxen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Wenn Horkheimer in seiner Kritik traditioneller Theorie anführt, dass noch die »rationale Durchdringung der Prozesse, in denen die Erkenntnis und ihr Gegenstand sich konstituieren, ihre Unterstellung unter die Kontrolle des Bewusstseins [...] nicht im rein geistigen Bezirk [verlaufe], sondern [...] mit dem Kampf um bestimmte Lebensformen in der Wirklichkeit zusammen[falle]« (Horkheimer 1988: 218), dann betont er das Moment einer Parteilichkeit der Wahrheit – eine Parteilichkeit auch derjenigen Auffassungen, die sich als ›neutral‹ und dem Kampfplatz enthoben verstehen. Ausgedrückt ist aber zugleich eine Parteilichkeit kritischer Theorie für eine Veränderung vorhandener Lebensformen zu emanzipatorischeren – für die »historische Anstrengung, eine Welt zu schaffen,

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die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt« (ebd.). Althusser fasst diese Parteilichkeit als »politische Intervention im Medium der Theorie, die immer schon darauf abzielt, den Kampf des Proletariats in diesem Medium fortzusetzen. [...] [S]ie interveniert in die einzelnen gesellschaftlichen Praxen – als theoretische Seite und theoretischer Ausdruck der Kämpfe der subalternen Klassen« (Hackbarth 2015: 190 f.).

Wenn nun im Bild der ›Kritik im Handgemenge‹ »das doppelte Moment von innertheoretischen und zugleich (theoretisch-)praktischen Auseinandersetzungen« liegt, dann meint diese Parteilichkeit nicht einfach ein Bekenntnis, sondern die Verwiesenheit kritischer Theorie auf gesellschaftliche Kräfte und Bewegungen, die in praktischen Auseinandersetzungen auf gesellschaftliche Veränderungen hinwirken. Die Momente dieses Verhältnisses sind als sich bedingende zu verstehen: Kritische Theorie »ist auf ihr entgegenkommende Bewegungen angewiesen«, wie »auch die sozialen Bewegungen [...] auf eine ihnen entgegenkommende bestimmte Theorieform, die kritische Theorie, angewiesen [sind] – wenn sie sich selbst zu emanzipatorischen Bewegungen entwickeln wollen« (Weingarten 2012b: 308). Haben wir einige der vielfältigen Verhältnisbestimmungen, die das Bild einer ›Kritik im Handgemenge‹ für eine Reflexion der Vollzugsform kritischer Theorie konstellieren, bisher grob umrissen, wollen wir nun versuchen, diese in den Marxʼschen Schriften, die in ihren Problemdiskussionen die HandgemengeMetapher begleiten, selbst aufzuspüren.

II. V ARIATIONEN VON M ARX

DER I MMANENZ IM

F RÜHWERK

Bereits in seiner Dissertation zur Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie kritisiert Marx an den junghegelianischen Positionen zu Hegels Erbe, dass sie »ihren eigenen frühern Zustand«, ihre damalige Affirmation jetzt am »Meister« bekämpften. Für Hegel dagegen sei »die Wissenschaft keine empfangene, sondern eine werdende« gewesen (MEGA² I/1: 67). Wenn ich etwas empfange, dann ist es bereits fertig, ich kann es als solches gebrauchen. Wird im Gegensatz dazu von einer werdenden Wissenschaft gesprochen, dann fordert sie das Mitwirken, das Unterscheiden, so dass sie sich verändern, ergo: werden wird. Die zu jener Zeit so vielfach postulierten Brüche unterböten das Hegelʼsche Werk, weil sie nicht bedächten, dass in diesem Erbe dessen

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Werden selbst notwendiges Moment seiner Verhältnisbestimmungen ist. Wenn dies begriffen werde, dann müsste der Bruch mit diesem Erbe auch als dessen Moment lesbar sein. Marx nutzt diesen Gedanken zur Formulierung der Aufgabe des Erbens: »[S]o haben seine Schüler aus seinem innern wesentlichen Bewußtsein Das zu erklären, was für ihn selbst [den Lehrer; G./S.] die Form eines exoterischen Bewußseins hatte.« (Ebd.) Immanent sei also das zu entwickeln, was über das Hegel’sche Werk hinausgehe, ihm in gewisser Weise äußerlich sei, weil es zur Zeit seines Werks noch nicht da war, sondern geworden ist. Der Bruch werde aber erst als solcher lesbar – und eben nicht als »bloße Ignoranz« gegenüber Hegels Tun –, wenn er aus dieser Philosophie hervorgetrieben und so auch erst als ein »Fortschritt des Wissens« anerkannt werden könne (ebd.). Ohne konkret darzustellen, wie genau eine solche Kritik aussähe, die diesem Anspruch gerecht wird, attestiert Marx den bis dato geleisteten Kritiken ihre Unangemessenheit und verspricht, dies »an einem andern Ort« (ebd.: 70) zu entfalten. Dieser Ort scheint in den Schriften der Zeit um 1843 erreicht, in denen Marx eine Anerkennung des Hegelʼschen Erbes durch die Aneignung der Feuerbachʼschen Kritik vollzieht.10 Der für unsere Deutung im Zentrum stehenden Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie gehen die sogenannten Kreuznacher Manuskripte voraus, die bereits den Titel Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie tragen und sich den §§261-313 der Grundlinien der Philosophie des Rechts widmen. Die kritische Figur, derer sich Marx in diesen Manuskriptbögen mehrfach bedient, ist die Feuerbachʼsche Figur der Umkehrung11: Hegel mystifiziere, die wirklichen Verhältnisse kehrten sich in seiner Philosophie um. Dadurch würden die »eigentlich thätigen« (MEGA 2 I/2:8), hier: Familie und bürgerliche Gesellschaft, vom Subjekt zum bloßen Prädikat der Idee, welche als das ›wahre Tätige‹ erscheine. Das, was von den Tätigen produziert werde, erscheine also als das Produzierende. Diese Umkehrung bewirke

10 Weder die Angemessenheit dieser Kritik Feuerbachs noch die Kritik, die der 25-jährige Marx am Hegel’schen Werk übt, können an dieser Stelle diskutiert werden. Uns geht es im Folgenden nicht um eine Beurteilung des Gehalts dieser Kritik, als vielmehr darum, wie sie vollzogen wird. Wir interessieren uns für die Figuren und eingenommenen Haltungen gegenüber ihrem Gegenstand oder ihren Gegnern. Es sei aber unbedingt auf den umfassenden Versuch einer Rekonstruktion dieser Kritiken von Arndt (2015) verwiesen, der im Durchgang des Marxʼschen Oeuvres die unterschiedlichen Haltungen zu Hegel untersucht und letztlich plausibilisiert, warum der ›reife‹ Marx Hegels Logik »das letzte Wort aller Philosophie« (MEW 29: 561) sein lässt. 11 Diese Figur findet sich besonders prägnant in den »Vorläufige[n] Thesen zur Reformation der Philosophie« (Feuerbach 1990b: 244) dargelegt.

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folglich, dass ein Äußerliches (die Idee als bloße Konstruktion Hegels) das bestimme, was sich wirklich vollziehe. Was Marx in der Dissertation als Aufgabe formulierte, findet sich hier der Form nach eingelöst: Er zeigt auf, dass Hegel in den Darlegungen seiner Rechtsphilosophie dem eigenen Anspruch immanenter Kritik nicht gerecht wird: »Er entwickelt sein Denken nicht aus dem Gegenstand, sondern den Gegenstand nach einem mit sich fertig und in der abstrakten Sphäre der Logik mit sich fertig gewordenen Denken.« (Ebd.: 15) Das, was gegen das Denken steht, was ihm Gegen-Stand, ein Anderes ist, werde nicht so aufgeschlossen, dass dieses Tun wirklich diesen besonderen Gegenstand treffe, sondern werde gemäß einem ›Schema‹ entfaltet, welches bereits vor der Konfrontation mit diesem feststünde.12 So zeigt sich »Marx’ Hegel-Kritik [als] immanente Kritik« (Arndt 2012: 29): Er nutzt die methodologischen Reflexionen Hegels, wie Kritik sich zu vollziehen habe, um in der Rekonstruktion dieses bestimmten Vollzugs Widersprüche auszuweisen, die es ihm erlauben, Aussagen über den Gegenstand zu formulieren. Hegels Überlegungen erscheinen dadurch als traditionalisierte Theorie, deren Modus aufgehoben und so selbst gebraucht wurde, um sie (vermeintlich) zu überschreiten. Diese Kritik wird in dem berühmten, auf September 1843 datierten Brief 13 aufgegriffen, der in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht wird.

12 Gelte es wirklich, diesen besonderen Gegenstand zu treffen, dann müsste er sich folglich von allgemeinen Bestimmungen (dieser Gegenstandsform) unterscheiden, indem ein Verhältnis zwischen begrifflichem Denken (des Gegenstandes) und dem Gegenstand zu denken ist: Durch den Vollzug der Bestimmung verändern sich die begrifflichen Mittel dahingehend, dass sie durch den Gegenstand so bestimmte geworden sind, während der einzelne Gegenstand erst als besonderer Gegenstand überhaupt begriffen ist. Es sei nur darauf verwiesen, dass solche Verhältnisbestimmungen Hegel ein anderes Nachleben bescherten (vgl. dazu Stekeler-Weithofer 2005: 158-197) – als beispielsweise Feuerbach. 13 Michael Heinrich merkte während der Osnabrücker Tagung an, dass der Rekurs auf die Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern problematisch sei, da Ruge durch ihre Einverleibung in seine »Sämmtlichen Werke« die Autorenschaft für sie beansprucht habe. Der von uns gedeutete Septemberbrief erscheint dort allerdings nicht und lässt laut Mönke (1980: 485) »gegenüber den anderen zwei Briefen von Marx die diesem eigentümliche Diktion unzweifelhaft erkennen«. Auch die in diesem Zusammenhang zitierte Briefstelle von Engels an Wilhelm Liebknecht, »daß Marx mir mehr als einmal sagte, Ruge habe ihn zurechtredigiert und allerlei Blödsinn hineingesetzt« (MEW 37: 527), ist da kein eindeutiges Zeugnis. Engels klagt über Liebknechts

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In ihm geht es nicht mehr bloß um die Frage nach der angemessenen Praxis der Theorie, sondern ihr Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Praxen wird zu einem Drängenden. Die Vermittlung dieser Aspekte vollzieht sich in der Immanenz dieses Philosophierens, gerade in Abgrenzung zur traditionellen Theorie (der Name Hegels bleibt hier implizit): »Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen.« (MEGA2 I/2: 486 f.) Diese Haltung, die für sich ein Jenseits vom weltlichen Streiten reklamiere, wird mit einer modernen, »verweltlicht[en]« kontrastiert, so »daß das philosophische Bewußtsein selbst in die Qual des Kampfes nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich hineingezogen ist« (ebd.). Wie schnell ist nun dieser Satz überlesen! Dabei spricht er doch noch vor dem Auftauchen unseres Bildes das aus, was eine ›im Handgemenge‹ sich vollziehende Kritik als eine ihre Gesellschaftlichkeit reflektierende Praxis der Philosophie bestimmt. Das Philosophieren stelle sich nicht länger als eine Tätigkeit dar, die sich weltlichem Zank enthalte und in Distanz am Pult kontempliere. Die »Ruhe des in sich befriedigten Denkens« (MEGA² I/1: 31) – dies lässt sich bereits in der Dissertation nachlesen – sei der Dogmatismus. Diese Ruhe ist nun dahin. Die Auseinandersetzung mit einem ihr Anderen – also ein Kampf – wird als das Medium ausgewiesen, in dem sich das Philosophieren vollzieht. Wenn es da heißt, dass das philosophische Bewusstsein »nicht nur äußerlich« in diesen Kampf hineingezogen sei, so wird dieser Kampf nicht einfach in der Philosophie verortet, er betrifft etwas, das zumindest traditionellen Auffassungen nach der Philosophie in gewisser Hinsicht äußerlich ist: konkrete gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Wenn aber das Medium der Philosophie der Kampf ist, dann ist sie »auch innerlich hineingezogen«. Dies akzentuiert noch einmal, dass all das, was die Philosophie als Philosophie bestimmt, von diesem Kampf ergriffen oder durchdrungen ist. Und das heißt: Sie verfügt nicht einfach vor dem Kampf über eine Wahrheit, nach der sie oder andere sich im Kampf richten könnten. Sonst wäre der Kampf eben ihrer Wahrheit, ihrem Wissen um das richtige oder gute Tun äußerlich. Hat sich die Philosophie »verweltlicht«, dann nimmt sie für sich nicht länger einen göttlichen Standpunkt außerhalb des irdischen Treibens in Anspruch – sie ist im Handgemenge.

»ewige Anzapfungen«, was einen taktischen Gebrauch der ›Wahrheit‹ nicht ausschließt. So wollte der mit der Herausgabe des dritten Bandes des Kapital befasste Engels zwar keine unkommentierte Veröffentlichung jenes Briefwechsels, verweigerte sich jedoch jeder weiteren Mitarbeit.

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Diese Immanenz schließt dann aber auch ein bestimmtes Selbstverhältnis mit ein: Gegenwärtige Aufgabe sei die »rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und eben so wenig vor dem Conflikte mit vorhandenen Mächten.« (MEGA2 I/2: 487) Hier werden zwei Hinsichten benannt, die einmal das Verhältnis zu ihren Gegnern, das andere Mal das Verhältnis der Kritik zu sich selbst betrifft. Die Dimension des Selbstverhältnisses bedeutet, dass – um Beispiele zu nennen – Voraussetzungen, Vor-Urteile oder bis dato so-bestimmte Begriffe, die sich im Vollzug der Kritik als ihrem Gegenstand unangemessene herausstellten, kritisiert werden müssen. Eine Kritik, die sich in ihrem Tun selbst aufs Spiel setzt, sich selbst verändert, ist wirklich rücksichtslos – »das fertig werden für alle Zeiten nicht unsere Sache« (ebd.). Dabei muss die Reflexion, ob sie selbst Gegenwärtiges (noch) trifft – also sich (noch) kritisch vollzieht – je und je wieder vollzogen werden. Denn noch wer »für alle Zeit« fertig zu werden meint, tut dies in einer bestimmten Gegenwart, die so als Ewigkeit hypostasiert wird. Gegenüber der doktrinären Fixierung auf die eine Zukunft, die als ein zu realisierendes »System« stillgestellt werde, kehrt die Kritik die Blickrichtung um – sie stellt sich damit (ohne dass es hier expliziert werden würde) in die Hegelʼsche Tradition einer rekonstruktionstheoretischen Perspektive. Es geht Marx nicht darum, das Kommende zu identifizieren, sondern um die »Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit« (ebd.: 489). Diese »Vollziehung« verstrickt sich nun aber nicht in der Konstruktion eines möglichen Ursprungs, der Vergangenheit unserer Gegenwart, sondern nimmt als ihren Anfang die Jetztzeit: Die Kritik habe »an wirkliche Kämpfe« (ebd.: 488) anzuknüpfen und in ihnen Partei zu ergreifen. Wenn sie sich selbst im Medium des Kampfes vollzieht, wie sollte sie auch in eine Position gelangen, die als Jenseits dieses Mediums Neutralität verspräche? Diese Identifikation, die Parteinahme, ist eine Kampfansage an traditionelle Theorie, die in diesem Zug eine Preisgabe ihrer Autonomie (als ›Bedingung der Wahrheit ihrer Aussagen‹) wittern könnte. Der Brief verschwendet allerdings keine Zeilen mit dem Problem, wie das denn zu denken ist, dass vom Wahren parteilich gesprochen werden könnte. Betrachten wir die Gegner dieser Kritik, dann sind sie in Bezug auf diese ›Haltung‹ der Neutralität nicht klar markiert; auch wenn wir der »absoluten Wissenschaft« noch so etwas zubilligten, so stehen jene politischen »Dogmatiker« oder »Doktrinären« auch für politische Assoziationen ein. Gemeinsam ist diesen Figuren allerdings, dass sie sich in ihrem Tun vermeintlich jenseits der Kämpfe halten und dennoch Geltung gegenüber diesen beanspruchen: All diese Figuren überbringen Resultate ihrer theoretischen Bemühungen, seien es die »gebratenen Tauben« der »absoluten Wissenschaft«, die nicht zu verschmähen wären, das

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fertige System oder die »wahre Parole«, die von den Kämpfenden nur noch aufzugreifen wäre – all dies ist diesen Auseinandersetzungen äußerlich. Für Marx bedeutet diese Äußerlichkeit, dass diese Versuche ihren Gegenstand nicht wirklich treffen und so auch deren Parteilichkeit unangemessen wirkt. Die Marxʼsche Kritik dagegen beansprucht hier, aus den »Principien der Welt neue Principien« (ebd.: 488) zu entwickeln. Den Kämpfen trete sie eben nicht als Äußeres entgegen, sondern entfalte sich in ihnen. Dieses ›Neue‹ treffe deshalb, weil es das Alte, das Vergangene als Gegenwärtiges sei: »[D]ie Menschheit [beginnt] keine neue Arbeit […], sondern [bringt] mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande.« (Ebd.: 489) Die gesellschaftliche Veränderung erscheint so als ein Selbstverständliches. Aber auch hier die Frage: Wie ist das zu denken? Wie vollzieht sich das konkret, wie bringt sich die Kritik zur Geltung? Dass sich nun etwas mit Bewusstsein vollziehe, sei Resultat der »Selbstverständigung […] der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche«, die nur »als das Werk vereinter Kräfte« (ebd.) gelingen könne. Wesentliche Aufgabe der Kritik sei es, »daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden« (ebd.). Weingarten legt dies so aus, dass es im Befördern und Erlangen der »selbstbewußten menschlichen Form« darum gehe, »die Fragen richtig zu stellen«. Die Parteinahme der Kritik sei als eine »für die Selbstverständigung der Individuen untereinander« zu verstehen, das »Formulieren von Antworten« (Weingarten 2012b: 310) sei schließlich als Dogmatismus verworfen. Diese Deutung nimmt die Immanenz der Kritik in zweifacher Hinsicht ernst: 1. Immanenz ist der Modus dieser Theorie (auf das ›Innertheoretische‹ bezogen). 2. Resultat dieser Praxis ist aber dann nicht eine fertige Theorie der Praxis, die gegenüber bestimmten sozialen Triebkräften aus dem ›Ideenhimmel‹ verkündet und von diesen umgesetzt werden müsste. Immanenz ist so auch theoretisch-praktisch zu verstehen, so dass »die reflexiven Bemühungen von der Theorie-Seite selbst innerhalb der sozialen Wirklichkeit, also auf derselben Ebene wie die reflexiven Bemühungen der Bewegungen positioniert sind« (ebd.: 308). Mit dieser Deutung ist weiter zu arbeiten. Um sie aber entfalten zu können, müssen wir die Auseinandersetzungen mit dem Marxʼschen Textkorpus intensivieren, schließlich ergibt sich eben an dieser Textstelle14 eine andere Deutung, die die von uns konstatierte Span-

14 Zum besseren Verständnis sei hier die Textstelle in Gänze wiedergegeben: »Unser ganzer Zweck [des Tuns der Kritik; G./S.] kann in nichts anderem bestehn, wie dies auch bei Feuerbachs Kritik der Religion der Fall ist, als daß die religiösen und politischen Fragen in die selbstbewußte menschliche Form gebracht werden.« (MEGA2 I/2: 488)

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nung hervortreten lässt: Die »selbstbewußte menschliche Form« ist nicht nur auf die »Fragen« beziehbar, sondern lässt sich auch als eine als Aufgabe formulierte Antwort auf die »religiösen und politischen Fragen der Zeit« lesen, gerade wenn wir bedenken, dass Marx »Feuerbachs Kritik der Religion« (MEGA 2 I/2: 488) als Vorbild empfiehlt, wie diese Fragen zu beantworten wären. Diese Kritik ist laut Feuerbach in der – uns nun bereits bekannten – Figur der Umkehrung zu fassen: Die Religion sei »das erste und zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen« (Feuerbach 1969: 53), »kindlich« das außer sich setzend, das anbetend, was sein eigenes Wesen sei. So kehre sich das Geschöpfte in den Schöpfer um. Als sich selbst bewusste Form dagegen erkenne der Mensch endlich sein Wesen als »das höchste Wesen« (ebd.: 401) an, er hole das zu sich, was er vergegenständlichte, indem er ›sich‹ von sich selbst entfremdete. Die Deutung, dass die Aufgabe der Kritik die Herstellung der »selbstbewußten menschlichen Form« als Aufhebung der Entfremdung sei, lässt sich noch weiter am Text begründen. Hierbei hilft ein kurzer Blick in die Kritik an Bruno Bauer in Marx’ Zur Judenfrage, auch diese in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern erschienen. Hier skizziert Marx in der Tradition Feuerbachs, was es denn heißen könnte, eine politische Frage in diese »selbstbewußte menschliche Form« zu bringen: Die »menschliche Emancipation« sei erst dann vollbracht, wenn der »wirkliche individuelle Mensch […] Gattungswesen geworden ist«, wenn er »die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt« (MEGA2 I/2: 162 f.). Die Argumentation Marxens verläuft hier strukturanalog zu der Feuerbachs, da das, was durch die Religion bzw. den Staat getrennt wurde, wieder zurückgeholt wird. Erinnern wir uns an das vorher von uns Entwickelte, dann lassen sich folgende Probleme ausweisen: 1. Marx selbst war es, der Hegel vorwarf, ein abstraktes Schema zu gebrauchen, nach welchem der Gegenstand bloß entfaltet, aber nicht in seiner Besonderheit getroffen werde. Die Figur der Umkehrung, also die Zurücknahme des Entfremdeten in das Wesen, wird als Figur an unterschiedlichen Gegenständen (hier: Religion, Politik) vollzogen oder dieses Vollziehen zumindest versprochen. Fraglich ist hier nun, wie dieses Verfahren die Besonderheit des Gegenstandes zur Geltung bringt – ohne dogmatisch zu setzen, dass das Verfahren selbst dasjenige wäre, was bloß noch verwirklicht werden müsste. 2. Wenn Marx auf diese Kritik nun antwortete, dass Religion und Politik eben Ausdrücke für die Entfremdung des Gattungswesens seien, es von daher in der Natur der Sache läge, hier denselben Zug zu erproben, dann müssten wir fragen, wie der Begriff des »Gattungswesens« von den gebratenen Tauben absoluter Wissenschaft unterschieden werden könnte? Einen Blick auf die ›Komplexi-

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tät‹ einer feuerbachianischen Antwort werden wir auf später verschieben und uns bis hierhin mit einem Kniff behelfen: Es braucht weniger als das Vergehen eines Jahres, und Marx und Engels werden selbst über diese »unschuldigen und kindlichen Phantasien« (MEGA2 I/5: 3) spotten. Doch die Frage nach etwaigen Brüchen ist für unsere Untersuchung zu ambitioniert, wir wollen erst einmal die feinen Risse in den Blick nehmen, die sich durch Spannungen ankündigen. Sie sind durch unsere kursorische Lektüre jener Kritik an Bruno Bauer angedeutet worden, sie werden aber noch zunehmen. Sie bestehen auf der einen Seite in dem Ausweis einer Immanenz der Kritik, die sich in ihren theoretischen wie praktischen Vollzügen von traditionellen oder doktrinären Wahrheitsspendern unterscheidet; auf der anderen Seite deutet sich mit unserer feuerbachianischen Lesart eine merkwürdige Wiederkehr an: ein Primat der Theorie gegenüber der Praxis, die Einnahme einer Position, die den Vollzug nur als Verwirklichung ihrer Wahrheit kennt. Diese Spannung hält sich nach wie vor innerhalb der zwei Buchdeckel der Deutsch-Französischen Jahrbücher – wir sind nun auf den Seiten der Einleitung in die Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie angelangt.

III. AUF DEN G RENZEN DER B UCHSTABENTREUE – DIE E INLEITUNG IN DIE K RITIK DER H EGELSCHEN R ECHTSPHILOSOPHIE Eine Spannung gegenüber den herausgearbeiteten Zügen des September-Briefes auszumachen, fällt nicht schwer. Der Text ist durchdrungen von einem Pathos, einer solchen Manifestation des Polemischen, dass hier Grenzen ausgelotet werden: »Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehn unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik, aber sie bleiben ein Gegenstand der Kritik, wie der Verbrecher, der unter dem Niveau der Humanität steht, ein Gegenstand des Scharfrichters bleibt.«

Folgerichtig ist die Kritik nicht einfach mit einem Gegner, sondern mit »ihr[em] Feind« konfrontiert, »den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will.« (MEGA2 I/2: 172) Hier scheint sich das Gegenteil des Postulats immanenter Kritik zu finden: Vor allem Kampfe zwingt uns nichts, den Gegner in seiner Stärke zu nehmen, jede Beschäftigung mit ihm, die über den auf ihn einbrechenden Schlag hinausgeht, scheint vergeudet: Diese Zustände seien »keine denkwürdigen Objekte, sondern ebenso verächtliche als verachtete Existenzen« (ebd.). Wenn etwas noch nicht einmal des Denkens würdig wäre, von welcher Vorab-

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gewissheit ist diese Kritik dann beseelt? Diese Gewissheit legitimiert nichts Geringeres als die Geschichte, da die deutschen Zustände »unter dem Niveau der Geschichte« seien, als ob sie aus der Geschichte gefallen wären – geschichtslose Provinz. Wir hatten die von uns vertretene Auslegung der »Kritik im Handgemenge« anfänglich so im Marxʼschen Corpus verankert, dass wir die von ihm dargestellte Kritik als immanente auswiesen, die anerkenne, dass sie sich in Auseinandersetzung vollziehe, sich in ihnen bilde und bewusst parteilich an die gegenwärtigen Kämpfe anknüpfe. Bis zur Konfrontation mit der Einleitung hatten wir dies so gut vorbereitet – aber nun wird es beschämend für unsere favorisierte Deutung. Buchstabengetreu ist ausgerechnet die so beschriebene »Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, [...] die Kritik im Handgemenge« (ebd.: 173). Es scheint kaum möglich, die Metapher anders zu lesen, als dass eine Wahrheit an irgendeinem Pult oder zumindest abseits dieser Auseinandersetzung formuliert worden wäre, die nun im Handgemenge durchzusetzen sei. Dann wäre die ›Kritik im Handgemenge‹ wirklich nichts weiter als ›philosophischer Stalinismus‹. Ihre Praxis würde geleitet von dieser vorab feststehenden Wahrheit, aber wirkte nicht auf die Kritik ein. Zu ihrer Formulierung und Formierung bedürfte die Kritik keiner »Selbstverständigung mit diesem Gegenstand, denn sie ist mit ihm im reinen« (ebd.: 172). Inszeniert wird in diesen Formulierungen eine Geste des vollständigen Bruchs: Die Kritik weiß sich den »deutschen Zuständen« gegenüber transzendent und nicht (länger) von ihnen affiziert. Die geforderte Rücksichtslosigkeit wird bis ans Äußerste getrieben, so dass sie ununterscheidbar von jenem kritisierten Dogmatismus ist, der postuliert: »Hier ist die Wahrheit, hier kniee nieder!« (MEGA2 I/2: 488) – so spricht ein Scharfrichter. Um nun nicht unsere Lesart des Marxʼschen Handgemenges als willkürlich, mit philologisch unhaltbaren Deutungen überfrachtet zurückzuweisen oder den Marxʼschen Gebrauch der Formulierung zu all den bisher rekonstruierten Momenten einer kritischen Theorie als widersprüchlich ausweisen zu müssen, stehen uns jedoch noch einige Deutungswege offen: Wir müssten den Einsatz des Rhetorischen untersuchen, da diese Kritik nicht länger eine Form als legitime anerkennt (etwa die Idealisierung einer Argumentation, die für sich beanspruchte, sich jedweden formalen ›Überschusses‹ entledigt zu haben), sondern beispielsweise die Irritation der Form gebraucht, um sich angesichts bestehender Kräfteverhältnisse überhaupt zu entfalten, schließlich wandelt sich die Geste der Verachtung, sie ist mehr Eröffnung als der eine Zug.15

15 Dies könnte durch all die Auseinandersetzungen betrachtet werden, die innerhalb und zwischen den ›Generationen‹ kritischer Theorie geführt wurden und werden; wie sich

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Aber bleiben wir näher an unseren Gegenständen, denn diese Geste, dieses quasi-göttliche Schweben der Verachtung ist doch auch als »Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem [als] die Protestation gegen das wirkliche Elend« (ebd.: 171) zu lesen, nämlich als ein religiöses, zu überwindendes Bewusstsein. Daran schlösse sich die anspruchsvollere Lektüre an, dass der Text selbst eine Bewegung darstellt. Die von Marx postulierte ›Kritik der Religion‹ ist so als Genitivus subiectivus entfaltet: Sie stellt eine Kritik dar, die als religiöse anfängt. Sie muss mit Begriffen, mit ihr Überliefertem anfangen, was sie erst in ihrem Vollzug auf ihre ›Tauglichkeit‹ hin prüfen können wird – sie glaubt, um zu wissen. Sie kann nur in diesem Glauben anfangen: Selbst wenn sie Bestimmtes vor ihrem Unterscheiden schon als Wissen setzte, so behandelte sie dies wie Geoffenbartes, wäre bloß religiös, ergo: dogmatisch. Die Immanenz der Kritik ist so radikal gefasst, dass sie sich als Moment dieser gesellschaftlichen Praxis begreift, die nun einmal durch überlieferte Begriffsgebräuche, durch Halbbildung, eben diverse Formen der Alltagsreligiosität, Leidenserfahrungen und so vieles Weitere überbestimmt durchzogen ist. Eine solche Kritik begreift sich nicht als ein radikal Anderes, sondern muss versuchen, das zu reflektieren, was ihre eigenen Voraussetzungen sind, indem sie sich radikal auf das Andere einlässt und in ihrem Vollzug ihr auch deutlich wird, was an ihr selbst problematisch, zu verändern ist. Die Marxʼsche ›Kriegserklärung‹ wäre dann als Ausdruck eines solchen Anfangs in den Leiden der Praxis verstanden, die ›Kritik im Handgemenge‹ dadurch nicht inhaltlich bestimmt (im Sinne von: so und so ist mit dem Gegner zu verfahren), sondern ein solches Anfangen ist dann Moment ihrer Form. Dies heißt dann aber auch, dass die »Kritik der Religion« stets wieder zu vollziehen ist, da sie »Voraussetzung aller Kritik«, ihr je und je wieder einsetzendes Anfangen in einer sich historisch verändernden Praxis ist. Dies ist die Aufgabe einer immanenten Kritik, so dass sie wesentlich Kritik eines Erbes ist. Mit dessen Mitteln, Zielen etc. arbeitet sie, sie aktualisiert und traditionalisiert es – erst dann gilt: »[D]as fertig werden für alle Zeit [ist] nicht unsere Sache«.16

der Vollzug kritischer Theorie darstellt bzw. darzustellen ist; wie Form und Inhalt als ein Verhältnis zu betrachten sind; siehe dazu Schreull (2012) und Géra (2018). Was Marx dort so ausdrucksstark umreißt, könnte als Form der Übertreibung kritischer Theorie näher aufgeschlossen werden (vgl. Düttmann 2004). Eine konkrete Deutung der ›Kritik im Handgemenge‹ im Kontext der Entfaltung eines avancierten Begriffes der Rhetorik liefert Hetzel (2010: 237). 16 Eine Auslegung dieses Komplexes des Erbens und Erbes ist bei Schreull 2014: 339343 skizziert; die oben angedeutete Dialektik von Glauben und Wissen ist nicht nur als diejenige von Mythos und Aufklärung übersetzbar (vgl. Düttmann 2004: 33-38),

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Eine solche Haltung der Selbst-Kritik in der Einleitung auszumachen, bedeutete hier, eine höherstufige Reflexion anzunehmen, in die selbst die »Kritik der Religion« als Genitivus obiectivus eingeflochten wäre.17 Der Text wird aber mit dieser Übertreibung eröffnet, dass die Kritik der Religion »beendigt« sei, was bestimmt auch als eine Anerkennung des Feuerbach’schen Werkes zu lesen ist. Doch dies ist nicht nur die Geste eines Schülers, sondern der Text erkennt diese historische Abfolge als seine Aufgabe an: »nachdem die Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung entlarvt ist, [ist] die Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven« (ebd.: 171). Dahingehend ist die Kritik der Religion keine je und je zu leistende, sondern eine erfüllte Aufgabe, so dass sich nun die »Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik« (ebd.) zu verwandeln habe. Eine angemessene Bestimmung des Anfangens immanenter Kritik wäre so in dieser Einleitung nicht auszumachen.18 Aber was in ihr auszumachen ist, das ist als Selbst-Kritik zu markieren, allerdings bezogen auf die deutschen Zustände: Die Schärfe der Übertreibung, das Affizierende dieser Kriegserklärung schlägt um in eine Akzentuierung der Stärke. Denn nur durch deren Aneignung, deren Verwandlung könne eine Kritik in diesem Bestehenden überhaupt wirken; so paradox dies klingen mag: Letztlich hätte die Kritik in keine trefflicheren Zustände geraten können. Heißt es anfänglich, dass »der Geist jener Zustände […] widerlegt« sei (ebd.: 172), so ist dies das Resultat der Hegelʼschen Philosophie, die »die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst ist« (ebd.: 176). Diese Philosophie sei zum einen die »ideale Verlängerung der deutschen Geschichte«, d.h., in ihr sei gedacht worden, was sich praktisch nicht verwirklichen konnte, sondern unterlag. Die Beschränktheit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen muss so in irgendeiner Weise bedingen, dass »nur in Deutschland die spekulative Rechtsphilosophie möglich [gewesen ist]«. Denn wo nur eine solche imaginäre, theoretische Befriedigung möglich sei, sei begriffen worden, dass selbst »der moderne Staat […] den ganzen Menschen auf eine nur imaginäre

sie ist auch im Hinblick auf den konkreten Vollzug (in) gesellschaftlicher Praxis unbedingt zu reflektieren – siehe dazu Menke 2002: 262 f.. 17 Dieser Gedanke ist angedeutet bei Derrida 2001: 26. 18 Die Reflexionen kritischer Theorie zu den Schwierigkeiten eines Anfangens sind noch jüngeren Datums. Für ein systematisches Philosophieren stellt Weingarten (1996: 293-310) wesentliche Momente des Anfangens (in gesellschaftlicher Praxis) dar.

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Weise befriedigt« (ebd.). Auf Grund dieser Qualität der spekulativen Rechtsphilosophie postuliert Marx, dass die moderne Gesellschaft in »Deutschland […] ihr theoretisches Gewissen« (ebd.) gefunden hätte. In diesem Land hat sich also etwas herausgebildet, was Ausdruck ihrer praktischen Rückständigkeit ist, indem sie diese Zustände bereits in sich selbst, d.h. in der Theorie überwunden habe. Zweifelsohne ist dies eine überladene Konstruktion, die selbst in einer wohlwollenden Lesart erkennen lässt, warum Marx sie bei der Weiterarbeit an diesem Problemkomplex verwarf (vgl. ebd. 325). Die ihr zugrundeliegende geschichtsphilosophische Konzeption des Fortschritts, die Willkür in der Konstruktion eines solchen Maßstabs, dies ist alles Ausdruck einer Suchbewegung (denn dieses apodiktische Hinschleudern ist nun einmal die männliche Form des Fragens in größten Zweifeln), schließlich wird sich auf diesem ›Tableau‹ die Ablösung vom Junghegelianismus vollziehen und von dieser Konzeption wenig übrigbleiben.19 Betrachten wir allerdings, wie sich diese Kritik vollzieht (vielmehr: wie sie verspricht, sich zu vollziehen), dann ist sie den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht transzendent, sie wahrt eine bestimmte Form der Immanenz: 1. Die Kritik ist insofern immanent, als sie nicht losgelöst von gesellschaftlichen Prozessen ihre Bedingungen der Möglichkeiten durchspielt, sondern in der gegenwärtigen Situation ansetzt und benennt, dass diese Prozesse mit Theorie vermittelt sind. 2. Sie erkennt an, dass sich die Hegelʼsche Philosophie unter besonderen historischen Zuständen ausbildete; mag sie als Moment gesellschaftlicher Praxen unterbestimmt sein, so ist sie überbestimmt als »Gewissen« moderner Gesellschaft. 3. Genau um dieses Überbestimmte geht es, wenn diese Kritik proklamiert, dass sie sich auf diese Philosophie rekonstruktiv beziehen müsse, denn sie sei zugleich Ausdruck und Verneinung dieser Zustände, aber bereits »kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit« (ebd.). Für Marx gibt es in diesem Moment nur eine Praxis, und dies ist die Praxis der Theorie – mit einer Aufgabe: Rekonstruktion der Hegelʼschen Philosophie und der sie ›aufhebenden‹ Feuerbachʼschen Philosophie. In aller Drastik verwirft Marx die Perspektive, man könne sich von der Theorie abwenden und sich dem Aktivismus verschreiben, nein, das sei vergebens, da »der wirkliche Lebenskeim des deutschen Volkes bisher nur unter seinem Hirn-

19 Diese geschichtsphilosophische Konzeption wird von der Deutschen Ideologie ausgehend zum Gegenstand der Kritik, besonders deutlich im Elend der Philosophie, in welcher Proudhons Variante einer solchen Konzeption auseinandergenommen wird; siehe dazu Arndt 2012: 68-73 und 100 ff.; 2015: 75 f., der dort auch die betreffenden Stellen reflektiert, die die weitverbreitete Meinung speisen, das Marxʼsche Oeuvre sei geschichtsphilosophisch grundiert.

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schädel gewuchert hat« (ebd. 176). Und Lebenskeim ist diese Philosophie, weil sie das Begreifen bereitet habe, in der Entfaltung durch die Kritik diese überschreite, sich so »die Emanzipation der Deutschen zu Menschen vollziehn« (ebd.: 183) werde. Eine unglaubliche Verwandlung: Was zu Anfang noch »unter dem Niveau der Geschichte«, ist nun das »gründliche Deutschland« (ebd.: 182), das nicht mühselig wie ›Frankreich‹ die Fortschrittsleiter erklimme, sondern nur den großen Sprung nach vorne vollziehen könne: Die deutsche Revolution erhebe es »nicht nur auf das officielle Niveau der modernen Völker […], sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird.« (ebd.: 177) Während am Anfang von uns problematisiert wurde, dass hier dogmatisch abgeurteilt werde, müssen wir jetzt mögliche Irritationen über diesen Supremat des »Deutschen« in die Fußnote verweisen.20 Doch was als »menschliche Höhe«

20 Zur Beruhigung sei darauf hingewiesen: Der »Stolz auf Deutschland als das Land ›des Menschen‹, des ›Wesens des Menschen‹« (MEGA2 I/5: 548) wird in der Deutschen Ideologie von Marx und Engels in einer Weise kritisiert, die auch als Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit lesbar ist (sie richtet sich eigentlich gegen Karl Grüns »wahren Sozialismus«). Ausgehend von dieser Kritik wäre näher zu untersuchen, inwiefern dies Ausdruck jenes »philosophischen Nationalismus« ist, diese »paradoxale, aber regelmäßige Verknüpfung des Nationalismus mit einem Kosmopolitismus und einem Humanismus« (Derrida 2005: 45), der prominent bei Fichte, in den vormärzlichen und junghegelianischen Debatten gegenwärtig ist. Für Marx sind hier als Referenzen besonders Die europäische Triarchie von Heß (1980: bes. 145-150) und die Vorläufige[n] Thesen zur Reformation der Philosophie Feuerbachs (1990b: bes. 255 f.) hervorzuheben; als Anfang der Entgegensetzung von Deutschem und Französischem bezogen auf den Topos der Revolution siehe nicht nur die Rechtsphilosophie, sondern besonders die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie Hegels (1986: 314). Die Feuerbachʼsche Rede vom »gallo-germanischen Geblüt« (Feuerbach 1990b: 255) des wahren Philosophen, dem als Herz das Französische, Weibliche, Leidenschaftliche, Materialistische gegeben, als Kopf das Deutsche, Männliche, Vernünftige und Idealistische, sie kehrt auch bei Marx verwandelt in der Rede von der Philosophie als Kopf und dem Proletariat als Herz wieder, schließlich heißt es zum Abschluss der Einleitung: »Wenn alle innern Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns« (MEGA2 I/2: 183). Dass für diese Revolution eine messianische Metapher gebraucht und eine bestimmte Arbeitsteilung ersichtlich wird, das zeigt sich auch in den Kritische[n] Randglossen (eine Kritik an Arnold Ruge, die Juli 1844 erscheint), wo es heißt, »daß das deutsche Proletariat der Theoretiker des europäischen Proletariats, wie […] das

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bestimmt wird, verweist auf deren Antizipation in einer bestimmten Theorie, auf die kommende Verwirklichung des Gattungswesens. Marx nennt keinen Namen, zitiert nicht, keinesfalls ist es eine Enteignung, sondern Marx spricht generisch vom »Radikalismus der deutschen Theorie« und bekennt sich so zur Philosophie Feuerbachs.21 Sie könne die Massen ergreifen, da sie »die Sache an der Wurzel« (ebd.) fasse, weil sie eben das Gattungswesen, was jedem eigne, als das begreiflich hat werden lassen, was aus seiner Entfremdung in die Verwirklichung zu überführen sei. Marx schreibt aber in dieses Gattungswesen etwas ein, das diesen Begriff überschreiten wird, aber noch an ihm ausgerichtet bleibt: Das Proletariat sei der »völlige Verlust des Menschen […], [das] also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann« (ebd.: 182). Wieder wird hier geschichtsphilosophisch (zu) viel investiert, schließlich muss ein Zustand vor dieser Entfremdung gesetzt werden, in welchem das noch nicht verloren gewesen sein müsste, was durch diese Revolution eben wiederzugewinnen wäre. Um diese Wiedergewinnung nicht einfach im Allzumenschlichen anzusiedeln, führt Marx das Proletariat als ›Materialisierung‹ der Extreme der Entfremdung ein: ins Unmenschliche gedrängt, so dass es durch seine »unmittelbare Lage, durch die materielle Nothwendigkeit […] selbst dazu gezwungen wird«, »das Bedürfniß und die Fähigkeit der allgemeinen Emancipation« (ebd.: 181) auszubilden. Diese Veränderung vollziehe sich dann, wenn »der Blitz des Gedankens gründlich in diesen naiven Volksboden« (ebd.: 182) einschlage. Bei allem Pathos für diese welthistorische Tat wird das Verhältnis zwischen der Kritik und dem Proletariat doch in ein recht traditionelles Bild gefasst: Das, was sich im Blitz konzentriert, von ›oben‹ einschlägt, das ist die ›Erleuchtung‹, die Wahrheit der Theorie. Diese

französische Proletariat sein Politiker ist« (ebd.: 459). Im Frühwerk spottet Marx in gebotener Schärfe über »Deutschthümler von Blut und Freisinnige von Reflexion« (ebd.: 172), und doch zeigt sich an bestimmten Stellen ein Rekurs auf das Deutsche, wo konkrete Auseinandersetzungen, ihre Verfestigung in historische Kräfteverhältnisse hätten modelliert werden müssen, wo überhaupt die begrifflichen Mittel dazu fehlen. 21 In Grundsätze der Philosophie der Zukunft zeichnet Feuerbach bereits vor, was Marx bezogen auf eine gesellschaftliche Veränderung variiert, dass sich nämlich die »historische Notwendigkeit und Rechtfertigung der neuen Philosophie […] daher hauptsächlich an die Kritik Hegels« knüpfe und sie letztlich als »Realisation der Hegelschen, überhaupt bisherigen Philosophie – aber eine Realisation, die zugleich die Negation […] derselben ist.« (Feuerbach 1990a: 295) Dies erklärt die generische Rede Marxens von »deutscher Theorie«.

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ist die Theorie der Praxis: »Die einzig praktisch mögliche Befreiung Deutschlands ist die Befreiung auf dem Standpunkt der Theorie, welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt.« (Ebd.: 391) Heißt dies nun, dass wir »die wahre Parole des Kampfes« gefunden haben? Können wir jetzt endlich doktrinär sein?

IV. D IE ARBEIT

IM

H ANDGEMENGE

Als wir die »Kritik im Handgemenge« am Ort ihrer Nennung in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie aufsuchten, durften wir feststellen, dass ihre Einführung mit einer Haltung dem Gegner gegenüber einhergeht, die eher traditionell oder voluntaristisch anmutet. Dagegen half nur die Buchstabentreue: »Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge.« (Ebd.: 173, erste Herv. G./S.) Dieser Inhalt geht weder in der vorhergehenden Beschreibung deutscher Zustände auf, noch erschöpft sich das vehement eingeforderte Treffen dieses Gegners im Aufruf zu Handgreiflichkeiten. Die Option, sich von der Philosophie abkehrend dem Umsturz zu verschreiben, wird klar verworfen. Das Handgemenge ist also notwendig als Metapher zu lesen, weil einem sonst die Pointen dieses Textes entgingen. Dass es gelte, den Gegner im Handgemenge zu treffen, ist in mehreren Hinsichten komplexer zu verstehen als in der Lesart eines einfachen Vernichtungsschlages: 1. Es heißt nach Marx zuförderst, sich ein Erbe anzueignen (wesentlich Hegel, Feuerbach, in dem September-Brief ist noch allgemeiner von den bestehenden Prinzipien der Welt die Rede), um überhaupt zu begreifen, wie und was zu treffen ist. Eine solche Kritik ist folglich eine Praxis der Theorie, die die ihr überlieferten Mittel rekonstruiert und so kritisiert, um eine Veränderung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse vorzubereiten oder um ihr Moment zu sein. Das kann als Gemeinsames der von uns untersuchten Texte ausgewiesen werden. Es ging uns aber um diese Spannung. 2. Wenn die »Kritik im Handgemenge« ein bestimmtes Verhältnis von Theorie und Praxis impliziert, dann lässt sich diese Spannung auf die Frage bringen, ob aus einer Praxis der Theorie eine Theorie der Praxis resultiert, die sodann zu verwirklichen ist – oder ob dieser Zusammenhang als ein Verhältnis zu reflektieren ist, wodurch einfache Übertragungen verunmöglicht werden: Schließlich bedeutet ›Verhältnis‹, dass das eine Moment nicht bloße Ursache des anderen ist, sondern beide erst im Verhältnis zum anderen diese bestimmten Momente sind. Ohne dass wir dies nun der Sache gemäß entfalten können, so sei doch darauf verwiesen, dass sich diese Spannung auch in der Weise ankündigt, wie hier

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Historizität thematisiert wird: Im September-Brief an Ruge heißt es, dass es der Kritik nicht »um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft« (ebd.: 488 f.) gehe, sie sich nicht der Konstruktion zu verwirklichender Systeme verschreiben werde, sondern sie am Gegenwärtigen im Hinblick auf sein Gewordensein ansetze, um sich als Kritik zu vollziehen. Die Zukunft dagegen bleibt im Kommen, ihre theoretische Vorwegnahme wird problematisiert. Spannung wird dadurch erzeugt, dass in ihr an einem Morgen »das Schmettern des gallischen Hahns« (ebd.: 183) zu vernehmen sei, ein »bewusstes Gegenbild zu Hegels Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt.« (Arndt 2015: 74) Die Blickrichtung ist so eine gegensätzliche. Ist einmal im Handgemenge unklar, wie es ausgeht, da der Kritik keine quasigöttliche Kraft eigne, dies zu entscheiden, findet sich in der Einleitung die Beschwörung, dass diese Kritik die zukünftige Praxis bereits antizipiert hätte, über gegenwärtige Kämpfe längst erhaben. Und was für eine Zukunft wird mit der »völlige[n] Wiedergewinnung des Menschen« versprochen – schließlich muss sie schon einmal gewesen sein?22 Dies beinhaltet die Vorstellung einer Theorie, die in sich die Wahrheit trägt, die nur noch einschlagen muss wie eben jener »Blitz des Gedankens […] in diesen naiven Volksboden« (ebd.: 183). Aber lassen wir diesen Text nicht zu schematisch enden, gerade in dem Absatz, in dem die »Kritik im Handgemenge« erscheint, wird ein Bild gebraucht, das die Spannung in die Einleitung der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie trägt: »[M]an muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!« (MEGA2 I/2: 173) Das ist die Vorstellung einer radikalen Immanenz: Die Kritik sagt nur das, was diese Verhältnisse selbst sagen; aber zugleich bringt sie das hervor, was die Verhältnisse in sich tragen: Dies transzendiert das Bestehende, indem es Bewegung hervorbringt; aber nicht im Sinne eines Blitzschlages, sondern eines Tuns, das das ›Entgegenkommen‹ des Anderen einschließt und irgendwie als ein gemeinsames Tun zu bestimmen gewesen sein wird; dieses Gemeinsame ist selbst durch Spannungen geprägt, aber nicht durch bloß theoretische, sondern wirklich theoretischpraktische, schließlich gilt es, durch Singen »zum Tanzen [zu] zwingen«. Und wenn wir nun historisch mit dem Schreiben Marxens voranschritten, dann wären mit dem Begriff der »Praxis« (MEGA² IV/3: 19) oder der »wirkliche[n] Bewegung« (MEGA² I/5: 37) Formen gegeben, die dieses immanente Transzendieren feiner ausdrückten. Sie stehen aber im Zusammenhang mit einem Emanzipationsprozess: Die Spannungen, die eben nicht in der Praxis des

22 Die Reflexion der Historizität wird in Bezug auf die Benjaminʼsche Interpretation des Marxʼschen Erbes bei Géra 2014: 598 ff. durchgespielt.

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Vollzugs selbst aufzusuchen sind, die sich zwischen Figuren der Immanenz und solchen ergeben haben, die wir eher einer traditionellen Theorie zuordneten, lassen sich auf den Gebrauch der Marx zur Verfügung stehenden begrifflichen Mittel oder die von ihm anerkannten Gebräuche derselben zurückführen, die bestimmte Probleme mit sich bringen, wenn es um das Begreifen des Vollzugs der Theorie oder gesellschaftlicher Praxis geht. Vieles davon lässt sich bei Feuerbach studieren – das sind Erbschaften. Wenn Marx davon spricht, dass es eben der »Radikalismus der deutschen Theorie« sei, der die Massen ergreife, dann deshalb, weil durch diese Theorie irgendwie getroffen werde, was sie unmittelbar seien. Feuerbach selbst fasst es in dem ungleich nüchterneren Bilde, dass der »notwendige Wendepunkt der Geschichte […] daher dieses offne Bekenntnis und Eingeständnis [ist], daß das Bewußtsein Gottes nichts andres ist als das Bewußtsein der Gattung, daß der Mensch sich nur über die Schranken seiner Individualität […] erheben kann, aber nicht über die Gesetze, die Wesensbestimmungen seiner Gattung, daß der Mensch kein andres Wesen als absolutes, als göttliches Wesen denken, […] lieben und verehren kann als das menschliche Wesen.« (Feuerbach 1969: 400)

Was Feuerbach hier beschreibt, ist ein solcher Blitzschlag, der die praktische Umwälzung vollendet sein lässt: Wenn das »offne Bekenntnis und Eingeständnis« vollzogen sei, dann verwirkliche sich das Gattungswesen. 23 Feuerbachs Anspruch ist die »reelle, immanente Wissenschaft« (Feuerbach 1990b: 246), die endlich das Unmittelbare als Unmittelbares fassen könne (vgl. ebd.: 247), das sich dem Denken entziehe und bloß in der sinnlichen Anschauung sei. Dieses Verfahren, das ganz Andere der Theorie auszudrücken, schlägt aber gerade in die Hypostasierung der Theorie um. Es wird »begrifflich als unmittelbar ausgezeichnet […], was doch in die Vermittlung mit dem Denken eingeht« (Arndt 1994: 243; Herv. G./S.) und dort sogar seine Geltung beansprucht. Feuerbachs theoretischer Widerspruch artikuliert sich dann strukturanalog in seinem Sprung, diesem »Wendepunkt der Geschichte«, wenn man erkenne, dass man das unmittelbar sei, was einem bloß vermittelt als Religion gegenübergetreten sei: nämlich Gattungswesen, dessen Gesetze sodann wieder pochen. Die bestimmten Probleme dieser Praxis der Theorie erscheinen so in einer Theorie der Praxis, die eben das artikuliert, was jenseits jeden Handgemenges feststand und bloß noch

23 Um diesen Theoretizismus zu exemplifizieren, schlägt Feuerbach Folgendes vor: »Theoretisch ist, was nur noch in meinem Kopfe steckt, practisch was in vielen Köpfen spukt.« (MEGA2 I/2: 485)

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zu verwirklichen sei: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbach’schen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts od. der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Thätigkeit, Praxis« (MEGA² IV/3: 19). Mit unseren Überlegungen, wie das Bild einer ›Kritik im Handgemenge‹ als Konstellation wesentlicher Momente des Vollzugs kritischer Theorie gelesen werden kann, ging es uns darum, einen spezifischen Modus von Kritik auszuweisen: den Modus einer Kritik, die sich so auf ihre Gegenstände richtet, dass sie diese als Praxis – als ein Verhältnis von Tätigkeitsverhältnissen reflektiert. Sie nimmt ihre Gegenstände ernst, da sie über keinen unmittelbaren Zugriff auf die Verhältnisse verfügt, denn sonst striche sie sich als Praxis durch und wäre wieder traditionelle Theorie. Wichtig ist nun – auch wenn es unserem Nachdenken als eine etwas verzwickte Sachlage erscheint –, dass sich kritische Theorie selbst als Praxis versteht und damit in mehrerlei Hinsicht eingebunden ist in vielfältige Tätigkeitsverhältnisse, für die jeweils das Bild der ›Kritik im Handgemenge‹ einstehen kann: Zum einen versteht sie ihr Tun in Bezug auf gegenwärtige gesellschaftliche Auseinandersetzungen und die in sie involvierten sozialen Triebkräfte. Zum anderen tut sie dies, indem sie sich auf der Ebene der Theorie in Auseinandersetzungen mit ihren Gegnern, anderen Gestalten des Bewusstseins weiß und sich in der Auseinandersetzung mit ihrem theoretischen Erbe versteht, das sie sich je und je wieder neu im Hinblick auf die Gegenwart von gesellschaftlichen Kämpfen um die Fragen der Vergangenheit streitend aneignen muss. Zugleich ist die Metapher einer ›Kritik im Handgemenge‹ das ›Denkbild‹ einer strikten Immanenz. Das Handgemenge ist eine Gegenfigur zu dem transzendentalphilosophischen Bild von Kritik als ›Gerichtshof der Vernunft‹, in welchem Kritik als Prozess im Sinne eines regelgeleiteten Verfahrens konzipiert ist, das zum Zwecke einer Beruhigung der Auseinandersetzung verschiedener Positionen von einem neutralen, erhobenen Posten aus eine ›Wahrheitsprüfung‹ durchexerziert. Das Bild der ›Kritik im Handgemenge‹ weist dagegen eine Reflexion von Kritik aus, die in ihrem Tun nicht auf ein ›Außerhalb‹ rekurrieren kann: weder auf ein ›Außerhalb‹ im Sinne von dem kritischen Vollzug zugrundeliegender, feststehender Geltungsbedingungen von Wahrheit noch auf ein ›Außerhalb‹ im Sinne einer Kritik als selbst nicht involvierte, unparteiliche Beobachterin und Richterin. Gleichwohl ist die ›Kritik im Handgemenge‹ nicht einfach als Bild reiner Immanenz zu deuten, das einen Bezug auf Transzendenz nicht zuließe. Dann wäre ein Werden dieser Kritik, also ›Theoriebildung‹ und ›Entwicklung‹ nicht thematisierbar. Wenn wir betonten, dass das Sich-Bilden von (kritischer) Theorie sich nicht außerhalb, sondern innerhalb des Handge-

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menges als Auseinandersetzungen um das Erbe vollzieht, dann ist es im Sinne eines »immanenten Transzendierens« (Tulatz 2018: 281) zu verstehen. Zu begreifen, dass ein Nachdenken über Kritik, welches diese in ihrem Vollzug – als ›Kritik im Handgemenge‹ – reflektiert, sich nicht auf ein ›Ende‹ des Gemenges, auf eine dieses beruhigende transzendente Instanz oder den voluntaristischen, mithin dezisionistischen Geniestreich eines ›Subjektes‹ richten kann, ist gewiss eine Zumutung. Es liegt nahe, immer wieder fragen zu wollen, wie denn dem Gemenge zu entkommen sei – welche Position wann und wie als die ›siegreiche‹ angesehen werden kann. Mit dieser Zumutung hängen die Bemühungen kritischer Theorie zusammen, Modi von Kritik bisweilen als ›Haltungen‹, als Intellektuellenfiguren zu konzeptualisieren. Die ›Kritik im Handgemenge‹ kennt keinen Intellektuellen mit »Priester-Funktion« (Schürmann 2002, 124), keinen messianischen Intellektuellen, der seine außerhalb des Handgemenges ihm zugefallene ›Botschaft‹ als Erkenntnis den Streitenden und Kämpfenden bloß noch überbringen müsste, die ihm dann im bloßen Glauben folgen können oder in ihrem bisherigen Glauben durch Überzeugen in Richtung der ›wahren‹ Botschaft gewendet werden müssten. Von der ›Kritik im Handgemenge‹ aus betrachtet ist dagegen – wie es Walter Benjamin einmal formulierte – »Überzeugen [...] unfruchtbar« (Benjamin 1985: 12).

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Das Proletariat gibt es nicht... Prolegomena zu einer Wahrheitspolitik nach Marx G REGOR S CHÄFER – et il me sera loisible de posséder la vérité dans une âme et un corps. ARTHUR RIMBAUD

1. E INLEITUNG : W AS

IST ORTHODOXER

1

M ARXISMUS ?

In Georg Lukács’ Werk Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) findet sich die provokative Bemerkung, dass Marx’ Denken seinen Wahrheitsgehalt auch dann behielte, wenn »sämtliche einzelnen Thesen« desselben, verstanden als ein Korpus einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse, auf der Ebene ihrer Faktizität als falsifiziert zu gelten hätten. »Jeder ernsthafte ›orthodoxe‹ Marxist«, so Lukács, »könnte alle diese neuen Resultate bedingungslos anerkennen ... – ohne für eine Minute seine marxistische Orthodoxie aufgeben zu müssen.« (Lukács 1968a: 171) Indem Lukács »Orthodoxie in Fragen des Marxismus« (ebd.) primär am Vollzug von dessen Methode festmacht, schreibt er in ihn – unhintergehbar – eine subjektive, parteiergreifende Perspektive ein: »Denn die marxistische Methode ... als Wirklichkeitserkenntnis ergibt sich nur vom Klassenstandpunkt, vom Kampfstandpunkt des Proletariats. Das Verlassen dieses Standpunkts führt vom historischen Materialismus weg, wie andrerseits sein Erringen direkt in den Kampf des Proletariats hineinführt.« (Ebd.: 194)

1

Rimbaud 2009: 280.

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Den Kern dieser Methode bildet jenes Verhältnis, wie Lukács es im Rückgang auf die klassische deutsche Philosophie als »identisches Subjekt-Objekt« konzipiert (vgl. ebd.: 287 ff.). Sie macht gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht einfach einen deren Objektivität verleugnenden Subjektivismus geltend. Vielmehr zeigt sich in ihrem Vollzug, dass diese Wirklichkeit in Wahrheit immer schon von einer subjektiven Perspektive durchbrochen (gewesen) ist – einer Perspektive, wie sie im Rahmen der von Lukács als »Verdinglichung« (vgl. ebd.: 257 ff.) interpretierten Seinsform kapitalistischer Verhältnisse strukturell indes gerade »unwahrnehmbar« (ebd.: 237) wird. Es liegt im Wesen dieser Methode, dass sie einen Index auf Gegenwart als auf den ausgezeichneten Ort eines Durchbrechens von Verdinglichung und damit ihres eigenen Geltungsanspruchs einschließt. Die als »Orthodoxie« sich artikulierende Treue gegenüber dem Wahrheitsgehalt des Marxismus entscheidet sich damit nicht an der Zustimmung zu bestimmten (propositionalen) Lehrinhalten. Sie zeigt sich, als Methode, vielmehr allererst im performativen Prozess einer Subjektivierung, wie sie angesichts der Aktualität eines Ereignisses eine parteiergreifende Entscheidung forciert.2 Es ist das Ereignis der Oktoberrevolution, welches für Lukács als eine solche Aktualität den Prüfstein für den Wahrheitsgehalt des Marxismus darstellt (vgl. Lukács 1968c: 522-526).3 Was die offizielle Orthodoxie im Rahmen der Zweiten Internationale dieser Revolution unter Berufung auf eine objektive Gesetzmäßigkeit zum Vorwurf macht – ihren, gemessen an dieser Gesetzmäßigkeit, verfrühten, anachronistischen, ungleichmäßigen Charakter, ihre, in Bezug auf reguläre Kriterien, Illegalität, ihre, in Ermangelung objektiver Garantien, Unmöglichkeit –, markiert für Lukács ihren formalen Sta-

2

Die folgende Bezugnahme auf Alain Badiou und dessen Lacan’schen Subtext antizipierend könnte man sagen: Die hier in Frage stehende orthodoxe Treue lässt sich als Symbolisierung denken, die sich auf das Reale richtet, wie es als die Wahrheit eines je ganz und gar konkret-aktuellen, in seiner irreduziblen Singularität unvorhersehbaren und unmöglichen politischen Ereignisses in eine bestehende Situation hereinbricht (vgl. Lacan 1991: 102; dazu, mit Bezug auf Badious Begriff der »Treue«, Ruda 2008: 69 ff.). Einer so gedachten Orthodoxie eignet kraft der von ihr, gerade um ihres Wahrheitsgehalts willen, geforderten Wahl (haíresis) angesichts je neuer Konstellationen notwendig ein häretischer, heterodoxer Kern. Erst in dieser Abweichung angesichts konkreter Konjunkturen vermag sie wahrhafte Orthodoxie zu sein – und in Bezug auf das Reale je neuer Ereignisse den Namen (›Marxismus‹), für den sie als Orthodoxie einsteht, vor dessen traditionalistischer Verharmlosung zu retten; vgl. hierzu Ruda 2009.

3

Dies betont zu Recht Arndt 1994: 262.

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tus als authentisches Ereignis.4 Der Bezug auf die Aktualität dieses – aus der Perspektive seines historischen Kontexts und des Apparats von dessen Meinungen –unmöglichen Ereignisses ist für die Einholung des in Frage stehenden Wahrheitsgehalts konstitutiv. Der kritische Augenblick dieser Revolution macht es für Lukács zu einer praktisch dringlichen Aufgabe, der universellen Dimension ihres singulären Ereignisses, ihrem emphatisch philosophischen Fluchtpunkt zu entsprechen. Es ist dieser Wahrheitsgehalt, der mit der Einschreibung eines politischen Subjekts in den Marxismus, einer »proletarischen Perspektive« (vgl. Lukács 1968a: 331 ff.), wie sie in der Revolution offen hervortritt, auf dem Spiel steht. Die perspektivische Brechung, die Verzerrung dieses aktuellen Einsatzes indes meint damit keinen Relativismus (etwa in Form eines Historismus). Und ebenso schließt sie per se auch einen Reduktionismus auf äußerliche objektive Bedingungen – etwa ökonomische und soziale Fakten oder Kontexte – aus. Beides führte zu einer Verharmlosung des in ihr sich vollziehenden Ereignisses. Beides verkennte die in ihr statthabende immanente Verschränkung von Subjekt und Objekt, von Praxis und Theorie, wie sie als solche zugleich auch einen jeden Pragmatismus abwehrt (vgl. ebd.: 373). Die als Revolution manifest werdende Brechung markiert für den Wahrheitsgehalt ihres Ereignisses vielmehr gerade eine innere Bedingung: Sie ist die Subjektstelle dieser Wahrheit (vgl. Žižek 2000: 174-175). Der Gang (= méthodos) des in dieses Verhältnis integrierten Ereignisses revolutionärer Subjektivierung ist damit – nach einem Bilde von Ernst Bloch – ein »gekrümmter« (Bloch 1971: 163). Die Wahrheit dieses Ereignisses ist – als Wahrheit – eine in sich selbst perspektivisch gebrochene. Diese paradoxe Konstellation deutet auf eine Theoriefigur hin, deren Wahrheitsbegriff weder – im Sinne geläufiger methodologischer Einteilungen – im objektivistischen Register des Szientismus einer erklärenden Einzelwissenschaft noch aber auch – komplementär dazu – im (inter-)subjektivistischen etwa einer verstehenden Konzeption, doch auch nicht ohne Weiteres im Sinne eines Konstruktivismus verstanden werden kann (vgl. Žižek 2000: 173).5 Was damit als Frage in den Blick tritt, ist vielmehr eine für die Marx’sche Kritik – womöglich – konstitutive Verschränkung von einer in emphatischem Sinne universellen Dimension von Wahrheit einesteils und dem Prozess einer Subjektivierung, wie er im Zentrum emanzipatorischer Politik steht, andernteils.

4

Zur strukturell notwendigen »Unreife« der objektiven Umstände im Blick auf das Ereignis einer Revolution siehe etwa Lukács 1968a: 416. Zur spezifischen Form der »Illegalität« der Revolution ebd.: 432 ff.

5

Vgl. für eine für Lukács’ Projekt allerdings bedenkenswerte, in spezifischem Sinne konstruktivistische Interpretation Rockmore 2016; ferner auch Jameson 2009.

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Es ist das Ziel der folgenden Ausführungen, einige Aspekte dieser Konstellation im Blick auf ein mögliches Konzept von Wahrheitspolitik im Anschluss an Marx anzudeuten. Die These, welche die Überlegungen leitet, ist die, dass die Marx’sche Kritik letztlich von einem philosophisch starken Wahrheitsbegriff zehrt – und dass es, in einer inwendigen Verknotung, gerade ein solcher Bezug ist, der in diese Kritik unhintergehbar auch einen Begriff emanzipatorischer Subjektivität einschreibt. In einem ersten thematischen Schwerpunkt (2.-5.) soll im Ausgang der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie einigen Bestimmungen des Verhältnisses von Philosophie, sofern sie auf eine solche Dimension von universeller Wahrheit verweist, und politischem Subjekt nachgegangen werden. In einem zweiten thematischen Schwerpunkt (6.-9.) sodann führen diese Erwägungen zum Begriff des Proletariats: Es repräsentiert, im Sinne der Argumentation, den Inbegriff emanzipatorischer Subjektivität und soll hinsichtlich einiger seiner Konsequenzen erläutert werden. Den philosophischen Bezugspunkt für den in Frage stehenden Wahrheitsbegriff bildet, im Kontext der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Hegel: Es ist spezifisch Hegels Philosophie, auf die sich Marx’ hier geäußerte, im Folgenden zu interpretierende Formel bezieht, dass nur durch die »Verwirklichung der Philosophie« das Proletariat aufgehoben werden könne und dass diese Verwirklichung zugleich nur durch die »Aufhebung des Proletariats« erfolge. 6 Doch ist das Anliegen der vorliegenden Überlegungen nicht primär ein ›hegelmarxistisches‹7: Der im Fokus stehende formale Zusammenhang zwischen einem starken Begriff von Wahrheit und einem – ebenso starken – Begriff eines emanzipatorischen Subjekts vermag in der gegenwärtigen Diskussion insbesondere auch in Denkfiguren Alain Badious aufschlussreiche Anknüpfungspunkte zu finden. Badiou bildet daher einen zweiten philosophischen Bezugspunkt. 8

6

Den für Marx’ gesamtes Denken programmatischen Anspruch dieser Formel zeigt Hindrichs 2006.

7

Siehe zur philosophiegeschichtlichen Problematik dieser Bezeichnung in Bezug auf Lukács’ Konzeption überhaupt Rockmore 1992.

8

Das Verhältnis von Badiou zu Hegel dürfte komplexer sein, als es Badious Motto – »auf Hegel verzichten, übrigens schmerzlich, um den Preis der wiederholten Untersuchung seiner Texte« (Badiou 2011: 158) – andeutet. Andernorts fordert Badiou explizit eine »Arbeit, die nicht nur die von Marx, sondern auch die von Hegel fortsetzen sollte« (Badiou 2012a: 16) – allerdings in Richtung einer solchen »vollkommen neuen Interpretation«, welche Hegels Denken nicht länger »dem Motiv der Totalität unterordnet« (Badiou 2011: 158). Dass Hegels spekulative Logik – und die sie tragende Kategorie der Totalität – durchaus in einem emanzipatorischen Sinne weiterge-

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2. U NTERWEGS ZUR P ROGRAMMATIK EINER »V ERWIRKLICHUNG « DER P HILOSOPHIE Die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, die Marx 1843/ 1844 verfasst, enthält im Blick auf das Verhältnis von Wahrheit und Politik richtungsweisende Bestimmungen. Ähnlich und in demselben zeitlichen Umfeld wie in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten finden sich auch hier, was die philosophische Begründung anbelangt, wesentliche Figuren des Marx’schen Denkens, die auf dem späteren epistemischen Terrain der Kritik der politischen Ökonomie präsent bleiben werden – und dies, obgleich Marx, absorbiert durch die Durchdringung des konkreten Stoffes der politischen Ökonomie seiner Zeit, scheinbar nicht mehr auf sie zurückkommen wird. Ohne dass man den angeblichen ›Humanismus‹ des frühen Marx gegen den angeblich szientifischen Charakter des späten Marx ausspielen müsste, sind es nicht zuletzt diese Leitlinien, die den allgemeinen emanzipatorischen Horizont abgeben, durch den dieses spätere epistemische Terrain unendlich viel mehr ist als einzelwissenschaftliche Erkenntnis. Sie eröffnen eine mögliche Deutung, in deren Rahmen sich eine Lektüre des späten Marx mit einer des frühen Marx, in Durchquerung geläufiger Unterteilungen, gerade verbinden lassen könnte. Mit der Lesart einer solchen Durchquerung kann – wie Frank Ruda es vorschlägt – davon ausgegangen werden, dass sich beim frühen Marx »die Konzeption eines politischen Universalismus gedacht findet«, die sich damit indes »keineswegs auf das Marx’sche Frühwerk beschränken muss, sondern vielmehr in diesem – bei Marx – seine ursprüngliche ›Denkbarkeit‹ gewinnt.« (Ruda 2010: 281) 9 Denn wenn –

dacht werden kann, der ihre (für die französische Hegelrezeption bestimmende und von Badiou zu Recht kritisierte) ›expressive‹ Deutung hinter sich lässt, zeigen – in gleichzeitig enger Auseinandersetzung mit Badiou – etwa die Arbeiten von Žižek. Vgl. so für die Kategorie der Totalität und ihre politisch-emanzipatorischen Implikationen Žižek 2016: 393, 717 ff.; ferner auch, in Bezug auf Lukács’ ›Hegelmarxismus‹, Žižek 2000. Vgl. für diesen Themenkomplex zudem etwa auch Ruda 2015; Vernon/Calcagno 2015. 9

Wie das Verhältnis des frühen Marx zum späten so zu denken wäre, dass dies weder zu einer verharmlosenden ›humanistischen‹ Interpretation noch aber auch zu einer Althusser’schen coupure épistémologique führt, bleibt gewiss eine der methodologisch wichtigsten Fragen in der Auseinandersetzung mit Marx. Keineswegs sollen im Folgenden werkgeschichtliche Spannungen zwischen dem frühen und dem späten Marx, auf die – über die vorliegenden Prolegomena hinaus – vertieft einzugehen wäre, nivelliert werden. Doch es ist die Überzeugung dieser Prolegomena, dass sich

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nach einer Formulierung Badious – »Denkbarkeit« als »ein Umschlagen dessen, was ist, hin zu dem, was es geben kann oder vom Bekannten zum Unbekannten« (Badiou 2003: 46) verstanden wird, ist erst sie es, die eine Erkenntnis zu einer kritischen, zu einer – im programmatischen Sinne der Feuerbachthesen – wirklich revolutionären macht.10 Den Kontext der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bildet das Handgemenge zwischen den verschiedenen Richtungen in der Sequenz des Vormärz. Diese Situation sieht sich einerseits mit dem Wahrheitsanspruch des Hegel’schen Systems – als der letzten großen Philosophie überhaupt – konfrontiert,11 andrerseits mit der Herausforderung, in der für das Vorfeld von 1848 typischen Gemengelage zahlreicher Einsätze nach neuen Wegen der Emanzipation zu suchen. In dieser Situation bezieht sich Marx auf zwei Parteien: die »praktische Parthei« und die »theoretische Parthei«. Sie nehmen in der Konstellation des Verhältnisses von »Politik« und »Philosophie« gegensätzliche Markierungen vor. Angesichts der nach-Hegel’schen Wirklichkeit vertritt die »praktische Parthei« die Negation der Philosophie – um, wie sie meint, somit zur unmittelbaren Tat zu schreiten. Die »theoretische Parthei« dagegen macht im kritischen Potential der Philosophie selbst bereits einen revolutionären Akt aus. Sie sieht in der Theorie die stärkste Praxis: »Der Terrorismus der wahren Idee«, so dieses Sinns Bruno Bauer am 28.3.1841 in seinem Brief an Marx, »muss reines Feld machen.« (MEGA2 III/1: 353)

beim frühen Marx philosophische Grundlagen finden, welche auch für die späteren Werkphasen als begründungstheoretisch tragend, in systematischer Hinsicht vielleicht als unhintergehbar gedacht werden müssten. 10 Der eigentlich revolutionäre Charakter sei es einer Erkenntnis, sei es einer Handlung besteht gerade in der formalen Einschreibung einer solchen Denkbarkeit in das Bestehende – nicht primär in dessen positiv-inhaltlicher Veränderung, die als solche immer auch wieder rückgängig zu machen wäre. Indem das Bestehende auf seine Denkbarkeit hin überschritten wird, wird es so zugleich notwendig auch im Horizont menschlicher Handlungsfähigkeit exponiert; vgl. dazu Hindrichs 2017: 7 ff.; ferner auch Menke 2017. Vermöge ihrer reflexiv-transzendentalen Struktur, die logisch vorgängig zu einer jeden inhaltlichen Bestimmung gedacht werden muss, ist revolutionäre Veränderbarkeit prinzipiell irreversibel; vgl. dazu mit Bezug auf Hegel Holz 2005: 474 ff. 11 Vgl. zu dieser geistesgeschichtlichen Konstellation Löwith 1995: 78 ff.; Holz 1997: 225 ff.

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Zunächst konzediert Marx der »praktischen Parthei« ihre Legitimität: »Mit Recht fordert ... die praktische politische Parthei in Deutschland die Negation der Philosophie. Ihr Unrecht besteht nicht in der Forderung, sondern in dem Stehnbleiben bei der Forderung, die sie ernstlich weder vollzieht, noch vollziehen kann.« (MEGA 2 I/2: 175)

Mit dieser Forderung steht für Marx das Schicksal der Philosophie als eines bestimmten Weltverhältnisses überhaupt auf dem Spiel. Die von Marx kritisierte, gegenüber dem bestehenden (nachrevolutionären) bürgerlichen Staat kontemplative Haltung der Hegel’schen Philosophie12 beruht nicht auf einer zufälligen Anpassung an diesen. Sie liegt, angesichts des Bestehenden, in der Form von Philosophie als solcher: darin, dass Philosophie, in Marx’ Gegenwart, es sich, entgegen ihrem eigenen dialektischen Prinzip, »um Philosophie zu bleiben« (Adorno 1997: 308), versagt, sich revolutionär in eine alles Bestehende umwälzende praktische Wirklichkeit aufzuheben. Indem Marx in der Hegel’schen Rechts- und Staatsphilosophie jene Form ausmacht, die das schlechte Bestehende zuletzt bloß begrifflich aufhebt und es so in seinem positiven Sein bestehen lässt, ist für ihn philosophische Theorie, als allgemeinste Form begrifflichen Denkens, gegenwärtig schlechterdings problematisch geworden. Doch bleibt Marx dabei nicht stehen. Denn indem – so hält er ihr vor – die »praktische politische Parthei« nämlich »glaubt, jene Negation dadurch zu vollbringen, daß sie der Philosophie den Rücken kehrt und abgewandten Hauptes – einige ärgerliche und banale Phrasen über sie hermurmelt« (ebd.), bleibt ironischerweise gerade sie selbst an die bestehende Wirklichkeit gebunden. Für Marx gibt es, anders als für diese Partei, keine abstrakte Dichotomie von Philosophie einerseits und Nichtphilosophie andrerseits. Die abstrakte, gegenüber der Wirklichkeit scheinhafte Form, die in der Philosophie und ihrem Wahrheitsanspruch Systemgestalt gewinnt, löst sich nicht dadurch auf, dass Philosophie einfach übersprungen wird. Den abstrakten Charakter der Philosophie gegenüber der Wirklichkeit zu erkennen und zu kritisieren, muss vielmehr in eins auch heißen, die wirklichen Bedingungen dieses Status begrifflichen Denkens zu erkennen und zu kritisieren. Philosophie ist, als solche, in ihrer Abstraktheit, ein Moment der sie übergreifenden konkreten Wirklichkeit selbst. Ihre Abstraktheit ist gegenüber der Wirklichkeit, wie man sagen könnte, »realer Schein«.13 Die Philoso-

12 Vgl. zur Problematik des kontemplativen, theoretizistischen Ausgangs von Hegels System Hösle 1998: 424 ff. 13 Das Konzept des »realen Scheins« wird Marx später im Fetischismus-Kapitel des Kapital theoretisieren. Nicht zufällig wird Marx auch in diesem Zusammenhang von

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phie kann deshalb nur uno actu mit der Wirklichkeit, deren gedankliches Supplement sie bildet, selbst aufgehoben werden.

3. Ü BER

DEN HINAUS

» DEMOKRATISCHEN M ATERIALISMUS «

Hier nun könnte, folgenreich, ein Weg gewählt werden, mit dem an die Stelle eines philosophisch starken Begriffs von Wahrheit das negative Verfahren einer Kritik träte, die jede Wahrheit als bloße Ideologie abtut. Ein jeder philosophisch erhobener Wahrheitsanspruch löste sich alsdann in bloßen Schein auf. Und was als Maßstab einzig übrigbliebe, wäre, etwa mit Nietzsche, der Wille zur Macht und das Recht des seinen partikularen Willen durchsetzenden Stärkeren. Der Marxismus wäre somit, in Abwandlung von Lenins Diktum, nicht »allmächtig«, sofern er – allenfalls – »wahr« ist, sondern höchstens »wahr«, sofern er – allenfalls – »allmächtig« (Lenin 1966: 3) ist. Ohne das existentielle Pathos, das Nietzsche damit verband, ist diese Konstellation – so darf man behaupten – in unserer oftmals (vorschnell) als ›postmodern‹ oder ›postmetaphysisch‹ bezeichneten Gegenwart, derjenigen eines globalen Kapitalismus, zur dominanten forma mentis geworden. In seinem zweiten Hauptwerk, den Logiken der Welten, beschreibt Badiou diese Situation als die eines »demokratischen Materialismus« (vgl. Badiou 2010a: 17-26). Dessen grundlegendes Axiom lautet, dass es nur »Körper« und »Sprachen« (Diskurse) gibt – und darüber hinaus nichts. Für diese Situation kann der Bezug auf eine Dimension universeller Wahrheit nur »der Ausdruck verborgener Machtmechanismen« (Žižek 2002: 25) sein. Die geltungstheoretische Frage nach der Wahrheit und ihrem Anspruch wird hier, etwa mit Foucault, durch die genetisch-genealogische Frage ersetzt, unter welchen partikularen Machtverhältnissen und im Rahmen welcher Dispositive diese Frage formuliert werden und sich als rhetorischer Effekt einer (vulgo: ›poststrukturalistischen‹) Wahrheitspolitik konstituieren kann.14 Anstelle einer Politik der Wahrheit im philosophisch, ja zuletzt meta-

»metaphysischen Spitzfindigkeiten und theologischen Mucken« sprechen, welche gerade noch inmitten der scheinbar gänzlich nüchternen Wirklichkeit der ökonomischen Welt anwesend sind (vgl. MEGA2 II/5: 17 ff.) – einer Wirklichkeit, deren Durchdringung insofern, nach Lenins bekannter Forderung, der begrifflichen Arbeit der ganzen Hegel’schen (Wesens-)Logik bedürfte. 14 Der frühe Lukács stellt in seiner Heidelberger Ästhetik diese geltungstheoretische Frage anhand des wundersamen – da auf die Bedingungen der partikularen Kontexte

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physisch starken Sinne einer universellen Dimension ergibt sich hier eine Pluralität von gegeneinander gleich-gültigen Narrativen. Wo es zuletzt nur noch Machtspiele gibt, wird der Bezug auf Wahrheit zur Lüge, die den Willen zur Macht nur maskiert. Gegen diese »demokratisch-materialistische« dóxa macht Badious philosophisches Programm einer »materialistischen Dialektik« die »Evidenz« geltend, wonach es – über Körper und Sprachen hinaus, als Ereignis in die opake Positivität ihrer Tatsachen intervenierend – auch noch Wahrheiten gibt: »Es gibt nur Körper und Sprachen, außer dass es Wahrheiten gibt.« (Badiou 2010a: 20)15 Die Materialität der Körper und Sprachen wird so durch die Dimension einer als Ereignis in ihr Sein sich einschreibenden, hic et nunc affirmativ wirksamen wahrhaften Universalität ergänzt, welche die Ordnung dieser Bedingungen und ihrer chronologischen Zeitlichkeit unterbricht und auf sie keineswegs reduzibel sein kann:

ihrer Entstehung irreduziblen – Seins großer Kunstwerke (vgl. Lukács 1974: 9 ff.). Ganz im Sinne Lukács’ rekurriert für die Bedeutsamkeit eines Begriffs von transhistorischer Wahrheit unter geltungstheoretischem Gesichtspunkt auch Badiou (vgl. Badiou 2014a: 62 f.) auf Marx’ fragmentarische Hinweise in der Einleitung zu den Grundrissen, wo Marx sich die Frage stellt, wie es möglich ist, dass die griechische Kunst uns heute in emphatischem Sinne immer noch anspricht (vgl. MEGA2 II/1.1: 44 f.). Zu diesem Problemkomplex gehören einerseits auch Badious Konzept »kommunistischer Invarianten«, wie sie sich anlässlich je neuer geschichtlicher Sequenzen – »von Spartacus bis Mao« – als emanzipatorische Politik(en) ins Werk setzen (vgl. Badiou 2012b: 76, 143), und andrerseits jene in großen Kunstwerken und paradigmatischen ethischen Akten sich inkorporierende Universalität, wie der späte Lukács – in der Eigenart des Ästhetischen und in der Ontologie des gesellschaftlichen Seins – sie als »Gattungsmäßigkeit« konzipiert. 15 Ebenso wie für Lukács sind auch für Badiou ›Tatsachen‹ die für die Partikularität einer Situation bestimmende Seinsform, die nur durch revolutionäre Wahrheitsereignisse durchbrochen werden kann. Im Rahmen der vorliegenden Fragestellung interessiert Badious Konzeption von Wahrheiten (wie sie sich für ihn neben der Politik auch in den Wissenschaften, der Kunst und der Liebe ereignen können) primär unter einem formalen Aspekt: Wahrheiten markieren formal – inmitten alles Bestehenden – die angesichts des Möglichkeitsraums dieses Bestehenden »unmögliche Möglichkeit« (Badiou 1985: 101) einer in ihrer Universalität »ewigen« Dimension, welche das in ihr sich konstituierende (kollektive) Subjekt von allen Prädikaten, die es an die Partikularität einer Situation binden, entbindet und es ihm in diesem Bruch ermöglicht, zum »Unendlichen des Realen zu gelangen« (Badiou 2014a: 59).

312 | G REGOR S CHÄFER »Worauf Badiou, gegen die postmodernen Meinungen, abzielt, ist gerade die Wiederbelebung der Politik der (universellen) Wahrheit unter den heutigen Bedingungen einer globalen Kontingenz. Badiou rehabilitiert somit unter den heutigen Bedingungen der Multiplizität und Kontingenz nicht nur die philosophische, sondern genauer die meta-physische Dimension: die unbegrenzte Wahrheit ist ›ewig‹ und meta – unter Berücksichtigung des zeitlichen Prozesses des Seins ist sie ein Blitz einer anderen Dimension, die die Positivität des Seins transzendiert.« (Žižek 1998: 133)

Getrennt von der Dimension einer über die bestehende Realität eines »demokratischen Materialismus« hinausweisenden universellen Wahrheit – einer Wahrheit, welche als solche auch mehr ist als die bloße Richtigkeit einer propositionalen, szientifischen Wahrheit – bleiben wir, wie Marx es in einem frühen literarischen Versuch formuliert, »gebunden an den Marmorklotz des Seins ... Affen eines kalten Gottes« (MEGA2 I/1: 661; vgl. dazu Žižek 2002: 26). Eine Kritik, welche die »imaginairen Blumen an der Kette zerpflückt«, damit »der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage« – und nicht, »damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche« (MEGA2 I/2: 171) –, ist nicht die Kritik, um die es Marx geht.

4. Z UR W AHRHEIT

DER

R EVOLUTION IN H EGELS D ENKEN

Einerseits bleibt die philosophische Kritik für Marx damit – soweit stimmt er der »praktischen Parthei« zu – in der Gegenwart der bürgerlichen Wirklichkeit machtloser Begriff, Schein. Andrerseits aber kann die Philosophie zugleich, wie die »praktische Parthei« es will, trotzdem nicht einfach umgangen werden. Sie muss, damit sie die »lebendige Blume breche«, und um damit ihren Wahrheitsanspruch einzulösen, zur realen Kritik, zur als Revolution sich vollziehenden Handlungsform werden. Im Vollzug der Aufhebung der Philosophie muss die Philosophie für Marx, so seine emphatische Formel, verwirklicht werden: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.« (MEGA2 I/2: 176) Es ist diese Konstellation, aus der heraus sich für Marx mit der Philosophie eine Dimension universeller Wahrheit eröffnet, die ihre funktionale Bedingtheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft unendlich transzendiert. Die Philosophie, in deren Medium sich dieser Wahrheitsbezug eröffnet, verweist innerhalb der Marx’schen Argumentation auf die Hegel’sche.

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Die Hegel’sche Philosophie denkt das Wahre als das in der Idee prozessual sich konstituierende Ganze (vgl. Hegel 1970a: 24).16 Sie denkt Wahrheit damit als die in bestimmter Negation fortschreitende spekulative Prozedur der Aufhebung des jeweils positiv Bestehenden, das als solches, in der Verdinglichung seines endlichen Zustands, dem erst in der Zeit als Geist zu sich selbst kommenden Ganzen widerspricht (vgl. Hegel 1970a: 498)17 – und sie denkt diesen Prozess damit, sofern er die permanente Setzung von Neuem einschließt, als einen (kraft der spekulativen Form als solcher, die jedes einzelne Urteil in seiner Endlichkeit sprengt) konstitutiv revolutionären (vgl. Hegel 1970d: § 246 Zus.). Sie denkt diesen Prozess als Fortbestimmung des Begriffs und damit – denn für Hegel ist der »Begriff ... das Freie« (Hegel 1970c: § 160) – zugleich als »Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit« (Hegel 1970e: 32). Sie konzipiert damit Geschichte als Befreiung der generischen Menschheit aus partikularer Fremdbestimmung, als Kampf um Selbstbestimmung, als Emanzipation im Horizont universalisierender – und als solcher vernünftiger – Wahrheit (vgl. Fulda 1986). Philosophie kann für Hegel als Philosophie diesen Prozess der Verwirklichung des Unendlichen nicht anders denken als in dem – der Philosophie eigentümlichen – idealistischen Medium des spekulativen Begriffs. Der Entfaltung dieses Begriffs gibt Hegels (Begriffs-)Logik jenen Titel, den Marx und Engels nicht zufällig für den Kommunismus wählen: Das Reich der Freiheit (vgl. Hegel 1969: 251).18

16 Für Hegel gibt es – in einer Spannung zu Badiou – nur eine Wahrheit. Doch lässt sich gegen einen Monismus-Vorwurf betonen, dass sich diese Wahrheit unhintergehbar gerade nur in der realen Zerstreuung von (in ihrer konkreten Singularität je unvorhersehbaren und zufälligen) einen je neuen Subjektivierungsprozess ermöglichenden geschichtlichen Ereignissen verwirklicht, die hierbei als eine unendliche Pluralität anzunehmen ist. Im Prozess der Durchsetzung der Wahrheit in der Realität ergibt sich damit eine unabschließbare Mannigfaltigkeit angesichts je neuer Konstellationen je neue Subjekte generierender Ereignispunkte. Dass Hegels Konzeption der absoluten Idee mit einer solchen Subjekte-Pluralität durchaus kompatibel ist, gibt aus der Perspektive einer anderen Fragestellung zu bedenken Hösle 1998: 267. 17 Siehe zu diesem spekulativen Wahrheitsbegriff im Blick auf Hegels Gesamtsystem Holz 1997: 94 ff.; ferner, im Blick auf Hegels Logik, Theunissen 1980: 63 ff. 18 Das Allgemeine dieses das Reich der Notwendigkeit (wie man deuten kann: die Seinsund Wesenslogik) voraussetzenden Begriffs – Hegel spricht es, was seine politischethische Tragweite hervorhebt, als »die freie Liebe und schrankenlose Seligkeit« an – ist die »freie Macht«, die es selbst und sein Anderes gewaltlos »übergreift« (ebd.: 277). In diesem Verhältnis des Begriffs sind Allgemeines, Besonderes und Einzelnes

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Entsprechend deutet Hegel das – als solches in der vorrevolutionären Situation unvorhersehbare und aus der Perspektive des Bestehenden und seiner allmählichen Entwicklung wesentlich plötzlich, sprunghaft in sie einbrechende –19 Ereignis der Französischen Revolution paradigmatisch als jenen göttlichen Augenblick, mit dessen Zäsur sich in der Moderne die generische Wahrheit der Philosophie in das partikuläre Bestehende einschreibt und so im prägnanten Sinne zum gegenwärtigen Ort politischen Handelns wird: »Als sei es«, wie Hegel hierzu bemerkt, »zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.« (Hegel 1970e: 529)20 Im Ereignis der Französischen

immanent versöhnt. Es verdient in Bezug auf diese als spekulative Vermittlung von Einzelnem und Allgemeinem sich konstituierende Freiheit Beachtung, dass Marx und Engels im Manifest vom Kommunismus als von einer »Assoziation« sprechen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« (MEW 4: 482) 19 Vgl. Hegel 1970a: 18 f.: »Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt.« Dass Hegel diese jähe Diskontinuität dialektisch mit einer sie umgreifenden Kontinuität vermittelt (vgl. Holz 2005: 480 ff.), könnte als in Spannung mit Badious Ereignis-Begriff stehend gesehen werden, doch betont gerade auch Badiou das Moment der Kontinuität des radikal Neuen, wenn er es von jenem »spekulativen Linksdenken« absetzt, das sich – in der imaginären Annahme eines gänzlichen Neuanfangs – aller Bedingungen der Situation und alles Bisherigen entschlagen zu können wähnt; vgl. Badiou 2005a: 239; ferner Bosteels 2011: 273 ff. Zugleich sollte man bei Hegel das Moment radikaler Kontingenz – angesichts einer per se unvorhersehbaren politischen Konstellation – und die mit ihr intrinsisch verbundene anti-reformistische Struktur eines emanzipatorischen Ereignisses nicht übersehen; vgl. Losurdo 1990: 107. 20 Vgl. zu Hegels genuin metaphysischer Interpretation der Französischen Revolution Ritter 1965; Holz 1990. – Der von Hegel spekulativ gedachte Prozess lässt sich so interpretieren, dass er das bisherige Kontinuum der Geschichte vermittels eines von je aktuellen Ereignissen (prägnant: Revolutionen) markierten Sprungs durchbricht und so, kraft dieser ereignishaften Diskontinuität, eine neue Sequenz politischer Emanzipation, eine je neue Stufe der Realisierung generischer Wahrheit ins Werk setzt; vgl. hierzu Holz 1990: speziell 291 ff.; 2005: 474 ff.; ferner Lukács 1968a: 427. Was Hegel als »Weltgeschichte« denkt, zeichnet sich damit weniger durch eine kompakte Massivität als vielmehr durch eine Offenheit gegenüber dem unvorhersehbar Neuen emanzipatorischer Zäsuren aus, deren absolute Diskontinuität allein die je neu fortzuschreibende Kontinuität des Gesamtprozesses vermittelt. Die Temporalität dieses Pro-

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Revolution wird für Hegel die Philosophie, als begrifflicher Vollzug der Revolution, politisch – und, damit in eins, die Politik philosophisch: »Das Denken als die Tätigkeit ist somit das tätige Allgemeine, und zwar das sich betätigende, indem die Tat, das Hervorgebrachte, eben das Allgemeine ist.« (Hegel 1970c: § 20) Im Vollzug dieses Ereignisses wird Philosophie zum vernünftigen Willen der Revolution. Darin geht die Allgemeinheit ihrer Wahrheit wesentlich auf den Umsturz alles bloß natürlich Daseienden. Sie inkorporiert sich in der Revolution gegen die Partikularität des alten Zustands als die, wie Hegel sagt, »absolute Freiheit«: Im Akt der politischen Kämpfe dieser Revolution erhebt sich die »ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit ... auf den Thron der Welt, ohne dass irgendeine Macht ihr Widerstand zu leisten vermöchte.« (Hegel 1970a: 433) Der präskriptive Einbruch dieser generischen Wahrheit macht innerweltlich eine Instanz geltend, vor der alle partikulare Macht nichtig wird und alle Stände suspendiert werden. Sie ist, so Hegel, »reine Metaphysik, reiner Begriff oder Wissen des Selbstbewußtseins. ... Hiermit ist der Geist als absolute Freiheit vorhanden. ... Und zwar ist er reell allgemeiner Wille aller Einzelnen als solcher ..., so dass jeder immer ungeteilt alles tut und, was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewußte Tun eines Jeden ist. ... In dieser absoluten

zesses kann bei Hegel entsprechend als die logische Form retroaktiver Teleologie gelesen werden (vgl. Žižek 2016: 1251): Der das Kontinuum präskriptiv durchbrechende revolutionäre Sprung bewirkt rückwirkend die Vergangenheit, die zu seinem, aus der Perspektive des je Bestehenden, unmöglichen Ereignis hingeführt haben wird (vgl. zur emanzipatorischen Bedeutung dieser Zeitform des futurum exactum Badiou 2005a: 444-458; 551). Ähnlich wohl wie es Badiou vom Kommunismus sagt, lässt sich damit auch die Hegel’sche Idee einer generischen »Weltgeschichte« als eine philosophische Prozedur verstehen, deren narrative Textur das »seltene und kostbare Netz ephemerer Sequenzen von Politik als Wahrheit symbolisiert.« (Badiou 2012c: 22) Von hier aus ergäben sich schließlich sachliche Verbindungen zu dem, was Badiou als »generisch« denkt. Denn zumindest sind – bei allen wohl unversöhnbaren Spannungen zur aus Hegel’scher Perspektive freilich abzulehnenden mathematischen Begründung von Badious Ontologie – die hauptsächlichen Charakteristika der Badiou’schen Wahrheitsereignisse (vgl. Lucca 2015: 141) mit der Hegel’schen Struktur des spekulativen Prozesses nicht a priori inkompatibel: 1.) Der »indiscernible, unpredictable and aleatory character« der Wahrheitsereignisse; 2.) deren »infinitude«; 3.) deren »excrescence relative to the situation«; 4.) deren »situatedness«; 5.) deren »universality«. Vgl. zum hierfür aufschlussreichen Zusammenhang von »spekulativ« und »generisch« ferner Ruda 2017.

316 | G REGOR S CHÄFER Freiheit sind ... alle Stände ... getilgt; das einzelne Bewußtsein, das einem solchen Gliede angehörte und in ihm wollte und vollbrachte, hat seine Schranke aufgehoben; sein Zweck ist der allgemeine Zweck, seine Sprache das allgemeine Gesetz, sein Werk das allgemeine Werk.« (Ebd.: 431 ff.)

Der Akt der so gedachten Revolution markiert in der Moderne jenes politische Ereignis, mit dem sich in das Bestehende die universelle Dimension einer Wahrheit einschreibt, in deren (als enthusiastisch empfundener) Immanenz alle Menschen frei und gleich sind – in der Einzelnes und Allgemeines wahrhaft koinzidieren können. Die Philosophie wird so, als begriffliche Ausarbeitung, als Medium dieser generischen Wahrheit, zum Kopf der in der Revolution epochal sich verwirklichenden Emanzipation: »Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut.« (Hegel 1970e: 529)

5. V ON DER BÜRGERLICHEN G ESELLSCHAFT ZUR GENERISCHEN E MANZIPATION Allein, auf dem Kopf, dies Marx’ lapidarer Einwand hiergegen, kann man nicht gehen. Die Emanzipation muss, nach der bekannten Marx’schen Inversion dieser Metapher, vielmehr vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Die kritische Reflexion, welche die Philosophie gegenüber dem Bestehenden ist, bedarf, um sich ihrer Verkehrung innezuwerden, der metakritischen Selbstreflexion. Doch als diese kann sie in der nach-Hegel’schen Wirklichkeit nicht Philosophie bleiben. In ihr muss Theorie, als Theorie, zur Praxis werden. Spekulation muss sich – ohne dass sie indessen gerade hierbei »an Reinheit ... und Wahrheit etwas einbüßt« (Lukács 1968b: 57) – als reale Kraft, als Handlung vollziehen.21 Deshalb aber kann – um auf unseren Ausgang zu rekurrieren – auch die »theoretische Parthei«, die in der kritischen Philosophie selbst bereits den vollständigen Akt der Verwirklichung der Emanzipation ausmacht, nicht Recht behalten. Denn »sie bedachte nicht«, so macht Marx ihr zum Vorwurf, »daß die seitherige Philosophie selbst zu dieser Welt gehört und ihre, wenn auch ideelle

21 Wie Marx es in seiner Kommentierung des Übergangs von der absoluten Idee zur Natur deutlich macht, beginnt für ihn dieser Prozess an sich bereits in Hegels Logik selbst; vgl. MEGA2 I/2: 303.

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Ergänzung ist.« (MEGA2 I/2: 176) In der nachrevolutionären Realität der bürgerlichen Gesellschaft verkehrt sich die universelle Wahrheit, die im Augenblick der Revolution aufscheint, zur Partikularität: Der citoyen, der Repräsentant der Allgemeinheit, wird zum partikularen bourgeois. Die durch die Französische Revolution markierte Wahrheitspolitik aber muss so, in der Realität der durch ihre »heroische Illusion«22 verwirklichten Gesellschaft angekommen, letztlich zum bloß ideologischen Schein werden. Sie bleibt eine »nur politische Revolution, ... welche die Pfeiler des Hauses stehen läßt« – sie wird nicht zur »radicalen«, nicht zur wahrhaft »allgemein menschlichen Emancipation« (ebd.: 179). So aber wird mit ihrem Akt die politisch revolutionäre Klasse nur als partikulare Stellung zum Allgemeinen erhoben: nämlich als Repräsentation einer Klasse, die – wie Marx sagt – »Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann« (ebd.). Da indes die bürgerliche Gesellschaft strukturell notwendig gerade eine solche ist, in der nicht jede/-r Beliebige »Geld und Bildung besitzt oder beliebig erwerben kann«, ist die in ihr instanziierte Wahrheitspolitik zuletzt keine generische: Sie schließt, indem sie an bestimmte Prädikate gebunden ist, nicht alle ein, sondern bleibt – selbstwidersprüchlich – eine partikularistische.23

22 Vgl. zur Tragweite dieses Begriffs Kossok 1988; Žižek 2016: 70 f., 522 ff. – Indem Marx sagt, dass eine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft diese Illusion nicht verkörpern könne, »ohne ein Moment des Enthusiasmus in sich und in der Masse hervorzurufen, ... ein Moment, worin ihre Ansprüche und Rechte in Wahrheit die Ansprüche und Rechte der Gesellschaft selbst sind« (MEGA2 I/2: 179 f.), akzentuiert er hierbei zugleich das Wahrheitsmoment dieser Illusion: In der Französischen Revolution scheint eine universelle Wahrheit auf, die in dieser Revolution bereits die kommende antizipiert (weshalb für Marx die Französische Revolution und ihre Helden Robespierre und Saint-Just in ihrem Scheitern wahrhaft tragisch sind). 23 Hegels weiterem Weg, im Ausgang dieser Aporie eines Auseinanderfallens von Allgemeinem und Besonderem, von Universalität und Partikularität den dem Anspruch nach – nunmehr – vernünftigen Staat als Sphäre wahrer Freiheit und Gleichheit, als Wirklichkeit der sittlichen Idee (vgl. Hegel 1970b: §§ 257-360) zu konstruieren, ist nicht Thema der vorliegenden Ausführungen. Auf diese philosophische Konstruktion des Staates, auf Hegels, wenn man so will, spekulative etatistische Wahrheitspolitik, bezieht sich in prägnanter Weise Marx’ Kritik an Hegels Staatsrecht überhaupt.

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6. D AS P ROLETARIAT

ALS

S UBJEKT

DER

W AHRHEIT

Im Ausgang der nachrevolutionären Realität kann der Gang der Argumentation damit zum Begriff des Proletariats als des Subjekts einer über diese Realität hinausweisenden Wahrheitspolitik führen. Das Proletariat bestimmt Marx als die Verkörperung »einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, ... einer Sphäre endlich, welche sich nicht emancipiren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emancipiren .... Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat. ... Wenn das Proletariat die Auflösung der bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimniß seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung.« (MEGA2 I/2: 181 f.)

Als diese paradoxe Klasse ist das Proletariat in der bürgerlichen Gesellschaft die einzige Klasse, die in einen intrinsischen Bezug zur Dimension universeller Wahrheit treten kann. Was die Philosophie im Element des Gedankens ist – das generische Allgemeine als die Abstraktion von allen partikularen Identitäten –, vollzieht das Proletariat als Subjektform: einen Universalismus, im Vollzug von dessen Wahrheitspolitik – wie Marx es im kritischen Blick auf das (über Freiheit hinausgehende) Ideal der Gleichheit sagt, welches die Französische Revolution mit auf ihre Fahne schreibt – »die Brüderlichkeit der Menschen ... keine Phrase, sondern Wahrheit« (ebd.: 289) wird. Das Proletariat verkörpert so die Suspension der Klassengesellschaft als der Herrschaft des Partikularen über das Allgemeine – und damit zugleich seine Selbstaufhebung als partikulare Klasse. Indem es sich nicht darauf beschränkt, eine partikulare Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, sondern als Nichtoder Un-Klasse deren und, sofern es selbst unmittelbar eine partikulare Klasse ist, seine eigene »akute Auflösung« (ebd.: 182) vollzieht, kann erst das Proletariat die Philosophie verwirklichen. In der universalen Form seiner – wie Marx dies in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten entwickelt – gattungsmäßigen »Selbstbethätigung«, mithin als der Prozess der Selbstaufhebung seiner eigenen Partikularität, ist es die Negativität des generischen Allgemeinen als Affirmation, als »wahrhaft ontologische Wesens...bejahung...« (ebd.: 318; vgl. dazu Ruda 2010: 287 ff.). Entsprechend resümiert Marx: »Die Philosophie kann

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sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie«. (Ebd.: 183) Oder metaphorisch: »Der Kopf dieser Emancipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat.« (Ebd.) Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, die den Menschen durch sein Eigentum bestimmt, verwirklicht das Proletariat in seinem faktischen Vollzug die »Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand«. Damit markiert das Proletariat eine Stätte »absoluter Armuth« (ebd.: 269), eine Sphäre struktureller Bestimmungslosigkeit. Es gibt keine positive Substanz, die sein Wesen bestimmen würde. Es ist als das Sichtbarwerden dieser Leere, wie Marx es im Zusammenhang mit dem Begriff der Entfremdung ausdrückt, in notwendiger, ihm inhärenter Entfremdung, als der »völlige Verlust des Menschen« (ebd.: 182), ein »Unwesen« (ebd.: 258). Und weil es innerhalb der Gesellschaft das Subjekt eines absoluten Mangels an prädikativer Bestimmung ist, eröffnet sich mit ihm – als der generischen »Universalität des Menschen« (ebd.: 240) – eine radikal universale Dimension: Die »universale Singularität des Proletariats ... besteht darin, kein Prädikat zu tragen.« (Badiou 2006: 84) Die vom Proletariat als Subjektpunkt verkörperte Universalität beruht gerade darauf, dass es innerhalb der Ordnung des Bestehenden konstitutiv keinen Platz hat.

7. Z UR U NTERSCHEIDUNG VON P ROLETARIAT UND ARBEITERKLASSE Es macht im Hinblick auf diese »anti-prädikative ... und universale Konzeption« (ebd.) des Proletariats sogleich Sinn – wie es in der nach-Marx’schen Diskussion insbesondere von Lukács artikuliert wurde (vgl. Lukács 1968a: 218 ff.) und wie es heute neben Badiou etwa auch Giorgio Agamben einfordert –, zwischen Proletariat und Arbeiterklasse zu unterscheiden. Demnach handelt es sich bei der Arbeiterklasse als mit sozialen Prädikaten ausgestatteter »Klasse der Arbeiter« um ein Objekt der Gesellschaft und ihres klassifizierenden, einzelwissenschaftlichen Wissens (allenfalls auch eines ›marxistischen‹ Wissens): Im Rahmen dieser epistéme fällt diese Klasse, mit Badiou zu sprechen, »unter eine Determinante der (soziologischen oder ökonomischen) Enzyklopädie« (Badiou 2005a: 376). Eine Politik, die sich auf diese ontische Ebene reduziert, kann nur eine solche sein, welche die Arbeiterklasse in ihrer partikularen Identität konserviert, indem sie für sie bestimmte »Rechte und Vorrechte« (Agamben 2006: 42) beansprucht – und in ihr, mit Marx, nach dem zitierten Passus nicht das »Unrecht schlechthin« erblickt. Die Arbeiterklasse gibt es auf der Ebene empirischer

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Faktizität. Als solche ist sie eine nur »vorgebliche Wahrheit«, eine verifizieroder falsifizierbare, der »Sprache der Situation unterworfene« und damit »widerrufbare« Entität (Badiou 2005a: 376). Damit exponiert sie sich dem berühmten »Dies ist überholt« (ebd.). Dagegen markiert das Proletariat in der Ordnung des Bestehenden die Intervention einer absoluten Leere: Es ist das, was es nicht gibt – und daher unbedingt. Aus der Perspektive emanzipatorischer Wahrheitspolitik ist das Proletariat als die Subjektivierung des Prozesses dieser Politik – Lukács spricht hierbei, in Anlehnung an Hegel, vom Proletariat einmal als vom »Wahren als Subjekt« (Lukács 1968a: 212) – nicht einfach gegeben. Als das, was es nicht gibt, als Nicht-Klasse unterminiert es vielmehr gerade jene sozialen Regeln, die darüber befinden, was es in der Gesellschaft gibt und was in ihr klassifiziert werden kann. Zwar hat das Proletariat im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft als auf die Bedingung seiner Emergenz – mit Badiou zu sprechen: als auf die Ereignisstätte seines Ereignisses – strukturell einen (notwendigen) Bezug auf die Arbeiterklasse. Es konstituiert sich, vor dem Hintergrund der ökonomischen Struktur, in der Aktualität je konkreter singulärer Konjunkturen.24 Es steht in einer – materiellen – Beziehung zur Arbeiterklasse als zur Stätte der vom ökonomischen Prozess »künstlich producirten Armuth« (MEGA2 I/2: 182). Doch ist es auf diese Bedingungen nicht reduzibel. Die Aktualität eines emanzipatorischen Ereignisses lässt sich nicht auf präexistente Möglichkeiten reduzieren: Es setzt sich in seinem Vollzug vielmehr seine eigenen Voraussetzungen, indem erst seine Intervention diese Voraussetzungen sichtbar macht.25 Verhielte sich das Proletariat dagegen zu dieser Stätte – mit Agamben zu sprechen – als zu seiner »eigentlichen und substantiellen Identität« und nicht im porösen Modus »strategischer Identifizierung«, so hätte es die ihm von Marx zugesprochene »revolutionäre Berufung« (Agamben 2006: 42) immer schon verloren. Weder die Erkenntnis der »Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft, noch ihres Kampfs unter sich« (MEGA2 III/5: 76) wäre, so Marx in

24 Michael Löwy analysiert dies in Bezug auf die Revolutionstheorie des jungen Marx als eine Verschränkung von (ökonomischer) Struktur und (politischer) Konjunktur; vgl. Löwy 1970: 14. 25 Für diese – bereits in Lenins und Lukács’ klassischem Paradigma der Oktoberrevolution wirksame – retroaktive Logik schlägt Badious ontologisches Konzept der Ereignisstätte, die erst von der Aktualität eines Ereignisses aus eine solche gewesen sein wird, eine Formalisierung vor; vgl. dazu Badiou 2005a: 199 ff.; 2010a: 387-405; 2010b: 74.

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seinem Brief an Joseph Weydemeyer vom 5. März 1852, per se, als (propositionale) Erkenntnis eines Faktums, noch keine irgendwie revolutionäre Erkenntnis. Ihr kritisches Potential gewinnt diese Erkenntnis erst aus und in der (performativen) Perspektive einer die Ebene deskriptiver Erkenntnis transzendierenden emanzipatorischen Wahrheitspolitik.26 Im Vollzug dieser Politik zeigt sich damit zugleich, dass es in Wahrheit keinen ›neutralen‹ Standpunkt, der sich auf ›objektive Tatsachen‹ beziehen könnte, gibt – ohne dass dies im Rahmen dieser Logik allerdings einfach zur Position eines Dezisionismus führt.27 Subjekt und Objekt zeigen sich im Lichte dieser universalistischen Wahrheitspolitik vielmehr als performativ immer schon ineinander verknotet. Man kann entsprechend sagen: Erst indem sich das Proletariat, in seinem subjektiven Einsatz, ereignet, macht es die Arbeiterklasse – in einem für die Reflexivität dieses performativen Modus konstitutiven retroaktiven Zirkel – zur Bedingung, die zur Möglichkeit seiner Emergenz als Subjekt hingeführt haben wird.

8. D IE E NTSCHEIDUNG

ZUM REVOLUTIONÄREN

S PRUNG

Lukács macht diesen Zusammenhang am Paradigma eines revolutionären Augenblicks deutlich: Es gibt hier, so betont er, nie einen Punkt, an dem die ›Tatsachen‹ eine emanzipatorische Politik stützen könnten. Gemessen am Maßstab performativer Tathandlung erweisen sich alle ›Tatsachen‹ vielmehr als immer schon

26 Für Marx impliziert diese wahrheitspolitische Perspektivierung (vgl. ebd.) notwendig den Horizont der Errichtung einer »Diktatur des Proletariats« und damit einer »Aufhebung aller Klassen« in einer »klassenlosen Gesellschaft«. Vgl. hierzu auch Lukács 1968b: 47. 27 Obgleich der von Dominik Finkelde gemachte Hinweis eines sachlichen Bezugs auf das Fichte’sche Subjekt der Tathandlung – wie er für Lukács auf der Hand liegt – im Blick auf Badious Ereignis- und Subjekt-Begriff mit Gewinn aufzunehmen ist, scheint mir dessen Dezisionismus-Vorwurf gegenüber Badiou nicht gerechtfertigt (vgl. Finkelde 2007: 19-39): Die Wahrheit des von Badiou gedachten Ereignisses muss sich, von Anfang an, durch ihren unbedingt generischen Charakter, ihre Universalisierbarkeit auszeichnen, ohne welche Eigenschaften sie auf keinen Fall ein authentisches emanzipatorisches Ereignis seinen Anfang nehmen lassen kann (vgl. etwa Badiou 2014a: 69-74).

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gesetzt – und löst sich so ihre verdinglichte Gegenständlichkeitsform auf.28 Es ist erst der Vollzug dieser Tathandlung als einer absolut »– freien – Tat« (Lukács 1968a: 397) selbst, deren unhintergehbar parteiergreifender Einsatz aus einer strukturellen Leere heraus – denn sie hat ihren Halt nur in sich selbst, für sie kann es »keine ›materielle‹ Gewähr« (ebd.: 216) geben – darüber entscheidet, ob ein wahrhaft kritischer, einen revolutionären Akt ermöglichender Augenblick vorgelegen haben wird. Hierzu heißt es bei Lukács: »Denn die Entscheidung steht vor der Tatsache. ... Eine Situation, in der die ›Tatsachen‹ unzweifelhaft und unmissverständlich auf die Revolution hinweisen werden, wird niemals eintreten. Vergebens prüfen sie alle ›Angaben‹ ›gewissenhaft‹. Ein Teil der Angaben wird immer Angst erzeugen, und wer könnte feststellen, wann es sozusagen risikolos ›gewissenhaften‹ Menschen erlaubt sei, eine Revolution vom Zaune zu brechen?« (Lukács 1968b: 69)

Der Akt dieser Entscheidung forciert gegenüber der »Eigengesetzlichkeit« der ökonomischen Ordnung eine Lücke: einen »toten Punkt«, einen »Intermittierungspunkt...« (Lukács 1968a: 421). Dieser Punkt zeigt sich erst im Akt der Entscheidung – in jenem Akt, in dessen Vollzug sich das Proletariat performativ zum »Subjekt der Entscheidung« (ebd.) macht – selbst. Es ist erst die Perspektive, der »Augenpunkt« (ebd.: 224) des Proletariats, der die vom objektiven Prozess naturwüchsig produzierten Krisen zum Punkt einer wirklichen krísis – d.h., im Wortsinne, zu einem eine Entscheidung aufdrängenden revolutionären Augenblick – intensiviert. Augenblick – als singulärer kairós, als zu ergreifende, in ihrem Versäumnis »vielleicht unwiederbringliche« Gelegenheit (Lukács 1968a: 502) – und proletarischer Augenpunkt sind in dieser Konstellation ineinander verknotet. Im Sprung zu diesem Augenblick selbst erst erspringt sich das Proletariat als das Subjekt des von diesem Augenblick markierten Ereignisses. Für diesen Sprung aber kann es eben deshalb, gemessen am ökonomisch-historischen Prozess und seiner Zeitlichkeit, notwendig keine externen objektiven Garantien oder Kriterien geben. Denn dieser Sprung eröffnet gegenüber der Zeitlichkeit des ökonomisch-historischen Prozesses – »an der Scheide zweier Zeiten« (ebd.: 413) – vielmehr gerade etwas »qualitativ Neues« (ebd.: 427). Dieser Sprung ist daher, innerhalb der Struktur des Bestehenden, notwendig ein Sprung

28 Vgl. zu dieser Fichte’schen Terminologie Lukács 1968a: 327. Aus der Struktur dieser Tathandlung heraus entfaltet Fichte sein Denken der Französischen Revolution; vgl. Buhr 1965.

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ins Leere: Er ist »– seiner Intention und seinem Grund nach – im Reich der Freiheit beheimatet« (ebd.: 427 f.).

9. D IE G UNST DES AUGENBLICKS DES K OMMUNISMUS

UND DIE

W AHRHEIT

Einerseits subjektiviert sich das Proletariat somit aus der Immanenz der Gesellschaft heraus. Das Proletariat kann nur das »von der geschichtlichen Dialektik zur Entscheidung Gedrängte ins Leben rufen« (ebd.: 362). Das Werden des Proletariats steht mit der von der Ordnung ökonomischer Produktion notwendig produzierten Arbeiterklasse in einem materiellen Bezug. Das Ereignis der Subjekt-Werdung des Proletariats ist – »as far as its material is concerned« – »not a miracle«: Denn »what composes an event is always extracted from a situation, always related back to a singular multiplicity, to its state, to the language connected to it.« (Badiou 2004: 43) Zugleich und in eins aber lässt sich das Proletariat andrerseits auch nicht als spontanes Produkt dieser Ordnung denken. Es vollzieht gegenüber dem Formlosen der in ihr als politisches Subjekt inexistenten Arbeiterklasse den – allesentscheidenden, denn zuletzt ist »die Universalität eine Frage der Form« (Badiou 2010b: 117) – Akt einer Formalisierung.29 Diese Formalisierung verwirklicht nicht eine präexistente Möglichkeit, sondern erzwingt gegenüber der Situation eine »immanente Ausnahme« (Badiou 2014a: 90): die Ausnahme eines in dieser Ordnung Unmöglichen. Sie ermöglicht etwas, das sich vom Gesetz der Situation und dem »Transzendental« seiner internen Regeln (Badiou 2010b: 72), die bestimmen, was in dieser Situation möglich und unmöglich ist, subtrahiert: etwas, das sich nicht in Einklang mit diesem Gesetz, sondern trotz der dem Gesetz subsumierten Faktizität ereignet. Diese Unmöglichkeit des Ereignisses verdankt sich – bei Gelegenheit je singulärer Konjunkturen – einer das Gesetz der Situation durchbrechenden »ereignishaften Gnade«

29 Von der Figur der im Sinne emanzipatorischer Wahrheitspolitik authentischen Marxistin lässt sich entsprechend sagen, dass sie, »stets neu und unvorhersehbar, dem Formlosen einer gegebenen Situation eine Form« gibt (Ruda 2009: 242). Im Prozess der Einschreibung dieser Form in eine Situation – der Form, die innerhalb des Lebens der Situation »der einzige Weg des Absoluten« ist (Lukács 1971: 44) – bewährt sich die Universalität emanzipatorischer Wahrheit in je wieder neuen singulären Konstellationen.

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(Badiou 2002: 125).30 Was unter dem »Transzendental« der Situation unmöglich ist, konvertiert sich im Ereignis – wenn man so will: als in einem wenn nicht materialiter, so doch formaliter sich ereignenden ›Wunder‹ – zu etwas Möglichem.31 Sofern es, im Vollzug seines Einsatzes, der Gnade dieses Ereignisses folgt, befreit sich das Subjekt in der Öffnung dieser Gnade von den – scheinbar unverrückbaren – Gesetzen der Situation und der Verdinglichung der Faktizität, die es, als Arbeiterklasse, an die Ordnung dieser Situation und ihres Staates banden. Angesichts des »konkreten Hier und Jetzt« (Lukács 1968a: 392) der Gnade dieses Ereignisses lösen sich die »die starren, dinghaften Faktizitäten« (ebd.: 391) der Situation auf – und zeigt sich jene »wahre Wirklichkeit«, in der für den Menschen »die Gegenwart, die Gegenwart als Werden, zu seiner Gegenwart« (ebd.: 392) wird. Die »Gunst« (ebd.: 502) dieses Augenblicks wird für den in ihm handelnden Menschen zum »Moment der Entscheidung«, zum »Moment der Geburt des Neuen« (ebd.: 392). Und nur wer an diesem Augenblick, als an einer »Verknüpfung der Singularität mit der Universalität« (Badiou 2002: 45), partizipiert, »kann die konkrete Wahrheit der Gegenwart sehen« (Lukács 1968a: 392). Dieser Augenblick ist nicht einfach objektiv gegeben: Das Subjekt muss die Kontingenz seiner Gunst vielmehr handelnd ergreifen – ein Vollzug, in dem es, sich selbst vorgängig, allererst zum Subjekt wird.32 In den Wahrheitsprozess dieses Ereignisses ist damit die Perspektive des handelnden Subjekts inhärent eingeschrieben. Die in diesem Ereignis politisch sich eröffnende »Universalität des Wahren« (Badiou 2002: 125) gibt es nicht aus einer unbeteiligten beobachtenden Perspektive. Erst der Vollzug einer Subjektivierung repräsentiert in der Ordnung des Bestehenden jene Lücke, in der ein wahrhaft politischer Akt statthaben kann.

30 In seiner Interpretation des Universalismus des Apostel Paulus postuliert Badiou die Begründung eines »Materialismus der Gnade« (Badiou 2002: 125). Durch einen Begriff von »Gnade« soll die »einfache und starke Idee« geltend gemacht werden, »dass jedes Dasein irgendeinmal von dem, was ihm geschieht, durchdrungen werden und sich daraufhin dem widmen kann, was für alle gilt.« (Ebd.) 31 In Bezug auf die ethische Tragweite dieses ›Wunders‹ ließe sich von hier aus ein werkgeschichtlicher Zusammenhang zum vormarxistischen Lukács herstellen. Im Zusammenhang u.a. mit Kierkegaards Figur des religiösen Opfers entwickelt der junge Lukács den revolutionären Typus der »guten Menschen« – jener revolutionären »Gnostiker der Tat«, in deren Tat, wie in derjenigen des revolutionären Proletariats, »Objekt und Subjekt zusammenfallen«. Von ihnen sagt er: »Dass diese Unmöglichkeit zur Tat wird ... – das ist das Wunder der Gnade.« (Lukács 1912: 78) 32 Vgl. zur Figur dieser Vorgängigkeit des Subjekts vor sich selbst Badiou 2014b: 187 ff.

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Dieser Akt aber kann sich deshalb in einer selbstreferentiellen Schleife nur auf seinen eigenen Vollzug, auf die von seiner immanenten Ausnahme forcierte generische Wahrheit beziehen.33 Im Akt seiner Subjektivierung erschließt sich für das Proletariat so eine Öffnung auf die Dimension einer seine Situation in der Gesellschaft unendlich übersteigenden Wahrheit: auf eine Wahrheit, deren politischer Name Kommunismus ist. Die oben, im Zusammenhang mit den Termini spekulativ und generisch angedeutete Prozessualität könnte sich hierfür als aufschlussreich herausstellen: Kommunismus denken Marx und Engels interessanterweise gerade auch noch in der Phase ihres Denkens, wo sie sich von Hegels Konzept der »Idee« (scheinbar) am stärksten abwenden, weder als einen Zustand (status, état) noch als ein regulatives normatives Programm. Er findet in der 1845/1846 verfassten Deutschen Ideologie – bei expliziter Kritik an Hegel und an Philosophie überhaupt in struktureller Nähe zu dem stehend, was dieser als die Wirklichkeit der »Idee« denkt – seine Bestimmung vielmehr als Bewegung einer »Aufhebung«, als in sich Immanenz und Transzendenz verschränkende generische Äußerungsform des Proletariats: nicht als »ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird«, sondern als »die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.« (MEW 3: 35) Die in diesen Prozess – im Sinne der vorliegenden Überlegungen – eingeschriebene Wahrheitspolitik hat Gleichheit nicht zu einem ihr äußerlichen Ziel. Als performative »Verwirklichung der Philosophie« ist diese Wahrheitspolitik – abermals im kritischen Blick auf das Gleichheitsideal der Französischen Revolution – die Gleichheit, »als Grund des Communismus« (MEGA2 I/2: 286), in actu: als »wirkliche communistische Aktion« (ebd.: 289). Mit Badiou kann man diesen performativen Vollzug einer Politik emanzipatorischer Egalität, im Gegensatz zu einer programmatischen Politik, eine präskriptive Politik nennen: Für diese Wahrheitspolitik ist Gerechtigkeit kein externes Ideal – im subjektivierenden Vollzug ihrer immanenten Idee »ist man in der Gerechtigkeit« (Badiou 2003: 111).34

33 Daraus folgt, dass »a revolutionary theory is ultimately (also) its own meta-theory.« (Žižek 2000: 174) 34 »Gerechtigkeit« ist für Badiou im Rahmen einer egalitären Wahrheitspolitik damit »kein Begriff, dessen mehr oder weniger approximative Verwirklichung man in der empirischen Welt zu suchen hätte. Aufgefaßt als Operator für die Erfassung einer egalitären Politik, was dasselbe ist wie einer wahren Politik, markiert die Gerechtigkeit eine effektive, axiomatische, unmittelbare subjektive Figur.« (Badiou 2003: 112) Eine weitergehende Ausführung hätte hier systematisch näher auf den – für Hegel

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In der Subjektform des Proletariats inkorporiert sich in der Gesellschaft damit, als das Ereignis des Einbruchs einer universellen Dimension in sie, die mit dem strukturellen Partikularismus dieser Gesellschaft verstellte Wahrheitspolitik einer generischen, einer wahrhaft kommunistischen Adressierung. Diese Adressierung zeichnet sich durch eine »Dimension der Universalität« aus, »die für jeden Beliebigen da ist« (Ruda 2010: 285). Sie richtet sich nunmehr – in Suspension aller partikularen Bedingungen – prinzipiell und schrankenlos an alle. Oder vielmehr: In ihrer transhistorischen Universalität wird sie sich vom Augenblick ihres Ereignisses an – wie Marx es vom Proletariat sagt, in einem »salto mortale nicht nur über seine eignen Schranken ..., sondern zugleich über die Schranken der modernen Völker hinweg...« (MEGA2 I/2: 178) – immer schon an alle gerichtet haben.

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1997): »Drei Studien zu Hegel«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5 (hrsg. v. Rolf Tiedemann), Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 247-380. Agamben, Giorgio (2006): Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag. Arndt, Andreas (1994): Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg: Felix Meiner Verlag. Badiou, Alain (1985): Peut-on penser la politique?, Paris: Seuil. Badiou, Alain (2002): Paulus. Die Begründung des Universalismus, München: Sequenzia. Badiou, Alain (2003): Über Metapolitik, Berlin/Zürich: Diaphanes. Badiou, Alain (2004): »The Event as Trans-Being«, in: Ders., Theoretical Writings, London/New York: Continuum, S. 97-102. Badiou, Alain (2005a): Das Sein und das Ereignis, Berlin: Diaphanes.

zentralen – Unterschied zwischen Idee und Ideal einzugehen. Bei allen Differenzen des auch für Badiou fundamentalen Terminus »Idee« zum Hegel’schen Verständnis besteht ein gemeinsamer Aspekt darin, die transzendente/transzendierende metaphysische Dimension der Idee im Gegensatz sowohl zu ihrer Außerweltlichkeit bei Platon als auch zu ihrer Restriktion auf einen bloß regulativen Gebrauch bei Kant als konstitutiv, mithin als auf emphatische Weise innerweltlich gegenwärtig, als wirklich zu denken.

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Parteilichkeit der Theorie Zu Politik und Geltung der Wahrheit bei Marx A LEX D EMIROVIĆ

Theorien entstehen immer im Handgemenge. Auch wenn sie einen Anspruch auf Objektivität oder Universalismus erheben, also unparteiisch oder unparteilich sein wollen, wird sofort deutlich, dass die Theorie in eine polemische Dynamik eingebettet ist. Denn Objektivität und Universalismus sind mehr oder weniger ausdrücklich formulierte Geltungsansprüche, die eine Theorie erhebt und erheben muss. Doch die Theorie selbst ist immer konkret, sie wird von konkreten Personen ausgearbeitet und vertreten, die Theorie nimmt die Form von Vorträgen oder Texten an, die in bestimmten Zeitschriften oder bei bestimmten Verlagen publiziert und in konkreten Kontexten rezipiert werden. Die Theorie wird unterstützt von wissenschaftlichen Einrichtungen, also von institutionalisierten Konventionen der Wissensvermittlung und der paradigmatischen Argumentation, der Beweisführung und Überprüfung. In diesem Kontext wird der Anspruch auf Universalität nicht nur anerkannt, sondern durch die Mobilisierung von Ressourcen und die Ausrichtung von Forschung und Lehre begünstigt. Erst dann, vor allem aber dann, wenn sich auf der Grundlage theoretischer Einsicht und der Nutzung von Techniken sowie der Verallgemeinerung der Begriffe kollektive Praktiken und Gewohnheiten herausbilden, übersetzt sich der Anspruch auf Universalität in Wirklichkeit. Den Anspruch auf Objektivität und Universalität zu stellen, bedeutet, sich gegen Irrtümer zu wenden, aber mehr noch auch gegen Motivlagen und Erkenntnisprozesse, die dazu beitragen, solche Irrtümer zu vertreten, also gegen partikularistische Sichtweisen, die von einer spezifischen Forschungsorganisation oder von Konventionen unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern getragen werden. Die Theorie, die Wahrheit, die Universalität werden dem Streit und Konflikt, den Hindernissen, Tabus, Sanktionen abgerungen. Obwohl die Theorie zunächst parteiisch ist, kann der Anspruch auf Universalismus aber auch

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als die Bemühung verstanden werden, die Theorie dem Konflikt zu entziehen, um einen übergeordneten Standpunkt allgemeinerer Einsicht zu erreichen, der virtuell auch die Gegner/-innen in ihren Überzeugungen schwächen, sie vielleicht gewinnen und den Konflikt überwinden könnte. Ein solcher Versuch kann eine prätentiöse Taktik sein, die sich der Form der Theorie lediglich äußerlich bedient, doch wird damit ein Maßstab gesetzt. Denn am Ende muss die universalistische Theorie nicht nur bessere Argumente als die gegnerischen und konfligierenden Theorien bieten – und was ein besseres Argument ist, ist ja selbst umstritten -, sondern auch noch erklären, warum es die unterschiedlichen und gegensätzlichen Theorien, Perspektiven oder Deutungen gibt, warum so viele Menschen falschen Ansichten anhängen und sich von dem, was doch die objektive Wahrheit ist, nicht überzeugen lassen. Aus dem Dilemma der eigenen, historisch bestimmten, kontextbezogenen Argumentation führt ein solcher Anspruch auf universalistische Theorie nicht heraus. Auch eine solche Theorie hat ihre Gegner/-innen: die aus dem Blickwinkel der universalistischen Theorie dann als partikularistisch, als irrationalistisch, als postmodern, als nihilistisch beschrieben werden können, die aber durchaus soweit im Recht sind, als sie durch ihre bloße Existenz demonstrieren, dass die universalistische Theorie nicht universalistisch ist, sondern einen Anspruch erhebt, den sie theorie- und wahrheitspolitisch durchsetzen muss. Für einen solchen Kampf zur Durchsetzung ihrer Wahrheit hat eine solche Theorie dann allerdings keine Theorie mehr, da sie zugunsten ihres eigenen Universalismus voreingenommen ist und glauben kann, es ginge allein um die Wahrheit und das richtige Argument. Doch der Universalismus muss sich selbst als ein Universalismus ständig erklären, und dies geschieht in immer neuen, sich verändernden Kontexten. Diese Logik des Aufschubs verändert aber den Universalismus, der sich allein in konkreten Konstellationen von Dialogen, Polemiken, Konflikten entfalten, diese Dynamik jedoch nicht in sein Selbstverständnis hineinnehmen kann. Damit dezentrieren sich Objektivität und Universalismus, sie sind nicht allein die Kriterien für die Geltung einer Theorie, sondern diese stellt in einer konfliktreichen Konstellation nur eine Position unter vielen anderen dar, auch wenn sie das aufgrund ihrer in Anspruch genommenen Redeposition unwürdig finden mag. Theorien sind also realistischer, wenn sie den Aspekt, dass sie sich im Handgemenge befinden, als ein Moment in ihr Selbstverständnis aufnehmen; gleichzeitig können sie wiederum auch nicht anders als sich selbst wenigstens im Ansatz als universalistisch zu begreifen, da sie ansonsten sich ihrem Selbstverständnis nach in ihrer Genese auflösen würden. Wenn Theorien sich immer in einer Art von Handgemenge befinden und in Konflikten überhaupt erst ihre Fragen, ihre Art des Argumentierens, ihre Begriffe, ihre institutionellen Strategien entwickeln, dann stellt sich die Frage, in welcher

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besonderen Weise die Marxʼsche Theorie mit diesem Widerspruch umgeht: explizit mit Konflikten verbunden oder, stärker noch, selbst aktive Konfliktpartei zu sein, die Dynamik des Konflikts der Erkenntnis selbst zugrunde zu legen und gleichwohl den Anspruch auf Wahrheit, also Allgemeinverbindlichkeit zu erheben. Dieser Widerspruch ist zudem umso ausgeprägter, als Marx seine Theorie nicht in einem institutionalisierten wissenschaftlich-universitären Kontext ausarbeitet, in einem Kontext also, der die Vermutung auf Leidenschaftslosigkeit, Unparteilichkeit und Allgemeinheit für sich in Anspruch nimmt, sondern vielmehr ausdrücklich als Parteigänger der kommunistischen Sache auftritt. Wenn das Wissen um den Konflikt und das Handgemenge für die Theorie relevant ist, dann auch die Frage um die Art des Handgemenges. In der Geschichte des Marxismus und der kritischen Theorie wurde das häufig sehr allgemein und selbst noch philosophiegeschichtlich bestimmt als Gegensatz zwischen Idealismus und Spiritualismus auf der einen, Realismus und Materialismus auf der anderen Seite. Die Marxʼsche Theorie wurde als materialistische Theorie verstanden. Dies legt den vordergründigen Schluss nahe, dass es Marx um vermeintlich schlichte Sachverhalte wie die Selbsterhaltung des Menschen durch die Arbeit und die Ökonomie gegangen sei. Eine solche simple, allerdings verbreitete ökonomistische Auffassung von Materialismus, die in ihm nur eine Umkehrung der klassischen Philosophie sieht, wurde im Anschluss an Marx immer wieder zurückgewiesen. So betonte Max Horkheimer in seinen in den 1930er Jahren verfassten Texten, dass der Marxʼsche Materialismus eine grundsätzliche Haltung zur Welt infrage stelle. Die Theorie und das individuelle Verhalten hänge demnach nicht von einer allgemeinen These über die Gesamtbeschaffenheit der Welt, von letzten Gründen, einem Absoluten oder einer tiefliegenden Norm ab wie in der Tradition der Metaphysik. Materialismus verweise auf eine ganze Reihe von Gedanken und praktischen Verhaltensweisen und sprenge die einheitliche und identifizierende Struktur der Theorie. Denn Erkenntnis sei Moment eines umfassenden, Natur und Zusammenleben gestaltenden und verändernden Prozesses. »Für die meisten nicht-materialistischen Richtungen werden die Einsichten um so bedeutsamer und folgenschwerer, je allgemeiner, umfassender, abschließender, prinzipieller sie sind; für die Materialisten gilt zwar nicht das genaue Gegenteil […], sondern der Grad, in dem allgemein Gesichtspunkte für eine Handlung ausschlaggebend werden, hängt jeweils von der konkreten Situation des Handelnden ab.« (Horkheimer 1988: 79)

So verstanden gehört es zum materialistischen Verständnis, sich für den vollziehenden Prozess der Erkenntnis und Theoriebildung gerade die konkreten Kon-

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flikte genau anzusehen, in denen sie sich herausbildet (vgl. Bohlender 2008). Damit rücken die intellektuellen und politischen Debatten in ihrer Breite in den Blick. Allerdings legt dieses agonal-genetische Verständnis von Erkenntnis und Theorie sofort die Frage nach der Geltung der Theorie und Wahrheit nahe. Denn wie vermag theoretische Einsicht, die sich aus einem Konflikt in einer konkreten Situation ergibt, oder eine Kritik an Autoren und Autorinnen und ihren Theorien in einer bestimmten historischen Konstellation Geltung auch noch für andere Situationen besitzen? Zu eng gebunden erscheinen die Überlegungen und Argumente an die Parteilichkeit im Konflikt selbst. Marx erhebt den Anspruch auf beides: Seine Theorie ergreift Partei zugunsten einer Klasse; sie will aber gleichzeitig auch eine wissenschaftliche sein. Damit erzeugt die Theorie von Marx eine Spannung zwischen Besonderem und Allgemeinem, zwischen dem Partikularen und dem Universellen. Marx selbst hat sich Zeit seines Lebens in viele theoretische und politische Streitigkeiten eingelassen. Die Frage stellt sich, wie aus einer solchen Art des polemischen Theorieprozesses Wahrheitsansprüche entstehen können und welche Folgen dies für den Begriff der Wahrheit selbst hat.

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Marx erhebt zunächst nicht den Anspruch auf Universalität. Er vertritt ja ausdrücklich eine Konzeption der Kritik, die sich ins Handgemenge begibt und Herrscher und Regierungen angreift (vgl. MEGA² I/2: 173). Sie lässt sich also nicht nur auf ein Handgemenge ein, sondern ist ein polemischer Akt, erzeugt also das Handgemenge. Die Kritik sei eine Waffe. Es wird nicht nach dem besseren Argument unter sich wechselseitig respektierenden Diskursteilnehmern gesucht. Es handele sich nicht darum, ob der Gegner edel, ebenbürtig oder interessant sei - »es handelt sich darum, ihn zu treffen« (ebd.: 173). Nicht der Geist der gesellschaftlichen Zustände soll widerlegt werden – das sei bereits geschehen. Vielmehr sei ihre Vernichtung das Ziel. Die Kritik knüpfe an die wirklichen Kämpfe an und identifiziere sich mit ihnen. Sie wolle die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen zwingen. Sie ist also Partei. Die Kritik sei rücksichtslos, Kritik der alten Welt und alles Bestehenden, sie fürchte sich nicht vor ihren Resultaten und ebensowenig vor dem Konflikt mit den vorhandenen Mächten. Sie betreffe die Realität des wahren menschlichen Wesens und die Herrschaft des Privateigentums ebenso wie seine theoretische Existenz. Sie ist deswegen auch Kritik der Religion, der Wissenschaft, der Politik, des Rechts, der Philosophie, auch

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des Sozialismus und Kommunismus. In seinen weiteren theoretischen Arbeiten verschiebt Marx den Schwerpunkt der Kritik auf den Bereich der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und die mit ihr verbundenen objektiven Gedankenformen, während andere Bereiche wie Recht, Politik, Moral, Kunst in den Hintergrund treten und allenfalls mit gelegentlichen Bemerkungen gestreift werden. Das muss eingeschränkt werden: Ein großer, wenn nicht der größere Teil der Schriften von Marx befasst sich mit der konkreten Analyse und Kritik zeitgenössischer politischer Vorgänge und Prozesse. Jedoch werden diese vielen Analysen, die häufig direkte Interventionen in Diskussionen darstellen, trotz vieler wichtiger Gesichtspunkte nicht zu einer Theorie der Politik und der Klassenkämpfe ausgearbeitet und in ein systematisches Verhältnis zur Kritik der politischen Ökonomie gesetzt, wie es seine methodischen Überlegungen zum Verhältnis von Basis und Überbau eigentlich nahegelegen. Trotz dieser emphatischen Parteinahme, die Marx für die Kritik geltend macht, werden jedoch auch sogleich universalistische Ansprüche erhoben. Der Kritiker, so formuliert er ganz praxisphilosophisch, knüpfe an all das an, was er kritisiert, denn darin sei bereits die Vernunft enthalten, »nur nicht immer in der vernünftigen Form« (MEGA² 1/2: 487). In der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, die so energisch für Parteinahme im Handgemenge plädiert, argumentiert Marx schließlich auch für die allgemeine Emanzipation der Menschen, unter der er eine Organisation aller Bedingungen der menschlichen Existenz unter der Voraussetzung der sozialen Freiheit versteht. (MEGA² I/2: 181 f.) Die Kritik als Waffe, das Handgemenge, die Vernichtung der bestehenden Verhältnisse und Denkformen sind also kein Selbstzweck, sondern zielen auf eine umfassende emanzipierte Lebensweise. Die Parteinahme, so partikularistisch sie zunächst erscheinen mag, ist intern mit der Universalität und sozialen Freiheit der menschlichen Gattung verbunden. Es ist offensichtlich, dass Marx selbst seine Einschätzung revidiert. Glaubte er zunächst, dass ausreichend Wissen vorhanden und die Welt hinlänglich interpretiert sei, um zur Verwirklichung der Philosophie überzugehen, so ist er wohl zu der Überlegung gelangt, dass die Interpretation bzw. das Wissen nicht ausreichen, sondern vertieft werden müssen. Die Verhältnisse erwiesen sich als stabiler denn erwartet; den Menschen durch Kritik allein das Bewusstsein von den Kämpfen zu vermitteln, an denen sie beteiligt sind, und den Druck noch drückender zu machen, erwies sich als unzureichend und rationalistisch. Die Reform des Bewusstseins konnte nicht in einem Akt des Bewusstwerdens der Welt bestehen, nicht darin, analog zu Feuerbachs Kritik der Religion die religiösen und politischen Fragen auf den Menschen und sein Selbstbewusstsein zurückzuführen. Marx war damit konfrontiert, dass sich die ideologischen Formen trotz

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aller Aufklärung und Kritik reproduzierten. Eine Wendung der Perspektive war notwendig. »Es ist in der That viel leichter durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebelbildungen zu finden, als umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Die letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.« (MEGA² II/5: 303, Fn. 89).

Demnach muss die materialistische Methode die »verhimmelten Formen« aus den Lebensverhältnissen entwickeln, also erklären, warum die Menschen sich genau in ihnen und auf diese Weise ihrer Verhältnisse bewusst werden und ihre Konflikte austragen, warum sie sich also trotz oder vielleicht wegen Aufklärung und Vernunft behaupten und reproduzieren. Es bedarf gerade aus Gründen der Parteinahme für Vernunft und soziale Freiheit eines ausgearbeiteten Wissens aller Bedingungen der menschlichen Existenz, also des Gesamtprozesses der gesellschaftlichen Verhältnisse. Seine Kritik der politischen Ökonomie, wie sie dann im ersten Band des Kapital dem Publikum vorgelegt wird, läßt keinen Zweifel an der Parteinahme des Autors. Im Nachwort zur zweiten Auflage von 1873 greift Marx auf seine Überlegung aus der Einleitung in die Kritik an der Hegelschen Rechtsphilosophie zurück, wo er ja im Proletariat jene Klasse gesehen hatte, die auf den menschlichen Titel provoziert, was bedeutet, dass sie mit ihrer Emanzipation die Existenz von Klassen überhaupt überwindet. Marx schreibt also fast dreißig Jahre nach seiner HegelSchrift: Soweit eine Kritik der ›bürgerlichen‹ Ökonomie überhaupt eine Klasse vertrete, »kann sie nur die Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Produktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen ist – das Proletariat« (MEGA² II/6: 703). Die von ihm vorgelegte Kritik der politischen Ökonomie ergreift also nicht umstandslos und uneingeschränkt Partei, ihm geht es nicht um Kampf und Klassenkampf als solchem. Dessen Existenz entdeckt zu haben, hält er nicht für sein Verdienst. Sofern seine Theorie Partei in diesem Kampf ergreift, dann für das Proletariat – aber auch in diesem Fall nicht um des Proletariats willen, sondern weil diese Klasse aufgrund der inneren Dynamik ihres Emanzipationskampfes die Existenz von Klassen und Klassenherrschaft überwinden kann. Dies erscheint ihm denkbar, weil diese historisch besondere Form moderner bürgerlicher Klassenherrschaft alle früheren Formen von Herrschaft absorbiert und aus ihnen zusammengesetzt – die Momente des Patriarchats, der Sklaverei, der feudalen Abpressung von direkter Arbeit und Steuern, des Raubs und der Enteignung, der religiösen und politischen Trennung und Vereinzelung von Menschen -, zudem aber ein spezifisches, histo-

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risch ganz neuartiges Moment ausbildet, das alle jene Momente überhaupt erst überdeterminiert und ihre spezifische Konstellation fügt: nämlich die doppelt freie Lohnarbeit, durch die die individuellen Arbeiten vermittels des Tauschs von Waren (einschließlich der Ware Arbeitskraft) faktisch vergesellschaftet werden. Damit werden die Einzeltätigkeiten Momente der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Trotz dieses ungeheuren zivilisatorischen Fortschritts steht das Produkt dieser gesellschaftlichen Arbeit unter der Kontrolle einer kleinen Gruppe von Privateigentümern an den Produktionsmitteln. Freiheit wird demnach also weltgeschichtlich für alle Individuen zum ersten Mal ermöglicht, gleichzeitig jedoch zur Bedingung von Ausbeutung in einem Ausmaß, wie es gleichfalls unbekannt war. Das Kapital ergreift also Partei und stellt sich in den Zusammenhang des Kampfes einer Klasse, insofern dieser Kampf auf die Überwindung der Klasse und des Kampfes mit dem Ziel der Freiheit und Emanzipation von jeder Herrschaft selbst zielt. Gleichzeitig betont Marx immer wieder die Wissenschaftlichkeit seiner eigenen Arbeit. Demnach zielt seine Analyse auf »das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft«, auf die »Naturgesetze[] der kapitalistischen Produktion«, auf die »mit eherner Nothwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendencen« (MEGA² II/6: 66 f.). Marx setzt sich damit für ein Wissen ein, das vom Bürgertum nicht nur nicht gewollt, sondern geleugnet, totgeschwiegen, verfälscht und bekämpft wird. Das ist von Marx offensichtlich mehr als nur ideologiekritisch gemeint, sofern unter Ideologie lediglich ein falsches Bewusstsein verstanden wird, das mit kritischen Hinweisen auf die wirklichen, ökonomischen Verhältnisse, den illusionären Charakter der bürgerlichen Allgemeinheit, den Schleier oder die Verblendung korrigiert oder zerstört wird. Es geht Marx hier nicht um das Bewusstsein von Individuen, sondern um eine Strukturbestimmung der bürgerlichen Gesellschaft selbst. In der Epoche der feudalen Produktionsweise war das Ausbeutungsverhältnis den ihm unterworfenen Hintersassen offensichtlich, aber sie konnten nicht begreifen, wie es vor sich ging, sie hatten keine Theorie dieses Verhältnisses, sondern griffen auf Transzendenz (göttliche Ordnung, Tradition) zurück. In der bürgerlichen Gesellschaft sind die Verhältnisse nicht durchsichtig, der Ausbeutungszusammenhang erschließt sich an der Oberfläche sei es der fortbestehenden Gewalt, sei es der marktvermittelten Vertragsfreiheit nicht, aber erstmals in der Geschichte wird die wissenschaftliche Einsicht möglich, wie sie in der Theoriebildung von Marx dem Ansatz nach vorliegt. Doch in ihren alltäglich sich vollziehenden Prozessen ist die bürgerliche Gesellschaft unfähig, sich vollständig und entschieden der Härte ihrer eigenen Lebensverhältnisse zu stellen – oder noch stärker und im Sinn jener oben angesprochenen materialistischen Methode formuliert: Würde

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sie sich dieses Wissen zueignen, würde dieses Wissen vollständig Wissen der bürgerlichen Gesellschaft von sich selbst werden, dann könnte sie sich als bürgerliche Gesellschaft nicht länger reproduzieren. Um diese Reproduktionsblockade zu verhindern, muss die bürgerliche Gesellschaft sich selbst ständig von neuem von ihrer begrifflichen Erkenntnis abspalten, sie benötigt das politisch Ungewusste und Unbewusste. Gleichzeitig benötigt sie Wissen, um sich als Gesellschaft zu konstituieren, sich als Gesellschaft zu beobachten und zu steuern. In Ansätzen bildet sich also ein Wissen wie jene Statistiken, die »den Schleier grade genug« lüften, »um hinter demselben ein Medusenhaupt ahnen zu lassen« (MEGA² II/5: 13). Marx lobt in diesem Zusammenhang die sachverständigen, unparteiischen und rücksichtslosen Fabrikinspektoren und ärztlichen Berichterstatter Englands. Doch im Sinn einer politischen Epistemologie betont Marx noch einmal nachdrücklich: »Perseus brauchte eine Nebelkappe zur Verfolgung von Ungeheuern. Wir ziehen die Nebelkappe tief über Augʼ und Ohr, um die Existenz der Ungeheuer wegläugnen zu können.« (Ebd.) Es scheint also zunächst, dass Marx sich hier – neben seinen eigenen expliziten parteilichen Äußerungen - für objektive theoretisch-begriffliche und empirische wissenschaftliche Analysen einsetzt. Parteinahme besteht für ihn darin, die Sachverhalte zu benennen, zu sagen, was ist, die begrifflich-logischen Zusammenhänge darzulegen, sich der Härte der naturgesetzlichen Zwänge zu stellen und gleichzeitig ihre innere Wandelbarkeit und Historizität herauszuarbeiten. In diesem Sinn kritisiert er die beschönigende Parteilichkeit von Ökonomen, die Sachverhalte unangemessen darlegen, nicht konsequent zu Ende denken, schönreden oder wahrheitswidrig leugnen. Marx erhebt demnach einen strengen Wissenschaftsanspruch. In diesem Sinn lobt er David Ricardo für seine wissenschaftliche Ehrlichkeit und Rücksichtslosigkeit: Er sei stoisch, objektiv und wissenschaftlich; philanthropisch sei er hingegen nur dort, wo dies »ohne Sünde gegen seine Wissenschaft« geschehen kann (MEGA² II/3.3: 771). Im Kontrast zu Ricardo kritisiert Marx Malthus deswegen, weil dieser das System der bürgerlichen Ökonomie nicht versteht, als Apologet der Exploiteure der Arbeit die Theorie gegen das Proletariat dreht, sykophantische Dienste für die industriellen Kapitalisten leistet und das reaktionäre Grundeigentum gegen das Kapital verteidigt. »Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrthümlich sie immer sein mag), sondern von aussen, ihr fremden, äusserlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu accomodiren sucht, nenne ich ›gemein‹.« (Ebd.) Das Zitat zeigt deutlich genug, dass Marx Standpunktlogik ablehnt und sich entschieden für eine intern bestimmte Wissenschaftslogik ausspricht. Dabei behauptet er nicht, dass es nicht Irrtümer geben könne, auch scheint er, wenn er von Ricardos Wissenschaft spricht, anzunehmen, dass es in der wissenschaftli-

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chen Argumentation individuelle Perspektiven gebe. Sein Maßstab ist die konsequente, systematische, sachhaltig-kenntnisreiche Argumentation, die sich auch gegen Standpunkte und moralische Gesichtspunkte durchsetzt. Marx legt also nahe, dass er die Geltung der Theorie und der Wahrheit deutlich höher gewichtet als den Standpunkt und die Parteilichkeit zugunsten einer sozialen Gruppe. Der Vorwurf an Malthus lautet primitive Standpunktlogik, Ricardo hingegen wird von ihm gelobt dafür, dass er entschieden innertheoretisch bleibt und rücksichtslos auch gegenüber moralischen Gesichtspunkten argumentiert; diese blieben bei Ricardo der Theorie äußerlich. Auch für seine eigene Theorie scheint Marx anzunehmen, dass sie nur bedingt parteilich ist – wenn darunter das Eintreten für einen partikularen Standpunkt verstanden wird. Entscheidend kommt dieser Gesichtspunkt der Parteilichkeit dort zur Geltung, wo es darum geht, die Wirklichkeit der bürgerlichen Gesellschaft selbst nicht zu leugnen. Meiner Überlegung nach muss dieser Gesichtspunkt aber sehr radikal verstanden werden. Die bürgerliche Gesellschaft erweist sich systematisch und trotz einer Vielzahl von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen nicht in der Lage, sich auf sich selbst durch umfassende Erkenntnis zu beziehen. Sie beschönigt oder leugnet ihre eigene Wirklichkeit. Anders gesagt: Sie scheitert daran, ein wirklich nicht-metaphysisches, radikal immanentes Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln, dem gemäß alle Verhältnisse von Menschen selbst erzeugt und reproduziert werden. Marx zufolge kann sich die bürgerliche Gesellschaft trotz aller aufklärerischen und wissenschaftlichen Bemühungen auf sich selbst nur religiös und metaphysisch beziehen. Sie konstituiert zwar die Arbeit als gesellschaftliche Arbeit und stellt einen Zusammenhang zwischen den verschiedenen arbeitsteilig erbrachten Tätigkeiten her, doch kann sie sich ihre irrationale Grundlage nicht eingestehen, die darin besteht, dass ein großer Teil der Beiträge zur gesellschaftlichen Arbeit wertförmig bestimmt ist und damit das menschliche Arbeitsvermögen verrückterweise die Form der Lohnarbeit, also einer Ware annimmt und einen Wert und einen Preis haben soll.1 Die Lohnarbeit wird unter der Kontrolle von Kapitaleigentümern als private Einzeltätigkeit für einen anonymen Markt ausgeübt. In der Folge werden damit die Quellen des Reichtums,

1

Marx analysiert, wie die kapitalistische Produktionsweise die gesellschaftlichen Verhältnisse formiert, also gleichzeitig erzeugt, gestaltet und unterwirft. Dabei werden zahlreiche Formen von Arbeit jeweils dem Kapitalverhältnis unterworfen und wieder freigesetzt. Dazu gehören die vielfältigen Arbeiten in der informellen Ökonomie (organisierte Kriminalität, Schmuggel, sog. Schwarzarbeit und -handel), in der Subsistenzwirtschaft (Kleinbauern, kleingewerblicher Einzelhandel) oder im Haushalt (Familien-, Erziehungs-, Pflege-, Eigenarbeit).

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nämlich Natur und Arbeit, geleugnet: die Natur als Material und Rohstoff der Aneignung durch Menschen; die menschliche Arbeit, die die Natur aneignet und in einen Gebrauchswert und in Mehrprodukt umwandelt. Eine drastische Form dieser Leugnung stellen Behauptungen dar, denen zufolge der gesellschaftliche Reichtum durch die Arbeit des Geldes oder durch die Produktivität der Technik produziert wird. Wenn Marx also das besondere Wissen zur Geltung bringt, um dessen Ausarbeitung er sich jahrzehntelang bemüht, dann bedeutet dies, dass, würde es zum Maßstab der kollektiven Praxis, die Menschen nicht weiter bereit wären, Träger/-innen der Reproduktion dieser Verhältnisse zu sein, und sie sich dagegen wehren würden, sie zu personifizieren, also diese bestimmte Identität und Lebensweise anzunehmen. Von dieser Überlegung aus wird aber auch deutlich, dass Marxʼ Wissenschaftsbegriff intern durch Parteilichkeit und Historizität gekennzeichnet ist. Die Kritik bleibt diesem Wissen selbst nicht äußerlich. Darstellung der Kategorien der bürgerlichen Ökonomie, der objektiven Gedankenformen, wird gleichbedeutend mit der Kritik der Verhältnisse. Sie stellt ein negatives Existenzurteil dar, das auf die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse zielt (vgl. Demirović 2008a). Die Analyse der gesellschaftlichen Naturgesetze ist intern mit der Annahme verbunden, dass es sich um historisch entstandene und vergehende Objektivitäten handelt – und deswegen werden die Ökonomen kritisiert, die diese Naturgesetze als von der Geschichte unabhängige ewige Naturgesetze darstellen und damit unter der Hand bürgerliche Verhältnisse als unumstößliche Naturgesetze der Gesellschaft in abstracto unterschieben (vgl. MEGA² II/1: 24).

D IE R EARTIKULATION VON G ENESIS UND G ELTUNG IN EINER P OLITIK FÜR DIE W AHRHEIT Es ist offensichtlich, dass Marx das Verhältnis von Wahrheit und historischer Konstellation, von Wissen und Handgemenge sehr unterschiedlich fasst. Es gibt, so scheint es, mindestens drei Versionen dieses Verhältnisses: erstens die Kritik als ein Mittel des Kampfes um die Emanzipation; zweitens legt er nahe, dass Theorie und Wahrheit auf der einen und soziale Prozesse auf der anderen Seite sich äußerlich sind und die Theorie in einer objektivierenden Haltung die Wahrheit über letztere sagt. In diesem Sinn lässt sich der Geltungsaspekt der Theorie nicht in Geschichte und Praxis auflösen, die Theorie nicht unmittelbar historisieren. Ihr polemischer Charakter besteht eher in der Distanz zum Handgemenge, also in der Bemühung, Distanz und Objektivität zu gewinnen. In einer dritten Version kann die theoretische Arbeit, die Erkenntnis- und Wahrheitsproduktion

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so begriffen werden, dass Erkenntnis jeweils in einem spezifischen historischen Kontext und für diesen Kontext produziert wird. Damit entsteht natürlich die Frage danach, was dieser Kontext ist. Wenn sich Horkheimer in den 1930er Jahren auf die Tradition der kritischen Theorie bezog, dann mit der Vorstellung, dass die historischen Auseinandersetzungen, in denen Marx mit seiner Erkenntnispraxis aktiv war, immer noch Gegenwart sind, sich also der Problemhorizont nicht substanziell geändert hat. Die Geltung der Theorie ergibt sich demnach aus der Kontinuität der Geschichte und der bürgerlichen Gesellschaft. Es handelt sich demnach um ein historisierendes Argument, doch ist dies nicht äußerlich gemeint. Denn Horkheimer geht es um eine interne Veränderung der Theorie und der Anordnung ihrer Begriffe. Auf dem Feld der Theorie kommt es zu Erweiterungen und zu Umbauten, doch gerade die Theorie erlaubt auch die Einsicht, dass es zu keinen grundlegenden Veränderungen gekommen ist, sondern sich durch modifizierte Erscheinungsweisen hindurch die kapitalistische Gesellschaftsformation auf erweiterter Stufenleiter reproduziert. Während solche Veränderungen häufig in einer empiristischen und positivistischen Manier gegen die Theorie von Marx vorgebracht werden, vertritt Horkheimer die Ansicht, dass Marxʼ Theorie interne Wahrheitskriterien und Begriffe entwickelt, um solche historischen Veränderungen zu beurteilen. Es sind die Begriffe der Theorie selbst, die darüber entscheiden, wie der konkrete Stand der gesellschaftlichen Entwicklung erklärt und verstanden wird. Begriffe sind kooperative Formen der Aneignung und Verständigung über die Verhältnisse, unter denen Menschen leben, und deswegen intern mit ihrer Geschichte verbunden. Adorno beruft sich deswegen auf Dialektik, also Nicht-Identität in der Identität dieser Begriffe, und spricht mit Walter Benjamin vom Zeitkern der Begriffe und der Wahrheit. Die Geltung der Begriffe sei ihrer Entstehung »nicht mehr äußerlich, nicht mehr unabhängig also von ihrem eigenen Wahrheitsgehalt, sondern Genesis fällt in jenen Wahrheitsgehalt selber, der ›fordert‹. Nicht ist, wie der Relativismus es will, Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit. ›Entschiedne Abkehr vom Begriffe der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht - wie der Marxismus es behauptet - eine zeitliche Funktion des Erkennens, sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.‹« (Adorno 1971: 140 f.)

Die Überlegung besagt ja, dass die notwendigerweise historisch und partikular bleibende Parteilichkeit der Wahrheit dieser nicht abträglich ist, ihr nicht bloß genetisch äußerlich bleibt und die Wahrheit relativiert, sondern ihr zugehört und ein wesentliches Moment ihrer Geltung selbst ausmacht.

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Da Wahrheit, geschichtliche Praxis und »Handgemenge« also historisch in ihrem Verhältnis variieren, sie unterschiedlich miteinander verknüpft werden, möchte ich auf eine Überlegung von Michel Foucault zurückgreifen, bevor ich dann auf Marx zurückkomme. Ich meine, dass Foucault mit einigen Andeutungen die Überlegungen von Benjamin und Adorno weiter vertieft und die Wahrheit ganz materialistisch bestimmt: Die Wahrheit ist von dieser Welt, in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert und verfügt über geregelte Machtwirkungen. Gesellschaften haben ihre jeweils eigenen Ordnungen der Wahrheit, das, was Foucault als Politik der Wahrheit bezeichnet: also die Akzeptanz bestimmter Diskurse als wahre Diskurse, Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen; Modi, die einen oder anderen zu sanktionieren; Techniken und Verfahren der Wahrheitsfindung; einen spezifischen Status für diejenigen, die darüber befinden, was wahr ist und was nicht (vgl. Foucault 1974). Mit dieser Überlegung rückt Foucault die Intellektuellen und ihre Aktivität in den Blick, die solche wahren Diskurse ausarbeiten oder die Kämpfe um die Wahrheit führen. Er sieht die Intellektuellen weniger durch ihre Herkunft und ihre Klassenzugehörigkeit oder durch ihre beruflichen Lebens- und Arbeitsbedingungen bestimmt (wie das gelegentlich in marxistischen Ansätzen oder in der Soziologie Pierre Bourdieus getan wird). Beides bleibt der spezifischen Aktivität der Intellektuellen immer noch äußerlich. Vielmehr lenkt er die Aufmerksamkeit auf den besonderen Charakter der Politik der Wahrheit und die Kämpfe um diese Wahrheit, die seiner Ansicht nach für die Struktur und das Funktionieren unserer Gesellschaften fundamental seien. Es gebe solche Kämpfe um die Wahrheit. Damit meint er nicht das Eintreten für eine bestimmte Wahrheit oder um die wahren Dinge, die zu entdecken und zu akzeptieren sind, sondern einen Kampf um den Status der Wahrheit und um ihre ökonomisch-politische Rolle, also das Ensemble der Regeln, nach denen das Wahre vom Falschen geschieden und das Wahre mit spezifischen Machtwirkungen ausgestattet wird. Diesem Begriff der Politik der Wahrheit zufolge handelt es sich bei der Praxis von Intellektuellen nicht um die Kritik möglicher ideologischer Inhalte der Wissenschaft, nicht um eine Veränderung des Bewusstseins der Menschen oder dessen, was in ihren Köpfen steckt; vielmehr geht es darum, eine neue Politik der Wahrheit zu konstituieren, also die Wahrheit von den Formen ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist, und das politische, ökonomische und institutionelle System der Produktion der Wahrheit zu verändern (vgl. Foucault 2003: 205 ff.). Im Lichte dieser Überlegung Foucaults lässt sich das Problem von Wahrheitsgeltung und sozialer Konfliktualität um die Wahrheit etwas genauer in den Blick nehmen und die These vertreten, dass das, wofür der Anspruch auf Wahr-

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heitsgeltung erhoben wird, Ergebnis einer massiven sozialen Auseinandersetzung darstellt. Wahrheit ist in diesem Sinn selbst ein gesellschaftliches Verhältnis, ein Einsatz innerhalb gesellschaftlicher Kämpfe. Es geht dabei nicht um ein Für-wahr-Halten, einen Wahrheitsglauben. Das würde nahelegen, wir hätten wie in einem Kaufhaus beliebige Auswahlmöglichkeiten. Dass das Wahre eine relevante soziale Praxis ist, ist nicht selbstverständlich, denn es gibt immer wieder mächtige Bemühungen darum, den Status der Wahrheit zu schwächen oder gar das Wahre selbst zu verunmöglichen und die Grenzen zwischen Wahrheit, Meinung und Lüge aufzulösen.2 Wenn aber das Wahre in der internen Verbindung mit Macht zur Geltung gebracht wird, dann handelt es sich nicht um die ›Wahrheit‹, sondern um ein besonderes Wahrheitsregime und seine Wahrheiten, die hier institutionell, ökonomisch, kulturell praktiziert werden. Diese konkrete Wahrheitspraxis mit ihren praktizierten Wahrheiten kann hegemonial werden, also als mehr oder weniger alternativlos gelten, bis eben in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, in der Form einer anderen Politik der Wahrheit ein anderes Wahrheitsregime durchgesetzt wird.

R ADIKALE I MMANENZ

UND

U NIVERSALISMUS

Diese von Foucault entfalteten Überlegungen und Begriffe sind hilfreich, die Geltung des Wahren und einer Wahrheit selbst als ein hegemoniales Faktum zu begreifen, also als das Ergebnis einer Wahrheitspolitik. In diesem Sinn kann Marxʼ intellektuelle Praxis als Bemühung um eine Wahrheitspolitik für ein Wahr-Sagen verstanden werden, das mit einer völlig neuen Ordnung des Wissens artikuliert ist (vgl. Demirović 2008b). Wenn Marx mit Blick auf seine Broschüre Zur Kritik der politischen Ökonomie schreibt, er wolle mit dem Buch »unsrer Parthei einen wissenschaftlichen Sieg« erringen (MEGA² III/9: 295), dann sollte diese Äußerung über den ihren Gegenstand betreffenden unmittelbaren wissenschaftlichen Gehalt hinaus auch im Sinne einer Wahrheitspolitik verstanden werden, die sich parteilich darum bemüht, ein neues Wahr-Sagen durchzusetzen – also als eine Bemühung, Wissen und Wissenschaftlichkeit dort durch-

2

Die Anti-Wahrheitspolitiken autoritärer Populisten wie Trump oder Erdoǧan, die Leugnung wissenschaftlicher Einsichten in den von Menschen induzierten Klimawandel oder die Angriffe auf die Gender-Studies sind nur das jüngste Beispiel für eine periodisch eskalierende bürgerliche Feindseligkeit gegenüber Aufklärung und Wahrheit, wie sie Marx ebenso erfahren musste wie die Vertreter der älteren Kritischen Theorie (vgl. Demirović 2015: 170 ff.).

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zusetzen, wo Ignoranz, Abwehr des Wissens und Irrationalität herrschen. Dies betrifft die Anatomie der Gesellschaft, die gesellschaftliche Arbeit, die konkreten alltäglichen Arbeitsbedingungen und die damit verbundenen Lebensverhältnisse eines großen Teils der Menschen, die den stofflichen Reichtum erzeugen, nicht aber in seinen Genuss kommen. Marxʼ Selbstverständnis nach geht es um nicht weniger als einen wissenschaftlichen Versuch, von der Grundlage der gesellschaftlichen Arbeit, dem Prozess der materiellen Erzeugung des Lebens her das gesamte Gebäude des gesellschaftlichen Wissens zu reorganisieren und die Wissenschaft zu revolutionieren (vgl. MEGA² III/12: 296 ff.). In diesem Sinn kann auch eine weitere briefliche Bemerkung gelesen werden, die Marx unmittelbar nach Abgabe des Manuskripts des Kapital gemacht hat: Es sei »sicher das furchtbarste missile, das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist.« (MEW 31: 541) Im Ensemble der Praktiken und sozialen Auseinandersetzungen misst Marx der theoretisch-wissenschaftlichen Praxis offensichtlich eine besondere Bedeutung bei. Dabei geht es ihm nicht allein darum, in einer Art objektivierender Haltung eine wissenschaftliche Erkenntnis zur Geltung zu bringen. Seit seinen frühen Schriften hält er am performativen Charakter der theoretischen Praxis fest: Er begreift sein Wahr-Sagen als eine Praxis, mittels derer er sich bemüht, Wahrheit selbst im »Handgemenge« und durch Kritik zu produzieren. Die Genesis der Theorie im sozialen Konflikt wird nicht geleugnet, sondern ist positiver Ausgangspunkt der Theorie. Er ergreift Partei für eine partikulare Gruppe. Nicht die eine, die erste und letzte Wahrheit wird von Marx vertreten. Anders als andere Theorien – die unmittelbar den universellen Standpunkt beanspruchen – usurpiert Marx die Universalität nicht. Das Universelle ergibt sich vielmehr in und durch die historische Überwindung einer partikularen Konstellation sozialer Kämpfe – eine Überwindung, zu der die Theorie und das Wissen beitragen und so ihre Universalität gewinnen. In seiner Theoriebildung – die in die Wissensordnung eine neue Artikulation von Genesis und Geltung der Theorie einführt – argumentiert er gleichzeitig für die Wahrheitsfähigkeit der Individuen als ein Gestaltungsprinzip sozialer Verhältnisse. Historisch konnte seine Theorie – auch ohne eine Institution wie die Universität – ihre Geltung durchsetzen und mobilisierend und organisierend werden, indem sich um sie herum und auf sie gestützt eine Vielzahl von Praktiken entfalteten: Diskussionen in politischen Gruppen, Parteien, Zeitschriften und Büchern. Allerdings kam es durchaus zu dem Missverständnis, die Marxʼsche Theorie szientistisch zu verkürzen, sie also aus dem Handgemenge herauszulösen und ihr den Charakter eines objektivistischen Wissens zu verleihen. Dies war eine jener historischen Praktiken, die Neuartigkeit der Theorie zu verkennen, denn so konnte sie allzu leicht von den empirisch sich

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DER

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ständig verändernden Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung getrennt werden und die Behauptung belegen, dass sie wenig zu ihnen beizutragen habe. Marx hat das früh wahrgenommen, wenn er, wie berichtet wird, sich vom Marxismus, der Standpunktlogik also, distanziert hat (vgl. MEW 35: 388).

L ITERATUR Adorno, Theodor W. (1971): »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 5 (hrsg. v. Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 7-245. Bohlender, Matthias (2008): »›… um die liberale Bourgeoisie aus ihrem eignen Munde zu schlagen‹. Friedrich Engels und die Kritik im Handgemenge«, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2007, Berlin, S. 9-33. Demirović, Alex (2008a): »Leidenschaft und Wahrheit. Für einen neuen Modus der Kritik«, in: Ders. (Hg.), Kritik und Materialität, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 9-40. Demirović, Alex (2008b): »Das Wahr-Sagen des Marxismus: Foucault und Marx«, in: PROKLA 151, Nr. 2, Juni 2008, S. 179-201. Demirović, Alex (2015): Wissenschaft oder Dummheit? Über die Zerstörung der Rationalität in den Bildungsinstitutionen, Hamburg: VSA-Verlag. Engels, Friedrich (MEW 35): Brief an Eduard Bernstein, 2./3. November 1882, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 35, Berlin: Dietz Verlag 1967, S. 386-390. Foucault, Michel (1974): Die Ordnung des Diskurses, München 1974: Carl Hanser Verlag. Foucault, Michel (2003): Gespräch mit Michel Foucault, in: Schriften in vier Bänden, Bd. 3 (hrsg. v. Daniel Defert, François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 129-134. Horkheimer, Max (1988): »Materialismus und Metaphysik«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3 (hrsg. v. Alfred Schmidt), Frankfurt a.M.: S. Fischer, S. 70105. Marx, Karl (MEGA² I/2): »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. I/2, S. 471-489. Marx, Karl (MEGA² II/1): »Einleitung zu den ›Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‹«, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/1, Berlin. Dietz Verlag 1976, S. 17-45. Marx, Karl (MEGA² II/3.3): Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861–1863), Teil 3, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/3.3, Berlin: Dietz Verlag 1978.

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Marx, Karl (MEGA² II/5): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band [Erste Auflage von 1867], in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/5, Berlin: Dietz Verlag 1983. Marx, Karl (MEGA² II/6): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band [Zweite Auflage von 1872], in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. II/6, Berlin: Dietz Verlag 1987. Marx, Karl (MEGA² III/9): Brief an Joseph Weydemeyer, 1. Februar 1859, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/9, Berlin: Akademie Verlag 2003, S. 292-295. Marx, Karl (MEGA² III/12): Brief an Louis Kugelmann, 28. Dezember 1862, in: Marx-Engels-Gesamtausgabe, Bd. III/12, Berlin: Akademie Verlag 2013, S. 296-298. Marx, Karl (MEW 31): Brief an Johann Philipp Becker, 17. April 1867, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 31, Berlin: Dietz Verlag, S. 541.

Über die Autorinnen und Autoren

MATTHIAS BOHLENDER, Prof. Dr., Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück, Publikationen u.a.: »Marx Meets Manchester. The Manchester Notebooks as a starting point of an unfinish(able)ed project«, in: Marcel van der Linden/Gerald Hubmann (Eds.), Marxʼs Capital: An Unfinishable Project? Leiden/Boston 2018; Metamorphosen des liberalen Regierungsdenkens. Politische Ökonomie, Polizei und Pauperismus, Weilerswist 2007. Kontakt: matthias.bohlender@uni-osnabrück.de ALEX DEMIROVIĆ, apl. Prof. Dr., Goethe-Universität Frankfurt/M., Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, ist Redakteur der Zeitschriften PROKLA und LuXemburg, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Rosa-Luxemburg-Stiftung, von Attac und des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Gesellschaftstheorie sowie der Staats- und Demokratietheorie. Kontakt: [email protected] LUKAS EGGER, M.A., lebt und arbeitet in Wien, wo er derzeit am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien mit einer Arbeit zu Rassismus aus der Perspektive materialistischer Staatstheorie promoviert. Daneben publiziert und forscht er zu Themen kritischer Gesellschaftstheorie von und im Anschluss an Karl Marx mit besonderem Fokus auf den Marx’schen Ideologie- und Wissenschaftsbegriff. Zuletzt veröffentlicht: »Der ›schreckliche erste Abschnitt‹. Zu Louis Althussers Kritik an der marxschen Werttheorie «, in: PROKLA 188, S. 435-453. Kontakt: [email protected]

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OLIVER FLÜGEL-MARTINSEN, Prof. Dr., lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bielefeld. Jüngste Buchveröffentlichung: Befragungen des Politischen. Subjektkonstitution – Gesellschaftsordnung – radikale Demokratie, Wiesbaden 2017. Kontakt: [email protected] ANTJE GÉRA, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: politische Philosophie und Sozialphilosophie, philosophische Ästhetik, feministische Philosophie. Publikationen zu einer kritischen Theorie des Bildes; letzte Veröffentlichung: Stichwort »Melancholie«, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 9/I, (hrsg. v. Wolfgang Fritz Haug/Frigga Haug/Peter Jehle), Hamburg 2018. Kontakt: [email protected] ROLF HECKER, Prof. Dr. sc., ist Marx-Engels-Forscher und -Editor und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. Kontakt: [email protected] KENJI MORI, Prof. Dr., Graduate School of Economics and Management, Tohoku University, Sendai, Japan. Kontakt: [email protected] BASTIAN RONGE, Dr., ist Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Kritische Theorie, Wirtschaftsphilosophie und Philosophie der Aufklärung. Zu seinen Publikationen gehören u.a. Das Adam-Smith-Projekt. Zur Genealogie der liberalen Gouvernementalität, Wiesbaden 2015 und »The Frankfurt School: Philosophy and (political) economy« (zus. mit M. Rothe), in: History of Human Sciences (vol. 29/2, 2016). Kontakt: [email protected]

Ü BER DIE A UTORINNEN UND A UTOREN

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GREGOR SCHÄFER, M.A., studierte Klass. Philologie, Indogermanistik, Theologie, Philosophie und Komparatistik u.a. in Zürich und Berlin. Derzeit arbeitet er in Basel an seiner Dissertation zu Hegels Konzept der absoluten Idee im Hinblick auf ihre politisch-ethischen Konsequenzen in der Realphilosophie; daneben an einer Einführung in Hegels Philosophie und deren Rezeption. Seine Interessen liegen v.a. im Dt. Idealismus, in der Geschichte und Aktualität metaphysischen/spekulativen Denkens, in Politischer Theorie (bes. in der Tradition des Marxismus) und der Ästhetik.Für das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus verfasst er aktuell das Stichwort »Novum«. Kontakt: [email protected] ANNA-SOPHIE SCHÖNFELDER, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »Marx und die ›Kritik im Handgemenge‹ – Zu einer Genealogie moderner Gesellschaftskritik« an der Universität Osnabrück und Lehrbeauftragte für politische Theorie an der Universität Hamburg. Publikation u.a.: »Die Register der Kritik in Marxʼ Journalismus der 1850er Jahre« in: Marx-EngelsJahrbuch 2015/16. Kontakt: [email protected] SEBASTIAN SCHREULL lehrt als Studienrat in Hamburg und promoviert zur literarischen Form kritischer Theorie. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, Ästhetik, Sprachphilosophie. Publikationen (Auswahl): »Als ob eine Gattung ohne Art – Essay und Aphorismus als literarische Formen kritischer Theorie«, in: »…wenn die Stunde es zuläßt.« – Zur Traditionalität und Aktualität kritischer Theorie (2012), »Ewige Wiederkehr des Lumpenintellektuellen. Zum Verhältnis von Erbe, Parteilichkeit und Praxis«, in: Philosophie der Praxis und die Praxis der Philosophie (2014). Kontakt: [email protected] CHRISTOPHER SENF, M.A., ist PhD Research Fellow am Institut für Philosophie an der Universität Bergen in Norwegen und dort Mitglied der Forschungsgruppe für Praktische Philosophie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Sozialphilosophie, Politische Theorie und Philosophie, Kritische Theorie, Angewandte Ethik sowie Konflikttheorien. In seinem Promotionsprojekt untersucht er das neue Konfliktphänomen der »Square Movements« (z.B. Occupy Wall Street) als transnationale Kämpfe um Anerkennung. Seine Betreuerin ist Prof. Dr. Anat Biletzki, Quinnipiac University (USA) und Universität Bergen. Zudem ist er Redaktionsmitglied des Onlinemagazins Berliner Gazette. Kontakt: [email protected]

352 | »K RITIK IM HANDGEMENGE«

MATTHIAS SPEKKER, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt »Marx und die ›Kritik im Handgemenge‹ – Zu einer Genealogie moderner Gesellschaftskritik« an der Universität Osnabrück und lebt in Hamburg. Publikationen u.a.: »Zur Problematik des Verhältnisses von Klassenkampf und wissenschaftlicher Kritik im Kapital«, in: Zeitschrift für kritische Sozialtheorie und Philosophie (Bd. 4, H. 1-2, 2017); »Überlegungen zur konstitutiven Rolle des politischen Handgemenges für Marxʼ Kritik der politischen Ökonomie«, in: Marx-Engels-Jahrbuch 2015/16. Kontakt: [email protected] PAUL STEPHAN, M.A., wohnt in Leipzig und promoviert an der Albert-LudwigsUniversität Freiburg zum Konzept der Authentizität bei Kierkegaard, Stirner und Nietzsche. Er ist Initiator der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie, die die Philosophiezeitschrift Narthex. Heft für radikales Denken herausgibt, in der er auch regelmäßig selbst veröffentlicht. Es liegen zahlreiche Vorträge und Publikationen vor, die sich v. a. mit Nietzsches Philosophie auseinandersetzen. Kontakt: [email protected]

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