Korruption - Demokratie - Strafrecht: Ein Rechtsvergleich zwischen Brasilien und Deutschland [1 ed.] 9783161612398, 9783161612404, 3161612396

Korruption stellt eine Form der Machtausübung dar, die nicht nur in ökonomischer Hinsicht bedrohlich ist. Sie birgt auch

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Korruption - Demokratie - Strafrecht: Ein Rechtsvergleich zwischen Brasilien und Deutschland [1 ed.]
 9783161612398, 9783161612404, 3161612396

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung — Milan Kuhli
Korruption – Demokratie – Strafrecht. Eine deutsch-brasilianische Betrachtung — Antonio Martins
Korruption als Angriff auf die Volkssouveränität — Till Zimmermann
Korruption, Populismus und die Krise des Rechtsstaats in Brasilien — Alberto do Amaral Junior & Mariana Boer Martins
Zur Strafbarkeit von illegalen Wahlkampfspenden in Brasilien — Helena Regina Lobo da Costa
Quid pro quo ohne quid!? Über den in jeder Hinsicht bemerkenswerten „Fall Lula“ — Mauricio Stegemann Dieter & Jacson Zilio
Die Bedeutung von Integritätsprogrammen („Programas de integridade“) für das Korruptionsstrafrecht in Brasilien — João Alves Teixeira Neto
Anti-Korruptionsimperialismus? — Philipp Maximilian Holle
Prävention und Bewältigung von Korruption im internationalen Konzern. Eine Projektvorstellung — Timo Junker & Rebekka Lucia Müller & Jonas C. Schulz
Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung herausgegeben von der

Gesellschaft für Rechtsvergleichung e.V.

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Korruption – Demokratie – Strafrecht Ein Rechtsvergleich zwischen Brasilien und Deutschland

Herausgegeben von

Milan Kuhli, Florian Jeßberger und Alexander Baur

Mohr Siebeck

Milan Kuhli ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht einschließlich ihrer internationalen und historischen Bezüge an der Universität Hamburg. Florian Jeßberger ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. Alexander Baur ist Senior Researcher in der Direktion der Justiz und des Innern Kanton Zürich, Schweiz.

ISBN 978-3-16-161239-8 / eISBN 978-3-16-161240-4 DOI 10.1628/978-3-16-161240-4 ISSN 1861-5449 / eISSN 2569-426X (Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Reemers Publishing Services in Krefeld gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Am 12. und 13. September 2019 fand an der Universität Hamburg die Tagung „Korruption – Demokratie – Strafrecht. Ein Rechtsvergleich zwischen Brasilien und Deutschland“ statt. Der vorliegende gleichnamige Sammelband beinhaltet die schriftliche Fassung der auf dieser Tagung gehaltenen Vorträge von Antonio Martins, Till Zimmermann, Alberto do Amaral Junior1, Helena Regina Lobo da Costa, Mauricio Stegemann Dieter2 und Philipp Maximilian Holle. Neben der Einleitung zusätzlich aufgenommen sind Beiträge von João Alves Teixeira Neto sowie von Timo Junker, Rebekka Lucia Müller und Jonas C. Schulz. Für die deutschsprachigen Leserinnen und Leser sind die zentralen Korruptionsvorschriften des brasilianischen Rechts mit deutscher Übersetzung im Anhang3 abgedruckt. Allen Vortragenden – neben der Autorin und den Autoren dieses Bandes ist Jens Bülte zu nennen – möchten wir an dieser Stelle noch einmal herzlich dafür danken, dass sie die Tagung mit ihren interessanten und spannenden Referaten bereichert haben. Ein besonderer Dank gebührt zudem all denjenigen, die die Organisation der Tagung und die Erstellung des Sammelbandes tatkräftig unterstützt haben. Zu nennen sind hier Aylin Aslan, Tobias Beinder, Ute Ehrk, Barbara Fisz, Annegret Hartig, ­Christina Kuhli, Jan Hendrik May, Hannah Ofterdinger, Judith Papenfuß, Inga Schuchmann, Leonie Steinl und Diana Cardeira Trindade. Hervorheben möchten wir außerdem, dass die Universität Hamburg unser Projekt durch eine großzügige finanzielle Zuwendung gefördert hat. Schließlich danken wir dem Verlag Mohr Siebeck sowie der Gesellschaft für Rechtsvergleichung e.V. für die freundliche Bereitschaft, den vorliegenden ­Sammelband in ihrer Schriftenreihe zu publizieren. Jana Trispel hat die Drucklegung des Bandes umsichtig begleitet. Milan Kuhli Florian Jeßberger Alexander Baur

  Ko-Autorin der schriftlichen Fassung: Mariana Boer Martins.   Ko-Autor der schriftlichen Fassung: Jacson Zilio. 3   S. 117 ff. 1 2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Milan Kuhli Korruption – Demokratie – Strafrecht. Eine deutsch-brasilianische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Antonio Martins Korruption als Angriff auf die Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . 23 Till Zimmermann Korruption, Populismus und die Krise des Rechtsstaats in Brasilien . . . 37 Alberto do Amaral Junior & Mariana Boer Martins Zur Strafbarkeit von illegalen Wahlkampfspenden in Brasilien . . . . . . . 55 Helena Regina Lobo da Costa Quid pro quo ohne quid!? Über den in jeder Hinsicht bemerkenswerten „Fall Lula“ . . . . . . . . . 65 Mauricio Stegemann Dieter & Jacson Zilio Die Bedeutung von Integritätsprogrammen („­Programas de integridade“) für das K ­ orruptionsstrafrecht in Brasilien . . . . . . . . . . 77 João Alves Teixeira Neto Anti-Korruptionsimperialismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Philipp Maximilian Holle Prävention und Bewältigung von Korruption im ­internationalen Konzern. Eine Projektvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Timo Junker & Rebekka Lucia Müller & Jonas C. Schulz Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen . . . . . . . . . . . . . . . 117 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Einleitung Milan Kuhli

I. Korruption, Demokratie und Strafrecht Korruption stellt eine Form der Machtausübung dar, die nicht nur in ökonomischer Hinsicht bedrohlich ist. Sie birgt auch ganz unmittelbare Risiken für demokratische Prozesse und Institutionen. Wenn beispielsweise ein öffentlicher Amtsträger die Durchführung einer hoheitlichen Tätigkeit von einer ihm nicht zustehenden Gegenleistung abhängig macht, kann die hiermit einhergehende „Verwischung von öffentlicher und privater Sphäre“ (Antonio Martins)1 – erstens – zu einer illegitimen Bevorzugung und Benachteiligung verschiedener individueller Akteure führen. Die korrupte Handlung kann aber – zweitens – auch die Gefahr begründen, dass die betreffende hoheitliche Tätigkeit nicht sorgfältig oder ordnungsgemäß ausgeführt wird, oder sogar inhaltlich falsch ist2. Soweit derartige korrupte Verhaltensweisen üblich und bekannt sind, kann dies – drittens – aber auch zum Verlust gesellschaftlichen Vertrauens in die Tätigkeit öffentlicher Amtsträger führen, wodurch, jedenfalls mittelbar, die Sinnhaftigkeit demokratischer Wahlen insgesamt in Frage gestellt werden kann3. Bereits hierin zeigt sich der Zusammenhang zwischen Demokratie und Korruption. Er zeigt sich sogar noch klarer dann, wenn politische Wahlen und Wahlergebnisse zum unmittelbaren Gegenstand korrupter Verhaltensweisen werden. In einer durch Korruption geprägten Gesellschaft besteht die ernstzunehmende Gefahr, dass das Ergebnis des politischen Meinungsaustauschs nicht durch die Qualität des Arguments, sondern ausschließlich durch die Quantität ökonomischer Macht bestimmt wird. Die strafrechtliche Reaktion auf korrupte Verhaltensweisen kann daher gerade auch im Blick auf den Schutz demokratischer Grundstrukturen gerechtfertigt sein. Zusätzlich bedarf sie stets auch der Absicherung durch das strafrechtsspezifische Legitimationsprogramm. So schädlich korrupte Verhaltensweisen für eine Demokratie sein mögen, so wenig darf vernachlässigt werden, dass der Vorwurf der strafrechtlichen Korruption   S. 10 in diesem Sammelband.   Vgl. hierzu in diesem Sammelband: Zimmermann, der Korruption als „Kauf einer Fehlentscheidung“ umschreibt (S. 31). 3   Vgl. zum Zusammenhang zwischen Korruption und Populismus den Beitrag von Amaral Junior und Boer Martins in diesem Sammelband. 1 2

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Milan Kuhli

ebenfalls ein Machtinstrument sein kann – ein Machtinstrument, dessen Einsatz seinerseits anfällig für Missbrauch ist4 und das deshalb begrenzt und hinterfragt werden muss.

II. Brasilien und Deutschland Mit dem vorliegenden Sammelbandprojekt soll das aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen Korruption, Demokratie und Strafrecht aus der Perspektive zweier Länder beleuchtet werden, die auf den ersten Blick vor unterschiedlichen Herausforderungen zu stehen scheinen. Während Korruption in Brasilien als ubiquitäres Problem der Eliten wahrgenommen wird, ist das Phänomen in Deutschland weniger sichtbar.5 Dieser Umstand darf aber nicht zu der Fehlvorstellung verleiten, dass Deutschland eine Vorbildfunktion habe, an der andere Länder sich ein Beispiel nehmen können. Vielmehr gibt es durchaus Verbindungslinien und Zusammenhänge zwischen Brasilien und Deutschland, die den auf den ersten Blick vielleicht nicht naheliegenden Vergleich zwischen beiden Ländern fruchtbar erscheinen lassen: Erstens stehen die brasilianische und die deutsche Strafrechtswissenschaft traditionell in einem engen Austausch miteinander, der inhaltlich sowohl die grundlegenden Legitimationszusammenhänge betrifft als auch die konkreten gesetzlichen Ausformungen. Zweitens zeichnet sich das Korruptionsstrafrecht generell durch ein Maß an internationaler und transnationaler Überformung aus, das den Blick über den nationalen Rechtsraum hinaus gebietet und in dem eine demokratische Rückbindung von Korruptionsregeln keineswegs problemlos bejaht werden kann6. Während sich also Art und Ausmaß von Korruption (wenn auch vielleicht weniger als man zunächst meinen mag) ebenso wie die Intensität und Prominenz des öffentlichen Diskurses über Korruption durchaus unterscheidet, liegen jedenfalls die normativen Ausgangspunkte – in der Strafrechtsdogmatik wie im internationalen Recht – nahe beieinander. Mit Bezug auf Brasilien und Deutschland werden die Fragen virulent, ob der Herausforderung, die die Korruption für die Demokratie bewirkt, bei prinzipiell unterschiedlicher Ausgangslage ähnlich oder unterschiedlich begegnet wird und werden muss. Dabei ist eine erschöpfende, systematische Vergleichung der beiden Rechtsordnungen in diesem Sammelband weder geplant noch möglich. Vielmehr dient er dazu, einige Schlaglichter auf zentrale Aspekte und Ereignisse zu werfen. 4   Ein augenfälliges Beispiel für einen problematischen Korruptionsprozess in Brasilien behandelt der Beitrag von Stegemann Dieter und Zilio in diesem Sammelband. 5   Vgl. hierzu den vom Internationalen Sekretariat von Transparency International erstellten Korruptionswahrnehmungsindex: In einem Ranking von 180 Staaten aus dem Jahr 2020 lag Brasilien auf Rang 94, Deutschland hingegen auf Rang 9, abrufbar unter https://www.transparency.org/en/cpi/2020/index/nzl# . 6   Vgl. hierzu den Beitrag von Holle in diesem Sammelband.

Einleitung

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III. Begriff(e) der Korruption Der Begriff der Korruption ist äußerst vielschichtig7. Eine Analyse der vorliegenden Art verlangt deshalb zumindest nach einer ungefähren Bestimmung dessen, was hier unter Korruption verstanden werden kann. Eine schlichte Übersetzung als Bestechung, Bestechlichkeit, Vorteilsgewährung und Vorteilsannahme würde zwar eine gewisse Kongruenz zu den geltenden Straftatbeständen nach §§ 331 bis 334 dStGB8 und Art. 316 bStGB9 herstellen, sähe sich jedoch dem Problem ausgesetzt, dass diese vier Termini ihrerseits hochgradig auslegungsbedürftig sind. Auch eine Klassifikation der unterschiedlichen Konstellationen, in denen heute eine Korruptionsstrafbarkeit in Betracht kommt, hilft in dieser Hinsicht nur bedingt weiter, da die entsprechenden Lebensbereiche und Personengruppen durchaus disparat sind: Strafrechtlich erfasst werden heute etwa in Deutschland nicht nur Handlungen von bzw. gegenüber Richtern, Beamten10 und Mandatsträgern11, sondern auch Aktivitäten im geschäftlichen Verkehr12, im Gesundheitswesen13 und im Bereich des Sports14. Diese Auflistung, die keineswegs abschließend ist, hilft vorliegend deshalb nicht weiter, da sie nur die betreffenden Personen und Lebenssituationen erfasst, jedoch keinerlei Aufschluss über die maßgeblichen – als korrupt bewerteten – Praktiken gibt. Hinzu kommt der Umstand, dass die zugrunde liegenden Straftatbestände mitunter höchst unterschiedliche Entstehungsdaten aufweisen, sodass Verhaltensweisen, die sich in ihren Handlungsabläufen ähneln, nicht zu jeder Zeit und in jeder Rechtsordnung gleichermaßen als korrupt bewertet wurden. Vor diesem Hintergrund zeigt sich bereits, dass der Begriff der Korruption – innerhalb und außerhalb des Strafrechts – offensichtlich auf soziale Ordnungsmuster und Verhaltenserwartungen rekurriert, die kultur- und zeitbedingt sind15. Der hiermit einhergehenden Kontingenz16 des Korruptionsbegriffs bzw. der Korruptionsbegriffe wird in den nachfolgenden Beiträgen Rechnung getragen. 7   Vgl. zu den verschiedenen Dimensionen des Korruptionsbegriffs in diesem Sammelband: Martins (S. 5 ff.); Zimmermann (S. 23 ff.); Amaral Junior und Boer Martins (S. 37 ff.); Lobo da Costa (S. 55 ff.). 8   Deutsches Strafgesetzbuch. 9   Brasilianisches Strafgesetzbuch. 10   Vgl. im Einzelnen und über diesen Personenkreis hinausgehend: §§ 331 ff., 11 Abs. 1 Nr. 2 dStGB. 11   § 108e dStGB; vgl. hierzu Francuski, HRRS 2014, 220 ff. 12   § 299 dStGB; vgl. hierzu Dann, NJW 2016, 203 ff. 13   §§ 299a, 299b dStGB. 14   §§  265c, 265d dStGB; vgl. zur Einordnung des betreffenden Verhaltens als Korruption BT-Drucks. 18/8831, 1, 11; vgl. zu diesen Delikten auch Swoboda/Bohn, JuS 2016, 686 ff. 15  Vgl. Grüne, in: ders./Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, 2010, 11 (16, 19, 31); Engels, Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, 2014, 14; Graeff, in: Grüne/Slanička (Hrsg.), Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, 2010, 54. 16   In der Geschichtswissenschaft versucht man, dieser Kontingenz dadurch zu begegnen, dass bestimmte Parameter der Korruption ermittelt werden, die als zeitunabhängig angesehen werden, vgl. hierzu Kuhli, in: Kretschmer/Zabel (Hrsg.), Studien zur Geschichte des Wirtschaftsstrafrechts, 2018, 333 ff.

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Milan Kuhli

IV. Zu den einzelnen Beiträgen Der vorliegende Sammelband vereint acht Beiträge, die das Verhältnis von Korruption, Demokratie und Strafrecht mit Bezug zu Brasilien, Deutschland und zur internationalen Ebene beleuchten. Antonio Martins nimmt in seinem Beitrag eine „deutsch-brasilianische Betrachtung“17 vor und analysiert hierfür die gemeinsamen Momente des Strafgrundes des Korruptionsstrafrechts. Der Autor begründet hier, dass „die wichtigste Verbindung von Korruption und Demokratie im Bruch mit der prozeduralen Struktur der demokratischen Gesetzgebung“ liegt18. Dieser Bezug wird auch im Beitrag von Till Zimmermann beleuchtet, der hierin die These begründet „dass bestimmte Korruptionsformen einen Angriff auf die Volkssouveränität darstellen“19: „Werden […] politische […] Entscheidungen durch Korruption manipuliert, so liegt in dieser Unterbrechung der demokratischen Legitimationskette eine unfaire Zurücksetzung bestimmter politischer Interessen; man kann es auch so formulieren, dass sich unter Verletzung des politischen Gleichheitsprinzips (one man one vote) bestimmte Partikularinteressen auf Kosten des Allgemeinwohls durchsetzen“20.

Mit der brasilianischen Perspektive befassen sich die folgenden vier Beiträge: Alberto do Amaral Junior und Mariana Boer Martins widmen sich zunächst auf einer abstrakten Ebene dem Zusammenhang zwischen Korruption und Populismus und zeichnen diesen Zusammenhang sodann für die jüngere brasilianische Geschichte nach. Amaral Junior und Boer Martins belegen, dass eine durch das Medium des Strafrechts erfolgende Korruptionskritik in jedem Fall notwendig ist, in bestimmten Konstellationen aber auch populistische Tendenzen begünstigen kann. Die in diesem Kontext wichtige sogenannte „Operation Autowäsche“ – ein Strafverfahren wegen Korruption und Geldwäsche, das die jüngere Geschichte Brasiliens in erheblichem Maße beeinflusst hat – findet auch in dem Beitrag von Helena Regina Lobo da Costa und in dem Beitrag von Mauricio Stegemann Dieter und Jacson Zilio Beachtung. Lobo da Costa analysiert hierbei einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen demokratischer Meinungsbildung und Korruption, indem sie den Fokus auf die brasilianischen Regularien von Wahlkampfspenden legt. Stegemann Dieter und Zilio werfen einen kritischen Blick auf das Korruptionsverfahren gegen den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Den inter- und transnationalen Korruptionsregeln, die auch die brasilianische und die deutsche Rechtsordnung betreffen können, widmen sich der Beitrag von Philipp Maximilian Holle und der Beitrag von Timo Junker, Rebekka Lucia Müller und Jonas C. Schulz. Gegenstand dieser Beiträge sind Compliance-Vorgaben und Korruptionsregeln, die mitunter Auswirkungen über die jeweiligen Landesgrenzen hinweg – in anderen Demokratien – entfalten.   S. 5 in diesem Sammelband.   S. 19 in diesem Sammelband. 19   S. 23 in diesem Sammelband. 20   S. 31 in diesem Sammelband. 17 18

Korruption – Demokratie – Strafrecht. Eine deutsch-brasilianische Betrachtung1 Antonio Martins

I. Einführung Die Frage nach dem Zusammenhang von Korruption, Demokratie und Strafrecht setzt einige Differenzierungen voraus. Eine deutsch-brasilianische Betrachtung dieses Zusammenhangs verlangt die Suche nach gemeinsamen Momenten, die es – trotz der Unterschiede – ermöglichen, ein Panorama der strafrechtlichen Behandlung der Korruption in beiden Ländern zu entwickeln. Darum – um die notwendigen begrifflichen Differenzierungen und um die gemeinsamen, supranationalen Merkmale der Korruption – wird es in diesem Beitrag gehen. Ich verstehe ihn als eine Annäherung an das Thema aus einer vergleichenden Perspektive – und von daher als einen Versuch, ein gegenwärtig viel diskutiertes Thema etwas zu präzisieren. Zu dieser Aufgabe gehört es, für selbstverständlich gehaltene Annahmen zu relativieren und falsche Gewissheiten zu entlarven. Um es vorab zu betonen: Es geht hier nicht primär um Präventionsstrategien, sondern um eine Bestimmung dessen, was mit Korruptionsdelikten bestraft werden sollte. Eine der ersten Schwierigkeiten, die uns begegnet, wenn wir uns dieser Thematik zuwenden, liegt in einer plausiblen Definition des Forschungsgegenstands. Denn als Korruption kann Vieles angesprochen werden, und meistens ist dies auch der Fall in den öffentlichen Debatten. Auch die Fachliteratur behandelt nicht selten unter dem Stichwort Korruption verschiedene Phänomene, die eine differenzierte strafrechtliche Normierung verlangen2. Der Begriff wird, wenn auch immer negativ, unterschiedlich angewendet; man spricht von sittlicher, moralischer, politischer, sogar physischer Korruption. Ein spezifisch strafrechtlicher Korruptionsbegriff wird bei Klassifikationen nicht immer beachtet3.   Carlos Abbenseth, dem liebsten Freund, in memoriam.   S. z.B. das Schema in Rose-Ackermann/Palifka, Corruption and Government, 2016, 8, die unter Korruption nicht nur bribery, sondern auch extortion, judicial and electoral fraud, embezzlement usw. verstehen. Zum Problem der Mehrdeutigkeit des Wortes vgl. Gardiner, in: Heidenheimer/Johnston (Hrsg.), Political Corruption, 3. Aufl. 2002, 25 ff. (Kap. 2, zitiert nach der Kindle-Ausgabe). 3   So legt Engels, Die Geschichte der Korruption, 2014, 191 (Kap. 4, zitiert nach der Kindle-Ausgabe), einen gemeinsamen Nenner bei verschiedenen Anwendungen des Korruptions1 2

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Antonio Martins

Die Vieldeutigkeit des Wortes leistet keinen positiven Beitrag zu einer rechtswissenschaftlichen Behandlung des Themas – noch weniger, wenn es um die Annäherung an unterschiedliche Rechtsordnungen geht. Diese Annäherung setzt allerdings voraus, dass wir von einer gewissen Universalität der rechtlichen Normierung ausgehen. Für meine Zwecke werde ich mich aus diesem Grund auf die Tatbestände konzentrieren, die wir im strafrechtlichen Sinne unter Korruption bei beiden Rechtsordnungen subsumieren. Zentrales Thema der Untersuchung ist also das Verhältnis von der rechtsimmanent bestimmten Korruption und dem politischen Leben. Die Frage, die aufgeworfen wird, lautet, inwiefern (dem Strafrecht nach) eng verstandene Korruptionsakte einen (negativen) Einfluss auf die demokratische Konfiguration einer nationalen Politik haben – und die Entstellung des demokratischen Systems deswegen den materiellen Kern des Korruptionsunrechts mitprägt. Dafür werde ich zuerst versuchen aufzuzeigen, dass die Beziehung zwischen Korruption und Politik eine historisch variable, komplexe und mehrdeutige Beziehung ist. Um etwas Ordnung in das Chaos dieser Mehrdeutigkeit zu bringen, versuche ich, manche Korruptionsbegriffe zu unterscheiden und exemplarische Erklärungsversuche knapp zu erörtern (II). Diese Erklärungsversuche erweisen sich für die strafrechtliche Bestimmung eines materiellen Korruptionsunrechts im besten Fall als unzureichend. Wir müssen darum unterscheiden, was spezifisch politisch (und, ja auch: moralisch) und was rechtlich ist, wenn von Korruption die Rede ist. Ich wende mich dann der Grenzziehung zwischen verschiedenen Korruptionsdiskursen und deren institutioneller Bedeutung zu (III). Als Nächstes erfolgt eine skizzenhafte Darstellung der positivrechtlichen Behandlung von Korruption in Brasilien und Deutschland (IV). Aus einer vergleichenden, rechtsimmanenten Betrachtung beider Systeme möchte ich dann versuchen, den materiellen Unrechtsinhalt der Korruption in seiner Verbindung mit der demokratischen Gesetzgebung zu präzisieren (V)4. Abschließend fasse ich die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammen (VI).

begriffs zugrunde: die Idee der Auflösung oder des Verfalls. Dabei unterscheidet er zwischen einer materiellen, einer moralischen und einer politisch-funktionalen Bedeutung, je nachdem, ob sich der Begriff „auf physisch-materielle Dekomposition und Fäulnis, auf sittlich-moralischen Niedergang im Sinn von Verstößen gegen die soziale und religiöse Ordnung“ oder „auf den Verfall von Institutionen, Gesetzen oder Verfassungen“ bezieht. Natürlich gehört die rechtlich normierte Korruption zum letzten Bereich – sie lässt sich aber nicht unmittelbar als Verfall verstehen und deren Anwendung identifiziert sich nicht gleich mit allen Elementen des dritten Bereichs. Eher wird sich das materielle Unrecht der Korruption mit dem Bezug auf Institutionen, Gesetzen und Verfassungen bestimmen lassen. 4   Es ist wichtig zu betonen, dass der rechtsimmanente Charakter dieser Betrachtung nicht bedeuten soll, dass die Analyse vollkommen positivrechtlich gebunden ist – sonst wäre ein Vergleich zwischen zwei verschiedenen Rechtsordnungen sinnlos. Vielmehr ist der Zweck dieser rechtsimmanenten Bestimmung des Korruptionsunrechts, Merkmale einer systemtranszendenten Definition zu identifizieren. Die Untersuchung arbeitet also an der spannenden Grenze zwischen Gesetzesimmanenz und Gesetzestranszendenz. Wenn ich von Rechtsimmanenz spreche, beziehe mich eher auf den Rechtsdiskurs in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Diskursen (s. unten III).

Korruption – Demokratie – Strafrecht.Eine deutsch-brasilianische Betrachtung

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II. Korruption und Politik: Geschichte und Semantik 1. Begriffsvariationen Die Verbindung mit der Politik hat deutliche Spuren in der Geschichte des Korruptionsbegriffs hinterlassen. In verschiedenen Sprachregistern – etwa im Spätmittelalter, aber auch in der Moderne – erscheint Korruption vor allem als eine Degradierung der Gesellschaft und der Regierung – dabei musste Korruption nicht einmal eine wirtschaftliche Bedeutung haben5. Politische Traktate, Gerichtsakten und auch die Populärliteratur der Zeit unterstützen diese Beobachtung6. Es handelt sich also um die moralische beziehungsweise politische Korruption des Staates, der Regierung, der Gesellschaft7, die dann regelmäßig als kranker Organismus wahrgenommen und gekennzeichnet wurde8. Auch in der politisch-philosophischen Literatur der Moderne gibt es nicht wenige Beispiele, die zeigen, wie Korruption im Sinne eines politischen Verfalls verstanden wird. Es genügt zunächst, einen Blick auf Montesquieus De l’esprit des lois zu richten. Dort ist von der Korruption des Volkes, allgemein von Regierungsprinzipien, im Besonderen der Demokratie, der Aristokratie und der Monarchie, ferner der Republik usw. die Rede9. An einer Stelle bezieht sich Montesquieu ausdrücklich auf zwei Arten von Korruption: Diejenige, die bedeutet, dass das Volk die Gesetze nicht beachtet, und diejenige, die bedeutet, dass das Volk von Gesetzen selbst korrumpiert wird10. Es scheint also plausibel zu sein, anzunehmen, dass eine semantische Verschiebung11 vonnöten war, damit Korruption mit den einzelnen kriminellen Praktiken assoziiert werden konnte, die stets mit einem wirtschaftlichen Interesse verbunden sind und heutzutage meistens unter Strafe gestellt werden12. Aber auch die Verbindung zwischen Korruption und wirtschaftlichem Interesse öffnet den Begriff für eine Pluralität von Bedeutungen. Dies wird zum 5   Für die Begriffsanwendung auf der iberischen Halbinsel und in den amerikanischen Kolonien s. die grundlegende Untersuchung von Romeiro, Corrupção e poder no Brasil. Uma história, séculos XVI a XVIII, 2017, 19 ff. Zum brasilianischen Kaisertum und zur Ersten Republik in diesem Sinne auch Schwarcz, Sobre o autoritarismo brasileiro, 2019, 103 f. Für eine allgemeine begriffsgeschichtliche Rekonstruktion vgl. Engels (Fn. 2), 191 ff. 6   Romeiro (Fn. 4), 27. 7   Vgl. auch Engels (Fn. 2), 192. 8   Romeiro (Fn. 4), 33. 9   Montesquieu, De l’esprit des lois, 1772, achtes Buch. 10   Montesquieu (Fn. 8), 105 (sechstes Buch, Kap. XII). 11   Die Problematik bezieht also zwei Aspekte mit ein: Auf der einen Seite steht die gegenwärtige semantische Vieldeutigkeit des Korruptionsbegriffs, auf der anderen Seite der begriffsgeschichtliche Wandel. Zum letztgenannten Aspekt vgl. Koselleck, Begriffsgeschichten, 2006, 100: „Deshalb enthalten alle Begriffe eine zeitliche Binnenstruktur. Je nachdem, wie viele vorausliegende Erfahrungsgehalte in ihm angesammelt wurden, und je nachdem, wie viel innovative Erwartungshandlungen in ihn eingehen, hat ein Begriff unterscheidbare zeitliche Wertigkeiten. Es gibt rückblickende Begriffe, die alte Erfahrungen gespeichert halten und sich gegen Umdeutungen sperren, und vorausschauende Begriffe, Vorgriffe, die eine neue oder andere Zukunft heraufbeschwören, terminologisch gesprochen: Erfahrungs-, Erwartungs-, Bewegungs-, Zukunftsbegriffe u.a.“ 12  Dazu Romeiro (Fn. 4), 32.

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Antonio Martins

Beispiel evident, wenn sich Forscher darum bemühen, Korruptionsformen der Vergangenheit zu kartographieren. Unter Korruption versteht man oft auch Schmuggel, Täuschung und andere Praktiken, die prinzipiell – technisch – von Korruption unterschieden werden können13. Es geht vermutlich um eine undifferenzierte Summe von Taten, deren gemeinsame Charakteristik darin besteht, zur Degradierung des sozialen Raums beizutragen – denn irgendwie wird etwas identifiziert, das durch diese Praktiken korrumpiert wird. Diese Degradierung kann moralische, politische und wirtschaftliche Folgen haben. Indes – obwohl diese Praktiken freilich eine negative Auswirkung auf den Staat und das soziale Leben haben – werden sie heute nicht als Korruptionsdelikte angesehen. Weder habe ich dafür die notwendige Fachkompetenz, noch verfüge ich im Rahmen dieses Aufsatzes über den Raum, die Begriffsgeschichte von „Korruption“ zu untersuchen oder einen sprachwissenschaftlichen Vergleich von unterschiedlichen Anwendungen dieses Begriffs anzubieten. Dies liegt fern von unserem Erkenntnisinteresse. Hervorheben möchte ich aber, dass Politik und Korruption begriffsgeschichtlich miteinander verwoben sind und dass der semantische Spielraum des Korruptionsbegriffs mit der Idee eines Gesellschaftsverfalls qua Korrumpierung der Politik verbunden ist. Zugleich müssen wir beachten, dass diese Generalisierung nicht immer dem typisch zeitgenössischen und typisch strafrechtswissenschaftlichen Verständnis von Korruption gerecht wird. Dies ist auch deshalb von Bedeutung für die vorliegende Untersuchung, weil es eine verbreitete Neigung gibt, eher Kontinuitätslinien als historische Differenzen zwischen Korruptionspraktiken aufzeigen zu wollen14. Diese Tendenz, die bereits angesichts der semantischen Variationen des Begriffs problematisch ist, führt zu einer äquivoken Vereinfachung des Korruptionsphänomens und der Erklärung für dessen Gründe. Das heißt, die komplexen Nuancen und Variationen zwischen Begriffs- und Realitätswandel bleiben außer Acht15. Wenn diese Vereinfachung bereits für ein rechtsinternes Verständnis der Korruption nachteilig ist, ist sie für eine rechtsvergleichende Analyse verheerend. Fragen wir nach dem Unrechtsgehalt von Korruptionsdelikten in unterschiedlichen Rechtsordnungen, müssen wir uns auf die normative Struktur der entsprechenden Tatbestände konzentrieren. 13   Romeiro (Fn. 4), 33. In ihrem Buch beginnt die Autorin das Kapitel über „Korruption in Brasilien“ etwa mit der Bemerkung, dass in der Kolonialzeit Schmuggel das Unrecht par excellence war. 14   Dabei wird auch der normative Beitrag des Rechts zur Präzisierung oder Neuschaffung der Begriffskonturen oft völlig vernachlässigt oder verkannt. Exemplarisch hierfür ist die Annahme des Richters im brasilianischen Obersten Bundesgerichtshof Barroso, „Technological Revolution, Democratic Recession and Climate Change: The Limit of Law in a Changing World“, CCDP 2019-009, September 2019, 37 (zugl. „Revolução tecnológica, crise da democracia e mudança climática: limites do direito num mundo em transformação, Revista Estudos Institucionais 5 [2019], 1262 ff. [1292]), erst in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurde die Korruption als ernsthaftes Problem angesehen („corruption has only come to been seen as a serious issue in the last decades of the last century“). Als Begründung für diese überraschende These führt der Autor eine Reihe von internationalen Abkommen an. 15  Dazu Koselleck (Fn. 10), 88 f.

Korruption – Demokratie – Strafrecht.Eine deutsch-brasilianische Betrachtung

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2. Die Tragweite historisch-soziologischer Betrachtungen Eine Reihe von soziologischen Thesen oder Hypothesen werden angeführt, um die systematische oder weniger systematische Korruptionspraxis zu erklären. Dies ist besonders ausgeprägt in der brasilianischen Soziologie, die am systematischen Charakter der Korruption im öffentlichen Leben nicht vorbeigehen konnte. Ich konzentriere mich an dieser Stelle insbesondere auf die brasilianische Diskussion – nicht zuletzt deshalb, weil ich den starken Eindruck habe, dass diese Theorien öfter in Brasilien als in Deutschland eine Rolle im Rahmen der strafrechtlichen Debatte spielen. Unabhängig von der Richtigkeit von soziologischen Thesen beziehungsweise Hypothesen, sehe ich in ihnen für die rechtliche Analyse eine Gefahr: Nämlich, dass wir eine Erklärung der kontingenten Gründe für eine soziale Praxis mit dem rechtlichen Inhalt dieser Praxis verwechseln. Es besteht zwar kein Zweifel, dass beides miteinander zu tun hat, dass wir also etwas für unsere Analyse gewinnen können, wenn wir verstehen, warum sich eine Praxis über Jahrhunderte hinweg systematisch etabliert hat. Aber eine Identifizierung beider Fragestellungen ist falsch und trägt vor allem nicht zum Rechtsvergleich bei. Denn dieser Vergleich muss sich auf normativ Gemeinsames, nicht auf geschichtlich oder sozial Variables stützen. Eine solche „Soziologisierung“ der strafrechtlichen Diskussion ist deshalb so verführerisch, weil auch im Bereich des Strafrechts das Problem der Korruption meistens im Hinblick auf seine „Bekämpfung“ behandelt wird16. So überraschend dies auch ist, kreisen die meisten Untersuchungen um das utilitaristische Problem der Bekämpfung einer schlechten oder bösen Praxis, ohne sich vorher die Frage zu stellen, was genau an dieser Praxis schlecht ist – eine Frage, die dann mit einem Hinweis auf die sozialen Folgen jener Praxis nur angeblich beantwortet wird. Denn die Antwort, Korruption führt etwa zur sozialen Ungleichheit, ist noch immer eine Scheinantwort, solange wir uns nicht klargemacht haben, warum diese Art, Ungleichheit zu fördern, inakzeptabel ist, indem also die Frage nach dem konkreten Unrechtsinhalt der Korruption nicht gestellt wird. Wenden wir uns einem der meist akzeptierten soziologischen Erklärungsmodelle für die systematische Korruptionspraxis in Brasilien zu. Es handelt sich um die sogenannte Patrimonialismus-These. Die Ursprünge dieser These finden wir im Werk von Buarque de Holanda17, sie wurde aber weit präziser entwickelt – im Zusammenhang mit einer intensiven Rezeption von Max Webers Soziologie18 – von Raymundo Faoro19. Diese These gilt noch immer für viele als richtig, beinahe selbstverständlich20 – obwohl sie in jüngsten Zeiten heftig angegriffen  Exemplarisch Rose-Ackermann/Palifka (Fn. 1), 205 ff.   Buarque de Holanda, Raízes do Brasil, 2015 (Originalausgabe 1936; auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Die Wurzeln Brasiliens, 2013). 18  Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 2 Teile in einem Band, 2010 (1922), Bd. 1, 171 ff., Bd. 2, 742 ff., 795 ff. 19   Faoro, Os donos do poder. Formação do patronato brasileiro, 5. Aufl. 2012. 20   Schwarcz (Fn. 4), 64 ff. 16 17

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wurde21. Laut der Patrimonialismus-These ist die historische Entwicklung Brasiliens seit der Kolonialzeit von der Bildung eines Standes gekennzeichnet, der ohne Unterbrechung die politische Macht nach seinen eigenen Interessen – und völlig losgelöst vom Rest der Bevölkerung – ausübt. Dies führt zu einer korrumpierten Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft, in der öffentliches Eigentum hemmungslos von jenem Stand angeeignet wird. Dieser Zustand ist auf die Ursprünge der Machtverteilung in der Kolonie zurückzuführen: Angesichts eines immensen Territoriums, das noch größtenteils zu beherrschen war, und als Folge der rudimentären Verwaltungsstruktur verzichtete die Metropole auf die Ausübung einer effektiven Kontrolle über die politische Macht in der Kolonie, die letztendlich von den Agrareigentümern frei und privat ausgeübt wurde: „Der Kolonialstaat wird so bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zum Klasseninstrument dieser Eigentümer“22. Das Fortbestehen dieser Subversion der Staatsmacht für private Zwecke, ungestört von Modernisierungsprozessen, prägt die Verwischung von öffentlicher und privater Sphäre. Die geringe normative Kraft der Rechtsordnung, vor allem der Verfassung, ist Folge und Motor dieser perversen Struktur23. In der emphatischen Zusammenfassung von Faoro heißt es: „Macht – namentlich Volkssouveränität – hat Eigentümer, die nicht von der Nation, von der Gesellschaft, von dem ignoranten und armen Plebs ausgehen. Der Chef ist kein Delegierter, sondern ein Geschäftsführer, ein Geschäftsführer und kein Vertreter. Der Staat wehrt sich, wenn immer möglich durch Kooptation, wenn nötig mit Gewalt, gegen alle Angriffe und wird in seinen Konflikten auf die Eroberung seitens der führenden Mitglieder seines Militärstabs reduziert. Und das Volk, Wort und nicht Realität der Gegengruppe, was will es? Das Volk oszilliert zwischen Parasitismus, der Mobilisierung von Demonstrationen ohne politische Beteiligung und der Nationalisierung der Macht – es kümmert sich dabei eher um die neuen Herren, Kinder des Kapitals und der Subversion, als um die väterlichen Kommandeure in der Höhe, Gewährer, wie der gute Fürst, von Gerechtigkeit und Schutz. Das Gesetz, rhetorisch und elegant, inte­ ressiert es nicht. Die Wahlen, wenn auch formell frei, bieten dem Volk Alternativen, die es nicht formuliert hat.“24

Die genannte Verwischung von öffentlicher und privater Sphäre sei für die Kontinuitätslinie in der Korruptionspraxis verantwortlich, so die abgeleitete These, die im Rahmen der strafrechtlichen Debatte ins Leben gerufen wurde25. Streng genommen sollte jedoch die Patrimonialismus-These der Annahme Plausibilität gewähren, nach welcher Korruptionspraktiken dermaßen mit dem brasilianischen Staatswesen verwickelt sind, dass eine strafrechtliche Verfolgung aus21   Vor allem Souza, A tolice da inteligência brasileira, 2.  Aufl. 2018, insb. 51  ff.; ders., A ralé brasileira, 3.  Aufl. 2018, 83  ff. Der Autor sieht in dieser These auf der einen Seite eine „Dämonisierung“ des Staates und auf der anderen Seite eine Idealisierung des Marktes und der Marktwirtschaft. 22   Prado Jr., Evolução política do Brasil e outros estudos, 2012, 32. [Übers. A.M.] 23   Faoro (Fn. 18), 829, 833: „Die theoretische Legalität stellt, abgesehen von der Eleganz des Satzes, einen anderen Inhalt dar als die Sitten, Traditionen und Bedürfnisse der Adressaten der Norm. Ein sarkastischer Historiker forderte die Verabschiedung eines Gesetzes, das die anderen verbindlich macht, um die Diskrepanz auszuräumen.“ [Übers. A.M.] 24   Faoro (Fn. 18), 837. [Übers. A.M.] 25  Etwa Shecaira, in: FS für Juarez Tavares, 2012, 603 ff. (607 ff.).

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sichtslos (im besten Fall idealistisch) ist. Dass gerade dieses soziologische Argument für eine Intensivierung der strafrechtlichen Verfolgung von Korruption angeführt wird, markiert die prekäre wissenschaftliche Untermauerung der Diskussion. Dabei werden wesentliche Aspekte ausgeblendet: Zum Beispiel, dass es auch eine Korruption der Kleinen gibt, die verfolgt werden sollte; aber vor allem die Tatsache, dass die Skandalisierung der strafrechtlichen Korruptionsbekämpfung eher der Verschleierung solcher tiefgründigen gesellschaftspolitischen Realität als deren wirklichen Veränderung dient. Gleichwohl deutet der Rückblick auf die Patrimonialismus-These auf den richtigen Weg hin. Es ist freilich nicht möglich, den Inhalt von Korruptionsdelikten durch soziologische Analysen zu bestimmen. Aber die Tatsache, dass das Korruptionsphänomen besonders dort ausgeprägt ist, wo Macht und Politik privaten Interessen dienen, wo Politik sozusagen zu privaten Zwecken umgedeutet wird – diese Tatsache indiziert, dass der Unrechtsgehalt der Korruption in der Überschneidung von Korruption und Politik liegt. Ähnlich verhält es sich mit den Phänomenen der „Wahlkorruption“ und des sogenannten Coronelismus26. Der Terminus bezieht sich auf ein System von Täuschungen, Zwang und Nötigung, das die Wahlergebnisse auf dem Land über Jahrzehnte hinweg – vor allem während der „Ersten Republik“ – bestimmte und zum Teil noch heute in manchen Regionen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Es handelt sich auch hier um eine Einmischung von privaten Interessen ins öffentliche Leben. Eine Agrarelite, die allmählich Macht gegenüber der zentralen Regierung einbüßt, bestimmt durch Gewalt und Korruption die Wahlergebnisse. Dies geschieht vor allem im Interesse der Zentralregierung. Es handelt sich also weniger um das ungestörte Fortbestehen eines Systems von Privilegien der Agrarelite als um einen Kompromiss zwischen heruntergekommener privater Macht und aufsteigender öffentlicher Macht27. Dass solche Praktiken eine erodierende Wirkung auf die (ja nur formelle) Demokratie haben, leuchtet ein. Wieder begegnen wir einer besonderen Kombination von korrupter Praxis und institutioneller Politik, die für das Verständnis des Unrechtsinhalts der Korruption nicht irrelevant ist. Dieser Inhalt lässt sich jedoch nicht allein von dieser Kombination bestimmen.

III. Zwischenspiel: Abgrenzung von Korruptionsdiskursen 1. Diskursive Bereiche Es ist nötig, die bis hier genannten Korruptionsbegriffe klar voneinander zu unterscheiden. Je nach diskursivem Kontext wird der Begriff anders angewendet. Wollen wir uns auf einen rechtlichen Begriff konzentrieren, müssen wir die Grenzen dieser Anwendungen klarmachen. Ich schlage vor, dass wir von   Vgl. das Standardwerk von Nunes Leal, Coronelismo, enxada e voto, 7. Aufl. 2012, bes. 222.   Nunes Leal (Fn. 26), 231.

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einem normativen Diskursbegriff28 ausgehen und dabei versuchen, strukturelle Elemente einzelner sozialer Diskurse zu identifizieren. Diese Diskurse sind aufeinander angewiesen, jedoch mit einer relativen Autonomie unterschiedlich strukturiert. Der Rechtsdiskurs hat einen institutionellen Rahmen, der ihn von anderen Diskursen scharf unterscheidet. Denn das konstitutive Merkmal des rechtlichen Diskurses ist der notwendige Bezug auf Gesetzlichkeit, auf eine vorher demokratisch legitimierte, kollektiv erzeugte Norm, und auf demokratisch vorbestimmte Verfahren. Dieser Bezug auf Gesetzlichkeit und Verfahren zwingt zu einer Selbstbegrenzung, die im Bereich etwa der Ethik, der Soziologie oder der Historik kontraproduktiv wäre. Denn die Grenzen des moralischen Diskurses sind konzeptuell offener; es gibt kein institutionelles Verfahren, das die Frage nach dem moralisch Richtigen – und also die Argumentation um die Richtigkeit einer Norm oder einer Handlung – einschränkt. Diese Offenheit ist ein wichtiges Moment des moralischen Diskurses. Soziologisch oder geschichtswissenschaftlich gesehen mag es viel interessanter sein, Berührungspunkte zwischen Phänomenen wie Bestechung, Schmuggel und „Wahlkorruption“ zu identifizieren, als diese Phänomene deutlich voneinander zu unterscheiden. Unter Bedingungen eines rationalen Diskurses (ich meine vor allem: den Wahrheitsbezug und die interne Kohärenz der Argumentation) scheint hier vieles disponibel beziehungsweise variabel zu sein. Nicht aber im Rechtsdiskurs – und vor allem nicht im Rahmen des Strafrechtsdiskurses. Im Rechtsdiskurs nicht, weil dieser Diskurs, wie gesagt, auf seine Prozeduren und den Willen des Gesetzgebers angewiesen ist. Im Strafrechtsdiskurs spezifisch nicht, weil seine Konturen deutlich gezeichnet sind, seine Grenzen normativ (selbst) gezogen werden. Diese Grenzen sind streng, allen voran der Grundsatz der Gesetzlichkeit. Vor und über dem Strafgesetz „existieren“ also keine Korruptionsdelikte, nur noch das vage bestimmte soziale Phänomen der „Korruption“. 2. Aufgabe und Kapazität des Rechtsdiskurses Versuche, ethische Ziele durch Strafrecht zu verfolgen, müssen ebenso wie auch Versuche, einen strafrechtlichen Begriff von der Gesellschaftssemantik allein bestimmen zu wollen, scheitern. Wenn im Namen der „Korruptionsbekämpfung“ versucht wird, aufgrund eines ethischen Ideals „Korruption“ als gesellschaftliches Phänomen – das heißt: losgelöst von der Spezifizität der juristischen Eingrenzung – zu bekämpfen, hat dieser Korruptionsdiskurs nur noch eine politische Bedeutung. Der Eingriff anderer Diskursarten untergräbt den Rechtsdiskurs. Dieser Eingriff darf nicht verharmlost werden: In ihm steckt eine Gefahr für den Rechtsstaat. Die jüngste politische Geschichte Brasiliens zeugt davon. Es handelt sich um einen komplexen Zusammenhang. Denn durch diese Verzerrung des Rechtsdiskurses operiert man zugleich – paradoxerweise – mit einer Neutralisierung des Korruptionsbegriffs in seiner alltagspolitischen Bedeutung. Ja: Mit dem übermäßigen Hinweis auf die desaströsen Konsequenzen der „Kor28

 Vgl. Martins, Flüchtige Grenzen: Hermeneutik und Diskurstheorie im Recht, 2013, 312 ff.

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ruption“ für das Wirtschafts- und das politische System wird die historische Bedeutung des Antikorruptionsdiskurses in einem Land wie Brasilien ausgeblendet29. Der Korruptionsbegriff wird also im Rahmen eines Sensationsplädoyers für die Bestrafung von „Korrupten“ entpolitisiert. Es wird dabei ignoriert, dass der sogenannte Antikorruptionskampf historisch betrachtet eine wichtige Rolle als autoritär-konservative Reaktion gegen sozialsensible Regierungen gespielt hat30. Dies gilt insbesondere für die politische Gegenwart Brasiliens. Nach einer großen Antikorruptionsbewegung und einer massiven Antikorruptionspropaganda folgte eine politische Aufspaltung der Gesellschaft, die die Machtübernahme eines Kandidaten mit ausgesprochen antidemokratischen Tendenzen ermöglichte. Die genannte Antikorruptionspropaganda nimmt für sich in Anspruch, sich durch eine sehr rudimentäre Form von positiver Generalprävention zu legitimieren – eigentlich eine Perversion der Idee der positiven Generalprävention. In dieser Legitimationsstrategie sprechen ihre Anhänger von einer Erneuerung gesellschaftlicher Werte, einem neuen Ethos31. Dass dies nur ein Zerrbild der positiven Generalprävention sein kann, leuchtet ein32. Denn es geht bei diesem   Vgl. hierzu Casara, Estado pós-democrático, 2018, 214 ff.   Der wiederkehrende Antikorruptionsdiskurs geht zurück auf den sogenannten Udenismus als Kennzeichen des offiziellen Diskurses der konservativen Partei in der ersten demokratischen Periode nach dem Zweiten Weltkrieg (die União Democrática Nacional, UDN, etablierte sich als wichtigste konservative Kraft zwischen 1945 und 1964) und in diesem Rahmen auf Lacerdas Kritik an Vargas in den 1950er-Jahren; auf die Wahlkampagne vom Populisten Jânio Quadros Anfang der 1960er-Jahre und die Opposition gegen seinen Nachfolger João Goulart (zusammen mit der Beseitigung der „kommunistischen Gefahr“ galt der Korruptionskampf als offizieller Grund für den Militärputsch 1964); bis auf die Wahl des Rechtskandidaten beim ersten demokratischen Wahlkampf unter der aktuellen Verfassung 1988. Die politische Bewegung gegen die Regierung Roussefs der Arbeiterpartei (PT) war stark von einem Antikorruptionsdiskurs geprägt. Diese Bewegung hatte in der Staatsanwaltschaft und in Teilen der Justiz eine wichtige Stütze. Mittlerweile wissen wir aufgrund der Veröffentlichung privater Nachrichten im Rahmen einer journalistischen Untersuchung (des Mediums „The Intercept_Brasil“), dass Mitglieder der Staatsanwaltschaft und der spätere Justizminister Sérgio Moro, Richter in einem grenzenlosen Korruptionsverfahren, politisch motiviert gehandelt und durchaus versucht haben, durch das Strafverfahren das politische Leben des Landes zu beeinflussen. Dass sie in diesem Versuch erfolgreich waren, darunter leidet Brasilien noch immer. Zu einer reflexiven Rekonstruktion dieser Geschehnisse und einer Einschätzung der Rolle der Justiz und des Antikorruptionsdiskurses vgl. Soares, O Brasil e seu duplo, 2019, 200 ff. Ferner Casara (Fn. 29), 179 ff.; Mascaro, Crise e golpe, 2018, 50 ff., 72 ff., 131 ff. 31   Um nur ein Beispiel zu nennen, spricht der bereits zitierte Richter im Obersten Bundesgerichtshof Barroso wiederholt von einem neuen ethischen Standard, der durch Strafverfahren gegen Korruption (vor allem den sogenannten Lava Jato-Prozess) etabliert wurde. Der Bezug auf eine „neue Ordnung“ kann in verschiedenen, journalistischen und „wissenschaftlichen“ Texten festgestellt werden, etwa https://luisrobertobarroso.com.br/wp-content/uploads/2019/12/Osequestro-da-narrativa.pdf ; https://www1.folha.uol.com.br/ilustrissima/2018/02/ em-artigo-ministro-do-supremo-rebate-criticas-feitas-ao-tribunal.shtml?loggedpaywall ; https://luisrobertobarroso.com.br/wp-content/uploads/2019/02/Full-versionThirty-years-of-the-Brazilian-Constitution-I-Connect-Final-version.pdf . 32   Für wissenschaftlich fundierte Theorien der Generalprävention halte ich natürlich sowohl – nach der Nomenklatur von Neumann, in: Schünemann/von Hirsch/Jareborg (Hrsg.), Positive Generalprävention, 1998, 147 ff. – sozialtechnologische als auch kommunikative Modelle. Keines dieser Modelle bezweckt, die Gesellschaft durch Strafrecht zu moralisieren, sondern 29 30

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Diskurs weder um die Bestätigung der Normgeltung noch um Gesellschaftsstabilisierung durch gerechte Strafen, sondern um eine ethische „Reinigung“ der Gesellschaft, die nicht nur in der Absicht diskutabel ist, sondern jenseits der Kapazität eines rechtsstaatlichen Strafrechts liegt. Auch hier sprengt diese Argumentation die Grenzen des Rechtsdiskurses.

IV. Korruptionsdelikte in Brasilien und Deutschland In Brasilien gibt es zwei Grundtatbestände der Korruption (Bestechungstatbestände), namentlich die passive Korruption (Art. 317 bStGB33), ein Sonderdelikt, das nur von Amtsträgern begangen werden kann, und die aktive Korruption (Art. 333 bStGB)34. Unter diesen Straftatbeständen müssen wir die entsprechenden Korruptionstatbestände des deutschen Strafrechts subsumieren, also: Vorteilsannahme (§  331 dStGB35), Bestechlichkeit (§  332 dStGB), Vorteilsgewährung (§ 333 dStGB), Bestechung (§ 334 dStGB) und Abgeordnetenbestechung (§ 108 dStGB). Diese Subsumtion ist in der Tat durch das Zusammenspiel von Grund- und Qualifikationstatbeständen – ähnlich also wie im deutschen Strafrecht, nur dass die entsprechenden Qualifikationstatbestände nicht autonom formuliert und geregelt werden – und einem weiten Beamtenbegriff möglich. Die private Korruption – also Bestechung und Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr (§ 299 dStGB) – ist nach brasilianischem Recht nicht strafbar. Aktive und passive Korruption sind komplementäre, aber asymmetrische Tatbestände. In beiden geht es um Tätigkeitsdelikte, da das Eintreten eines Erfolgs nicht Tatbestandsvoraussetzung ist. Der Erfolgseintritt wird vielmehr strafschärfend bewertet und ist deshalb in Qualifikationstatbeständen erfasst. Bedeutende Autoren vertreten in diesem Sinne die Meinung, dass diesen Qualifikationstatbeständen – der Form nach – die Beendigungsphase der „eigentlichen“ Straftaten entspricht, während die Grundtatbestände Versuchsdelikte sind, die aus kriminalpolitischen Gründen in autonome Tatbestände umgewandelt wurden36. Es besteht also ein Fall der Vorverlagerung des Strafrechtseingriffs. Es ist umstritten, ob der Vorteil, der nach dem Gesetzeswortlaut auch ein Vorteil für Dritte sein kann, materieller beziehungsweise wirtschaftlicher Natur sein muss; das Vertrauen in die Rechtsordnung sichern. Die dadurch erreichte Stabilisierung hängt beim kommunikativen Modell von der Möglichkeit ab, die Strafe gegenüber dem Täter und Dritten zu rechtfertigen. Vgl. ebd., 150. Zu diesen Modellen im Einzelnen vgl. grundlegend Jakobs, Strafrecht AT, 2.  Aufl. 1993, 9  f.: ders., Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, 2004; ders., Rechtszwang und Personalität, 2008, 30 ff.; Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, 316 ff., 324 ff.; ders., Warum Strafe sein muss. Ein Plädoyer, 2009, 96 ff. 33   Brasilianisches Strafgesetzbuch. 34  Zu einer allgemeinen Darstellung vgl. Habib, Brasil: quinhentos anos de corrupção. ­Enfoque sócio-histórico-jurídico-penal, 1994, 160 ff. Ferner zur Geschichte der Bestechungskriminalisierung Shecaira (Fn. 25), 609 f. 35   Deutsches Strafgesetzbuch. 36   Hungria, Comentários ao Código Penal, Bd. IX, 2. Aufl. 1959, 372; Fragoso, Lições de Direito Penal. Parte Especial, Bd. 2, 1986, 422.

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wie in Deutschland37 lautet die herrschende Meinung, dass auch immaterielle Vorteile tatbestandsbegründend sind38. Die Ausführung, Unterlassung oder Verzögerung einer Diensthandlung aufgrund einer Bitte oder unter Einfluss eines Dritten begründet den Privilegierungstatbestand der passiven Korruption (Art. 317 Abs. 2 bStGB). Von der Korruption ist darüber hinaus der Tatbestand des Art. 319 bStGB zu unterscheiden: Hier geht es darum, dass der Amtsträger eine Diensthandlung verzögert, unterlässt oder sie gegen den Gesetzeswortlaut ausführt, um sein eigenes Interesse oder persönliches Empfinden zu befriedigen. Asymmetrisch sind die Korruptionstatbestände zunächst, weil die aktive Korruption (Art. 333 bStGB)39 voraussetzt, dass der Täter einen ungebührlichen Vorteil verspricht, um einen Amtsträger zur Ausführung, Unterlassung oder Verzögerung einer Diensthandlung zu bestimmen. Beim Tatbestand der passiven Korruption (Art. 317 bStGB)40 verbietet die Strafnorm dem Amtsträger aufgrund seines Amtes einen ungebührlichen Vorteil anzufordern oder anzunehmen (oder das Versprechen eines ungebührlichen Vorteils anzunehmen), auch wenn er sein Amt noch nicht angetreten hat (also vor einer möglichen Dienstausübung). Symmetrisch sind allerdings die Qualifikationstatbestände (Art. 317 Abs. 141 und Art. 333, einzelner Abs. bStGB42). Es gilt also, dass es nach dem Wortlaut für die passive Korruption nicht erforderlich erscheint, dass der Amtsträger einen ungebührlichen Vorteil für die Ausführung einer spezifischen Diensthandlung anfordert oder annimmt43, während für die aktive Korruption die Konkretisierung einer Diensthandlung (wenn auch nicht ihre tatsächliche Ausführung) notwendig ist. Allerdings muss das Anfordern oder die Annahme des Vorteils in Verbindung mit der Dienstausübung stehen. Aus diesem Grund behauptet Fragoso, dass „das Verbrechen in der Perspektive einer Diensthandlung liegt, auf die die Staatsanwaltschaft in der Anklage hinweisen und die im Laufe des Strafverfahrens nachgewiesen werden muss“44. In jedem Fall reicht die bloße Tatsache, Amtsträger zu sein, nicht aus; es muss nachgewiesen werden, dass der Amtsträger in der Lage ist, eine erwünschte Diensthandlung auszuführen oder zu unterlassen45. Es kann deswegen von einer gewissen Parallele zwischen Vorteilsannahme/Vorteilsgewährung im deutschen Strafrecht und den Grundtatbeständen der Korruption im brasilianischen Strafrecht auf der einen Seite sowie Bestechung/Bestechlichkeit im deutschen 37   Vgl. NK-StGB/Kuhlen, Bd. 3, 5. Aufl. 2017, § 331, Rn. 39 ff.; MüKoStGB/Korte, Bd. 5, 3. Aufl. 2019, § 331, Rn. 86 ff.; Rengier, Strafrecht BT II, 16. Aufl. 2015, 533 ff. 38  So Bitencourt, Tratado de direito penal, Bd. 5, 12. Aufl. 2018, 121; Fragoso (Fn. 36), 419; Busato, Direito Penal. Parte Especial, Bd. 3, 2. Aufl. 2017, 511; Habib (Fn. 34), 173. Dagegen Hungria (Fn. 36), 370, der nur Vorteile wirtschaftlicher Art akzeptiert. 39   S. Anhang. 40   S. Anhang. 41   S. Anhang. 42   S. Anhang. 43  Vgl. Busato (Fn. 38), 510. Dies wurde auch im bekannten Korruptionsverfahren im Obersten Bundesgerichtshofs wegen Abgeordnetenbestechung (STF, Ação Penal 470) anerkannt. 44   Fragoso (Fn. 36), 418. 45  Vgl. Greco/Teixeira, in: Leite/Teixeira (Hrsg.), Crime e política, 2017, 19 ff. (44). Ferner Quandt, in: Leite/Teixeira (Hrsg.), Crime e política, 2017, 53 ff.

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Strafrecht und den Qualifikationstatbeständen im brasilianischen Strafrecht auf der anderen Seite ausgegangen werden – ohne freilich, dass sich die Tatbestände völlig deckten. Eine zweite Asymmetrie besteht darin, dass aktive und passive Korruption in unterschiedlichen Zeitpunkten begangen werden können. Die passive Korruption kann sowohl vor als auch nach einer Diensthandlung begangen werden, während die aktive Korruption auf die Erwartung einer zukünftigen Diensthandlung angewiesen ist46. Die Asymmetrien zwischen den Grundtatbeständen führen also dazu, dass nicht nur die aktive ohne die passive Korruption bestehen kann – was naheliegt, da das Anbieten oder Versprechen eines Vorteils zumindest als Bestechungsversuch meistens strafbar sein wird –, sondern auch die passive ohne die entsprechende aktive Korruption47. Denn jemand kann einem Amtsträger einen Vorteil anbieten, der angenommen wird, ohne jedoch auf die Ausführung einer bestimmten Diensthandlung abzuzielen, oder einen Vorteil geben, nachdem die Diensthandlung ausgeführt wurde. Dies wirft die Frage auf, ob die Asymmetrie zwischen den Grundtatbeständen in diesem Fall durch die Anerkennung einer Beteiligung des Vorteilsgebers an der Tat des Vorteilsnehmers kompensiert werden kann. Die brasilianische Strafrechtswissenschaft lehnt diese Möglichkeit zu Recht ab, weil sie der Logik der Korruptionskriminalisierung in Brasilien widerspricht. Die erste Grenze ist semantischer Natur: Es liegt auf der Hand, dass derjenige, der anbietet oder verspricht, sich nicht an der Forderung eines Vorteils beteiligen kann. Für die zweite Handlungsmodalität der passiven Korruption (die Annahme des Vorteils) gilt diese Wortlautgrenze jedoch nicht48; es könnte zumindest von einer Anstiftung ausgegangen werden. Hier scheint mir eher die systematische Auslegung des Strafgesetzbuches gegen diese Alternative zu sprechen. Denn wenn die Beteiligung an der passiven Tat für die Kriminalisierung ausreichend wäre, ergäbe es keinen Sinn, einen autonomen Tatbestand der aktiven Korruption mit besonderen Voraussetzungen für die Tatbestandsverwirklichung zu schaffen.

V. Das Unrecht der Korruption und die Demokratie Es gilt zuletzt, eine gemeinsame materielle Basis für die Kriminalisierung von Korruptionsdelikten zu suchen. Ich kann hier keine ausführliche Behandlung dieser komplexen Problematik anbieten, sondern möchte nur einige Merkmale 46   Hungria (Fn. 36), 369; Fragoso (Fn. 36), 420. Anderer Meinung ist Busato (Fn. 35), 628, da der Amtsträger immer wieder neue Diensthandlungen ausführen können wird. Dies entlastet indes nicht von der Notwendigkeit, eine Verbindung zwischen der Bestechung und den zukünftigen Diensthandlungen nachzuweisen. Ein Bezug auf vergangene Handlungen genügt nicht. 47  Dazu Greco/Teixeira (Fn. 45), 43. 48   In diesem Sinne aber Fragoso (Fn. 36), 472.

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des Korruptionsunrechts ansprechen und Schlussfolgerungen für das Verhältnis von Korruption und Demokratie ziehen. 1. Merkmale des Korruptionsunrechts Die Frage, inwieweit das Unrecht der Korruption sich auch in Bezug auf private Geschäfte – und allgemein in Bezug auf andere gesellschaftliche Felder – bestimmen lässt, ist für unsere Problematik nicht wichtig. Selbst die Frage, ob wir eine Definition, die mögliche Korruptionstatbestände mit einbezieht, oder eher eine solche, die gegenüber dem positiven Recht restriktiv wirkt, privilegieren, steht außerhalb des Erkenntnisinteresses dieser Untersuchung. Für unsere Zwecke ist allein relevant, die wesentlichen Merkmale des Korruptionsunrechts zu identifizieren und ihre Beziehung zur demokratischen Rechtsordnung zu untersuchen. Es wird von einem Teil der Lehre die Meinung vertreten, dass die Korruption eine triadische Struktur49 oder ein Dreieckverhältnis50 voraussetzt. Saliger übersetzt diese Struktur in ein Korruptionsmodell, wonach das Korruptionsunrecht darin besteht, zwei Herren zu dienen51. Es gehe immer um eine Interessenkollision, wo der Bestochene seine Pflichten im Namen von privaten Interessen verletzt und seine Machtstellung dadurch missbraucht52. Dies gilt zweifelsohne für die Beschreibung vieler Korruptionspraktiken. Ob diese Struktur bei jedem Korruptionsdelikt auftauchen muss, ist jedoch umstritten. Dies wird von Zimmermann bestritten53. Er definiert das Korruptionsunrecht auf der Basis einer neokontraktualistischen Gesellschaftstheorie als den „(Ver-) Kauf einer unfair benachteiligenden Fehlentscheidung“54. Korruption bestehe nämlich darin, bei einem Interessenwiderstreit eine inkorrekte, da unfaire, Entscheidung zu treffen, die jemanden benachteiligt55. Auf eine ausführliche Erläuterung dieser Definition kann hier verzichtet werden. Zimmermann ist jedenfalls zuzustimmen, dass es zumeist unmittelbare und mittelbare Interessen geben wird, die durch die Korruptionstat verletzt werden – dass also von der Verletzung individueller und kollektiver Interessen auszugehen ist56. Es ist dem   Saliger, in: FS für Walter Kargl, 2015, 493 ff. (498, 503).   Kindhäuser, ZIS 2011, 461 ff. (463). 51   Saliger (Fn. 49), 498. 52   Vgl. NK-StGB/Dannecker, Bd. 3, 5. Aufl. 2017, § 299, Rn. 7: „Diesem Verständnis von Korruption als Interessenkollision liegt ein umfassender Bereich von Pflichtverletzungen zugrunde, durch die die Interessen des Prinzipals hinter die des Agenten gestellt werden. Entscheidend ist jedoch weder der Interessenkonflikt des Agenten noch dessen unerlaubte Bereicherung, sondern die vom Bestechenden angestrebte Nichteinhaltung der ‚institutionellen‘ Rolle, die den Bestochenen bzw. den Zu-Bestechenden verpflichtet, die Institution allein in deren Interesse selber zu verwalten und voranzubringen. Dem Bestochenen ist es verboten, das Interesse der (öffentlichen oder privaten Institution), des Prinzipals, zu Gunsten seiner ‚privaten‘, eigenen Interessen zu vernachlässigen.“ 53   Zimmermann, Das Unrecht der Korruption: Eine strafrechtliche Theorie, 2018, 118 ff., der in dem auf einen Treuebruch basierten Modell eher die Beschreibung des Untreueunrechts sieht (127). 54   Zimmermann (Fn. 53), 322. 55   Zimmermann (Fn. 50), 218 ff. 56   Zimmermann (Fn. 53), 367. 49 50

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Autor in seinem Modell weiterhin Recht zu geben, dass idealtypisch von einem Erfolgsdelikt auszugehen ist57, sodass die Bestrafung der Vorteilsgewährung beziehungsweise der Vorteilsannahme im deutschen Strafrecht, der Handlungen, die in den Grundtatbeständen im brasilianischen Strafrecht beschrieben werden, lediglich kriminalpolitische Optionen für eine Strafbarkeitsvorverlagerung darstellen. Korruptionsdelikte verletzen also nicht bloß das Vertrauen der Allgemeinheit in die Institution des Staatswesens, sondern (auch) konkrete Interessen von unmittelbar Benachteiligten. Im deutschen Strafrecht geht die herrschende Meinung davon aus, dass eine Unrechtsvereinbarung zwischen Amtsträger und Korrumpierendem vorliegen muss58. Die Ersetzung des Begriffs der Diensthandlung durch denjenigen der Dienstausübung seit 2015 (durch das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption) habe lediglich die Anforderungen bezüglich der Bestimmtheit des Beamtenhandelns gelockert59. Von einer Unrechtsvereinbarung ist allerdings in der brasilianischen Strafrechtsliteratur kaum die Rede60. Die besondere Asymmetrie bei der Bestrafung der aktiven und passiven Korruption im brasilianischen Strafrecht scheint eher gegen die Forderung einer tatsächlichen Unrechtsvereinbarung zu sprechen. Die Formulierungen der Grundtatbestände der Korruption in Brasilien schließen die Notwendigkeit eines echten Pakts – im Sinne einer symme­ trischen Bilateralität beider Handelnden über ein identisches Objekt – aus. Für die Verletzung der Fairness-Regel, auf die sich Zimmermann bezieht, ist jedoch auch im brasilianischen Strafrecht notwendig, dass jemand zumindest potenziell von der Dienstausübung des Amtsträgers wissentlich profitiert oder profitieren will. In diesem Sinne wird immer ein kommunikatives Verhältnis61 vorausgesetzt, das keiner tatbestandlichen Rollensymmetrie entsprechen muss62. Nach Zimmermann soll die Tat des Vorteilsanbieters oder Vorteilsgebers der Tat wie diejenige eines Trittbrettfahrers beschrieben werden63. Nach diesem Ansatz wäre der Bestechende, dessen Beitrag in der Setzung eines positiven Anreizes zur Tat besteht, materiell Anstifter64. Ob das mit der Schaffung autonomer Tatbestände kompatibel ist, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls scheint aus dieser Stellungnahme nicht zwangsläufig eine subsidiäre Bestrafung des Vor  Zimmermann (Fn. 53), 542.  Vgl. Kuhlen (Fn.  37), Rn.  82  ff.; Rengier (Fn.  37), 539  ff.; Matt/Renzikowski/Sinner, StGB, 2. Aufl. 2020, § 331 Rn. 30 ff.; MüKoStGB/Korte (Fn. 37), Rn. 116 ff.; Lackner/Kühl/ Heger, StGB, 29. Aufl. 2018, § 331 Rn. 10; Schönke/Schröder/Heine/Eisele, StGB, 30. Aufl. 2019, § 331 Rn. 35 ff. 59   Kuhlen (Fn. 37), Rn. 65. 60   Vgl. allerdings Greco/Teixeira (Fn. 45), 32 ff. 61  Dazu Zimmermann (Fn. 53), 378 ff. 62   Wenn wir eine konkrete Unrechtsvereinbarung voraussetzen würden, wäre meines Erachtens der Grundtatbestand der passiven Korruption in Brasilien so zu interpretieren, dass auch bei der passiven Korruption die Identifizierung einer konkreten Diensthandlung erforderlich ist – da der einzig andere Weg, bei der aktiven Korruption auf die Absicht, dass eine Diensthandlung ausgeführt wird, zu verzichten, mit dem Gesetzlichkeitsgrundsatz offensichtlich inkompatibel ist. 63   Zimmermann (Fn. 53), 320. 64   Zimmermann (Fn. 53), 376 ff. 57 58

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teilsgebers als Anstifter, wenn er nicht als autonomer Täter strafbar ist, hergeleitet werden zu können. Das Problem ist also nicht allein strafrechtsdogmatisch, sondern auch und vor allem kriminalpolitisch zu regeln. Damit haben wir uns der Verwandtschaft zwischen Korruption und Demokratie allenfalls angenähert. Es fehlt ein Glied, das den Mangel an Fairness bei einer Fehlentscheidung mit der demokratischen politischen Ordnung verbindet. Der Hinweis auf einen Machtmissbrauch, den wir oben bereits angesprochen haben, deutet auf einen Lösungsweg hin. Die Auffassung, nach der das Korruptionsunrecht als vorteilsbedingter Machtmissbrauch zu verstehen ist, wird prägnant von Greco vertreten65. Dieser Machtmissbrauch verwischt im Fall der Korruption ohne dienstliche Pflichtverletzung die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre, während sie im Fall der Korruption mit dienstlicher Pflichtverletzung in der „Missachtung der Gesetzmäßigkeit des öffentlichen Dienstes“ besteht66. Die Verwischung von öffentlicher und privater Sphäre und die Missachtung der Gesetzmäßigkeit – diese beiden Elemente scheinen zentral für das Verständnis der Beziehung zwischen Korruption und Demokratie zu sein. 2. Die Wiederkehr der Politik: Korruption und die demokratische Gesetzgebung Denn unabhängig von der unmittelbaren Beeinflussung von Wahlergebnissen und der Abgeordnetentätigkeit liegt meines Erachtens die wichtigste Verbindung von Korruption und Demokratie im Bruch mit der prozeduralen Struktur der demokratischen Gesetzgebung. Durch die Verwischung von privater und öffentlicher Sphäre wird zugleich Rechtsstaatlichkeit aufgegeben. Das demokratische Gesetzgebungsverfahren besteht aus der kollektiven Erzeugung von Rechtsnormen, wobei alle Staatsbürger (mittelbar und potenziell) die Normenproduktion beeinflussen sollen67. In modernen, komplexen Gesellschaften setzt ein solches Verfahren Verhandlungen und Kompromissbereitschaft voraus. Das Gesetzgebungsverfahren ist insoweit fair, als es Chancengleichheit zur Beteiligung sichert68. Die komplexen Prozeduren, die mit der Gesetzgebungspraxis zusammenhängen und bei denen die Beratung eine nicht geringe Rolle spielt, sind zugleich auf diskursive Rationalität angewiesen und vermitteln die Mitberücksichtigung von Fragen nach der ethischen Selbstverständigung der Gesellschaft und nach Normengerechtigkeit; Fragen, die in den politischen Kommunikationsduktus mit einfließen69. Diese Verfahren garantieren, dass die Rechtsnormen prinzipiell – im demokratischen Koordinatensystem – verallgemeinerungsfähig sind70. Das heißt: Die prozeduralen Regeln demokratischer Gesetzgebungsverfahren erzeugen formelle und materielle Le  Greco, GA 2016, 249 ff. (257); vgl. auch Greco/Teixeira (Fn. 45), 31 f.   Greco (Fn. 65), 252 f.; Greco/Teixeira (Fn. 45), 30 f. 67  Grundlegend Kant, Metaphysik der Sitten, 1956, 432 (§ 46); dazu Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 148 ff., 173. 68  Vgl. Aron, Introduction à la philosophie politique, 1997, 52; Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2. Aufl. 2009, 30, 32 f. 69  Vgl. Habermas, in: Die Einbeziehung des Anderen, 1999, 277 ff. (285 f.). 70   Brunkhorst, Demokratie und Differenz, 1994, 206 f. 65 66

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gitimität71. Die Handlungsbereiche und die Handlungskompetenzen der Bürger werden durch die von ihnen erzeugten Rechtsnormen bestimmt, begrenzt und reguliert. Selbst die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre72 und die Grenzen der individuellen Beteiligung in jeder dieser Sphären wird vom Gesetz her bestimmt73. Zugleich erfordert die Legitimität der Rechtsnormen die Gleichheit der Bürger im Laufe der Durchsetzung dieser Normen: Die Bürger stehen als öffentliche Personen (Rechtspersonen) in einer (formell und kontrafaktisch) gleichen Position vor den Rechtsnormen. Staatsbürger als Autoren und Adressaten von Rechtsnormen können nur Vertrauen in diese Normen haben, da sie strukturell für alle gleichmäßig gelten. Die Korruption bricht mit dieser formellen Struktur und provoziert eine Umwälzung politischer Macht: Die Grenzen der Freiheitssphäre des Bürgers und des staatlichen Machtapparats werden dann privat gezogen. Es ist im Rechtsstaat das Gesetz, das sowohl die Grenzen der individuellen Freiheit als auch diejenigen der staatlichen Gewalt (mitsamt des administrativen Apparates) markieren soll74. Dies ist der Hauptgrund, warum die Orientierung des strafrechtlichen Korruptionsbekämpfungsdiskurses an einer überrechtlichen, ethischen Transformation der Gesellschaft fehl am Platz ist. Diese Orientierung sieht die Ursache der Korruption in einer ethisch falschen Einstellung gegenüber der Gesellschaft und versteht ihren Unrechtsinhalt als Verstoß gegen ethische Werte. Aber Korruption verbindet sich aus der Perspektive des Rechtsdiskurses nicht hauptsächlich mit einer ethischen Konzeption des Gemeinlebens, sondern mit der demokratisch legitimen Ausgestaltung staatlicher Institutionen75. Ethische Einstellungen und Werte sollen eher als gesamtgesellschaftliche Ressourcen verstanden werden, die auf die politische Meinungsbildung einen Einfluss haben und die politische Kommunikation mitgestalten können. Dies vermindert keinesfalls ihre Bedeutung; die Strafrechtsanwendung sollen sie jedoch nicht unmittelbar beeinflussen. Man könnte natürlich einwenden, dass nach der hier vertretenen Auffassung jede Straftat zugleich eine Verletzung der Demokratie wäre. Dies trifft in der Tat zu. Die Verletzung der Demokratie ist aber bei den meisten Straftaten nur eine Nebenerscheinung und kein zentrales Moment ihres Unrechtsinhalts. Diese Schlussfolgerung wäre übrigens banal. Im Fall der (öffentlichen) Korruption ist es anders. Denn hier ist die vorteilsbedingte Verletzung der Interessen ande71   Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsnormen halte ich für einen Teil dieses Verfahrens. 72  Vgl. Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, 2007, 55 f. 73  Verfahren der privaten und öffentlichen Rechtsetzung sind miteingeschlossen. Zu den Schwierigkeiten, hierzu klare Grenzen zu ziehen, vgl. Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, 1991, 274 ff. 74  Vgl. Preuß, Legalität und Pluralismus, 1973, 31 ff. 75   Das Gesetz wird hier jedoch nicht als „Funktionsmodus staatlicher Bürokratie“ verstanden, sondern als Produkt eines normativ geladenen Gesetzgebungsverfahrens, das auf Volkssouveränität angewiesen ist. Dies soll heißen, dass die Korruptionspraxis nicht bloß gegen bürokratische Rationalität verstößt, sondern ein Angriff auf die Volkssouveränität selbst ist. Zur Problematik einer Reduzierung von Legalität auf berechenbare bürokratische Organisation vgl. Preuß (Fn. 74), 64 ff.

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rer Bürger zugleich eine Verschiebung des demokratisch konturierten Handlungsbereiches jedes Einzelnen. Selbstverständlich gilt diese Definition nur für öffentliche Korruption, was nicht bedeuten soll, dass private Korruption nicht auch unter dem Stichwort „Korruption“ verstanden werden kann. Die Demokratieverletzung ist dort aber nur indirekt. Bei der öffentlichen Korruption indes, selbst wenn private Interessen verletzt werden – und ich gehe davon aus, dass dies in der Regel der Fall sein wird –, führt die Korruption zu einer Änderung des öffentlichen Rahmens individueller Handlungskompetenzen, der institutionell gezeichnet wird. Die Korruption operiert mit einer willkürlichen Verschiebung der jeweiligen Handlungsbereiche. Wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass auch zwischen der Schaffung von subjektiven Rechten und der Einlösung von Rechtsansprüchen durch den Staatsapparat ein enger, interner Zusammenhang besteht. Es handelt sich also bei der Korruption nicht nur um die Verletzung privater Interessen der Bürger, sondern um die Auflösung ihrer Position als Bürger, das heißt, um die Verletzung ihres Interesses, als gleichberechtigte Rechtspersonen anerkannt zu werden. Der Mangel an Fairness bei der Entscheidung des Amtsträgers liegt auch darin, dass die Struktur des gesetzlich geschaffenen öffentlichen-institutionellen Raums benutzt wird, um private Vorteile zu erlangen. Dies gilt sowohl für den bestechenden Bürger als auch für den Amtsträger, sowohl für die vollendete Korruption (Bestechung und Bestechlichkeit) als auch für die Versuchsvarianten. Denn diese Verletzung der Demokratie geschieht im konkreten und im symbolischen beziehungsweise kommunikativen Raum der systempolitischen, administrativen, gerichtlichen – in summa: staatlich institutionellen – Öffentlichkeit. Diese subversive Umnutzung des öffentlichen Raums für private Zwecke demontiert zugleich dessen öffentlichen Charakter. Wenn die normativ konturierten Handlungsbereiche aus privaten, einseitigen Gründen umdefiniert werden, bricht der demokratisch geschaffene öffentliche Raum zusammen.

VI. Ergebnisse Die Verbindung von Korruption und Politik hat tiefe historische Wurzeln und trägt zur semantischen Mehrdeutigkeit des Korruptionsbegriffs bei. Im Rahmen einer rechtsvergleichenden Analyse müssen wir deshalb zwischen unterschiedlichen Anwendungen differenzieren, die auf gesellschaftliche Teildiskurse angewiesen sind. Soziologische und historische Untersuchungen zum Thema der Korruption spielen zwar eine wichtige Rolle als Indikatoren für die Bestimmung des Verhältnisses von Korruption und Demokratie; von diesen Untersuchungen lassen sich aber keine Schlussfolgerungen zur Bestimmung des Korruptionsunrechts herleiten. Die Konturen des Korruptionsunrechts müssen im Rahmen des Rechtsdiskurses gezogen werden. Wir konnten deutliche Parallelen zwischen der strafrechtlichen Behandlung der Korruption in Brasilien und Deutschland feststel-

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len. Die schärfsten Unterschiede bestehen in der gesetzlichen Nichtdifferenzierung zwischen allgemeiner Beamten-, Abgeordneten- und Richterbestechung, in der Nichtbestrafung der Korruption im geschäftlichen Verkehr und in der Asymmetrie zwischen aktiver und passiver Korruption im brasilianischen Strafrecht. Trotz dieser Unterschiede können wir für beide Rechtsordnungen die bewusst breite Definition von Zimmermann anwenden, nach welcher der Unrechtsinhalt der Korruption im „(Ver-)Kauf einer unfair benachteiligenden Fehlentscheidung“ besteht. Obwohl das Erfordernis einer Unrechtsvereinbarung eine geringere Rolle in der brasilianischen Strafrechtslehre spielt und sich mit der Asymmetrie zwischen aktiver und passiver Korruption kaum harmonisieren lässt, sollten wir auch im brasilianischen Strafrecht von einer notwendigen kommunikativen Beziehung zwischen Korrumpierenden und Korrumpierten ausgehen – wenn auch diese Beziehung sich tatbestandlich nicht völlig übersetzen lässt. Um das Verhältnis zwischen Korruption und Demokratie zu verstehen, müssen wir jedoch das Augenmerk auf den sozialen Umgang mit Macht richten. Öffentliche Korruption ist zugleich Umwälzung von politischer Macht und Ausnutzung des institutionellen öffentlichen Raums für private Zwecke. Damit wird den anderen Staatsbürgern ihr Status als gleichberechtigte Rechtspersonen aberkannt. Korruption bricht mit der Legalität und der Gesamtstruktur demokratischer Gesetzgebung, indem sie die Grenzen der individuellen Handlungsbereiche und des staatlichen Gewaltapparats sprengt. Damit baut Korruption den demokratisch bestimmten öffentlichen Raum ab.

Korruption als Angriff auf die Volkssouveränität Till Zimmermann

I. Vorbemerkung Der Titel des Beitrags nimmt die zentrale These vorweg, nämlich, dass bestimmte Korruptionsformen einen Angriff auf die Volkssouveränität darstellen. Diese These wird in drei Schritten vorgetragen: Zunächst ist der hier gemeinte Korruptionsbegriff zu erläutern (dazu  I.). In einem zweiten Schritt wird der Begriff der Volkssouveränität erklärt (II.). Im letzten Schritt wird dann die besagte These entfaltet, indem Verbindungslinien zwischen dem Korruptionsbegriff und demjenigen der Volkssouveränität gezogen werden (III.). In diesem Zusammenhang geht der Beitrag dann auch (knapp) auf das einschlägige deutsche Korruptionsstrafrecht ein.

II. Was ist Korruption? 1. Kein einheitlicher Korruptionsbegriff Der Begriff der Korruption wird weder in der Wissenschaft noch in der Praxis einheitlich gebraucht1. Dieser Befund gilt sowohl im globalen Maßstab als auch speziell für Deutschland; insbesondere findet sich im deutschen Recht keine Legaldefinition der Korruption2. Hier ist nicht der Raum für eine theoretische Analyse unterschiedlicher Definitionsversuche zum Korruptionsbegriff3. Andererseits ist eine wissenschaftliche Aussage über ein Korruptionsphänomen ohne vorherige Klärung des Untersuchungsgegenstandes nicht möglich4. Kompromisshalber beschränkt sich dieser Text auf zweierlei: Erstens auf die Hervorhebung der Unterscheidung zwischen weitem und engem Korruptionsbegriff und, zweitens, auf die Darstellung des Korruptionsverständnisses des Autors. 1   Einen guten Überblick verschafft der Sammelband von Graeff/Rabl (Hrsg.), Was ist Korruption?, 2. Aufl. 2019. 2   Soweit der Begriff „Korruption“ ausnahmsweise in Gesetzestexten enthalten ist (z.B. § 37 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BeamtStG; § 1 Abs. 3 VermG; Nr. 180a Abs. 2 S. 3 RiStBV), bleibt die Auslegung ebenfalls dem Rechtsanwender überlassen. 3   Für eine ausführliche Analyse s. Zimmermann, Unrecht der Korruption, 2018, 61–128. 4  Vgl. Greco, GA 2016, 249; Dölling, Gutachten C 61. DJT, 1996, 9.

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2. Weiter vs. enger Korruptionsbegriff Im Grundsatz existieren zwei unterschiedliche Korruptionsbegriffe: Der weite und der enge Korruptionsbegriff5. Der weite Korruptionsbegriff liegt z.B. dem Korruptionsverständnis des vielbeachteten Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International6 oder der United Nations Convention Against Corruption (UNCAC)7 zugrunde. Nach diesem weiten Begriffsverständnis werden als Korruption verschiedenste Formen der Bereicherungskriminalität bezeichnet, z.B. die Untreue, die Erpressung durch einen Amtsträger sowie Unterschlagungen durch Staatsdiener. Es handelt sich bei dem weiten Korruptionsbegriff also um eine Sammelbezeichnung für verschiedenste Formen von Unrecht („Begriffscontainer“)8. Unter strafrechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten ist der weite Korruptionsbegriff daher wenig hilfreich und weitgehend uninteressant9. Insbesondere vermag der weite Korruptionsbegriff weder eine Abgrenzung zwischen verschiedenen Deliktstypen zu leisten (bspw. zwischen Erpressung, Untreue und Bestechlichkeit), noch eine Hilfestellung bei der teleologischen Auslegung einzelner Merkmale von Korruptionsdeliktstatbeständen zu leisten. Anderes gilt für den engen Korruptionsbegriff. Dieser nimmt für sich in Anspruch, einen ganz bestimmten Unrechtstypus zu bezeichnen10. Nach diesem Verständnis sind alle Korruptionsdelikte strukturell miteinander verwandt, da sie im Kern ein ähnliches Unrechtsgeschehen beschreiben11. Auf der Basis eines engen Korruptionsbegriffs ist es möglich, Korruptionsdelikte klar zu identifizieren (und ggf. von anderen Deliktstypen abzugrenzen)12 und diese, wo erforderlich, sinn- und zweckgemäß auszulegen. Im Folgenden ist daher mit Korruption immer nur ein solchermaßen enger Korruptionsbegriff gemeint. Unklar ist freilich noch, welchen Inhalt dieser Begriff hat bzw. was genau besagtes spezifisches Korruptionsunrecht ausmacht. Auch zu dieser Frage gibt es ein breites Angebot an Lösungsvorschlägen, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Zumindest herrscht aber weitgehende Einigkeit, dass 5   Saliger, in: FS für Walter Kargl, 2.  Aufl. 2020, 493 (494); Bannenberg/Schaupensteiner, Korruption in Deutschland, 2. Aufl. 2004, 24 f. 6  Grdl. Pope, TI Source Book 2000, 2000, 1 Fn. 2: „the misuse of entrusted power for private benefit“. 7  Dazu Rose/Kubiciel/Landwehr, in: dies. (Hrsg.), UNCAC-Commentary, 2019, Introduction, 3: „the Convention does not follow a narrow understanding of corruption, which equates the meaning of the term with bribery, but rather uses an ‘umbrella concept’“. 8   Grieger, in: Graeff/Grieger (Hrsg.), Was ist Korruption?, 1. Aufl. 2012, 41 (46 f.) (in der 2. Aufl. ist dieser Beitrag nicht mehr enthalten). 9   Zimmermann (Fn.  3), 84; vgl. auch Graeff, in: ders./Rabl (Fn.  1), 271 (275). Krit. auch Schweitzer, Vom Geist der Korruption, 2009, 151, der insbes. der TI-Definition (s. Fn. 6) bescheinigt, „jeglicher wissenschaftlicher Brauchbarkeit [zu entbehren]“. 10   Zimmermann (Fn. 3), 83 m.w.N. in Fn. 216. 11   Zur Kategorie der Unrechtsverwandtschaft Puppe, GA 1982, 143. 12   Verschiedene Unrechtstypen (z.B. Betrugsunrecht einerseits und Zueignungsunrecht andererseits) sind entsprechend dem wissenschaftstheoretischen Sparsamkeitsgebot („Ockhams Rasiermesser“) möglichst so zu konstruieren, dass es zwischen ihnen nicht zu Überschneidungen kommt. In der Strafrechtsdogmatik führt dies zu Exklusivitätspostulaten, näher Zimmermann (Fn. 3), 67 f.

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mit Korruptionsunrecht im Wesentlichen (nur) das Unrecht der Bestechungsdelikte gemeint ist13. 3. Eigenes Verständnis von Korruption a) Definition Anderenorts hat der Verfasser den Versuch unternommen, dem engen Korruptionsbegriff klarere strafrechtsdogmatische Struktur zu verleihen. Dabei ist folgende umgangssprachlich formulierte Definition entwickelt worden: „Korruption ist der (Ver-)Kauf einer benachteiligenden Fehlentscheidung“14. Dies sei näher erläutert: b) Zweiseitigkeit (Bestechung und Bestechlichkeit) Wie sich aus dem Begriff „Kauf“ ergibt, ist die Korruption ein Vorgang mit wenigstens zwei kollusiv agierenden Beteiligten, die einen Unrechtspakt abschließen. Korruptionsdelikte haben daher als Kollusivdelikte15 eine Form der notwendigen Beteiligung zum Gegenstand16. Die von einem Solo-Täter begehbare Veruntreuung (§ 246 Abs. 2 dStGB17) oder Untreue im Amt (§ 266 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. § 263 Abs. 3 S. 2 Nr. 4 dStGB) ist daher keine (Selbst-)Korruption18. Auf der Nehmerseite einer Korruptionstat muss nach dem hier favorisierten Modell immer ein Entscheidungsträger stehen; es handelt sich daher bei der Bestechlichkeit zwingend um ein Sonderdelikt. Der Entscheidungsträger ist dabei eine Person, die nach den Regeln eines gesellschaftlichen Subsystems dazu befugt ist, einen Interessenwiderstreit zwischen mindestens zwei anderen Parteien verbindlich zu entscheiden19. Das Musterbeispiel für einen solchen Entscheider ist ein Richter.   Allg. Ansicht; s. statt Vieler Zimmermann (Fn. 3), 68 ff. m. umfass. Nachw.   Zimmermann (Fn.  3), 322; ders., in: Busch/Hoven/Pieth/Rübenstahl (Hrsg.), Antikorruptions-Compliance, 2020, Kap.  1 Rn.  1. Ähnliche Ansätze finden sich bei Niehaus, in: ­Graeff/Rabl (Fn. 1), 221 (231); Kölbel, ZIS 2016, 452 (452 Fn. 12); Altenburg, Die Unlauterkeit in § 299 StGB, 2012, 101. Alternative strafrechtsdogmatische Konzeptionen bieten Volk, in: GS für Heinz Zipf, 1999, 419 (423) (regelwidriger Tausch von Vorteilen); Kindhäuser, ZIS 2011, 461 (463) (interessenwidrige Verknüpfung eines Vorteils mit der Ausübung übertragener Entscheidungsmacht); Saliger, in: FS für Walter Kargl, 493 (497 f.) (vorteilsbedingte und interessenwidrige Dienerschaft zweier Herren). 15   Der Begriff der Kollusion wird hier in einem weiten, untechnischen Sinn gebraucht. Soweit die Kollusion im Zivil- oder Strafrecht (z.B. in § 330d Abs. 1 Nr. 5 dStGB) als terminus technicus Verwendung findet, wird teilweise die Ansicht vertreten, Bestechungen unterfielen dem Begriff gerade nicht (vgl. Brinkmann, ZJS 2014, 471 [475]; MüKoStGB/Schmitz, Bd. 5, 3. Aufl. 2019, § 330d Rn. 40). 16  Näher Zimmermann (Fn.  3), 396; ders., in: Busch/Hoven/Pieth/Rübenstahl (Fn.  14), Kap. 1 Rn. 2. 17   Deutsches Strafgesetzbuch. 18   Zimmermann (Fn.  3), 109. A.A. die Vertreter des Konzepts der sog. Autokorruption, z.B. v. Arnim, in: ders. (Hrsg.), Defizite in der Korruptionsbekämpfung und der Korruptionsforschung, 2009, 9 (11); zust. Geisler, Korruptionsstrafrecht und Beteiligungslehre, 2013, 59. 19  Ausf. Zimmermann (Fn. 3), 310–318. 13 14

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c) Erfolgsdelikt Des Weiteren folgt aus dem genannten Ansatz, dass Korruption ein Erfolgsunrecht aufweist: Diese muss eine Fehlentscheidung zur Folge haben, durch die eine der Konfliktparteien benachteiligt wird. Die benachteiligte Partei ist das Opfer der Korruptionstat und durch diese verletzt20. Exemplarisch: Entscheidet sich der korrumpierte Sachbearbeiter entgegen vergaberechtlicher Regeln dazu, den Zuschlag an ein bestimmtes Unternehmen zu vergeben, obwohl ein Konkurrenzunternehmen das wirtschaftlicheres Angebot abgegeben hat (Verstoß gegen § 127 GWB), dann ist der benachteiligte Konkurrent als Verletzter anzusehen21. Spielt das Geschehen im Anwendungsbereich der Wirtschaftskorruption (§ 299 dStGB), hat dies etwa Bedeutung für die Frage der Antragsberechtigung nach § 301 dStGB22. Gleichzeitig folgt aus dem Gesagten, dass (vollendetes) Korruptionsunrecht nicht vorliegt, wenn der bestochene Entscheidungsträger zu einem Ergebnis gelangt, zu dem er ohnehin hätte gelangen müssen23. Hinsichtlich der den Taterfolg ausmachenden Inkorrektheit einer Entscheidung sind drei Fehlertypen zu differenzieren: Zunächst gibt es materielle Fehlentscheidungen (Typ 1). Das sind Entscheidungen, deren Ergebnis nach den einschlägigen Entscheidungsregeln objektiv unvertretbar ist24. Daneben gibt es prozedurale Fehlentscheidungen, und zwar in zwei Varianten: Zum einen kann eine vom Ergebnis her eigentlich vertretbare Ermessensentscheidung deshalb unrichtig sein, weil sie auf fehlerhaftem Räsonnement, d.h. auf sachfremden Gründen beruht (Typ 2)25. Zum anderen kann eine vom Ergebnis her durchaus überzeugende Entscheidung schon deshalb unrichtig sein, weil der Entscheidungsträger einer Neutralitätspflicht unterliegt, dieser aber im Zustand mutmaßlicher Befangenheit entschieden und allein dadurch seine Entscheidungsbefugnis eingebüßt hat (Typ 3)26.  Ausf. Zimmermann (Fn. 3), 352 ff., 548 f.   Obwohl die ganz h.M. im Gegensatz zur hier vertretenen Ansicht in den Tatbeständen der Amtsträgerbestechung/-bestechlichkeit Delikte ausschließlich zum Schutz von Universalrechtsgütern erblickt (Vertrauen in den Staatsapparat, Funktionsfähigkeit der Verwaltung u.a.), wird bei unmittelbarer Beeinträchtigung der Interessen eines Individuums gleichwohl dessen prozessuale „Verletzteneigenschaft“ anerkannt – und bspw. das Klageerzwingungsrecht gem. § 172 StPO zugebilligt, vgl. OLG Koblenz, wistra 1985, 83; MüKoStPO/Kölbel, Bd. 2, 1. Aufl. 2016, § 172 Rn. 23. 22   Die h.M. sieht das benachteiligte Konkurrenzunternehmen als antragsberechtigten Verletzten i.S.d. § 77 Abs. 1 dStGB an, s. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 301 Rn. 4; a.A. Achenbach/Ransiek/Rönnau/Rönnau, HdB Wirtschaftsstrafrecht, 5.  Aufl. 2019, 3. Teil, 2. Kap. Rn. 118; näher Zimmermann (Fn. 3), 663 f. 23   Insbes. im Bereich der privaten Wirtschaftskorruption wird daher in derartigen Fällen eine teleologische Reduktion des Deliktstatbestands erwogen, z.B. von Gercke/Wollschläger, wistra 2008, 5 (9 f.); näher zum Ganzen Zimmermann (Fn. 3), 348–351. 24   Bei gebundenen Entscheidungen, wenn die einzig richtige Entscheidung verfehlt wird, bei Ermessensentscheidungen, wenn die äußeren Grenzen des Ermessens überschritten sind; näher dazu Zimmermann (Fn. 3), 168, 326 ff. 25   Zimmermann (Fn. 3), 329 f. 26   So (für das schweizerische Recht der Amtsträgerkorruption) Basler Kommentar/Pieth, StGB, 4. Aufl. 2019, Art. 322ter Rn. 45; zur Kontroverse im deutschen Recht Busch/Hoven/ Pieth/Rübenstahl/Zimmermann (Fn. 14), Kap. 1 Rn. 41. 20 21

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Hinsichtlich aller drei Fehlentscheidungstypen ist zu beachten, dass die Regeln, wann eine Entscheidung fehlerhaft ist, nicht im Strafrecht zu finden sind, sondern in dem Recht des jeweils betroffenen gesellschaftlichen Subsystems. Das bedeutet, dass ein Korruptionsstrafrecht notwendigerweise akzessorisch ausgestaltet sein muss. Dies sei am Beispiel der in § 265d Abs. 3 dStGB unter Strafe gestellten Sport-Bestechlichkeit demonstriert: Entscheidungsträger ist hier der Schiedsrichter, z.B. bei einem Fußball-Match. Das Erfolgsunrecht liegt in der „regelwidrigen Beeinflussung“ von „Verlauf oder Ergebnis“ des Sportwettbewerbs. Maßgeblich für die Frage der Regelwidrigkeit sind die Regeln der jeweiligen Sportorganisation27, hier also die Fußballregeln des DFB28. Danach fällt der Schiedsrichter eine inkorrekte Entscheidung vom Typ 1, wenn er z.B. ein Tor anerkennt, obwohl der Ball in verbotener Weise mit der Hand gespielt worden war; das Tor zu geben hier ist objektiv unvertretbar (irreguläres Tor: Fußballregel 10 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Regel 12 Abs. 1 UAbs. 5). Eine Fehlentscheidung des Typs 2 liegt vor, wenn der Schiedsrichter es bei einem Foulspiel, das in vertretbarer Weise sowohl mit einer bloßen Verwarnung („gelbe Karte“) als auch mit einem Platzverweis („rote Karte“) geahndet werden könnte29, nur deshalb bei einer Verwarnung belässt, weil er sich insgeheim dem betroffenen Spieler verpflichtet fühlt. Eine Fehlentscheidung vom Typ 3 liegt vor, wenn der Schiedsrichter unter Verletzung seiner Neutralitätspflicht eine Partie seiner Lieblingsmannschaft pfeift – und zwar unabhängig davon, ob er sich dabei tatsächlich für befangen hält (Verstoß gegen das Neutralitätsgebot aus §  7 Nr.  1 DFB-Schiedsrichterordnung30). d) Bestechung = Anstiftung Das Erfolgsunrecht des vorsätzlich falschen Entscheidens kann ein Entscheidungsträger auch ohne einen weiteren Beteiligten verwirklichen. Entsprechende Straftatbestände sind selten, aber theoretisch möglich; Beispiele sind der allgemeine Amtsmissbrauchstatbestand des österreichischen Rechts (§ 302 öStGB)31 oder die Rechtsbeugung i.S.v. § 339 dStGB. Die Verwirklichung der genannten Tatbestände ist daher für sich noch keine Korruption32. Diese ist lediglich ein ausgestanzter Sonderfall jenes Unrechtstypus, nämlich die Situation, dass der  MüKo-StGB/Schreiner, Bd. 3, 3. Aufl. 2019, § 265d Rn. 18.   Die DFB-Fußballregeln sind abrufbar unter https://www.dfb.de/verbandsservice/publikationen/fussballregeln/, . 29   Zum „Beurteilungsspielraum“ des Schiedsrichters bei der Ahndung von Vergehen beim Fußballspiel mit gelber oder roter Karte s. Hilpert, Das Fußballstrafrecht des DFB, 2009, § 12 RuVO Rn. 99. 30  Abrufbar unter https://www.dfb.de/verbandsservice/verbandsrecht/satzung-und-ordnungen/, . 31   Österreichisches Strafgesetzbuch; zur Funktion der Norm und zu dem dadurch geschützten Rechtsgut s. Wiener Kommentar/Nordmeyer, StGB, 2. Aufl. 240. Lfg. (Stand 1/2020), Vor § 302 Rn. 11 ff. 32   Bzgl. § 302 öStGB ist diese (konkurrenzrechtlich bedeutsame) Frage sehr umstritten, s. einerseits Marek/Jerabek, Korruption und Amtsmissbrauch, 10. Aufl. 2017, 5 (bejahend), andererseits Hinterhofer/Rosbaud, BT II, 5. Aufl. 2012, vor §§ 302 ff. Rn. 4 (verneinend). 27 28

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Entscheidungsträger durch einen Extraneus mittels eines Vorteilsversprechens zu seiner Fehlentscheidung motiviert worden ist33. Der Außenstehende tritt dabei, dogmatisch betrachtet, als Anstifter auf; denn er „bestimmt“ den Entscheidungsträger zur Vornahme der Fehlentscheidung, vgl. § 334 Abs. 3 dStGB34. Bei fast allen modernen Korruptionsdelikten ist dieser dogmatische Hintergrund allerdings dadurch verschleiert, dass die Anstiftungshandlung üblicherweise als täterschaftliche Begehung besonders vertypt ist35 und die Tathandlung des Bestimmens allenfalls noch am Rande ausdrücklich vorkommt. Gleichwohl ist dieser dogmatische Hintergrund in bestimmten Fragen relevant, z.B. bei der Bestimmungsungeeignetheit geringwertiger Vorteile36 oder beim fehlenden Vollendungswillen eines als agent provocateur agierenden Bestechers37. Ferner ist ihr Anstiftungscharakter der Grund dafür, weshalb es keine fahrlässige Korruption gibt38. e) Korruptionsdelikte de lege lata Die soeben skizzierte Theorie des Unrechts der Korruption ist mit dem deutschen Korruptionsstrafrecht kompatibel. Das ist aber erst auf den zweiten Blick erkennbar und soll daher knapp erläutert sein: Das deutsche Strafrecht hat seine Korruptionsdelikte, internationalem Standard entsprechend, nicht als Erfolgsdelikte ausgestaltet. Bestraft wird bereits der Versuch des Abschlusses eines Unrechtspaktes, namentlich durch das Anbieten bzw. Fordern eines Vorteils als Gegenleistung für die Falschentscheidung. Hierin liegt eine (weite) Vorverlagerung der Strafbarkeit; dogmatischer Referenzwert ist daher die versuchte Beteiligung durch versuchtes Bestimmen (§ 30 Abs. 1 S. 1 dStGB) bzw. Sich-Bereiterklären i.S.e. sog. echten Sich-Erbietens (§ 30 Abs. 2 Var. 1 dStGB)39. Der eigentliche Unrechtskern dieser Delikte liegt aber trotz der Vorverlagerung und dem Verzicht auf einen tatbestandlichen Erfolg in der Vornahme der Fehlentscheidung durch den angestifteten Entscheidungsträger. Der BGH erkennt dies in seiner Rspr. zur Verjährung von Korruptionstaten ausdrücklich an, nach welcher das Korruptionsgeschehen erst mit Vornahme der Fehlentscheidung materiell-rechtlich beendet ist:   Zimmermann (Fn. 3), 321 f. m.w.N.   Grdl. zur Deutung der Korruptionsstraftatbestände als „Bestimmungsdelikte“ Binding, Lb. BT II/2, 1905, 727; ebenso Amelung, in: FS Friedrich-Christian Schroeder, 2006, 147 (166); Reinhold, HRRS 2010, 213 (215); Busch/Hoven/Pieth/Rübenstahl/Zimmermann (Fn.  14), Kap. 1 Rn. 2; ausf. ders. (Fn. 3), 385 ff.; a.A. bspw. RGSt 37, 171 (172); E. Schmidt, Die Bestechungstatbestände in der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1879 bis 1959, 1960, Rn. 120; Satzger/Schluckebier/Widmaier/Rosenau, 4. Aufl. 2019, StGB, § 331 Rn. 28. 35   Zur Frage, ob bei bloß „einseitiger“ Regelung der Bestechlichkeit der Bestecher als Anstifter bestraft werden kann, s. RGSt 12, 122 (124 f.) (i.E. zutr. bejaht). 36   Zimmermann (Fn. 3), 459 f. 37  Busch/Hoven/Pieth/Rübenstahl/Zimmermann (Fn. 14), Kap. 1 Rn. 64 m.w.N. 38   Weder gibt es eine fahrlässige Anstiftung noch eine Anstiftung zur Fahrlässigkeit, vgl. § 26 dStGB. 39   Näher Busch/Hoven/Pieth/Rübenstahl/Zimmermann (Fn. 14), Kap. 1 Rn. 54 f. 33 34

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„Zwar ist die Vornahme der pflichtwidrigen Diensthandlung nicht objektives tatbestandliches Element des § 332 Abs. 1 Satz 1 [d]StGB […]. Sie umschreibt [aber] den materiellen Unrechtskern […] der Bestechlichkeit.“40 Neben der „eigentlichen“ Korruption gibt es noch zwei praxisrelevante Sonderformen. Dies ist zum einen die sog. Belohnungskorruption, also die nachträgliche Gewährung eines Vorteils für eine bereits getroffene Fehlentscheidung41. Dies ist keine Anstiftungstat, da es ein Bestimmen zur Tat ex post facto nicht geben kann42. Dogmatischer Referenzwert ist hier das abstrakte Gefährdungsdelikt der Belohnung von Straftaten nach § 140 Nr. 1 dStGB, mit welchem Anreizen zu einer Tatwiederholung vorgebeugt werden soll43. Zudem gibt es die Proto-Korruption, die im deutschen Recht seit einiger Zeit als Vorteilsannahme bzw. -gewährung bezeichnet wird44. Damit werden Vorteilsgewährungen an Entscheidungsträger ohne konkrete Gegenleistung bestraft. Dieses sog. Anfüttern ist ebenfalls kein Anstiftungsunrecht. Vielmehr handelt es sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt, durch das ein allmähliches Abgleiten des Entscheidungsträgers in eine moralische Zwangslage gegenüber dem Vorteilsgeber verhindert werden soll45. Die Anbahnungsweise solcher schleichend entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse „weckt Assoziationen zu der Agentenrekrutierung ausländischer Nachrichtendienste“46. Dogmatischer Referenzwert der Proto-Korruption ist denn auch die vom BVerfG zum Delikt der geheimdienstlichen Agententätigkeit entwickelte Verstrickungstheorie47, wonach bereits das Anbahnen einer typischerweise kriminogenen Verbindung unter Hinweis auf den slippery slope-Gedanken kriminalisiert werden kann48.

III. Volkssouveränität 1. Begriff und Grundlagen Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer Staat, Art.  20 Abs.  1 GG. Das Prinzip der Volkssouveränität – also „das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertreter in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen“ – ist einer ihrer Verfassungsgrundsätze (§  92 Abs.  2   BGHSt 52, 300 Rn. 7.  Ausf. Zimmermann (Fn. 3), 492 ff. 42  E. Schmidt (Fn. 34), Rn. 120. 43  Vgl. Kindhäuser, ZIS 2011, 461 (464); ausf. Zimmermann (Fn. 3), 496 f. Zum Erfordernis einer nachträglichen „Unrechtsvereinbarung“ bei § 140 Nr. 1 dStGB AnwK-StGB/v. Schlieffen, 3. Aufl. 2020, § 140 Rn. 3. 44  Ausf. Zimmermann (Fn. 3), 502 ff. 45  Vgl. Dölling, JuS 1981, 570 (574); Pieth, in: FS für Jörg Rehberg, 1996, 233 (244). 46   Kube/Vahlenkamp, VerwArch 85 (1994), 432 (438). 47   BVerfGE 28, 175 (186). 48   Näher dazu Zimmermann (Fn. 3), 509 f. 40 41

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Nr.  1 dStGB). Das Prinzip der Volkssouveränität verlangt eine Rückführbarkeit aller staatlichen Gewalt auf den Volkswillen, d.h. einen Zusammenhang zwischen Volkswillen und Staatshandeln49. Diese sog. Legitimationskette ist ein Transformationsprozess, geprägt durch die Vermittlungs-, Organisations- und Formungsbedürftigkeit der demokratischen Willensbildung. Innerhalb dieses Umwandlungsprozesses lassen sich drei Abschnitte unterscheiden: Die Urwahlphase (unmittelbare Demokratie), die mittelbare Demokratie und schließlich die Ausführung des Volkswillens durch die Exekutive50. 2. Unmittelbare Demokratie Das erste Glied der Legitimationskette ist das zentrale Verfahren der demokratischen Willensbildung, nämlich die Durchführung von Urwahlen und -abstimmungen unmittelbar durch das Volk. Bei den Vorgängen der unmittelbaren Demokratie handelt es sich um die kommunikative Schnittstelle zwischen Volk und Staatsapparat. Denn mit dem Urwahlvorgang durch die Aktivbürgerschaft wird die Input-Struktur des politischen Systems aktiviert, indem der politische Volkswille in den Bereich staatlicher Entscheidungsfindung überführt wird51. 3. Mittelbare Demokratie (Repräsentation) Das politische System der Bundesrepublik ist als parlamentarisch-repräsentative Demokratie ausgestaltet; man spricht vom Repräsentationsprinzip52. Das bedeutet, der durch die Urwahlen ermittelte Volkswille findet seinen weiteren Ausdruck in der kollektiven Entscheidungstätigkeit demokratisch legitimierter Mandatsträger. Deren Handlungen bestehen in parlamentarischen Wahlen (z.B. des Bundeskanzlers) und Abstimmungen (über Gesetze). Somit ist der zweite Abschnitt des demokratischen Willens-Transformationsprozesses ein repräsentatives Spiegelbild des ersten Abschnitts, nur mit deutlich weniger Entscheidungsträgern. 4. Exekutive Die dritte, den demokratischen Abstimmungen nachgelagerte Phase betrifft das Ende der demokratischen Legitimationskette in personell-organisatorischer Hinsicht. Hierbei geht es um die Ausführung und Konkretisierung des zuvor generierten Volkswillens durch Entscheidungen der einzelnen Amtswalter. Gerade im Hinblick auf die Manipulation dieser Entscheidungsvorgänge durch Korruption ist aber zu beachten, dass es zwei unterschiedliche Typen von Amtsträgern gibt: Die gubernativ tätigen Regierungsamtsträger einerseits und die administrativ tätigen sonstigen Amtsträgern andererseits (dazu noch sogleich)53.   BVerfGE 77, 1 (40); Morlok/Hientzsch, JuS 2011, 1.   Zimmermann, ZIS 2011, 982 m.w.N.   Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 3. Aufl. 2015, Art. 38 Rn. 51. 52   Grdl. zum Repräsentationsprinzip Pitkin, The Concept of Representation, 1967. 53   Zu dieser Unterscheidung Zimmermann, ZStW 124 (2012), 1023. 49 50 51

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IV. Korruption als Staatswillensverfälschung 1. Allgemeines Warum kann man sagen, dass Korruption einen Angriff auf die Volkssouveränität darstellt? Korruption ist, wie beschrieben, der Kauf einer Fehlentscheidung. Volkssouveränität bedeutet, dass aufeinander bezogene, dem Wählerwillen entsprechende Entscheidungen getroffen werden. Werden diese politischen Entscheidungen durch Korruption manipuliert, so liegt in dieser Unterbrechung der demokratischen Legitimationskette eine unfaire Zurücksetzung bestimmter politischer Interessen; man kann es auch so formulieren, dass sich unter Verletzung des politischen Gleichheitsprinzips (one man one vote) bestimmte Partikularinteressen auf Kosten des Allgemeinwohls durchsetzen54. Einem populären (kriminalpolitischen) Narrativ zufolge wohnt der bestechungsbedingten Verfälschung des Staatswillens55 zudem eine über die konkret mit ihr verbundene Interessenzurücksetzung hinausgehende56 besondere Gefahr inne: Treten derlei korruptive Manipulationen gehäuft auf, resultiere aus dem damit verbundenen Normgeltungsschaden mittelbar eine Erosion des demokratischen Systems schlechthin. Die Folgen dessen sind namentlich ein Vertrauensverlust in das System57, politischer Extremismus (insbes. Protestwählertum) und schließlich eine Hinwendung zu autoritären Figuren, die sich zwar mit populistischen Methoden als Heilsbringer gerieren, die aber gleichzeitig – empirisch gut belegt58 – ihrerseits in besonderem Maße korruptionsanfällig sind. Dieses oftmals in den Rang einer Rechtsgutsbeschreibung erhobene Erklärungsmodell59 der Schädlichkeit von politischer und administrativer Korruption ist prima facie plausibel und in sich weitgehend schlüssig. Allerdings hält es empirischen Erkenntnissen zum Demokratiegefährdungspotenzial von Korruptionshandlungen nur bedingt stand. Die meisten (deutschen) Autoren 54   Dazu Matt/Renzikowski/Sinner, StGB, 2. Aufl. 2020, § 108e Rn. 3; Peters, Korruption in Volksvertretungen, 2017, 105 ff. 55   Teilweise wird der vor Verfälschung zu schützende Staatswille sogar als (Neben-)Rechtsgut der Amtsträgerkorruptionsdelikte betrachtet, vgl. BT 7/550, 269; BGHSt 52, 300 Rn.  7; E. Schmidt (Fn. 34), Fn. 216a. Soweit das Wesen der (Amtsträger-)Korruption generell in der Demokratiewidrigkeit gesehen wird (i.d.S. Reinhold, Amtsträgerbestechung, 2011, 70, 168), kann das aber nicht überzeugen. Denn hiernach wären auch in der Sache gerechte administrative Entscheidungen in Diktaturen durch Korruptionsdelikte nicht schutzwürdig (und § 335a dStGB wäre insoweit illegitim). 56   Zur Frage, wessen Interessen bei korruptiv verfälschten Entscheidungen durch Staatsdiener negativ beeinträchtigt werden ausf. Zimmermann (Fn. 3), 359 ff. 57   Grdl. zu diesem Topos im Rahmen der Amtsträgerbestechlichkeit Feuerbach, Themis, oder Beiträge zur Gesetzgebung, 1812, 187; aus neuerer Zeit BGHSt 15, 88, (96 f.); Fuhrmann, ZStW 72 (1960), 534 (537 Fn. 15); Schröder, GA 1961, 289 (292); Loos, in: FS für Hans Welzel, 1974, 879. 58   S. statt Vieler die Analyse von Angermund, in: FS für Hans Mommsen, 1995, 371 (382) (vor allem am Bsp. Nazi-Deutschlands). 59   Überblick bei Sowada, in: Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2009, Vor § 331 Rn. 30 ff. Ausführlich zum Vertrauensrechtsgut in seinen verschiedenen Spielarten Zimmermann (Fn. 3), 207 ff.

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schreiben die besagte Gefahr für das Systemvertrauen vor allem der Bestechung niederrangiger Amtsträger (Sachbearbeiter, Vollstreckungsbeamte usw.) zu; sie gehen dabei implizit von einem Modell der bottom up-Korrumpierung aus, wonach die Gefahr der Systemzersetzung primär von der sog. petty corruption ausgeht („von der gekauften Baugenehmigung zum Staatszerfall“)60. Bei genauerer Betrachtung von Ländern mit endemischen Korruptionsproblemen (wie etwa Kenia oder Russland) fällt indes auf, dass die Wurzel der dort omnipräsenten Korruption weniger in der sich nach oben fortpflanzenden Korruptivität subalterner staatlicher Entscheidungsträger zu suchen ist. Vielmehr verhält es sich so, dass in Ländern mit endemischer Korruption eine korrupte Regierungselite die gesellschaftlichen Subsysteme top down korrumpiert, indem der staatliche Machtapparat an den Spitzen der Behörden (Polizei, Staatsanwaltschaft, Beschaffungswesen, Wahlaufsicht usw.) mit korrupten Günstlingen der Regierungselite besetzt wird – und sich erst infolgedessen in der Bevölkerung und bei den einfachen Amtsträgern Resignation und Gleichgültigkeit gegenüber Korruption in allen Lebensbereichen ausbreiten. Die Perfektion eines solchen sich selbst erhaltenden, Reform-resistenten Korruptionssystems wird in der internationalen Debatte unter der Bezeichnung state capture (etwa: Kaperung des Staatsapparates) analysiert61. Damit ist ungefähr Folgendes gemeint: Die Regierungselite bereichert sich bzw. ihr gehörende Unternehmen durch die Übervorteilung der Staatskasse auf Kosten der Allgemeinheit (etwa durch die vergaberechtswidrige Akquise überteuerter Aufträge), während die politisch abhängigen Strafverfolgungsbehörden für ihr Wegsehen belohnt werden; zudem wird ein Teil der Korruptionsgewinne bei den politischen Wahlen zum systematischen Stimmenkauf eingesetzt, sodass trotz miserabler Regierungsbilanz auch die Wiederwahl der Regierungselite gelingt (wobei die an ihrer Spitze mit einem Profiteur besetzte Wahlbehörde hiergegen wiederum nicht einschreitet). Nicht selten werden zudem die Spitzen der politischen Opposition mit selektiven Korruptionsermittlungen behelligt, sodass zwei weitere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Ausschaltung der politischen Gegner und gleichzeitige populistische Zurschaustellung von Antikorruptionsaktivitäten. Aber auch die mit dem state capture-Modell verbundene Umkehrung der Sichtweise – Demokratie-zersetzende Wirkung der Korruption von oben statt von unten – ändert letztlich nichts an der Gefahr, die von der einzelnen erkauf-

 Ausf. Zimmermann (Fn. 3), 221 ff. m.w.N.  Instruktiv Maina, State Capture, 2019 (https://africog.org/wp-content/uploads/2019/05/ STATE-CAPTURE.pdf, ); February, State capture – An entirely new type of corruption, 2019 (https://issafrica.s3.amazonaws.com/site/uploads/sar25.pdf ). Einen guten Überblick bietet der Sammelband von Meirotti/Masterson (Hrsg.), State Capture in Africa – Old Threats, New Packaging?, 2018 (https://www.eisa.org.za/pdf/sym2017papers.pdf, ). 60 61

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ten Fehlentscheidung für das demokratische System als solches ausgeht; denn auch hier hängt schlussendlich alles mit allem zusammen62. Kurzum: Anhaltende politische Korruption treibt die Demokratie so oder so in eine Abwärtsspirale. Vor diesem Hintergrund ist es legitim, hiergegen auch mit den Mitteln des Strafrechts vorzugehen. 2. Das deutsche Korruptionsstrafrecht zum Schutz der Volkssouveränität In diesem Abschnitt wird kurz darauf eingegangen, inwiefern das deutsche Strafrecht im Bereich der gegen die Volkssouveränität gerichteten Korruption von der (prinzipiell legitimen, s.o.) Kriminalisierungsoption Gebrauch macht. a) Unmittelbare Demokratie Die Entscheidungsträger in der Urwahlphase, also die Wähler, sind in ihren Entscheidungen frei; sie dürfen sich dabei auch irrational oder egoistisch verhalten63. Auch ist das Versprechen sog. Wahlgeschenke (z.B. Steuersenkungen für Reiche) prinzipiell erlaubt64. Fehlentscheidungen der Typen 1 (inhaltlich falsche Entscheidung) und 3 (Verletzung einer Neutralitätspflicht) sind in der Urwahlphase nicht möglich65. Allerdings folgt aus dem Grundsatz der Wahlgleichheit (Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 14 Abs. 3 EUV) die Freiheit des Wettbewerbs der besten politischen Idee66. Hieraus wiederum folgt das an den Wähler adressierte Verbot, eine Wahlentscheidung auf die Erwägung zu stützen, diese als Gegenleistung für eine Vorteilsgewährung aus privaten Mitteln zu treffen. Ansonsten könnten sich reiche Personen politische Entscheidungen kaufen und aus der Demokratie würde eine Plutokratie67. Entsprechend pönalisiert die in §  108b dStGB geregelte Wählerbestechung den Stimmenkauf als Typ 2-Fehlentschei-

62   Eine praktische Schlussfolgerung des state capture-Ansatzes besteht darin, dass Investitionen zur Verbesserung der (strafrechtlichen) Bekämpfung der petty corruption bei gleichzeitigem Fortbestehen systemischer grand corruption auf der Regierungsebene ohne Erfolg bleiben müssen. Ein Zurückdrängen der Korruption in (formell demokratischen) Entwicklungsländern kann vielmehr nur dann gelingen, wenn (auch) an der Regierungsspitze ein ernsthafter Wille zur nachhaltigen Bekämpfung der Korruption besteht. Als Beispiel für ein solches Gelingen mag Ruanda dienen, vgl. die Analyse von Baez Camargo/Gatwa, Informal Governance and Corruption – Transcending the Principal Agent and Collective Action Paradigms, 2018, insbes. 26  ff. (https://www.baselgovernance.org/sites/default/files/2019-04/rwanda.informalgovernance.country_report.pdf, ). 63   Depenheuer, VVDStRL 55 (1996), 90 (115); Härtl, Wahlstraftaten, 2006, 205. 64   Allg. Ansicht, s. nur Bauer/Gmel, in: Leipziger Kommentar StGB, Bd. 4, 12. Aufl. 2007, § 108b Rn. 4. 65  Vgl. Bachner-Foregger, in: Wiener Kommentar StGB, 2. Aufl. 200. Lfg. (Stand 7/2018), § 265 Rn. 5; Zimmermann (Fn. 3), 311. 66   Zimmermann, ZIS 2011, 982 (988). 67  v. Arnim, NVwZ 2006, 249 (250).

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dung68. Die Vorschrift ist aber aus mehreren Gründen schlecht formuliert und bedarf nach zutreffender Ansicht des BGH69 einer restriktiven Auslegung70. b) Mittelbare Demokratie Das zum Urwähler Gesagte gilt grundsätzlich auch für die politische Auswahlentscheidung eines mit freiem Mandat ausgestatteten Parlamentariers: Auch dieser ist bei seiner (Mit-) Entscheidung über die Bevorzugung bestimmter Interessen nur seinem Gewissen unterworfen und nicht an inhaltliche Vorgaben im Sinne einer richtigen oder falschen Entscheidung gebunden71. Fehlentscheidungen des Typs 1 sind daher auch hier praktisch nicht denkbar. Allerdings muss der Mandatsträger bei seinen Entscheidungen stets den Zweck der Institution parlamentarischer Demokratie – d.h. die Förderung des Gemeinwohls – im Blick behalten; Entscheidungsgründe, die dieses Sachbezogenheitserfordernis offenkundig vermissen lassen, sind daher unzulässig. Konsequenterweise verbieten das GG, das AbgG und die darauf Bezug nehmende Strafnorm – die Mandatsträgerbestechung gem. § 108e dStGB – fremdbestimmte, d.h. „im Auftrag oder auf Weisung“ vorgenommene parlamentarische Entscheidungen72. Dementsprechend ist eine gekaufte Entscheidung als prozedural fehlerhaft im Sinne des Fehlertyps 2 anzusehen. Ob darüber hinaus auch Fehlentscheidungen vom Typ 3 möglich bzw. strafbar sind, ist nach der jüngsten Umgestaltung der Vorschrift über die Mandatsträgerbestechung umstritten73. Dies betrifft etwa den Fall, dass sich ein Abgeordneter nach der Entgegennahme einer verbotenen Einflussspende an seine Partei mit dem omnimodo facturus-Einwand verteidigt, er hätte auch ohne die Spende in derselben Weise abgestimmt, da die gewünschte Entscheidung ohnehin seinen politischen Überzeugungen entsprochen habe. Ferner pönalisiert das deutsche Nebenstrafrecht in Art. 2 § 2 IntBestG die korruptive Einflussnahme auf bestimmte Entscheidungen ausländischer Parlamentarier74.

  Zimmermann (Fn. 3), 175 f., 311; a.A. Reinhart, in: FS für Imme Roxin, 2012, 69.   BGHSt 33, 336 (338 f.). 70   Problematisch ist insbes., dass der Normwortlaut keinen Anhaltspunkt bietet, wahlrechtlich erlaubte „Wahlgeschenke“ tatbestandlich auszuschließen. Die Vorschrift ist daher teleologisch zu reduzieren, ausf. Zimmermann (Fn. 3), 607 ff. 71  Näher Zimmermann, ZStW 124 (2012), 1023 (1042 ff.). 72   Zu den verfassungsrechtlichen Hintergründen vgl. BVerfGE 40, 296 (318  f.); 118 (277, 330). Näher zu den außerstrafrechtlichen Annahmeverboten für Abgeordnete Busch/Hoven/ Pieth/Rübenstahl/Raue (Fn. 14), Kap. 2 Rn. 9 ff. 73   Näher dazu Kubiciel/Hoven, NK 2014, 339 (348 ff.); Zimmermann (Fn. 3), 335 f., 618 f. 74   Zum unklaren Verhältnis von § 108e dStGB zu Art. 2 § 2 IntBestG Walther, WiJ 2015, 152, (155); Peters (Fn. 54), 508 ff. Unrichtig ist die Ansicht von Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis/Rübenstahl, Wirtschaftsstrafrecht mit Steuerstrafrecht und Verfahrensrecht. Kommentar, 2017, § 108e StGB Rn. 49, wonach Art. 2 § 2 IntBestG 2015 aufgehoben worden sei. 68 69

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c) Exekutivische Entscheidungen Entscheidungen der administrativen Exekutive bestehen vorwiegend in dem Nachvollzug von Gesetzen durch strikt neutrale Amtsträger (vgl. exemplarisch § 21 VwVfG). Fehlentscheidungen der Typen 1 und 2 sind ohne weiteres möglich. Die korruptive Manipulation von Entscheidungen der Exekutive sind in den §§ 331 ff. dStGB umfassend unter Strafe gestellt75. Die Fehlentscheidung bezeichnet das Gesetz dabei als „Dienstpflichtverletzung“76. Fehlentscheidungen vom Typ 3, also in der Sache vertretbare Ermessensentscheidungen ohne sachwidriges Räsonnement, die aber im Zustand der Befangenheit getroffen worden sind, werden allerdings entgegen früherer Rspr.77 nach inzwischen ganz h.M.78 lediglich von den Protokorruptions-Normen, also der Vorteilsannahme und -gewährung gem. §§ 331, 333 dStGB, erfasst. Problematisch ist, dass im deutschen Recht auch Regierungsamtsträger wie z.B. die Bundesminister oder Oberbürgermeister als Amtsträger i.S.d. §§ 331 ff. i.V.m. § 11 I Nr. 2 dStGB behandelt werden79. Regierungsamtsträger unterliegen jedoch keiner beamten- oder verwaltungsrechtlichen Neutralitätspflicht80, sodass in diesem Bereich Vorteilszuwendungen, bspw. Parteispenden oder wertvolle Einladungen, nicht dazu führen, dass eine anschließend getroffene Entscheidung, z.B. eine kartellrechtliche Ministererlaubnis, als korrumpiert angesehen werden kann81. Hier bedürfen die Amtsträgerkorruptionsdelikte daher einer besonders restriktiven Auslegung.

  Instruktive Kurzüberblicke bei Kuhlen, JuS 2011, 637; Bock, JA 2008, 199.   Soweit §  3 EUFinSchStG der Dienstpflichtverletzung eine Beschädigung oder Gefährdung des Vermögens der EU gleichsetzt, ist damit eine Ausweitung der Strafbarkeit nicht verbunden, da eine solche Vermögensgefährdung praktisch immer mit einer pflichtwidrigen Handlung einhergehen wird, vgl. BT-Drs. 19/7886, 11 u. 30. 77   BGHSt 11, 125 (130); BGH NJW 1960, 830 (831); RGSt 74, 251 (255); 77, 75 (78). Für eine Rückkehr zu dieser Rspr. Zimmermann (Fn. 3), 343 ff. 78   St. Rspr. seit BGHSt 15, 88 (91 ff.); 15, 239 (249 ff.) (im Anschluss an E. Schmidt [Fn. 34], Rn. 94–117); NK-StGB/Kuhlen, Bd. 3, 5. Aufl. 2017, § 332 Rn. 12; MüKoStGB/Korte, Bd. 5, 3. Aufl. 2019, § 332 Rn. 29. 79  Ausf. Zimmermann, ZStW 124 (2012), 1023. 80  Vgl. Brodowski, HRRS 2009, 277 (283); Haffke, in: Tondorf (Hrsg.), Staatsdienst und Ethik – Korruption in Deutschland, 1995, 11 (17 ff.). 81   Zimmermann (Fn. 3), 628 f. 75 76

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V. Zusammenfassung 1. Strafrechtswissenschaftlich interessant ist allein der sog. enge Korruptionsbegriff. Diesen zugrunde gelegt, kann Korruption definiert werden als der „(Ver-)kauf einer benachteiligenden Fehlentscheidung“. 2. Volkssouveränität bedeutet, dass politische Entscheidungen entlang einer Legitimationskette auf den kollektiven Willen der Bürger zurückführbar sein müssen. Korruptive Eingriffe in das System politischer Entscheidungsfindung zerstören die Legitimationskette. Dies führt zu unfairen Verhältnissen im Staat und schlimmstenfalls zu einer Erosion des demokratischen Systems. 3. Die Kriminalisierung politischer Korruption ist legitim. Das deutsche dStGB stellt Bestechungsunrecht in allen Phasen des politischen Entscheidungsprozesses unter Strafe. Die Vorschriften sind aber nur zum Teil gelungen und bedürfen restriktiver Auslegung.

Korruption, Populismus und die Krise des Rechtsstaats in Brasilien1 Alberto do Amaral Junior & Mariana Boer Martins

I. Einleitung In der Welt ist in letzter Zeit ein Anstieg von Populismus und Autoritarismus in verschiedenen Demokratien zu beobachten. Brasilien stellt dabei sicherlich keine Ausnahme dar. Der Prozess, der in dem Ergebnis der letzten brasilianischen Präsidentschaftswahl gipfelte, unterscheidet sich aber grundlegend von dem, der in einigen Ländern des globalen Nordens beobachtet wurde. Auch wenn die Ursache der derzeitigen politischen Situation komplex ist, so ist als ein Hauptfaktor das notorisch hohe Maß an Korruption festzustellen. Die Hypothese, die dieser Aufsatz zu erörtern versucht ist, dass ein Zusammenhang zwischen dem Bekanntwerden der Ermittlungen im Zusammenhang mit der „Operation Autowäsche“, welche beginnend im Jahr 2015 von der brasilianischen Bundespolizei (Federal Police) durchgeführt wurde, und dem Erstarken der populistischen, rechten Regierung besteht. Die Analyse hat insofern besondere Relevanz, als diese nicht ausschließlich für den Fall Brasiliens Anwendung findet, sondern auch ein Indikator dafür sein kann, dass ähnliche Phänomene in anderen Staaten unter ähnlichen Umständen ebenso auftreten könnten. Die Hauptthese dieser Arbeit ist, dass ein extrem hohes Maß an Korruption sich disruptiv auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auswirkt. Die brasilianischen Erfahrungen stellen einen typischen Fall eines korrupten Systems dar, unter dem man ein Netzwerk aus hochrangigen Vertretern der Exekutive, Anführer der primären politischen Parteien der Legislative sowie staatseigenen und privaten Unternehmen versteht. Zwar nehmen die Parteien unterschiedliche Rollen und Funktionen ein, sie streben aber alle nach demselben Ziel: einer persönlichen Vorteilsnahme. Das ist der Grund, warum systematische Korruption in besonderer Weise eine Herausforderung für die Rechtsstaatlichkeit darstellt. Dieser Aufsatz gliedert sich in fünf Abschnitte. Der erste Abschnitt soll die theoretischen Grundlagen dieser Studie bilden, indem zwei Konzepte definiert werden: Korruption und Populismus. Dabei soll auch gezeigt werden, wie die beiden Konzepte im brasilianischen Kontext miteinander zusammenhängen. 1

  Übersetzung aus dem Englischen durch Judith Papenfuß.

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Im zweiten Abschnitt wird ein Überblick über die noch andauernde „Operation Autowäsche“ und deren Ergebnisse dargestellt, wobei zugleich dessen Bedeutung in der brasilianischen Geschichte deutlich werden soll. Der dritte Abschnitt stellt die Kette von Ereignissen dar, die zu der politischen und ökonomischen Krise des Landes geführt haben. Der vierte Abschnitt erklärt zum einen die Hauptfaktoren für die Wahl von Präsident Jair Bolsonaro und gibt zum anderen eine Begründung, warum seine politischen Ideen als populistisch kategorisiert werden können. Der fünfte Abschnitt zieht ein Fazit.

II. Korruption und Populismus in Brasilien: ein Überblick Korruption ist ein facettenreiches Phänomen, das weltweit auftritt und eine Vielzahl an Praktiken umfasst. Generell kann Korruption aber als Missbrauch öffentlicher Ämter und Stellen für einen privaten Vorteil2 definiert werden. Jedenfalls erfolgt Korruption immer dann, wenn öffentliche Institutionen daran gewöhnt sind, eher persönliche Interessen voranzutreiben als die des Allgemeinwohls. In korrupten Staaten ist die Verteilung von staatlichen Leistungen und Abgaben signifikant verzerrt, was sowohl die Wirtschaft als auch die Legitimation des politischen Systems untergräbt3. Wie von Arvind Jain hervorgehoben wird, deuten Studien an, dass Korruption die Tendenz hat, sich nicht nur auf korruptionsbezogene Vorgänge zu beschränken, sondern sich auf das gesamte Wirtschaftssystem auszuwirken4. Damit verbunden ist ein geringeres Investitionsniveau und wirtschaftliches Wachstum, was sich auf die innerstaatliche Einkommensverteilung auswirken kann5. Auch wenn Korruption in verschiedensten Formen auftreten kann, lassen sich jedenfalls drei typische Kernelemente ermitteln: Erste Voraussetzung ist eine Behörde, die mit Ermessensspielraum bezüglich der Vergabe von Mitteln ausgestattet ist. Zweitens muss sich dieser Ermessensspielraum auf solche Mittel beziehen, die potenziell von privaten Akteuren erlangt werden können. Die dritte Voraussetzung für das Vorliegen von Korruption besteht in der geringen Bestrafungswahrscheinlichkeit für Fehlverhalten6. Wie nachfolgend aufgezeigt wird, haben diese Kernelemente den – weiter unten noch darzulegenden – sogenannten Petrobras-Korruptionsskandal möglich gemacht. Auch wenn die dort involvierten Akteure letztlich bestraft wurden, durften sie doch in den Jahren zuvor davon ausgehen, dass ihr Verhalten sanktionslos bleiben könnte.

2   So im Bericht der Weltbank von 1997, Helping countries combat corruption: the role of the World Bank, 8, abrufbar unter http://www1.worldbank.org/publicsector/anticorrupt/corruptn/corrptn.pdf . 3   Rose-Ackerman, Corruption and government: causes, consequences and reform, 1999, 226. 4   Jain, Journal of Economic Surveys, Vol. 15 (2008), 71 (72). 5   Rose-Ackerman (Fn. 3), 2; Jain (Fn. 4), 72. 6   Jain (Fn. 4), 77.

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Die brasilianische Politik ist seit jeher von Korruption geplagt7. Korruption und das Phänomen des Patrimonialismus als ein zentrales Charakteristikum wurden bereits von vielen Wissenschaftlern beleuchtet. Zu nennen sind Raymundo Faoro und Sérgio Buarque de Holanda8. In seinem Standardwerk, „Os donos do poder“ (Inhaber der Macht), macht Faoro deutlich, dass die sozio-politischen Strukturen des Landes jahrhundertelang – von der Regentschaft König Dom João I bis zur Vargas-Regierung – mehr oder weniger unverändert geblieben sind, die Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten waren seither verschwommen9. Faoro zufolge baute der Patrimonialismus in Brasilien stets auf Traditionen. Aufbauend auf Faoros Ideen, beschreibt Sérgio Lazzarini das brasilianische Wirtschaftssystem als Kapitalismus der Beziehungen, das sich aus einem Netz aus Verbindungen, Kontakten und Unterstützungsstrategien zusammensetzt, die sich um politische und wirtschaftliche Interessen drehen10. Er argumentiert dabei, dass die in einem solchen System entstehenden Dynamiken letztlich immer das Risiko begründen, dass die Beziehungen zwischen privaten und öffentlichen Akteuren zu Kanälen von Vetternwirtschaft, Kollusion und ungerechtfertigtem Protektionismus werden. Anhand der Entwicklung der brasilianischen Hauptstadt Brasìlia, die von Grund auf neu geplant und Anfang der 1960er Jahre eröffnet wurde, lässt sich gut illustrieren, wie diese spezielle Form des Kapitalismus funktioniert. Zum ersten Mal wirkten große Unternehmen zusammen, die einst in ihren eigenen Bundesstaaten isoliert waren, und formten dadurch politische Verbindungen11. Auch später sind unter vielen Regierungen Korruptionsskandale aufgetreten12. Der staatliche Kapitalismus Brasiliens zeigt sich dabei als fruchtbarer Boden für korrupte Praktiken. Grund dafür, so Costa et al., ist die Dynamik, die durch enge persönliche und private oder familiäre Beziehungen zwischen Geschäftsleuten und Staatsvertreter entstehen13.

7   Schwarcz und Starling argumentieren, dass Korruption zwar immer ein Problem in Brasilien gewesen ist, dieses Problem aber den Großteil der Staaten weltweit betrifft. Sie kritisieren den simplifizierten und vorurteilsbelasteten Ansatz, welcher indiziert, dass Korruption lediglich ein Merkmal der brasilianischen Kultur und der brasilianischen Bevölkerung sei. Dabei würden die heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit und die Bestrebungen der Institutionen ignoriert, die sich gegen Korruptionsverbrechen und für die Strafverfolgung und Prävention einsetzten. Vgl. Schwarcz/Starling, Brasil: una biografia, 2015, 504. 8   In seinem Essay „Raízes do Brazil“ kritisiert Holanda die Muster, die er als Patrimonialismus wahrnimmt, der sich dadurch charakterisiert, dass sich bei der Auswahl von Beamten persönliche Verbindungen gegenüber objektiven Kriterien durchsetzen. Vgl. Holanda, Raízes do Brasil, 26. Aufl. 2009. 9   Faoro, Os donos do poder: formação do patronato polìtico brasileiro, 3. Aufl. 2001, 866. 10   Lazzarini, Capitalismo de laços: os donos do Brasil e suas conexões, 2011, 3 f. 11   Del Priore, Histórias de gente bralileira: testemunhos (1951–2000), 4. Aufl. 2019, 24. 12  Vgl. Schwarcz/Starling (Fn. 7), 504. 13   Costa et al., Corporate Social (Ir)responsibility in Brazil: Companies, Power and Ties Interwined, in: Gómez/Vargas-Preciado/Crowther (Hrsg.), Corporate Social Responsibility and Corporate Governance: Cocepts, Perspektives and Emerging Trends in Ibero-America, 2017, 297.

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Dennoch lässt sich anhand der Schlagzeilen der letzten Jahre ein Paradigmenwechsel in Bezug auf die Wahrnehmung solcher Korruptionsdelikte feststellen, die durch hochrangige Beamte und Geschäftsleute begangen werden. So hat etwa das Ausmaß der Veruntreuungen aufseiten des staatseigenen Ölunternehmens Petrobras die brasilianische Gesellschaft auf vielen Ebenen betroffen. Die neuerlichen Korruptionsermittlungen, die von der brasilianischen Bundespolizei und der Bundesstaatsanwaltschaft (Federal Prosecution Service) durchgeführt werden, haben zwei zentrale Nebeneffekte: der erste ist wirtschaftlicher Natur, was angesichts der ökonomischen Relevanz der involvierten Unternehmen keineswegs verwundert. Der zweite Effekt, der auch noch nachfolgend näher beleuchtet werden soll, besteht in der Reaktion der Gesellschaft, die schließlich in der Wahl eines rechten und populistischen Anführers mündete. Der Aufstieg von Populisten in verantwortliche Ämter rund um den Globus vermittelt generell den Eindruck, dass die Wählerschaft nicht nur der etablierten Parteien und Regierungen überdrüssig ist, sondern sogar der liberalen Demokratie an sich14. Allerdings bedarf es noch der Erläuterung, inwiefern sich die Regierung von Präsident Jair Bolsonaro überhaupt als populistisch charakterisieren lässt. In den Medien wurde der Populismusbegriff in letzter Zeit häufig verwendet, eine präzise Konzeption bereitet aber durchaus Schwierigkeiten. Nach Jan-Werner Müller stellt Populismus keine festgeschriebene Doktrin dar, vielmehr handelt es sich um eine Reihe verschiedener Behauptungen, die in sich ein logisches Konzept ergeben15. Der Autor vertritt die Auffassung, dass sich diese Logik aus zwei charakteristischen Merkmalen zusammensetzt. Das erste Merkmal ist die besonders kritische Haltung gegenüber den Eliten, welche als korrupt gelten und im Gegensatz zum gemeinen Volk als moralisch unterlegen angesehen werden. Dieser Umstand allein qualifiziert eine Partei oder einen Politiker hingegen noch nicht als Populisten. Andernfalls würde jegliche Form der Elitenkritik bereits unter den Populismusbegriff fallen16. Das zweite Merkmal, das dementsprechend hinzutreten muss, ist Antipluralismus, schließlich behaupten Populisten stets, dass sie die einzig wahren Vertreter des Volkes seien und dass jede Form politischer Opposition nicht legitimiert sei. Dieser Konzeption folgend stellt das Volk eine reine und geschlossene Entität dar, wobei jeder mit abweichender Auffassung nicht Teil dieser Entität gilt17. Populistische Anführer haben folglich stets eine Position bezüglich der Werte des wahren Volkes, dessen Repräsentanz sie für sich in Anspruch nehmen18. Antipluralismus steht deshalb im Zentrum des Populismusbegriffs, da die scheinbare Repräsentativität populistischer Anführer auf einer symbolischen Konstruktion beruht, die eine verzerrte Darstellung der Realität widergibt19. Diese Interpretation führt zu

  Mounk, The people v democracy: why our freedom is in danger and how to save it, 2018, 2.   Müller, What is Populism?, 2016, 10. 16   Müller (Fn. 15), 19 f. 17   Müller (Fn. 15), 20 f. 18   Müller (Fn. 15), 25. 19   Müller (Fn. 15), 68. 14

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einer monistischen Betrachtung der Gesellschaft, welche all jene ausschließt, die nicht in diese ideale Anschauung passen20. Der Umstand, dass populistische Bewegungen tendenziell feindlich gegenüber kulturellen, linguistischen, religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten eingestellt sind, findet seinen Grund darin, dass Populisten das Volk als kulturell und wirtschaftlich homogene Gruppe betrachten21. Sie weigern sich anzuerkennen, dass Konflikte und Spannungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen einer Gesellschaft inhärent sind. Ein weiterer gemeinsamer Nenner von Populisten besteht in der Regel darin, dass sie stets einfache Lösungen für die zur jeweiligen Zeit drängendsten Probleme anbieten. Da diese Probleme natürlich nicht automatisch mit Amtsübernahme verschwinden, wird die Verantwortung für die Fortexistenz der Probleme anderen Personengruppen zugeschrieben, so z.B. Migranten22. Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass Populismus im Schatten der Demokratie funktioniert, weil Populisten per se keine Gegner von Repräsentation sind, sondern vielmehr ihr eigenes spezielles Verständnis von Repräsentation zugrunde legen23. Auch wenn es so wirkt, als würden Populisten das Prinzip der demokratischen Repräsentation befürworten, greifen sie eher auf ein symbolträchtiges Verständnis demokratischer Repräsentation zurück24. Da populistische Bewegungen die Demokratie nicht vollständig abschaffen, sondern diese vielmehr für die Machtübernahme nutzen wollen, können diese Bewegungen auch nicht als rein antidemokratische Bewegungen qualifiziert werden. Sobald sie aber an der Macht sind, haben sie die Möglichkeit, liberale Institutionen zu attackieren. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass Populismus gleichzeitig sowohl demokratisch als auch illiberal ist25: Populistische Bewegungen folgen demokratischen Grundsätzen im weiteren Sinne, während sie gleichzeitig die liberale Betonung der Wahrung individueller Rechte und prozessualer Garantien ablehnen26. Die hinter populistischen Strukturen stehenden Kräfte in ihrer Komplexität zu beleuchten, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Dennoch sind an dieser Stelle einige Beobachtungen zu nennen. So ist zunächst mit Cas Mudde und Cristóbal Rovira Kaltwasser festzustellen, dass es zu einfach wäre, den Erfolg populistischer Politik allein auf das Auftreten charismatischer Führer zurückzuführen, deren Ideen auf eine enttäuschte Mehrheit wirken, die sich vom Establishment ignoriert fühlt27. Diese Vorstellung greift deshalb zu kurz, weil sie die Dimension von Angebot und Nachfrage außer Acht lässt: In Gesellschaften, in denen eine große Nachfrage nach populistischer Politik besteht, müssen auch

  Müller (Fn. 15), 3.   Plattner, Journal of Democracy, Vol. 21 (2010), 81 (82). 22   Mounk (Fn. 14), 7. 23   Müller (Fn. 15), 25. 24   Müller (Fn. 15), 27. 25   Mounk (Fn. 14), 35. 26   Plattner (Fn. 21), 88. 27   Mudde/Kaltwasser, Populism: a very short introduction, 2017. 20 21

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ernsthafte populistische Kräfte diese Nachfrage bedienen, damit der Populismus florieren kann; umgekehrt sind starke populistische Strömungen dann zum Scheitern verurteilt, wenn keine Nachfrage besteht.28 Die Nachfrage nach Populismus manifestiert sich immer dann, wenn eine spezifische Konstellation äußerer Umstände auftritt, beispielsweise eine Wirtschaftskrise oder die Enthüllung von Fällen systematischer Korruption. Korrupte Handlungen sind in besonderer Weise dazu geeignet, in der Bevölkerung das Gefühl aufkommen zu lassen, dass sich elitäre Gruppen unehrlich verhalten. Dies kann wiederum dazu führen, dass Wut ausgelöst wird und eine höhere Empfänglichkeit für populistische Gedankenmuster entsteht29. Daher könnte die Bevölkerung in Ländern, in denen politische Systeme wenig auf die Bedürfnisse ihrer Bürger reagieren, eher dazu neigen, populistische Kandidaten zu unterstützen30. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Not kann ein großer Teil der Wählerschaft dazu tendieren, sich von der Regierung im Hinblick auf ihre Anliegen ignoriert zu fühlen, wodurch ein generelles Misstrauen gegenüber dem Establishment begründet werden kann. In hochentwickelten Volkswirtschaften hat sich der wirtschaftliche Fortschritt radikal verlangsamt und die Kombination aus nachlassendem Wachstum und steigender Ungleichheit führt bei einem Großteil der Bevölkerung zu einer Stagnation des Lebensstandards31. Diese Entwicklung ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, beispielsweise auf die Globalisierung, die Automatisierung und das Erstarken der digitalen Wirtschaft. Zwar gibt es durchaus Ansätze, das Problem einer ungleichen Wohlstandverteilung zu minimieren, doch biete diese Ansätze keineswegs einfache und schnelle Lösungen32. In weniger prosperierenden Zeiten haben die Menschen demnach keinen hinreichenden Anlass, an die bestehenden politischen Systeme zu glauben, was wiederum zur Erosion der Fundamente einer liberalen Demokratie führen kann33. Im Fall Brasilien waren die vorherrschenden Gründe für den Sieg einer rechtsgerichteten, populistischen Regierung im Jahr 2018 zum einen die Korruption und zum anderen die Unempfänglichkeit der Politik für die Bedürfnisse der Bevölkerung. Auch wenn wirtschaftliche Instabilität zu dem Gefühl geführt hat, dass radikale Veränderungen im Hinblick auf den politischen Status Quo notwendig sind, so ist das Problem, wie nachfolgend zu beleuchten sein wird, in vielerlei Hinsicht mit der Krise verknüpft, die durch die Petrobras-Affäre ausgelöst wurde.

  Mudde/Kaltwasser (Fn. 27), 97.   Mudde/Kaltwasser (Fn. 27), 100 f. 30   Mudde/Kaltwasser (Fn. 27), 101. 31   Mounk (Fn. 14), 149. 32   Mounk (Fn. 14), 37. 33   Mounk (Fn. 14), 152. 28 29

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III. Die „Operation Autowäsche“ (Lava-Jato) Die sogenannte „Operation Autowäsche“ bezeichnet die Bemühungen einer Task Force, die sich aus Vertretern der brasilianischen Bundesanwaltschaft (Ministério Público Federal), der Bundespolizei, dem Finanzamt, der Zentralbank und dem Rat für Finanzkontrolle zusammensetzte.34 Sie betraf im Ergebnis sechzehn Unternehmen, Bestechungsgelder von fünf Milliarden Dollar, die an Firmenmitarbeiter, politische Parteien, fünfzig Abgeordnete und vier frühere brasilianische Präsidenten geflossen sind.35 Im Jahr 2014 hat die brasilianische Bundespolizei die damals bereits laufende „Operation Autowäsche“ (Operação Lava-Jato) vorgestellt, die bis heute die größte Antikorruptionsermittlung in der Geschichte Brasiliens darstellt. Nachdem die Operation ursprünglich der Aufklärung von Geldwäsche dienen sollte, weitete sie sich schnell aus und erreichte ihren Höhepunkt mit der Aufdeckung der Korruptionsaffäre, in die das staateigene Ölunternehmen Petrobras verwickelt war36. Die Firmen bestachen Politiker oder verantwortliche Mitarbeiter bei Petrobras mit Beteiligungen am Auftragsvolumen, die zwischen einem und fünf Prozent variierten. Das Kartell, das im gerichtlichen Kontext als „The Club“ bezeichnet wurde, war für die Koordination der entsprechenden Verträge verantwortlich. Es entschied, welches Unternehmen einen Vertrag mit Petrobras erhalten sollte. Diese Entscheidung wurde dann mithilfe von Manipulationen im öffentlichen Ausschreibungsprozess bestimmt, ebenso entschied das Kartell über die Höhe der anfallenden „Servicegebühren“ und Schmiergeldzahlungen37. Die Petrobras-Mitarbeiter, die mit dem Kartell verbunden waren, sorgten dafür, dass andere Unternehmen von den Geschäften ausgeschlossen blieben38. Die „Operation Autowäsche“ war zunächst darauf ausgelegt, Aktivitäten von vier kriminellen Organisationen zu untersuchen, die von Schwarzmarkt-Geldhändlern (sog. Doleiros) geleitet wurden. Eine dieser Organisationen verschleierte die Herkunft des Geldes durch das Betreiben von Autowaschanlagen, was der Operation ihren Namen einbrachte. Durch eine Abhöraktion stellte sich heraus, dass einer der Doleiros, Alberto Youssef, dem Vertriebsleiter bei Petrobras, Paulo Roberto Costa, ein Auto zur Verfügung gestellt hatte39. Durch die 34   Costa, Lava Jato comleta cinco anos com 155 pessoas condedad, abrufbar unter http:// agenciabrasil.ebc.com.br/justica/noticia/2019-03/lava-jato-completa-cinco-anos-com155-pessoas-condenadas , Rn. 9. 35   Watts, zitiert in: Manoushgain, Tulane Journal of Internationa and Comparative Law 27 (2019), 413. 36  Petrobras, das mehrheitlich von der brasilianischen Regierung (Union) gehalten wird, operiert weltweit in 25 Ländern im Energiesektor. Dabei arbeitet das Unternehmen vorrangig in den Bereichen Exploration, Produktion, Raffinierung, Marketing und Transport von Öl, Erdgas und deren Derivate. Das Unternehmen hat eine enorme Bedeutung für die brasilianische Wirtschaft, vgl. Costa et al (Fn. 13), 299. 37   Salcedo-Albarán et al., The „Lava-Jato“ Network: Corruption and Money Laundering in Brazil, The Global Observatory of Transnational Criminal Networks – Working Paper No. 29, 2017, 1 (11). 38   Costa et al. (Fn. 13), 300 f. 39   Aguilera, Contexualizasiones Latinoamericanas, No. 21 (2019), 1 ff.

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weiteren Ermittlungen fanden sich Beweise, die auf ein engmaschiges Korruptionsnetzwerk hindeuteten, in dessen Zentrum sich die Ölfirma Petrobras befand. Die Straftaten wurden durch große Subunternehmer (empreiteiras) verübt, die das brasilianische Vergaberecht verletzten. Die Firmen bauten ein Kartell auf, das den Beteiligten Aufträge in Milliardenhöhe verschaffte. In einem ersten Schritt der „Operation Autowäsche“ konnte ermittelt werden, dass die Bestechungsgelder durch Finanzakteure, darunter auch durch die Doleiros, verteilt wurden. Die Funktion der Finanzakteure bestand nicht nur darin, die Zahlungen zu übermitteln, sondern gleichzeitig auch für die Verschleierung zu sorgen, sodass sauberes Geld an die Empfänger ausgezahlt werden konnte40. Die Direktoren von Petrobras, die Bestechungsgelder akzeptiert hatten, waren von politischen Parteien bestellt worden41. Im Jahr 2015, also in einer späteren Phase der Operation, wurden Ermittlungen gegen Parlamentarier aufgenommen, die entweder selbst einen der Direktoren ins Amt gehoben hatten oder zumindest daran beteiligt waren42. Der Superior Electoral Court (TSE) stellte außerdem fest, dass die in das Korruptionsnetzwerk verstrickten Unternehmen mehrere Millionen Reais in Form von Wahlkampfspenden an politische Parteien gezahlt hatten und damit den Wahlausgang im Jahr 2014 beeinflusst hatten43. Von den zehn größten Spendern kamen fünf aus dem Baugewerbe44. Von Salcedo-Albarán et al. wird beschrieben, dass einige der illegalen Zahlungen zwar direkt durch Offshore-Konten, durch Scheinfirmen oder in bar geleistet wurden; eine weitere Strategie des Kartells, Bestechungsgelder zu übermitteln, bestand aber in der Finanzierung politischer Kampagnen von Politikern oder hohen Beamten45. Von allen beteiligten Firmen, war Odebrecht S.A möglicherweise das bedeutendste Unternehmen46. Bis zur Aufdeckung des Kartells im November 2014 hatte das Unternehmen nicht weniger als neunzehn Verträge mit Petrobras in Höhe von 17 Milliarden Reais geschlossen47. Im März 2016 wurde der CEO von Odebrecht, Marcelo Odebrecht, zu 19 Jahren Haft wegen der Zahlung von Bestechungsgeldern in Höhe von 35 ­Millionen Dollar an Petrobras-Verantwortliche verurteilt.48 Er einigte sich mit den Strafverfolgungsbehörden auf eine Kronzeugenregelung, die die Rückzahlung von 2,6 Milliarden Dollar beinhaltete. Siebzehn weitere Ölfirmen entschieden sich für denselben Weg49. Im Rahmen einer Verständigung im Strafverfahren offenbarte der CEO des größten Ingenieurs- und Vertragsunternehmens Lateiname  Costa et al. (Fn. 13), 301.  Vgl. Almeida/Zagaris, The Fletcher Forum of World Affairs, Vol. 39 (2015), 87 (89 ff.). 42   Costa et al. (Fn. 13), 301. 43   Gonçalves/Andrade, Revista de Administração Pública, Vol. 53 (2019), 271 (281). 44   Costa et al. (Fn. 13), 301. 45   Salcedo-Albarán et al. (Fn. 37), 1 (12). 46   Salcedo-Albarán et al. (Fn. 37), 1 (12). 47   Salcedo-Albarán et al. (Fn. 37), 1 (12). 48   Justi/Dioníso, Justiça Federal condena Marcelo Odebrecht em ação da Lava Jato, abrufbar unter http://g1.globo.com/pr/parana/noticia/2016/03/justica-federal-condena-marcelo-odebrecht-em-acao-da-lava-jato.html . 49   Aguilera (Fn. 39) 1 ff. 40 41

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rikas, dass das Unternehmen eine ganze Abteilung – die sogenannte Division of Structured Operations – unterhielt, die sich ausschließlich mit der Kommunikation und Zahlungen außerhalb der legalen Buchführung beschäftigte und deren einziger Zweck darin bestand, Bestechungsgelder an Amtsträger zu übermitteln50. Ebenso wurden sechs leitende Manager der größten Vertragsunternehmen des Landes – Camargo Correia, UTC, OAS, Mendes Júnior, Engevix and Galvão – inhaftiert51. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass das gesamte politische System darauf ausgerichtet war, Korruption zu perpetuieren.52 Politiker aus allen fünf Regionen des Landes und aus allen ideologischen Richtungen waren in das Netzwerk verstrickt, was wiederum deutlich macht, dass Korruption eine gängige Praxis darstellte53. Fünf Jahre nach dem Beginn der „Operation Autowäsche“ wurden 50 Prozesse durchgeführt. 155 Personen wurden unter anderem wegen Geldwäsche, aktiver oder passiver Korruption, Ausschreibungsbetrug, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und Steuerhinterziehung verurteilt54. Der Bundesanwaltschaft zufolge waren die Verständigungen (delações premiadas) zwischen den zuständigen Staatsanwälten und den Angeklagten für die Entwicklung der Operation unerlässlich. Ohne diese Verständigungen wäre es unmöglich gewesen, das Korruptionsnetzwerk bei Petrobras aufzudecken, da die Beschaffung von Beweismaterial für diese Form der Kriminalität andernfalls äußerst schwierig gewesen wäre55. Die Verständigungen basierten dabei auf einer Kosten-Nutzen-Abwägung, bei der insbesondere bewertet werden musste, ob neue Informationen in Bezug auf Straftaten und Tatbeteiligte gewonnen werden konnten und wie die Bedeutung der entsprechenden Beweismittel einzuschätzen war. Weitere Maßnahmen während der Operation bestanden unter anderem in der Verhängung von Haftbefehle gegen unentschuldigt ferngebliebene Angeklagte56. Viele der von der Staatsanwaltschaft ergriffenen Maßnahmen wurden kontrovers diskutiert und von juristischen Experten kritisiert57.

50   Bedinelli, Da escolha de apelidos à entrega do dinheiro: a engenharia da corrupção da Odebrecht em detalhes, El País, 15.4.2014, abrufbar unter https://brasil.elpaicom/brasil/2017/04/13/politica/1492117321_685877.html < zuletzt abgerufen am 27.11.2019>. 51   Schwarcz/Starling (Fn. 7) 503. 52   Gonçalves/Andrade (Fn. 43), 285 ff. 53   Gonçalves/Andrade (Fn. 43), 285 ff. 54   Costa (Fn. 34), Rn. 1. 55   Venturini/Aragão, Lava Jato: a origem e o destino da maior operação anticorrupção do Brasil, abrufbar unter https://www.nexojornal.com.br/explicado/2018/03/16/Lava-Jato-a-origem-e-o-destino-da-maior-opera%C3%A7%C3%A3o-anticorrup%C3%A7%C3%A3odo-pa%C3%Ads , Rn. 23. 56   Venturini/Aragão (Fn. 55), Rn. 22 ff. 57   Toron, Revista brasileira de ciências criminais, Vol. 125 (2016), 15  ff.; Bottino, Revista Brasileira de Ciências Criminais, vol. 122 (2016), 359; Canotilho/Brandão, Revista brasileira de ciências criminais Vol. 133 (2017), 133 ff.

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In Zahlen lässt sich die „Operation Autowäsche“ wie folgt abbilden:58 484 Angeklagte. Zahl der Angeklagten 4 Milliarden Reais Betrag, der bisher ermittelt werden konnte 2,1 Milliarden Reais Geschätzte Summe der Kompensationszahlungen, die in Verständigungen festgelegt wurden 12,4 Milliarden Reais Geschätzte Summe der Kompensationszahlungen, die im Rahmen von Kronzeugenregelungen festgelegt wurden 14,3 Milliarden Reais Gesamtbetrag, der noch nicht aufgefunden wurde Auch wenn systematische Korruption seit jeher als Bestandteil brasilianischer Politik angesehen werden kann, begründet die „Operation Autowäsche“ einen gravierenden sozial-gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Die hiermit einhergehende Zäsur ist auf das Gefühl der Bevölkerung zurückzuführen, dass hohe Politiker und Wirtschaftsmagnaten nun endlich zur Rechenschaft gezogen wurden. Obwohl Bestechung und andere Korruptionstatbestände schon länger strafbar waren, war die Wirksamkeit der entsprechenden Vorschriften praktisch nicht gegeben59. So wurden in der Vergangenheit nur wenige – und dann nur besonders gravierende – Korruptionsverbrechen verfolgt. Die Verfahren zogen sich aber häufig in die Länge und endeten in der Regel ohne Strafen60. Dieser Umstände könnte auch der Grund sein, warum die „Operation Autowäsche“ mittlerweile als Meilenstein in der brasilianischen Geschichte angesehen wird61. Wie von Aguilera festgestellt, konnten zum ersten Mal in der Geschichte des Landes Verurteilungen miterlebt sowie eine umfassende Berichterstattung über die Ermittlungen in den Nachrichtenmedien beobachtet werden62. Die gesamte brasilianische Gesellschaft verfolgte – unabhängig von der sozialen Schicht – die Entwicklungen und Fakten. Eine Studie des Data Popular Institute zeigte, dass sieben von zehn Mittelschicht-Brasilianern die Operation befürworteten63. Der frühere Bundesrichter Sérgio Moro wurde zum Gesicht des Kampfes gegen Korruption.   Quelle: Ministério Público Federal.   Tobolowsky, Law and Business Review of the Americas Vol. 22 (2016), 383 ff. 60   Sotero, zitiert in: Tobolowsky (Fn. 59), 6. 61   Schwarcz/Starling (Fn. 7), 505. 62   Aguilera (Fn. 39), 1 ff. 63  Die Ergebnisse der Studie sind abrufbar unter https://exame.abril.com.br/brasil/seteem-cada-10-brasileiros-da-classe-c-apoiam-lava-jato-diz-pesquisa/ . 58 59

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Neben dem gesellschaftlichen Einfluss waren die wirtschaftlichen Konsequenzen des Korruptionsskandals dramatisch. Seit 2014 haben die zehn größten Ingenieursbüros und Subunternehmer, die in das Programm verwickelt waren, mehr als 600.000 Arbeitsplätze gestrichen. Grund dafür waren Kreditrestriktionen und die Notwendigkeit Anlagen zu verkaufen, um die Liquidität zu steigern64. Für Petrobras, das größte Unternehmen Brasiliens, belief sich der Schaden auf Milliarden von Reais. Neben den finanziellen Verlusten, wurde auch das Image des Unternehmens vollständig zerstört. Vor dem Skandal wurde das Unternehmen von Experten als seltenes Beispiel einer Firm gewertet, die vor politischer Vereinnahmung sicher sei65. Noch im Jahr 2013 wurde Petrobras vom Forbes Magazine als die dreizehntgrößte Ölfirma der Welt geführt, die eine Liquidität von bis zu 349.836 Reais (etwa 86 Millionen US-Dollar) vorweisen konnte66. Auf dem Höhepunkt der „Operation Autowäsche“ verlor das Unternehmen schließlich 80 Prozent seines Marktwertes – die Beschaffung von Finanzmitteln, um das Unternehmen weiterzuführen wurde nahezu unmöglich67. Die generelle Unzufriedenheit der brasilianischen Bevölkerung zeigte sich deutlich während der Proteste 2013, als Millionen von Menschen auf die Straße gingen, von den politischen Anführern Rechenschaft verlangten und für ein Ende der Straflosigkeit eintraten68. Es wurde auch deutlich, dass die Brasilianer die Ausbeutung des Landes durch die Politik nicht länger hinnehmen würden. So hatte eine Studie der Federation of Industries of São Paulo (FIESP) aus dem Jahr 2012 ergeben, dass die Kosten für Korruptionsaktivitäten in Brasilien zwischen 1,4 und 2,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes des Landes jedes Jahr betragen, was einer Summe von 146 Milliarden US-Dollar entspricht69. Darüber hinaus rebellierten die Menschen gegen den Zustand, dass sich das Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre keinesfalls in einem Anstieg des Wohlstandes niederschlagen hatte oder zugunsten des Allgemeinwohls genutzt wurde70. Obwohl Brasilien nach Angaben der Weltbank (aus 2018) Rang 9 der größten Volkswirtschaften der Welt belegt, rangiert das Land im Hinblick auf die Maßstäbe des UNDP Human Development Rankings (aus 2019) mit dem 79. Platz deutlich hinter Chile und Argentinien. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Ergebnisse der „Operation Autowäsche“ haben sich nach alledem in vielerlei Hinsicht auf die brasilianische Gesellschaft ausgewirkt. Die durch die Ereignisse ausgelöste Instabilität zeitigt dabei besonders gravierende Folgen. So führte sie auch zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und Armut71. Das Ausmaß dieser Ereignisse hat die politische Landschaft seither deutlich geprägt.   Gonçalves/Andrade (Fn. 43), 280 f.   Almeida/Zagaris (Fn. 41), 87.  https://www.valor.com.br/valor1000/2019/ranking1000maiores . 67   Almeida/Zagaris (Fn. 41), 96; Costa et al. (Fn. 13), 303. 68   Tobolowsky (Fn. 59) 7. 69   Nach einer Studie von Ernst & Young, nachzulesen bei Tobolowsky (Fn. 59) 7. 70   Tobolowsky (Fn. 59) 7. 71   Gonçalves/Andrade (Fn. 43), 281. 64 65 66

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IV. Die politischen Entwicklungen seit 2014 Auch wenn viele Politiker unterschiedlicher Parteien und ideologischer Positionen in den Korruptionsskandal verwickelt waren, so wurde doch die Arbeiterpartei (PT), die zu diesem Zeitpunkt an der Macht war, zum Hauptziel der öffentlichen Unzufriedenheit. 2014 wurde die ehemalige Präsidentin Dilma Roussef mit 51,64 Prozent der Stimmen wiedergewählt und setzte sich damit gegen Aécio Neves – einem Senator der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) – durch, der mit 48,36 Prozent der Stimmen unterlag72. 2015 und 2016 wurden zwei prominente Mitglieder der PT, der ehemalige Stabschef José Dirceu and der ehemalige Finanzminister Antonio Palocci73, wegen der Annahme von Bestechungsgeldern im Zusammenhang mit Verträgen mit Petrobras festgenommen. Die auf die Wahl 2014 folgenden Jahre waren durch massive Proteste in weiten Teilen Brasiliens und durch eine Polarisierung der öffentlichen Meinungsbildung geprägt. Obwohl die Forderungen der Demonstranten teilweise diffus waren, ließ sich ein genereller Unmut über die Korruption in der brasilianischen Politik feststellen. Auch wenn es durchaus auch einige Pro-Regierungsdemonstrationen gab, die vorwiegend von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen angeführt wurden, änderte dies nichts daran, dass die Rücktrittsforderungen gegenüber der Präsidentin Dilma Rousseff immer lauter wurden. Das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff begann im Dezember 2015 vor dem Nationalkongress. Der Antrag wurde vom Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha, gestellt – derselben Person, die später vom Bundesrichter Sergio Moro wegen Korruption, Geldwäsche und wegen Umgehung des Währungsgesetzes zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde74. Der Präsidentin wurde vorgeworfen, sowohl Steuer- als auch Haushaltsgesetze verletzt zu haben. Obwohl die Staatsanwaltschaft letztlich nie Beweise für die Verstrickung der Präsidentin in den Skandal vorlegen konnte, warfen ihr Kritiker vor, sie hätte als damalige Vorstandsvorsitzende von Petrobras wissen müssen, was bei diesem Unternehmen vor sich ging75. Losgelöst hiervon ist aber festzustellen, dass sie nie wegen Korruption verurteilt wurde. 72   Benites, Dilma derrota Aécio na eleição mais disputada dos últimos 25 anos, abrufbar unter https://brasil.elpaicom/brasil/2014/10/26/politica/1414362936_748118.html . 73   Justi/Matos, José Dirceu é preso na 17ª fase da Operação Lava Jato, abrufbar unter http:// g1.globo.com/pr/parana/noticia/2015/08/com-40-mandados-judiciais-pf-cumpre-17-faseda-lava-jato.html ; Justi/Dionísio, Justiça Federal condena Marcelo Odebrecht em ação da Lava Jato, abrufbar unter http://g1.globo.com/pr/parana/noticia/2016/03/justica-federal-condena-marcelo-odebrecht-em-acao-da-lava-jato.html . 74   Isaia, Moro condena Cunha a 15 anos de prisão por corrupção, lavagem e evasão de divisa, abrufbar unter http://agenciabrasil.ebc.com.br/politica/noticia/2017-03/moro-condena-eduardo-cunha-15-anos-de-prisao-por-lavagem-de-dinheiro , Rn. 1. 75   Sampaio, How Brazil’s Left Destroyed Itself, abrufbar unter https://foreignpolicy. com/2016/05/13/how-brazils-left-destroyed-itself-dilma-rousseff-impeachment/ , Rn. 14.

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Im März 2016 gingen Hunderttausende in verschiedenen Städten Brasiliens auf die Straße, um die Amtsenthebung der Präsidentin zu fordern. Es handelte sich um die größten Demonstrationen seit dem Ende der Militärherrschaft und stellte damit den Höhepunkt der seit 2014 andauernden Proteste dar76. Im August desselben Jahres wurde die damalige Präsidentin Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben. Die Amtsenthebung fand vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Rezession und sozialer Unruhen statt und beendete die dreizehnjährige Führung der Arbeiterpartei (PT). Ihre Unterstützer bezeichneten das Verfahren als Staatsstreich und warfen ihren politischen Gegnern vor, lediglich nach einem Vorwand gesucht zu haben, um die bestehende Regierung zu stürzen. Die Politikwissenschaftler Felipe Nunes und Carlos Ranulfo Melo stellen fest, dass das Gefühl, die Präsidentin sei für die Wirtschaftskrise und Berichterstattung über den Petrobras-Korruptionsskandal verantwortlich, für einen rasanten Verlust ihrer Popularität sorgten77. Sie führen aber weiter aus, dass die Amtsenthebung auch mit der brasilianischen Dynamik des sog. Coalitional presidentialism erklärt werden kann, wonach der Erfolg einer Regierung maßgeblich von der Beziehung der Exekutive und der Legislative abhängt. In Dilma Rousseffs zweiter Amtszeit war der Kongress so zersplittert wie nie zuvor. Die Präsidentin scheiterte an der Aufgabe, eine Koalition zu bilden, die sie unterstützen hätte können78. Unabhängig von der Frage, ob Präsidentin Rousseff im Korruptionsskandal um Petrobras eine Rolle gespielt hat, wird man wohl sagen müssen, dass die „Operation Autowäsche“ sowohl ihr Image als auch das der gesamten Arbeiterpartei (PT) beschädigt hat79. Nach der Amtsenthebung wurde Vizepräsident Michel Temer, ein Mitte-Rechts-Politiker von der Partei Movimento Democrático Brasileiro, zum Präsident Brasiliens ernannt. Nach dem oben Gesagten war das Jahr 2017 geprägt von Demonstrationen für und gegen das Amtsenthebungsverfahren. Eine Umfrage von Gallego, Ortellado und Ribeiro deutet an, dass sogar solche Demonstranten, die sich selbst als konservativ oder rechts bezeichneten, in elementaren Fragen uneinig waren, insbesondere wenn es um die Einführung einer liberaleren Wirtschaftspolitik ging. Einigkeit bestand dagegen in der gemeinsamen Ablehnung nicht nur der Arbeiterpartei, sondern der politischen Parteien an sich. In anderen Worten wiesen viele Demonstranten eine stark antipolitische Haltung auf. Im selben Jahr wurde die Öffentlichkeit von einer weiteren Etappe der „Operation Autowäsche“ erschüttert. In einem historischen und umstrittenen Prozess wurde der ehemalige Präsident Luis Inácio Lula da Silva von Bundesrichter Sérgio Moro zu neun Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Bundesanwaltschaft zufolge hatte der ehemalige Präsident eine Wohnung in der Küstenstadt

76   Rossi et al., ‘Maior manifestação da democracia brasileira joga Dilma contra as cordas’, El País, 14 March 2016, abrufbar unter https://brasil.elpais.com/brasil/2016/03/13/politica/1457906776_440577.html . 77   Nunes/Melo, Revista de Ciência Política, Vol. 37 (2017), 281 (284). 78   Nunes/Melo (Fn. 77), 285. 79   Sampaio (Fn. 75), Rn. 9 f.

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Guarujá von dem Subunternehmer OAS als Gegenleistung für Verträge mit Petrobras erhalten80. Und wieder waren die Meinungen in Brasilien gespalten. Einer Studie von ­IPSOS zufolge hielten 46 Prozent der Brasilianer die Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Lula für falsch, wobei 69 Prozent glauben, dass dieser durchaus in die Korruptionsaffäre verwickelt war. 51 Prozent dachten aber, dass Lula nicht korrupter als andere Politiker sei. 71 Prozent der Befragten äußerten gar die Auffassung, Lulas Inhaftierung basiere darauf, dass ihn die „Eliten“ im Hinblick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen ausschalten wollten81. Diese Zahlen machen das politische Kapital des ehemaligen Präsidenten deutlich, der von 2003 bis 2011 im Amt war und am Ende seiner zweiten Amtszeit eine Zustimmungsrate von 87 Prozent vorweisen konnte82. Zwei Jahre später erfuhr die „Operation Autowäsche“ einen herben Rückschlag durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, dass die Angeklagten erst nach einer vollständigen Rechtswegerschöpfung inhaftiert werden dürften83. Auf Grundlage dieses Urteils wurde der ehemalige Präsident Lula entlassen. Ironischerweise ist die „Operation Autowäsche“ neuerdings selbst zum Skandal geworden, als eine nach eigenen Angaben unabhängige Non-Profit-Zeitung eine Reihe privater SMS zwischen dem ehemaligen Bundesrichter Sérgio Moro und der Staatsanwaltschaft veröffentlichte, die darauf hindeuten, dass der Richter seine Befugnisse überschritten hatte84. Solch ein kollusives Zusammenwirken von Richterschaft und Staatsanwaltschaft ist im Hinblick auf die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens problematisch und lässt an der Legitimität der Verfahren zweifeln. Die wichtigen politischen Ereignisse in Brasilien seit 2014 offenbaren einen Zustand der Anomie, in welcher die Institutionen in ihren privaten Interessen gefangen sind85. Obwohl das Land große Fortschritte durch Kontrollmechanismen, die Stärkung der Staatsanwaltschaft und Veränderungen in der Gesetzgebung gemacht hat, stellt Korruption keineswegs lediglich ein kleines Problem dar86. Die umfangreiche Berichterstattung über die massive Korruption hat sich nachhaltig auf die Wahrnehmung von Politik durch die brasilianische Bevölke-

80   Breta/Calegari, Moro condena Lula a 9 anos e 6 meses de prisão por caso tríplex, abrufbar unter https://exame.abril.com.br/brasil/moro-condena-lula-a-anos-de-prisao-por-caso-triplex/ , Rn. 4. 81   Shalders, Metade do país é contra a prisão de Lula, mas 69  % acham que ele está envolvido com corrupção, diz pesquisa, abrufbar unter https://www.bbc.com/portuguese/brasil-43761982 , Rn. 2 f. 82   Langlois, zitiert in: Manoushgain,Tulane Journal of Internationa and Comparative Law Vol. 27 (2019), 411 (414). 83   Supremo Tribunal Federal 2019, abrufbar unter http://www.stf.jubr/portal/cms/verNoticiaDetalhe.asp?idConteudo=429359 . 84   Martins/De Santi/Greenwald, Não é muito tempo sem operação?, abrufbar unter https:// theintercept.com/2019/06/09/chat-moro-deltan-telegram-lava-jato/ , Rn. 1. 85   Gonçalves/Andrade (Fn. 43), 287. 86   Schwarcz/Starling (Fn. 7), 504.

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rung ausgewirkt87, und zwar dahingehend, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit deutlich untergraben wurden. Diese Entwicklungen ebneten schließlich den Weg für eine deutliche Verschiebung nach rechts bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2018.

V. Das Resultat der Wahlen 2018: Politikwechsel als Resultat der „Operation Autowäsche“ 2018 wurde Jair Bolsonaro zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt. Die Wahl war das Ergebnis eines Wahlkampfes, der von harscher Rhetorik und ideologischer Polarisierung geprägt war. Der Rechtsaußen-Kandidat Bolsonaro setzte sich mit 55,13 Prozent der Stimmen gegen den mit 44,87 Prozent der Stimmen unterlegenen Fernando Haddad von der Arbeiterpartei (PT) durch88. Präsident Bolsonaro absolvierte sein Studium an der Alguhas-Negras-Militärakademie in Rio de Janeiro und hielt sein Mandat in der Abgeordnetenkammer für sieben Jahre89. Während er bis dahin eine eher unbedeutende politische Figur war, trat er während der Wahlkampagne mit polemischen Bemerkungen und einer konservativen Agenda in das Rampenlicht. Nach den Wissenschaftlern Ribeiro und Ortellado war Bolsonaros Kampagne eine low-budget-Kampagne, die fast ausschließlich in den Sozialen Medien (z.B. Facebook) stattfand und sich dadurch von den traditionellen politischen Kampagnen unterschied. Diese zeichnen sich durch ihre Kostspieligkeit und ihre Fernsehpräsenz aus90. Drei Kernthemen konnten Bolsonaros Kampagne entnommen werden: (i) eine populistische Anti-Establishment-Haltung, die das gesamte politische System und insbesondere die Arbeiterpartei der Korruption bezichtigt; (ii) die Verteidigung sogenannter traditioneller Familienwerte, die angeblich durch die feministische Bewegung und die LGBT-Bewegung bedroht sei; (iii) Kritik an den Mainstream-Medien, die angeblich die traditionellen politischen Kräfte unterstützen.

87   Dies spiegelt sich in Brasiliens Corruption Perception Index (CPI) wider, einer Studie von Transparency International. Der CPI wurde insbesondere deshalb signifikant beeinflusst, da die Ermittlungsergebnisse der „Operation Autowäsche“ quasi in Echtzeit offengelegt wurden, so Aguilera (Fn. 39), 8. Unter 180 Ländern ist Brasilien zwischen 2015 und 2017 im Ranking deutlich nach unten gerutscht, was beweist, dass es als deutlich korrupter wahrgenommen wird als zuvor. 88   Mazui, Jair Bolsonaro é eleito presidente e interrompe série de vitórias do PT, abrufbar unter https://g1.globo.com/politica/eleicoes/2018/noticia/2018/10/28/jair-bolsonaro-e-eleitopresidente-e-interrompe-serie-de-vitorias-do-pt.ghtml , Rn. 2. 89   Planalto, Biografia do Presidente, abrufbar unter https://www.gov.br/planalto/pt-br/ conheca-a-presidencia/biografia-do-presidente . 90   Ribeiro/Ortellado, Pesquisa com eleitores e não eleitores de Jair Bolsonaro São Paulo, abrufbar unter http://www.monitordigital.org/pesquisa/pesquisa-com-eleitores-de-bolsonaro-marcoabril-de-2019/ , 1.

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Daher ist Bolsonaros Wahlsieg nicht allein der starken Ablehnung gegenüber der Arbeiterpartei zuzuschreiben, sondern gründet sich auch auf dem Misstrauen gegenüber dem politischen Establishment. Alemida zufolge ist das die Folge eines sozialen Prozesses, den er als konservative Welle bezeichnet, welche vier Elemente zu adressieren sucht: wirtschaftlichen Liberalismus, moralische Kontrolle, pönalisierende Lösungen für die Öffentliche Sicherheit und soziale Intoleranz91. So deuten Bolsonaros Antrittsrede und sein Regierungsplan an, dass er beabsichtigt, der Vertreter der guten Menschen zu werden und sich gegen die Kriminellen und die Angehörigen von Minderheitengruppen zu stellen. Nach dieser Weltsicht wären nur solche Personen Angehörige des authentischen brasilianischen Volkes, die die Kriterien erfüllen und konservative Werte vertreten. Dieses Narrativ vermittelt dabei die Idee, dass die größten Herausforderungen des Landes (wie die hohe Kriminalitätsrate, die niedrige Qualität von Schulbildung und das langsame Wirtschaftswachstum) mit einfachen und unkomplizierten politischen Strategien zu lösen seien. Neben seiner konservativen Agenda ist der Präsident inzwischen aber auch für seinen polemischen Politikstil bekannt. Viele seiner Bemerkungen wurden von bestimmten sozialen Gruppen als beleidigend empfunden. Diese Sachlage zeigt, dass Präsident Bolsonaros Regierung perfekt auf die oben genannte Beschreibung der Natur von Populismus passt: Demokratisch, aber illiberal. Er wurde nicht nur auf demokratischem Weg gewählt, vielmehr war er bereits vorher lange Jahre Kongressabgeordneter und somit kein völliger Außenseiter. Er hat es erfolgreich geschafft, das Bedürfnis des durchschnittlichen brasilianischen Mittelschicht-Wählers nach Veränderung zu nutzen. Seine moralisierenden Ansichten stießen auf die Anerkennung einer Vielzahl von Menschen, die über die Korruption innerhalb der politischen Kaste unzufrieden waren. Obwohl das demokratische System Bolsonaros Sieg ermöglicht hat, drückt seine politische Agenda aber zugleich auch die Geringschätzung all jener Werte aus, die eine liberale Demokratie ausmachen. Dies gilt insbesondere auch für den Grundsatz der Pluralität.

VI. Fazit Der Populismus als politische Bewegung zeichnet sich durch zwei grundlegende Kriterien aus: Das erste ist die kritische Einstellung gegenüber dem „Establishment“. Das zweite Kriterium besteht in der Antipluralität. Auch wenn populistische Anführer ihre Positionen durch demokratische Mittel einnehmen, sind Populisten nur im weiteren Sinne demokratisch. Diese Einstellung ist für liberale Demokratien schädlich, da sie die nicht-mehrheitliche Perspektive zu verdrängen sucht. Dieser Vorgang zielt insbesondere auf jene Institutionen, die die Grundrechte von Minderheitengruppen schützen. 91

  Almeida, Novos estudos CEBRAP, Vol. 38 (2019), 185.

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Es gibt viele Gründe, warum populistische Anführer gewählt werden. In manchen Industrienationen ist die Entwicklung Ausdruck der Unzufriedenheit und der Angst infolge schlechter werdender Lebensverhältnisse bei einem Großteil der Bevölkerung. Im Fall Brasiliens ist die Entwicklung dagegen direkt auf die breite Berichterstattung über die Ermittlungen der „Operation Autowäsche“ zurückzuführen, die bei vielen Brasilianern den Eindruck geweckt hat, dass ein radikaler politischer Wandel nötig sei. Auch wenn die Prävention gegen und die Bestrafung von Korruption an sich etwas Positives ist, so hatten das Ausmaß und die mediale Vermittlung der „Operation Autowäsche“ der Bundesanwaltschaft und der Bundespolizei einen erheblichen Nebeneffekt: den Aufstieg der rechten und populistischen Regierung. Auch wenn für deren Erstarken letztlich auch die wirtschaftliche Rezession eine Rolle gespielt haben mag, so ist der Wahlsieg Bolsonaros doch maßgeblich auch mit dem Petrobras-Skandal und den politischen Entscheidungen einer als korrupt empfundenen Regierung verknüpft. Der Fall Brasilien macht damit deutlich, dass Korruption zwar ein Phänomen ist, das in den meisten Ländern der Welt vorkommt, dass jedoch ein besonders hohes Korruptionsvorkommen die liberale Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit gefährden kann. Zum heutigen Zeitpunkt ist Korruption ein allgegenwärtiges Phänomen. Es kommt in größerem und kleinerem Umfang überall auf der Welt in der öffentlichen Verwaltung vor. Zusammenfassend erfordert der Kampf gegen Korruption die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Mit dem vorliegenden Beitrag möchten wir aber verdeutlichen, dass der allgegenwärtige Ruf nach einer Verminderung der Korruption auch – teilweise als Kollateralschaden – dazu führen kann, dass die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durch das Erstarken von Populismus gerade gefährdet wird.

Zur Strafbarkeit von illegalen Wahlkampfspenden in Brasilien1 Helena Regina Lobo da Costa

I. Einleitung Illegale Wahlkampfspenden stehen in Brasilien schon seit langem im Mittelpunkt öffentlicher Diskussionen. Verstärkt hat sich dieser Zustand nach Beginn der sogenannten Operação Lava Jato („Operation Autowäsche“), einem Komplex strafrechtlicher Ermittlungen und Gerichtsverfahren, durch den hochproblematische Verbindungen zwischen Privatunternehmen und dem brasilianischen Staat aufgedeckt wurden. Die vielen Kritikpunkte, die der Operação Lava Jato im Hinblick auf verschiedene Frage ihrer Rechtmäßigkeit entgegengebracht werden können, sollen hier keineswegs unerwähnt bleiben2. Allerdings ist für den nachstehenden Beitrag vor allem von Interesse, dass das eben genannte Thema illegaler Wahlkampfspenden durch die Operação Lava Jato Eingang in den juristischen Diskurs in Brasilien gefunden hat. In der Presse wurden viele widersprüchliche Informationen über das Thema veröffentlicht, so zum Beispiel, dass die Annahme illegaler Wahlkampfspenden in Brasilien keine Straftat darstelle3, dass der Kongress versucht habe, für diese Straftaten eine Amnestie durchzusetzen4, und dass Vertreter der Staatsanwaltschaft neue strafrechtliche Institute für diese Spenden geschaffen hätten5. Über diese Themen wurde in der Öffentlichkeit eher emotional und politisch, also weniger sachlich und juristisch diskutiert6. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, das Thema an dieser Stelle unter strafrechtlichen Gesichtspunkten vertieft in den Blick zu nehmen.   Übersetzt aus dem Portugiesischen von Tinka Reichmann.­  Siehe u.a. Ambos/Zilli/Mendes (Hrsg.), Corrupção: ensaios sobre a Lava Jato, 2019; ­Ambos/de Vasconcelos (Hrsg.), ZIS-Sonderheft „Ausländisches Strafrecht: Der brasilianische Korruptionsfall ‚Mensalão‘“ (ZIS 6/2014). 3  https://www.correiobraziliense.com.br/app/noticia/politica/2019/07/10/interna_politica, 769747/tipificacao-do-crime-de-caixa-2-de-campanha-e-aprovada-no-senado.shtml . 4  http://g1.globo.com/bom-dia-brasil/noticia/2017/03/principais-partidos-insistem-que-epreciso-separar-caixa-2-de-propina.html . 5   http://www.mppr.mp.br/pagina-6193.html . 6   Auch wenn brasilianische Autoren sich dem Thema kürzlich in wichtigen Publikationen gewidmet haben. Z.B. Leite/Teixeira (Hrsg.), Crime e política: corrupção, financiamento irregular de partidos políticos, caixa dois eleitoral e enriquecimento ilícito, 2017. 1 2

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Der vorliegende Beitrag ist in vier Abschnitte gegliedert: Im ersten wird zunächst auf die enge Verflechtung zwischen illegalen Wahlkampfspenden und Korruption im weiteren Sinne in Brasilien eingegangen. Im zweiten Teil werden die Regeln der Wahlkampffinanzierung in Brasilien dargestellt. Anschließend wird die dogmatische Einordnung illegaler Wahlkampfspenden nach brasilianischem Strafrecht analysiert. Anschließend wird im vierten Abschnitt in einer größeren Perspektive die Verbindung zwischen illegalen Wahlkampfspenden, Demokratie und Korruption untersucht sowie die Frage besprochen, welche Rolle dem Strafrecht in diesem Bereich zukommt.

II. Illegale Wahlkampfspende als Korruption In der portugiesischen Sprache bezeichnet das Wort „corrupção“ in seiner alltagssprachlichen Bedeutung die negative Veränderung von Eigenschaften. Im Hinblick auf die Beteiligung der öffentlichen Hand wird das Wort laienhaft auch verwendet, um verschiedene Handlungen zu beschreiben, die sich anhand ihres Schweregrades unterscheiden lassen. Als schwerwiegend gelten Fälle wie die Vorteilsannahme durch einen Staatsdiener, der im Gegenzug die ökonomischen Interessen einer Privatperson unterstützen soll und damit gegen das öffentliche Interesse handelt, womit der öffentlichen Hand Vermögensschäden zugefügt werden. Zu minder schweren Handlungen ist die Nichtbeachtung der Grundsätze der öffentlichen Verwaltung zu rechnen, die nicht zu wirtschaftlichen Schäden der öffentlichen Hand führen. Gegenüber dieser allgemein gebräuchlichen Terminologie zeichnet sich das Wort „Korruption“ im strafrechtlichen Bereich durch eine präzisere Bedeutung aus. So existieren im brasilianischen Strafgesetzbuch zwei konkrete Straftaten: die aktive Korruption7 und die passive Korruption8. Die Verwendung desselben Wortes zur Benennung unterschiedlicher Phänomene verursacht natürlich viele Ungenauigkeiten. Im vorliegenden Abschnitt soll untersucht werden, ob das Verhalten, illegale Wahlkampfspenden anzunehmen oder zu tätigen, als Korruption im weitesten Sinne einzustufen ist. Darauf aufbauend soll anhand einer Analyse der einzelnen Straftatbestände im brasilianischen Recht, die auf dieses Verhalten angewandt werden können, genauer auf die Straftaten der aktiven und der passiven Korruption eingegangen werden. Es gibt im brasilianischen Strafrecht für Korruption im weiteren Sinne keine Legaldefinition; der Begriff bezieht sich vielmehr auf jegliches Verhalten, durch welches öffentliche Gelder entzogen oder zweckentfremdet werden, sowie auf jegliche Verhaltensformen, die ein Privatinteresse über das öffentliche Interesse stellen. In diesem Sinne können durchaus auch illegale Wahlkampfspenden als eine Erscheinungsform von Korruption angesehen werden. Sie können zu Verzerrungen beim Zugang zu öffentlichen Wahlämtern   Aktive Korruption gem. Art. 333 (s. Anhang).   Passive Korruption gem. Art. 317 (s. Anhang).

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sowie bei der Ausübung dieser Ämter führen – auch wenn sie nicht zwingend Korruption im strafrechtlichen Sinne darstellen. Tatsächlich ist die Frage der Wahlkampffinanzierung in der brasilianischen öffentlichen Debatte sehr eng mit der Diskussion über Korruption9 verbunden. Bereits bei der ersten Wahl nach der Redemokratisierung 1990 wurden rechtswidrige Wahlkampffinanzierungen publik. Nach der damaligen Wahlgesetzgebung waren Spenden von juristischen Personen unzulässig. Der Skandal schlug in den Medien und der Öffentlichkeit hohe Wellen und endete 1992 mit der Amtsenthebung des Präsidenten Fernando Collor de Mello. Zudem wurde festgestellt, dass das zur Wahlkampffinanzierung aufgebaute Korruptionssystem auch während der Regierung weiter genutzt wurde. In der Konsequenz führte diese Erkenntnis zu einer entsprechenden Gesetzesänderung, der zufolge seit 1994 Spenden von Unternehmen innerhalb bestimmter Grenzen erlaubt sind. Erst kürzlich wurden in einem neuen Skandal weitere illegale Wahlkampfspenden in extrem hohen Größenordnungen aufgedeckt, die mit unerlaubten Gegenleistungen von Amtsträgern verbunden waren10. Daher ist die öffentliche Diskussion über illegale Wahlkampfspenden in Brasilien als eine Diskussion über Korruption im weiteren Sinne zu betrachten.

III. Die Wahlkampffinanzierung in Brasilien Um zu verstehen, was illegale Wahlkampfspenden sind und wie das Strafrecht damit umgehen kann, muss als Grundvoraussetzung zunächst geklärt werden, unter welchen Umständen Wahlkampfspenden legal sind. Daher wird in diesem Abschnitt kurz das brasilianische System der Wahlkampffinanzierung dargestellt. Es wird aber nicht konkret auf die Finanzierung politischer Parteien eingegangen, wenngleich Parteigelder wichtige Finanzierungsquellen für Wahlkämpfe darstellen. Das in Brasilien herrschende System der Wahlkampffinanzierung kann als gemischt bezeichnet werden, d.h. es besteht aus öffentlichen und privaten Quellen. Die öffentlichen Quellen sind der Spezialfonds zur finanziellen Unterstützung politischer Parteien (Fundo Especial de Assistência Financeira aos Partidos Políticos – „Fundo Partidário“), der Spezialfonds zur Finanzierung von Wahlkämpfen (Fundo Especial de Financiamento de Campanha – „FEFC“) und die Gewährung kostenloser Sendezeit für Wahlwerbung im Radio und im Fernsehen. Die privaten Quellen wiederum sind Spenden von natürlichen Personen und die Selbstfinanzierung. Oberstes Ziel der erstgenannten öffentlichen Quelle, Fundo Partidário11, ist die Deckung der Ausgaben der Parteien; die Zahlung erfolgt monatlich. Dabei   Speck, in: Biason (Hrsg.), Temas de corrupção política no Brasil, 2012, 49 ff.   Über die Folgen der aktuelleren Skandale siehe Abschnitt III. 11   Vorschrift des Art. 17 Abs. 3 der brasilianischen Verfassung und geregelt durch das Gesetz Nr. 9.096/95. 9

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darf die Partei die Beträge auch für die Finanzierung der Wahlkampagnen ihrer Kandidaten verwenden. Die Gelder des Fundo Partidário stammen unter anderem aus Mitteln des Bundes, Einnahmen aus Geldstrafen und Bußgeldzahlungen. Die Beträge werden wie folgt verteilt: Fünf Prozent fließen gleichermaßen an alle Parteien und 95 Prozent werden proportional zur Größe der Fraktion der Partei im Abgeordnetenhaus verteilt. Im Jahr 2018 verteilte der Fonds 880 Millionen Real, was zum damaligen Wechselkurs einer Summe von 191 Millionen Euro entsprach. Die zweitgenannte öffentliche Quelle, FEFC, erhält ihre Mittel vom brasilianischen Schatzamt (Tesouro Nacional) und verteilt diese nach den folgenden Anteilen: Zwei Prozent erhalten alle Parteien, 15 Prozent werden proportional zur Zahl der Vertreter im Senat und 48 Prozent proportional zur Zahl der Vertreter im Abgeordnetenhaus ausgeschüttet; hinzu kommen 35 Prozent, die je nach dem Stimmenanteil in der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus verteilt werden. Im Jahr 2018 lag der Betrag bei 1,716 Milliarden Real, circa 373 Millionen Euro. Für das Jahr 2020 wurden 2 Milliarden Real, circa 434 Millionen Euro, veranschlagt. Mindestens 30 Prozent der Mittel aus dem FEFC müssen für die Finanzierung von Wahlkampagnen von Kandidaten eingesetzt werden. Die kostenlose Sendezeit für Wahlwerbung im Radio und im Fernsehen steht in den letzten 35 Tagen vor dem jeweiligen ersten Wahlgang und in den letzten 15 Tagen vor dem betreffenden zweiten Wahlgang zur Verfügung. Dabei ist zu beachten, dass die Kandidaten über die kostenlos zur Verfügung gestellte Sendezeit hinaus keine zusätzliche Zeit erwerben dürfen. Auch hier gibt es im Grundsatz einen festgelegten Verteilungsschlüssel der Wahlkampfressourcen: Zehn Prozent entfallen gleichermaßen auf die Kandidaten und 90 Prozent sind proportional zur Zahl der Parteivertreter im Abgeordnetenhaus. Die öffentliche Hand entschädigt die Fernseh- und Radiounternehmen für die verwendete Sendezeit durch einen steuerlichen Ausgleich. Aus diesem Grund handelt es sich um eine indirekte öffentliche Quelle der Wahlkampffinanzierung. Was die privaten Quellen der Wahlkampffinanzierung angeht, sind heutzutage keine Spenden von Privatunternehmen zur Wahlkampffinanzierung mehr zulässig. Wie bereits erwähnt, wurden nach der Amtsenthebung des Präsidenten 1992 allerdings Gesetze erlassen12, die Spenden von Privatunternehmen innerhalb bestimmter Grenzen und mit bestimmten Transparenzauflagen zuließen. Seinerzeit wurde davon ausgegangen, dass es sinnvoll sei, Spenden von Unternehmen unter bestimmten Bedingungen zuzulassen, um eine öffentliche Kon­ trolle zu ermöglichen, da sich ein zuvor erlassenes Spendenverbot als wirkungslos erwiesen hatte. Gleichwohl hat der Ermittlungskomplex Operação Lava Jato seit dem Jahr 2015 unter den vielen Korruptionshandlungen auch nicht erklärte Wahlkampfspenden in einer hohen Größenordnung aufgedeckt, für die die spendenden Unternehmen mit unerlaubten Gegenleistungen durch Staatsdiener belohnt wurden. Der Oberste Brasilianische Gerichtshof, der Supremo Tribunal Federal, hat sodann befunden, dass die von juristischen Personen getätigten 12

  Wahlen von 1994, 1996, Gesetz der Politischen Parteien und Wahlgesetz von 1997.

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Wahlkampfspenden nicht verfassungskonform seien. In dieser Entscheidung wurde von der Annahme ausgegangen, dass eine vorrangig öffentliche Finanzierung den Einfluss privater Wirtschaftskraft zurückdrängen würde13. Nach dem Spendenverbot für Unternehmen beschränkte sich die private Finanzierung auf Spenden von natürlichen Personen und auf die Selbstfinanzierung. Die Spenden von natürlichen Personen dürfen zehn Prozent des Bruttoeinkommens des Spenders im Jahr vor den Wahlen nicht überschreiten. Der Spender muss ordnungsgemäß angegeben werden, damit die Einhaltung der gesetzlich festgelegten Grenze anhand seiner Einkommensteuererklärung überprüft werden kann. Auch die Mitteleinwerbung durch Crowdfunding ist nur unter diesen Voraussetzungen erlaubt. Bei der Selbstfinanzierung gibt es hingegen keine Obergrenze. Es ist noch wichtig zu unterstreichen, dass bei einigen Wahlen Ausgabengrenzen für die jeweiligen Kampagnen festgelegt wurden. Dies trug dazu bei, den Einfluss der Wirtschaft auf die Wahlen zu senken. So wurde zum Beispiel im Jahr 2018 die Ausgabengrenze für den Präsidentschaftswahlkampf im ersten Wahlgang auf 70 Millionen Real und im zweiten Wahlgang auf 35 Millionen Real festgelegt14. Da 2014 keine gesetzliche Grenze festgelegt wurde, konnten für die Kampagne von Dilma Rousseff zehnmal höhere Ausgaben (350,4 Millionen Real) aufgewendet werden.

IV. Mögliche Subsumtion illegaler Wahlkampfspenden unter das brasilianische Strafrecht Unter Berücksichtigung des Systems der brasilianischen Wahlkampffinanzierung können illegale Wahlkampfspenden situationsabhängig unter verschiedene Straftatbestände subsumiert werden. 1. Fälschung von Wahlurkunden Die brasilianische Gesetzgebung verlangt von den Kandidaten die Vorlage eines nach strengen Kriterien erstellten, detaillierten Rechenschaftsberichts über die Kosten der Wahlkampagne, der alle von den Kandidaten eingeworbenen Spenden enthalten muss. Nach dem brasilianischen Wahlgesetzbuch macht sich strafbar, wer in privaten oder öffentlichen Dokumenten oder Urkunden für Wahlzwecke Erklärungen verschweigt, die dort angegeben werden sollten, oder dort falsche oder von den richtigen abweichenden Erklärungen einfügt oder einfügen lässt. Die mögliche Sanktion liegt bei einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bzw. bei einer Geldstrafe, wenn das gefälschte Dokument eine öffentliche 13   Diese Entscheidung kann durchaus als eine der vielen vorrangig politischen Entscheidungen des brasilianischen Supremo Tribunal Federal angesehen werden, allerdings kann dieser Aspekte hier nicht weiter vertieft werden. 14   Art. 5 des Gesetzes 13.488/2017.

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Urkunde ist, und bei einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bzw. bei einer Geldstrafe, wenn es sich um ein privates Dokument handelt. Bei dem zu erstellenden Rechenschaftsbericht handelt es sich um eine öffentliche Urkunde. Illegale Spenden, wie etwa Spenden juristischer Personen, werden in der Regel nicht – oder jedenfalls nicht korrekt – im Rechenschaftsbericht angegeben. In diesen Fällen läge also die Handlung der Fälschung von Wahlurkunden vor. Als weitere Sanktion kann in einem zusätzlichen Verfahren (neben der strafrechtlichen Verfolgung) die Nichtwählbarkeit der Wahlliste oder des Kandidaten verhängt werden, falls der im Rechenschaftsbericht unerwähnte Betrag über dem Zehnfachen des gesetzlichen Mindestlohns liegt. Allerdings ist die Anwendbarkeit der eben genannten Rechtsvorschrift keineswegs unproblematisch. Dies betrifft etwa die Frage, ob sich ein Kandidat dann strafbar macht, wenn er illegale Spenden angenommen hat, aber überhaupt keinen Rechenschaftsbericht vorlegt. Dies dürfte im Ergebnis zwar zu verneinen sein, allerdings hat die Nichtvorlage des Rechenschaftsberichts gleich die einschneidende Konsequenz der Nichtwählbarkeit. Da die Wahlaufsichtsorgane schnell und leicht feststellen könnten, ob ein Rechenschaftsbericht vorgelegt wurde, erscheint es nicht naheliegend, dass ein Kandidat sich für diesen Weg entscheidet, um seine illegalen Spenden zu kaschieren. Ein weiteres Problem betrifft die Tatsache, dass die genannte Rechtsvorschrift grundsätzlich losgelöst von der Höhe der betreffenden Spende greift. In der Praxis können also sogar buchhalterische Fehler in den Erklärungen als Straftat angesehen werden; in diesen Fällen muss das zuständige Gericht die Frage des Vorsatzes bzw. der Fahrlässigkeit untersuchen, was zu großer Verunsicherung führt. Schließlich stellt sich die ganz generelle Frage, ob es wirklich der Schutz des öffentlichen Glaubens von Urkunden ist, der im Zusammenhang mit illegalen Wahlkampfspenden im Fokus stehen sollte, oder nicht vielmehr die pervertierte Beziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen15. 2. Passive und aktive Korruption Die illegale Wahlkampfspende kann nur als eine passive bzw. aktive Korruption eingestuft werden, wenn sie einen unerlaubten Vorteil darstellt, der in Zusammenhang mit dem Amt eines Staatsdieners steht. Ein offenkundiges Beispiel wäre ein für eine Wiederwahl kandidierender Gouverneur eines Bundesstaates, der das Versprechen einer Wahlkampfspende erhält, die nicht erklärt werden soll, und als Gegenleistung die Aufhebung von Geldstrafen anweist, die dem Spender von Behörden des Bundesstaates auferlegt worden sind. In diesem Fall stellt das Versprechen der Wahlkampfspende einen unerlaubten Vorteil für den Staatsdiener dar, der nur aufgrund seines Amtes und mit dem Zweck entstand, eine unzulässige Amtshandlung zu erwirken. Allerdings können auch legale Wahlkampfspenden grundsätzlich für Zwecke der aktiven oder passiven Korruption verwendet werden. Es lässt sich nämlich 15

  Leite/Teixeira, in: Leite/Teixeira (Hrsg.) (Fn. 6), 149.

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durchaus auch vertreten, dass Korruption vorliegen kann, wenn ein Kandidat in der Zeit des Wahlkampfes gar kein Amt innehatte – und somit keine Möglichkeiten hatte, den Spender direkt durch eine eigene Handlung zu begünstigen. Entsprechend bestimmt das brasilianische Strafgesetzbuch, dass Korruption auch dann gegeben ist, wenn das Verhalten vor dem Amtsantritt des Staatsdieners oder außerhalb seines Amtes stattfand – allerdings notwendigerweise aufgrund seiner Rolle als Staatsdiener. Somit ist es notwendig, eine klare Verbindung zwischen einer bestimmten zukünftigen Amtshandlung und der Annahme der Spende als unerlaubte Vorteilsannahme nachzuweisen. Allerdings kann sich die Abgrenzung zwischen Spenden, die mit dem Ziel getätigt werden, in Zukunft durch eine Amtshandlung des jeweils unterstützten Kandidaten einen Vorteil zu erlangen, und Spenden, die auf bestimmte politische Maßnahmen abzielen, mitunter als sehr schwierig erweisen. Eine Wahlkampfspende zur allgemeinen Unterstützung eines Kandidaten, mit dem der Spender inhaltlich politisch sympathisiert, ist nicht als Korruption einzustufen. Es ist außerdem möglich, dass die Spende mit der Perspektive getätigt wird, dass man im Fall der zukünftigen Wahl des unterstützten Kandidaten Einflussmöglichkeiten auf die Regierung erhalten kann. In diesem Fall kann die Handlung nicht als Korruption eingestuft werden, da keine konkrete Handlung vorliegt, wie es bei dem Versprechen einer bestimmten Amtshandlung der Fall wäre. 3. Andere Straftatbestände im Kontext von Wahlkorruption Es gibt im brasilianischen Recht eine Vorschrift zur Korruption bei Wahlen, die in Art. 299 des Wahlgesetzbuches normiert ist16. Auf illegale Wahlkampfspenden passt diese Vorschrift indes nicht, da Art. 299 den Handel mit der Stimmabgabe an sich zum Gegenstand hat. Illegale Wahlkampfspenden lassen sich auch nicht als Steuerstraftaten einordnen, da die politischen Parteien grundsätzlich Steuerfreiheit genießen, sodass in der Regel keine Steuern auf Parteispenden anfallen. Die Steuerfreiheit kann ausnahmsweise nur dann aberkannt werden, wenn eine Partei Gelder zweckentfremdet hat17. Es ist außerdem wichtig zu erwähnen, dass in der brasilianischen Rechtsordnung die Straftat der Untreue nicht vorgesehen ist. 4. Auswertung Das aktuelle brasilianische Strafrecht sieht die Bestrafung wegen illegaler Wahlkampfspenden vor allem aufgrund von zwei Straftatbeständen vor: der Fälschung von Wahlurkunden und der Korruption18. Allerdings beschränken sich beide Straftatbestände nicht zwingend auf illegale Wahlkampfspenden: Das Delikt der Fälschung von Wahlunterlagen, das auf den Schutz des öffentlichen Glaubens abzielt, umfasst letztlich Handlungen von sehr unterschiedlichen Di  S. Anhang.   Estellita/Paula Júnior, in: Leite/Teixeira (Hrsg.) (Fn. 6), 105 ff. 18   Daneben können in besonderen Konstellationen auch andere Straftaten verwirklicht sein. 16 17

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mensionen; und was die Korruption anbelangt, so ist anzumerken, dass sie auch durch legale Wahlkampfspenden verwirklicht werden kann. Daher ist zu untersuchen, ob in dem Tätigen oder in der Annahme illegaler Wahlkampfspenden ein eigener Unrechtsgehalt gesehen werden kann und – falls ja – ob das Strafrecht diese Handlungen erfasst.

V. Illegale Wahlkampfspenden, Demokratie und Korruption Illegale Wahlkampfspenden können vor allem mit zwei Problemfeldern in Verbindung gebracht werden: mit dem Schutz der Demokratie und der Bekämpfung der Korruption. Zu Ersterem: In einem demokratischen System stellen Wahlen ein grundlegendes Moment für den Ausdruck des Volkswillens dar. Die rechtmäßige Wahl von Volksvertretern, die durch ihre politischen Handlungen Entscheidungen fällen, bindet auch denjenigen Bürger, der andere Kandidaten gewählt hat. Das demokratische System wird nun schon so lange angewendet, dass zahlreiche seiner Fehler, Schwächen und Unstimmigkeiten bekannt sind. Deshalb wurden Korrekturen oder Gegengewichte ausgearbeitet, wie zum Beispiel der Schutz von Minderheiten oder die Möglichkeiten der Amtsenthebung und der Abberufung. Dennoch stellen die Wahlen das wichtigste Moment für die Ausgestaltung des demokratischen Systems dar. Heute kann man nicht davon ausgehen, dass lediglich die formale Durchführung von Wahlen ausreicht, um ihre Rechtmäßigkeit sicherzustellen. Es ist notwendig, dass die Wahlen drei Eigenschaften aufweisen: Erstens sollen sie so universal wie möglich sein, zweitens sollen sie eine tatsächliche Auswahlmöglichkeit erlauben und drittens sollen sie das Ergebnis einer durch Wahlprogramme usw. ermöglichten fundierten Entscheidung sein. Insbesondere die zuletzt genannte Bedingung der Aufklärung, die auch durch Wahlwerbung erreicht wird, steht in Abhängigkeit zu den finanziellen Möglichkeiten der Kandidaten. Da es bei der Selbstfinanzierung der Kandidaten keine Obergrenzen gibt – weder als Anteil des Einkommens des Kandidaten noch als absoluter Betrag –, kann es zu einem unzulässigen Einfluss auf die Überzeugung der Wähler kommen. In diesem Punkt muss daran erinnert werden, dass Brasilien im weltweiten Vergleich eines des Länder mit den größten Einkommensunterschieden ist und daher diese Regel den Kandidaten aus den reicheren Schichten der Bevölkerung einen offensichtlichen Vorteil verschafft und die ärmeren Schichten entsprechend benachteiligt. Somit beeinflusst die Wirtschaftskraft die Wahlen, da die Kandidaten mit der größten ökonomischen Macht mit besseren Kampagnen eine breitere Wählerschicht erreichen und damit auch ihre Wahlchancen erhöhen können. Es kann festgestellt werden, dass das Problem der illegalen Wahlkampfspenden insbesondere den zuletzt genannten Aspekt betrifft. Damit Wahlen durch das Volk auf demokratischer Grundlage erfolgen, ist es notwendig, einen möglichst gleichberechtigten Zugang zu Wahlbudgets zu gewährleisten. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der staatlichen Finanzmittel, da im brasilianischen

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System die öffentlichen Quellen deutlich wichtiger sind als die privaten. Es ist außerdem notwendig, den Einfluss der Wirtschaftskraft bei Wahlen so weit wie möglich zu begrenzen und dem Wähler transparente Angaben über Spender und Kandidaten zugänglich zu machen. Allerdings weisen die brasilianischen Regeln in dieser Hinsicht einige Schwachpunkte auf. Erstens stärkt die Aufteilung der öffentlichen Quellen ganz offensichtlich eine problematische Kontinuität im Wahlwesen, da 90 bis 98 Prozent der staatlichen Finanzierung denjenigen Parteien zufließen, die ohnehin bereits im Kongress vertreten sind. Das Budget für neue Parteien ist sehr beschränkt, die Wachstumschancen kleinerer Parteien werden dadurch gehemmt. In einem Wahlsystem wie dem brasilianischen, in dem über 30 Parteien vorhanden sind und die Parteienlandschaft insgesamt recht volatil ist, kann sich die unflexible Verteilung öffentlicher Mittel negativ auf demokratische Wahlen auswirken. Den bereits etablierten Parteien kommt eine unverhältnismäßig hohe Wirtschaftskraft zu, womit die Erhaltung des Status Quo gefördert wird. Ein zweites ernstzunehmendes Problem besteht in nicht vorhandenen Ausgabenbegrenzungen. Auch die jeweilige Obergrenze wird nicht immer eingehalten bzw. von Wahl zu Wahl neu entschieden. In einem Szenario, in dem für die Kandidaten überhaupt keine Obergrenzen für ihre Ausgaben festgelegt werden, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Wirtschaftskraft einen besonders starken Einfluss auf die Wahlen entfalten wird. Im Hinblick auf die Transparenz verlangt das brasilianische System einen äußerst detaillierten Rechenschaftsbericht für die Wahlkampfausgaben; dieser ist aber nicht in der Lage, dem Wähler die nötigen Informationen auf einfache und verständliche Weise zu vermitteln. Obwohl die jährlichen Rechenschaftsberichte der Parteien, die Bilanzen und die detaillierten Rechenschaftsberichte im Internet im Volltext verfügbar sind, führt diese allgemeine Zugriffsmöglichkeit kaum zu einer inhaltlichen Transparenz. Es wäre deshalb äußerst wichtig, Instrumente zu erarbeiten, die dem Wähler eine einfachere Übersicht ermöglichen, wie zum Beispiel eine Handy-App, welche die Informationen einfacher und für Laien verständlicher darstellt. Angesichts all dieser Schwachpunkte im brasilianischen Wahlsystem ist kaum davon auszugehen, dass das Strafrecht im Sinne einer Garantie eines gleichberechtigten Zugangs der Kandidaten in Sachen Wahlkampffinanzierung und im Sinne der Eingrenzung des Einflusses der Wirtschaftskraft eine tragende Rolle übernehmen kann. Zudem ist große Vorsicht geboten, um einen Missbrauch des Strafrechts als politisches Instrument für den Ausschluss von Kandidaten zu verhindern. Die Beibehaltung der Rechtsfigur der Fälschung von Wahlunterlagen, so wie sie derzeit festgeschrieben ist, stellt sich als besonders negativ dar, weil sie jegliche Unstimmigkeiten zwischen Wahlkampfausgaben und dem Rechenschaftsbericht – sofern diese vorsätzlich sind – kriminalisiert, und zwar unabhängig von der Höhe und dem proportionalen Einfluss auf die jeweilige Wahlkampagne.

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Helena Regina Lobo da Costa

Da es in Brasilien möglich ist, im Kontext von Wahlen Sanktionen für unzulässiges Verhalten zu verhängen19, sollte man sich fragen, ob es nicht insgesamt ausreichen würde, die illegalen Wahlkampfspenden ausschließlich mit den wahlspezifischen Sanktionen zu sanktionieren und dem Strafrecht nur diejenigen Fälle zuzuführen, bei denen die Spendensummen so hoch sind, dass der Betrag die Wahlen tatsächlich beeinflusst haben könnte20. In diesem Szenario der Unsicherheit ist die Schaffung neuer Straftatbestände nicht gerechtfertigt. Es ist eher notwendig, transparentere Kriterien für die Rechtsprechung auszuarbeiten, um die Anwendung der aktuellen Straftatbestände der aktiven und passiven Korruption einzugrenzen. In diesem Sinne kann es für das brasilianische Recht sehr hilfreich sein, aus der Erfahrung anderer Länder zu schöpfen und insbesondere auch die deutsche Perspektive zu berücksichtigen, wo in der Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung ähnliche Fragen behandelt werden21. In Brasilien sollten demnach die Normen zu Wahlkampffinanzierung und zu illegalen Wahlkampfspenden noch stärker und umfassender reflektiert werden.

19   Diese sind nicht mit Strafen zu verwechseln und können unabhängig von diesen verhängt werden. 20   Dies würde etwa für illegale Spenden gelten, die über zehn Prozent der Gesamtkosten der Kampagne eines Kandidaten oder einer Partei liegen. 21  Siehe Zimmermann, Das Unrecht der Korruption, 2018, 312 u. 629 ff m.w.N.

Quid pro quo ohne quid!? Über den in jeder Hinsicht bemerkenswerten „Fall Lula“1 Mauricio Stegemann Dieter & Jacson Zilio

I. Einleitung Die jüngsten Skandale in der juristischen Welt Brasiliens zeichnen sich meist durch eine hohe Geschwindigkeit der Kommunikation aus – eine Geschwindigkeit, die vorsichtige und sorgfältige Überlegungen meist verhindert und höchstens „prêt-à-porter“-Meinungen von Theoretikern gestattet. Dies war auch bei demjenigen Prozess nicht anders, der im Jahr 2017 gegen den ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva wegen Korruption und Geldwäsche stattfand. Diverse Meinungen, alle voreilig und mehr oder weniger richtig, wurden in verschiedenen Medienquellen veröffentlicht, sowohl in Massenmedien als auch in alternativen Medien2. Der vorliegende Beitrag empfiehlt, die kontroverse Verurteilung Lulas mithilfe einer strafrechtlichen Analyse zu betrachten, um eine qualifizierte Debatte zu ermöglichen. Dennoch kann die gewünschte Objektivität nicht gelingen, ohne dass auch Stellung bezogen wird.

II. Größenordnungen Bevor die Begründetheit des Lula-Urteils betrachtet werden soll, ist rein quantitativ festzustellen, dass das Urteil ungewöhnlich lang ist: Es umfasst 216 Seiten, die sich in 962 Absätze gliedern. Das dürfte das Urteil von der großen Mehrheit aller strafrechtlichen Entscheidungen in Brasilien unterscheiden. Eine offizielle Schätzung zeigt, dass 89 Prozent der strafrechtlichen Verurteilungen, die eine Freiheitsstrafe vorsehen, auf lediglich acht Straftatbestände gestützt werden, von denen die meisten (51 Prozent) keine Gewalt oder schwerwiegende Bedrohun-

  Übersetzung aus dem Englischen durch Judith Papenfuß.  Bei dem Balanceakt zwischen Unmittelbarkeit und Reflektiertheit, stechen nur wenige Meinungen so heraus, wie die des Anwalts Nelio Machado: Machado, Críticas à defesa do ex-presidente Lula mostram parcialidade de Moro, abrufbar unter http://www.conjur.com. br/2017-jul-12/nelio-machado-sentenca-lula-mostra-parcialidade-moro . 1 2

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gen umfassen3. Diese meist umgangssprachlich formulierten Entscheidungen umfassen, wie Staatsanwälte bestätigen können, oft nicht mehr als 15 Seiten, gefüllt mit leeren Floskeln und Schlagwörtern sowie grammatikalischen Anpassungsfehlern, die auf einen freigiebigen Gebrauch von Programmen wie „AutoText“ oder „Copy / Paste“ hindeuten. In der alltäglichen Arbeit der strafrechtlichen Praxis wird regelmäßig, selbstverständlich abgesehen von den ehrenhaften Ausnahmen, automatisiert vorgegangen, während präzise Bearbeitungen eher die Ausnahme darstellen. Anhand der begrenzten Zeit, die zur Anfertigung der Urteilsschrift im Lula-Fall benötigt wurde, darf durchaus bezweifelt werden, dass die Richter das Urteil unter Berücksichtigung aller für eine Verurteilung relevanten Fakten angefertigt haben4. Daraus muss der naheliegende Schluss gezogen werden, dass mit der Anfertigung des Urteils lange vor Beginn der Hauptverhandlung begonnen wurde. Das Urteil basierte folglich auf Vorverurteilungen, die sich seit Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft gebildet hatten – bzw. möglicherweise sogar noch früher, wie dies vonseiten der Unterstützer des Angeklagten vermutet wird. Darüber hinaus ist auf das fragwürdige Verhalten des zuständigen Richters gegenüber den Verteidigern sowie der Öffentlichkeit hinzuweisen. Erstens bediente er ein eigenes Narrativ, das ihn als Opfer des öffentlichen Drucks darstellen sollte. Zweitens beschwerte er sich über die Instrumentalisierung der Medien als Mittel zur Einflussnahme auf den Prozess. Drittens wies der zuständige Richter Vorwürfe hinsichtlich der offensichtlich illegalen Telefonüberwachung von Brasiliens Präsidentin Dilma Roussef von sich, indem er die Rechtsverletzung als kleinen Fehler herunterspielte, der ihm aufgrund von Arbeitsüberbelastung unterlaufen sei. Viertens rügte er stets aus banalen Anlässen die meisten der beteiligten Staatsanwälte und Strafverteidiger, außer denjenigen, die eine Verständigung unterstützten: Dabei erwähnte er wiederholt die angebliche Unzulänglichkeit verschiedener Argumente der Verteidigung und beschwerte sich über eine angebliche Feindseligkeit, die von den Verteidigern ausgehe.

3   Meist Diebstahl oder der Handel mit Substanzen, bei denen der Konsum staatlich verboten ist. Für die gesamten Daten siehe Levantamento Nacional de Informações Penitenciárias (INFOPEN) vom Dezember 2014, eine offizielle Veröffentlichung des brasilianischen Justizministeriums. 4  Wenn man nur die Aufzeichnungen der Computeraktivitäten der Formalvorgänge betrachtet, wäre es nicht einmal glaubwürdig zu behaupten, man könne die Zeitspanne nachvollziehen. Der Fall wurde am Dienstag, dem 11. Juli 2017, genau um 16:17 Uhr zur Urteilsfällung eingereicht. Weniger als 24 Stunden später, am Mittwoch, dem 12. Juli 2017 um 13:54 Uhr, unterschrieb der Richter das in den Fallakten befindliche Urteil in digitaler Form. Das ist praktisch unmöglich. Auf der anderen Seite könnte man auch vom Zeitpunkt der Registrierung der Veranstaltungsnummer 939 ausgehen, was am 21. Juni um 12:45 Uhr als „Fallakte beim Richter für Sanktionsentscheidung“ dokumentiert wurde – einen Tag, nachdem die schriftlichen Schlussplädoyers der Verteidigung eingereicht wurden. Danach wären für die Verfassung des Urteils 22 Tage Zeit gewesen, was eine Anfertigung von zehn Seiten am Tag bedeuten würde. Auch dies wäre eine ungewöhnlich schnelle Bearbeitung.

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III. Die Korruption des Gesetzes Die Anschuldigungen der Staatsanwaltschaft gegen Luiz Inacio Lula da Silva sind recht schlicht: Er soll mit dem Bauunternehmen OAS, durch die Verantwortlichen Paulo Okamotto und João Vaccari Neto, eine bauliche Aufwertung einer dreistöckigen Wohnung arrangiert haben, die er und seine Frau am Strand von Guarujá im Staat Sao Paulo, Brasilien kaufen wollten. Diese Aufwertung sollte eine größere Dachterrasse umfassen, die auf Kosten des Unternehmens dekoriert und möbliert werden sollte. Das Geld stammte teilweise aus Beträgen, die Lulas Partei (die Arbeiterpartei) als Bestechungsgeld für drei Konsortiumverträge mit dem Unternehmen Petrobras zugedacht waren. Dies stützen Aussagen der CEOs von OAS, wobei José Adelmario Pinheiro Filho, besser bekannt als Leo Pinheiro, von dem Richter für seine „informelle Zusammenarbeit“ gelobt wurde, was in der Urteilsschrift ausführlich, aber wenig substantiell dargelegt wurde. Das Problem an der Sache ist, dass der Vorgang an sich weder den Tatbestand der passiven Korruption noch den Tatbestand der Geldwäsche erfüllt. 1. Handlungen zuerst Der Tatbestand der passiven Korruption, der in Art.  317 des brasilianischen Strafgesetzbuches5 geregelt ist, sieht drei Kernhandlungen vor: Erhalten, Erbitten oder Annehmen. Diese Handlungen müssen gerichtet sein auf einen unmittelbar oder potenziell unzulässigen Vorteil, also eine Bedingung für die korrupte Ausübung einer amtlichen Aufgabe. Um eine der Handlungen als strafbares Verhalten zu charakterisieren, muss nachgewiesen werden, dass der Angeklagte einen Vorteil oder das Versprechen, eine Handlung zu unterlassen, tatsächlich erhalten, erbeten oder angenommen hat. Dieses Austauschverhältnis lässt sich charakterisieren durch die Formel „Ein Gefallen gegen einen anderen Gefallen“, das bekannte „quid pro quo“-Prinzip. Warum aber ist dieser Tatbestand im vorliegenden Fall nicht einschlägig? Die Tatbestandsvoraussetzung des Erhaltens kann man schon deshalb verwerfen, da die betreffende Wohnung tatsächlich niemals fertiggestellt wurde. So konnten dem ehemaligen Präsidenten auch keine Eigentumsrechte – Besitz, Nutzung, Fruchtziehung und Verfügungsbefugnis – zukommen. Was das Merkmal des Erbittens anbelangt, existiert keinerlei Beweis, dass der ehemalige Präsident das Unternehmen OAS persönlich oder durch eine andere Person um die Aufwertung gebeten hätte. Dies räumt das Gericht in dem Urteil in recht verschlüsselter Formulierung sogar selbst ein. Offenbar glaubten alle beteiligten Mitarbeiter bei OAS, dass die Wohnung für Lula und seine Familie gedacht sei. Es gibt aber keine Beweise dafür, dass Lula diesen unzulässigen Vorteil jemals für sich oder jemand anderen beansprucht hätte, weder direkt noch indirekt. Die Aussage, dass die dreistöckige Wohnung diejenige von Lula sei, beruht letztlich nur auf 5

  S. Anhang.

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Hörensagen. Die Variante der Annahme eines unzulässigen Vorteils ist besonders unwahrscheinlich: Der ehemalige Präsident und seine Frau zeigten sehr wenig bis gar kein Interesse an der in Rede stehenden Wohnung und seiner Umgestaltung. Das Verhalten der Familie stellt zumindest kein Verhalten dar, das reale Erwartungen an einen zukünftig zufließenden Vorteil in Form einer Immobilie darstellt6. Ein solches Verhalten sollte in strafrechtlicher Hinsicht daher den Vorsatz („mens rea“) ausschließen. Diese Option wurde im Urteil allerdings nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Somit mangelt es der Anklage gegen den Präsidenten erheblich an Substanz. Dies führte allerdings nicht zu einer gebührenden Hinterfragung der Schuld des Angeklagten. Dass es an einer eindeutigen Aufforderung durch das Paar fehlt, wurde beiden Personen als Verdeckungsabsicht ausgelegt. Der Richter versäumte nicht nur eine genaue Prüfung dieses Sachverhalts, sondern behauptete fälschlicherweise, dass die Beweislast für einen zweifelsfreien Freispruch bei der Verteidigung läge – eine These, die neben ihrer Rechtswidrigkeit zugleich den faden Beigeschmack eines modernen Inquisitionsprozesses hinterlässt. 2. „Fi-lo porque qui-lo“: Ein Fall gescheiterter Rhetorik7 Einen Beweis für eine spezifische Handlung des Präsidenten als Gegenleistung für das dreistöckige Penthouse und den Vorwurf der unzulässigen Vorteilsannahme lieferte die Urteilsbegründung ebenso wenig. Dazu hätten etwa Treffen mit Vorständen der OAS oder eine besondere Ausrichtung der Wirtschaftspolitik zählen können, die Lula während seiner Amtszeit allerdings niemals unternommen hat. Die Annahme, dass ein Unternehmer generell die Gunst des amtierenden Präsidenten gewinnen möchte, reicht nicht aus, um den gesetzlichen Tatbestand der Korruption zu erfüllen. Deshalb gab es einen Versuch, das Gesetz zu umgehen, indem behauptet wurde, dass aufgrund der Amtsstellung jeder Vorteil zur Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes der passiven Korruption ausreichen würde. Diese Behauptung wurde trotz der konsolidierten Rechtslage

6   Lula hat die Anlage wahrscheinlich nur einmal besichtigt und das ohne besonderes Interesse an der Immobilie. Darüber hinaus sagte er vor Gericht aus, dass ihm die Immobilie nicht gefallen habe und dass er nicht die Absicht gehabt habe, aus persönlichen Gründen nach Guarujá Beach zu ziehen. Obwohl die Aussage recht glaubwürdig war, wurde sie nicht beachtet. Es ist auch zu vermerken, dass der vermeintlich persönliche Besitz der Wohnung tatsächlich nicht persönlich war: Denn zu keinem Zeitpunkt haben der Präsident oder die ehemalige First Lady die Wohnung mitgestaltet oder ihre Meinung zu teuren Umgestaltungsvorhaben von OAS geäußert. Das Desinteresse des Paares wurde aber in der richterlichen Bewertung ausschließlich gegen sie verwendet. 7   Übersetzungsnotiz Nr. 2: Die Aussage „Fi-lo porque qui-lo“ (Übersetzung: Ich habe es getan, weil ich es wollte) wird dem ehemaligen brasilianischen Präsidenten Janio Quadros zugeschrieben, um die Karikatur seiner selbst zu unterstreichen. Er war stets um eine ungewöhnlich formale Sprache bemüht, die er in einer oft auch grammatikalisch fehlerhaften Weise nutzte. Die korrekte Formulierung des eben genannten Beispiels wäre „Fi-lo porque o quis“. Dieselbe Art prätentiöser Sprache ist in den Urteilen brasilianischer Richter weit verbreitet und auch im Urteil des Richters im Fall Lula durchaus spürbar.

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und des bereits bestehenden Case Laws aufgestellt, die klar belegen, dass der Vorteil sich auf eine konkrete Amtspflicht beziehen muss8. Darüber hinaus ist es bemerkenswert, dass das Urteil noch eine weitere Neuheit einführte – eine unmittelbare Bezugnahme auf US-amerikanisches Recht, die nur oberflächlich entsprechendes Recht miteinander vergleicht. Wenn aber eine Analogie zulasten des Angeklagten verboten ist („nullum crimen, nulla poena sine lege stricta“), gilt Entsprechendes erst recht für solche richterlichen Schlussfolgerungen, die „contra legem“ (die gesetzlichen Tatbestände außer Acht lassend) und „in malam partem“ (gegen den Angeklagten) in Anlehnung an ausländische Quellen gebildet und ohne Kontextualisierung im Hinblick auf das brasilianische Rechtssystem verwendet werden. Hierbei merkte der Richter im Lula-Prozess nicht einmal, dass Korruption in rechtlicher Hinsicht in Brasilien und den USA recht unterschiedlich definiert wird. Er verschleierte dabei zudem, dass die miteinander verglichenen zitierten Fälle völlig voneinander abwichen9. Kurz gesagt, die simplifizierte Schlussfolgerung in der Urteilsbegründung, die im Widerspruch zum geltenden Recht und zur Position der Staatsanwaltschaft steht, rechtfertigt die Verurteilung Lulas der Sache nach wie folgt: Das bloße Bekleiden des Präsidentenamtes stelle an sich schon einen Anreiz zur Annahme von Vorteilserwartungen dar. Da es dabei keines Missbrauchs von Amtspflichten bedürfe, erfordere es auch keiner fundierten Beweise, um den Tatbestand der passiven Korruption nach brasilianischem Recht zu begründen. 3. Der Einfallsreichtum eines Schnellurteils An dieser Stelle sei einmal – einem Advocatus Diaboli gleichtuend – angenommen, dass die OAS die betreffende Wohnung tatsächlich in der Hoffnung modernisiert, dass sich die Erwartung des Paares, die Wohnung in Zukunft tatsächlich für sich nutzen zu können, auch nach dem Ausscheiden des Präsidenten aus dem Amt positiv für das Unternehmen ausgewirkt hätte. Nehmen wir des Weiteren einmal an, dass sich die Vorgänge (ungeachtet des gesetzlichen Tatbestandes, der im brasilianischen Strafgesetzbuch geregelt ist) tatsächlich als passive Korruption qualifizieren ließen. Wäre eine Verurteilung dann möglich? 8   Die Situation ist analog zu Art. 333 des brasilianischen Strafgesetzbuches zu bewerten, der die Komplementarität mit der Dienstpflicht betont. In der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes sind folgende Fälle beispielhaft: Criminal Case n. 307 / DF, 2nd Panel, Rel. Min. Criminal Case n. 470 / MG. Dem Richter sind diese Fälle natürlich nicht unbekannt, sie wurden von ihm aber zu Lasten des Angeklagten bewusst außer Acht gelassen. 9   Die Frage ist aber tatsächlich weitaus komplexer und hätte so im Urteil nie aufgebracht werden dürfen. Der angeführte Hobbs Act ist ein Bundesgesetz, das 1964 eine neue Straftat, nämlich the extortion under color of official right, in Paragraph 1951 in das US-amerikanische Strafrecht einführte. Im Gegensatz dazu steht die Bestechung, welche, in Paragraph 201 geregelt und grundsätzlich ein quid pro quo verlangt, auch wenn dies nicht erfolgreich von Beamten durchgeführt wird. Die herangezogenen Fälle US vs. DiMasi und US vs. Abbey beziehen sich dabei unter anderem auf den Vorwurf der extortion und nicht der bribery (Geldwäsche), was eine Analogiesetzung schon ausschließen müsste. Zudem wurde in den genannten Fällen im Gegensatz zum Fall Lula die prognostizierte Entgegennahme des Geldes als Gegenleistung herangezogen.

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Auch hier fällt die Antwort negativ aus. Grund dafür ist die rechtliche Natur des Vorwurfs. Für die große Mehrheit der Strafrechtsexperten stellt Korruption eine sog. einleitende Straftat dar. Anders als Erfolgsdelikte, die strafrechtlich mit dem unmittelbaren Ansetzen zum Versuch beginnen und über die Vollendung zur Beendigung führen, gibt es bei sog. einleitenden Delikten das Versuchsstadium nicht, da ein Erfolgseintritt keine Voraussetzung für eine Strafbarkeit ist. Es gibt also keinen Versuch der Korruption: Entweder ist ein Beamter gekauft oder nicht. Folglich wird die Zeitspanne zwischen dem Erbitten oder der Annahme eines unzulässigen Vorteils und dem Erhalt und der Nutzung durch die herrschende Lehre üblicherweise als exaurimento charakterisiert. Das bedeutet so viel wie „Erschöpfung“ der Straftat: Die Tat ist bereits vollendet, unabhängig davon, ob der Angeklagte den Vorteil jemals genossen hat. Es wird hierdurch klar, was mit dieser Interpretationsvariante deutlich gemacht werden soll: Selbst, wenn man die Vorgänge ungeachtet des Gesetzeswortlauts betrachtet, so ist festzustellen, dass gleichwohl allenfalls Beweise für bloße Vorbereitungshandlungen gefunden wurden, die für sich genommen unbeachtlich sind. Wenn keine der Tathandlungen erfüllt ist, kommt gem. Art. 31 des brasilianischen Strafgesetzbuches eine Bestrafung wegen Korruption nicht in Betracht. Nach diesen Klarstellungen wird deutlich, dass es für eine Verurteilung des ehemaligen Präsidenten notwendig wäre, einen neuen Korruptionstatbestandes sui generis zu schaffen. Faktisch ist es genau das, was durch das Gericht erfolgt ist: Für diesen Einzelfall wurde der Sache nach ein neuer Tatbestand der komplexen Korruption eingeführt, der bis dato kein geltendes Recht darstellte und der dem kontinentalen Rechtssystem darüber hinaus fremd ist. Als vorläufige Schlussfolgerung scheint es ausreichend, über die Korrektur der Urteilsgründe in Bezug auf die angebliche passive Korruption Folgendes zu sagen: Herr Luiz Inacio wurde für einen Vorteil verurteilt, den er niemals erhalten oder bewiesenermaßen erbeten oder angenommen hatte. Dieser Vorteil wurde mit Geld bezahlt, dessen Herkunft unklar ist und dem kein Gefallen für den Bestechenden gegenüberstand. Lato oder stricto sensu, wurde Lula wegen undefinierter Korruption verurteilt. 4. Trockenreinigung statt Waschen Mit der Zerstörung jeglicher gesetzlicher Grundlagen im Hinblick auf die Verantwortlichkeit für passive Korruption erschöpft sich der Schrecken der vernichtenden Urteilsbegründung des Richters nicht. Die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten umfasste daneben auch den Vorwurf der Geldwäsche. Aber, wie bereits oben erwähnt, hat der Präsident das Vermögen niemals erhalten. Was konnte der ehemalige Präsident also in dem Sinne „waschen“? Ist etwa gemeint, dass er dieses Vermögen in Umlauf brachte, um den kriminellen Ursprung der Wohnung zu verheimlichen? Art. 1 der Gesetzesvorlage 9.613 von 1998 legt fest, dass es zwingend notwendig ist, dass das Vermögen aus einer früheren Straftat stammt, damit es als waschbar angesehen werden kann. Der Tatbestand der

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Geldwäsche erfordert mindestens zwei Handlungen: erstens den Besitz von Gütern, die aus einer kriminellen Quelle stammen – was hier nicht der Fall war; zweitens Verfahrensweisen, die den Ursprung verschleiern und eine Verwendung ermöglichen. Das Urteil argumentiert, dass das Geld von OAS für den Umzug und die Einrichtung der Penthouse-Wohnung des ehemaligen Präsidenten aus einer Art „Bestechungsgeldpipeline“ stammt. Diese Feststellung ist aber nicht mehr als eine Vermutung, da es keinen Beweis für den illegalen Ursprung des Geldes gibt10. Die Gelder könnten aus versteckten Konten stammen, aber ebenso gut von regulären privaten oder Firmenkonten. Zu kritisieren ist auch, dass die zugelassene Anklage wegen passiver Korruption letztlich die Annahme einer Vorteilserwartung – auch im Gegenzug für nichts Bestimmtes – implizierte. Der Sache nach wurde hierdurch wiederum ein neuer Straftatbestand der „noch kommenden Geldwäsche“ geschaffen. Der Richter schloss sich der Argumentation der Staatsanwaltschaft an und verurteilte Lula wegen zwei verschiedener Straftaten, die durch dieselbe Handlung verwirklicht wurden. Und dies obwohl Art.  69 des brasilianischen Strafgesetzbuches eindeutig vorsieht, dass die Begehung mehrerer Straftaten auch durch „mehr als eine Handlung oder Unterlassung“ verwirklicht werden müssen. Selbst wenn die Sachverhaltsdarstellung der Staatsanwalt als richtig unterstellt würde, so wären dennoch nicht beide Straftatbestände erfüllt. Die Nutzung einer Wohnung, die jemand als Gegenleistung für die korrupte Ausübung einer Dienstpflicht erhalten hat, stellt keine neue strafbare Handlung dar. Vielmehr handelt es sich um eine nicht strafbare post-facto-Handlung, die noch zum Straftatbestand des passiven Korruptionstatbestandes gehört. Der Grund dafür ist einfach: Es gibt die Handlungseinheit, die die Einheit der Bewertung des Unrechtsgehaltes einschließt11. Vorliegend handelt es sich gerade nicht um eine Tatmehrheit, vielmehr muss der Sachverhalt über die Auslegung der Normen gelöst werden: Die wesentlichen Handlungen zur Verwirklichung einer Straftat (ante facto) und die Nutzung des Vorteils (post facto) werden von der zentralen Tathandlung, die einen Korruptionsvorwurf begründet, mitumfasst. Daher sind diese Handlungen als mitbestrafte Vor- und Nachtaten zu bewerten. 5. Ein Fall von täterbasiertem Strafrecht: Persönliche Merkmale als Beweis für kriminelles Verhalten Nach der Analyse der gesetzlich normierten Tatbestandsmerkmale, vor allem des objektiven Tatbestandes, ist ein weiterer Teil des Urteils aufgefällig – die Anwendbarkeit des Strafbegriffs. Autoritäre Regime haben eine Vorliebe für sog. Täterstrafrecht, das sich durch die Legitimation von Strafgewalt kennzeichnet, 10   So hat es keinerlei Nachverfolgung der für diesen Zweck bestimmten Firmengelder gegeben. 11   Dasselbe gilt bspw. für Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung, Bedrohung oder Drogenhandel (wenn Drogen gekauft werden, um diese später weiterzuverkaufen, handelt es sich ebenso wenig um zwei verschiedene Delikte).

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die auch individuelle Merkmale – physischer, sozialer, politischer, ideologischer Natur – einbezieht. Grob gesagt bezieht sich das System auf die Persönlichkeit des Täters, also auf die Frage des Vorliegens einer antisozialen Einstellung12. Auf der anderen Seite steht das sog. Tatstrafrecht, das in demokratischen Systemen üblich ist und sich dadurch auszeichnet, dass es bestimmte Handlungen unter Strafe stellt, die fremde (also individuelle oder kollektive) Rechtsgüter betreffen können. Das in der brasilianischen Verfassung kodifizierte Prinzip „nullum crimen, nulla poena sine lege“ bedeutet gleichzeitig, dass das Strafrecht ein tatbezogenes System zugrunde legt, da geschriebene Tatbestände ausdrücklich die Handlungen beschreiben, die strafbar sind. Der Kern beider Systeme spiegelt sich in der Bewertung der Tatbestandsmerkmale und der Schuld wider. Das täterbezogene Strafrecht beabsichtigt mit den Tatbestandsmerkmalen einen bestimmten Tätertyp und damit bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft zu erfassen (sog. Tätertypenlehre). Im tatbezogenen Strafrecht knüpft der Strafvorwurf an eine konkrete Tathandlung an, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft verübt werden kann. Daraus folgt, dass die Tätertypenlehre die Schuld des Täters an die Missbilligung einer bestimmten Lebensführung anknüpft (Lebensführungsschuld), während die Schuld im Tatstrafrecht an das Maß des Unrechtsgehalts der konkret verübten Tathandlung anknüpft. Die Tätertypenlehre bestraft einen Menschen also dafür, was er ist; das Tatstrafrecht bestraft einen Menschen für das, was er tatsächlich getan hat. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich autoritäre Manifestationen eines täterbasierten Strafrechts nur auf die Tatbestandsmerkmale der Straftat beziehen. Vielmehr zeigt sich der autoritäre Charakter eines Täterstrafrechts etwa auch im Zeitpunkt einer Verurteilung, da es erstens einen an der Vergangenheit des Angeklagten orientierten Strafvorwurf verstärkt, zweitens dem Richter einen besonders weiten Ermessensspielraum einräumt und drittens zu einer Verdrängung des Prinzips der Freiheit durch utilitaristische Ideen (wie Sicherheit, soziale Verteidigung, etc.) führt. 12   Strathenwerth/Kuhlen, Allgemeiner Teil, Die Straftat, 6. Aufl. 2011, 32; für eine sehr kritische Einschätzung siehe auch Roxin/Greco, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 5. Aufl. 2020, 271 ff. Das deutsche StGB weist, genau wie das brasilianische Strafrecht, deutliche Einflüsse des Täterstrafrechts auf: „§ 46 Grundsätze der Strafzumessung. (1) Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, sind zu berücksichtigen. (2) Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht: die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende; die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille; das Maß der Pflichtwidrigkeit; die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat; das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie; sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. (3) Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.“ Durch die Möglichkeit, die Vergangenheit des Täters sowie seine persönlichen und wirtschaftlichen Umstände innerhalb der Strafzumessung einzubeziehen, erlaubt auch das deutsche Strafrecht die Berücksichtigung täterbezogener Strafzwecke.

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In Brasilien blieb der Ermessensspielraum in der Strafzumessung trotz der Strafrechtsreform von 1984 gewaltig. Gemäß Art. 59 sind bei der Strafzumessung im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Strafe die Schuld, der Hintergrund, das Sozialverhalten, die Persönlichkeit des Angeklagten, die Motive, die Umstände und Folgen der Straftat sowie das Verhalten des Opfers und die Notwendigkeit der Strafe aus Genugtuungs- und Präventionsgesichtspunkten zu berücksichtigen. Diese Norm ermöglicht es nicht nur, Elemente des Täterstrafrechts aufzunehmen, sondern auch die Konsolidierung von Rechtsprechung, die die absolute richterliche Macht bei der Verurteilung fördert und es dadurch erleichtert, dass Urteile entgegen der gesetzlichen Bestimmungen gefällt werden. Das Gesetz und die Gerichte haben unbestimmte Merkmale (z.B. die Täterpersönlichkeit) und handlungsunabhängige Aspekte (bspw. Sozialverhalten, Vorstrafen und Rückfallwahrscheinlichkeit) in die strafrechtliche Beurteilung eingeführt. Legt man demokratische Maßstäbe an, so lassen sich zwei Grundsätze in der Frage der Strafe ausmachen: Einerseits muss die Bestrafung notwendig sein, denn eine unnötige Strafe kann keinen Präventionszweck haben; anderseits muss die Strafe zulänglich, aber angemessen sein, was sich aus dem Verhältnis zwischen dem verletzten Rechtsgut, der Tathandlung, der Tätermotivation und den rechtlichen Folgen ergibt. Beide Aspekte bilden gleichermaßen die Grundlage für die Bewertung der Schuld und die Obergrenze für die Strafe: Denn die Bestrafung darf das Maß der Schuld nie überschreiten. Unter den Abwägungsumständen, die in Art.  59 des brasilianischen Strafgesetzbuches vorgesehen sind, ist der zentrale Bezugspunkt die Schuld für das Fehlverhalten, die nicht gleichbedeutend mit der Unrechtmäßigkeit sein kann. Die Abwägung muss dabei stets den im Strafverfahren geltenden Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit genügen. Schuld wird in diesem Zusammenhang empirisch als Fähigkeit des Täters verstanden, angesichts der ihm bekannten und verständlichen Ge- und Verbote der Rechtsordnung zu unterscheiden, ob er eine Handlung begeht oder unterlässt. Schuld ist damit ein Kriterium, das darauf beruht, was eine Person tut oder nicht tut, wenn sie einer verbindlichen Verhaltensregel unterworfen ist. Folglich müssen die anderen ergänzenden Merkmale des Art. 59 des Strafgesetzbuches notwendigerweise mit der Tathandlung in Verbindung stehen und können Juarez Tavares zufolge nur zugunsten des Täters herangezogen werden13. Trotz der Begrenzungen von Willkür setzt sich das Täterstrafrecht immer wieder durch. Auch wenn dies für brasilianische Gerichte durchaus alltäglich ist, so ist der Lula-Fall in dieser Hinsicht beispielhaft. Von den acht Tatbestands13   Tavares, Culpabilidade e individualização da pena, em Cem anos de reprovação: uma contribuição transdisciplinar para a crise da culpabilidade, 135: In jedem Fall können subjektive Merkmale, die in der Person des Angeklagten begründet sind, nur gegen ihn geltend gemacht werden, wenn sich die Merkmale schon in der strafbaren Handlung selbst niedergeschlagen haben. Alle weiteren in Art. 59 aufgeführten Merkmale sollten nur zugunsten des Angeklagten angewendet werden. Moralische oder andere Erwägungen im Zusammenhang mit dem Fehlverhalten des Angeklagten sind dem individuellen Strafrecht fremd und sollten daher bei der Beurteilung außer Acht gelassen werden.

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merkmalen des Artikels 59 des brasilianischen Strafgesetzbuches wurden vier in diesem Fall gar nicht berücksichtigt (Vorstrafen, Sozialverhalten, Motive und Opferverhalten). Die Tatumstände, Tatfolgen, die Täterpersönlichkeit und die Schuld wurden zulasten Lulas ausgelegt. Alle Merkmale wurden damit aber unzutreffend angewendet. So wurden die Umstände negativ ausgelegt, weil die Praxis der Korruptionskriminalität die Vergabe der erheblichen Summe von 16 Millionen Reais an Vertreter der Arbeiterpartei mit einschloss. Die Straftaten waren Teil eines umfassenderen kriminellen Systems, in dem Bestechung alltäglich geworden war. In gleicher Weise wurden die Tatfolgen zulasten des Täters ausgelegt, weil die Kosten für die Bestechung von Petrobras getragen wurden. Die Punkte sollten im Verhältnis zwischen der Schuld und der tatsächlich verübten Tathandlung betrachtet werden. Es geht darum, die Schwere der Schuld anhand der betroffenen Rechtsgüter und der Konsequenzen der Tathandlung zu bemessen und die Schwere der Verletzung der in den Schutzbereich fallenden Rechtsgüter zu beurteilen. Eine hohe Summe kann zwar im Rahmen der Strafzumessung bei einem Korruptionsdelikt Beachtung finden; allerdings gilt dies nur solange, wie sich diese Bewertung auf das Verhältnis von Schuld und konkret vollendeter Tathandlung bezieht. Problematisch ist, dass in der Urteilsbegründung zweimal auf diese besonders hohe Summe Bezug genommen wird, einmal im Rahmen der Tatumstände und einmal im Rahmen der Tatfolgen. Zu kritisieren ist zudem, dass der Betrag, auf den sich die Begründung stützt, nicht demjenigen aus der Anklageschrift entspricht. Darüber hinaus liegen die abzuschätzenden Folgen jenseits dessen, was der Angeklagte wissen kann. Dies ist unzulässig und begründet eine Art der verschuldensunabhängigen Haftung, die mit dem brasilianischen Recht nicht vereinbar ist. Richtig einschätzbar sind natürlich nur die Folgen, die mit dem Fehlverhalten des Beklagten zusammenhängen und diesem bewusst sind, sowie bereits vorhersehbare verschuldete Auswirkungen der Tat14. Nicht einbezogen werden dürfen daher die dem Beklagten unbekannten, nicht zum Schutzzweck der Norm gehörenden externen Folgen des Fehlverhaltens, wie z.B. die psychischen Schäden der Opfer von Raubüberfällen, der Suizid eines durch Veruntreuung Konkurs gegangenen Unternehmers oder auch die Gesundheitsschäden oder der Tod von Drogenkonsumenten15. Zu kritisieren ist auch, dass die besondere Schwere der Schuld in den Urteilsgründen festgestellt wurde16. Die Schuld wird keineswegs durch eine soziale oder   Frisch, ZStW 99 (1987), 754.   Frisch verlangt zu Recht, dass die Folgen in den Schutzbereich der Norm fallen. Siehe auch Teixeira, Teoria da aplicação da pena. Fundamentos de uma determinação judicial da pena proporcional ao fato, 2015. 16   Das Gericht argumentierte der Sache nach wie folgt: Der Verurteilte hat wegen seiner Stellung als Präsident des Landes, und somit als Person mit besonderer Macht, einen unzulässigen Vorteil erhalten. Die Verantwortung eines Präsidenten ist enorm, seine Schuld ist entsprechend groß, wenn er im Amt Straftaten begeht. Um nicht zu vergessen, dass die Straftat Teil eines größeren Zusammenhangs ist, eines systematischen Korruptionsplans bei Petrobras und einer fadenscheinigen Beziehung zwischen ihm und der OAS-Gruppe. Es ist deshalb eine besondere Schwere der Schuld festzustellen, die in die Beurteilung miteinbezogen werden muss. Diese 14 15

Quid pro quo ohne quid!? Über den in jeder Hinsicht bemerkenswerten „Fall Lula“

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politische Einstellung größer. Die gerichtliche Begründung vermischt die Bewertung des Fehlverhaltens (Tatbestand) und die Bewertung der Notwendigkeit und Zulänglichkeit (Strafzumessung). In der Tat könnte man nur die Bewertung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Schuld und Tathandlung dahingehend bewerten, dass es auf das Maß der individuellen Verantwortlichkeit des Täters ankommt. Denn je größer die individuelle Verantwortlichkeit gemessen an den Lebensumständen und der individuellen Verantwortlichkeit im Hinblick auf die Rechtsordnung ist, desto größer ist auch der Schuldvorwurf. Daraus folgt, dass die konkreten Lebensumstände (wie die persönlichen oder familiären Beziehungen, Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit, Reichtum oder Armut, Bildung oder Unbildung, Machtstellungen oder Unterwerfung) direkten Einfluss auf die individuelle Verantwortlichkeit entfalten. Eine Person, die ihr Leben eigenverantwortlich bewältigen kann, ist folglich in der Regel schuldfähig, ohne dass es normativer Korrekturen bedürfte. Äußere Faktoren, die die individuelle Verantwortlichkeit beeinträchtigen bzw. beeinflussen (wie bspw. individuelle oder soziale Zwänge, ein Abhängigkeitsverhältnis, oder der Mangel an institutionellen Möglichkeiten, die einen rechtlich angemessenen Ausgang ermöglichen würden), können gerade nicht aus der Tathandlung abgeleitet werden17. Hieraus folgt, dass eine Machtposition, ob sozial oder politisch, an sich kein Grund für eine größere Schuld ist. Diese Art der juristischen Argumentation verstößt schlicht gegen das Schuldprinzip, da sie täterstrafrechtlich argumentiert. Schließlich verwies der Richter auf eine besondere Missbilligung als Strafgrund, was die Zugrundelegung der unzulässigen absoluten oder gemischten Straftheorien deutlich macht, bei denen Vergeltung im Mittelpunkt steht. Die in Art. 59 des brasilianischen Strafgesetzbuches geregelte Missbilligung bedeutet jedoch nur, dass die Strafe im Verhältnis zu dem Schaden oder der Gefährdung eines durch die Norm geschützten Rechtsgutes stehen muss. Vergeltung ist dagegen kein zulässiger Strafgrund, da eine andere Annahme gegen die Verfassung verstoßen würde. Vergeltung ist danach in einem demokratischen Rechtsstaat eine rein repressive Maßnahme, die zu einer völligen Nutzlosigkeit der Strafe führt18. Prävention ist deshalb der einzig denkbare Strafgrund, der den Grundsätzen der Notwendigkeit und Zulänglichkeit der Strafe genügt. 6. Mögliche Schlussfolgerungen Bei der Analyse der Urteilsbegründung lassen sich einige rechtliche Probleme von großer Relevanz ausmachen, bei denen es offensichtlich ist, dass sie einer fundierten theoretischen Grundlage entbehren. Es zeigt sich auch, dass die Urteilsbegründung eine Umgehung der gesetzlichen Hürden mittels illegaler neu Feststellung ließe sich auch auf die Persönlichkeit übertragen. Unter Berücksichtigung der drei erschwerenden Merkmale, die besondere Missbilligung verdienen, lege ich eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen passiver Korruption fest. 17   Tavares (Fn. 13), 144. 18   Tavares (Fn. 13), 123.

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eingesetzter Straftatbestände bezweckt. Ein solcher Zweck könnte lobenswert sein, wenn die entsprechende Vorgehensweise nicht dazu führen würde, dass grundlegende Rechte wie das Recht auf Freiheit, auf ein faires und rechtsstaatliches Verfahren, auf Kreuzverhöre und Beweiserbringung, auf Verteidigung, auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter usw. geopfert würden. Durch die Rechtsstaatlichkeit soll gewährleistet sein, dass allgemeine und individuelle utilitaristische Strafbestrebungen im Zaum gehalten werden. Der hier beschriebene Fall macht indes deutlich, dass dies nicht immer gelingt. Für den Richter war die Verurteilung der Beginn einer neuen Karriere: Die führende Rolle in dem Fall und der durch das Verfahren erlangte Ruhm haben ihm den Weg in die Politik geebnet. Der Ruhm scheint ihm nicht ganz unwillkommen zu sein, schließlich betätigte er sich offen aktivistisch gegen Korruption. So nahm er die Position eines informellen rechtlichen Beraters für Kongressabgeordnete ein und übernahm eine führende Rolle beim Vorantreiben einer Gesetzesinitiative. Er verteidigte seine Arbeit als Richter häufig in der Öffentlichkeit und rief Befürworter der sogenannten „Operation Autowäsche“19 zu Protesten auf. All diese Aktivitäten sind für einen Richter aufgrund der Rolle seines Amtes entweder unzulässig oder zumindest nicht empfehlenswert. Aus der hier interessierenden rechtlichen Perspektive macht die Verurteilung Lulas deutlich, dass die Strafrechtsdoktrin nicht immer in der Lage ist, durch die Kontrolle der Mittel zur Anklageerhebung die Ziele zu unterbinden, die bestimmte offizielle Stellen verfolgen. In einer nur gelegentlich demokratischen Gesellschaft mit Gerichtsentscheidungen „sui generis“ ist ein Strafrecht, das auf das Individuum und nicht auf sein Handeln abzielt, leider die Regel.

19   Vgl. dazu die Beiträge von Amaral/Boer Martins und Lobo da Costa in diesem Sammelband.

Die Bedeutung von ­Integritätsprogrammen („­Programas de integridade“) für das ­Korruptionsstrafrecht in Brasilien João Alves Teixeira Neto

I. Problemdarstellung In den letzten Jahren gab es diverse Änderungen in den Strategien zur Korruptionsbekämpfung in Brasilien. Insbesondere das Antikorruptionsgesetz (Gesetz Nr. 12.846/2013) und seine Konkretisierung durch das Präsidialdekret Nr. 8.430/2015, das wiederum durch mehrere Verordnungen konkretisiert wurde1, heben dabei die Bedeutung unternehmensbezogener sogenannter Integritätsprogramme (Programas de integridade) hervor. Mit dem vorliegenden Beitrag wird nicht das Ziel verfolgt, die Diskussion über spezifische Probleme der strafrechtlichen Compliance, wie etwa die Garantenstellung des Compliance-Officers oder interne Ermittlungen, zu vertiefen2. Auch für die Erörterung grundlegender Fragen des Korruptionsstrafrechts, wie der Definition der Korruption und der Festlegung der durch Korruptionstatbestände geschützten Rechtsgüter, ist hier kein Platz. Vielmehr ist der Beitrag ein Versuch, ein Phänomen des brasilianischen Strafrechtssystems aufzuzeigen, nämlich das Verhältnis zwischen dem Korruptionsstrafrecht und der Figur der Integritätsprogramme, die durch das Antikorruptionsgesetz – einem Gesetz, das keine Straftatbestände enthält – eingeführt wurden. Nach der Bedeutung von Integritätsprogrammen für das Korruptionsstrafrecht in Brasilien zu fragen, setzt dabei jedoch voraus, dass das Antikorruptionsgesetz als verkapptes Strafrecht verstanden werden kann. So wird es jeden-

1   Nach dem Beispiel der Verordnungen Nr.  909/2015; 910/2015; 1.381/2017; 1.970/2018, die alle von der Controladoria Geral da União (abgekürzt und im Folgenden: „CGU“ [Organ der brasilianischen Regierung, das gegen fiskusschädigende Korruption vorgeht]), erlassen wurden. Das CGU ist das Organ, das diese Kompetenz durch Art.  52 des Präsidialdekrets Nr.  8.430/2015 erhalten hat: „Es obliegt dem Staatsminister, Leiter der Controladoria Geral da União, ergänzende Richtlinien und Verfahren für die Ausführung dieses Präsidialdekrets zu erlassen“. 2   Der Beitrag wird sich aber – wenn knapp – zwangsläufig auch mit diesen Themen befassen müssen.

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falls von einem Teil der brasilianischen Lehre gesehen3. Um diese Annahme zu untermauern, sind notwendigerweise zunächst drei für diese Arbeit zentrale Begriffe zu erörtern. Es handelt sich um die Begriffe „Beamter“, „Korruption“ und „Integritätsprogramme“. Im Anschluss daran wird das brasilianische Korruptionsstrafrecht überblicksartig dargestellt. Danach wird eine Analyse einiger Kernaspekte des Antikorruptionsgesetzes unter Berücksichtigung der in ihm vorgesehenen Integritätsprogramme durchgeführt. Schließlich wird die Bedeutung von Integritätsprogrammen für das Korruptionsstrafrecht in Brasilien aus zwei Perspektiven herausgearbeitet, einer Ex-ante-Perspektive (präventiv) und einer Ex-post-Perspektive (repressiv). Dieser Abschnitt ist vor allem deskriptiver Natur, er ist aber aus zwei Gründen notwendig: erstens zur Beleuchtung eines verhältnismäßig neuen Phänomens im brasilianischen Strafrechtssystem und zweitens zur Vermittlung der Grundlagen, die für eine künftige theoretische Auseinandersetzung mit der Thematik erforderlich sind.

II. Begriffserklärungen Drei Begriffe, die für die folgende Analyse grundlegend sein werden, bedürfen im Voraus einer Erläuterung: „Beamter“, „Korruption“ und „Integritätsprogramm“. Zunächst muss klargestellt werden, dass der in der brasilianischen Strafrechtsordnung verwendete Begriff „Beamter“ ein weitgefasster ist4, der dem Begriff des Amtsträgers entspricht5. Art. 327 des brasilianischen Strafgesetzbuches definiert Beamte als Personen, die (auch wenn nur vorübergehend oder ohne Vergütung) ein Amt, eine Beschäftigung oder einen Dienst öffentlicher Art ausüben. Diese Definition wird hier auch im Folgenden zugrunde gelegt. In dieser Arbeit wird kein Raum für eine Diskussion der Korruptionsdefinition sein6. Grundlegende Eingrenzungen müssen dennoch vorgenommen werden. Ausgangspunkt ist eine von Transparency International (TI) verwendete Definition: Korruption bildet danach den Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil7. In Erweiterung dieser Definition werden vorliegend diejenigen Verhaltensweisen als Korruption angesehen, die nach 3   Veríssimo, Compliance: incentivo à adoção de medidas anticorrupção, 2017, 186. Dieses Gesetz hat Konsequenzen für das Strafrecht (Silveira/Saad-Diniz, Compliance, direito penal e lei anticorrupção, 2015, 303 u. 304). 4   Bitencourt, Código penal comentado, 7. Aufl. 2012, 2199. 5   Greco Filho, O combate à corrupção e comentários à lei de responsabilidade de pessoas jurídicas, 2015, 121. 6   S. hierzu Zimmermann, Das Unrecht der Korruption, Eine strafrechtliche Theorie, 2018, 80 ff.; Greco, GA 2016, 249 (249 ff.); Androulakis, Die Globalisierung der Korruptionsbekämpfung, 2007, 32 ff.; Greco/Teixeira, Aproximações a uma teoria da corrupção, in: Leite/Teixeira (Hrsg.), Crime e Política, 2017, 25 ff. 7   TI, Anti-Corruption Plain Language Guide, 2009, 14; Wolf/Fütterer, Politikwissenschaftliche Korruptionsforschung, in: Graeff/Rabl (Hrsg.), Was ist Korruption? Begriffe, Grund­ lagen und Perspektiven gesellschaftswissenschaftlicher Korruptionsforschung, 2.  Aufl. 2019, 103 (109). Die Kritik an dieser Definition ist nicht unbekannt (S. Zimmermann [Fn.  6], 93). Dieser Artikel ist jedoch nicht der geeignete Ort, um sie zu widerlegen.

Die Bedeutung von Integritätsprogrammen für das K ­ orruptionsstrafrecht in Brasilien

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den brasilianischen Strafgesetzen tatbestandsmäßig sind und die die Erlangung eines (ungebührlichen) Vorteils in einem Kontext des Machtmissbrauchs – ob zum gegenseitigen Nutzen oder nicht – in den einschlägigen Beziehungen zum Gegenstand haben. Dies bezieht sich sowohl auf Handlungen, die zwischen Privatpersonen und Amtsträgern stattfinden, als auch auf Handlungen zwischen Amtsträgern und Handlungen zwischen Privatpersonen8. Zur Erörterung des Begriffs „Integritätsprogramme“ sind zwei sich ergänzende Definitionen hilfreich – eine aus dem Präsidialdekret Nr. 8.430/2015 und eine aus einem von der Controladoria Geral da União (CGU)9 veröffentlichten Leitfaden: 1. Das Präsidialdekret Nr. 8.430/2015 Art. 41 des Dekrets Nr. 8.430/2015 definiert Integritätsprogramme als die Gesamtheit der internen Verfahrensabläufe und Mechanismen der Integrität, der Prüfung und des Anreizes zur Anzeige von Unregelmäßigkeiten, verbunden mit der wirksamen Anwendung von Ethik- und Verhaltenskodizes, Richtlinien und Grundsätzen mit dem Ziel, Abweichungen, Betrug, Unregelmäßigkeiten und rechtswidrige Handlungen, die gegen die nationale oder ausländische öffentliche Verwaltung ausgeübt werden, aufzudecken und zu beseitigen. 2. Der Leitfaden der CGU Die CGU hat, neben den erlassenen Verordnungen zur Konkretisierung des Präsidialdekrets Nr.  8.430/2015 auch einen Leitfaden mit dem Titel „Integritätsprogramm: Richtlinien für Privatunternehmen“ („Programa de integridade: diretrizes para empresas privadas“) veröffentlicht. Eines der Ziele dieses Leitfadens besteht darin, den Begriff des Integritätsprogramms zu verdeutlichen10. Der Leitfaden erklärt diesen Begriff in deutscher Übersetzung wie folgt: „Das Integritätsprogramm ist ein spezifisch zur Prävention, Aufdeckung und Berichtigung der im Gesetz Nr. 12.846/2013 vorgesehenen schädigenden Handlungen bestimmtes Compliance-Programm, das sich neben möglichen Bestechungs-

8   Es muss betont werden, dass das brasilianische Strafrechtssystem keinen Tatbestand der Korruption im privaten Sektor kennt, wie er im deutschen Strafrechtssystem vorgesehen ist (§  299 deutsches StGB). Straftatbestände mit Korruptionshandlungen zwischen Privatpersonen sind im brasilianischen Nebenstrafrecht dennoch zu finden. Zu nennen sind die Wahlkorruption (Art. 299 des Wahlgesetzbuches) und die Sportkorruption (Art. 41-C und 41-D des „Fanstatuts“). 9   S. hierzu die Erläuterung in Fn. 1. 10   Dieser Leitfaden hat auch das Ziel, „Maßstäbe vorzugeben, die den Unternehmen helfen können, Richtlinien und Instrumente zu entwickeln oder zu verbessern, die auf die Prävention, Aufdeckung und Behebung von Handlungen abzielen, die der öffentlichen Verwaltung schaden, wie z.B. Bestechung von nationalen oder ausländischen Amtsträgern, Betrug bei Ausschreibungsverfahren oder Behinderung der Ermittlungs- oder Überwachungstätigkeiten von Behörden, Einrichtungen oder Bediensteten“ CGU, Programas de Integridade, Diretrizes para empresas privadas, 2015, 5.

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konstellationen auch auf den Betrug bei Ausschreibungsverfahren und bei der Erfüllung öffentlich-rechtlicher Verträge fokussiert“11.

III. Die strafrechtliche Ordnung gegen Korruption in Brasilien: ein Überblick Die Antikorruptionsregelungen im brasilianischen Strafrecht lassen sich in zwei Dimensionen unterteilen: eine kernstrafrechtliche Dimension, die die im Strafgesetzbuch aufgeführten Straftatbestände enthält, und eine nebenstrafrechtliche Dimension, die sonstige Straftatbestände berücksichtigt, z.B. das Wahlgesetz, das Gesetz über das Steuerstrafrecht, das Gesetz über öffentliche Ausschreibungen und das Gesetz zum Schutz der Anhänger von Sportvereinen (Estatuto do torcedor). 1. Das Kernstrafrecht Innerhalb des brasilianischen Kernstrafrechts lässt sich eine Unterteilung in zwei Untergruppen erkennen: nationale und internationale Korruption. Im Bereich der nationalen Korruption sieht das brasilianische Strafgesetzbuch vier Arten von Delikten vor: Erpressung (Art. 316)12, passive Korruption (Art. 317)13, Einflussnahme (Art. 332)14 und aktive Korruption (Art. 333)15. Die ersten beiden stellen Straftaten dar, die von Amtsträgern gegen die öffentliche Verwaltung begangen werden, während die letzten beiden Straftaten bilden, die von Privatpersonen gegen die öffentliche Verwaltung verübt werden16. Im Bereich der internationalen Korruption kennt das brasilianische Strafgesetzbuch zwei Tatbestände: Aktive Korruption im internationalen Handelsverkehr (Art. 337-B)17 und Einflussnahme auf den Handel im internationalen Handelsverkehr (Art. 337-C)18. Es handelt sich um Delikte, die von Privatpersonen gegen die ausländische öffentliche Verwaltung begangen werden19. 2. Das Nebenstrafrecht Innerhalb der nebenstrafrechtlichen Dimension lässt sich eine Unterteilung in vier Untergruppen erkennen: Wahlkorruption, Steuerkorruption, Ausschreibungskorruption und Sportkorruption. Im Bereich der Wahlkorruption sieht   CGU (Fn. 10), 6.   S. Anhang.   S. Anhang. 14   S. Anhang. 15   S. Anhang. 16   Delmanto et al., Código Penal Comentado, 9. Aufl. 2016, 941, 947, 989 u. 991. 17   S. Anhang. 18   S. Anhang. 19   Delmanto et al. (Fn. 16), 1027 u. 1029. 11 12 13

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das brasilianische Wahlgesetz den Tatbestand des Stimmenkaufs vor (Art. 299)20. Es handelt sich um ein Delikt, das sowohl von Privatpersonen als auch von Amtsträgern begangen werden kann21. Hinsichtlich der Steuerkorruption sieht das Gesetz Nr.  8.137/1990 einen Tatbestand der Korruption bei der Steuererhebung vor (Art. 3, II)22. Dies ist ein Delikt, das von einem Amtsträger gegen die Steuer(rechts)ordnung verwirklicht wird23. Im Bereich der Ausschreibungskorruption sieht das Gesetz Nr.  8.666/1993 den Tatbestand der Verdrängung anderer Bieter vor (Art.  95)24. Hierbei geht es um ein Delikt, das von einer Privatperson oder einem Amtsträger gegen die öffentliche Verwaltung begangen werden kann25. Im Hinblick auf den Sektor der Sportkorruption sieht das Gesetz Nr. 10.671/2003 zwei Arten von Straftatbeständen für die Veränderung oder Verfälschung von Ergebnissen im Sport vor: passive Korruption im Sport (Art.  41-C)26 und aktive Korruption im Sport (Art.  41-D)27. Dies sind Delikte, die sowohl von Privatpersonen als auch von Amtsträgern begangen werden können. Im letzteren Fall wird die Strafe um ein Drittel bis um die Hälfte erhöht (Art. 41, einzelner Abs.).

IV. Das Anti-Korruptionsgesetz, seine Konkretisierungen und Integritätsprogramme 1. Das Antikorruptionsgesetz (Gesetz Nr. 12.846/2013) Am 1. August 2013 ist in Brasilien das Antikorruptionsgesetz in Kraft getreten, es wird im Volksmund „Sauberes-Unternehmen-Gesetz“ („Lei da empresa limpa“) genannt. Obwohl es nicht dem Strafrecht, sondern dem Ordnungswidrigkeitenrecht zugeordnet wird, ist es für das Korruptionsstrafrecht von großer Bedeutung, da es zwangsläufig auf die Verhinderung solcher Korruptionshandlungen abzielt28, die die Straftatbestände anderer Gesetze erfüllen. Während die verschiedenen im vorigen Abschnitt erwähnten Rechtsakte die strafrechtliche Verantwortlichkeit natürlicher Personen für Korruptionshandlungen vorsehen, regelt das Antikorruptionsgesetz die ordnungswidrigkeitenrechtliche Verantwortlichkeit und zivilrechtliche Haftung juristischer Personen einschließlich ausländischer Unternehmen, die im brasilianischen Hoheitsgebiet einen Haupt  S. Anhang.   Lucon/Vigliar, Código eleitoral interpretado, 3. Aufl. 2013, 373. 22   S. Anhang. 23   Bitencourt,Tratado de direito penal econômico, 2016, 792. 24   S. Anhang. 25   Bitencourt, Direito penal das licitações, 2012, 295. 26   S. Anhang. 27   S. Anhang. 28   Ziel des Antikorruptionsgesetzes ist es, Korruptionsakte zu verhindern, indem es erhebliche Geldbußen vorsieht, die bis zu 20 Prozent des Bruttojahresumsatzes des Unternehmens betragen können, wobei das letzte Jahr vor der Einleitung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens als Referenz dient (Art. 6, I). 20 21

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sitz, eine Niederlassung oder eine Vertretung haben (Art. 1, einzelner Abs.)29. Das Antikorruptionsgesetz enthält eine – wenn auch weit gefasste – Definition des Begriffs der Korruptionshandlungen für die Zwecke seiner Anwendung. Art.  5 definiert Handlungen, die der in- oder ausländischen öffentlichen Verwaltung schaden. In deutscher Übersetzung lautet die Definition wie folgt: „[…] einem öffentlichen Bediensteten oder einem mit ihm verbundenen Dritten direkt oder indirekt einen ungerechtfertigten Vorteil versprechen, anbieten oder gewähren“ (Art. 5, I). Art. 5 enthält weiterhin Tatbestände der Ausschreibungskorruption, wie zum Beispiel die erfolgreiche oder versuchte Beseitigung eines Bieters durch die Vornahme eines Betrugs oder durch das Anbieten eines Vorteils irgendwelcher Art (Art. 5, IV, c). Bei der Gestaltung eines Systems zur Korruptionsprävention unternahm der brasilianische Gesetzgeber im Antikorruptionsgesetz den Versuch, Compliance-Maßnahmen mehr Bedeutung zu verleihen. Art.  7 des genannten Gesetzes sieht vor, dass bei der Anwendung von Sanktionen das Vorhandensein interner Verfahrensabläufe und Mechanismen der Integrität, der Überprüfungsmaßnahmen und des Anreizes zur Anzeige von Unregelmäßigkeiten sowie die wirksame Anwendung von Ethik- und Verhaltenskodizes innerhalb der juristischen Person zu berücksichtigen sind (Art. 7, VIII). Der oben erwähnte Versuch, den Compliance-Maßnahmen mehr Bedeutung zu verleihen, ist mit der Konkretisierung des Antikorruptionsgesetzes durch das Präsidialdekret im Jahr 2015 und mit den darauffolgenden bis 2018 erlassenen Verordnungen noch mehr zum Ausdruck gekommen30. 2. Die Konkretisierung des Antikorruptionsgesetzes und die Integritätsprogramme Das Antikorruptionsgesetz wurde durch das Präsidialdekret Nr.  8.430/2015 konkretisiert, das wiederum durch die später von der CGU erlassenen Verordnungen31 konkretisiert wurde. Die Integritätsprogramme werden durch das Präsidialdekret Nr.  8.430/2015 besonders hervorgehoben. Es nennt die unterschiedlichen Aspekte solcher Programme: Als Verteidigungsinstrument gegen Vorwürfe gegen die juristische Person im Ordnungswidrigkeitenverfahren (Art. 5), als Voraussetzung für die Minderung der Geldbuße (Art. 18) und als zwingende Bedingung der Kronzeugenstellung (Art.  37). Das Präsidialdekret enthält weiterhin die Kriterien, die für die Bewertung von Integritätsprogrammen anzuwenden sind (Art. 42). Art. 5, § 4 sieht die Möglichkeit vor, dass die juristische Person zu ihrer Verteidigung Informationen und Dokumente über die Existenz und die Funktions29   Die Haftung der juristischen Person beschränkt sich auf den öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Bereich in Bezug auf Korruptionsdelikte, da die strafrechtliche Verantwortung der juristischen Person im brasilianischen Strafrechtssystem auf Umweltdelikte beschränkt ist (Gesetz Nr. 9605/1998). 30   S. Fn. 1. 31   Nr. 909/2015; Nr. 910/2015; Nr. 1.381/2017 und Nr. 1.970/2018.

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tüchtigkeit eines Integritätsprogramms vorlegen kann. Für die Zumessung der Sanktionen muss das zuständige Verfolgungsorgan (comissão processante) das Integritätsprogramm auf der Grundlage der in Abschnitt IV des Präsidialdekrets angegebenen Kriterien prüfen. Art.  18, caput, V, sieht vor, dass im Falle des Nachweises der Existenz und Anwendung eines Integritätsprogramms in Übereinstimmung mit den im Präsidialdekret festgelegten Kriterien die Geldbuße um bis zu vier Prozent des Betrags reduziert wird, der den Bruttoeinnahmen der juristischen Person aus dem letzten Geschäftsjahr vor der Eröffnung des Ordnungswidrigkeitenverfahrens (PAR) entspricht. Art. 37, IV, der sich auf die Kronzeugenregelung bezieht, normiert die Verpflichtung der juristischen Person zur Implementierung, Anwendung oder Verbesserung eines Integritätsprogramms nach den in Abschnitt IV festgelegten Kriterien als Voraussetzung für den Abschluss einer solchen Vereinbarung. Art.  42 enthält die Kriterien, anhand derer Integritätsprogramme bewertet werden. Das erste von Art.  42 vorgesehene Kriterium muss als Ausfluss des Prinzips verstanden werden, welches in der Lehre als „Tone of the top“ oder „Tone at the top“ bezeichnet wird32. Es ist das Engagement der Geschäftsführung, das auch die Mitwirkung der anderen Organe der juristischen Person einschließen soll. Dieses Engagement muss durch sichtbare und eindeutige Unterstützung des Programms (Art. 42, I) zum Ausdruck kommen33. Das zweite der vorgesehenen Kriterien muss im Rahmen des Instruments der Verhaltenskodizes verstanden werden. Dabei handelt es sich um bestimmte Maßnahmen wie Verhaltensstandards, Ethikkodizes, Integritätsrichtlinien und -verfahren. Diese Verhaltensmaximen sind gemäß der Norm auf alle Mitarbeiter und Direktoren anwendbar, unabhängig von der ausgeübten Position oder Funktion; die Normen würden – wenn nötig – auch auf Dritte wie Lieferanten, Dienstleister, Vermittler und Partner ausgedehnt (Art. 42, II und III). Im Anschluss finden sich Kriterien bezüglich der Zeitabstände der Fortbildung über das Integritätsprogramm und der Risikoanalyse zur Durchführung der notwendigen Anpassungen des Integritätsprogramms (Art. 42, IV und V). Gemäß Art 42 besteht weiterhin die Notwendigkeit, Buchführungsunterlagen zu erstellen, die die Transaktionen der juristischen Person vollständig und genau widerspiegeln. Dies gilt zusätzlich zur Aufrechterhaltung interner Kontrollen, die die zügige Erstellung und Zuverlässigkeit von Berichten und Jahresabschlüssen der juristischen Person gewährleisten (Art.  42, VI und VII). Ein weiteres Kriterium von großer Bedeutung ist die Notwendigkeit spezifischer Verfahren, die zur Verhinderung von Betrug und illegalen Aktivitäten im Rahmen von Aus32  S. Hertel, Effective Internal Control and Corporate Compliance, A Law and Economics Impact Analysis of the Mysteries of a German Aktiengesellschaft Listed on the NYSE, 2019, 151. 33  Die Entscheidung des brasilianischen Gesetzgebers, das „Engagement der Geschäftsführung“ vor die anderen Kriterien zu stellen, steht im Einklang mit den Ergebnissen einer deutschen empirischen Untersuchung, die bei der Analyse der wesentlichen Elemente der in Deutschland verabschiedeten Compliance-Programme gezeigt hat, dass der „Tone of the top“ an der Spitze des Effektivitäts-Rankings steht. (Sieber/Engelhart, Compliance Programs for the Prevention of Economic Crimes, An Empirical Survey of German Companies, 2014, 125).

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schreibungsverfahren, bei der Erfüllung von öffentlich-rechtlichen Verträgen oder bei jeglicher Interaktion mit dem öffentlichen Sektor – auch wenn sie durch Dritte geschieht – eingesetzt werden können. Dies betrifft etwa die Zahlung von Steuern, die Duldung von Kontrollen oder die Einholung von Genehmigungen, Lizenzen, Berechtigungen und Nachweisen (Art. 42, VIII). In Bezug auf den Compliance Officer müssen sowohl Unabhängigkeit gegeben sein als auch Autorität des internen Organs, das für die Umsetzung des Integritätsprogramms und die Überwachung seiner Einhaltung verantwortlich ist (Art. 42, IX). Hinsichtlich des sogenannten Whistleblowings und der Unterbindung irregulären Verhaltens ist die Notwendigkeit von Whistleblowing-Kanälen vorgesehen, die offen und umfassend zugänglich für Mitarbeiter und Dritte sein sollen. Weiterhin müssen Mechanismen zum Schutz gutgläubiger Informanten bestehen, und zwar zusätzlich zur Disziplinierung im Fall der Verletzung des Integritätsprogramms. Überdies muss es Verfahren geben, die das zügige Unterbinden des unregelmäßigen Verhaltens oder der Verstöße und die rechtzeitige Behebung der entstandenen Schäden gewährleisten (Art. 42, X, XI, XII). Was die Due Diligence betrifft, so ist die Notwendigkeit angemessener Sorgfalt bei der Einstellung und gegebenenfalls der Überwachung von Dritten (wie etwa Lieferanten, Dienstleistungsanbietern, Zwischenhändlern und Partnern) vorgesehen. Außerdem ist während der Prozesse von Fusionen, Übernahmen und Unternehmensumstrukturierungen zu prüfen, ob irreguläre oder rechtswidrige Handlungen begangen wurden und ob in den beteiligten Rechtssubjekten Schwachstellen bestehen (Art. 42, XIII, XIV). Hinsichtlich der Evaluation ist die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Evaluation des Integritätsprogramms mit dem Ziel seiner Verbesserung bei der Prävention, Aufdeckung und Bekämpfung der in Art.  5 des Antikorruptionsgesetzes vorgesehenen schädigenden Handlungen (Art. 42, XV) vorgesehen. Als letztes Kriterium ist die Notwendigkeit der Transparenz der juristischen Person in Bezug auf Spenden an Kandidaten und politische Parteien vorgesehen (Art. 42, XVI).34

V. Zur Erörterung zweier Perspektiven der Bedeutung von Integritätsprogrammen für das Korruptionsstrafrecht in Brasilien Es lassen sich zwei Perspektiven der Bedeutung von Integritätsprogrammen für das Korruptionsstrafrecht in Brasilien feststellen: Die erste (die Ex-ante-Perspektive) bezieht sich auf den zeitlichen Moment vor der Begehung der Straftat, den wir als präventive Dimension verstehen können; die zweite Perspektive (die Ex-post-Perspektive) bezieht sich auf den Moment nach der Verwirklichung der Straftat, den wir als repressive Dimension verstehen können.

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  Vgl. in diesem Kontext auch den Beitrag von Lobo da Costa in diesem Sammelband.

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1. Die Ex-ante-Perspektive (präventive Dimension) Die Ex-ante-Perspektive zeigt sich in zwei grundlegenden Aspekten: der Verhinderung von Korruptionshandlungen und der Eingrenzung der Garantenstellung des „Integritätsprogrammbeauftragten“ (Compliance Officer). Die Erkenntnis, dass Compliance-Programme eine kriminalpräventive Funktion haben35, ist keineswegs neu. Wichtig ist aber die Feststellung, dass Integritätsprogramme – insbesondere im Bereich der Korruptionsbekämpfung – Compliance-Programme sind und daher die Funktion haben, das Auftreten solcher Korruptionshandlungen zu verhindern, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklichen würden36. Der Aspekt der Prävention von Korruptionsdelikten erfordert eine Erörterung auf der Grundlage folgender Frage: Sind die Integritätsprogramme, die im Antikorruptionsgesetz und dem konkretisierenden Präsidialdekret vorgesehen sind, tatsächlich geeignet, um die Prävention jeglicher in der brasilianischen Strafrechtsordnung vorgesehener Delikte zu fördern? Es erscheint, als wären die Integritätsprogramme, die im Anti-Korruptionsgesetz und dem konkretisierenden Präsidialdekret vorgesehen sind, in ihrer Eignung für die Prävention bestimmter Deliktstypen begrenzt. Man denke nur an das Delikt des Stimmenkaufs (Art. 299 des Wahlgesetzes), bei dem die Möglichkeit besteht, dass – wie im Großteil der Fälle – die Tathandlung weit entfernt von jeglicher Geschäftsorganisation stattfindet. Man könnte sich etwa einen nominierten Wahlkandidaten, eine Privatperson, vorstellen, die für die Stimme einer anderen Privatperson zahlt, ohne dass eine Beziehung zum Unternehmensumfeld besteht. In diesem Sinne könnten wir prima facie hinterfragen, ob die Delikte der Concussion (Art. 316) und der passiven Korruption (Art. 317) von einer Präventivwirkung der Integritätsprogramme, die im Antikorruptionsgesetz und dem konkretisierenden Präsidialdekret enthalten sind, unberührt bleiben. Es handelt sich hierbei um Delikte, die von öffentlichen Bediensteten – zumindest in den meisten Fällen –unabhängig vom Unternehmensumfeld begangen werden. Aber selbst wenn der handelnde Täter kein Mitarbeiter eines Unternehmens ist und das kriminelle Verhalten weit vom Unternehmensumfeld entfernt stattfindet, können die von Unternehmen entwickelten Integritätsprogramme eine Wirkung entfalten, die die Mitarbeiter schützt und andere illegale Verhaltensweisen durch sie, wie etwa die Zahlung des unzulässigen Vorteils, verhindert. Wenn man bedenkt, dass die genannten Delikte bereits mit dem bloßen Fordern ungerechtfertigter Vorteile verwirklicht werden, kann man darin immer noch eine präventive Wirkung der Integritätsprogramme sehen, denn wenn diese wirksam sind, dann können sie die Tatgelegenheiten für Forderungshandlungen durch öffentliche Bedienstete verringern. Der zweite Aspekt der Ex-antePerspektive (präventive Dimension), die Eingrenzung der Garantenstellung des 35  Auch Sousa, Questões fundamentais de direito da empresa, 2019, 125; Silveira/Saad-Diniz, Compliance, direito penal e lei anticorrupção, 2015, 351; Veríssimo (Fn. 3), 350 u. 351; Sommer/Schmitz, Praxiswissen Korruptionsstrafrecht, 2. Aufl. 2016, 237. Für eine andere Sichtweise s. Kölbel, ZStW 125 (2013), 499 (504 ff.). 36   S. Fn. 11.

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„Integritätsprogrammbeauftragten“ (Compliance Officer)37, birgt viel Problempotenzial. Die vorliegenden Ausführungen beschränken sich jedoch auf eine allgemeine Beschreibung dieser Thematik. Es ist bekannt, dass die einfache Übertragung der Garantenstellung des Geschäftsführers auf die Person, die für das Integritätsprogramm verantwortlich ist, nicht möglich ist. Stattdessen kann aufgrund der Übernahme von Pflichten durch den für das Integritätsprogramm Verantwortlichen eine Neugestaltung der Garantenpflichten des Geschäftsführers stattfinden. Diese Neugestaltung richtet sich nach dem Ausmaß der Beschränkung der Handlungsmöglichkeiten des Geschäftsführers. Je stärker sein Verantwortungsbereich und seine Möglichkeiten, zum Schutz des Rechtsguts einzugreifen, eingeschränkt werden, desto geringer ist das Ausmaß seiner Garantenstellung38. Das Integritätsprogramm sollte bei der Festlegung der Verantwortlichkeiten und Kompetenzen der verantwortlichen Person so vollständig und präzise wie möglich sein. Nur so kann sie diese die Risiken kennen, die mit ihrer Tätigkeit verbunden sind und nur anhand dieses Maßstabs wird es möglich sein, die strafrechtliche Relevanz einer möglichen Pflichtverletzung einzuschätzen. 2. Die Ex-post-Perspektive (repressive Dimension) Die Ex-post-Perspektive (repressive Dimension) äußert sich in zwei grundlegenden Aspekten: zum einen im Unterbinden der aufgedeckten illegalen Aktivitäten und zum anderen in ihrer Verfolgung, indem den dafür zuständigen staatlichen Stellen geholfen wird. Mit anderen Worten: Auch, wenn das Integritätsprogramm Korruptionsdelikte nicht verhindern kann, kann es einen Beitrag zur Korruptionsbekämpfung leisten, indem es Verfahren, die ein sofortiges Unterbinden der festgestellten Unregelmäßigkeiten oder Verstöße gewährleisten (Art. 42), und die Weiterleitung der im Rahmen interner Untersuchungen gesammelten Beweise an die zuständigen Behörden vorsieht. Bei diesem ersten Aspekt der Ex-post-Perspektive geht es darum, dass das Integritätsprogramm zur Unterbindung von korruptem Verhalten beiträgt, welches trotz aller entgegenstehenden Maßnahmen die „Präventionsbarriere“ durchbrochen hat. Dies geht auch aus der Legaldefinition der Integritätsprogramme im Präsidialdekret Nr. 8.430/2015 hervor: Abweichungen, Betrug, Unregelmäßigkeiten und rechtswidrige Handlungen, die gegen die öffentliche Verwaltung, ob im Inland oder im Ausland, ausgeübt werden, aufzudecken und zu unterbinden (Art. 41, caput). In vielen Fällen kann das Integritätsprogramm das geeignetste und wirksamste Mittel sein, um illegales Verhalten zu erkennen, denn paradoxerweise kann ein Programm, das präventiv erfolglos war – aus verschiedenen Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden kann – bei der Untersuchung illegalen Verhaltens erfolgreich sein. Der zweite Aspekt der Ex-post-Perspektive ist die Möglichkeit, die Ergebnisse der Feststellung von Korruptionsdelikten an die Behörden wei37  S. Rotsch, in: FS für Imme Roxin, 2012, 490 ff.; Noll, Grenzen der Delegation von Strafbarkeitsrisiken durch Compliance, 2018, 235. 38   So auch Sousa (Fn. 35), 136.

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terzuleiten, was als eine Art „öffentlich-private Kooperation“ verstanden werden könnte39. So kann das Unternehmen „die zuständigen Behörden über den Eintritt der schädigenden Handlung, die Erhebung von Informationen und die Klärung von Fragen“ informieren40. Interne Ermittlungen werden – unabhängig von den Fragen, die mit der Tendenz zur Privatisierung der Vorermittlungen im Wirtschaftsstrafrecht verbunden sind41 – zu einem Raum, in dem aus Zeit-, Personal- und Know-how-Gründen Ergebnisse erzielt werden42, die oft weit über die Möglichkeiten des Staates hinausreichen. Trotz aller Nachteile, die internen Ermittlungen nachgesagt werden43, lässt sich neben den notwendigen Bedenken hinsichtlich des nemotenetur-Grundsatzes sagen44, dass der zweite Aspekt der Ex-post-Perspektive die Idee bestärkt, der zufolge das Integritätsprogramm im besten Interesse des Staates liegt.

VI. Ergebnis Die Konkretisierung der Beziehung zwischen den durch das Anti-Korruptionsgesetz eingeführten Integritätsprogrammen und dem Korruptionsstrafrecht in Brasilien steht sicherlich noch am Anfang. Bei der Erörterung spezifischer Fragen zu dieser Beziehung, die sich bei der Anwendung des Anti-Korruptionsgesetzes ergeben, sollten klare Aussagen über die Bedeutung von Integritätsprogrammen für das Korruptionsstrafrecht in Brasilien getroffen werden. Der hier unternommene Versuch, dieses Phänomen zu beschreiben, hat einerseits eine noch neue Realität im brasilianischen Strafrechtssystem beleuchtet und andererseits die Grundlagen für das Verständnis gelegt, das für zukünftige Auseinandersetzungen mit der Thematik notwendig ist.

39   Kölbel (Fn. 35), 502 ff.; Sousa (Fn. 35), 125; Silveira/Saad-Diniz, Compliance, direito penal e lei anticorrupção, 2017, 315 u. 317; Veríssimo (Fn. 3), 273. 40   CGU (Fn. 10), 23. 41   Diese können in diesem Rahmen nicht erörtert werden. S. dazu Reeb, Internal Investigation, Neue Tendenzen privater Ermittlungen, 2011, 41 ff.; Veríssimo (Fn. 3), 299. 42   So auch Rotsch ZStW 125 (2013), 481 (488 ff.); Veríssimo (Fn. 3), 298. 43   Der begrenzte Umfang dieser Arbeit macht es unmöglich, hier auf die Nachteile interner Ermittlungen einzugehen. S. dazu Scharnberg, Illegale Internal Investigations, Strafrechtliche Grenzen unternehmensinterner Ermittlungen, 2015, 44 ff. 44  S. Silveira/Saad-Diniz (Fn. 35), 348; Veríssimo (Fn. 3), 298.

Anti-Korruptionsimperialismus? Zur Bedeutung und Legitimation nationaler Compliance-Vorgaben für internationale Konzerne Philipp Maximilian Holle

I. Einleitung Die Bekämpfung von Korruption nimmt weltweit einen immer größeren Stellenwert ein1. Angetrieben wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch eine Vielzahl internationaler Richtlinien und Übereinkommen wie etwa die UN-Konvention gegen Korruption (UNCAC) oder das OECD-Übereinkommen gegen die Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr (Convention on Combating Bribery of Foreign Public Officials in International Business Transactions)2. Ein weltweit einheitlicher Standard existiert gleichwohl nicht. Nationale Regelungen unterscheiden sich in den Details mitunter erheblich (vgl. dazu nur die Länderreporte des United Nations Office on Drugs and Crime – UNODC – zur Umsetzung der UNCAC). Ganz beträchtliche Unterschiede bestehen insbesondere mit Blick auf Unternehmen. Sämtliche Rechtsordnungen nehmen üblicherweise zwar auch Unternehmen ins Visier ihrer Tatbestände zur Korruptionsbekämpfung. Die Rechtsordnungen unterscheiden sich mit Blick auf die unternehmensbezogenen Vorgaben zur Vorbeugung von Korruption und ihre exterritoriale Reichweite aber erheblich. Während sich manche Rechtsordnungen mit detaillierten Vorgaben zurückhalten und Unternehmen im Ausgangspunkt nur für Korruptionspraktiken im Inland sanktionieren, machen andere konkrete organisatorische Vorgaben und drohen Sanktionen auch für den Fall von Korruptionspraktiken außerhalb der eigenen Landesgrenzen an. Man sieht es als legitim an, Unternehmen schon dann sanktionieren zu können, wenn diese einen Bezug zum eigenen Hoheitsgebiet aufweisen. Ein weltweit tätiger Konzern kann auf diese Weise nationalen Vorgaben zur Korruptionsprävention unterworfen sein, wenn er nur einen kleinen Teil seiner Geschäfte durch eine Tochter- oder Enkelgesellschaft 1 2

  Vgl. etwa Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643.   Hugger/Röhrich (Fn. 1), 2643.

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in einem Staat mit derartigen Vorgaben betreibt. Nationale Vorgaben können so zum weltweiten Standard werden. Im Folgenden soll der expansive Charakter solcher Vorgaben mittels eines Rechtsvergleichs anhand der deutschen und der englischen Rechtsordnungen veranschaulicht werden (dazu unter II.). Während die deutsche Rechtsordnung einen eher konservativen Ansatz wählt, findet sich in der englischen Rechtsordnung mit dem UK Bribery Act ein klassisches Beispiel für ein expansives Modell der unternehmensbezogenen Korruptionsbekämpfung. Im Anschluss hieran sollen Überlegungen zu der Frage angestellt werden, wie sich ein expansives Modell legitimieren lässt (dazu unter III.). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick (IV.).

II. Rechtsvergleich Deutschland – United Kingdom 1. Rechtslage in Deutschland a) Verbandssanktionierung als voraussetzungsreiche Nebenfolge Das deutsche Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht kennt (bislang) keine originäre Unternehmensverantwortlichkeit. Es ist von dem Grundsatz geprägt, dass nur natürliche Personen belangt werden können. Allerdings ermöglicht es § 30 OWiG, eine Verbandsgeldbuße gegen eine juristische Person festzusetzen, wenn ein der Leitungsebene zugehöriger Repräsentant des Unternehmens eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begeht (sog. Anknüpfungstat), durch die Pflichten der Personenvereinigung verletzt worden sind oder die juristische Person bereichert worden ist (§ 30 Abs. 1 OWiG). Dabei ist nicht erforderlich, dass der Repräsentant individuell bestimmt werden kann (sog. anonyme Verbandsgeldbuße)3. Der Kreis von Repräsentanten, die eine Sanktionierung auch der juristischen Person ermöglichen, wird vom Gesetz jedoch ausgesprochen eng gezogen. Neben den Mitgliedern des vertretungsberechtigten Organs (§ 30 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) fallen hierunter lediglich Generalbevollmächtigte, in leitender Stellung befindliche Prokuristen und Handlungsbevollmächtigte (§ 30 Abs. 1 Nr. 4 OWiG) sowie Personen, die für die Leitung des Betriebs oder Unternehmens einer juristischen Person verantwortlich handeln, wozu auch die Überwachung der Geschäftsführung oder die sonstige Ausübung von Kontrollbefugnissen in leitender Stellung gehört (§ 30 Abs. 1 Nr. 5 OWiG). Diese Ausgangslage führt zunächst dazu, dass Korruptionspraktiken auf Ebene einer juristischen Person nur dann sanktioniert werden können, wenn sie in der unternehmensinternen Hierarchie weit oben stattfinden. Bei kleineren Gesellschaften mit einer überschaubaren Zahl von Mitarbeitern kann das durchaus häufig gegeben sein. Anders liegen die Dinge aber, wenn es sich um ein Unternehmen mit einer großen Zahl von Angestellten und dementsprechend   Statt aller Rogall, in: Mitsch (Hrsg.), KarlsruherKommOWiG, 5. Aufl. 2018, § 30 Rn. 119 ff.

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einer Vielzahl von Hierarchieebenen handelt. Dort besteht häufig das Problem, dass Personen, die in der Unternehmenshierarchie weit oben stehen, aufgrund der mitunter komplexen Unternehmenshierarchien mit vielfachen vertikalen und horizontalen Verantwortungsabgrenzungen sowie der arbeitsteiligen Vorgehensweise innerhalb des Unternehmens nicht sämtliche Tatbestandsmerkmale vorgeworfen beziehungsweise nachgewiesen werden können. Die einschlägigen Korruptionstatbestände werden in diesen Fällen zumeist „lediglich“ von Personen erfüllt, die in der Hierarchie nicht ganz oben angesiedelt sind. b) Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung zur Schließung von Sanktionslücken Das Gesetz trägt den skizzierten Schwierigkeiten insoweit Rechnung, als es die Verantwortlichkeiten durch einen Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung ausweitet. Nach §§ 130 Abs. 1, 9 OWiG können höherrangige Mitarbeiter auch dann belangt werden, wenn ihnen lediglich zum Vorwurf gemacht werden kann, die Tätigkeit nachgeordneter Mitarbeiter nicht gehörig beaufsichtigt zu haben. Auf diese Weise können bei der Verwirklichung von Korruptionstatbeständen auf unteren Leitungsebenen auch Personen sanktioniert werden, die in der unternehmensinternen Hierarchie weit oben stehen, was dann wiederum auch die Möglichkeit eröffnet, eine Verbandsgeldbuße zu verhängen4. Inhaltliche Vorgaben, unter welchen Voraussetzungen von einer gehörigen Aufsicht auszugehen ist, macht das Gesetz dabei nicht, so dass den individuellen Gegebenheiten eines Unternehmens in der Praxis Rechnung getragen werden kann. Nach mittlerweile wohl überwiegender – aber durchaus fragwürdiger – Ansicht lässt sich mithilfe des §  130 OWiG auch eine konzernweite Aufsichtspflicht konstruieren5. Folge ist, dass bei Zuwiderhandlungen von Mitarbeitern einer Tochtergesellschaft (auch) gegen die Konzernobergesellschaft eine Verbandsgeldbuße verhängt werden kann. Daneben besteht die Möglichkeit mithilfe einer Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter eine sanktionsrechtliche Verantwortlichkeit in den Händen von Personen zu schaffen, die in der Hierarchie so weit oben stehen, dass sie eine verbandsbezogene Sanktionierung ermöglichen. Unter dem Stichwort der Geschäftsherrenhaftung ist eine solche Garantenhandlungspflicht in den letzten Jahren viel diskutiert und von der Rechtsprechung im Grundsatz auch anerkannt worden6. Die Möglichkeit mithilfe einer Garantenpflicht zur Verhinderung von Straftaten eine Verbandssanktionierung zu begründen, hat sich bislang aber nicht flächendeckend etabliert und soll daher auch bei den nachfolgenden Überlegungen außen vor bleiben. Denn jedenfalls für die Verfolgungspraxis hält der Tatbestand des § 130 OWiG eine spürbare Erleichterung bereit: Anders als bei der Anwendung des allgemeinen Garantenkonzepts   Anschaulich zum Zusammenspiel der §§ 130, 9, 30 OWiG Többens, NStZ 1999, 1 ff.   Statt aller Rogall (Fn. 3), § 130 Rn. 27 m.w.N. 6   Zum Meinungsbild vgl. etwa Heger, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 13 Rn. 14 m.w.N. 4 5

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ist im Rahmen des § 130 OWiG nicht der Nachweis erforderlich, dass die Tat des Untergebenen durch eine Kontrolle desselben mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verhindert worden wäre. Es genügt, wenn die Tat durch eine gehörige Aufsicht wesentlich erschwert worden wäre (vgl. § 130 Abs. 1 Satz 1 OWiG). c) Verbandsgeldbuße im internationalen Kontext aa) Ausrichtung der Anwendbarkeit des § 30 OWiG an der Bezugstat Besteht ein Auslandsbezug, stellen sich im deutschen Recht mehrere Fragen. Zuvorderst fragt sich, ob § 30 OWiG in solchen Fällen überhaupt anwendbar ist. Ausgehend vom systematischen Standort des § 30 OWiG im Recht der Ordnungswidrigkeiten spricht einiges für die Anwendung des §  5 OWiG7. Folge wäre, dass eine Verbandsgeldbuße gegen – inländische und ausländische – Unternehmen nur dann festgesetzt werden könnte, wenn die Anknüpfungstat auf deutschem Territorium oder auf einem Schiff oder in einem Luftfahrzeug begangen wird, das berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehörigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu führen. Die herrschende Meinung folgt dieser starken Einhegung des Anwendungsbereichs des § 30 OWiG aber nicht. Stattdessen will sie den Geltungsbereich des § 30 OWiG anhand der Bezugstat bestimmen8. Für die Anwendbarkeit des § 30 OWiG entscheidend sei, dass deutsches Recht auf die Bezugstat Anwendung finde. Zur Begründung verweist man darauf, dass es sich bei § 30 OWiG nach herrschender Meinung lediglich um eine Zurechnungsnorm handelt. Dem Verband werden die von seinen Repräsentanten begangenen Delikte zugerechnet. Demgemäß liege es nahe, den Anwendungsbereich der Vorschrift anhand der Bezugstat auszumessen9. Folgt man der herrschenden Meinung, gilt: Unabhängig davon, ob es sich um ein deutsches oder ausländisches Unternehmen handelt und wo das Unternehmen tätig ist, kann eine Verbandsgeldbuße immer dann verhängt werden, wenn die Anknüpfungstat deutschem Strafrecht oder deutschem Ordnungswidrigkeitenrecht unterfällt. Damit verlagert sich der Fokus weg von §  30 OWiG und hin zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen Korruptionshandlungen beziehungsweise eine Aufsichtspflichtverletzung als Anknüpfungstat deutschem Recht unterfallen.

7   Jeßberger, Der transnationale Geltungsbereich des deutschen Strafrechts, 2011, 249; Mölders, Bestechlichkeit und Bestechung im internationalen geschäftlichen Verkehr, 2009, 223; Schneider, ZIS 2013, 488 (492). 8   Vgl. etwa Grützner/Behr, CCZ 2013, 71 (73); Meyberg, in: Graf (Hrsg.), BeckOK-OWiG, 23. Edition (Stand: 15.06.2019), § 30 Rn. 66; Rogall (Fn. 3), § 30 Rn. 88; Waßmer, in: Hoven/ Kubiciel (Hrsg.), Das Verbot der Auslandsbestechung, 2016, 165 (167 f.). 9   So auch Waßmer (Fn. 8), 167 f.

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bb) Korruptionsdelikt als Anknüpfungstat Bildet eine Korruptionshandlung selbst unmittelbar die Anknüpfungstat für die Verhängung einer Verbandsgeldbuße, kommt es allein darauf an, ob die Korruptionshandlung deutschem Recht unterfällt. Was die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr (§ 299 dStGB10) betrifft, so müssen hier – unabhängig von der Erstreckung des Schutzbereichs der Vorschrift auch auf den ausländischen Wettbewerb – für eine Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts die Voraussetzungen der §§  3 ff. dStGB gegeben sein11. Danach ist das deutsche Strafrecht zunächst immer dann anwendbar, wenn der Täter im Inland gehandelt hat oder der zum Tatbestand gehörende Erfolg im Inland eingetreten ist (sog. Territorialitätsprinzip, vgl. §§ 3, 9 Abs. 1 dStGB). Als abstrakte Gefährdungsdelikte haben die Korruptionsdelikte nach herrschender Meinung allerdings keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg, so dass ein territorialer Anknüpfungspunkt nur durch die tatbestandlichen Handlungen vermittelt werden kann12. Hierfür genügt es, dass diese zumindest teilweise auf deutschem Territorium begangen werden, so etwa durch Fordern eines Vorteils mittels eines in Deutschland geschriebenen Briefes, einer E-Mail oder eines Telefonats oder durch Übergabe von Bargeld13. Zusätzlich – und damit über die Anwendbarkeit des Ordnungswidrigkeitenrechts nach § 5 OWiG hinaus – ausgedehnt wird die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts durch § 7 dStGB. Danach greift deutsches Strafrecht auch bei Taten ein, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden (§ 7 Abs. 1 dStGB), oder bei Taten von Deutschen im Ausland (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 dStGB), wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt. Deutscher im Sinne der Vorschrift kann nach herrschender Meinung allerdings nur eine natürliche Person sein14. Auch genügt keine mittelbare Betroffenheit15. Unabhängig von der Frage, wie weit man den Kreis derjenigen zieht, die von Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr betroffen sind (marktbezogener vs. geschäftsbezogener Begriff des Mitbewerbers)16, findet das deutsche Strafrecht daher im Regelfall keine Anwendung, wenn ein ausländischer Staatsangehöriger im Ausland Schmiergeld zahlt17.   Deutsches Strafgesetzbuch.   Vgl. auch Krick, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MünchKommStGB, Bd. V, 3.  Aufl. 2019, § 299 Rn. 114 m.w.N. 12   Vgl. etwa Kappel/Junkers, NZWiSt 2016, 382 (383). 13  Vgl. Dannecker, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, Bd. III, 5. Aufl. 2017, § 299 Rn. 122; Eisele, in: Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, § 299 Rn. 31. Im Fall der Beihilfe oder Anstiftung ist ausreichend, dass diese selbst im Inland erfolgen; keine Rolle spielt, ob auch die Korruptionstat dem deutschen Strafrecht unterliegt, vgl. § 9 Abs. 2 dStGB. 14  Zum Meinungsstand vgl. etwa Böse, in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NKStGB, Bd. I, 5. Aufl. 2017, § 7 Rn. 4 m.w.N.; Dannecker (Fn. 13), § 299 Rn. 125 f. 15  Vgl. Ambos, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MünchKommStGB, Bd. I, 3.  Aufl. 2017, §  7 Rn. 25. 16   Vgl. dazu etwa Momsen/Laudien, in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), BeckOK-StGB, 42. Edition (Stand: 01.05.2019), § 299 Rn. 14. 17   Vgl. auch Krick (Fn. 11), § 299 Rn. 114. 10 11

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Unwesentlich weiter reicht die deutsche Strafgewalt im Fall der Bestechung ausländischer und internationaler Bediensteter gemäß § 335a dStGB. Für diesen Tatbestand erweitert § 5 Nr. 15 lit. a und d dStGB nämlich den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts gegenüber §  7 dStGB. So werden Korruptionstaten im Ausland durch Täter, die zur Zeit der Tat Deutsche sind, gegenüber ausländischen und internationalen Bediensteten unabhängig vom Recht des Tatorts erfasst (lit. a). Es kommt also nicht darauf an, ob die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist. Auch insoweit grundsätzlich nicht erfasst werden aber Auslandstaten von ausländischen Mitarbeitern deutscher Unternehmen18. cc) Aufsichtspflichtverletzung als Anknüpfungstat Verübt ein in der unternehmensinternen Hierarchie nicht oben angesiedelter Unternehmensmitarbeiter ein Korruptionsdelikt, spielen die angestellten Überlegungen zur Anwendbarkeit deutschen Rechts für die Verhängung einer Verbandsgeldbuße nur mittelbar eine Rolle. Als Anknüpfungstat kommt dann nämlich primär der Tatbestand der Aufsichtspflichtverletzung (§ 130 OWiG) in Betracht, so dass für die Verhängung einer Verbandsgeldbuße entscheidend ist, ob die Aufsichtspflichtverletzung deutschem Recht unterfällt. Auf den ersten Blick scheint hier dann das einzutreten, was die herrschende Meinung mit Blick auf die Verbandsgeldbuße gerade zu vermeiden sucht – die im Ordnungswidrigkeitenrecht grundsätzlich geltende Verengung auf Inlandstaten nach § 5 OWiG. Die Besonderheit liegt nun aber darin, dass die Aufsichtspflichtverletzung als tatbestandliche Handlung theoretisch auch bei einem Verstoß gegen ausländische Vorgaben als erfüllt angesehen werden kann und mit der konkreten Zuwiderhandlung als objektiver Bedingung der Strafbarkeit auch noch ein zweiter Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit deutschen Rechts in Frage kommt. Trotz dieser Besonderheit ist die Frage der Anwendbarkeit des § 130 OWiG bei einem Auslandsbezug bis dato wenig ausgeleuchtet19. Betrachtet man zunächst den Fall, in dem die Aufsichtspflichtverletzung im Inland begangen wurde und die Zuwiderhandlung im Ausland, stellt sich die Frage, welche Anforderungen an die Zuwiderhandlung zu stellen sind, um die Anwendbarkeit deutschen Ordnungswidrigkeitenrechts nach §§  5, 7 Abs.  1 OWiG bejahen zu können. Theoretisch ließe sich von deutschem Boden aus eine Pflicht statuieren, durch eine gehörige Aufsicht auf die Beachtung der in jedem Land jeweils geltenden sanktionsrechtlichen Ge- und Verbote hinzuwirken20. Eine solche Sichtweise würde den Bedeutungsgehalt des § 130 OWiG aber überdehnen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber mit der Vorschrift den Schutz ausländischer Rechtsordnungen bezweckt hat. Es ist daher naheliegender, die Deutung des Begriffs der Zuwiderhandlung in § 130 OWiG am Begriff der rechtswidrigen Tat in § 11 Abs. 1 Nr. 5 dStGB und am Begriff   Korte, in: Joecks/Miebach (Hrsg.), MünchKommStGB, Bd. V, 3. Aufl. 2019, § 335a Rn. 54.   Gleiche Einschätzung bei Waßmer (Fn. 8), 165 (169 f.): viele Fragen nicht geklärt. 20  In diese Richtung Caracas, Verantwortlichkeit in internationalen Konzernstrukturen nach § 130 OWiG, 2014, 228 ff.; Caracas, CCZ 2015, 218 (220 f.); Kappel/Junkers (Fn. 12), 383. 18 19

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der mit Geldbuße bedrohten Handlung in § 1 Abs. 2 OWiG zu orientieren mit der Folge, dass auf die Zuwiderhandlung das deutsche Straf- beziehungsweise Ordnungswidrigkeitenrecht anwendbar sein muss21. Mit Blick auf die Auslandsbestechung ist demnach entscheidend, dass auf die konkrete Korruptionshandlung deutsche Korruptionsdelikte nach den Regeln des Strafanwendungsrechts Anwendung finden. § 130 OWiG dehnt insoweit die Ahndbarkeit innerhalb der Unternehmenshierarchie „nach oben“ auf Repräsentanten aus und eröffnet auf diese Weise zugleich die Möglichkeit nach § 30 OWiG eine Verbandsgeldbuße zu verhängen. In ähnlicher Weise „verlängert“ §  130 OWiG die Verantwortlichkeit über die nationalen Grenzen hinaus, wenn lediglich die Zuwiderhandlung im Inland begangen wurde, die Aufsichtspflichtverletzung hingegen im Ausland erfolgte. Nach herrschender Meinung stellt nämlich der Eintritt einer objektiven Bedingung der Ahndung – hier also die Zuwiderhandlung in Form des Korruptionsdelikts – einen zum Tatbestand gehörenden Erfolg im Sinne des § 7 Abs. 1 OWiG dar22. Das ist sachgerecht. Denn der Gedanke der §§ 5, 7 OWiG ist gerade, deutsches Recht immer dann zur Anwendung zu bringen, wenn der Täter im Inland gehandelt hat oder dasjenige, was der jeweilige Tatbestand zu vermeiden sucht („der zum Tatbestand gehörende Erfolg“), im Inland eingetreten ist23. d) Zusammenfassung Das deutsche Sanktionsrecht ermöglicht es, ein Unternehmen – genauer: eine (Konzernober-)Gesellschaft – für Korruptionshandlungen von Unternehmensmitarbeitern dann mit einer Verbandsgeldbuße zu sanktionieren, wenn ein hochrangiger Mitarbeiter (Repräsentant) des Unternehmens den Tatbestand eines Korruptionsdelikts verwirklicht hat oder es unterlassen hat, die Korruptionshandlung eines nachgeordneten Mitarbeiters durch gehörige Aufsicht zumindest wesentlich zu erschweren. Dabei wird den Unternehmen nicht näher vorgeschrieben, welche Maßnahmen sie ergreifen müssen, um den Anforderungen an eine gehörige Aufsicht zu genügen.

21  So Waßmer (Fn. 8), 170; vgl. auch Buchholz, Der Begriff der Zuwiderhandlung in § 130 OWiG unter Berücksichtigung aktueller Compliance-Fragen, 2013, 103 f. 22   In Bezug auf § 130 OWiG ausdrücklich BGH NStZ 2004, 699 (700). 23   Vgl. auch Waßmer (Fn.  8), 170. Noch weiter ausdehnen ließe sich die Anwendbarkeit des § 130 OWiG, wenn man den Tatbestand mit einer Mindermeinung als konkretes Gefährdungsdelikt einstuft (vgl. etwa Rogall [Fn. 3], § 130 Rn. 19). Dann nämlich gilt als Erfolgsort schon der Ort, an dem das geschützte Rechtsgut gefährdet wird (vgl. etwa Valerius, in: Graf [Hrsg.], BeckOK-OWiG, 23. Edition [Stand: 15.06.2019], §  7 Rn.  9). Das gleiche Ergebnis lässt sich erzielen, wenn man den Tatbestand des § 130 OWiG mit der herrschenden Meinung als abstraktes Gefährdungsdelikt einstuft (vgl. etwa Beck, in: Graf [Hrsg.], BeckOK-OWiG, 23. Edition [Stand: 15.06.2019], § 130 Rn. 17), sodann aber mit einer Mindermeinung davon ausgeht, dass auch bei abstrakten Gefährdungsdelikten ein Erfolgsort im Sinne des § 7 Abs. 1 OWiG anzunehmen ist (vgl. etwa Valerius, in: Graf [Hrsg.], BeckOK-OWiG, 23. Edition [Stand: 15.06.2019], § 7 Rn. 13).

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Die Möglichkeit, ein Unternehmen zu sanktionieren, ist geknüpft an die (theoretische) Möglichkeit, einen Unternehmensmitarbeiter zu sanktionieren, wobei eine Aufsichtspflichtverletzung eines Unternehmensmitarbeiters wiederum nur dort zur Anwendbarkeit des deutschen Sanktionsrechts führt, wo auch das eigentliche Korruptionsdelikt deutscher Sanktionsgewalt unterfällt. Folge ist, dass Korruptionshandlungen im deutschen Recht grundsätzlich nur dann sanktioniert werden, wenn Tathandlungen zumindest teilweise auf deutschem Territorium begangen werden oder ein deutscher Angestellter im Ausland die Tat begeht (§ 7 Abs. 2 Nr. 1 dStGB), wobei die Tat am Tatort mit Strafe bedroht sein muss oder der Tatort keiner Strafgewalt unterliegen darf. 2. Rechtslage im Vereinigten Königreich – Der UK Bribery Act 2010 a) Unmittelbare sanktionsrechtliche Konzernverantwortlichkeit Wendet man den Blick vom dogmatisch herausfordernden deutschen Recht hin zum Recht des Vereinigten Königreichs, so bekommt man es mit einem der „weltweit offensivsten Antikorruptionsgesetze“24 zu tun. Der am 1. Juli 2011 in Kraft getretene sog. UK Bribery Act gilt als noch strenger als sein US-amerikanisches Pendant – der US Foreign Corrupt Practices Act von 1977 (FCPA)25. Inhaltlich unterscheidet er nicht zwischen der Bestechung von Amtsträgern oder Entscheidungsträgern im privaten Sektor26. Tatsubjekt kann prinzipiell jedermann sein27. Die Anzahl der Verurteilungen wegen eines Verstoßes gegen den UK Bribery Act hält sich bislang zwar in Grenzen; bis zum Herbst des Jahres 2015 soll es zu nur vier Verurteilungen gekommen sein28. Es wird aber davon ausgegangen, dass die zuständigen Verfolgungsbehörden zukünftig weitaus aktiver von den Kompetenzen Gebrauch machen, die der UK Bribery Act ihnen verleiht29. Im Unterschied zum deutschen Recht sieht der UK Bribery Act eine unmittelbare sanktionsrechtliche Verantwortlichkeit auch von Unternehmen für Korruptionstaten vor30. Und nicht nur das, die sanktionsrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen kommt schon dann zum Tragen, wenn eine mit dem Unternehmen assoziierte Person (Associated Person) Bestechungshandlungen vornimmt, um Geschäfte für das Unternehmen zu erlangen oder zu behalten (Section 7 UK Bribery Act). Darunter fallen nicht nur Mitarbeiter, sondern es können auch Tochtergesellschaften erfasst sein (vgl. Section 8 (3) UK Bribery 24   Froesch/Englmann, CB 2015, 475 (480); vgl. auch Weiß, HRRS 2014, 293 (297): eines der schärfsten Korruptionsgesetze weltweit. 25  Vgl. Pörnbacher/Mark, NZG 2010, 1372. Zum US Foreign Corrupt Practices Act von 1977 (FCPA) vgl. etwa Rübenstahl, NZWiSt 2012, 401 ff., NZWiSt 2013, 6 ff., 124 ff., 281 ff., 367 ff. 26   Froesch/Englmann (Fn. 24), 480; Schorn/Sprenger, CCZ 2013, 104 (105). 27   Froesch/Englmann (Fn. 24), 480; Deister/Geier, CCZ 2011, 12 (13). 28  So Süße/Püschel, CCZ 2016, 131. 29  Vgl. Süße/Püschel (Fn. 28), 131 ff. 30   Vgl. auch Walther/Zimmer, RIW 2011, 199 (201).

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Act)31, wodurch der UK Bribery Act letztlich eine unmittelbare sanktionsrechtliche Konzernverantwortlichkeit statuiert. Für diese ist unerheblich, ob die assoziierte Person im Rahmen ihrer Befugnis handelte und ob die Unternehmensleitung von der Korruptionshandlung wusste oder mit dieser einverstanden war32. Ebenso ist nicht erforderlich, dass zunächst ein Verfahren gegen die assoziierte Person wegen des von ihr begangenen Verstoßes eingeleitet wurde33. b) Weitreichende organisatorische Vorgaben Ein Unternehmen kann sich allerdings durch den Nachweis enthaften, angemessene Maßnahmen ergriffen zu haben, die Korruptionshandlungen von assoziierten Personen vorbeugen (Section 7 (2) UK Bribery Act). Diese „ComplianceDefense“ beruht auf dem Umstand, dass der UK Bribery Act weniger darauf abzielt, Einzelfälle unternehmensbezogener Korruption abzustrafen, sondern primär im Sinn hat, Korruption auf Unternehmensebene systematisch vorzubeugen34. Zwar schafft auch eine Sanktionierung ohne Exkulpationsmöglichkeit auf Seiten der Unternehmen einen Anreiz, Korruption vorzubeugen. Die Möglichkeit, sich durch den Nachweis hinreichender Compliance-Anstrengungen zu entlasten, dürfte diesen Anreiz in der Praxis aber zusätzlich verstärken, da sich Compliance-Bemühungen auf diese Weise selbst im Entdeckungsfall auszahlen können. Über die Möglichkeit, sich durch den Nachweis angemessener ComplianceBemühungen zu entlasten, schafft der UK Bribery Act im Ergebnis Organisationsvorgaben für Unternehmen. Das Gesetz selbst belässt es insoweit zwar mit der Wendung angemessene Maßnahmen („adequate procedures“) (vgl. Section 7 (2) UK Bribery Act). Diese noch ausgesprochen vage Vorgabe wird durch exekutive Richtlinien aber weiter verfeinert und zu einem weitreichenden Netz organisatorischer Vorgaben verdichtet (vgl. Section 9 UK Bribery Act)35. Danach umfassen angemessene Maßnahmen im Kern folgende sechs Bausteine: – Analyse des unternehmensspezifischen Korruptionsrisikos („risk assessment“), – Schaffung verständlicher und angemessener Compliance-Richtlinien und Strukturen zur Verhinderung von Korruption („proportionate procedures“), – Korruptionsbekämpfung als Chefsache („top-level commitment“),

31  Vgl. Kappel/Lagodny, StV 2012, 695 (697); Pörnbacher/Mark (Fn.  25), 1374; Walther/ Zimmer (Fn. 30), 202; Weiß (Fn. 24), 295; vgl. aber auch einschränkend die Guidance about procedures which relevant commercial organisations can put into place to prevent persons associated with them from bribing, Rn. 37 ff. (abrufbar unter: https://www.justice.gov.uk/downloads/ legislation/bribery-act-2010-guidance.pdf, ). 32  Vgl. Süße/Püschel (Fn. 28), 132. 33   Süße/Püschel (Fn. 28), 131. 34   Vgl. auch Walther/Zimmer (Fn. 30), 202. Zur Frage, inwieweit eine Compliance-Defense im Rahmen des § 30 OWiG sanktionsmildernd zu berücksichtigen ist vgl. Baur/Holle, NZG 2018, 14 ff. 35   Vgl. etwa Walther/Zimmer (Fn. 30), 202 m.w.N.

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– Fortlaufende Überprüfung von Geschäftspartnern („due diligence“), – Umsetzung im Unternehmen („communication including training“), – Regelmäßige Überprüfung und Verbesserung der erlassenen Richtlinien („monitoring and review“)36. Diese Vorgaben werden von exekutiver Seite weiter erläutert. Zudem gibt es in der (auch deutschsprachigen) Literatur inzwischen eine beachtliche Zahl von Handreichungen, die diese noch weiter ausdeuten. Im Ergebnis existieren mittlerweile Vorgaben, die Unternehmen bis in die Details vorschreiben, wie sie Korruption vorzubeugen haben, um im Fall einer – trotz aller Bemühungen nie ganz auszuschließenden – Korruptionstat einer Sanktionierung nach dem UK Bribery Act zu entgehen37. c) Exterritoriale Erstreckung Die eigentliche Sprengkraft des UK Bribery Act liegt in seinem Anwendungsbereich. Erfasst werden alle Unternehmen, die Geschäfte oder Teile eines Geschäfts im Vereinigten Königreich betreiben (any other body corporate (wher­ ever incorporated) which carries on a business, or part of a business, in any part of the United Kingdom, vgl. Section 7 (5) (b) UK Bribery Act). Das wird überwiegend weit verstanden. So soll es etwa genügen, wenn Waren über das Internet im Vereinigten Königreich verkauft werden38. Sogar eine einmalige Kundenbeziehung im Vereinigten Königreich wird teilweise für ausreichend gehalten39. Ist ein Unternehmen als Konzern organisiert, ist nicht erforderlich, dass die Muttergesellschaft selbst im Vereinigten Königreich geschäftlich aktiv ist. Der gesamte Konzern kann vielmehr schon dann vom Anwendungsbereich des UK Bribery Act erfasst sein, wenn eine Tochtergesellschaft im Vereinigten Königreich Geschäfte oder Teile eines Geschäfts betreibt40. Die Bestechungshandlung selbst und das Unterlassen ihrer Verhinderung müssen ihrerseits keinen Bezug zu diesen geschäftlichen Aktivitäten gerade im Vereinigten Königreich haben41. Vielmehr kann jede Auslandstat verfolgt werden, die eine assoziierte Person irgendwo auf der Welt für das Unternehmen begeht (vgl. Section 12 (5) UK Bribery Act)42. Ob die assoziierte Person im Vereinigten Königreich ansässig oder britischer Staatsbürger ist, ist nicht von Bedeutung43.  Anschaulich Weiß (Fn. 24), 296 ff.   Vgl. aus der deutschsprachigen Literatur etwa Walther/Zimmer (Fn. 30), 202 ff. m.w.N.   Weiß (Fn. 24), 295. 39   Hugger/Röhrich (Fn. 1), 2646. 40   Walther/Zimmer (Fn. 30), 202; vgl. aber auch einschränkend die Guidance about procedures which relevant commercial organisations can put into place to prevent persons associated with them from bribing, (Fn. 31), Rn. 36 a.E. 41   Schorn/Sprenger (Fn. 26) 108; vgl. ferner Froesch/Englmann (Fn. 24), 480; Hugger/Röhrich (Fn. 1), 2646; Kappel/Lagodny (Fn. 31), 697; Pörnbacher/Mark (Fn. 25), 1374; Süße/Püschel (Fn. 28), 132; deutlich vorsichtiger Rotsch/Wagner, in: Rotsch (Hrsg.), Criminal Compliance, 2015, § 32 Rn. 5 ff. 42   Schorn/Sprenger (Fn. 26), 108; ferner Froesch/Englmann (Fn. 24), 480; Weiß (Fn. 24), 295. 43   Weiß (Fn. 24), 296. 36 37 38

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Kurzum: Wird im Unternehmensinteresse bestochen, steht und fällt die Strafbarkeit mit dem (teilweisen) Betreiben von Geschäften im Vereinigten Königreich44. Danach kann beispielsweise ein deutsches Unternehmen nach dem UK Bribery Act belangt werden, wenn es durch eine Tochtergesellschaft im Vereinigten Königreich geschäftlich aktiv ist und ein Mitarbeiter einer italienischen Tochtergesellschaft in einem afrikanischen Land eine Bestechungszahlung leistet45. Im Ergebnis statuiert der UK Bribery Act damit weltweite konzerndimensionale unternehmerische Standards zur Korruptionsprävention, sofern ein Unternehmen im Vereinigten Königreich Geschäfte betreibt. Unternehmen, die im Vereinigten Königreich Geschäfte betreiben, unterliegen dessen Korruptionstatbeständen bei sämtlichen Geschäften, die sie weltweit tätigen. d) Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Vereinigte Königreich mit dem UK Bribery Act aus dem Jahr 2010 ein in der Anwendung im Vergleich zum deutschen Recht relativ simples Antikorruptionssanktionsrecht für Unternehmen bereithält: Ein Unternehmen ist verantwortlich, wenn eine assoziierte Person – einschließlich eines Mitarbeiters einer Tochtergesellschaft – Bestechungshandlungen vornimmt, um Geschäfte für das Unternehmen zu erlangen oder zu behalten und es nicht nachweisen kann, angemessene Maßnahmen ergriffen zu haben, die Korruptionspraktiken entgegenwirken. So simpel diese Vorgaben sind, so weitreichend ist ihr Anwendungsbereich. Die exterritoriale Reichweite des UK Bribery Act ist quasi unbegrenzt. Einziger inländischer Anknüpfungspunkt ist, dass ein Unternehmen entweder selbst oder durch eine Tochtergesellschaft Geschäfte oder Teile eines Geschäfts im Vereinigten Königreich betreibt. Ist diese Voraussetzung erfüllt, kann ein Unternehmen für sämtliche Korruptionstaten verfolgt werden, die seine Mitarbeiter oder Mitarbeiter einer Tochtergesellschaft irgendwo auf der Welt für das Unternehmen begehen.

III. Legitimation weltweit geltender Compliance-Vorgaben für internationale Konzerne 1. Diskussion über die exterritoriale Reichweite des UK Bribery Act Von seinen Anhängern wird der UK Bribery Act als Meilenstein der Korruptionsbekämpfung gefeiert, der ein neues Zeitalter der Bekämpfung von Korruption einläute. Und in der Tat dürften gerade die Vorgaben zu den angemessenen Maßnahmen zur Verhinderung unternehmensbezogener Korruption („ade­ quate procedures“) nachhaltig auf die Unternehmenswelt einwirken und die   Weiß (Fn. 24), 295.  Andere Beispielsfälle bei Hugger/Röhrich (Fn.  1), 2646  f., Pörnbacher/Mark (Fn.  25), 1375 und Kappel/Lagodny (Fn. 31), 695. 44 45

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unternehmensinternen Compliance-Systeme mitprägen. Aus Sicht einer wirksamen Korruptionsbekämpfung hat das die durchaus erwünschte Folge, dass hohe Antikorruptionsstandards weltweite Geltung erlangen. Die exterritoriale Reichweite des UK Bribery Act ruft zugleich aber auch eine gewisse Skepsis hervor. Hat das Vereinigte Königreich seine Strafgewalt mit dem UK Bribery Act zu weit ausgedehnt? In der Literatur jedenfalls ist Kritik daran laut geworden, dass allein eine geschäftliche Beziehung eines Unternehmens zum Vereinigten Königreich die Anwendung des britischen Strafrechts auf gänzlich extraterritoriale Sachverhalte ohne Beteiligung britischer Staatsbürger oder britischer Unternehmen rechtfertigen soll46. 2. Allgemeine Anforderungen an die exterritoriale Geltung nationaler Sanktionsvorschriften Es ist heute anerkannt, dass ein Nationalstaat seine Strafgewalt nicht beliebig erstrecken kann, sondern dabei völkerrechtlichen Grenzen unterliegt. Jeder Staat muss die Gebietshoheit anderer Staaten respektieren und kann sich nicht ohne weiteres in deren innere Angelegenheiten einmischen47. Eine Erstreckung der eigenen Sanktionsgewalt auf Auslandssachverhalte gilt nur dann als legitimierbar, wenn sich dafür ein berechtigtes Interesse, ein sog. legitimierender Anknüpfungspunkt, anführen lässt48. Eine Sanktionsrechtsordnung soll nur dann zur Anwendung kommen können, wenn diese der in Frage stehenden Straftat in nachvollziehbarer Weise nahesteht. Für natürliche Personen sind als legitimierende Anknüpfungspunkte unter anderem anerkannt49: – Der Gebietsgrundsatz (Territorialitätsprinzip)50, der die Geltung des Strafrechts auf das Staatsgebiet und damit auf solche Taten beschränkt, die innerhalb des staatlicher Souveränität unterliegenden Raumes begangen werden. Dafür soll es aber ausreichen, dass nur ein Teilakt der Handlung auf nationalem Boden vorgenommen wurde oder der zum Tatbestand gehörende Erfolg dort eingetreten ist. – Der aktive und der passive Personalgrundsatz (aktives und passives Personalitätsprinzip), der die Anwendung nationalen Rechts an die Nationalität des Täters (aktiver Personalgrundsatz) beziehungsweise Opfers (passiver Personalgrundsatz) knüpft.

46   Vgl. vor allem Kappel/Lagodny (Fn. 31), 698 ff. Den Rahmen einer (noch) zulässigen Ausdehnung detailliert auslotend auch Rotsch/Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 8 ff. 47  Anschaulich Eser/Weißer, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 10. 48   Eser/Weißer (Fn. 47), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 11. 49   Vgl. zum Folgenden etwa Böse (Fn. 14), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 15 ff.; Eser/Weißer (Fn. 47), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 16 ff.; Heger (Fn. 6), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 2. 50   Eng mit dem Gebietsgrundsatz verwandt ist das Flaggenprinzip, nach dem das innerstaatliche Strafrecht auf Taten an Bord von Schiffen und Luftfahrzeugen erstreckt wird, die bei dem jeweiligen Staat registriert sind.

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– Der Staatschutzgrundsatz (Realprinzip), der die Geltung des Strafrechts an den Belangen der eigenen Rechtsgemeinschaft orientiert und es erlaubt, negative Auswirkungen auf inländische Rechtsgüter zu ahnden. – Der Weltrechtsgrundsatz (Universalprinzip), der im Interesse der ganzen Menschheit ermöglicht, unabhängig vom Tatort und der Staatsangehörigkeit von Opfer und Täter die Verletzung von Rechtsgütern zu ahnden, die universal schutzwürdig sind. – Der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege sowie das Kompetenzverteilungsprinzip: Der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege erlaubt die Anwendung nationalen Sanktionsrechts in Fällen, in denen eine ausländische Strafgewalt am Einschreiten gehindert ist. Das Kompetenzverteilungsprinzip erlaubt die Anwendung nationalen Rechts auf Grund zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Inwieweit diese Grundsätze auch auf juristische Personen Anwendung finden, ist – abgesehen von dem Meinungsstreit um die Frage, inwieweit juristische Personen im deutschen Recht unter den Personalgrundsatz fallen – bislang wenig diskutiert51. Viel spricht aber dafür, diese Grundsätze zumindest im Kern auch auf Unternehmen zu übertragen52. 3. „Betreiben von Geschäften“ im Inland als legitimierender Anknüpfungspunkt? a) Kein Eingreifen des Personal-, Stellvertretungs- oder ­Kompetenz­ verteilungsgrundsatzes Misst man den UK Bribery Act an diesen Vorgaben, so scheiden der aktive und der passive Personalgrundsatz als legitimierende Anknüpfungspunkte von vornherein aus53. Denn der UK Bribery Act knüpft seine weltweite Anwendbarkeit auf Unternehmen allein an den Umstand, dass diese Geschäfte oder Teile eines Geschäfts im Vereinigten Königreich, also im Inland, betreiben. Er setzt nicht voraus, dass das Unternehmen, die unmittelbar handelnde natürliche Person oder das „Opfer“ britischer Herkunft sind. Ebenso wenig vermögen der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege oder das Kompetenzverteilungsprinzip die exterritoriale Anwendbarkeit des UK Bribery Act bei Auslandstaten zu begründen. Ausländische Strafgewalten sind nicht daran gehindert, unternehmensbezogene Korruptionstaten innerhalb ihres Territoriums zu verfolgen; es existieren keine zwischenstaatlichen Vereinbarungen, auf die sich eine so weitreichende Strafgewalt stützen könnte, wie sie dem UK Bribery Act zu Grunde liegt54.

  Vgl. auch Kappel/Lagodny (Fn. 31), 700.  Ebenso Kappel/Lagodny (Fn. 31), 700.  Ebenso Kappel/Lagodny (Fn. 31), 698; das Eingreifen des Personalgrundsatzes näher auslotend Rotsch/Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 39 ff., 56 ff. 54  Vertiefend Rotsch/Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 62 ff. 51 52 53

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b) Enges Verständnis des Staatsschutzgrundsatzes Eingehenderer Auseinandersetzung bedarf zunächst der Staatsschutzgrundsatz. Wie gesehen, orientiert er die Geltung nationalen Rechts an den Belangen der eigenen Rechtsgemeinschaft und erlaubt es, negative Auswirkungen auf inländische Rechtsgüter zu ahnden. Ausgehend von dieser noch recht allgemein gehaltenen Umschreibung ließe sich mit Blick auf den UK Bribery Act zweigleisig argumentieren: Zum einen lässt sich anführen, dass irgendwo auf der Welt verübte Korruptionstaten eines Unternehmens auch den inländischen Wettbewerb beeinträchtigen, wenn dieses Unternehmen im Inland Geschäfte betreibt. Denn die Profite, die es aus weltweiten Korruptionshandlungen zieht, könnten dem Unternehmen im Inland einen Vorteil gegenüber sonstigen Wettbewerbern verschaffen. Zum anderen kann aber auch mit Blick auf die Struktur eines Unternehmens, das im Ausland korrupte Praktiken verübt, argumentiert werden, dass für das Inland eine vergleichbare Gefahr besteht. Existieren in einem Unternehmen Strukturen, die Korruptionshandlungen im Ausland nicht verhindern oder sogar begünstigen, ist es durchaus naheliegend, dass auch für den inländischen Wettbewerb eine Gefahr besteht, da Organisationsstrukturen und Unternehmensattitüde im Regelfall nicht an den nationalen Grenzen haltmachen. Analysiert man den Schutzgrundsatz genauer, stellt man allerdings fest, dass derartige Überlegungen seine Anwendbarkeit nicht rechtfertigen können55. Letztlich soll der Schutzgrundsatz die Anwendbarkeit nationalen Rechts lediglich für Delikte ausdehnen, deren Schutzbereich typischerweise auf die Integrität des Tatortstaats begrenzt ist. Dort wo die Schutzmechanismen im Tatortstaat unzureichend sind, soll ein Staat sich bei Angriffen auf seine Rechtsgüter selbst verteidigen können56. Vom Anwendungsbereich des Schutzgrundsatzes erfasst sind daher primär Delikte wie die Vorbereitung eines Angriffskriegs oder der Hochverrat57. Würde man dazu übergehen, Korruptionsdelikte mithilfe der beiden oben angestellten Überlegungen miteinzubeziehen, würde die Anwendbarkeit des Schutzgrundsatzes uferlos werden. Seine Anwendbarkeit könnte gerade im unternehmerischen Kontext nahezu beliebig auf weitere Delikte ausgedehnt werden. c) Gebietsgrundsatz als zweifelhaftes Fundament Für ein Eingreifen des Gebietsgrundsatzes spricht auf den ersten Blick, dass ein Unternehmen auf britischem Boden immerhin Geschäfte oder Teile eines Geschäfts betreiben muss, um in den Anwendungsbereich des UK Bribery Act zu fallen. Allerdings müssen die Bestechungshandlung selbst und das Unterlassen ihrer Verhinderung ihrerseits keinerlei Bezug zu diesen geschäftlichen Aktivitä  Im Ergebnis ebenso Rotsch/Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 59.   Vgl. etwa Ambos (Fn. 15), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 35 f.; Böse (Fn. 14), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 19; ausführlich Jeßberger (Fn. 7), 257. 57   Eser/Weißer (Fn. 47), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 23. 55 56

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ten gerade im Vereinigten Königreich haben. Die eigentliche Tathandlung muss also keinen Bezug zu britischem Territorium aufweisen. Als Anknüpfungspunkt herhalten könnte der Gebietsgrundsatz daher allenfalls, wenn man berücksichtigt, dass es für dessen Eingreifen ausreichen soll, dass der zum Tatbestand gehörende Erfolg im Inland eingetreten ist und davon ausgeht, dass im Ausland verübte Korruptionstaten ihren Erfolg auch im Inland zeitigen. Zumindest in Deutschland ordnet man Korruptionsdelikte allerdings als abstrakte Gefährdungsdelikte ein, die keinen zum Tatbestand gehörenden Erfolg haben. Diese Sichtweise lässt sich zwar nicht ohne Weiteres auf das britische Recht übertragen58. Im Kern spricht aber doch viel dafür, Korruptionsdelikten von ihrer Natur her und damit länderübergreifend einen unmittelbar zum Tatbestand gehörenden Erfolg abzusprechen. Selbst wenn man das anders sieht oder es – in Anlehnung an das im Kartellrecht angewendete Auswirkungsprinzip (vgl. §  185 Abs.  2 GWB) – genügen lässt, dass sich die Korruptionstat im Inland auswirkt59, tut man sich ausgesprochen schwer, zu einer solch weitreichenden Strafgewalt zu gelangen, wie sie der UK Bribery Act vorsieht. Es bedarf einigen guten Willens anzunehmen, dass sich eine von einem ausländischen Unternehmen im Ausland begangene Korruptionstat und ein damit einhergehender Vorteil (auch) im Vereinigten Königreich zum Nachteil anderer redlicher Unternehmen in hinreichender Weise auswirken kann60. Und auch wenn man das bejaht, bleibt ein Einwand: Indem er seine Anwendbarkeit daran knüpft, dass ein Unternehmen im Vereinigten Königreich Geschäfte betreibt, statuiert der UK Bribery Act seine exterritoriale Reichweite streng genommen nicht tat-, sondern täterbezogen. Es kommt nicht darauf an, ob die Korruptionstat auf das Vereinigte Königreich ausstrahlt, sondern alleine darauf, dass das Unternehmen im Vereinigten Königreich Geschäfte betreibt61. Um auch diesen Einwand noch beiseite zu schieben, müsste man annehmen, der Gesetzgeber dürfe bei Auslandstaten pauschal unterstellen, dass sie sich im Inland auswirken, sofern ein Unternehmen dort geschäftlich vertreten ist. d) Zukünftige Einbeziehung in den Weltrechtsgrundsatz? Der naheliegende Versuch, die imperiale Bekämpfung von Korruption angesichts der Schwierigkeiten sonstige Anknüpfungspunkte zu finden, am Ende schlankerhand mithilfe des Weltrechtsgrundsatzes zu legitimieren, dürfte wohl ebenfalls zum Scheitern verurteilt sein. Jedenfalls derzeit ist man nämlich – soweit ersichtlich – nicht geneigt, Korruptionsdelikte darunter zu fassen. Vielmehr wird betont, dass der Weltrechtsgrundsatz naturgemäß auf einen kleinen Kreis   Vgl. auch Rotsch/Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 11.   So angedacht, im Ergebnis aber abgelehnt von Kappel/Lagodny (Fn. 31), 698 ff.; Rotsch/ Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 61. 60  Mit Blick auf das kartellrechtliche Auswirkungsprinzip ablehnend Kappel/Lagodny (Fn. 31), 699: unmittelbare und vorhersehbare Auswirkung erforderlich; lediglich potentielle Auswirkung genügt nicht. 61   Ähnliche Überlegungen bei Kappel/Lagodny (Fn. 31), 699. 58 59

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ausgewählter Straftaten wie Völkerrechtsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschränkt bleiben müsse62. Im Rahmen der Diskussion ist allerdings darauf hingewiesen worden, dass sich das ändern könnte. Und in der Tat lassen sich Gründe dafür finden, dass der Weltrechtsgrundsatz zukünftig auch für Korruptionsdelikte geöffnet werden könnte: Korruption wird weltweit mehr und mehr als nachhaltiges Übel verstanden und entsprechend global geächtet63. Zugleich zeigt sich, dass die Staaten, die ein hohes Niveau bei der Bekämpfung von Korruption vorzuweisen haben, schon heute ein nicht nur altruistisches, sondern auch ein – zukünftig wohl weiterwachsendes – Eigeninteresse daran haben, in anderen Ländern entsprechende Strukturen aufzubauen. Jedenfalls in Kombination miteinander könnten diese Gesichtspunkte mittelfristig der Sichtweise zum Durchbruch verhelfen, auch Korruptionsdelikte in den Weltrechtsgrundsatz einzubeziehen.

IV. Zusammenfassung und Ausblick Um Korruption erfolgreich einzudämmen, muss sie auch unternehmensbezogen bekämpft werden. Bei der Bekämpfung unternehmensbezogener Korruption bestehen beträchtliche Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen. Diese unterscheiden sich nicht nur konzeptionell, sondern auch inhaltlich. Während manche Länder keine konkreten Vorgaben dazu machen, wie Korruption unternehmensintern vorzubeugen ist und sich im Kern darauf beschränken, Unternehmen dann zu sanktionieren, wenn die Tathandlungen im Inland erfolgen, bestehen in anderen Ländern ausgesprochen detaillierte Vorgaben für Unternehmen, die auch dann zur Anwendung gelangen sollen, wenn es sich um Auslandstaten handelt. Veranschaulichen lässt sich das anhand eines Rechtsvergleichs von Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Ein Modell, das – wie der UK Bribery Act – Auslandstaten bereits dann erfassen soll, wenn ein Unternehmen Geschäfte im Inland betreibt und den Unternehmen detailliert vorschreibt, welche Maßnahmen sie zur Bekämpfung von Korruption bereithalten sollten, hat aus Sicht einer wirksamen Korruptionsbekämpfung die durchaus erstrebenswerte Folge, dass hohe Antikorruptionsstandards weltweite Geltung erlangen. Es zu legitimieren, bereitet jedoch große Schwierigkeiten. Am tragfähigsten dürfte derzeit der Territorialgrundsatz sein, wenn man annimmt und es genügen lässt, dass im Ausland verübte Korruptionsdelikte einen Erfolg (auch) im Inland zeitigen oder sich dort zumindest auswirken. Mittelfristig könnte darüber hinaus eine Ausweitung des Weltrechtsgrundsatzes zu verzeichnen sein.

62  Vertiefend Kappel/Lagodny (Fn. 31), 700; Rotsch/Wagner (Fn. 41), § 32 Rn. 60; (weitgehende) Auflistung erfasster Delikte bei Ambos (Fn. 15), Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 52 ff. 63   Vgl. bereits unter I.

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Der UK Bribery Act wurde von den zuständigen Behörden bislang nur zurückhaltend angewandt64. Es deutet sich aber an, dass die Verfolgung von Unternehmen nach dem UK Bribery Act zukünftig an Fahrt gewinnen dürfte65. Insoweit bleibt abzuwarten, mit welcher Konsequenz die zuständigen Behörden bereit sind, seine Anwendbarkeit auf Auslandstaten voll auszuschöpfen. Denkbar bleibt namentlich, dass sie prozessuale Möglichkeiten nutzen, um seine derzeit schwerlich zu rechtfertigende exterritoriale Erstreckung auf ein legitimierbares Maß zurückzuführen. Sollten die zuständigen Behörden von den Möglichkeiten prozessualer Ventile keinen Gebrauch machen, bliebe abzuwarten, auf welche Akzeptanz sie dabei bei den Unternehmen und Staaten stoßen, um deren Rechtshilfe sie ersuchen66. Bewährt sich der UK Bribery Act, ist jedenfalls anzunehmen, dass sein ebenso simples wie effektives Modell über kurz oder lang Nachahmer findet.

  Vgl. dazu Süße/Püschel (Fn. 28), 131 ff.   Vgl. abermals Süße/Püschel (Fn. 28), 131 ff. 66   Vgl. hierzu Kappel/Lagodny (Fn. 31), 701. 64 65

Prävention und Bewältigung von Korruption im ­internationalen Konzern. Eine Projektvorstellung Timo Junker & Rebekka Lucia Müller & Jonas C. Schulz*

I. Einführung Die Bekämpfung von Korruption hat in den letzten Jahren weltweit stark an Bedeutung gewonnen1. Motor hierfür waren neben einer Vielzahl internationaler Richtlinien und Übereinkommen wie etwa der UN-Konvention gegen Korruption2 oder dem OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung3 nationale Regelungen wie der US-amerikanische Foreign Corrupt Practice Act (FCPA) oder der UK Bribery Act. Die Haftungs- und Sanktionsregime in den verschiedenen Ländern eint, dass sie vermehrt nicht nur die unmittelbar handelnden natürlichen Personen in den Blick nehmen, sondern auch die Unternehmen als solche verpflichten, korrupten Praktiken ihrer Mitarbeiter vorzubeugen. Zugleich beanspruchen sie in zunehmender Weise exterritoriale Geltung. Bereits minimale Anknüpfungspunkte zu anderen Jurisdiktionen können deren Strafanspruch begründen. Ein Beispiel hierfür liefert der UK Bribery Act. Nach diesem können sich ausländische Unternehmen bereits dann strafbar machen, wenn sie im Vereinigten Königreich Geschäftstätigkeiten entfalten und Bestechungshandlungen durch assoziierte Personen nicht verhindern (Sec. 7)4. Dabei ist es unerheblich, in welchem Land die Bestechungshandlung oder das Unterlassen der Verhinderung stattgefunden hat (vgl. Sec. 12 [5])5. Demnach könnte ein deutsches Unternehmen durch ein britisches Gericht sanktioniert werden, wenn ein Mitarbeiter einen Amtsträger in Bulgarien besticht und das deutsche Unternehmen zumindest einmal einen Kunden in Großbritannien hatte6. *   Die Verfasser danken den Herausgebern für die freundliche Aufnahme des Beitrags in den Sammelband und Herrn Dr. Philipp Maximilian Holle für den gewinnbringenden Austausch bei der Erstellung des Manuskripts. 1   Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung Kubiciel, ZStW 120 (2008), 429 ff. 2   The United Nations Convention against Corruption, abrufbar unter: http://www.unodc. org/unodc/de/treaties/CAC/ . 3   OECD Convention on Combating Bribery of Foreign Public Officials in International Business Transactions, abrufbar unter: http://www.oecd.org/daf/anti-bribery/oecdantibriberyconvention.htm . 4   Hugger/Röhrich, BB 2010, 2643 (2646); vgl. auch Rönnau, in: Achenbach/Ransiek/Rönnau (Hrsg.), Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 5. Aufl. 2019, 391: „im Zweifel schon bei geringen geschäftlichen Berührungen“ anwendbar. 5   Süße/Püschel, CCZ 2016, 131 (132). 6   Beispiel bei Hugger/Röhrich (Fn. 4), 2646 f.

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Timo Junker & Rebekka Lucia Müller & Jonas C. Schulz*

Für international agierende Unternehmen ist diese Ausgangslage herausfordernd, da zwischen den nationalen Rechtsordnungen zumeist keine wechselseitigen Kollisions- und Bindungsregelungen bestehen7. Unternehmen haben also nicht nur die nationalen Vorgaben eines Landes zu beachten, sondern sind durch ihre Geschäftstätigkeit in verschiedenen Teilen der Welt einer Vielzahl verschiedener Anti-Korruptionsvorschriften ausgesetzt. Selbst eine Verlagerung einzelner Länderaktivitäten auf rechtlich selbständige Tochtergesellschaften schafft zumeist keine Abhilfe, da die sanktionsrechtliche Verantwortlichkeit zunehmend konzernweit verstanden wird. So würde es im obigen Beispiel nichts an der Verantwortlichkeit des deutschen Unternehmens ändern, wenn der Amtsträger von einem Mitarbeiter einer deutschen oder ausländischen Tochtergesellschaft bestochen wurde, sofern die Bestechung nur auch dazu diente, der Muttergesellschaft Aufträge oder Geschäftsvorteile zukommen zu lassen oder zu sichern (vgl. Sec. 7 [1], 8 [3] UK Bribery Act)8. Zusätzlich verschärft wird die Problematik für Unternehmen dadurch, dass die einschlägigen Normen weit und unbestimmt gefasst sind und den Behörden trotz teilweise vorhandener Auslegungsleitlinien9 ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt wird. Es ist für die Unternehmen daher zumeist schwierig, die behördliche Praxis vorherzusehen und sich darauf einzustellen. Ein an den Universitäten Augsburg, Bonn und Hamburg angesiedeltes Forschungsprojekt hat sich nunmehr zum Ziel gesetzt, die skizzierte Problematik grundlegend rechtlich und rechtstatsächlich aufzuarbeiten10. Gedanklicher Ausgangspunkt des Forschungsprojekts ist, dass sich die Korruptionsverhinderungsbemühungen von Unternehmen in eine Präventionsphase, eine unternehmensinterne Anfangsverdachtsphase und eine behördliche Aufklärungs- und Sanktionierungsphase einteilen lassen und sich die unterschiedlichen Legalitätserwartungen verschiedener Jurisdiktionen in all diesen drei Phasen auswirken. Ausgehend hiervon werden zwei Ziele verfolgt: Erstens sollen Handlungsstrategien entwickelt werden, wie Unternehmen mit den verschiedenartigen Anforderungen in allen drei Phasen umgehen können. Zweitens sollen aus rechtspolitischer Perspektive die Möglichkeiten und Grenzen einer rechtlichen Harmonisierung ausgelotet werden. Insbesondere soll untersucht werden, ob und in welchem Umfang gesetzliche Vorgaben sinnvoll wären, um einerseits die Verfolgung internationaler Korruption möglichst effektiv und effizient zu gestalten und andererseits unangemessene Konfliktlagen für Unternehmen zu vermeiden. Der folgende Beitrag möchte in die Problematik einführen (II.) und einen Überblick über den dem Projekt zugrundeliegenden Forschungsansatz geben (III.).

  Vgl. unten II.2.  Eingehend Ibes, Zentrale vs. Dezentrale Konzerncompliance, 2016, 122 f. 9   So hat das britische Ministry of Justice z.B. gem. Sec. 9 [1] UK Bribery Act Richtlinien zur Vermeidung einer Verantwortlichkeit nach Sec. 7 [1] erlassen, vgl. dazu Engelhart, ZStW 128 (2016), 882 (907). 10  Forschungsprojekt „Prävention und Bewältigung von Korruption im internationalen Konzern“, gefördert durch den KBA-NotaSys Integrity Fund (Lausanne/Schweiz). 7 8

Prävention und Bewältigung von Korruption im ­internationalen Konzern

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II. Prävention und Bewältigung von Korruption als Problem für internationale Konzerne 1. Präventionsphase a) Unterschiede auf Tatbestandsebene Mit Blick auf die Frage, wie sie Korruption vorbeugen, stehen Unternehmen zunächst vor der Herausforderung, dass schon kein einheitlicher Standard in Bezug darauf existiert, welche Handlungen als Korruption gelten. Um Haftungsrisiken zu minimieren, drängt es sich daher auf, den strengsten Standard11 einzuhalten. Hier kann es allerdings schon erhebliche Schwierigkeiten bereiten, anhand der Reichweite der Tatbestände und der vorgesehenen Rechtsfolgen zu ermitteln, welche Rechtsordnung unter dem Strich den strengsten Standard vorweist. Das gilt umso mehr als dasjenige Recht, das auf dem Papier den strengsten Standard aufweist, nicht notwendigerweise auch in der realen Anwendung den strengsten Standard setzt. Vielmehr kann das gelebte Recht, das sogenannte law in action, insbesondere aufgrund eines fehlenden Legalitätsprinzips weit hinter dem sogenannten law in the books zurückbleiben. Darüber hinaus gilt es zu erkennen, dass eine bloße Orientierung am strengsten geschriebenen Recht dazu führen könnte, dass die Geschäftstätigkeit in bestimmten Rechtsordnungen übermäßig erschwert wird oder gar ganz zum Erliegen kommt. So stuft etwa der UK Bribery Act sogenannte facilitation payments12 als grundsätzlich strafbare Auslandsbestechung ein13, während das US-amerikanische (vgl. 15 U.S.C.A. § 78 dd-1–3 [b]) und das deutsche Recht in diesen kein sanktionswürdiges Verhalten sehen14. In einzelnen korruptionsanfälligen Ländern sind hingegen selbst facilitation payments an inländische Amtsträger trotz Strafbarkeit üblich und werden jedenfalls innerhalb dieser Jurisdik-

11  Wobei allerdings schon die Bedeutung des Begriffs „Standard“ klärungsbedürftig ist. Unter der Bestimmung eines (Rechts-)Standards kann sowohl der punktuelle Vergleich von für die Beurteilung einer einzelnen Sachfrage relevanten Normen, wie auch eine Analyse von Vorschriften in zusammengehörigen Sachbereichen oder gar ein pauschalierender Gesamtvergleich von Rechtsordnungen verstanden werden. 12   Darunter versteht man Zahlungen an Amtsträger für Diensthandlungen, auf die das Unternehmen einen Anspruch hat und deren Vornahme durch die Zahlung lediglich beschleunigt werden soll, vgl. Teicke/Mohsseni, BB 2012, 911. 13   Teicke/Mohsseni (Fn. 12), 911 (914). 14  Im deutschen Recht argumentiert man, dass mit facilitation payments pflichtgemäße Diensthandlungen bezweckt würden, die Strafbarkeit gem. §  334 Abs.  1 S.  1 i.V.m. §  335a Abs. 1 Nr. 2 lit. a dStGB (deutsches Strafgesetzbuch) aber voraussetzt, dass eine pflichtwidrige Diensthandlung bezweckt wird. Es kommt daher von vornherein lediglich der Tatbestand der Vorteilsgewährung gem. §  331 Abs.  1 dStGB in Betracht. Da §  335a Abs.  1 dStGB aber auf diesen nicht verweist, ist die Vorteilsgewährung an Bedienstete und Beauftragte ausländischer Staaten straflos, vgl. dazu auch Hoven, in: Busch/Hoven/Pieth/Rübenstahl (Hrsg.), Handbuch: Antikorruptions-Compliance, 2020, 209.

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tionen faktisch nicht geahndet15. Ausländische Unternehmen können daher dort zur Abwicklung ihrer Geschäfte auf derartige Zahlungen angewiesen sein16. Bei Einhaltung etwa des UK Bribery Acts wären sie jedoch gezwungen, solche Zahlungen zu unterlassen. b) Folgen für die Anti-Korruptionscompliance Die nächste Herausforderung in der Präventionsphase liegt darin, dass auch kein einheitlicher Standard in Bezug darauf existiert, was von Unternehmen verlangt wird, um verbotenen Handlungsweisen von Mitarbeitern vorzubeugen. Manche Staaten wie Deutschland17, Österreich18 oder die Schweiz19 überlassen den Unternehmen einen erheblichen Spielraum dahingehend, in welchem Umfang und auf welche Weise das Compliance-System eingerichtet werden soll. Andere Staaten halten dagegen detaillierte organisatorische Vorgaben bereit. In den USA etwa statuieren das U.S. Justice Manual20 und die Sentencing Guidelines21 Anforderungen an ein effektives Compliance-System. Für Unternehmen ist es auch in diesem Punkt nicht zwangsläufig am sinnvollsten, sich am strengsten Pflichtenmaßstab zu orientieren. Ferner stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das eigene Compliance-Management-System von der Konzernzentrale aus verwaltet und durchgesetzt werden kann und sollte oder ob es sinnvoller ist, die Compliance dezentral bei den regionalen Tochterunternehmen zu organisieren22. Für eine dezentrale Organisation der Compliance spricht gemeinhin die größere Sachnähe der Verantwortlichen vor Ort. Ob der Exterritorialität einzelner Rechtsordnungen birgt ein solches Vorgehen aber die Gefahr, dass einzelne Sanktionsdrohungen von den Verantwortlichen vor Ort nicht gesehen oder zumindest nicht hinreichend gewürdigt werden. 15   So sind facilitation payments in Russland zwar vom Tatbestand der Bestechung eines inländischen Amtsträgers erfasst, vgl. Schwarz/Malevanny, CB 2015, 50 (51). Gleichwohl war diese Form der Korruption in der Vergangenheit dort besonders verbreitet, vgl. hierzu Horrer, Bestechung durch deutsche Unternehmen im Ausland, 2011, 183; gleichzeitig wurde Berichten aus der Praxis zufolge in Russland im Jahr 2018 nur ein ausländisches Unternehmen wegen Bestechung bestraft (vgl. https://www.noerr.com/de/newsroom/news/compliance-in-russlanddas-wichtigste-im-jahr-2019 ). 16   Dorschfeldt, Strafbarkeit von Facilitation Payments, 2016, 45. 17  Vgl. Rogall, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 5. Aufl. 2018, § 130 Rn. 58, nach dem „das Pflichtenportfolio des Inhabers oder der von ihm beauftragten Aufsichtspersonen je nach Sachlage unterschiedliche Maßnahmen umfassen kann“. 18  Vgl. Soyer/Schumann, wistra 2018, 321 (324), nach denen sich im Hinblick auf das österreichische Verbandsverantwortlichkeitsgesetz das „Problem der heranzuziehenden Compliance-Standards“ stellt. 19   Auch Art. 102 Schweizerisches StGB statuiert keine konkreten Vorgaben. Allerdings hat das Bundesgericht im Hinblick auf die strafrechtliche Geschäftsherrenhaftung Compliance-Prinzipien entwickelt, die auch für die Vermeidung einer Unternehmensstrafbarkeit Bedeutung erlangen sollen (vgl. Hahn, in: Inderst/Bannenberg/Poppe (Hrsg.), Compliance, 3. Aufl. 2017, 83). 20  Abrufbar unter: https://www.justice.gov/jm/justice-manual : 9-28.300 Nr. 5 i.V.m. 9-28-800 sowie 9-47.120 3 c. 21   Abrufbar unter: https://www.ussc.gov/guidelines/2018-guidelines-manual-annotated : U.S.S.G. § 8B2.1. 22   Vgl. im Hinblick auf die faktisch abhängige AG Ibes (Fn. 8), passim.

Prävention und Bewältigung von Korruption im ­internationalen Konzern

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2. Anfangsverdachtsphase a) Unterschiedliche Standards im Hinblick auf Selbstanzeigen Gibt es erste Anhaltspunkte auf Korruptionspraktiken, müssen Unternehmen erwägen, ob sie die Korruptionsvorwürfe rein unternehmensintern bewältigen oder ob sie frühzeitig den Weg der Kooperation mit den Verfolgungsbehörden einschlagen. Letzteres kann insbesondere durch eine Selbstanzeige geschehen. Eine solche beruht auf der Erwartung, dass sie bei einer späteren Sanktionierung mildernd berücksichtigt wird23. Eine solche Prämierung ist jedoch keineswegs zwingend, sondern liegt in der Regel im Ermessen der Behörden24. In manchen Rechtsordnungen wie der US-amerikanischen wird dieses Ermessen allerdings durch Richtlinien erheblich reduziert25. In anderen Rechtsordnungen wie in Deutschland ist ein solcher „Bußgeldbonus“ nach einer Selbstanzeige hingegen weder gesetzlich geregelt, noch ist nach der bisherigen behördlichen Praxis damit zwingend zu rechnen26. Als misslich erweist sich aber vor allem, dass eine Selbstanzeige in einer Jurisdiktion regelmäßig andere Jurisdiktionen auf den Sachverhalt aufmerksam macht27, das Unternehmen ob des Fehlens von Kollisions- und Bindungsregelungen aber keinerlei Gewähr dafür hat, dass ihm die Selbstanzeige dort genauso zugutekommt. Keine Hilfe verspricht jedenfalls der Rechtsgrundsatz ne bis in idem. Denn er ist völkerrechtlich nach wie vor nicht anerkannt28, sodass außerhalb harmonisierter Rechtsräume29 zusätzliche Sanktionierungen durch andere Rechtsordnungen möglich bleiben30. b) Problematik zivilrechtlicher Prozesse Weiter verschärft wird die Problematik dadurch, dass eine Selbstanzeige den Korruptionsverstoß jedenfalls langfristig der Öffentlichkeit bekannt machen kann. Unternehmen müssen daher einkalkulieren, dass eine Selbstanzeige je nach 23   Hüffer/Koch, AktG, 14. Aufl. 2020, § 76 Rn. 16c; allgemein zur Kooperation mit Behörden Hugger, ZHR 179 (2015), 214, (222 f.). 24  Vgl. Feil, Die Selbstanzeige von Unternehmensdelinquenz, 2020, 261. 25   Vgl. 9-47.120 – FCPA Corporate Enforcement Policy, abrufbar unter: https://www.justice. gov/criminal-fraud/file/838416/download . Für eine Sanktionsmilderung ist es etwa erforderlich, dass die Selbstanzeige kurze Zeit nach Kenntniserlangung von dem Verstoß gemacht wird („Within a reasonably prompt time after becoming aware of the offense“) und alle relevanten Fakten offengelegt werden („all relevant facts known to it, including all relevant facts about all individuals substantially involved in or responsible for the violation of law“). 26  Vgl. Waltenberg, wistra 2018, 191 (193, 199). 27  Nach Wessing, in: Wessing/Dann, Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, 2013, § 6 Rn. 11 werden Verfahren in den USA, die deutsche Unternehmen betreffen, der deutschen Staatsanwaltschaft fast immer im Wege der Rechtshilfe oder durch die internationale Presse bekannt. 28   Ambos, Internationales Strafrecht, 5. Aufl. 2018, 86 f.; vgl. zu einer sich abzeichnenden Trendwende jedoch Sandrock, ZVglRWiss 115 (2016), 1 (83). 29   Vgl. für die EU z.B. Art. 54 SDÜ und Art. 50 GRCh. 30   Vgl. zum Ganzen Kappel/Ehling, BB 2011, 2115 ff.

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Regelungsumfeld auch Vertragspartner, Kapitalanleger oder deliktische Gläubiger dazu veranlassen kann, Schadensersatzansprüche in eigenen zivilrechtlichen Verfahren oder in einem Adhäsionsverfahren geltend zu machen31. Auf diesem Wege kann der von der Selbstanzeige erhoffte Vermögensvorteil durch anderweitige mit dem Korruptionsverstoß zusammenhängende Vermögensnachteile wieder verloren gehen, sodass eine Selbstanzeige weniger attraktiv wird. 3. Behördliche Aufklärungs- und Sanktionierungsphase a) Unterschiedliche Standards Haben Verfolgungsbehörden Kenntnis von einem transnationalen Korruptionsverdacht, bringen die Ermittlungen in einem internationalen Handlungsumfeld besondere Schwierigkeiten mit sich32. Ist ein Unternehmen nicht vollauf geständig, sind die Verfolgungsbehörden regelmäßig auf eine Zusammenarbeit mit den Behörden anderer Jurisdiktionen angewiesen33. Gerade mit Ländern, in denen Korruption besonders verbreitet ist, findet ein Rechtshilfeverkehr vielfach aber allenfalls auf vertragsloser Basis oder gar nicht statt34. Selbst Rechtshilfeersuchen an Länder, mit denen ein Rechtshilfeübereinkommen besteht, erschweren in der Regel die Durchführung eines Ermittlungsverfahrens35. Die Unternehmen wiederum tun sich regelmäßig schwer damit, aktiv an der Aufarbeitung mitzuwirken. Denn auch insoweit fehlt es an einem einheitlichen Standard, an dem sie ihre Bemühungen ausrichten können. So versprechen zwar manche Rechtsordnungen bei einer umfänglichen Kooperation durchaus erhebliche Sanktionierungsmilderungen. Beispielsweise empfiehlt das Department of Justice in den USA eine Sanktionsmilderung von bis zu 25 Prozent, wenn das Unternehmen zuvor zwar keine Selbstanzeige erstattet hat, aber im Rahmen der Ermittlungen vollumfänglich kooperiert36. In anderen Staaten ist aber zumindest fraglich, ob eine Kooperation mit den Behörden bei der Bemessung der Sanktion überhaupt erkennbar honoriert wird37. Insoweit besteht für Unternehmen 31   In Deutschland ist die Möglichkeit einer Geltendmachung von zivilrechtlichen Ansprüchen unmittelbar in einem Strafprozess zwar in den §§ 403 ff. StPO vorgesehen, jedoch schließt § 46 Abs. 3 Satz 4 OWiG die Anwendung dieser Norm für das Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen Unternehmen aus. § 51 Abs. 2 VerSanG-E (vgl. den Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft (Reg-E), S. 100, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Gesetzgebungsverfahren/DE/Staerkung_Integritaet_Wirtschaft.html ) sah hingegen vor, dass die Verletztenvorschriften und somit auch das Adhäsionsverfahren in einem Prozess gegen den Verband Anwendung finden. Dieser Entwurf ist jedoch mit Ablauf der Wahlperiode des 19. Deutschen Bundestages der Diskontinuität anheimgefahren. 32   Loer, in: Wessing/Dann (Hrsg.), Deutsch-Amerikanische Korruptionsverfahren, 2013, § 10 Rn. 85. 33   Vgl. allerdings Loer (Fn. 32), § 10 Rn. 32, nach dem sich eine gemeinsame Zusammenarbeit in der Praxis nur unter wenigen Staaten koordinieren lässt. 34   Loer (Fn. 32), § 10 Rn. 25. 35   Loer (Fn. 32), § 10 Rn. 26. 36   Vgl. 9-47.120 – FCPA Corporate Enforcement Policy (Fn. 25). 37   Vgl. zur derzeit uneinheitlichen Haltung der Staatsanwaltschaften in Deutschland Nolte/ Noll, KSzW 2016, 261 (292); die Ergebnisse einer empirischen Studie diesbezüglich finden sich bei Theile/Gatter/Wiesenack, ZStW 126 (2014), 803 (814).

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stets die Gefahr, dass ihnen der Nutzen der Kooperation mit einer Jurisdiktion wieder dadurch zunichtegemacht wird, dass eine andere Jurisdiktion – sei es im Wege zwischenstaatlicher Kooperation, sei es im Wege einer Beschlagnahme interner Dokumente – hiervon profitiert, sie aber nicht honoriert. Selbst in Bezug auf diejenigen Jurisdiktionen, bei denen eine Mitwirkung bei der Aufarbeitung mehr oder minder stark honoriert wird, setzt sich das Fehlen einheitlicher Standards dann zumindest insoweit fort, als keine einheitlichen Maßstäbe in Bezug auf die Art und Weise der Mitwirkung bestehen. Die vielbeschworene Internal Investigation ist nicht in dem Sinne internationalisiert, dass die Anforderungen an eine sanktionsmildernde Aufklärung in den unterschiedlichen Jurisdiktionen einheitlich geregelt sind. Führt ein Unternehmen eine Internal Investigation nach den Grundsätzen einer Jurisdiktion durch, kann das seine Sanktion in dieser Jurisdiktion mindern. In einer anderen Jurisdiktion kann die Minderung ausbleiben, weil die durchgeführte Internal Investigation nicht den dortigen Standards entspricht. Eine dritte Jurisdiktion kann die Ergebnisse – mittels zwischenstaatlicher Kooperation oder Beschlagnahme – verwerten, eine Minderung jedoch überhaupt nicht vorsehen. b) Problematik zivilrechtlicher Prozesse Überdies müssen Unternehmen auch in der behördlichen Aufarbeitungs- und Sanktionierungsphase stets die Gefahr im Blick behalten, die von möglichen zivilen Klägern ausgeht. Bei der Durchführung interner Ermittlungen müssen sie bedenken, dass die hierbei gewonnenen Erkenntnisse nicht zwangsläufig gegen den zumindest langfristigen Zugriff von Privatklägern geschützt sind. Dort, wo derartige Sicherungen gegeben sind, müssen deren mitunter erheblich voneinander abweichende Voraussetzungen gewahrt werden. Nach US-amerikanischem Recht beispielsweise werden die Ermittlungsergebnisse von Internal Investigations grundsätzlich durch das Attorney-Client-Privilege und die Work-ProductDoctrine vor dem Zugriff Dritter geschützt38. Das englische Recht kennt mit dem Legal Advice Privilege, dem Litigation Privilege und dem Lawyers’ Working Papers Privilege ähnliche Schutzinstrumente, deren Reichweite sich vom US-Recht jedoch unterscheidet39. Namentlich die freiwillige Weitergabe von Dokumenten an Strafverfolgungsbehörden gilt im US-amerikanischen Recht in der Regel als umfassender Verzicht auf das Privilege, während im englischen Recht eine beschränkte Weitergabe an Strafverfolgungsbehörden (Selective Waiver40) möglich ist, ohne dass das Unternehmen den Schutz in Zivilprozessen verliert41. Was schließlich das Ergebnis der behördlichen Aufarbeitung und Sanktionierung betrifft, so müssen Unternehmen bedenken, dass Strafurteile in einzelnen Rechtsordnungen eine Bindungswirkung für zivilrechtliche Verfah  Nietsch, CCZ 2019, 49 (58).   Nietsch (Fn. 38), 49 (55).   Vgl. British Coal Corporation v. Dennis Rye Ltd. [1988] 1 W.L.R. 1113 (1121); Pike, 4 Loy. U. Chi. Int’l L. Rev. (2006), 51 (83). 41   Michaelis/Krause, CCZ 2020, 343 (346 f.). 38 39 40

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ren erzeugen42. Hinzu kommt, dass einzelne Rechtsordnungen im Falle einer Sanktionierung eine öffentliche Bekanntmachung der Sanktion oder einen Ausschluss von Vergabeverfahren vorsehen43.

III. Projektziele, methodische Herangehensweise und Forschungsstand 1. Strafrechtlicher Zugang Um die eingangs genannten Projektziele zu erreichen, soll die dargelegte Ausgangslage durch das Forschungsprojekt zum einen auf interdisziplinärer Grundlage straf- und gesellschaftsrechtlich umfassend ausgeleuchtet und zum anderen mithilfe einer empirischen Studie rechtstatsächlich aufgearbeitet werden44. Dabei ist davon auszugehen, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht nur für den Bereich der Korruptionsdelikte aufschlussreich sein werden. Das Grundproblem der parallelen Anwendbarkeit von divergierenden nationalen Rechtsstandards auf grenzüberschreitende Sachverhalte stellt sich auch in anderen Rechtsgebieten wie dem Kartellrecht45, dem Urheberrecht46, dem Datenschutzrecht47 und dem Arbeitsrecht48. Im Rahmen des strafrechtlichen Zugangs soll im Wege einer rechtsvergleichenden Analyse untersucht werden, wie verschiedene Rechtsordnungen mit Korruptionskriminalität in internationalen Konzernen umgehen. Dabei soll die abstrakte Darstellung des Rechtsstoffs durch fiktive49 Korruptionsfälle ergänzt werden50, die anhand der jeweiligen Vergleichsrechtsordnung bearbeitet werden51. Die Analyse nimmt dabei den gesetzlichen Regelungsrahmen als

42   So z.B. grds. in Frankreich durch das Prinzip „autorité de la chose jugée au pénal sur le civil“, vgl. Stegmair, Die Auswirkungen des Strafprozesses auf den Zivilprozess in Deutschland und Frankreich, 2015, 118 ff. 43   Ein Beispiel hierfür ist in Deutschland das Wettbewerbsregister, welches im März 2021 in Betrieb genommen wurde und vom Bundeskartellamt geführt wird. Bei einem Korruptionsverstoß liegt nach §  123 Abs.  1 Nr.  6–9 GWB ein zwingender Ausschlussgrund von einem öffentlichen Vergabeverfahren vor. 44   Vgl. auch die Ausführungen unter I. 45  Vgl. Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Aufl. 2014, § 7 Rn. 38 ff.; Wiedemann, in: ders. (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 3. Aufl. 2016, § 5 Rn. 90. 46  Vgl. Drexl, in: MüKo BGB, Band 12, 7. Aufl. 2018, Teil 8 Rn. 340 f. 47  Vgl. Steidle, in: Jandt/Steidle (Hrsg.), Datenschutz im Internet, 2018, Teil B. III. Rn. 72 ff. 48  Vgl. Oetker, in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 4.  Aufl. 2018, Band 1, §  13 Rn. 30 f. 49   Dieser Ansatz bietet sich an, weil sich tatsächliche Fälle zumindest in Nuancen unterscheiden (vgl. Perron, in: Eser/Perron (Hrsg.), Strukturvergleich strafrechtlicher Verantwortlichkeit und Sanktionierung in Europa, 2015, 27 (35); Ambos, RW 2017, 247 (266 Fn. 122)). 50   Vgl. zur Methode Engelhart, Sanktionierung von Unternehmen und Compliance, 2. Aufl. 2012, 22. 51   Vgl. allgemein zur sog. „fallbasierten Rechtsvergleichung“ Jung, JuS 1998, 1 (3); Perron, ZStW 109 (1997), 281 (291); Eser, in: Eser/Perron (Hrsg.), (Fn. 49), 929 (982).

Prävention und Bewältigung von Korruption im ­internationalen Konzern

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Ausgangspunkt52, soll aber – soweit möglich – unter Zuhilfenahme empirischen Forschungsmaterials auch die behördliche Praxis abbilden. Ziel ist es, über die Analyse der verschiedenen Anti-Korruptionsvorschriften hinaus, den Umgang mit Korruptionssachverhalten in der Präventions-, Anfangsverdachts- sowie behördlichen Aufklärungs- und Sanktionierungsphase herauszuarbeiten53. Dies dient der Identifikation von Unterschieden, Schnittbereichen und Mindeststandards in allen drei Phasen der Anti-Korruptionscompliance und der Bildung von Clustern unterschiedlicher Anti-Korruptionsstrategien. Neben den Rechtsordnungen Deutschlands und der Schweiz sollen vor allem – wegen der weitreichenden exterritorialen Anwendbarkeit der jeweiligen Anti-Korruptionsstrafgesetze – die USA und das Vereinigte Königreich in den Rechtsvergleich einbezogen werden. Darüber hinaus wird der Blick auf Brasilien, Frankreich, Österreich und Spanien gerichtet. 2. Gesellschaftsrechtlicher Zugang Der gesellschaftsrechtliche Zugang zum Forschungsfeld soll klären, wie Unternehmen und die für sie verantwortlich Handelnden mit der vorgefundenen Ausgangslage in allen drei Phasen der Anti-Korruptionscompliance gesellschaftsrechtlich umzugehen haben. Es gilt zunächst zu klären, inwiefern das Leitungsorgan auch im Innenverhältnis dazu verpflichtet ist, ausländische Rechtsordnungen einzuhalten und diese Gesetze im Unternehmen bzw. im Falle einer Konzernstruktur bei den Tochtergesellschaften durchzusetzen. Insoweit kann noch auf einen recht weit fortentwickelten Forschungsstand zurückgegriffen werden54. Weitaus weniger ausgeleuchtet ist die Rechtslage allerdings hinsichtlich der Frage, wie gesellschaftsrechtlich mit den unterschiedlichen Anforderungen umzugehen ist. Der Schwerpunkt der Überlegungen soll dann aber auf der Frage liegen, wie Konzerne im Raum stehende Korruptionspraktiken sinnvoll in der zweiten und dritten Phase bewältigen können. Es soll die bestehende Pflichtenlage aufgezeigt und untersucht werden, wie die Leitungsorgane in dieser komplexen Gemengelage eine pflichtgemäße Entscheidung treffen können. 3. Kriminologisch-rechtstatsächlicher Zugang Da die skizzierten Herausforderungen die Praxis seit längerer Zeit beschäftigen, drängt es sich für das Projekt auf, in einem dritten, kriminologisch-rechtstatsächlichen Zugang, gezielt auch auf das dort vorhandene Erfahrungswissen zurückzugreifen. Insofern betritt das Projekt Neuland. Bislang existiert nämlich – soweit ersichtlich – noch keine empirische Studie, die sich explizit mit der Frage befasst, wie Behörden und Unternehmen mit dem Umstand umgehen, dass die 52  Vgl. Sieber, in: Sieber/Albrecht (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, 2005, 78 (118). 53  Ähnlich Eser (Fn. 49), 982. 54   Vgl. m.w.N. Hüffer/Koch (Fn. 23), § 76 Rn. 13 ff.; § 93 Rn. 6 ff.

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Rechtsordnungen voneinander abweichende sanktionsrechtliche Präventionsund Bewältigungsnormen bereithalten55. Um zu ermitteln, wie die Praxis mit Konflikten umgeht, die durch abweichende Anti-Korruptionsstandards ausgelöst werden und welche Lösungsstrategien sie für diese Problemlagen entwickelt hat, ist eine Befragung von Verantwortlichen führender deutscher und schweizerischer Großunternehmen, von besonders erfahrenen Anwälten, die seit langem Unternehmen in Compliance-Fragen beraten sowie von Personen geplant, die im Rahmen ihrer Tätigkeit in Verfolgungsbehörden mit internationalen Korruptionssachverhalten befasst waren. Von all diesen Personen verspricht sich das Projekt Erkenntnisse, die durch eine rein rechtsnormative Betrachtung nicht erlangt werden könnten. Methodisch gesehen wird die Befragung angesichts der in weiten Teilen nicht bekannten Rechtspraxis explorativ ausgerichtet; die Fragestellungen an die Interviewpartner werden weitgehend offen gestaltet. Insgesamt sind 20 leitfadengestützte und semistrukturierte Experteninterviews geplant. Davon sollen acht Interviews mit repräsentativ ausgewählten Behördenverantwortlichen sowie 12 Interviews mit Unternehmensverantwortlichen und Rechtsberatern geführt werden. Die Interviews beschränken sich dabei auf den deutschen und schweizerischen Raum.

55   Das Gros der vorhandenen Studien befasst sich im Kern mit der Evaluation bereits implementierter Compliance-Programme oder einzelner Bestandteile derselben; vgl. bspw. Bussmann/Selzer/Grüner, in: Boers/Schaerff (Hrsg.), Kriminologische Welt in Bewegung, Neue Kriminologische Schriftenreihe der Kriminologischen Gesellschaft e.V. Band 117, 2018, 243 ff.; Bussmann/Niemeczek/Vockrodt, MschKrim 2016, 23 ff.; Valentine/Nam/Hollingworth/Hall, Journal of Business Ethics 2014, 509 ff.

Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen (mit deutscher Übersetzung)1

I. Brasilianisches Strafgesetzbuch vom 7. Dezember 19402 Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Concussão

Vorteilsannahme

Art. 316

Art. 316

Exigir, para si ou para outrem, direta ou indiretamente, ainda que fora da função ou antes de assumi-la, mas em razão dela, vantagem indevida:

Fordert jemand für sich oder jemand anderen unmittelbar oder mittelbar, noch außerhalb der Amtsausübung oder bevor sie übernommen wird, aber aufgrund dessen, einen unangemessenen Vorteil:

Pena – reclusão, de 2 (dois) a 12 (doze) anos, e multa. (Redação dada pela Lei nº 13.964, de 2019)

Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 12 (zwölf) Jahren und Geldstrafe. (…)

[…]

[…]

§ 1º – Se o funcionário exige tributo ou contribuição social que sabe ou deveria saber indevido, ou, quando devido, emprega na cobrança meio vexatório ou gravoso, que a lei não autoriza: (Redação dada pela Lei nº 8.137, de 27.12.1990)

Absatz 1 – Wenn ein Amtsträger Steuern oder eine Sozialabgabe fordert und weiß oder wissen sollte, dass diese unangemessen ist, oder wenn diese angemessen ist, ein schwerwiegendes oder belästigendes Mittel auf die Forderung anwendet, die das Gesetz nicht zulässt: (…)

Pena – reclusão, de 3 (três) a 8 (oito) anos, e multa. (Redação dada pela Lei nº 8.137, de 27.12.1990) § 2º – Se o funcionário desvia, em proveito próprio ou de outrem, o que recebeu indevidamente para recolher aos cofres públicos: Pena – reclusão, de dois a doze anos, e multa.

1 2

Strafe – Freiheitsstrafe von 3 (drei) bis 8 (acht) Jahren und Geldstrafe. (…) Absatz 2 – Wenn ein Amtsträger das, was er widerrechtlich für den Einzug der öffentlichen Kassen erhalten hat, zu seinem eigenen Nutzen, oder des eines anderen umleitet: Strafe – Freiheitsstrafe von zwei bis zwölf Jahren und Geldstrafe.

  Übersetzung der Vorschriften aus dem Portugiesischen durch Diana Cardeira Trindade.   Decreto-Lei No 2.848, de 7 de Dezembro de 1940.

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Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Corrupção passiva

Passive Korruption

Art. 317

Art. 317

Solicitar ou receber, para si ou para outrem, direta ou indiretamente, ainda que fora da função ou antes de assumi-la, mas em razão dela, vantagem indevida, ou aceitar promessa de tal vantagem:

Fordert oder erhält jemand für sich oder jemand anderen unmittelbar oder mittelbar, noch außerhalb der Amtsausübung oder bevor sie übernommen wird, aber aufgrund dessen, einen unangemessenen Vorteil oder nimmt ein Versprechen eines solchen Vorteils an:

Pena – reclusão, de 2 (dois) a 12 (doze) anos, e multa. (Redação dada pela Lei nº 10.763, de 12.11.2003) § 1º – A pena é aumentada de um terço, se, em conseqüência da vantagem ou promessa, o funcionário retarda ou deixa de praticar qualquer ato de ofício ou o pratica infringindo dever funcional. § 2º – Se o funcionário pratica, deixa de praticar ou retarda ato de ofício, com infração de dever funcional, cedendo a pedido ou influência de outrem: Pena – detenção, de três meses a um ano, ou multa.

Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 12 (zwölf) Jahren und Geldstrafe. (…) Absatz 1 – Die Strafe wird um ein Drittel erhöht, wenn der Amtsträger aufgrund des Vorteils oder des Versprechens jegliche Amtshandlung verzögert oder unterlässt, oder sie unter Verletzung der Amtspflicht ausführt. Absatz 2 – Wenn der Amtsträger die Amtshandlung unter Verletzung der Amtspflicht ausführt, unterlässt oder verzögert, indem er der Bitte oder dem Einfluss eines anderen nachgibt: Strafe – Haftstrafe3, von drei Monaten bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.

3   Detenção ist nicht mit einer Freiheitsstrafe (Reclusão) gleichzusetzen. Der Täter verbüßt einen Teil seiner Strafe an anderen Orten wie z.B. in einer landwirtschaftlichen oder indus­ triellen Siedlung. Es handelt sich hierbei um eine Strafe, die bei weniger schwerwiegenden ­Delikten angewendet wird.

Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

119

Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Tráfico de Influência

Handel unter Beeinflussung

(Redação dada pela Lei nº 9.127, de 1995)

(...)

Art. 332

Verlangt, fordert, vereinnahmt oder erhält jemand für sich oder jemand anderen einen Vorteil oder ein Versprechen eines Vorteils unter dem Vorwand, eine Handlung, die von einem Amtsträger in Ausübung des Amts vorgenommen wird, zu beeinflussen:

Solicitar, exigir, cobrar ou obter, para si ou para outrem, vantagem ou promessa de vantagem, a pretexto de influir em ato praticado por funcionário público no exercício da função: (Redação dada pela Lei nº 9.127, de 1995) Pena – reclusão, de 2 (dois) a 5 (cinco) anos, e multa. (Redação dada pela Lei nº 9.127, de 1995) Parágrafo único – A pena é aumentada da metade, se o agente alega ou insinua que a vantagem é também destinada ao funcionário. (Redação dada pela Lei nº 9.127, de 1995)

Art. 332

(…) Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 5 (fünf) Jahren und Geldstrafe. (…) Einzelner Absatz – Die Strafe wird um die Hälfte erhöht, wenn der Täter behauptet oder andeutet, dass der Vorteil auch für den Amtsträger bestimmt ist. (…)

Corrupção ativa

Aktive Korruption

Art. 333

Art. 333

Oferecer ou prometer vantagem indevida a funcionário público, para determinálo a praticar, omitir ou retardar ato de ofício:

Einem Amtsträger einen unsachgemäßen Vorteil anbieten oder versprechen, um diesen zu einer Ausübung, Unterlassung oder Verzögerung einer Amtshandlung zu bestimmen:

Pena – reclusão, de 2 (dois) a 12 (doze) anos, e multa. (Redação dada pela Lei nº 10.763, de 12.11.2003) Parágrafo único – A pena é aumentada de um terço, se, em razão da vantagem ou promessa, o funcionário retarda ou omite ato de ofício, ou o pratica infringindo dever funcional.

Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 12 (zwölf) Jahren und Geldstrafe. (…) Einzelner Absatz – Die Strafe wird um ein Drittel erhöht, wenn der Amtsträger aufgrund des Vorteils oder des Versprechens eine Amtshandlung verzögert oder unterlässt, oder sie unter Verletzung seiner Amtspflicht vornimmt.

120

Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Corrupção ativa em transação ­comercial internacional

Aktive Korruption im internationalen Geschäftsverkehr

Art. 337-B

Art. 337-B

Prometer, oferecer ou dar, direta ou indiretamente, vantagem indevida a funcionário público estrangeiro, ou a terceira pessoa, para determiná-lo a praticar, omitir ou retardar ato de ofício relacionado à transação comercial internacional: (Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002)

Einem ausländischen Amtsträger oder einer dritten Person unmittelbar oder mittelbar einen unangemessenen Vorteil anbieten oder geben, um ihn dazu zu bestimmen, eine Amtshandlung im Zusammenhang mit dem internationalen Geschäftsverkehr auszuüben, zu unterlassen oder zu verzögern: (…)

Pena – reclusão, de 1 (um) a 8 (oito) anos, e multa. (Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002)

Strafe – Freiheitsstrafe von 1 (einem) Jahr bis zu 8 (acht) Jahren und Geldstrafe. (…)

Parágrafo único. A pena é aumentada de 1/3 (um terço), se, em razão da vantagem ou promessa, o funcionário público estrangeiro retarda ou omite o ato de ofício, ou o pratica infringindo dever funcional. (Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002)

Einzelner Absatz. Die Strafe wird um 1/3 (ein Drittel) erhöht, wenn der ausländische Amtsträger aufgrund des Vorteils oder des Versprechens die Amtshandlung verzögert oder unterlässt oder sie unter Verletzung seiner Amtspflicht vornimmt. (…)

Tráfico de influência em transação comercial internacional

Handel unter Beeinflussung bei ­internationalen Handelsgeschäften

(Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002)

(…)

Art. 337-C

Verlangt, fordert, vereinnahmt oder erhält jemand für sich oder jemand anderen, unmittelbar oder mittelbar, im Zusammenhang mit internationalen Handelsgeschäften, einen Vorteil oder ein Versprechen eines Vorteils unter dem Vorwand der Beeinflussung der Amtshandlung durch einen ausländischen Amtsträger in Ausübung seiner Funktion: (…)

Solicitar, exigir, cobrar ou obter, para si ou para outrem, direta ou indiretamente, vantagem ou promessa de vantagem a pretexto de influir em ato praticado por funcionário público estrangeiro no exercício de suas funções, relacionado a transação comercial internacional: (Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002) Pena – reclusão, de 2 (dois) a 5 (cinco) anos, e multa. (Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002) Parágrafo único. A pena é aumentada da metade, se o agente alega ou insinua que a vantagem é também destinada a funcionário estrangeiro. (Incluído pela Lei nº 10467, de 11.6.2002)

Art. 337-C

Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 5 (fünf) Jahren und Geldstrafe. (…) Einzelner Absatz. Die Strafe wird um die Hälfte erhöht, wenn der Täter behauptet oder andeutet, dass der Vorteil ebenfalls für den ausländischen Amtsträger bestimmt ist. (…)

Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

121

II. Brasilianisches Wahlgesetz vom 15. Juli 19654 Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Art. 299

Art. 299

Dar, oferecer, prometer, solicitar ou receber, para si ou para outrem, dinheiro, dádiva, ou qualquer outra vantagem, para obter ou dar voto e para conseguir ou prometer abstenção, ainda que a oferta não seja aceita:

Gewährt, bietet, verspricht, verlangt oder erhält jemand für sich oder jemand anderen Geld, ein Geschenk oder irgendeinen anderen Vorteil, um eine Stimme zu erhalten oder abzugeben und um eine Enthaltung zu erwirken oder zu versprechen, auch wenn das Angebot nicht angenommen wird:

Pena – reclusão até quatro anos e pagamento de cinco a quinze dias-multa.

4

  Lei No 4.737, de 15 de Julho DE 1965.

Strafe – Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren und Zahlung von fünf bis fünfzehn Tagessätzen.

122

Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

III. Gesetz Nr. 8.137/1990 vom 27. Dezember 19905 Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Art. 3

Art. 3

Constitui crime funcional contra a ordem tributária, além dos previstos no Decreto-Lei n° 2.848, de 7 de dezembro de 1940 – Código Penal (Título XI, Capítulo I):

Es stellt zusätzlich eine funktionale Straftat gegen die Steuerordnung dar, abgesehen von der vorgesehenen Verordnung […]:

I – extraviar livro oficial, processo fiscal ou qualquer documento, de que tenha a guarda em razão da função; sonegá-lo, ou inutilizá-lo, total ou parcialmente, acarretando pagamento indevido ou inexato de tributo ou contribuição social; II – exigir, solicitar ou receber, para si ou para outrem, direta ou indiretamente, ainda que fora da função ou antes de iniciar seu exercício, mas em razão dela, vantagem indevida; ou aceitar promessa de tal vantagem, para deixar de lançar ou cobrar tributo ou contribuição social, ou cobrá-los parcialmente. Pena – reclusão, de 3 (três) a 8 (oito) anos, e multa. III – patrocinar, direta ou indiretamente, interesse privado perante a administração fazendária, valendo-se da qualidade de funcionário público. Pena – reclusão, de 1 (um) a 4 (quatro) anos, e multa.

  Lei No 8.137, de 27 de Dezembro de 1990.

5

I. – Ein offizielles Buch, ein Steuerverfahren oder irgendein anderes Dokument, das jemand aufgrund seiner Funktion verwahrt, verlieren; es ganz oder teilweise hintergehen oder unbrauchbar machen, was eine unangemessene oder ungenaue Zahlung von Steuern oder Sozialbeiträgen mit sich bringt; II. – Für sich oder jemand anderen unmittelbar oder mittelbar, noch außerhalb des Amtes oder vor Beginn der Ausübung, aber aufgrund dessen, einen unangemessen Vorteil fordern, verlangen, oder erhalten; oder ein Versprechen eines solchen Vorteils annehmen, um keine Steuern oder Sozialabgaben zu erheben oder zu vereinnahmen, oder sie teilweise zu erheben. Strafe – Freiheitsstrafe von 3 (drei) bis 8 (acht) Jahren und Geldstrafe. III. – Ein privates Interesse während der administrativen Tätigkeit unmittelbar oder mittelbar unter Ausnutzung des Status eines Amtsträgers fördern. Strafe – Freiheitsstrafe von 1 (einem) bis 4 (vier) Jahren und Geldstrafe.

Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

123

IV. Gesetz Nr. 8.666/1993 vom 21. Juni 19936 Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Art. 95

Art. 95

Afastar ou procurar afastar licitante, por meio de violência, grave ameaça, fraude ou oferecimento de vantagem de qualquer tipo:

Einen Bieter mit Hilfe von Gewalt, einer schwerwiegenden Drohung, von einem Betrug oder einem Angebot eines Vorteils jeglicher Art entfernen oder versuchen zu entfernen.

Pena – detenção, de 2 (dois) a 4 (quatro) anos, e multa, além da pena correspondente à violência. Parágrafo único. Incorre na mesma pena quem se abstém ou desiste de licitar, em razão da vantagem oferecida.

6 7

  Lei No 8.666, de 21 de Junho de 1993.   Vgl. Fn 3.

Strafe – Haftstrafe7 von 2 (zwei) bis 4 (vier) Jahren und Geldstrafe, zusätzlich zu der für die Gewalt entsprechende Strafe. Einzelner Absatz. Wer sich enthält oder das Bieten aufgibt, erhält aufgrund des angebotenen Vorteils die gleiche Strafe.

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Verzeichnis brasilianischer Korruptionsnormen

V. Gesetz Nr. 10.671/2003 vom 15. Mai 20038 Originalfassung

Deutsche Übersetzung

Art. 41-C

Art. 41-C

Solicitar ou aceitar, para si ou para outrem, vantagem ou promessa de vantagem patrimonial ou não patrimonial para qualquer ato ou omissão destinado a alterar ou falsear o resultado de competição esportiva ou evento a ela associado: (Redação dada pela Lei nº 13.155, de 2015)

Für sich oder jemand anderen einen Vorteil oder ein Versprechen eines Vermögens- oder Nichtvermögensvorteils für irgendeine Handlung oder Unterlassung fordern oder erhalten, die dazu bestimmt ist, das Ergebnis eines Sportwettbewerbs oder eines damit verbundenen Ereignisses zu verändern oder verzerren: (…)

Pena – reclusão de 2 (dois) a 6 (seis) anos e multa. (Incluído pela Lei nº 12.299, de 2010)

Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 6 (sechs) Jahren und Geldstrafe. (…)

Art. 41-D

Art. 41-D

Dar ou prometer vantagem patrimonial ou não patrimonial com o fim de alterar ou falsear o resultado de uma competição desportiva ou evento a ela associado: (Redação dada pela Lei nº 13.155, de 2015)

Einen Vermögens- oder Nichtvermögensvorteil geben oder versprechen, um das Ergebnis eines Sportwettbewerbs oder eines damit verbundenen Ereignisses zu verändern oder zu verzerren: (…)

Pena – reclusão de 2 (dois) a 6 (seis) anos e multa. (Incluído pela Lei nº 12.299, de 2010)

  Lei No 10.671, de 15 de Maio de 2003.

8

Strafe – Freiheitsstrafe von 2 (zwei) bis 6 (sechs) Jahren und Geldstrafe. (…)

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Alberto do Amaral Junior Professor für Internationales Recht an der Universität Sao Paulo, Brasilien Dr. Alexander Baur Senior Researcher in der Direktion der Justiz und des Innern Kanton Zürich, Schweiz Dr. Philipp Maximilian Holle Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Prof. Dr. Florian Jeßberger Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin Timo Junker Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht einschließlich ihrer internationalen und historischen Bezüge an der Universität Hamburg Prof. Dr. Helena Regina Lobo da Costa Professorin für Strafrecht an der Universität Sao Paulo, Brasilien Prof. Dr. Antonio Martins, LL.M. Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Federal do Rio de Janeiro, Brasilien Mariana Boer Martins Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Sao Paulo, Brasilien Rebekka Lucia Müller Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Jonas C. Schulz Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Augsburg Prof. Dr. Mauricio Stegemann Dieter Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Universität São Paulo, Brasilien Dr. João Alves Teixeira Neto Rechtsanwalt, Brasilien

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Jacson Zilio Professor für Kriminologie und Strafrecht am Instituto de Criminologia e Política Criminal (ICPC), in Curitiba (Brasilien) und Staatsanwalt in Paraná. Prof. Dr. Till Zimmermann Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht einschließlich europäischer und internationaler Bezüge an der Universität Trier