Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität : Mestiçagem als transkultureller Sonderweg [1. Aufl.] 9783658308490, 9783658308506

Das Buch hinterfragt, inwiefern sich die ethnisch durchmischte Zusammensetzung der brasilianischen Gesellschaft in den a

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German Pages XI, 273 [281] Year 2020

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Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität : Mestiçagem als transkultureller Sonderweg [1. Aufl.]
 9783658308490, 9783658308506

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Einleitung (Susanne Krüger)....Pages 1-24
Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis (Susanne Krüger)....Pages 25-62
Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe (Susanne Krüger)....Pages 63-118
Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur (Susanne Krüger)....Pages 119-240
Fazit (Susanne Krüger)....Pages 241-253
Back Matter ....Pages 255-273

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Susanne Krüger

Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität Mestiçagem als transkultureller Sonderweg

Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität

Susanne Krüger

Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität Mestiçagem als transkultureller Sonderweg

Susanne Krüger Regensburg, Bayern, Deutschland Diese Arbeit wurde im Jahr 2020 von der Fakultät für Philosophie, Kunst-, Geschichtsund Gesellschaftswissenschaften der Universität Regensburg als Dissertation ange­ nommen.

ISBN 978-3-658-30849-0 ISBN 978-3-658-30850-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30850-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Für Maria Anna Ida

Danksagung

An erster Stelle möchte ich mich bei meinem Betreuer und langjährigen Mentor Prof. Dr. Karlfriedrich Herb bedanken. Der Dank gilt ihm, weil er sowohl diesem Promotionsprojekt als auch meiner persönlichen Entwicklung buchstäblich beim „Wachsen“ geholfen hat. Und dies auf eine sehr weitsichtige, vertrauensvolle und wohlwollende Art und Weise. Der offene und interessierte Blick auf Brasilien wäre mir ohne ihn verwehrt geblieben. Gerade bei diesem letzten Punkt spielt auch Prof. Dr. Gerson Brea für mich eine entscheidende Rolle. Seine Leidenschaft für die Wissenschaft, sein unermüdliches Engagement sowie seine herzliche Hilfsbereitschaft haben das Dissertationsprojekt zu wundervollen 5 Jahren werden lassen. Der Dank für Input und Kritik muss aber unbedingt auch an die Professoren und Professorin des Bayerischen Promotionskollegs Politische Theorie und die promovierenden Mitstreiter gehen. Von Herzen aber in tiefer Trauer bedanke ich mich besonders bei Prof. Dr. Clemens Kauffmann. Sein wissenschaftliches Erbe wirkt nach und trotz des Schmerzes über seinen Verlust wollen wir ihn als Mensch tief in unseren Herzen weitertragen. Unendliche Dankbarkeit gilt meinen Eltern Marianne und Klaus, die mit bedingungslosem Vertrauen jeden Schritt in meinem Leben ermöglicht und unterstützt haben. Ebenso danke ich für die Unterstützung und Liebe meines Ehemanns Witold und unserer wundervollen Tochter Anna. Auch die Kolleginnen und Kollegen des Lehrstuhls für Politische Philosophie an der Universität Regensburg waren eine entscheidende Stütze. Besonders Cornelia Besand durch ihre gutmütige und aufopfernde Art sowie Dr. Martin Lang durch unsere bizarre, lebhafte und doch tief verbundene Freundschaft. Zuletzt gilt auch der Dank an die vielen vermeintlich unsichtbaren Stimmen, die aber im Hintergrund den langen Atem erst ermöglichten.

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 Kontext Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Kontext Kulturkonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 3 Kontext Politische Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 4 Design der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2 Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1 Definition und Einordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2 Begriffshistorie und Umfeld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 3 Kulturbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4 Position Gilberto Freyres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 5 Kritik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3 Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe. . . . . . . . . . . . . . . 63 1 Johann G. Herder: Die Dialektik von Einzelkultur und Gesamtmenschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1.1 Mannigfaltigkeit als kulturanthropologische Grundannahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1.2 Herders ganzheitliches Geschichts- und Gesellschaftsbild. . . . . 70 1.3 Philosophische Antinomie: Universalismus vs. kultureller Eigenwert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 1.4 Mestiçagem im Sinne Herders. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2 Ludwig Wittgenstein: Das Netz aus Ähnlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . 85 2.1 Anthropologie des zeremoniellen Tieres: Wittgensteins Sprachphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.2 Praxisorientierung: Kultur als Lebensform. . . . . . . . . . . . . . . . . 92

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Inhaltsverzeichnis

2.3 Zerfranste Ränder, offene Grenzen: Netz der Familienähnlichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2.4 Mestiçagem im Sinne Wittgensteins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3 Universalismus als gemeinsamer Gegner?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3.1 Abgrenzung von Universalismus und Relativismus . . . . . . . . . . 110 3.2 Herder als Universalist, der er nie sein wollte?. . . . . . . . . . . . . . 115 3.3 Wittgenstein als hoffnungsloser Relativist?. . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4 Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur . . . . . . . . 119 1 Kulturelle Identität als horizontales Mosaik: Der Multikulturalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1.1 Vorbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 1.2 Definition und Eingrenzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1.2.1 Hinführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 1.2.2 Multikulturalismus als Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1.2.3 Multikulturalismus als politisches Programm . . . . . . . . 130 1.3 Diskussionshistorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 1.4 Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.4.1 Kultur und Differenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1.4.2 Kultur und Rasse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 1.4.3 Kultur und Herder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1.5 Mestiçagem und der totalitätsorientierte Kulturbegriff. . . . . . . . 150 1.6 Strömungen und Positionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1.6.1 Der liberale Multikulturalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 1.6.2 Die Politik der Anerkennung als Antwort. . . . . . . . . . . . 164 1.7 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1.8 Alternativmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 2 Kulturelle Identität als subjektinternes Mosaik: Die Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 2.1 Situation der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 2.2 Kennzeichen und Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.3 Begriffsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2.4 Kulturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.4.1 Kultur ohne statische Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . 207 2.4.2 Kultur ohne kulturellen Rassismus. . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2.4.3 Kultur ohne Herder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

Inhaltsverzeichnis

XI

2.5 Mestiçagem und der transkulturelle Kulturbegriff. . . . . . . . . . . . 220 2.6 Gegenposition als Selbstverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2.6.1 Transkulturalität als Gegensatz zu Multikulturalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2.6.2 Transkulturalität in der Universalismusdebatte. . . . . . . . 228 2.7 Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 2.8 Mestiçagem und Transkulturalität unter dem Deckmantel der Rasse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

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Einleitung

1 Kontext Brasilien Como efeito, todo momento parece propício para colocar esse tipo de tema [da identidade national] em questão: planos de governo, mudanças de regime, partidas de futebol (sobretudo quando ganhamos). É como se a cada momento os brasileiros se perguntassem sobre “Que país é esse?” ou o que faz do “Brazil, Brasil”. (Schwarcz 2000b: 109)

Mit diesem Zitat spricht die brasilianische Anthropologin Liliana Schwarcz ein Gefühl an, das weit mehr ist als nur ein Stereotyp. Das Hinterfragen der eigenen Identität scheint ein Teil der brasilianischen Selbstwahrnehmung zu sein. Nicht zufällig greifen in den 1990er Jahren Autoren wie Darcy Ribeiro und Roberto DaMatta mit ihren Standardwerken O Povo Brasileiro. A formação e o sentido do Brasil (1995) und O que faz o brasil, Brasil? (1997) die Frage nach kolonialer Vergangenheit und moderner Identität auf. Im Laufe des 20. Jahrhunderts kristallisierte sich ein Kulturverständnis heraus, das bewusst die Trennschärfe zwischen Eigenem und Fremden verwischt und versucht, die unterschiedlichen Einflüsse in der brasilianischen Gesellschaft zu einem harmonischen großen Ganzen zusammenzuführen. Der Ethnologe Arthur Ramos aus Bahia fasste dies bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts folgendermaßen zusammen: Acho que somos felizes porque o nosso destino é brando nossa natureza não tem vulcões, nossa história é uma página aberta de tolerância. A nossa cultura é, portanto, uma cultura ‘apolínea’, a nossa filosofia humanística, de uma cordialidade singular. (Ramos 1944: 74)

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Krüger, Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30850-6_1

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1 Einleitung

Das moderne Brasilien gilt dabei aber auch als ein Land der Gegensätze. Von außen betrachtet sind es die hohe Kriminalität einerseits, aber auch das über alle Grenzen hinaus bekannte Gefühl der Lebensfreude andererseits, welche mit Brasilien in Verbindung gebracht werden. Der Karneval von Rio de Janeiro ist dabei nur eines von vielen Beispielen für den Ausdruck dieses Lebensgefühls, das von Beobachtern gerne hochstilisiert wird. Doch entzieht man sich dieser stereotypisierten Perspektive, so entsteht die Möglichkeit, über zahlreiche Hinweise auf interkulturelle Fettnäpfchen und Handlungsanweisungen hinaus, Brasilien auf eine andere Weise zu sehen. Dies bedeutet nicht, dass für das brasilianische Selbstverständnis zentrale Stereotype wie der jeitinho brasileiro oder auch der homem cordial1 nicht auch betrachtet werden sollten – wenn auch aus einem ­kritisch-reflexiven Blickwinkel. Diese nationalen Ausdrücke erzeugen nämlich nach innen wie nach außen die Vorstellung, dass es den Brasilianern möglich sei, durch ihre gesellschaftliche Hybridität rigorose Klassifizierungen zu überwinden. Das Individuum könne sich in ihr über die Natur und damit auch über Hautfarbe und Ethnie hinweg definieren (vgl. Fry 2000: 111/Sales 2006: 225). Mit der für die brasilianische Gesellschaft als charakteristisch angesehenen Herzlichkeit rückt ein Begriff in den Fokus, der darauf verweist, wie vielschichtig sich das Land in kultureller Hinsicht zeigt. Der im Titel angeführte Ausdruck der mestiçagem ist mit Rassenmischung zu übersetzen und meint ebenfalls, dass Brasilien nicht ohne seine spezifische Kolonialgeschichte und der mit ihr verbundenen ethnischen Durchmischung gesehen werden kann. Der Philosoph und Literaturkritiker Silvio Romero fasste dieses Verständnis der eigenen Nation folgendermaßen zusammen: „Formamos um país mestiço […] somos mestiços senão no sangue, ao menos na alma.“ (zit. nach Schwarcz 1994: 11) Diese kulturelle Form der Durchmischung ist in Brasilien aber nicht auf einzelne Sektoren beschränkt, sondern in allen sozialen, politischen und rechtlichen Bereichen der Gesellschaft verwurzelt. Ebenso wie das einführende Zitat deutet der Hinweis Romeros an, dass die Frage nach der nationalen Identität etwas ist, das dauerhaft im brasilianischen Selbstbild mitschwingt. Als interessante Folge daraus ergibt sich, dass nicht die Antwort auf die gestellte Frage, sondern vielmehr das sich Hinterfragen eo ipso zum Teil der eigenen Wahrnehmung als Gemeinschaft geworden ist. Larsen unterstellt der brasilianischen Gesellschaft sogar, dass das Hybride – also die Tatsache, genau

1Beide

Begriffe sind durch den Soziologen Sérgio Buarque de Holanda und seinem Werk Raízes do Brasil (deutscher Titel: Die Wurzeln Brasiliens) geprägt worden. Siehe: Holanda, Sérgio Buarque de: Raízes do Brasil, 261995.

1  Kontext Brasilien

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keine konkreten Antworten zu finden – ein brasilianischer Fetisch sei: „O hibrido como fetisch.“ (Larsen 2006: 1) Auch die Formulierung o que faz do ‘Brazil, Brasil’ zeigt an, dass das Land ein Trauma mit sich trägt, nämlich lediglich nach externen Maßstäben bewertet zu werden, ohne dass dabei nach dem genuin Brasilianischen gefragt wird. Um den spezifischen Entwicklungsprozess der brasilianischen Selbstwahrnehmung darstellen zu können, richtet die vorliegende Arbeit ihr Augenmerk insbesondere auf den zeitlichen Rahmen der 1930er Jahre. Dies geschieht bewusst, da mit dem Beginn der Ära Vargas politische, soziale und ökonomische Prozesse eingeleitet wurden, die eine Modernisierungswelle und die Suche nach einem neuen nationalen Selbstverständnis mit sich brachten. Das Erbe dieser Zeit besteht darin, dass darauf aufbauend ein politisches System der Diktatur mit eigener Ideologie errichtet wurde, welches Werte, Gewohnheiten und Denkweisen geprägt hat, die bis in die gegenwärtige brasilianische Gesellschaft nachwirken (vgl. Mota 2008: 20–21). Zu diesen tradierten Denkweisen zählt vor allem die in den 1930ern etablierte Ansicht, dass Brasilien hinsichtlich des Umgangs mit der ethnischen Heterogenität eine Überlegenheit ausstrahlt – welche besonders von der Wahrnehmung durch die USA und Europa geprägt ist. Dieses Bild lebte jedoch vorwiegend von der Abgrenzung zum Modell der rassischen Segregation zwischen Schwarz und Weiß in den USA. Ironischerweise profitieren heute die US-amerikanischen Schwarzenbewegungen und allgemein das Bewusstsein der dortigen farbigen Community von dem ehemals separatistischen System, das Identitäten traditionell klar zuordnete (vgl. Skidmore 1993: 209-011). Das als harmonisch interpretierte Brasilien sieht sich heute hingegen mit einer multikulturellen Politik – maßgeblich durch die ehemalige PT-Regierung initiiert – konfrontiert, die vor allem im Bildungssektor zu hitzigen Diskussionen und Umsetzungsproblemen führt. Die Schwierigkeit, beispielsweise Maßnahmen zur positiven Diskriminierung im Bildungssektor in Brasilien, einem Land, das sich selbst jahrzehntelang als humanistischere Lösung in Fragen der Rassenmischung in Szene gesetzt hat und in dem Identität offiziell nicht über rassische Zuordnung gedacht wurde, umzusetzen, kann nicht bewertet werden, ohne die Prozesse der 1930er Jahre und ihre Bedeutung für die Erneuerung des nationalen Denkens zu verstehen. Von diesem Panorama ausgehend, soll hier der Versuch unternommen werden, unter Zuhilfenahme von verschiedenen Kulturkonzeptionen eine neue Perspektive auf diesen zeitlichen Abschnitt einnehmen zu können. Sowohl der Modernisierungsprozess zu Beginn des 20. Jahrhunderts als auch die angedeuteten gegenwärtigen Diskussionen um die kulturelle Selbstwahrnehmung sind getragen von der Frage, wie rassische Differenz in Brasilien bewertet wird. Die Arbeit stellt vor, welchen spezifischen Stellenwert die

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1 Einleitung

Rassenmischung im brasilianischen Kolonialisierungsprozess einerseits hatte und welche Wirkkraft diese historische Konstante andererseits bis heute besitzt. Ausgehend von dem politischen Zeitgeist um Getúlio Vargas wurde das Bild eines harmonischen Status quo zwischen den Rassen – im kolonialen Verständnis zwischen europäischen Zuwanderern, Indigenen und ehemals afrikanischen Sklaven – entworfen, das sich zum Ziel gesetzt hatte, soziale Ungleichheiten und Differenzen als natürlich, als jeito de ser, erscheinen zu lassen. Ein Literat und ein Werk, die zu diesem politisch gelenkten Bild maßgeblich beitrugen, sind Gilberto Freyre und seine Schrift Casa Grande & Senzala (CGS). Die Frage, warum man einen Autor der 1930er Jahre, der zur Gallionsfigur der Ideologie der brasilianischen Militärdiktatur installiert wurde und dadurch viele Jahre auf dem Index stand, heute erneut lesen sollte, erscheint auf den ersten Blick berechtigt. Jedoch liegt die aktuelle Relevanz Gilberto Freyres und auch die Faszination, die von ihm ausgeht, darin, dass er in einer oftmals unstrukturierten Weise, aber doch mitreißenden Tiefe, Tendenzen vorausgesehen hat, die erst Jahrzehnte später zur akademischen Praxis werden sollten. Wie der Titel der vorliegenden Forschungsarbeit bereits verspricht, wird die Idee der mestiçagem und damit auch Gilberto Freyre mit modernen Kulturkonzeptionen wie Multikulturalismus und Transkulturalität in Verbindung gebracht. Diesen Konnex aber gerade in der gegenwärtigen Zeit anzustellen, ist kein Zufall. Zum einen feierten die multikulturellen und transkulturellen Konzepte in den 1990er Jahren ihre wissenschaftlichen Glanzzeiten und werden heute unter erweiterter und kritischer Perspektive aus verschiedenen Disziplinen weiterentwickelt. Zum anderen erlaubt auch eine heute kritisch aufgearbeitete Re-Interpretation Freyres eine erneute Bewertung seiner Idee der mestiçagem (vgl. Lund 2006: 9/22). So wie es die vorliegende Arbeit tut, so kann auch Freyres Bild Brasiliens mit seinen multiplen kulturellen, ethnischen und sozialen Ebenen als Inspiration für komplexe aktuelle Debatten nutzbar gemacht werden. Es tangiert ebenso deutlich die gegenwärtige Debatte um rassische Diskriminierung wie auch die Frage nach der Relation von Kultur und Identität, die sowohl im Kontext der globalen Migrationsströme als auch hinsichtlich der Tendenz von Nationalisierungswellen enorm an Bedeutung gewinnt (vgl. Agier 2006: 175–176). Brasilien mit seiner spezifisch kolonialgeschichtlichen Tradition und der modernen Perzeption der Rassenmischung ist also für die vorliegende Arbeit problemkonstitutiv. Die kritische Frage, warum eine überholt wirkende Kategorie der Rasse mit aktuellen Konzepten wie Multikulturalismus und Transkulturalität in Verbindung gebracht wird, ist einerseits berechtigt. Andererseits entschärft die anzustellende Analyse diesen Vorwurf, da entschlüsselt werden soll, dass die Kategorie der Rasse in modernen Diskursen um Kultur weiter beinhaltet ist und nicht ausdifferenziert betrachtet wird.

2  Kontext Kulturkonzept

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2 Kontext Kulturkonzept „Kultur ist Reichtum an Problemen“ (Friedell 1912, 16) – Mit diesem Zitat macht der österreichische Schriftsteller und Kulturphilosoph Egon Friedell deutlich, dass sich Kultur immer an der Grenze wissenschaftlicher Disziplinen bewegt und aus ihrem historisch-politischen Zusammenhang heraus betrachtet werden muss. Das gesteigerte wissenschaftliche Interesse am Kulturbegriff und dessen Erfolgsgeschichte im Sprachgebrauch ergibt sich seit dem 19. Jahrhundert aus einer bestimmten Ambiguität hinsichtlich Bestimmtheit und Unbestimmtheit (vgl. Nell 2006: 327–328). Raymond Williams spricht davon, dass er „als eine Art Spezialkarte benutzt werden [kann], durch die wiederum die weitreichenden Veränderungen im Leben und im Denken betrachtet werden können“ (Williams 1972: 13). Die vorliegende Arbeit bemüht sich deswegen, zwischen einem Kulturverständnis, einem Kulturbegriff und einem Kulturkonzept zu unterscheiden. Inwiefern dies als Grundlage des Forschungsdesigns der Arbeit dient, gilt es in einem gesonderten Punkt zu klären. An dieser Stelle soll jedoch bereits hervorgehoben werden, warum sich mit Kultur und ihren verschiedenen Ebenen beschäftigt wird. Im politikphilosophischen Kontext ist dies von Bedeutung, da sie in dem aktuellen Diskurs um Identität und nationales Selbstverständnis eine Funktion als Orientierungshilfe und Abgrenzungsmöglichkeit einnimmt. Der Fokus auf die multikulturelle und transkulturelle Konzeption von Kultur ergibt sich daraus, dass das Kulturkonzept durch seine Komplexität und systematische Unbestimmtheit Kultur in ihrer Gesamtheit erfasst und als Diskursfeld in den Blickpunkt nimmt. Ein Kulturverständnis, wie es in dieser Arbeit exemplarisch durch die Idee der mestiçagem verkörpert wird, muss als kognitive Landkarte verstanden werden, die als Orientierungsrichtlinie gilt, wie sich der Einzelne in seinem Kulturkreis zu bewegen hat, um den allgemein anerkannten Standards zu entsprechen. Mit dieser Anleitung für das Verhalten im öffentlichen Raum wird das sich Bewegen im zwischenmenschlichen Alltag ermöglicht, was einen gewissen Grad an Angemessenheit voraussetzt. Das in einem Kulturkreis als plausibel und selbstverständlich Verstandene, also die jeweiligen Charakteristika und Eigentümlichkeiten desselben, sind nicht apriori vorgegeben, sondern entstehen durch eine komplexe soziale Konstruktion (vgl. Martz 2005: 4). Kultur wird allgemein als Beobachtung dessen verstanden, was der Mensch geschaffen hat. Das tautologische Moment besteht darin, dass Kultur aus einer diskursiven Praxis entsteht und gleichzeitig zum Gegenstand der Reflexion wird, wenn sie aus einer bestimmten Perspektive als Kultur identifiziert wird (vgl. Nell 2006: 328). Sowohl der Multikulturalismus als auch die Transkulturalität sollen deswegen

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1 Einleitung

in ihrer theoretischen Konzeption darauf untersucht werden, inwiefern sie durch soziale Konstruktion und tatsächliche Anwendung geprägt sind. Doch bleibt zu klären, was unter dem Begriff der Kulturkonzeption zu verstehen ist. Kulturverständnisse, gesellschaftlich und subjektintern durchaus unterschiedlich, bestehen keineswegs isoliert voneinander. Dem Ganzen ist ein Kategoriensystem übergeordnet, das diese kognitiv ordnet – beispielsweise das Verhältnis zwischen den Kulturen oder die Homogenität und den Umgang mit Hierarchie in der jeweiligen Kultur (vgl. Martz 2005: 4). Es geht dabei also weniger darum, eine Anleitung für die aktive Teilnahme am kulturellen und sozialen Leben zu schaffen, wie das Kulturverständnis es ermöglicht, vielmehr ist es die Absicht, eine oft unbewusst wirkende Ebene zu konstituieren, die die verschiedenen Kenntnisse in Verbindung zueinander setzt und eine Einordnung ermöglicht: „Dieses Konglomerat an übergeordneten Kategorien, mit denen wir Kulturen beschreiben, dieses umfangreiche Kategoriensystem, nennen wir Kulturkonzept.“ (Ebd.: 4) Die soziale Konstruktion als Entstehungsgrundlage von Kultur muss somit betont werden. Zudem findet diese auch in einem bestimmten historischen und politischen Kontext statt und birgt deshalb ein gewisses Machtpotenzial. Das Kulturverständnis wird bewusst wahrgenommen und vom Einzelnen reflektiert. Hingegen unterliegt das Kulturkonzept einem epistemologischen Solipsismus, da das angesprochene Kategoriensystem etwas Unbewusstes, nicht real Fassbares darstellt und somit eine Welt verkörpert, die nicht in ihrer Wirklichkeit gesehen und wahrgenommen werden kann, sondern durch soziale Erkenntnisse konstruiert wurde und keiner allgemeinen Festschreibung unterliegt (vgl. Devilder 2000: 3). Der konstruktivistische Ansatz macht die Bedeutung des Kulturkonzepts deutlich: Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein Muster ist, das auf eine ganz spezifische Art gestaltet ist und gleichzeitig aber auch eine andere Form haben könnte. Da stehen Standortgebundenheit und ein bestimmter Verhaltenskodex gleichzeitig der Relativität dieser Gestaltungsform gegenüber, die immer weitere Möglichkeiten bis hin zur reflexiven Auflösung kennt (vgl. Reckwitz 2004: 8). Das Kulturkonzept stellt also nicht den ontologischen Anspruch, das Wesen der Welt erklären zu wollen, sondern verlangt durch Erschütterung unseres alltäglichen Verstandes eine Epistemologie zu stützen, die die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens aufzeigt (vgl. Siebert 2005: 39). Werner Schiffauer fasst diesen epistemologischen Ansatz folgendermaßen zusammen: Die vorherrschende Meinung lautet […], dass wir uns Bilder oder Modelle von der Realität konstruieren. Wir selektieren eine Reihe von Phänomenen und bringen sie in eine sinnvolle Ordnung zueinander. Nichts garantiert uns, dass diesem

2  Kontext Kulturkonzept

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konstruktiven Akt etwas in der Welt der Phänomene tatsächlich entspricht, allenfalls bewahrheiten sich unsere Modelle an der ‚Realität‘ – was dies auch immer sein mag. Wir registrieren also nicht die soziale Umwelt, sondern entwerfen sie. Dabei reflektieren unsere Bilder von der Ordnung der Phänomene unseren eigenen Ort in der Gesellschaft: sie sind situational, nicht mehr absolut. (Schiffauer 1997: 159)

Der Begriff Kultur kann sowohl in der Retrospektive als auch im modernen Diskurs als „Archiv semantischer Kämpfe“ (Hetzel 2012: 23) bezeichnet werden. Der Blick vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart zeigt, dass sich die Entwicklung vom Singularetantum, also Kultur stets im Singular gebrauchten und verstandenen Sinn, hin zur Verwendung der multiplen Pluralformen vollzogen hat und von Kulturen gesprochen wird. Stand im 18. Jahrhundert noch die Frage nach der Einheit des Menschengeschlechts im Vordergrund, so gewannen die pluralen Beschreibungsmuster von Kultur mit dem 19. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung, was in der Popularität der Begrifflichkeiten wie Inter- und Multikulturalismus sowie Transkulturalität im wissenschaftlichen Diskurs und auch in der Anerkennung im Alltag des 20. Jahrhunderts mündete. Abgesehen davon, dass der Beliebtheit und inflationären Verwendung dieser Begriffspaare ein gewisser Kulturrelativismus vorgelagert ist, muss betont werden, dass es sich „jeweils um Interpretationsmuster handelt und diese ihre Wirklichkeit selbst erzeugen, die sie bezeichnen“ (Elberfeld: 41). Aus kulturphilosophischer Perspektive besteht an dieser Stelle nicht die Notwendigkeit, zu untersuchen, ob die Realität nun einer der Wortbildungen oder einem Interpretationsmuster eindeutig zuzuordnen ist. Für die vorliegende Arbeit ist es ausschlaggebend, inwiefern das zu untersuchende brasilianische Kulturverständnis der mestiçagem durch ein Kulturkonzept in einem komplexeren Rahmen fassbarer wird. Wie mit dem anschließenden Punkt noch gezeigt werden soll, orientiert sich der Aufbau des Vorhabens daran, die Idee der mestiçagem und die multi- und transkulturellen Interpretationsmuster durch die philosophischen Kulturbegriffe von Johann Gottfried Herder und Ludwig Wittgenstein miteinander zu verknüpfen. Warum der philosophischen Unterscheidung der Kulturkonzeptionen jeweils die Werke gerade dieser beiden Denker zu Grunde gelegt werden, erklärt sich daraus, dass sich mit ihnen zwei Erklärungsmuster von Kultur diametral gegenüberstehen. Zum einen tritt bei Herder ein vertikaler Geschichtsund Kulturbegriff zu Tage, wobei die Morphologie des Organischen in den Fokus rückt. Es wird zudem versucht, ein ganzheitliches Bild der Gesellschaftsgeschichte zu entdecken, woraus sich eine spezifische Spannung zwischen menschlichem Universalismus und kulturellem Eigenwert ergibt. Zum anderen steht diesem Verständnis Ludwig Wittgensteins Skepsis gegenüber kausalen

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1 Einleitung

Erklärungen entgegen. Sein horizontaler Kulturbegriff besteht darin, dass er das Wesen der Kultur nicht hinter dieser vermutet. Er glaubt vielmehr, dass sich dieses erst durch die kulturelle Praxis entwickelt und ausdrückt. Das bewusste Ablehnen definitiver kultureller Grenzen und die starke Praxisorientierung in Bezug auf den Kulturbegriff Wittgensteins heben sich deutlich vom Herder’schen Ansatz ab. Wittgensteins kulturphilosophischer Zugang ist für die zentrale Fragestellung der Arbeit deshalb wegweisend, da mit ihm versucht wird, eine definitorische Annäherung an den in der modernen Forschung populären, disziplinübergreifend breit verwendeten und gleichzeitig schwammig formulierten Begriff der Transkulturalität zu erzielen und diesen auf eine theoretische Basis zu stellen.

3 Kontext Politische Philosophie Klarzustellen bleibt, warum diese spezifische Fragestellung innerhalb der beiden vorgestellten Kontexte von brasilianischer Identität und multi- und transkulturellen Kulturkonzepten gerade in der Disziplin der Politischen Philosophie und Ideengeschichte verortet wird. Grundsätzlich ergibt sich die Notwendigkeit, politische Theorien neu zu hinterfragen, aus einem entscheidenden Grund: In einer stark vernetzten Welt wie der heutigen wird Legitimität immer noch über politische Ideen hergestellt. Jedoch reißt man Begriffe, die für die Legitimation elementar sind, immer stärker aus ihrem jeweiligen Kontext. Er nennt beispielsweise den globalen Siegeszug der Begriffe Demokratie und Republik, die dadurch aber auch gefährdet sind, ihre ursprüngliche Bedeutung einzubüßen (vgl. Schlichte 2015: 228). Was diese Arbeit somit leisten möchte, ist, politische Theorien neu zu befragen und eine breitere Perspektive hinsichtlich sozialem und kulturellem Kontext zu eröffnen. Sich bei der vorliegenden Analyse interdisziplinär zu öffnen, ist eng mit diesem Anspruch verzahnt. Wie im Abschnitt zum Forschungsstand und zur verwendeten Literatur noch gezeigt wird, sind es neben klassischen politikphilosophischen Ansätzen vor allem auch Perspektiven aus der Anthropologie und der Soziologie, die hier zusammenfließen. Die Debatte um Multikulturalismus und Transkulturalität ist somit von mehreren Disziplinen beeinflusst. Sie findet jedoch nicht rein zufällig hauptsächlich im politikwissenschaftlichen Kontext statt. Die Konfrontation der modernen Demokratietheorien mit den sich verändernden Bedingungen, hervorgerufen unter anderem durch Migration und gesellschaftliche Diversifizierung,

3  Kontext Politische Philosophie

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nimmt deutlich Raum innerhalb der Disziplin ein.2 Es ist auch der Bereich der Migrationsforschung, der über den Begriff des Fremden (vgl. Merz-Benz 2016: 63) eine Anschlussfähigkeit der Kulturkonzeptionen an die Soziologie entstehen lässt. Zudem soll die Arbeit immer wieder den Bezug zu den sogenannten Postcolonial Studies herstellen. Deren Einfluss auf die Politische Philosophie wird als wertvoll erachtet, da sie aufzeigen, wie Ideen grundsätzlich von einer verwobenen Entstehungsgeschichte getragen werden und erst im weiteren Verlauf einem bestimmten, oft länderspezifischen Kontext, zugeordnet werden (vgl. De La Rosa 2016: 1). Der anschließende Schritt zum Design der Arbeit will vorstellen, dass die Arbeit genau diesen Weg der Ideen von multi- und transkultureller Kulturkonzeption nachzeichnet und sie aus der eurozentristischen Perspektive löst, wenn ursprüngliche Begriffsgenese und anschließende länderspezifische Aneignung dargestellt werden. Fred Dallmayr macht am Beispiel der Menschenrechte deutlich, wie ein mythisch wirkendes Verhältnis von eigen und fremd und damit auch von Westen und Nicht-Westen im theoretischen Diskurs spürbar ist. Er bringt damit zum Ausdruck, dass die Frage danach, wer sich gewisse Ideen aneignet, auch eine Frage politischer Macht sei (vgl. Dallmayr 2004: 251–254). Auch diese, teilweise versteckten, Machtverhältnisse sind es, die in dieser Arbeit kontinuierlich dekonstruiert, kritisch hinterfragt und in ihrer Funktion gegenübergestellt werden. Wie zu Design und Methode der Arbeit noch ausgeführt wird, ist es ein Vergleich der Kulturbegriffe, die sich sowohl im Verständnis, im Begriff und der Konzeption von Kultur jeweils identifizieren lassen, welcher es politiktheoretisch erst ermöglicht Kulturen als sich teils widersprechende und unbestimmte Sinnsysteme, sinnvoll zu erfassen (vgl. De La Rosa 2016: 4). Der Vergleich ist für die Arbeit und ihre politiktheoretische Ausrichtung programmatisch, was im folgenden Zitat nochmals auf den Punkt gebracht wird: [E]in Vergleich [ist] ohne Berücksichtigung der Verflechtungsdimension epistemisch und historisch naiv, die Darstellung der Verflechtung dagegen ohne vergleichendes Moment politiktheoretisch blind für existierende Unterschiede und folglich ethisch stumm. (Ebd.: 3)

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Tatsache, dass sich zur transkulturellen Forschung zu Kulturkonzepten noch keine politiktheoretische Diskussion etabliert hat, muss an dieser Stelle im Gegensatz zu dem Erstarken des Multikulturalismus innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplin aufgezeigt werden. In der weiteren Analyse wird darauf Bezug genommen, indem Begründungen aufgezeigt werden und eine eigenständige Einordnung versucht wird.

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An dieser Stelle soll Bezug zu dem möglichen Vorwurf des Eurozentrismus, der der Arbeit und der Autorin gemacht werden kann, genommen werden. Im Rahmen der Konzeptualisierung der Dissertationsschrift trat vor allem im persönlichen Austausch mit brasilianischen Forschern zu Tage, dass sich die Frage aufdrängt, ob die Arbeit nicht aus einer zu europäisch gedachten Perspektive angelegt und damit nicht fähig ist, Erkenntnisse zum Prozess der brasilianischen Identitätsbildung beizutragen. Dazu soll Stellung bezogen werden. Es besteht kein Zweifel, dass die soziale und wissenschaftliche Prägung des Autors einer Analyse bereits ein Teil seiner Methode ist und die Verortung der Dissertation im Bereich der Politischen Philosophie im deutschen Wissenschaftskontext einen gewissen Rahmen vorgibt. Trotz dieses Bewusstseins für die eigene Perspektive öffnet sich die Arbeit durch ihre sprachliche und interdisziplinäre Breite. Wie es zu zeigen gilt, ist auch die Rückführung der oftmals aus europäischer Perspektive diskutierten Kulturmodelle auf ihre semantischen Wurzeln und auch auf länderspezifische Kontexte der Versuch, diese Einseitigkeit zu überwinden. Die Arbeit setzt sich also zum Ziel, in der oftmals als binär und gegensätzlich empfundenen Stellung von Alter und Neuer Welt einen Bogen zu schließen, die Flussrichtung von Ideen aufzuzeigen und diese immer wieder mit einer Rückführung zum vermeintlich anderen Pol zu versehen.

4 Design der Arbeit Die Darstellung, in welchen länderspezifischen, historischen und theoretischen Kontext sich die vorliegende Dissertation einordnet, hat deutlich gemacht, dass ein Desiderat in Bezug auf die Zusammenführung brasilianischer Identitätskonstruktion und moderner Kulturtheorie besteht. Deshalb wird die Analyse von einer zentralen Leitfrage durchzogen. Diese untersucht, inwiefern sich die mestiçagem als brasilianische Idee von nationaler Identität in den begrifflichen und konzeptionellen Dualismus von Multikulturalismus und Transkulturalität einordnen lässt. Als Problemstellung kristallisiert sich also heraus, dass ein Spannungsfeld zwischen multikultureller und transkultureller Konzeption von Kultur identifiziert wird. Gleichzeitig tritt der singuläre Charakter der Idee der mestiçagem, also der kontextgebundene Umgang mit rassischer und kultureller Durchmischung, hervor. Die Arbeit möchte davon ausgehend erforschen, ob diese spezifische Singularität in das Spannungsfeld der Kulturkonzepte eingeordnet werden kann. Die Hypothese, dass die Elemente der Idee der mestiçagem tendenziell eher als transkulturell einzustufen sind, soll final gestützt werden. Daraus leitet sich zudem eine untergeordnete Problematik ab,

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die das Verhältnis von mestiçagem und transkultureller Kulturkonzeption hinterfragt: Inwiefern kranken die Idee der mestiçagem und das theoretische Konzept der Transkulturalität am selben Problem, nämlich dem Überdecken statt Ausdifferenzieren von Ethnizität? Die Frage formuliert dabei bereits die Annahme, dass Ethnie, beziehungsweise Rasse, als entscheidender Faktor in beiden Fällen identifiziert werden kann. Auffällig ist, dass Ethnie und Rasse jeweils als ausschlaggebende Punkte gelten, die es zu überwinden gilt. Dieses Überwinden bildet in beiden Fällen den theoretischen Grundstock. Der Vorwurf, der nun mit der zweiten Frage erhoben wird, lautet jedoch, dass sich sowohl die Idee als auch das Konzept vom zuordnenden Faktor loslösen möchten, ihn aber durch die gezielte Hinwendung zum Faktor Kultur nur umdeuten und nicht durch Ausdifferenzierung überwinden. Das Ziel der Arbeit lässt sich aus zwei Perspektiven, die aber ineinander überfließen, betrachten. Einerseits geht es darum, ausgehend vom Beispiel des spezifisch brasilianischen Umgangs mit kultureller Diversität, ausgedrückt durch die Idee der mestiçagem, den dabei entworfenen Kulturbegriff zu untersuchen und in das angesprochene Spannungsfeld einzuordnen – Kultur kann dabei entweder mit Zuordnung oder mit Verwendung gleichgesetzt werden. Andererseits besteht der Mehrwert der Arbeit auch darin, das Konzept der Transkulturalität, das im Kontrast zur multikulturellen Konzeption nachgezeichnet wird, grundlegend zu skizzieren. Wie beim Forschungsstand noch näher gezeigt werden wird, besteht an dieser Stelle ein deutliches Desiderat, da das Konzept der Transkulturalität bisher weder auf sein theoretisches Fundament, seine begriffshistorischen Wurzeln, noch auf die daraus abgeleitete theoretische Abgrenzung zum Multikulturalismus hin wissenschaftlich befriedigend untersucht wurde. Um jedoch die zentrale Frage nach der Einordnung der Idee der mestiçagem als transkulturell beantworten zu können, schließt die Arbeit auch an dieser Stelle eine forschungsbedingte Lücke. Aufbau Zur Beantwortung der aufgeworfenen Leitfrage untergliedert sich die Arbeit in drei übergeordnete Teilabschnitte. Der erste Teil, Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis, strebt an, den Gegenstand Brasilien näher zu beleuchten. Dabei wird zugleich eine Eingrenzung vorgenommen, da sich die Untersuchung zeitlich auf die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts beschränkt. Auch die Auswahl des Werkes CGS von Gilberto Freyre als zentrale Quelle für diesen Abschnitt stellt eine Konkretisierung dar. Diese wird vorgenommen, da der Abschnitt herausarbeiten möchte, wie sich im Brasilien der 1930er Jahre durch den Einfluss Freyres eine theoretische Neubewertung des Faktors Kultur

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vollziehen konnte. Es wird gezeigt, dass das neue nationale Selbstverständnis einerseits auf dem spezifischen Mischverhältnis der Rassen fußt und andererseits mit der Idee der mestiçagem ein Profil einer einheitlichen brasilianischen Kultur entsteht, die die Rassenunterschiede abwertet. Der sich aus der Position Freyres abzuleitende Kulturbegriff soll als Kernstück dieses Teils herausgearbeitet und im weiteren Verlauf als Untersuchungsgegenstand herangezogen werden. Der zweite Teil der Arbeit, Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe, dient dazu, den Begriff von Kultur in zwei gegensätzlichen Ausrichtungen theoretisch nachzuzeichnen. Dazu untergliedert sich der Abschnitt zum einen in das Kapitel zu Johann Gottfried Herder, Die Dialektik von Einzelkultur und Gesamtmenscheit, zum anderen wird mit dem Kapitel, Das Netz als kulturtheoretischer Rahmen, auf Ludwig Wittgenstein eingegangen. Dieses dialektische Gegenüberstellen der beiden Philosophen und deren Kulturbegriffe schließt mit dem dritten Kapitel, Universalismus als gemeinsamer Gegner, ab. Bereits in diesem Teil der Abhandlung fließt der Vergleich zwischen Kulturbegriff und der Idee der mestiçagem mit ein. Dieser zweite Teil nimmt die Funktion der Mittlerrolle ein, da der aus der brasilianischen Identitätsidee extrahierte Kulturbegriff damit theoretisch verortet und abgegrenzt werden kann. Diese erste Positionierung ermöglicht es, im anschließenden Teil der Arbeit eine Analyse von Kulturverständnis und Kulturkonzept anzustellen. Mit dem dritten Teil der Arbeit, Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur, werden Multikulturalismus und Transkulturalität als Konzepte kontrastiert. Das Kapitel, Kulturelle Identität als horizontales Mosaik – Der Multikulturalismus, widmet sich dem Begriff des Multikulturalismus, der seit den 1990er Jahren sowohl in der Sozialwissenschaft als auch im medialen und öffentlichen Diskurs zum Modethema und Leitbegriff avanciert ist. Grundsätzlich zeigt das Kapitel einmal das pluralistische Grundverständnis des multikulturellen Konzepts und gleichzeitig das Erstarken der Kategorie der Differenz, die für den Multikulturalismus ausschlaggebend ist. Dass in der westlichen Welt der Migrationskontext grundlegend für die Entstehung des Konzepts des Multikulturalismus war, zeigt, dass die anzustellende Untersuchung einen Gegenstand beleuchtet, der sich deutlich in eine Zentrum-Peripherie-Debatte einordnen lässt. Mit diesem Abschnitt der Arbeit soll zudem deutlich werden, dass der Multikulturalismus zwar antritt, um als Antithese zu Rassismus und Xenophobie verstanden zu werden, jedoch kritisch zu hinterfragen ist, nämlich, inwiefern durch ihn nicht doch auch faktische Herrschafts- und Machtverhältnisse kaschiert werden. Die Idee der mestiçagem erhält in diesem Abschnitt Bedeutung, da der ihr zugrundeliegende Kulturbegriff mit dem der multikulturellen Konzeption kontrastiert wird. Auch arbeitet das Kapitel Kulturelle Identität als subjektinternes

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Mosaik – Die Transkulturalität im dritten Teil gespiegelt zu diesem Vorgehen mit dem Kontrastieren der Kulturbegriffe. Sich vom multikulturellen Konzept abgrenzend, fragt das Konzept der Transkulturalität danach, ob die heutigen Kulturen in ihrer Verfasstheit überhaupt noch mit traditionellen Konzeptionen von Kultur erfasst werden können. Das Kapitel zeigt auf, dass die Parallele zum Multikulturalismus im Bild von pluralen kulturellen Gesellschaften besteht. Jedoch ist es der Kulturbegriff, der sich signifikant unterscheidet, wobei der Rückbezug zum zweiten Teilbereich der Arbeit deutlich herausgearbeitet wird. Das Konzept der Transkulturalität entfaltet sich an der These, dass der Gegenstand und der Begriff von Kultur, wie sie der Multikulturalismus betrachtet, nicht mehr zusammenpassen, beziehungsweise diese nicht passgenau sind. Diese fehlende Kongruenz von Begriff und Gegenstand ist es, was die Transkulturalität als modernes Korsett empfindet. Was im Abschnitt zu diesem Konzept herausgearbeitet werden soll, ist die Tendenz zur Abgrenzung vom Multikulturalismus, die gleichzeitige Sprachnot, sich vom Konzept der Kultur zu lösen und der transkulturelle Kulturbegriff. Letzterer wird, wie angesprochen, ebenfalls dem Kulturbegriff, der aus der Idee der mestiçagem extrahiert werden konnte, gegenübergestellt. Abschließend führt der Abschnitt zu Mestiçagem und Transkulturalität unter dem Deckmantel der Rasse? die Kritikpunkte am transkulturellen Konzept und der Idee der mestiçagem zusammen. An dieser Stelle beziehen die Ausführungen zur zweiten Leitfrage nach der Tragfähigkeit von Konzept und Idee Position. Design/Methode Vorweg ist zu konstatieren, dass der methodische Rahmen zur Beantwortung der Leitfrage durch den Übergang von Verständnis zu Begriff und letztendlich zu Konzept von Kultur gekennzeichnet ist. Deswegen soll im ersten Teil der Analyse das Verständnis von Kultur im Mittelpunkt stehen. Wie einleitend dargestellt, sind die Idee der mestiçagem und damit ein genuin brasilianisches Verständnis der eigenen kulturellen Identität problemkonstitutiv für diese Arbeit. Auch methodisch ist dieses Verständnis von Kultur der Ausgangspunkt für die Untersuchung multi- und transkultureller Konzeptionen. Deswegen beginnt die Arbeit im ersten Teil damit, das brasilianische Gesellschaftsbild, Selbst- und Kulturverständnis, das mit dem Begriff der mestiçagem zum Ausdruck gebracht wird, aufzuzeigen. Das in diesem Teil angewandte methodische Schema gliedert sich in fünf Kategorien, die gespiegelt auch in Bezug auf die Kulturkonzepte im dritten Teil Anwendung finden. Anfangs sollen Brasilien und seine kolonialgeschichtlich geprägte Gesellschaft gerade im Hinblick auf die rassische beziehungsweise ethnische Zusammensetzung hin nachgezeichnet werden. Das Selbstbild, im internationalen Vergleich eine Sonderrolle einnehmend, wird dabei

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herausgehoben. In einem weiteren Schritt gilt es, die Begriffsgeschichte der mestiçagem deutlich herauszuarbeiten und in Relation mit anderen nationalen und lateinamerikanischen Ansätzen zu setzen. Durch diese Schärfung des Begriffs leiten die Ausführungen dazu über, einen Kulturbegriff aus dem Verständnis, das mit der Idee der mestiçagem zum Ausdruck gebracht wird, zu extrahieren. Bezüglich desselben soll nochmals explizit die Position Gilberto Freyres als Ideengeber und zentraler Autor aufgezeigt werden. Ausgehend von Kulturbegriff und konkreter Position ist die Kritik an der Idee der mestiçagem der abschließende, aber auch entscheidende Schritt, da es vor allem die kritische Debatte um das brasilianische Verständnis von Kultur und gespiegelt auch um das Konzept der Transkulturalität ist, welche eine theoretische Bewertung der Tragfähigkeit erst ermöglicht. Was dieser erste Teil der Arbeit noch nicht leistet, ist die Beantwortung der Frage, inwiefern sich die Idee der mestiçagem als multi- oder transkulturell einordnen lässt. Dies ist jedoch beabsichtigt, da dieser Abschnitt als Problemaufriss fungiert, der die Debatte um die theoretische Verfasstheit von Kultur und um ihren Begriff eröffnet und von einem konkreten Verständnis über philosophische Grundpositionen zur Begriffsfindung auf die Frage nach Formen der Konzeptualisierung von Kultur überleitet. Die Entscheidung, für die Untersuchungen des ersten Teils auf Werke aus den Disziplinen der brasilianischen Anthropologie, Soziologie und Philosophie zurückzugreifen, ist bewusst getroffen. Denn mit dem Selbstbild der brasilianischen Gesellschaft im Spiegel ihrer kolonialgeschichtlichen Entwicklung und Entfaltung in der Moderne des 20. Jahrhunderts soll die theoretische Diskussion um Multikulturalismus und Transkulturalität auf ein breiteres Fundament gestellt werden und mehr Möglichkeiten für Anschlussdebatten und Weiterentwicklungen bieten. Im zweiten Teil der Arbeit steht der Begriff von Kultur im Fokus. Die theoretischen Ansätze Johann Wolfgang Herders und Ludwig Wittgensteins werden dazu einer Analyse hinsichtlich der Kategorien Anthropologie, Kulturbegriff und Umgang mit kultureller Pluralität und Differenz unterzogen. Diese Kategorisierung dient dazu, deutlich zu machen, dass diese drei Elemente, miteinander verbunden, ein Kategoriensystem ergeben. Zielführend ist diese Auswahl, da sie bei beiden Denkern eine übergeordnete Systematik zu Tage treten lässt. Erst anhand eines solchen Kategoriensystems kann im nächsten Teil der Arbeit auf ein komplexes Kulturkonzept geschlossen werden. Die Autoren wurden ausgewählt, da beide Kultur als sozial konstruiert ansehen, diese dadurch aber auch unbestimmt lassen und keine klare Definition vorgeben. Das Extrahieren eines jeweiligen Kulturbegriffs wird erst durch das angesetzte Schema von Kategorien erkennbar. Bei der Beschäftigung mit Herder beschränkt sich die Textauswahl auf die Ideen zur Philosophie der Geschichte

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der Menschheit (2013) (Ideen). Hier stellt er die zentrale Frage nach der Gestalt der Gesellschaft und macht deutlich, dass der rechtliche Rahmen einer solchen immer abhängig von kulturellen Anlagen ist. Seine Methodik basiert auf Analogien und Ähnlichkeitsrelationen, die bei Wittgenstein der Methode des Sprachspiels gegenübertreten, dabei aber auch gewisse Parallelen hervorrufen. Diesen zweiten praxeologischen Ansatz, der statt kultureller Zuordnung die Verwendung in den Vordergrund rückt, entwickelt Wittgenstein vor allem in den Philosophischen Untersuchungen (2015) (PU) Statt auf das Hauptwerk, den Tractatus ­logico-philosophicus (TCL), zurückzugreifen, wird die Begrenzung auf die PU damit begründet, dass er darin am deutlichsten das Verständnis von Kultur als Lebensform und Ausdruck von Familienähnlichkeiten als Teile des Sprachspiels entfaltet. Die Untersuchung der beiden Philosophen und ihrer Kulturbegriffe hinsichtlich der drei dargestellten Kategorien wird jeweils dadurch ergänzt, dass beiden Ansätzen die Idee der mestiçagem gegenübergestellt wird. Dieser Schritt prüft das Verständnis von Kultur, das als Kontextgeber der gesamten Analyse fungiert, jeweils mit einem philosophischen Begriff von Kultur zusammengeführt und auf Parallelen und Divergenzen untersucht. Methodisch leitet er dazu über, ausgehend von diesem Ergebnis, das Verständnis der mestiçagem im Spannungsfeld der multi- und transkulturellen Kulturkonzeption zu verorten. Der Übergang von Verständnis zu Begriff und letztendlich zum Konzept von Kultur stellt, wie angesprochen, den methodischen Rahmen dar, mit dem die zentrale Leitfrage beantwortet werden soll. Vor dem Übergang zum dritten Teil der Arbeit, den Kulturkonzepten, problematisiert das Kapitel Universalismus als gemeinsamer Gegner? das theoretische Spannungsverhältnis von universalistischer Kulturtheorie und Kulturrelativismus. Sowohl Herder als auch Wittgenstein werden aufgrund ihrer erarbeiteten Kulturbegriffe in diese Debatte eingeordnet, da dadurch die These zu überprüfen ist, ob die auf beiden Philosophien aufbauenden Kulturkonzepte wiederum die jeweilige Positionierung in diesem Richtungsstreit aufweisen. Daran anschließend stellt der nächste Schritt vor, wie sich, basierend auf der angestellten Gegenüberstellung von Verständnis und Begriff, methodisch den beiden Konzeptionen von Kultur angenähert werden kann. Um es zu ermöglichen, sowohl dem multi- als auch dem transkulturellen Kulturkonzept einen Kulturbegriff zu entnehmen, beginnen die Ausführungen, beide Kulturbegriffe jeweils im zeitlichen Kontext des 20. und 21. Jahrhunderts zu verorten. Im nächsten Schritt der Eingrenzung gilt es, die allgemeinen Kennzeichen sowie die semantischen Wurzeln zu skizzieren. Daran schließt sich ein Überblick zur jeweiligen Diskussionshistorie an, da davon ausgegangen wird, dadurch die beiden Konzepte hinsichtlich ihrer semantischen Entwicklung und der jeweiligen Bedeutung des länderspezifischen Kontexts greifbarer und

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vergleichbar zu machen. Um bei beiden konzeptionellen Herangehensweisen den zugrundeliegenden Kulturbegriff auszumachen, treten jeweils drei Kategorien hervor: Zum einen der Umgang mit Differenz, darüber hinaus die Bedeutung von Rasse und Herkunft für den Kulturbegriff und zum dritten die Verknüpfung mit den im vorgehenden Teil erarbeiteten philosophischen Ansätzen. Der Bezug zu den Theorien von Herder und Wittgenstein stellt das Herzstück der Analyse dar, da dadurch ein philosophisches Fundament aufgezeigt wird, das in dieser Form in der Diskussion um beide Modelle bislang fehlte oder nur rudimentär behandelt wurde. Doch auch der methodisch eingeforderte Rückbezug vom Konzept über den philosophisch begründeten Kulturbegriff bis hin zur Idee der mestiçagem als Kulturverständnis wird in beiden Fällen hergestellt und ist zentral für die Beantwortung der eingangs aufgeworfenen Frage. Die Darstellung verschiedener Strömungen, Positionen und damit auch Kritiken schließt sich in einer logischen Reihung für beide Modelle an. Die Betrachtung variiert im letzten Punkt, wenn das multikulturelle Modell in Bezug auf mögliche Alternativen und der transkulturelle Ansatz hinsichtlich seiner generellen Tragfähigkeit untersucht werden. Dieser Unterschied generiert sich auch schon aus der darzustellenden Problemlage, dass im multikulturellen Kontext die Formen von Multikulturali-tät (Zustand) und Multikultural-ismus (Ideologie/politisches Programm) etabliert sind. In der transkulturellen Forschung besteht hingegen die semantische und inhaltliche Entwicklung bisher nur vom Begriff der Trankultura_ tion (Beschreibung kolonialer Dynamik) hin zur Transkulturali_tät (postkoloniale Kontinuitäten).3 Diese unterschiedlichen Ebenen und Ausrichtungen der beiden Konzepte werden berücksichtigt und problematisiert, sollen aber ebenfalls durch die Methode der kategoriengeleiteten Gegenüberstellung soweit reduziert werden, dass ein fruchtbarer Vergleich möglich wird. Die primäre Textbasis für die multikulturelle Perspektive bilden die Schriften der beiden kanadischen Politikwissenschaftler Charles Taylor und Will Kymlicka. Da sie die zentralen Autoren der Debatte sind, ist der Bezug zu ihnen unumgänglich. Sie sind zudem von Bedeutung, da sie die Herder’sche Grundidee mit dem Liberalismus in Verbindung bringen und diese schließlich in die Moderne überführen. Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch tritt im transkulturellen Kontext hervor, da er den

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dieser Stelle soll die aus der Literatur entnommene unterschiedliche Verwendung der Bindestriche (Multikultural-ismus und Transkulturali_tät) zum Ausdruck bringen, dass sich vor allem das transkulturelle Denken von alt bewerten Mustern auch orthographisch abheben möchte und einen Neuanfang verkörpert. Im Fortlauf der Arbeit wird diese Logik aufgegriffen, indem von Trans_Konzepten gesprochen wird.

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Übergang der Form der -tion hin zur -tät geprägt hat und es sein Anspruch ist, dem Konzept philosophische Tiefe zu verleihen, was er durch seinen Rückblick zu den Erkenntnissen der Wittgenstein’schen Theorie ausdrückt. Forschungsstand und Literatur Allgemein verfolgt die Arbeit den Anspruch, den Forschungsstand zu den Teilbereichen zu überblicken, die für den Aufbau maßgeblich sind. Eingangs wurde bereits ein Desiderat hinsichtlich der transkulturellen Forschung, die in der politikwissenschaftlichen Perspektive noch wenig Beachtung findet, attestiert. Diese Absenz erzeugt ein unbefriedigendes Gesamtbild. Ziel der Arbeit ist es demzufolge, die Forschungslücke zum transkulturellen Konzept durch eine systematische philosophische Aufarbeitung, eine Kontrastierung mit der breit gefächerten multikulturellen Forschungsliteratur und durch eine Verknüpfung mit dem brasilianischen Kontext zu schließen, beziehungsweise neue, wegweisende Impulse dafür zu liefern. An dieser Stelle soll aufgezeigt werden, wie der konkrete Forschungsstand der einzelnen Bereiche, die sich aus der Logik des vorgestellten Aufbaus der Arbeit ergeben, bewertet werden kann und welche der verwendeten Literatur für die Argumentation der Arbeit von entscheidender Tragweite ist. Worauf es hier zusätzlich zu verweisen gilt, sind die angewandten Sprachen in der Arbeit. Durch das Verfassen der Dissertation in deutscher Sprache richtet sich die Analyse zunächst an den deutschsprachigen Leser. Jedoch muss hinzugefügt werden, dass durch den Untersuchungsgegenstand Brasilien, der problemkonstitutiv für die gesamte Analyse ist, natürlich auch ein Publikum angesprochen wird, das einen konkreten regionalen Bezug aufweist. Deshalb wird einerseits sehr viel Wert darauf gelegt, vor allem den portugiesischsprachigen Forschungsstand zu der Idee der mestiçagem und den Bezug zu Kulturkonzeptionen darzustellen. Andererseits wird die Arbeit auch von wörtlichen Verweisen aus dem portugiesisch- und teilweise spanischsprachigen Kontext unterfüttert. Durch die Annahme, dass es sich um ein regional interessiertes Publikum handelt, verzichten die Ausführungen darauf, die Zitate ins Deutsche zu übersetzen. Auch die angestrebte interdisziplinäre Öffnung wird dadurch unterstützt, dass die kontextspezifische Literatur auch in der Originalsprache abgebildet wird. Im nächsten Schritt stehen die drei Kapitel zu Kulturverständnis, Kulturbegriff und Kulturkonzept und die zugehörige Forschungsliteratur im Fokus. Dass Gilberto Freyre und seine Monographie Casa Grande e Senzala (2006) die primäre Quelle für das erste Kapitel zum brasilianischen Kulturverständnis der Idee der mestiçagem sind, wurde bereits mehrfach genannt und auch begründet. Um den Autor und sein Werk grundlegend zu erfassen, muss jedoch

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auf die Monographie Gilberto Freyre. Social Theory in the Tropics (2008) des britisch-brasilianischen Ehepaares Peter Burke und Maria Lúcia Pallares-Burke verwiesen werden. Die Autoren veröffentlichten die erste umfassende englischsprachige Monographie zu Gilberto Freyre, die zudem die Mehrzahl seiner Werke miteinbezieht. Für die vorliegende Arbeit bietet ihre Darstellung einen systematischen Zugang, obwohl zugleich die deutliche Sympathie der Autoren für Freyre kritisiert werden muss. Seine politische Rolle wird nicht kritisch hinterfragt, wodurch sich das Buch in die Reihe der zahlreichen portugiesischsprachigen Analysen über Freyre einreiht. Die Sprachwissenschaftler Joshua Lund und Malcom McNee erweitern diese Perspektive mit ihrem Sammelband Gilberto Freyre e os estudos latino-americanos (2006). Besonders gewinnbringend fügen die Herausgeber Forscher und deren Perspektiven sowohl aus verschiedenen nationalen Kontexten – Brasilien, Kolumbien, USA, Kanada, Großbritannien und Frankreich – als auch aus unterschiedlichen Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Anthropologie und Philosophie zusammen. Diese disziplinäre Reichweite, die zudem Autoren erfasst, die auch Ansätze miteinbeziehen, die nicht klassisch auf Brasilien ausgerichtet sind, passt in das Programm des für die Arbeit angelegten offenen Forschungsdesigns. Somit ergänzen Aufsätze wie O “hibrido” como fetiche: “Raça”, ideologia e narrativa em Casa-grande & Senzala von Neil Larsen oder Gilberto Freyre. Adaptação, mestiçagem, trópicos e privacidade em Novo Mundo nos trópicos von Lilia Schwarcz die fehlende kritische Lesart, die Peter Burke vermissen lässt. Letztgenannte Anthropologin reiht sich in eine Riege brasilianischer Wissenschaftler ein, auf deren Werken das Kapitel zum brasilianischen Kulturverständnis maßgeblich fußt. Neben dem genannten Aufsatz bei Joshua Lund fokussiert sich Schwarcz in weiteren Aufsätzen wie Espetáculo da miscigenação (1994) und Romantismo Tropical. A estetização da política e da cidadania numa instituição imperial brasileira (2000b) auf das Thema der Rassenmischung und zeichnet die Bedeutung dieser für die brasilianische Selbstwahrnehmung seit dem 19. Jahrhundert nach. Einen ähnlichen Beitrag leistet die Historikerin Karen Lisboa mit ihrer Monographie Mundo Novo Mesmo Mundo. Viajantes de língua alemã no Brasil (1893–1942) (2011), indem sie dort die brasilianischen Rassentheorien und sozialen Beziehungen aus dem Blickwinkel der Alten Welt außenperspektivisch nachzeichnet. Zwei weitere tragende Säulen der Arbeit stellen die Monographien Ideologia da cultura brasileira (1933–1974). Pontos de partida para uma revisão histórica (2014) von Carlos Guilherme Mota und Cultura brasileira e identidade nacional (2012) von Renato Ortiz dar. Mota erstellt eine überblicksartige Analyse über die Literatur, die Brasilien als nationale Einheit denkt, beginnend ab den 1930er Jahren. Für die vorliegenden Ausführungen erweist sich Motas Werk als

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entscheidend, da Gilberto Freyre mit seiner Idee der mestiçagem als Gründungsvater einer neuen Generation beleuchtet und gleichzeitig in einem weitreichenden literarischen Panorama über die cultura brasileira vergleichend betrachtet wird. Ortiz kehrt besonders das Element der nationalen Identität hervor, die als Symbol zwischen einem homogenisierenden nationalen Narrativ und der faktisch heterogenen Kultur vermitteln kann. Die Idee der mestiçagem lässt sich mit ihm besser innerhalb dieses Schemas verstehen. Neben der hauptsächlich brasilianischen Literatur in diesem Kapitel liefern zwei US-amerikanische Forscher einen wichtigen Beitrag, denn sie beziehen vor allem die vergleichende Perspektive zu Nordamerika mit ein. Dies sind zum einen Thomas Skidmore mit seiner Monographie Black into White. Race and Nationality in Brazilian Thought (2005) und zum anderen Edward Telles und seine Monographie Race in Another America. The Significance of Skin Color in Brazil (2004). Zum ersten Kapitel der Arbeit lässt sich somit resümieren, dass die portugiesischsprachige Literatur fundamental für die Darstellung ist, jedoch grundlegende Überblickswerke und Vergleichsperspektiven aus dem angelsächsischen, insbesondere dem nordamerikanischen Raum ergänzend nicht fehlen dürfen. Um die Philosophie Johann Wolfgang Herders nach dem vorgestellten Dreiklang aus anthropologischem Bild, Kulturbegriff und Umgang mit kultureller Differenz zu untersuchen, wird sein Werk die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (2013) als Primärquelle herangezogen. Diese Beschränkung erfolgt deshalb, weil Herder darin die zentrale Frage nach der Gestalt der Gesellschaft stellt und deutlich mit einer für seine Zeit polarisierenden Position argumentiert, nämlich damit, dass der rechtliche Rahmen einer Gesellschaft immer von kulturellen Anlagen abhängig ist. Durch dieses Aufwerten der Kultur wird das Werk zur primären Quelle, um den Versuch, einen später vergleichbaren Kulturbegriff zu extrahieren, zu wagen. Unterstützend sind es vor allem drei weitere Autoren, die dazu beitragen, das Herder’sche Werk nach den angelegten Kategorien zu filtern und kritisch zu beleuchten. Mit ihrer Monographie Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der „Ideen“, „Humanitätsbriefe“ und „Adrastea“ (2005) bietet Anne Löchte einen systematischen Überblick und Zugang zu seiner philosophischen Logik der Kulturtheorie. In ihrer Dissertationsschrift greift die Autorin die teilweise widersprüchliche Rezeptionsgeschichte des Denkers – sowohl als humanistischer Weltbürger, kämpferischer Antikolonialist und Relativist wie auch als Begründer eines spezifisch deutschen Nationalismus oder Vertreter kolonialistischer Rechtfertigungsstrategien – auf. Gleichzeitig liefert Löchte als Ergebnis ihrer Untersuchung das Bild eines Herders, der für die Wechselwirkung zwischen den Völkern, die nur auf der Basis von Anerkennung fußen

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kann, eintritt. Damit gibt sie entscheidende Anstöße für die theoretische Verbindung zwischen seiner Kulturtheorie und dem Konzept des Multikulturalismus. Auch der Germanist Martin Bollacher prägt die Forschung zur Herder’schen Kulturtheorie maßgeblich, beispielsweise mit seinem Sammelband Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur (1994). Für die Analyse des Teilabschnitts in der vorliegenden Arbeit erweist sich jedoch vor allem sein Aufsatz Herders Theorie der Kultur in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (2005), der im Sammelband Der Bildhunger der Literatur erschien, als gewinnbringend. Die bereits bei Löchte herausgearbeitete Anschlussfähigkeit zwischen Herder und dem theoretischen Fundament, dem Kulturbegriff des Multikulturalismus, wird vor allem von Georg Auernheimer in seinem Aufsatz Das Mulitkulturalismusverständnis bei Herder: Versuch einer Ehrenrettung (2013) deutlich gemacht. Er beleuchtet dabei die Kritik und die Warnungen, die Herder ausspricht, im Besonderen den Hinweis, dass Gesetze ohne kulturelle Verwurzelung nur eine zweitrangige Stellung einnehmen können. Auernheimer und sein Beitrag sind also deswegen für die vorliegende Analyse von Bedeutung, da sie ausgehend von der philosophischen Antinomie zwischen kulturellem Eigenwert und universellen Maßstäben bei Herder auf die aktuelle multikulturelle Debatte schielen. Auch der Abschnitt zu Ludwig Wittgenstein und seinen kulturphilosophischen Elementen stützt sich primär auf eine Quelle. Den Fokus auf die Philosophischen Untersuchungen (PU) und damit auf Wittgensteins Spätwerk zu legen, ist wiederum eine bewusste Entscheidung. Die PU nehmen mit Blick auf sein Gesamtwerk eine Sonderstellung ein, denn sie läuten eine markante Wendung ein. In seinem berühmtesten Werk, dem TCL, postuliert der Denker, dass die menschliche Welt alles sei, was auch logisch der Fall sein könnte. Das Umdenken mit den PU ist von der gegensätzlichen Perspektive getragen. Durch die Hinwendung sowohl zum praktischen Handeln als auch zum anthropologischen Denken stellt Wittgenstein die Gewissheit vor, dass man sich mit unmittelbar vorliegenden Tatsachen auseinandersetzen müsse. Es sind also die menschlichen Tätigkeiten und nicht mehr sein Wesen, welche als Analysegegenstand in seiner Philosophie ins Zentrum rücken (vgl. Gebauer 2009: 13/Garver 1999: 51). Die Monographie von Gunter Gebauer Wittgensteins anthropologisches Denken (2009) bekommt im Abschnitt zu Wittgenstein und seinem Kulturbegriff deshalb so große Bedeutung, da es der Autor schafft, die zentralen Begriffe des Denkers in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Er nimmt den leidenden Wittgenstein ins Visier, der die menschlichen Unzulänglichkeiten kritisiert. Gebauer leitet aus dieser Spannung zwischen Weltschmerz und Weltoffenheit, die für die vorliegende Arbeit wichtige Interpretation ab, dass der Ansatz in den PU von

4  Design der Arbeit

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der Bedeutung der sozialen Praxis bestimmt wird. Der indische Philosoph Ram Adhar Mall ist losgelöst von der Wittgensteinforschung bekannt für seine Monographie Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie. Eine neue Orientierung (1995), die vor allem die eurozentristische und westlich geprägte Ausrichtung der Philosophie kritisiert und für eine Emanzipation der Disziplin eintritt. Diese Perspektive macht er für den in dieser Arbeit zu bearbeitendem Abschnitt zu Wittgensteins Kulturbegriff mit seinem Aufsatz Interkulturelle Philosophie und Wittgensteins Thesen von der Kontextualität und der Familienähnlichkeit (2000) fassbar. Mall setzt Wittgenstein in den Kontext einer interkulturellen Philosophie und attestiert, dass der Gebrauch von Analogien bei Wittgenstein eine bestimmte Funktion einnimmt: Herstellen eines Bewusstseins der Überlappung, ein Bewusstsein abseits von totaler Identität und völliger Differenz (vgl. Mall 2000: 55). Damit wird Malls Beitrag entscheidend für die Anknüpfung an das transkulturelle Konzept im darauffolgenden Kapitel. Doch zunächst ist die Philosophin Seyla Benhabib mit ihrer Monographie The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Golden Era (2002) und ihrem Aufsatz Ein anderer Universalismus. Einheit und Vielfalt der Menschenrechte (2007) wichtig, wenn der Stellenwert des Universalismus in den Theorien und den darin enthaltenen Kulturbegriffen bei Herder und Wittgenstein gesondert beleuchtet wird. Benhabib hinterfragt die Legitimationsgrundlage von universellen Menschenrechten und leitet daraus einen Universalismusbegriff ab. Dieser ist für die Diskussion an dem Punkt der vorliegenden Arbeit fruchtbar, da er die liberale Demokratie und die Bewertung einzelner kultureller Praktiken kritisiert. Der Relativismus, der beiden Denkern attestiert wird, kann dadurch einleuchtend kontrastiert werden. Der Religionsphilosoph Raimon Panikkar nimmt mit seinem Aufsatz Is the notion of Human Rights a western concept? (1982) eine entscheidende Gegenposition zu Benhabib ein, da er hinter den universellen Menschenrechten ein trojanisches Pferd vermutet. Für ihn besteht das grundlegende Problem darin, dass die Wahrnehmung der Menschen an ihrem eigenen Horizont zwangsläufig ende. Damit begründet er auch, warum er sich gegen ein universelles Konzept von Kultur ausspricht. In Bezug auf die beiden vorzustellenden Kulturkonzepte geht der Multikulturalismus auf zwei politische Philosophen zurück, die die interne Debatte auch aktuell noch mit ihren Theorien bestimmen. Der eine ist Charles Taylor, der in diesem Kapitel vor allem mit seiner Aufsatzsammlung Wieviel Gemeinschaft braucht die Demokratie? Aufsätze zur politischen Philosophie (2001) und seiner zentralen Monographie Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (2012) für das Nachzeichnen der theoretischen Fundierung bemüht wird. Der Aufsatz The Importance of Herder (1995) stützt die Linie,

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1 Einleitung

die von seinem Konzept bis auf Herder zurückreicht und in der Arbeit nachempfunden werden soll. Der andere, Will Kymlicka, nimmt mit der Monographie Multicultural Citizenship (1995) eine zweite, liberale Position in der Debatte ein. In Aufsätzen wie The rise and fall of multiculturalism? New debates on inclusion and accomodation in diverse societies (2010) macht der Denker deutlich, dass der Multikulturalismus als Theorie nicht frei von Kritik ist und stets neu ausgerichtet und angepasst werden muss. Andreas Reckwitz hat in diesem Dialog der multikulturellen Denker eine wichtige Position, da er mit seinem Aufsatz Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell kultureller Interferenzen (2001) zur Kontrastierung beiträgt und auch mögliche Alternativmodelle aufzeigt, die sich aus den Kritikpunkten zu den einzelnen Theorien ergeben. Ergänzt wird das multikulturelle Panorama durch die Monographie Multiculturalism. A Civic Idea (2007) von Tariq Modood, mit der es diesem gelingt, die begriffsgeschichtlichen Wurzeln der Theorie im Liberalismus zu verorten und gleichzeitig zu verdeutlichen, dass eine Loslösung von jenen möglich ist und die Debatte aus einem politischen Ansatz herausgeführt werden kann. Einen nötigen kritischen Blick wirft Anton Pelinka mit seinem Sammelbandbeitrag Zu den Fallstricken des Multikulturalismus (2001) auf das von ihm als nicht neutral und absichtslos identifizierte Konzept. Durch seine Argumentation kann in diesem Kapitel die Tendenz des multikulturellen Kulturbegriffs, zu starr und ethnisch begründet zu sein, ausgemacht werden. Dies stellt den entscheidenden Angriffspunkt für das transkulturelle Konzept dar. Auch für dieses zweite Konzept sind verschiedene Autoren ideengebend, selbst wenn diese im Vergleich zur multikulturellen Situation in keiner theoretischen Debatte miteinander stehen. Zum einen fußt das zweite Konzept auf der Monographie Contrapuento Cubano del Tabaco y el Azucar (1973) von Fernando Ortiz, der sich vor allem mit dem Begriff der transculturación auseinandersetzt. Zum anderen werden entscheidende Autoren, die den Weg des zentralen Konzepts der Transkulturalität beeinflussten, betrachtet: Dazu zählen die Monographien Transculturación narrativa en América Latina (1982) von Ángel Rama und Imperial Eyes. Travel Writing and Transculturation (2008) von Marie Louise Pratt. Das angesprochene Konzept der Transkulturalität ist von Wolfgang Welsch begründet, der seine Theorie in keinem Gesamtwerk entfaltet, sondern über verschiedene Aufsätze wie Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen (1992) oder Transkulturalität – die veränderte Verfassung heutiger Kulturen (1997) immer weiterentwickelt. Dorothee Kimmich ist als Ergänzung zu Welschs Theorie für dieses Kapitel der Arbeit unverzichtbar. Als Mitherausgeberin des Sammelbandes Kulturen in Bewegung. Beiträge zu Theorie und Praxis der Transkulturalität (2012) und mit ihrem Aufsatz Nachwort: Was

4  Design der Arbeit

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kommt? Was bleibt? Zur Zukunft der Trans_Konzepte (2016) ist sie es, die aufdeckt, warum die Welsche Konzeption nicht mit systemtheoretischen Herangehensweisen passgenau ist. Zudem stellt sie deutlicher als Welsch den Bezug seiner Theorie zu der Wittgensteins her. Vor allem aber ist ihre Kritik an der transkulturellen Konzeption, nämlich trotz eigenem Selbstanspruch kulturelle Konflikte nicht real abzubilden, zentral für die Frage nach der Tragfähigkeit des Konzepts. Zusätzlich wird der Rückbezug des transkulturellen Konzepts zu lateinamerikanischen Ansätzen und damit auch zum brasilianischen Kulturverständnis in Michael Sotos Aufsatz Transculturation and the Discourse of American Modernism (2004) ermöglicht. Begriffseingrenzung Rasse Eine entscheidende Schwierigkeit, die in der vorliegenden Arbeit auftritt, soll an dieser Stelle problematisiert werden. Den im Portugiesischen verwendeten Begriff der raça oder im Englischen gebrauchten Begriff race unreflektiert ins Deutsche zu übersetzen, würde dem deutschen Begriff der Rasse und seinem historischen Kontext, seiner Stellung in der Wissenschaft und in der allgemeinen Debatte nicht gerecht werden. Der Rassebegriff nimmt deswegen eine so zwiespältige Rolle ein, da mit dem Bezug auf den Menschen kulturelle und soziale Eigenschaften biologisiert, also auf die Natur zurückgeführt werden (vgl. Nirenberg 2003: 61).4 Die vorliegende Dissertation widmet sich nicht der Aufgabe, diese komplexe Diskussion um den Rassebegriff zu lösen. Da in der deutschen Fassung in Anlehnung an die portugiesische Bezeichnung raça jedoch von Rasse und Rassenmischung gesprochen wird, soll dies kontextualisiert werden. Der kulturstiftende Einfluss des Faktors Rasse auf die Identität Einzelner, Gruppen und Gesellschaften nimmt in der Arbeit eine bedeutende Rolle ein. Dazu muss auch zwischen Rasse und Rassismus unterschieden werden. Der Begriff der Rasse ist wissenschaftlich nicht haltbar. Es gibt keine biologische Begründung für diese Art der Unterscheidung von Menschen. Der Rassismus hingegen ist ein in den Sozialwissenschaften begründetes und auch notwendiges Konzept, das bestimmte Funktionen einnimmt. Wichtig zu erkennen ist, dass es das Konzept des Rassismus ist, welches den Begriff der Rasse erst erzeugt (vgl. Pelinka 2001: 155). Im weiteren Verlauf werden die Folgen aufgezeigt, wenn

4Siehe

dazu weiter: Becker, Thomas: Mann und Weib – schwarz und weiß. Die wissenschaftliche Konstruktion von Geschlecht und Rasse 1600–1950, Frankfurt a. M. 2005.

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1 Einleitung

Kultur dazu instrumentalisiert wird, faktisch dieselben Differenzierungen vorzunehmen wie der biologische Rassismus, nur ohne einen begrifflichen Verweis auf Rasse zu leisten. So entsteht ein kulturalistisch argumentierender Rassismus (vgl. Bade 1996: 14). Wie angedeutet, liegt es der Arbeit fern, die Ambiguität zwischen den unterschiedlich verwendeten Begriffen raça, race und Rasse zu lösen, jedoch soll deutlich werden, dass die begrifflich gleich anmutende Verwendung durchaus von einem Kontextbewusstsein geleitet ist, das auch in der Gesamtschau zum Tragen kommt. Bevor mit dem anschließenden ersten Kapitel zur brasilianischen Suche nach eigener kultureller Identität die inhaltliche Analyse aufgenommen wird, soll überleitend nochmals dezidiert der Titel der Dissertation Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität. Mestiçagem als transkultureller Sonderweg angesprochen werden. Ziel war es, durch die einleitenden Erläuterungen die Thematik in einem ersten Schritt einzuordnen und in einen Gesamtzusammenhang zu setzen. Sie bringt zum Ausdruck, dass Brasilien und sein spezifisches Selbstverständnis, das die Idee der mestiçagem verkörpert, in das Spannungsfeld von Multikulturalismus und Transkulturalität mit einbezogen werden sollen. Da diese interdisziplinäre Betrachtung vor allem die Diskussion um transkulturelle Konzepte bereichern möchte, stellt die Arbeit thesenhaft einen Sonderweg der Idee der mestiçagem und ihrer Bedeutung für das nationale Selbstbild zur Überprüfung.

2

Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

1 Definition und Einordnung Wie in der Leitfrage bereits formuliert, nähert sich die vorliegende Arbeit der theoretischen Diskussion um multi- und transkulturelle Formen von Gesellschaften über den Gegenstand Brasilien an. Die dabei erforderliche Engführung auf den Begriff der mestiçagem, der die brasilianische Idee von nationaler Identität zu fassen versucht, stellt sich als wertvoller Ausgangspunkt dar. Jedoch ist zunächst festzuhalten, dass die Idee der mestiçagem auch ein in ganz Lateinamerika erkennbares Phänomen darstellt – in den spanischsprachigen Regionen als mestizaje bezeichnet. Diese Vorstellung der Rassenmischung stellte für viele Länder Lateinamerikas eine Art Gründungsimpuls dar, als es darum ging, im Zuge der Nationalisierungswelle eine eigene Identität auszubilden. Bis in die heutige Zeit sind die Rassenmischung1 und auch die Inklusion von verschiedenen rassischen Elementen essentiell für die jeweils eigene Wahrnehmung

1Im

Brasilianischen werden mestiçagem und miscigenação oft synonym für Rassenmischung verwendet. In ihrer sprachlichen Verwendung trennt die beiden Begriffe nichts. In dieser Arbeit soll aber eine inhaltliche Unterscheidung getroffen werden. Mit dem Begriff der miscigenação wird auf den Fakt der biologischen Mischung zwischen ethnisch und kulturell verschiedenen Gruppen abgezielt. Die mestiçagem bringt im Gegensatz dazu zum Ausdruck, dass es sich bei dieser Begriffsverwendung um ein komplexeres Verständnis von Rassenmischung handelt, dass die rassische und die kulturelle Verschmelzung in allen sozialen Bereichen mit einschließt. Der Begriff der mestiçagem, der vor allem mit dem Vokabular und dem Ansatz Freyres in Verbindung steht, bettet sich dabei in den Rahmen der miscigenação ein.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Krüger, Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30850-6_2

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

der Nation (vgl. Telles 2013: 30).2 Im spezifisch brasilianischen Kontext geht die Anthropologin Liliana Schwarcz davon aus, dass es nicht nur die faktische Rassenmischung war, die den Nationalisierungsprozess beeinflusst hat. Vielmehr sieht sie die Idee der mestiçagem, wie sie vor allem in den 1930er Jahren an Bedeutung gewann, als konstruiert an. Sie wird dadurch zu einem Produkt der Nation. Schwarcz zeigt dazu ergänzend auf, dass parallel ein Prozess der „deafricanização de vários elementos culturais“ (Schwarcz 2006b: 315) einsetzte. Diese De-Afrikanisierung hat Elemente wie Candomblé oder Capoeira, die symbolisch immer stark mit afrikanischen Wurzeln der Versklavten assoziiert wurden, zu ­ gesamt-brasilianischen Nationalsymbolen umkonnotiert. Damit schuf der Aufstieg der Idee der mestiçagem einerseits eine nationale Basis, nahm aber zugleich in Kauf, dass bestimmte kulturelle Gruppen einen Referenzpunkt ihres afrikanischen Erbes verloren (vgl. ebd: 315). Sérgio Costa macht in dieser Diskussion deutlich, welche aktuelle Relevanz die Beschäftigung mit dieser Idee der mestiçagem besitzt: Vor allem der Aufstieg dieses nationalen Gründungsmythos ab den 1930er Jahren in Brasilien, aber auch sein Fall mit der Re-Demokratisierung in den 1980er und 1990er Jahren stelle, so der Autor, ein reiches Material für die Wissenschaft dar. Dabei gehe es hauptsächlich um eine theoretische Reflexion, die gegenwärtig neue Perspektiven aus den postkolonialen und hybriden Theorien miteinbeziehe (vgl. Costa 2001: 153). Die vorliegende Arbeit reiht sich in dieses Vorgehen ein, indem die Idee der mestiçagem aus einer politik-theoretischen Perspektive beleuchtet und mit der aktuellen Debatte um kulturelle Gesellschaftsformation im Widerstreit von Universalismus und Relativismus in Beziehung gesetzt wird. Alfredo Bosi macht dabei auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die bei dieser Beschäftigung mit der cultura brasileira auftritt, nämlich mit Ansätzen aus verschiedenen Disziplinen eine theoretische Bilanz zu ziehen, ohne dabei rein von empirischen Daten geleitet zu sein oder positivistische, funktionale Anweisungen geben zu wollen (vgl. Bosi 2008: 35–36). Costa beobachtet parallel, dass auch die in dieser

2Weiterführende

Literatur zur Bedeutung der mestizaje im lateinamerikanischen Raum siehe: Hale, Charles R.: Más que un Indio: Racial Ambivalence and Neoliberal Multiculturalism in Guatemala, Santa Fee 2006; Holt, Thomas C.: Foreword: The First New Nations, in: Nancy P., Appelbaum/Anne S., Macpherson/Karin Alejandra, Rosemblatt: Race and Nation on Modern Latin America, Chapel Hill 2003, S. vii–xvi; Telles, Edward E.: Race in Another America. The Significance of skin color in Brazil, Princeton 2004; Wade, Peter: Blackness and Race Mixture: The Dynamics of Racial Identity in Colombia, Baltimore 1993.

1  Definition und Einordnung

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Arbeit fokussierte Periode der 1930er Jahre in Brasilien genau diesem Dilemma zu entfliehen versuchte, da sich die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts als inkompatibel mit der Realität erwiesen. Diese Realität bestand darin, ein nationales Projekt zu beginnen, das eine inklusive Identität für alle Brasilianer darstellt (vgl. Costa 2003: 115–116). Die Idee der mestiçagem kann als der Versuch gewertet werden, die theoretische Neubewertung der realen Bedingungen und auch des politisch gewollten Images Brasiliens auszudrücken. Geleitet von dem Gedanken, dass die Idee der mestiçagem und damit auch das Brasilien der 1930er Jahre einen Mehrwert für die gegenwärtige Forschung in der politischen Theorie hat, rückt die Komplexität des kulturell multiplen Landes in den Fokus. Diese kulturelle Komplexität weist nämlich Merkmale auf, die auch in aktuellen Debatten wiederzufinden sind. Einerseits handelt es sich dabei um die Debatte über Rassismus und rassische Diskriminierung. Brasilien als eine nação mestiça steht Pate für die Konstruktion einer nationalen Identität, die trotz vermeintlich inklusivem Ansatz ein Gefängnis, ein Konservatorium des rassischen Denkens, entstehen ließ (vgl. Agier 2006: 175). Die gegenwärtige postkoloniale Theorie ist davon angeleitet, verdeckte Ungleichheitsdiskurse auf Grundlage von kolonial erzeugtem Rassismus aufzudecken. Deshalb fügt sich die theoretische Reflexion über das brasilianische Denkmuster der 1930er in diese aktuelle Debatte ein. Anderseits inspiriert das brasilianische Beispiel auch zur Beschäftigung mit einer aktuellen Debatte über Kultur. Der postmoderne Anthropologe James Clifford3 wird als Referenz dafür angeführt, wenn es um die Feststellung geht, dass die Unterscheidung von Kultur und Identität nicht mehr natürlich ist, sondern immer mehr verschwimmt und beide Elemente ineinander aufgehen. Die kulturelle Hybridisierung, die mit der Idee der mestiçagem verbunden ist, spielt in den von Clifford geprägten Diskurs um die Loslösung von starren Zuweisungen wie Identität und nationaler Grenzen hinein (vgl. ebd.: 176). Diese grundsätzliche Einordnung soll aber nicht nur zeigen, warum es aus aktueller politik-theoretischer Perspektive lohnend scheint, dieses Phänomen der brasilianischen Geschichte zu analysieren. Es soll aus ihr zudem deutlich hervorgehen, warum die gewählte Periode der 1930er Jahre eine Demarkationslinie für die brasilianische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität darstellt. Dazu ist es unverzichtbar, einen Überblick über Brasiliens Geschichte vor 1930 und den Umgang mit der faktischen ethnischen Diversität zu geben.

3Sie

ausführlich: Clifford, James: Malaise dans la culture. L’ethnographie, la litterature et l’art au XXème siècle, Paris 1996.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Der Beginn der portugiesischen Kolonialisierung Brasiliens ab 1500 war stark vom ökonomischen Zweig der Zuckerproduktion geprägt. Waren es zunächst die Indigenen, die als Arbeitskräfte versklavt wurden, gingen die portugiesischen Kolonialmächte ab Mitte des 16. Jahrhunderts dazu über, systematisch afrikanische Sklaven nach Brasilien zu verschleppen. So vergingen gut 300 Jahre bis 1850, als der staatlich organisierte Sklavenhandel über den Atlantik stoppte. Die Zuckerproduktion, später aber auch der Abbau von Edelmetallen und letztlich der boomende Kaffeeanbau, hatten bewirkt, dass zwischen drei und sechs Millionen Afrikaner, vorwiegend aus ebenfalls portugiesisch kolonisierten Gebieten, wie beispielsweise Angola, nach Südamerika verschleppt wurden. Der Fakt, dass Brasilien als letzter Staat der westlichen Hemisphäre erst 1888 die Sklaverei offiziell abschaffte, geht mit der Tatsache Hand in Hand, dass trotz der nationalen Unabhängigkeit von der portugiesischen Krone seit 1822 das koloniale aristokratische System weiter fortbestand. Es waren die Eliten, die nicht daran glaubten, dass mit dem stark angewachsenen Anteil der ­nicht-weißen Bevölkerung ein positives Selbstbild Brasiliens zu erreichen sei (vgl. Telles 2004: 24–25). Neben die Skepsis der Aristokratie, eine nationale Identität auszubilden, trat die Tatsache, dass die offizielle Abschaffung der Sklaverei mit einem Gesellschaftswandel verbunden war. Dieser Wandel bewirkte, dass die Schwarzen und damit das Element des negro in die Frage nach nationaler Identität miteinbezogen wurden – sei es in Form von Ablehnung oder Integration. Auf diesem Weg der Einbindung der nicht-weißen Bevölkerung in die nationale Frage entstand die Idee der mestiçagem – nämlich Brasilien als ein Produkt der Vermischung der indigenen, afrikanischen und weißen Rasse zu sehen (vgl. Ortiz 2012: 38). Schwarcz bezeichnet diesen Weg als Naturalisierung. Bereits mit der Unabhängigkeit 1822 erkannte das brasilianische Königshaus die spezifische Rassenzusammensetzung im Land als ein Charakteristikum an, obgleich man die Schwierigkeit sah, dass mit einer zu deutlichen Rolle der Schwarzen auch die Sklaverei einen zu großen Anteil am nationalen Image habe. Schwarcz bezeichnet es als kulturelles Kunstwerk, das mit der Naturalisierung geschaffen werden sollte: Ein Selbstbild der Nation von der Entdeckung über die Unabhängigkeit hin zu einem positiven Leitbild einer rassisch gemischten und dabei einigen Nation (vgl. Schwarcz 2006a: 25–26). In diesem Bild der Naturalisierung sind weder selbstkritische Aufarbeitung der Sklaverei noch Fragen der sozialen und rassischen Gleichheit enthalten. Die Rassentheorien finden ebenso wie der mythologisierte Eindruck einer friedvollen Rassenmischung einen fruchtbaren Boden in gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Umbrüchen im 19. Jahrhundert, sei es die Transformation der Ökonomie weg vom System der Sklaverei hin zu einem kapitalistischen Modell oder der Bruch mit der monarchischen Organisation von politischer Macht und die Hinwendung zum

1  Definition und Einordnung

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Republikanismus. In jener Übergangsphase zum Ende des 19. Jahrhunderts hin konnten sich Intellektuelle durchsetzen, die durch auch in Europa populäre Rassentheorien die Möglichkeit hatten, die Realität der ethnisch gemischten Zusammensetzung neu zu denken. Jedoch war in diesem intellektuellen Neudenken keine Option vorgesehen, das Verhältnis der Rassen zueinander und das eindeutige Machtgefälle zu verändern, es ging rein um eine neue Form der Begründung (vgl. Ortiz 2012: 38). Insgesamt wird Rasse ab 1870 bis 1930 zu einem verhandelbaren Konzept, das sowohl von Seiten der Wissenschaft als auch seitens der Politik zwischen der Utopie der Gleichheit und dem aktiven Negieren von Gleichheit oszilliert (vgl. Schwarcz 1994: 139/146). Es überrascht nicht, dass zur Jahrhundertwende der Typ des mestiço die meiste Polemik hervorruft. In einem Diskurs um die beiden Antipoden der weißen und nicht-weißen Rassen nimmt er eine Sonderrolle ein, da er in diesem binären System den Schwarzen gegenüber als überlegen wahrgenommen wird, jedoch gegenüber der reinen weißen Rasse als moralisch unterlegen (vgl. Lisboa 2011: 101). Warum war es rückblickend wichtig, bereits die Ursprünge der Idee der mestiçagem vor 1930 zu beleuchten? Was macht es andererseits so spannend, vertieft ab 1930 in die Debatte einzusteigen? Die Darstellung bisher hat gezeigt, dass Brasilien von zwei gegensätzlichen Säulen getragen wurde. Zum einen von der Realität eines schwachen Staatsverständnisses, das sich mühsam von der portugiesischen Krone, der Sklavenwirtschaft und dem monarchischen System loslösen konnte. Gleichzeitig aber auch vom Hang, ein ideologisch aufgeladenes Selbstbild eines starken Staates zu konstruieren. In diesem Selbstfindungsprozess spielt die Rasse als Kategorie eine widersprüchliche Rolle (vgl. Larsen 2006: 391). Welche lokalen und globalen Gründe es gibt, dass ab den 1930er Jahren in Brasilien nach einer Lösung für die Integration des Elements der Rasse in der nationalen Frage gesucht wird, soll im folgenden Verlauf der Arbeit dargestellt werden. Ein Überblick über das gesellschaftliche Panorama Brasiliens zu Beginn der 1930er zeigt, dass das etablierte System der Landaristokratie in die Krise geraten ist. Gegenüber stehen sich die Kräfte, die die oligarchische Saga weiterschreiben wollen und jene, die für ein vom Standeswesen befreites Leben eintreten. Der vermeintliche Modernismus von Gilberto Freyre und seine Vorstellung von der mestiçagem als brasilianisches Charakteristikum gewinnen genau zu diesem Zwiespalt an Bedeutung und öffnen auch ein Umdenken hinsichtlich der Rassenbeziehungen (vgl. Mota 2008: 94–95). Doch was ist es, was dem Versuch Freyres – welcher im Anschluss noch detaillierter dargestellt wird – den Vorwurf einbringt, nur vermeintlich modernisierend zu sein? Die Transitionsphase der 1930er ist, wie angesprochen, davon geprägt, dass die alten Eliten einerseits realisieren, wie sie ihre Macht verlieren und bisher unbekannte, vor allem

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

urbane Kräfte, nach Modernisierung streben. In diesem Bild entsteht eine neue Form der Gesellschaftsorganisation: Der novo capitalismo. Gleichzeitig suchen Intellektuelle nach einem Weg, die Wurzeln des oligarchischen Regionalismus weiter zu erhalten. Gilberto Freyre, der selbst ein Sohn der Republica Velha, also der alten republikanischen Ordnung mit ihren oligarchischen Regionalmachtsstrukturen, ist, versucht sich mit CGS in einem nationalen Projekt. Dabei soll ein Kompromiss zwischen alten und modernen Kräften gefunden werden, wobei Freyre darauf bedacht ist, die Verdienste der Aristokratie, die bis dato das Verständnis des ‚echten‘ Brasilianers mit geprägt hatten, nicht untergehen zu lassen (vgl. ebd.: 98–99). Der politische Umbruch mit der Revolution von 19304 ist mit der Tatsache verbunden, dass Veränderungen von oben gewollt sind und durchgesetzt werden. Die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts werden in diesem Denken obsolet und Intellektuelle, wie auch Gilberto Freyre, bringen die soziale Klage nach einer Neuinterpretation Brasiliens ein (vgl. Ortiz 2012: 40). Carlos Guilherme Mota bezeichnet diese Phase als „era do redescobrimento do Brasil“ (Mota 2008: 89). In Anlehnung an den von Antonio Gramsci geprägten Begriff der „großen Intellektuellen“5, sind es Autoren, wie eben Freyre aber auch Fernando do Azevedo6, die mit ihren Interpretationen Brasilien aus neuer

4Vor

allem die neue urbane Mittelschicht störte sich zum Ende der 1920er Jahre an den immer noch dominierenden elitären Strukturen der Alten Republik. Diese Republica Velha sah nicht vor sich für die neu entstanden Interessensgruppen zu öffnen. Die Agraroligarchie, die seit der Kolonialisierung Brasiliens die Politik steuerte, war maßgeblich für diese Verweigerungshaltung verantwortlich. Die Forderungen reichten von der Reformierung des Bildungssystems und des Arbeitsmarktes bis hin zu dem Wunsch nach staatlicher Zentralisierung als Gegengewicht zu den Regionalmachtsstrukturen. Der Sieg von Júlio Prestes im März 1930 bei den nationalen Präsidentschaftswahlen schien nur kurz die ersehnte Entspannung der revolutionären Stimmung in der Bevölkerung zu bringen. Denn eine Gruppe von Offizieren und Politikern putschten als Reaktion den amtierenden Präsidenten Washington Luís Pereira de Sousa aus dem Amt und setzten Getúlio Vargas als Interimslösung ein. Vier Jahre später wurde dieser offiziell zum Präsidenten gewählt (vgl. Straßner 2013: 208–209). Siehe ebenfalls dazu: Prutsch, Ursula: Brasilien. Eine Kulturgeschichte, Bonn 2014. 5Siehe zur Rolle der Intellektuellen bei Gramsci: Gramsci, Antonio: Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe in 10 Bänden, hg. v. Bochmann, K., Haug, W. F., Jehle, P., Hamburg 1991–1999. Ein Beitrag zur Bedeutung von Gramsci in Lateinamerika siehe: Weigand, Mirijam: Antonio Gramsci. Betrachtung seines Werkes aus Sicht seiner Rezeption in Lateinamerika, in: Arbeitspapiere zur Lateinamerikaforschung, No 3, Vol 16, 2003, online abrufbar unter: http://lateinamerika.phil-fak.uni-koeln.de/fileadmin/sites/ aspla/bilder/arbeitspapiere/weigand.pdf. 6Siehe dazu: Azevedo, Fernando de: A cultura brasileira, Rio de Janeiro ³1958.

1  Definition und Einordnung

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Perspektive wiederentdecken wollen. Mit dem Ende des Estado Novo von Getulio Vargas haben sich zwei Strömungen herauskristallisiert: Auf der einen Seite ein rückwärtsgewandtes, aristokratisches Kulturideal und auf der anderen das zukunftsorientierte Denken der neu erstarkten Mittelschicht (vgl. ebd: 89–90). Dass die Idee der mestiçagem, wie dargestellt, in diesem lokalen und zeitlichen Fenster an Bedeutung gewinnt, ist aber nicht vom globalen Kontext zu lösen, der diese Entwicklung ebenfalls beeinflusst. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts erscheint Brasilien in einem Determinismus zwischen Rasse und Klima verhaftet zu sein. Von außen entsteht dadurch ein Bild der Rückständigkeit, das sich aufgrund dieser Engführung ergibt. Der Kontext des Ersten Weltkrieges stellt für Brasilien eine starke Zäsur dar, obwohl das Land nicht aktiv am Kriegsgeschehen beteiligt war. Die traditionelle Abhängigkeit von Europa, die sich wirtschaftlich und intellektuell durch die Kolonialzeit etabliert hatte, begann Risse zu bekommen. Das Bild des alten, ehrwürdigen Europas mit all seinen Werten, das immer die große Antipode zum vermeintlich rückständigen Tropenstaat Brasilien war, konnte nicht mehr aufrechterhalten werden. Nach dieser Erfahrung der Desillusionierung entstand in Brasilien eine neue Suche nach einer eigenen Moderne (vgl. Skidmore 2002: 3). Bei dieser Suche wollte man bewusst Abstand von der Kategorie Rasse nehmen, wenn es darum ging, die Entwicklung Brasiliens festzulegen. Vielmehr stand der Gedanke der Mobilisierung einer nationalen Entschlossenheit im Vordergrund, welche auch mit der Idee der mestiçagem beabsichtigt wurde. Kritisch reflektiert, ist rückblickend jedoch erkennbar, dass es die Eliten nicht geschafft haben, die Bevölkerung, die es zu mobilisieren galt, zu erreichen. Als Konsequenz blieb erneut die Kategorie der Rasse im Zentrum der Suche nach nationaler Identität erhalten und somit auch in der noch zu zeigenden Idee der mestiçagem (Skidmore 1993: 179). Weiterhin, aus der globalen Perspektive betrachtet, schaffte es Brasilien jedoch, bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges genau mit diesem Fokus auf seine spezifische Rassenmischung beziehungsweise das spezifische Rassenverhältnis ein Bild der Überlegenheit zu erzeugen. Die Idee der mestiçagem trug dazu bei, dass sich Brasilien vor allem von den USA abgrenzen konnte, da es eine als humaner empfundene Lösung der Rassenbeziehungen präsentierte (vgl. ebd.: 209–210).7 Diese Idealisierung Brasiliens als eine, von außen betrachtet, humanistischere Gesellschaft konnte in den 1930er Jahren greifen, da das Land mit der Idee der

7Siehe

vertieft dazu das Kapitel über die Segregationspolitik in den USA The US Path: The Binary Racial Project in: Daniel, Reginald G.: Race and the Multiraciality in Brazil and the United States, Pennsylvania 2006, S. 85–119.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

mestiçagem eine eigene Lösung sozialer Beziehungen präsentieren konnte, die den Rassentheorien der in Europa erstarkten Nationalsozialisten entgegenstand. Gleichzeitig ist es wichtig zu reflektieren, dass dieses Bild von außen zwar durch den Kontakt von europäischen und nordamerikanischen Autoren und Intellektuellen zu brasilianischen Kollegen entstanden ist, jedoch die brasilianischen Autoren nicht als gleichwertige Referenzen behandelt und anerkannt wurden. Das idealisierte Bild, aber auch die kritische Interpretation der sozialen Beziehungen in Brasilien wurden peripher angestellt und verbleiben in einem Erzählen „über“ Brasilien (vgl. Lisboa 2011: 133/135). In der vorliegenden Arbeit geht es aber genau darum, die Idee der mestiçagem sowohl aus der Außenperspektive, als aber eben auch aus dem inneren Selbstverständnis heraus zu erfassen, um sie dann in Bezug zu aktuellen theoretischen Diskursen zur Konzeption von Kultur zu stellen. Bevor es im nächsten Schritt um die genaue Darstellung der brasilianischen Begriffsgeschichte der mestiçagem gehen wird, lohnt zunächst der Blick auf den Stellenwert der Literatur in der Frage der Bewertung der Rassenbeziehungen in den 1930ern. Die angesprochene Sicht von außen und die damit verbundene Feststellung, dass Brasilien vor allem im Vergleich zur Alten Welt eine besondere ethnische und kulturelle Varietät aufweist, geht in starkem Maße auf die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts zurück (vgl. ebd.: 90).8 Mit den 1930er Jahren beginnt jedoch eine neue bedeutungsvolle und vor allem eigene literarische Epoche: Die Literatur der Krise. Im Zentrum stehen nun das Aufdecken von sozialen Beziehungen und institutionellen Strukturen wie auch der Einblick in das intime Leben des senhor de engenho (vgl. Mota 2008: 102). In diesem Panorama fungiert CGS von Gilberto Freyre als Katalysator für eine neue Art des Hinterfragens. Thomas Skidmore betont, dass der Mehrwert des Freyre’schen Werks in seinen aufgeworfenen Fragen besteht und nicht in seinen gegebenen Antworten (vgl. Skidmore 2002: 20). Im Weiteren wird auch noch deutlich werden, dass diese Epoche der Literatur der Krise neben Freyre auch andere Künstler hervorgebracht hat, die sich mit dem Zusammenhang von mestiçagem und nationaler Identität auseinandersetzen.9 Warum Gilberto Freyre

8Um

nur einige Namen aus der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts zu nennen: Richard Burton, Kidder und Fletcher, Spix und Martius, Burmeister und einige weitere. Für einen Überblick siehe: Lisboa, Karen: Olhares estrangeiros sobre o Brasil do século XIX, in: Carlos Guilherme Mota (Hrsg.): Viagem incompleta, São Paulo 2000, S. 265–299. 9Als leuchtendende Beispiele für die Literatur der späten 1920er und frühen 1930er Jahre gelten Macunaíma von Mário de Andrade und O País do Carnaval von Jorge Amado. Siehe dazu: Andrade, Mario de: Macunaíma. O herói sem nemhum caráter, Brasilia 2017; Amado, Jorge: O Pais do Carnaval, Lisboa 1934.

2  Begriffshistorie und Umfeld

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aus der literarischen Landschaft aber auch in dieser Arbeit besonders heraussticht, ist mit seiner Methode begründbar: Er weist eine Kontinuität in seinem Denken auf, welche alte Muster der Regionalmächte mit den politischen Diskontinuitäten und so mit den Vorstellungen der Modernisierer verbindet (vgl. Ortiz 2012: 42). Bei diesem Blick auf Freyre soll es hier nicht darum gehen, ihn in seiner vollen Gänze und auf allen Ebenen zu erfassen. Vielmehr steht im Fokus, sein Thema der brasilianischen Kultur und das damit verbundene Ideal der mestiçagem herauszufiltern und somit fassbar zu machen, wie sich die Argumentationslinie bis in aktuelle Kulturdebatten weiterverfolgen lässt, beziehungsweise neue Anstöße dazu gibt.

2 Begriffshistorie und Umfeld An dieser Stelle soll nun nicht mehr nur eine generelle Einordnung und erste Definition von der Idee der mestiçagem im Mittelpunkt stehen. Vielmehr gilt es, die Historie des Begriffs nachzuzeichnen und jene dabei auch in Beziehung zum lateinamerikanischen Umfeld zu setzen. Wie bereits deutlich wurde, rückt die Frage nach der nationalen Identität Brasiliens nicht erst ab 1930 in den Blick. Vielmehr kann von drei Wellen gesprochen werden: Die erste Phase der nationalen Selbstfindung ist um 1822 nach der Unabhängigkeit von Portugal auszumachen. Die zweite Phase wird mit dem Systembruch von 1889, als Brasilien nicht mehr monarchisch regiert wurde, sondern das Land sich eine republikanische Ordnung gab, erkennbar. Und als letzte Phase können schließlich die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und systemischen Umbrüche gewertet werden, die mit der Revolution von 1930 und dem daraus entstandenen Estado Novo von Getulio Vargas einhergingen (vgl. Munanga 2006: 181). Diese Dreistufigkeit spiegelt sich parallel auch in der Geschichte der mestiçagem als Ideologie der Eliten wider. Dabei ist zu betrachten, wie der biologische Fakt der miscigenação bewertet wurde. Zunächst galt die biologisch gemischte Gesellschaft Brasiliens lange als Symbol für Degenration. Der hohe Grad an ethnischer Vermischung als Konsequenz der portugiesischen Kolonialisierung wurde zudem als Grund für das Bild der Rückständigkeit des Landes angeführt – sowohl aus der Innen- als auch Außenperspektive. Mit der Theorie des branqueamento10,

10Um

die Jahrhundertwende war die brasilianische Zuwanderungspolitik von der Vorstellung der damaligen Eugeniker bestimmt. Diese nahmen an, dass die Spannungen zwischen den verschiedenen Rassen dadurch zu lösen seien, indem man gezielt die Ein-

34

2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

der rassischen Weißmachung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch forciert und in der Gesellschaft populär wurde, veränderte sich auch die Perspektive auf den Fakt der rassisch deutlich durchmischten Bevölkerung. War die miscigenação bis ins 19. Jahrhundert stets als Grund für die Rückständigkeit angeführt worden, so findet gegen Ende des Jahrhunderts eine Umdeutung statt, so dass in Verbindung mit dem Ideal des branqueamento die miscigenação zur genetischen Lösung für die Rückständigkeit wird. In einem dritten Schritt entwickelte sich aus der Feststellung und vorwiegenden Ablehnung der rassisch gemischten Gesellschaft die Idee der mestiçagem als ein positiver Wert. Somit avanciert die biologische Rassenmischung von der Begründung zur Lösung von gesellschaftlicher Rückständigkeit bis hin zu einer Form von Beweisführung für einen humanistischeren Umgang mit ethnischer Diversität (vgl. Telles 2004: 24). Dieser rasante Aufstieg hängt auch damit zusammen, dass bis 1930 das afrobrasilianische Element sowohl auf ethnographischer als auch soziologischer Ebene wenig Beachtung gefunden hat.11 Mit Edgar Roquette-Pinto12, einem brasilianischen Schriftsteller, wurde zum ersten Mal die Entwicklung einer eigenen Theorie von Kultur angestoßen: „[O] problema nacional não é transformar os mestiços do Brasil em gente branca. O nosso problema é a educação dos que

wanderung von weißen Europäern anrege. Es sollte versucht werden, die brasilianische Bevölkerung ‚weiß werden‘ zu lassen – branquear. Diese neo-Lamarck‘sche Denkweise des ‚Whitenings‘ hatte zum Ziel, dass der Anteil der Menschen mit dunkler Hautfarbe in der Bevölkerung langsam zurückgehe. Tatsächlich konnte eine Welle der Einwanderung aus europäischen Ländern verzeichnet werden, die in den 1880er Jahren begann und in den 1890er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Obwohl der wissenschaftliche Rassismus mit der Jahrhundertwende immer mehr in Misskredit geriet, hielten die brasilianischen Eliten an der Ideologie des branqueamento racial fest. Gerade die Loslösung von der Vorstellung von Superiorität und Inferiorität der Rassen öffnete der Thematik des branqueamento alle Türen, da sich diese Ideologie mehr als Prozess denn als starre Abgrenzung verstand. Ziel dieses Prozesses war es jedoch trotzdem, die als minderwertig empfundene dunkelhäutige Rasse auszumerzen. Mit dem Ende der Massenimmigration der Europäer in den 1920er Jahren machten sich jedoch erneut Bedenken breit, dass die immer noch erkennbare Rassenmischung in Brasilien weiterhin Spannungen erzeugen würde (vgl. Daniel 2006: 41/ Skidmore 1993: 207). 11An dieser Stelle sind die Schriftsteller Sílvio Romero und Raimundo Nina Rodrigues zu nennen, die später noch genauer betrachtet werden. 12Edgar Roquette-Pinto lebte zwischen 1884 und 1954 und wurde vor allem als Direktor des Nationalmuseums in Rio de Janeiro bekannt. Der anti-deterministische Ansatz RoquettePintos ist auch durch die Anthropologie Franz Boas beeinflusst (vgl. Telles 2004: 32).

2  Begriffshistorie und Umfeld

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ali se encontram, claros e escuros.“ (Roquette-Pinto 1927: 61–62) Anzunehmen, dass durch diese erste nachhaltige Position die afro-brasilianischen Elemente der brasilianischen Kultur eine größere Rolle bezüglich der Frage nach nationaler Einheit spielen, ist jedoch trügerisch. Bei den politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen, die sich daraus ergaben, handelte es sich vielmehr um eine „integração subordinaria do negro“ (Sales 2006: 299). Dass die Integration der zahlenmäßig großen Gruppe an Schwarzen und Mestizen auch ab 1930 nur eine untergeordnete Rolle einnimmt, lässt sich dadurch erklären, dass die Idee einer nationalen Einheit und damit verbunden die Aufwertung aller Klassen das übergeordnete Ziel waren. Rassentheorien und der Einfluss der Oligarchen verlieren dadurch an Macht, jedoch wird das Element der Rasse als herzlich bezeichnet – cordialidade racial – wodurch strategisch die soziale Distanz aufgrund von Rasse wegdefiniert werden soll (vgl. ebd.: 299–230). Eine wirkliche Aufwertung der nicht-weißen Elemente der brasilianischen Kultur findet jedoch nicht statt. Wie deutlich wurde, muss die Idee der mestiçagem in einem historischen Entwicklungsprozess betrachtet werden. Dazu sollen die Ideologien und Theorien, die der Idee aus den 1930er Jahren vorausgingen, im historischen Abriss dargestellt werden. Hierbei gilt es, sich zunächst den Rassentheorien zuzuwenden, die sich mit der Abschaffung der Sklaverei 1888 verfestigten. Da bis zu diesem Zeitpunkt der Sklave per definitionem als Eigentum verstanden wurde und somit ein Nicht-Bürger war, musste mit dem Ende der Sklaverei auch die Rassenfrage theoretisch neu beantwortet werden. Als Ergebnis setzten sich deterministische Theorien durch, die aus Europa importiert und auf die brasilianische Realität angewendet wurden (vgl. Schwarcz 2006b: 306). Bevor die Theorie des branqueamento versucht, einen Ausweg aus der Melancholie und Minderwertigkeit zu finden und Freyre ebenfalls einen neuen Blick auf die novo mundo dos tropicos wirft, sind es vor allem Theoretiker, wie der Gerichtsmediziner Raimundo Nina Rodrigues13, die in der Rassenmischung die Gefahr der Degeneration sehen (vgl. Andrews 1997: 97–98).

13Der

Gerichtsmediziner aus Bahia beschäftigte sich als einer der ersten Autoren systemisch mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Rassenmischung. Seine Methoden entsprachen den zu dieser Zeit dominierenden europäischen Rassentheorien. Er war auch von der italienischen Schule der Kriminalanthropologie beeinflusst und vertrat die Meinung, dass jede rassische Gruppe ihr eigenes moralisches System habe und geht sogar so weit, eigene Strafgesetzbücher für die jeweiligen Gruppen einzuführen (vgl. Costa 2001: 15/Fry 2000: 87). Siehe auch weiterführend folgendes Werk, erstmals erschienen 1932: Nina Rodrigues, Raymundo: Os Africanos no Brasil, Rio de Janeiro 2010.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Nina Rodrigues stand stark in der Tradition europäischer Eugeniker, die Schwarze als minderwertig einstufen und damit jede biologische Mischung als degenerativen Schritt ansehen. Brasilien wurde aus ihrer Perspektive als besonders schwierig eingeordnet, da die dortigen klimatischen Bedingungen die biologische und mentale Verfasstheit der Menschen schwächen. Die Nähe zu dieser Haltung macht deutlich, warum auch Nina Rodrigues vor einer Degeneration der brasilianischen Bevölkerung durch Rassenmischung warnt.14 Sein Ansatz zur degenerscênia mulata ist eine der ersten wissenschaftlichen Untersuchungen der Kategorie der Rasse eines brasilianischen Forschers. Nina Rodrigues’ Wirken in den 1880ern wird von der These getragen, dass die afrobrasilianische Abstammung minderwertig sei. Aber auch einer der bekanntesten Intellektuellen des späten 19. Jahrhunderts, Sílvio Romero15, antwortet auf das deterministische Dilemma, das durch die europäischen Eugeniker und die Rassentheorie von Nina Rodrigues aufgeworfen wurde. Auf der einen Seite stimmt er der Annahme zu, dass Schwarze und Indigene den portugiesischstämmigen Brasilianern unterzuordnen und dennoch nicht gleichwertig seien. Auf der anderen Seite zeigte er sich offen für die Möglichkeit, dass die biologische Vermischung der Rassen, miscigenação, für Brasilien einen Mehrwert darstelle. Dieser Zwiespalt fügt sich in das politische Klima der 1880er Jahre ein, das von einer Unsicherheit und Angst vor Konsequenzen in der Rassenfrage geprägt ist (vgl. Telles 2004: 26). Auch wenn beide Autoren durch ihre Theorien die Inferiorität aller nicht-weißen Elemente der brasilianischen Kultur begründen, so ist doch zu erkennen, dass durch die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche eine Phase der Transition begonnen hat. Was sich daran zeigt, dass der mestiço ein fester Bestandteil der Sprache wird, um die neue soziale Realität auszudrücken (vgl. Ortiz 2012: 37). Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts etabliert sich die Sichtweise Nina Rodrigues’, dass die biologische Durchmischung der Rassen

14Wie

im weiteren Verlauf noch deutlicher werden wird, stellt sich Gilberto Freyre gegen diese These der Degeneration durch Rassenmischung, indem er die mestiçagem als etwas Positives hervorhebt. Er nimmt auch direkt Bezug auf Nina Rodrigues: Do mesmo modo, parece-nos absurdo julgar a moral do negro no Brasil pela sua influência deletéria como escravo. Foi o erro grave que comenteu Nina Rodrigues ao estudar a influência do africano no Brasil. (Freyre 2006: 397) 15Siehe zur Literatur von Sílvio Vasconcelos da Silveira Ramos Romero beispielsweise: Romero, Sílvio: Etnologia selvagem; estudo sobre a memória “Região e raças selvagens do Brasil”, Recife 1875.

2  Begriffshistorie und Umfeld

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in Brasilien den nationalen Fehler darstellt. Ebenso verfestigt sich aber auch die an die Realität angepasste Wahrnehmung Brasiliens als Nation von Mestizen und dies nicht, wie gezeigt, nur von europäischen Naturalisten von außen, sondern auch durch eine spezifische Innenansicht (vgl. Schwarcz 1994: 137/Schwarcz 2006b: 305). Dass die Idee der mestiçagem ab den 1930ern aus diesen beiden Strängen jedoch eine andere Schlussfolgerung zieht als etwa die rassischen Theorien und Ideologien in Europa, wurde bereits gezeigt. Die Hegemonie des wissenschaftlichen Rassismus, die importiert und von Autoren wie Nina Rodrigues und Romero weitergeführt wurde, hielt sich zwar bis in die 20er Jahre des nächsten Jahrhunderts, jedoch begann sich parallel aufgrund der ethnischen Realität in Brasilien die Theorie der rassischen Weißmachung, branqueamento16, zu etablieren (vgl. Lisboa 2011: 91). Diese Vision, dass die brasilianische Bevölkerung innerhalb weniger Generationen durch gezielte Vermischung den Anteil der Schwarzen deutlich reduzieren könne und damit insgesamt sichtbar weniger differenziert, sprich weißer, erscheine, darf aber nicht als extremes Gegenmodell zu den Rassentheorien verstanden werden. Denn die Grundannahme der Minderwertigkeit nicht-weißer Rassen und die im Umkehrschluss herrschende Superiorität der weißen Rasse verbinden die Ideologie des branqueamento mit den aus der Alten Welt importierten Rassentheorien. Gleichzeitig kennzeichnet diese Theorie aber eben auch eine Vision, die euphemistisch ist und konstruktiv wirken will, indem durch die Weißmachung der anhaftende Status des unterentwickelten Volkes überwunden werden kann (vgl. Telles 2004: 26/Lisboa 2011: 91). Das ambigue Moment besteht dabei darin, dass die Theorie des branqueamento nicht nur eine Fortführung der Grundannahmen der Rassentheorien darstellt, sondern auch eine Reaktion auf den globalen rassistischen Wissenschaftsdiskurs verkörpert. Denn Ziel der Theorie ist es, die binäre Aufteilung in überlegene und minderwertige Rasse aufzulösen und eine ethnische Integration zu erreichen. Die Vision geht also soweit, dass sich mit ihr der Glaube verbindet, Brasiliens soziale Probleme aufgrund der ethnischen Diversität würden sich dadurch von selbst lösen (vgl. Skidmore 1993: 207). Nina Rodrigues kann an dieser Stelle als die wohl größte Gegenstimme angeführt werden, da er mit seiner pessimistischen Vision der

16Siehe

vertieft zur Theorie des branqueamento: Hofbauer, Andreas: O conceito da raça e o ideário do branqueamento no século XIX – bases ideológicas do racism brasileiro, in: Teoria e Pesquisa, 2003, No 42, S. 63–110.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Degeneration dem konträr entgegensteht. Optimistischere Autoren, wie zum Beispiel der genannte Sílvio Romero aber auch Oliveira Vianna17 oder Costa18 teilen diese positive Vision und Theorie (vgl. Lisboa 2011: 92). Wie bereits im Überblick angedeutet, entwickelte sich die Rassenmischung mit der Theorie des branqueamento vom Grund für gesellschaftliche Rückständigkeit hin zur Lösung des Problems. Trotz der Konsolidierung der Theorie bis in die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts durch Ideenmacher aber auch Kritiker stehen die 1930er für den Wendepunkt im Umgang mit der faktischen rassischen Diversität und Vermischung durch brasilianische Intellektuelle. Die Deutung der Theorie des branqueamento stellte ein weiteres Mal einen Wendepunkt dar: Dieses Mal entwickelte sie sich von der Lösung zum Problem. Auch der große Referenzpunkt, Gilberto Freyre, löste sich bewusst von dieser Vision, bevor er mit CGS die Idee der mestiçagem etablierte (vgl. Burke 2008: 62). Er betonte sogar den eugenischen Vorteil, den Schwarze und Mulatten während der Kolonialzeit hatten: Brancarana, ou então mestiça de branco com índio, e, em menor proporção, mistura de três raças, a maior parte da população livre que correspondeu, em nossa organização escravocrata, ao “poor white trash” nas colônias inglesas na América, sobre esse elemento relativamente pouco carregado de influência ou colorido africano, é que a anemia palúcida, o berbéri, as verminoses exerceram a sua maior ação devastadora, só depois do descalabro da abolição estendida com igualintensidade aos negros e pardos já agora desamparados da assistência patriarcal das casas-grandes e privados do regime alimentardas senzalas. Os escravos negros gozaram sobre os caboclos ebrancarões livres da vantage, de condições de vida antes conservadoras qu desprestigiadoras da sua eugenia: puderam resistir melhor às inluências patogênicas, sociais e do meio físico e perpetuar-se assim em descendências, mais sadias e vigorosas. (Freyre 2006: 109)

Denn mit dem Ende der 1920er Jahre endete auch die Welle der europäischen Immigration, wodurch die Rassenmischung als Thema einen neuen Aufschwung erfuhr. In Verbindung mit der Herausforderung nach der Revolution von 1930, die urbanen Massen in die etablierten oligarchischen Strukturen einzugliedern, entstand der Bedarf nach einer neuen politischen Ordnung aber auch nach einer nationalen Ideologie, die die ethnische Diversität in ein einheitliches Selbstbild

17Siehe

dazu folgende Werke: Oliveira Vianna, Francisco José de: Evolução do Povo Brasileiro, São Paulo ³1938/Ders.: Raça e Assimilação, São Paulo ²1934. 18Siehe zu dieser Thematik im Detail: Costa 2003.

2  Begriffshistorie und Umfeld

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einbinden sollte. Begriffe wie nacionalidade morena oder povo mestiço setzten sich unter der Regierung Getulio Vargas immer deutlicher durch (vgl. Sales 2006: 229–230). Das erste grundlegende Werk der Phase der Wiederentdeckung Brasiliens lieferte der Historiker Caio Prado Júnior im Jahr 1933. Mit Evolução Político do Brasil versuchte Prado, Brasiliens politische Geschichte mit einer neuen Methode zu untersuchen – seine materialistische Interpretation begründete in Brasilien eine an den Marxismus angelehnte Tradition der Historiographie. Im Vergleich zu den beiden zentralen Figuren der 1930er – Gilberto Freyre und Sérgio Buarque de Holanda – verpasste Prado den Moment, die Werte der alten oligarchischen Ordnung aufzugreifen und mit in seine neue Reflexion einzubinden, wodurch er im System Vargas von Zensur betroffen war (vgl. Mota 2008 73–74). Auch der Jurist und Schriftsteller Afonso Arinos de Melo Franco beschäftigte sich in dieser Findungsphase in drei seiner Werke mit brasilianischen Ideologien zu Nationalismus und Kultur: Introdução à realidade brasileira (1933), Preparação ao nacionalismo (1934), Conceito de civilização brasileira (1936). So bildete er ähnlicherweise einen Gegenpol zu den aristokratischen Intellektuellen und richtete seinen Blick vor allem auf die Realität der unteren Klassen. Das Denken an den Grenzen zwischen Kommunismus und Faschismus ließ wenig Raum für ein Hinterfragen der Kategorie der Rasse im brasilianischen Nationalisierungsprozess (vgl. ebd.: 125–127). Mit O negro brasileiro widmete sich Artur Ramos 1934 erstmals den Rassenbeziehungen aus sozialpsychologischer Perspektive. Als Ergebnis ordnete er die brasilianische Gesellschaft aufgrund ihrer starken rassischen Mischung und angesichts der Kriegsstimmung in Europa als apollinisch ein (vgl. ebd.: 127–128). Ohne denselben wissenschaftlichen Anspruch zu erheben, wie ihn Ramos hat, gehört Eduardo Frieiro mit seinem Werk O brasileiro não é triste (1931) ebenfalls zu dieser neuen Generation, welche er zur realen Verteidigung der brasilianischen Kultur aufforderte (vgl. ebd.: 129–130). Der Sozialwissenschaftler Sérgio Buarque de Holanda gilt neben Gilberto Freyre als der wichtigste Intellektuelle der 1930er Jahre. Das einflussreichste Werk des Autors ist Raizes do Brasil aus dem Jahr 1936. In Bezug auf die Revolution von 1930 und die Errichtung des Estado Novo Getulio Vargas spricht er von einem Scheidepunkt, „o marco mais visível entre duas épocas“ (Holanda 1995: 172). Er beschreibt die Zerrissenheit bezüglich des Selbstverständnisses der Nation, die dieser Prozess hervorbrachte: A forma visivel dessa revoluçao não sera, talvez, a das convulsões catastroficas, que procuram transformar de um mortal golpe, e segundo preceitos de antemao formulados, os valores longamente estabelecidos. E possivel que algumas das suas

40

2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis fases culminantes ja tenham sido ultrapassadas, sem que possamos avaliar desde ja sua importäncia transcendente. Estariamos vivendo assim entre dois mundos: um definitivamente morto e outro que luta por vir a luz. (Ebd.: 180)

Was Holanda wie auch Caio Prado Júnior im Vergleich zu den Autoren dieser neuen Generation auszeichnet, ist die Verwurzelung im akademischen Diskurs. Ihr Verdienst besteht darin, auszumachen, dass sie eine neue Sprache etablieren, die im akademischen Kontext die nationale Realität hinterfragt.19 Die beiden Autoren stehen dabei aber auch für den Bruch, der weniger ein Bruch hinsichtlich der inhaltlichen Qualität im Vergleich mit vorherigen Intellektuellen ist, als vielmehr einer hinsichtlich des neuen sozialen Raumes – der Universität –, den sie mit ihren Ideen prägen und weiterentwickeln (vgl. Ortiz 2012: 40). An diesem Punkt ist es sinnvoll, die national und international einflussreichste intellektuelle Figur dieser Generation anzubringen: Gilberto Freyre. Denn Freyre gibt den entscheidenden Anstoß, dass vor allem das afrikanische Erbe als Teil der brasilianischen Kultur einer Neubewertung unterzogen wird (vgl. Skidmore 1993: 173). Auch die Idee der mestiçagem, welche in Abgrenzung zum Begriff der miscigenação immer die rassische, beziehungsweise ethnische Einheit der Nation im Blick hat, kann sich erst mit Freyre voll entwickeln, da mestiçagem für ihn bedeutet, dass die Frage nach der Rassenmischung mit der Frage nach einer generellen nationalen Ordnung gleichgesetzt werden kann (vgl. Schwarcz 2006b: 315). Im Vergleich zu Holanda führt Freyre auch keinen rein akademischen, sondern einen ideologischen Diskurs. Obwohl Holanda, wie aufgezeigt, in seinem Geschichtsbild die oligarchischen Traditionen ebenfalls nicht außer Acht lässt, so ist es doch Freyre, der mit seinem von der akademischen Welt losgelösten Werk CGS für Kontinuität steht. Trotz der revolutionären Aufwertung der nicht-weißen Elemente der nationalen Kultur bricht er nicht mit den Thesen des späten 19. Jahrhunderts, was sich daran ablesen lässt, dass er den Bezug zu Sílvio Romero immer wieder deutlich macht (vgl. Ortiz 20012: 40). Wie diese attestierte Kontinuität seine entscheidende Methode der Umdeutung von Rasse in Kultur begünstigt, gilt es anschließend zu zeigen. Gilberto Freyre geht – ebenso wie Sérgio Buarque de Holanda – ausführlich auf die vormoderne Gesellschaftsstruktur ein und ist somit eine Quelle, anhand derer die Linien der kolonialen und vormodernen Gesellschaftsstruktur nachgezeichnet werden können. Dabei stellt Freyre aber die Tradition der biologischen

19Nicht

zufällig wurde die USP in den 1930er Jahren als ein institutioneller Raum, um im akademischen Universum eigene Techniken und Regeln zu entwickeln, gegründet.

2  Begriffshistorie und Umfeld

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Durchmischung der Rassen seit der Kolonialzeit heraus. Sie sei als ein lokales Merkmal zu betrachten.20 Die durch Freyre populär werdende Idee der mestiçagem wird im Laufe der 1930er Jahre auch in der Literatur und Musik als Thema aufgegriffen. Der Mythos des harmonischen Verhältnisses der drei Rassen entwickelt sich zum Synonym für das national Spezifische (vgl. Schwarcz 2000a: 33–34). Bis in die 1970er Jahre steht die Idee der mestiçagem Pate für ein narratives Konstrukt, welches versucht, eine friedfertige und vor allem genuin brasilianische Antwort auf die Frage nach rassischer Gleichheit zu geben (vgl. Costa 2001: 144). Diese singuläre, aber auch utopische Vision des Rassenfriedens verbunden mit der Vorstellung einer vorurteilsfreien Gesellschaft des Brasiliens der 1930er Jahre wird auch in Europa wahrgenommen.21 Jedoch lohnt der Blick auf die Rolle, die diese Idee im lateinamerikanischen Kontext einnahm. Allgemein war das 19. Jahrhundert in Lateinamerika von einem Diskurs, der Narrative über nationale Homogenität hervorbrachte, geprägt. Dabei wurde versucht, die Unterschiede zwischen den einzelnen Ethnien und Rassen nicht differenziert zur Sprache zu bringen, sondern im Namen der nationalen Einheit herunterzuspielen (vgl. Telles 2013: 132). José Martí beschreibt den Prozess der Vermischung in seinem Werk Nuestra America bereits im Jahr 1891 als Grundlage der amerikanischen Identität. Marti konstatiert, dass die Bewohner der Americas durch die kolonialen und post-kolonialen Immigrationswellen nicht nur weitgehend biologisch, sondern auch kulturell als Mestizen bezeichnet werden müssen. Der mexikanische Philosoph José Vasconcelos veröffentlichte im Jahr 1925 ein Werk mit dem Titel La Raza Cósmica22. Darin spricht der Autor von der Vision, dass Lateinamerika im Begriff sei, eine neue Rasse hervorzubringen – eine finale, eine kosmische Rasse. Auch Vasconcelos sieht in der Vielfalt der Ethnien und ihrer

20Schwarcz

verweist auf die religiösen Missionare, die bereits während der Kolonialzeit feststellten, dass sich in Brasilien die rassisch gemischte Gesellschaft so entwickelt hat, dass sich der Katholizismus nicht in seiner vorgesehenen Form entwickeln konnte (vgl. Schwarcz 2000a: 34). 21Siehe dazu beispielhaft folgende Autoren und Werke: Edschmid, Kasimir: Glanz und Elend Südamerikas. Roman eines Erdteils, Hamburg 1950/Hoffmann-Harnisch, Wolfgang: Brasilien. Bildnis eines tropischen Großreiches, Hamburg 1938/Brandt, Bernhard: Kulturgeographie von Brasilien, Stuttgart 1922/Zweig, Stefan: Kleine Reise nach Brasilien, in: Ders.: Begegnungen mit Menschen, Büchern, Städten, Wien 1937, S. 287–322. 22Vasconcelos, José: La raza cósmica: mision de la raza iberoamericana, Argentina y Brasil, Mexico 1982.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Durchmischung die Singularität des gesamten lateinamerikanischen Kontextes begründet (vgl. Munanga 2010: 444).23 Vasconcelos kann als Schüler von Manuel Gamio24 betrachtet werden. Gamio, bekannt als der Vater des indigenismo, war ein mexikanischer Anthropologe, der sich bemühte, einerseits das indigene Erbe zu bewahren und andererseits die Zukunft der Mestizengesellschaft in Mexiko herauszustellen. Sein anthropologischer Ansatz geht wiederum auf den USamerikanischen Anthropologen Franz Boas zurück. Damit steht er in derselben wissenschaftlichen Tradition wie Gilberto Freyre. Beide versuchen in einem neuen anthropologischen Denken Kultur ins Zentrum zu rücken. Nicht dieselben wissenschaftlichen Wurzeln sind es, die Freyre und den kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz verbinden, doch haben die Werke Los negros esclavos (1916)25 und Los cabildos afrocubanos (1921)26 des Kubaners großen Einfluss auf Gilberto Freyre.27 Es mögen sich mit den beiden Autoren ein republikanischer Liberaler – Ortiz – und ein aristokratischer Liberaler – Freyre – gegenüberstehen, was ihre verschiedenen Zugänge zum Thema der mestiçagem beziehungsweise der mestizaje aber eint, ist die neue Kategorie der Transkulturation.28 Allgemein repräsentieren die 1910er und 20er Jahre in Lateinamerika für die Aufwertung der indigenen und afro-amerikanischen Bevölkerung und ihres kulturellen Erbes. Diese Aufwertung steht symbolisch für die Abwendung von europäischen Idealen und soll eine spirituelle Rettung darstellen (vgl. Drayton 2011: 45–47). Die dargestellte lateinamerikanische Begriffsgeschichte wird vorausblickend im Kontext der Transkulturalität nochmals Bedeutung annehmen. Doch im nächsten Schritt tritt weiterhin die Idee der mestiçagem im Brasilien der 1930er in den Vordergrund. Bevor die Position von Gilberto Freyre und seines zentralen Werks detaillierter herausgearbeitet wird, soll gezeigt werden, welcher Begriff von Kultur dieser Idee und Vision eingeschrieben ist.

23Später

wird gezeigt, wie dies in Verbindung steht zu Canclini, Néstor García: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, México 1989. 24Siehe: Gamio, Manuel: Forjando patria: pro nacionalismo, Mexico 1916. 25Ortiz, Fernando: Los negros esclavos, La Habana 1916. 26Ortiz, Fernando: Los cabildos afrocubanos, La Habana 1921. 27Dieser Bezug zu Ortiz wird vor allem in einem Werk deutlich: Freyre, Gilberto: Problemas brasileiros de antropologia, Rio de Janeiro 1943. 28Der Begriff der Transkulturation – transculturación – wird erst mit dem Werk von Fernando Ortiz aus dem Jahr 1940 geprägt und steigt damit zu einer eigenständigen Kategorie auf: Ortiz, Fernando: Contrapuento Cubano del Tabaco y el Azucar, La Habana 1973.

3 Kulturbegriff

43

3 Kulturbegriff Der Kulturbegriff, der der Idee der mestiçagem zugrunde liegt, ist zum einen eng mit der Person Gilberto Freyres und zum anderen mit seiner Hinwendung zur wissenschaftlichen Kategorie Kultur verbunden. Dass die bis dahin in der Wissenschaft dominierende Kategorie der Rasse in Brasilien durch Freyre abgewertet werden konnte, steht mit den Umbrüchen und Transformationen, die zu dieser Zeit in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft stattfanden, in Verbindung. Freyre erschafft dabei einen wichtigen Baustein, indem er mit der Aufwertung der Kategorie Kultur vor allem in der Anthropologie neue Akzente setzt: „Mas dentro da orientação e dos propósitos deste ensaio, interessam-nos menos as diferenças de antropologia física […] que as de antropologia cultural e de história social africana.“ (Freyre 2006: 387) Wie bereits angesprochen, ist dabei der Einfluss des US-amerikanischen Anthropologen und Ethnologen Franz Boas deutlich spürbar, welchen Freyre als seinen größten Lehrmeister während des Studiums an der Columbia University in New York bezeichnet: „O professor Franz Boas é a figura de mestre de que me ficou até hoje maior impressão.“ (Ebd.: 31) Der deutschstämmige Franz Boas, der 1886 in die USA emigrierte, gilt als Begründer der cultural anthropology29 im nordamerikanischen Kontext. Mit seinem Aufsatz The Methods of Ethnology aus dem Jahr 1920 gab er einen Anstoß zum Umdenken über methodologisches Vorgehen innerhalb der Ethnologie. Kultur löst sich laut Boas davon, als isoliertes System oder als ein geschlossenes Ganzes begriffen zu werden (vgl. Benessaieh 2010: 13). Bei der detaillierten Analyse des transkulturellen Konzepts soll später noch einmal genauer auf die Bedeutung Boas eingegangen werden. An dieser Stelle ist jedoch entscheidend, dass Gilberto Freyre durch Boas Einfluss ein Umdenken voraussehen konnte, das erst später zur akademischen Praxis wurde. Für ihn ausschlaggebend sind vor allem die Fragen, die er stellt, weniger die Antworten, die er gibt – und diese Fragen erscheinen

29Die

cultural anthropology, die sich mit Franz Boas in den USA entwickelte, ist durch ihren Kulturrelativismus gekennzeichnet, der das Kulturspezifische in den Fokus stellt. Im Unterschied zur Kulturanthropologie, wie sie im deutschen Kontext verstanden wird, verhält sie sich konträr, da die europäische Forschung zwar auch auf das Kulturspezifische blickt, jedoch mit der Zielsetzung dadurch auf das Allgemeinmenschliche schließt. Siehe dazu: Haller, Dieter: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990, Frankfurt 2012, S. 231; Mühlmann, Wilhelm Emil (Hrsg.): Kulturanthropologie, Köln 1966, S. 17.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

für seine Zeit ebenfalls sehr visionär, wenn nicht sogar verfrüht (vgl. Lund 2006: 8–9). Freyre nimmt Rasse und Kultur als zwei Sprachen wahr, die sich jedoch nicht als Antagonisten gegenüberstehen, sondern gegenseitig stärken. Die Hinwendung zur Kategorie Kultur, angeregt durch Boas, vollzieht Freyre also ohne einen harten Bruch, womit aber biologische und kulturelle Determination nicht immer offensichtlich trennbar werden (vgl. Marcussi 2013: 278). Was Freyre jedoch zurückweist, ist eine rassische Hierarchie, wodurch erneut der Bezug zu Boas deutlich wird: Foi o estudo de antropologia sob a orientação do professor Boas que primeiro me revelou o negro e o mulato no seu justo valor – separados dos ços de raça os efeitos do ambiento ou da experiência cultural. Aprendi a considerar fundamental a diferença entra raça e cultura; a discriminar entre os efeitos de relações puramente genéticas e os de influências sociais, de herança cultural e de meio. Neste critério de diferenciação fundamental entra raça e cultura assenta todo o plano deste ensaio [Casa Grande e Senzala]. (Freyre 2006: 32)

Doch Franz Boas und damit auch die Grundlage für die Idee der mestiçagem sind nicht frei von Paradoxien. Boas betont die Diversität von Völkern und ihrer Lebensweisen, wobei er sich auf Verhalten, Bräuche und Glaubensformen der Kulturen bezieht. Diese Feststellung von kultureller Diversität kann jedoch als Parallele zur natürlichen Diversität gesehen werden, womit Kultur im selben Muster wie Rasse gedacht wird (vgl. Marcussi 2013: 279). Freyre selbst hebt hervor, dass Boas durchaus eine Differenz zwischen der weißen und der schwarzen Rasse ausmacht, diese aber nicht biologisch sondern kulturhistorisch begründet sieht: „Franz Boas […] considera o fenômeno das diferenças mentais entre grupos humanos mais do ponto de vista da história cultural.“ (Freyre 2006: 381) Die Nähe zu Boas mag suggerieren, dass Freyre jedes rassische Denken per se ausschießt. Der Hinweis auf dieses Paradox und die Rezeption seines Werkes zeigen aber, dass er die Kategorie der Rasse zwar abwertet, aber nie ganz ablegt (vgl. Burke 2008: 59). Um dieses methodische Vorgehen – Hinwendung von der Kategorie der Rasse zur Kultur – bei Gilberto Freyre herauszuarbeiten und damit den Kulturbegriff hinter der Idee der mestiçagem zu extrahieren, soll der Freyre’sche Kulturbegriff deutlicher betrachtet werden. Bereits in der Einleitung zu CGS platziert Freyre seine berühmte Anekdote über eine Gruppe brasilianischer Matrosen, die er auf der Brooklyn Bridge in New York beobachtete: E dos problemas brasileiros, nenhum que me inquietasse tanto como o da miscigenação. Vi uma vez, depois de mais de tres anos maciços de ausência do Brasil,

3 Kulturbegriff

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um bando de marinheiros nacionais – mulatos e cafuzos – descendo não me lembro se do São Paulo ou do Minas pela neve mole de Brooklyn. Deram-me a impressão de caricaturas de homens. E veio-me à lembrança a frase de um livro de viajante americano que acabara de ler sobre o Brasil: “the fearfully mongrel aspect of most of the population”. A miscigenação resultava naquilo. Faltou-me quem me dissesse então, como em 1929 Roquette-Pinto aos arianistas do Congresso Brasileiro de Eugenia, que não eram simplismente mulatos ou cafuzos os indivíduos que eu julgava representarem o Brasil, mas cafuzos e mulatis doentes. (Freyre 2006: 31)

Mit diesem Bild bringt der Autor zum Ausdruck, dass die Rassenmischung, das Hybride, einerseits als Sinnbild für Brasilien steht – auch im Ausland – und gleichzeitig als krank und negativ wahrgenommen wurde. Seine Selbstreflexion zu diesem Erlebnis zeigt, das Problem besteht nicht darin, dass rassische und kulturelle Zeichen zusammenfließen. Vielmehr kritisiert er die falsche Anordnung dieser Zeichen, die zu dieser negativen Konnotation der Rassenmischung führte. Freyre ist bemüht, diese Anordnung neu zu gestalten, indem Rasse als ein kultureller Effekt gesehen werden sollte. Im Sinne eines nationalen Projekts nimmt er die Eliten in die Pflicht, da nur sie zwischen den rassisch aufgeladenen Vorurteilen vermitteln und das erkrankte Bild Brasiliens heilen können (vgl. Lund 2006: 22).30 Es ist anzunehmen, dass er sich selbst als Teil dieser Elite sah und somit auch seine Neuinterpretation der brasilianischen Gesellschaft rechtfertigte – es geht Freyre um eine „explicação da formação cultural da sociedade brasileira“ (Freyre 2006: 116). Genau diese Perspektive, die gegen den Mainstream seiner Zeit argumentiert, ist die kennzeichnende Originalität des Schriftstellers. Er hebt sich nicht dadurch hervor, dass er eigene neue Konzepte entwirft, wobei der lusotropicalismo31 eine

30Dass dieser Perspektivwechsel Freyres als Neuigkeit aufgefasst wurde, hatte auch viel mit seiner Person zu tun. Aber beispielsweise hinterfragt auch Monteiro Lobato in einer Autokritik seiner früheren Werke die Darstellung der brasilianischen caboclos. Sie sollten nicht mehr für eine rassische Pathologie stehen. Auch die Figur des Zé Brasil, die Lobato in den 1940ern literarisch erschuf, steht für ein Umdenken in Bezug auf die sozialen Ungleichheiten im ländlichen Brasilien. Siehe dazu: Alves Filho, Aluízio: As Metamorfoses de Jeca Tatu (a questão da identidade do brasileiro em Monteiro Lobato, Rio de Janeiro 2003. 31Mit dem luso-tropicalismo sind die vielschichtigen Beziehungen zwischen Portugal und den Tropen gemeint. Geprägt wurde der Begriff durch Gilberto Freyre und seiner Theorie dazu. Peter Burke und Maria Lúcia Pallares-Burke bezeichnen den luso-tropicalismo als „Quasi-Theorie“: [P]erhaps the closest thing to a theory that Freyre ever enunciated (Burke 2008: 188–189). Auch Adriano Moreira und José Carlos Venâncio betrachteten den luso-tropicalismo als ein Sozialtheorie, siehe:

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Ausnahme bildet (vgl. Burke 2008: 169). Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht es, die Absurdität der Kategorie der Rasse zu überwinden. Freyres Kulturbegriff begründet eine soziale Sprache, die eine Loslösung von der biologisch schon naturalisierten sozialen Hierarchie bewirken soll (vgl. Lund 2006: 20). Mit dem Begriff der Kultur setzt sich der Intellektuelle aus Pernambuco bereits 1922 in seiner Masterarbeit auseinander, wobei ihm hier eine vage Vorstellung des Begriffs attestiert werden muss. In den 1930ern beginnt er präziser zu werden, obwohl er in seiner Fassung des Begriffs immer noch sehr weit bleibt – Ausprägungen wie Populärkultur, Elitenkultur, Alltagskultur oder auch philosophische Ideen sind stets Teil seines Kulturbegriffs. Er hat sich zum Ziel gesetzt, alle Gesellschaftsbereiche bis hin zur Ökonomie damit zu erfassen. Auffällig ist in CGS, dass Kultur an manchen Stellen als Synonym für Zivilisation verwendet wird (vgl. Burke 2006: 336–337). Doch was treibt Freyre an, eine kulturalistische Perspektive zu entwickeln? Es geht ihm darum, zu zeigen, dass nicht trotz, sondern explizit wegen des spezifisch brasilianischen rassischen Gesellschaftsbilds die Notwendigkeit besteht, ein starkes Bewusstsein für die eigene Nation aufzubauen. Freyre beginnt sein Projekt nicht damit, Rasse als Kategorie zu leugnen, sondern er deutet die Rassenmischung und die gesellschaftliche Heterogenität zum großen kulturellen Gewinn um (vgl. Lisboa 2011: 92). Mit der brasilidade mestiça konstruiert Freyre eine nationale Kultur, die vorher in seinen Augen durch den Diskurs um homogene Rassen verhindert wurde. Sérgio Costa sieht hierin das Momentum, in welchem das Narrativ der brasilianischen Nation geboren wurde (vgl. Costa 2001: 146). Methodisch gelingt dieser Wandel der Kategorien durch eine bewusste Betonung und Aufwertung der negros, indios und mestiços. Freyre betont stark den positiven Einfluss dieser Gruppen auf die koloniale patriarchale Herrscherklasse (vgl. Munanga 2005: 134). Não nos interessa, senão indiretamente, nesse ensaio, a importância do negro na vida etética, muito menos no puro progresso econômico, do Brasil. Devemos, entretanto, recordar que foi imensa. No litoral agrário, muito maior, ao nosso ver, que a do indígna. Maior em certo sentido, que a do português. (Freyre 2006: 368)

Moreira, Adriano/Venâncio, José Carlos: Luso-tropicalismo: uma teoria social em questão, Lisboa 2000. Weiterführend siehe auch: Almeida, Miguel Vale de: Um mar cor da terra. “Raça”, cultura e política de identidade, Oeira 2000. Zur Literatur zu Freyres Entfaltung seiner Theorie des luso-tropicalismo siehe: Freyre, Gilberto: O mundo que o português criou, Rio de Janeiro 1940/Ders.: Interpretação do Brasil: aspectos da formação social brasileira como processo de amalgamento de raças e culturas, Rio de Janeiro 1947/Ders.: Um brasileiro em terras portuguesas, Rio de Janeiro 1953/ Ders.: Integração portuguesa nos trópicos, Lisboa 1958.

3 Kulturbegriff

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Pode se juntar, a essa superiodirade técnica e de cultura dos negros, sua predisposição como que biológica e psíquica para a vida nos trópicos. Sua maior fertilidade nas regiões quentes. Seu gosto de sol. Sua energia semore fresca e nova quando em contato com a floresta tropical. (Ebd.: 370)

Dabei kann ihm zusätzlich zugutegehalten werden, dass er die Faktoren Ökonomie und Gesellschaft trotz der starken Fokussierung auf den Kontrast von Rasse und Kultur nicht außer Acht lässt (vgl. Burke 2008: 63). Jedoch hält der britische Historiker Peter Burke dem entgegen, dass die Begriffe und die Sprache Freyres trotz ihres innovativen Inhalts wie eine unvermeidbare Zwangsjacke seiner Zeit wirken. Gleichzeitig argumentiert Burke: „[T]o criticize racism is virtually impossible without using the language of race.“ (Ebd.: 59) Die zentralen Kategorien Rasse und Kultur befinden sich demnach in einem gemeinsamen Dilemma, da sie nie zufriedenstellend definiert werden können (vgl. Burke 2008: 59–60). Zusammengefasst zeichnen sich der Kulturbegriff Freyres und damit auch die Idee der mestiçagem dadurch aus, dass sie Rasse als Kategorie ersetzen möchten, sich aber nicht ganz von ihr lösen. Wie gezeigt, stimmen die Referenzpunkte für Rasse mit den Argumenten für die Kategorie Kultur überein. Rasse kann als Metonymie für die Gesamtheit von Kulturen angesehen werden. Da sich kulturelle Einflüsse auch in rassische Charakteristika umwandeln ließen, bleiben Freyre und damit auch der Kulturbegriff von rassischem Denken beeinflusst. Die Rasse rückt zwar in den Hintergrund, bleibt jedoch trotzdem ein immer wieder auszumachendes Element von Freyres Interpretation (vgl. Marcussi 2013: 277– 278/290). Er paraphrasiert damit das Versteckspiel von Kultur und Rasse, das der britische Soziologe Stuart Hall in den 1990ern und aktuell in seinem Werk Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation von 2018 der postaufklärerischen Welt attestiert: Ich hoffe, genug […] vorgetragen zu haben, dass »Ethnizität« in den Diskursen kultureller Differenz, die in unserer postaufklärerischen erheblich an Bedeutung gewonnen haben, ebenso sehr ein diskursives Konstrukt oder ein gleitender Signifikant ist wie »Rasse«. Tatsächlich spielen Ethnizität und Rasse in den Taxonomien kultureller Differenz und im Spiel von Identitäten und Identifikationen, das den ernsthaften Zug hinter diesem diskursiven Spiel verkörpert, nach wie vor ein Versteckspiel miteinander. (Hall 2018: 118)

Dieser Kulturbegriff hinter der Idee der mestiçagem ist eng mit dem alltäglichen Leben verzahnt. Kultur ist für Freyre keine identitäre Zuordnung, sie entsteht vielmehr durch die Relationen des täglichen Lebens – sie ist somit auch eine Erfindung des Alltags (vgl. Agier 2006: 176). Der brasilianische

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Literaturwissenschaftler Raúl Antelo ordnet den Kulturbegriff, den Freyre mit der Idee der mestiçagem aufbaut, als postmodern ein. Dies begründet er damit, dass der Begriff hybrid und mehrdimensional angelegt ist und das Paradoxe favorisiere. Der Zwischenraum erhält im Sinne der Postmoderne eine privilegierte Stellung bei Freyre (vgl. Antelo 2006: 58–60). Daran schließt sich auch Freyres Beschreibung der Rassenmischung an, die die charakteristische Beweglichkeit der brasilianischen Gesellschaft verkörpert, die „mobilidade social peculiares ao Brasil“ (Freyre 2006: 117). Diese soll behilflich sein, zwischen den faktischen Antagonismen zu vermitteln (vgl. Freyre 2006: 117). Auf den ersten Blick entdeckt man bei Freyre nämlich auch einen Hang zum Binären, zur Gegensätzlichkeit, vor allem wenn man den Titel seines Werks CGS und die Kapitelüberschriften liest. Sein Ansatz ist aber jener, Brasilien nicht mehr, wie bis dahin, in Gegensätzen zu denken, sondern zwischen diesen zu vermitteln. Die Mischung und die Hybridisierung – vor allem in Bezug auf die Rasse – sollen durch die mestiçagem zum Ausdruck für Brasiliens Fähigkeit zur Vermittlerrolle werden (vgl. Burke 2008: 179–180). Freyre betont immer wieder, dass diese Fähigkeit mit der portugiesischen Kolonialisierung zusammenhängt: O que se sente em todo esse desadoro de antagonismos são as duas culturas, a europeia e a africana, a católica e a meometana, a dinâmica e a fatalista encontrando-se no português, fazendo dele, de sua vida, de sua moral, de sua economia, de sua arte um regime de influências que se alternam, se equilibram ou se hostilizam. Tomando em conta tais antagonismos de cultura, a flexibilidade, a indecisão, o equilíbro ou a desarmonia deles resultantes, é que bem se compreende o especialíssmo caráter que tomou a colonização do Brasil, a formação sui generis da sociedade brasileira, igualmente equilibrada nos seus começos e ainda hoje sobre antagonismos. (Freyre 2006: 69)

Nach Freyre eigneten sich die Portugiesen auch deshalb so besonders zur Gründung eines brasilianischen Staates, da ihr Vorgehen bei der Kolonialisierung bereits hybrid angelegt war und sie zudem eine ethnische und kulturelle Vergangenheit aufwiesen, die seit Jahrhunderten zwischen Europa und Afrika oszillierte (vgl. ebd.: 66). Die Vermischbarkeit – a miscibilidade – war es, was laut Freyre die Portugiesen von den anderen Kolonialmächten unterschied: „Para tal processo preparara-os a íntima convivência, o intercurso social e sexual com raças de cor.“ (Ebd.: 71) Die Begründung für die erfolgreiche Besiedlung Brasiliens war also zurückzuführen auf die Kombination aus Menschenmangel, Rassenmischung und Beweglichkeit – „formação […] de uma sociedade híbrida“ (Ebd.: 110). Der Kulturbegriff hinter der Idee mestiçagem wurde einerseits als Abwendung von der Kategorie Rasse eingeordnet und gleichzeitig wurde betont,

3 Kulturbegriff

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dass sich die beiden Begriffe in ihrer Sprache nicht unterscheiden. Bereits im ersten Abschnitt von CGS spricht Freyre davon, dass die „união do português com a mulher índia“ (Ebd.: 65) grundlegend war, um die verschiedenen Rassen in die „cultura economica e social do invasor“ (Ebd.: 65) einzubinden. Dies macht nochmals deutlich, dass dieser Übergang zu einer kulturellen Anthropologie Freyres nicht abrupt stattfindet, sondern fließend ist, wie auch in diesem Beispiel, in welchem Kultur durch ein Leichtes durch Rasse ersetzbar erschiene, deutlich wird: Considerada de modo geral, a formação brasileira tem sido, na verdade, como já salientamos às primeiras páginas deste ensaio, um processo de equilíbrio de antagonismos. Antagonismos de economia e de cultura. A cultura europeia e a indígina. A europeia e a africana. A africana e a indígina. (Ebd.: 116)

Die „heterogeneidade racial“ (Ebd.: 81) wertet Freyre als nationale Vorgeschichte und wendet sich mit der Beschreibung der mestiçagem erneut diesem Fakt zu, jedoch mit einer für seine Zeit reaktionären Perspektive. Sein Nachzeichnen der intimen Geschichte der brasilianischen Gesellschaft kann als Gegenreaktion auf die traditionelle Sicht der würdevollen Geschichte – cinderellas of history – gewertet werden. In Brasilien begründete er damit eine neue Kulturgeschichte (vgl. Burke 2008: 17): Considerados esses pontos, que nos parecem de importância fndamental para o estudo da influência africana sobre a cultura, o caráter e a eugenia do brasileir, sentimo-nos agora mais à vontade para o esforço de procurar surpreender aspectos mais íntimos dessa ingluência e desse contágio. (Freyre 2006: 397)

Er sagt sich los von der mechanischen Übernahme externer Modelle und versucht, sein Land über die eigenen spezifischen Differenzen zu denken. Der Professor für Lateinamerikastudien Joshua Lund bezeichnet Freyres Vorgehen, die starke Diversität in Brasilien mit der Idee der mestiçagem zu reduzieren, als transkulturell – „diversidade da fala transculturalizada“ (Lund 2006: 24). Die Metonymie zwischen brasilianisch und Diversität lässt sich dann zu der Gleichung entwickeln, dass durch die mestiçagem brasilianisch mit transkultureller Diversität gleichgesetzt wird (vgl. ebd.: 24–26). Dieser methodische Zugang und das Herausheben der kulturellen Hybridität der brasilianischen Gesellschaft machten Freyre in Brasilien sehr bekannt. Das führte wiederum dazu, dass mestiçagem, also die Rassenmischung und ihre gesellschaftliche Bedeutung, rasch als nationales Symbol gefeiert wurden. Als Soziologe und Historiker aus der Peripherie wurde Freyre im Westen lange nicht

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

wahrgenommen. Sein Anspruch, die vom Zentrum ausgehende Geschichtsschreibung zu überdenken und neue Interpretationswege zu ermöglichen, bedingte dies freilich mit. Er reiht sich damit in eine Riege von Intellektuellen ein, die heute zum Kanon der postkolonialen und postmodernen Ansätze gehören, wie Fernando Ortiz oder Frantz Fanon (vgl. Burke 2008: 17–18). Wie an mehreren Stellen gezeigt wurde, fällt Freyre mit der Idee der mestiçagem und der Trennung des Biologischen vom Sozialen aus seiner Zeit. Im Weiteren gilt es, einen Blick darauf zu werfen, wie sich dadurch auch das Bild des mestiço verändert hat und positiv konnotiert wird. Grundsätzlich ist der mestiço Teil jeder kolonialen Gesellschaft.32 Das Partikulare im Falle Brasiliens ist der Ort, den er in der patriarchalen und agrarischen Kolonialgesellschaft einnimmt. Singulär ist hierbei, dass der mestiço ein Teil der sozialen Hierarchie darstellte (vgl. Schwarcz 2006b: 324). Durch Freyre wird die mestiçagem im Vergleich zur miscigenação, wenn auch nicht von der Kategorie Rasse, so doch von den vorurteilsbehafteten Rassentheorien des 19. Jahrhunderts befreit. Vor allem wird sie aber auch noch erweitert, indem sie zum Allgemeingut erklärt wurde. Der mestiço wird national (vgl. Ortiz 2012: 41). Freyre stellt klar: „Todo brasileiro, mesmo o alvo, de cabelo louro, traz na alma, quando não na alma e no corpo […] a sombra, ou menos a pinta, do indígina ou do negro.“ (Freyre 2006: 367) Er erscheint zudem nicht müde, zu betonen, dass diese nationale Singularität auf die „mistura das três raças“ (Ebd.: 108) zurückzuführen ist und nicht, wie Autoren wie beispielsweise Euclides da Cunha behaupten, vor allem auf der Mischung von weißen Portugiesen und Indianerinnen beruht (vgl. ebd.: 107).33 Die Aufwertung der mestiçagem und damit auch des mestiços haben sowohl einen inkludierenden als auch einen exkludierenden Aspekt: Ersterer besteht darin, dass

32Kolonialgeschichtlich

wird der mestiço auch mit der Rolle des Harlekins in Verbindung gebracht. Er steht für eine Nicht-Idenität, das Undefinierte und den Zwischenraum: [O] mestiço, à maneira de um arlequim, nço se define de um ponto de vista racial (no sentido de uma não-identidade: nem branco, nem negro) nem étnico (por alusão às “diferenças culturais”), mas pela multiplicidade das socializações e dos saberes sociais aprendidos em zona ètnica e culturalmente intermediárias, indefinidas, entre-lugares. (Agier 2006: 176) 33In diesem Zusammenhang kritisiert Freyre aber auch die angebliche rassische Reinheit, mit der die Portugiesen in der Logik der Rassentheorien in Verbindung gebracht werden. Die Unterscheidung zum brasilianischen mestiço sei seiner Ansicht nach kaum möglich, da dieser von Beginn an ein Produkt aus der gewaltsamen Verbindung aus Kolonisatoren und indigenen Frauen sei und sich die Vermischung nur weiter fortsetzte: [O] mestiço [é] formado desde o primeiro momento pela união do adventício sem escrúpulos nem consciência de raça com mulheres da vigorosa gente da terra. (Freyre 2006: 73)

3 Kulturbegriff

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der bis dahin dominierende Rassismus abgemildert wurde. Der zweite Aspekt zeigt aber auch, dass damit soziale Realität überdeckt wird und Argumente für die Notwendigkeit von Reformen abgewehrt werden können (vgl. Telles 2013: 132). Abrundend soll deutlich werden, warum die Idee der mestiçagem bei Freyre ein Produkt des Kulturbegriffs ist und die biologische Perspektive auf die ethnische Diversität in Brasilien legt. Durch den Begriff kommt zum Ausdruck, dass die brasilianische Gesellschaft synthetisiert wird, also verschiedene Elemente – klassisch These und Antithese, in Brasilien aber die verschiedenen rassischen und kulturellen Elemente – zu einem neuen Ganzen zusammengefügt werden (vgl. Schwarz 2006b: 315). Hierbei sticht der schöpferische Gedanke hervor, der der mestiçagem eingeschrieben ist. Sie wird damit Teil einer Kultur, geprägt vom Prozess des Hinzulernens und der Transformation (vgl. Agier 2006: 177). Wie der Blick in Freyres Werk CGS an vielen Stellen gezeigt hat, ist es der wechselseitige Einfluss – der Rassen untereinander, aber auch von Rasse und Kultur –, der die mestiçagem ausmacht, nicht mehr der „dualismo de cultura e de raça“ (Freyre 2006: 69). Wie es noch zu zeigen gilt, kann der von Fernando Ortiz geprägte Begriff der transculturación genau an diese Charakteristik, die Freyre grundlegend geprägt hat, anknüpfen (vgl. Burke 2008: 63). Freyres Verschriftlichung der Idee der mestiçagem fällt in eine Zeit, in der diese bereits praktiziert wurde, die intellektuellen Eliten Brasiliens sich aber immer noch stark an Europa orientierten. Der Versuch, wissenschaftliche Ansätze aus der Alten Welt zu übertragen, führte dazu, dass kein wirklich sozialwissenschaftlicher Diskurs entstand, da nicht mit gegenseitigen Verweisen und Bibliographien gearbeitet wurde oder man sich mit diesen Ansätzen nicht kritisch auseinandersetzte. Vielmehr beschäftigte die Intellektuellen die Absicht, eine visão do mundo zu formulieren, anstatt sich einer Debatte zu stellen (vgl. Lisboa 2011: 94). Dies lässt Freyres Leistung nochmal in einem bedeutenderen Licht erscheinen. Exkursorisch soll hier gezeigt werden, dass die Idee der mestiçagem auch auf staatlicher Ebene zu einem Narrativ wurde und realpolitische Konsequenzen hatte. Der staatliche kulturelle Diskurs des Präsidenten Getúlio Vargas und seiner Regierung folgte ab 1930 einem essentialistischen Begriff von Kultur. Dabei wurden manche kulturellen Elemente bewusst miteinbezogen und andere bewusst in den Hintergrund gerückt – beispielsweise die Rolle der Indigenen und ihre territorialen Rechte. Die staatlich forcierte brasilidade war als Mestizenidentität im Sinne der mestiçagem zu verstehen. Man strebte somit keine definitive ethnische Identität an und blieb grundsätzlich offen, andere Ethnien zu assimilieren. In diesem Zuge disqualifizierte die politische Elite offiziell die Kategorie der Rasse als Instrument für staatliche Politik. Der Blick in die Realität zeigt aber, dass Rasse weiterhin für den Platz in der sozialen

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Hierarchie entscheidend blieb. Diese Charakteristika des staatlichen Narrativs der mestiçagem kumulierten in dem Mythos der democracia racial, der zwar eng mit der Idee der mestiçagem verbunden ist, aber doch über Freyre hinausgeht und stark politisch konstruiert ist (vgl. Costa 2001: 149). Freyre prägte den Begriff in CGS nicht wörtlich, jedoch wurde die democracia racial durch ihn erst populär und beeinflusste das brasilianische Denken und die Politik zwischen den 1930er und 1990er Jahren signifikant (vgl. Telles 2013: 32–33).34 Die Bedeutung der democracia racial für die populistische Politik Vargas ist nicht zu unterschätzen. Sie war Anhaltspunkt für das Bild einer harmonischen Rassenmischung der synkretischen brasilianischen Kultur (vgl. Guimarães 2005: 132). Vargas formte die democracia racial zu einer staatlichen Ideologie, weil er in der Frage der Integration der farbigen Bevölkerung sowohl die größte Herausforderung als auch das größte Kapital für Brasilien erkannte (vgl. Daniel 2006: 68). Die politischen Machthaber benutzen Freyres Ideologie also als Grundbaustein für das Errichten einer kulturellen Identität, die durch initiierten Symbolismus die Nicht-Weißen mit einbeziehen sollte. Schwarzenbewegungen wie der Frente Negra Brasileira (FNB)35 hingegen forderten, dass die democracia racial nicht nur symbolisch,

34An

dieser Stelle gilt es zu betonen, dass der Begriff der democracia racial für die Autoren der hier betrachteten Periode der 1930er Jahre keine Bedeutung hatte. Erst in den 1940er Jahren begann der Begriff unter Soziologen und Intellektuellen Einfluss zu gewinnen. Beginnend mit Roger Bastides Interpretation von Gilberto Freyre und der Anwendung auf die brasilianische Demokratie wurde der Begriff eingeführt. Freyre hat selbst von einer ethnischen und sozialen Demokratie im Falle Brasiliens gesprochen. Erst 1962 verwendete er selbst den Ausdruck. Für weitere Details siehe: Guimarães, Antonio Sérgio Alfredo: Classes, raças e democracia, São Paulo 342000, S. 137. 35Die Frente Negra Brasileira (FNB) war die erste und bedeutendste a ­fro-brasilianische Organisation nach der Abschaffung der Sklaverei. Gegründet 1931, machte es sich die Bewegung zum Ziel, die afro-brasilianische Bevölkerung politisch zu mobilisieren und für deren Rechte zu kämpfen. Das Entstehen der Organisation fällt in eine Zeit der sozialen und ökonomischen Unsicherheit für diesen Teil der Bevölkerung. Nicht nur der Umbau der Gesellschaft von einer Sklavenwirtschaft hin zu einem kapitalistischen System, sondern auch die großen Immigrationswellen aus Europa setzten die Afro-Brasilianer unter Druck, ihre Existenz zu sichern. Ab 1933 gab die Organisation ihre eigene offizielle Zeitschrift heraus: A Voz da Raça. Als Reaktion auf die Ideologie des branqueamento und später auf die Idee der mestiçagem fokussierte sich das Blatt auf ein Kernanliegen: [A] blackbased Brazilian nationalism, a type of mulatismo, but with the emphasis on the concept of the blackening of whiteness, rather than the ideal of mulatismo as a path to whiteness. (Brookshaw 1986: 207).

3 Kulturbegriff

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sondern auch durch konkrete Maßnahmen umgesetzt werden sollte. Für sie stand die Ideologie somit deswegen im Fokus, da sie sich effektive Inklusion und politische Partizipation von ihr erhofften (vgl. Guimarães 2005: 132). Die Kategorie der Rasse oszillierte folglich vom biologischen Fundament vor 1930 über den Verlust an politischer Bedeutung zwischen 1930 und 1970 bis zu einer neuen Aufmerksamkeit ab 1970. Angeregt durch die wissenschaftliche Debatte im USKontext, entdeckten vor allem Gegner der Militärdiktatur und des kulturellen Regimes die Rasse bewusst wieder als Instrument, um die als konstruiert empfundene Idee der mestiçagem und die damit verbundene Ideologie der democracia racial zu bekämpfen. Verschiedene soziokulturelle Gruppen wollten sich nicht mehr der Symbolik der Mestizennation unterwerfen, sondern strebten nach neuem ethnischem Bewusstsein (vgl. Costa 2001: 150).36 Freyre und seiner Idee der mestiçagem zu unterstellen, dass sie in Brasilien eine vollendete democracia racial sehen, ist eine Fehlinterpretation. Er hält selbst fest: „No one should understand me as implying that Brazil is a perfect ethnic democracy. It is not.“ (Freyre 1945: 127) Mit seinen Argumenten lässt sich lediglich zeigen, dass Brasilien diesem Bild mehr entspricht als andere Gesellschaften. Die zentralen Elemente dieser Gesellschaft seien nach Freyre nicht Freiheit und Gleichheit, sondern ein spezifisches Element: Die Brüderlichkeit. Diese versteht er, wie in den Texteinblicken gezeigt, als entscheidend zwischen dem Kolonisator und dem Kolonisierten ebenso wie zwischen Arm und Reich (vgl. Burke 2008: 181–182). Wie bereits angekündigt, gilt es, im nächsten Schritt die wissenschaftliche Position nochmals detaillierter zu überblicken, um die Fragestellung nach einer Einordnung der Idee der mestiçagem nach Freyre als transkulturell bearbeiten zu können.

36Kabengele

Munanga stellt fest, dass sich diese Mestizenidentität – identidade mestiça – im Gegensatz zu einer ethnisch schwarzen Identität – identidade étnico-racial negra – versteht. Schwarzenbewegungen versuchten ihre eigene Identität auszubilden, die sie auch als politische Identität anerkannt wissen wollten. Dies sollte durch Vereinheitlichung, durch ein gemeinsames Bewusstsein der Schwarzen, erreicht werden. Damit wollte man sich gegen die ebenfalls als vereinheitlichend empfundene Mestizenidentität stellen, die als schmerzlich dominierend empfunden wurde. Die Idee der mestiçagem nahm man als die Rechtfertigung für das Erhalten des Status quo wahr. Die identidade negra sollte hingegen für Transformation stehen (vgl. Munanga 2003). Die fundamentale Frage, die Munanga mit der Idee der mestiçagem noch nicht beantwortet sieht, lautet: „[C]omo podemos combinar a igualidade com a diversidade cultural baseadas na liberdade do Sujeito.“ (Munanga 2006: 39).

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

4 Position Gilberto Freyres Der Historiker, Soziologe und Intellektuelle aus dem Nordosten Brasiliens muss vom wissenschaftlichen Standpunkt aus mehr als Generalist denn als Spezialist eingeordnet werden. Gleichzeitig war er dafür bekannt, als ­homem-orquestra, also als eine Ein-Mann-Show, wahrgenommen zu werden. In den 1930ern erarbeitete er sich den Ruf als the Master, was seine spätere Stellung als nationales Monument für Brasilien unterstreicht. Oswald de Andrade bezeichnete Freyre einst als das literarische Totem Brasiliens – nosso escritor toêmico (vgl. Burke 2008: 15–16). Doch der Weg des Schriftstellers machte nicht an den Grenzen Brasiliens halt. Aus Pernambuco im Nordosten37 des Landes führte ihn der Weg über die USA und Europa letztendlich aber doch wieder zurück in die brasilianische Heimat. Dies beschreibt, zeitlich betrachtet, einen postkolonialen Helden mit einer nationalen und universellen Geschichte (vgl. Drayton 2011: 43–44). Inwiefern das Postkoloniale im Sinne einer Methode bei ihm auszumachen ist, soll noch hinterfragt werden.38 Die Disziplinen, auf die Freyre deutlichen Einfluss nahm, sind die Lusophonie, Soziologie, Geschichte, Anthropologie, kritische Literatur und die Kulturwissenschaft (vgl. Lund 2006: 7). Aus dem Blickwinkel der brasilianischen Gesellschaft denkt er kritisch über den Kapitalismus und die Folgen der Revolution von 1930 nach. Er befürchtet, dass zu viel aus früheren Zeiten zerstört werden könnte, da die Vergangenheit missverstanden wurde und es lediglich einer Neuinterpretation bedurfte (vgl. Mota 2008: 99/Skidmore 2002: 9). Durch seine Neuinterpretation mit CGS wollte er ein neues Bewusstsein für die soziale Situation Brasiliens schaffen. Seine bereits beschriebene Methode, intime Einblicke in den Alltag der kolonialen Gesellschaft zu geben, wurde nach innen mit Erfolg belohnt, brachte ihm aber international auch Kritik ein, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen werden soll (Skidmore 1993: 191). Doch an dieser Stelle bleibt nochmals seine sinnliche, weitschweifende und erotische Schreibweise zu erwähnen. Mit der sexuellen Amalgamierung während der Kolonialzeit wurde laut Freyre die Grundlage für

37Die

Stellung des Nordostens wird nochmals in zwei Werken besonders deutlich: Freyre, Gilberto: Livro do Nordeste, Recife 1925/ Ders.: Manifesto Regionalista, Recife 1926. 38Robert Young betrachtet Gilberto Freyre detailliert aus einer post- und antikolonialen Perspektive und beleuchtet dabei auch seine Idee von Hybridität. Siehe dazu mehr in Youngs Aufsatz: Young, Robert: O Atlântico lusotropical. Gilberto Freyre e a tranformação do hibridismo, in: Joshua Lund/Malcom McNee (Hrsg.): Gilberto Freyre e os estudos latino-americanos, Pittsburgh 2006, S. 99–122.

4  Position Gilberto Freyres

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die Gesellschaft und für das euphorisch freudige, harmonische Bild derselben gelegt (vgl. Agier 2006: 170/Schwarcz 2006b: 3/9). Doch auch explizit sein Werk CGS, in dem er die Idee der mestiçagem beleuchtet, nimmt wissenschaftlich eine eigene Position ein. Die drei enthaltenen Thesen von CGS – anhaltende systemische Strukturen aus der Plantagen- und Sklavenwirtschaft, die besondere Rolle der portugiesischen Kolonialmacht und die harmonischen Rassenbeziehungen (vgl. Skidmore 2002: 10–11) – haben eine Wirkung nach innen und außen. Für Brasilien selbst wurde das Werk zum nationalen Plan, rassische Differenzen zu marginalisieren, um ein neues Brasilien unter den modernen Bedingungen des kapitalistischen Arbeitsmarktes zu ermöglichen. Nach außen wirkte es vor allem als Folklorisierung der Region des Nordostens (vgl. Mota 2008: 103). Die bereits angesprochene Stilisierung Freyres zur nationalen Ikone hatte auch eine gewisse Objektivität vermissen lassen. Skidmore sieht die Chance, heute eine angemessenere Bewertung seines Werkes anstellen zu können, wobei Freyres Thesen aber immer im historischen Kontext verortet bleiben müssen, da diese deutlich die politische und gesellschaftliche Entwicklung in den 1930er Jahren beeinflusst hatten (vgl. Skidmore 2002: 2–3). In seinem Erscheinungsjahr 1933 wurde CGS als revolutionär gewertet, da es suggerierte, dass das Individuum in Brasilien weniger Barrieren zum sozialen Aufstieg – sei es in Bezug auf Klasse oder Rasse – als in anderen Ländern, vor allem den USA, hatte: „[A]firmação corojosa de crença no Brasil.“ (Mota 2008: 70) Heute werden seine Thesen eher als konservativ, wenn nicht sogar rechts eingeordnet (vgl. ebd.: 70–71). Abgesehen davon zeichnet sich Freyre dadurch aus, dass er selbst CGS keiner Disziplin zuordnet, sondern methodisch eine zentrale Thematik – die der Rassenbeziehungen – sprunghaft in Kontexten aus dem 16. bis 19. Jahrhundert aufzeigt. Mit diesem Vorgehen betont er seine thematische Weite, flieht aber gleichzeitig vor dem Druck, sich wissenschaftlich zu rechtfertigen (vgl. Skidmore 2002: 11–12). Für die Strömung der Modernisten39 in Brasilien war Freyre zwar noch immer eine Stimme der ländlichen Oligarchie, die sich von der Modernisierung

39Die

Strömung war vor allem in der Literatur- und Kunstszene erkennbar. Vereint durch den Geist des Kampfes verbanden sich Künstler aus den Bereichen der Musik, Plastik und Literatur. Der Begriff des Futurismus war auch vor 1920 in Brasilien bekannt, avancierte aber erst in Verbindung mit der neu entstehenden Künstlergeneration im nationalen Kontext zum Schimpfwort: Die Politik sah die Futuristen und Modernisten als Gegner eines brasilianischen Einheitsdenkens an. Ab 1921 verstand sich die Bewegung selbst als explizit national und wollte auch als solche verstanden werden. Mit der Semana de Arte Moderna

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

abgehängt fühlte. Jedoch empfanden sie ihn auch nicht als reaktionär, da er selbst den Anspruch hatte, die Moderne verständlich zu machen: „[U]m saudosista abraça a moderniade.“ (Melo 2006: 28) Freyres vorgestellte Anekdote zu Beginn von CGS über die beiden Marinheiros auf der Brooklyn Bridge zeigt aber zudem deutlich, dass er bereits mit zwei für die Strömung des Postkolonialismus charakteristischen Disjunktionen jongliert: Den Ort einmal als Distanz zwischen sich und dem anderen wahrzunehmen und einmal als lokale Differenz – hier das Bild der Marinheiros in New York, das als Sinnbild für die universelle Moderne steht (vgl. Lund 2006: 9–10). Im linken akademischen Spektrum war es vor allem der Philosoph Dante Moreira Leite,40 der Freyre unterstellte, ein falsches Bewusstsein für die soziale Realität gehabt zu haben. Eine geteilte Position nimmt der Soziologe Antonio Candido41 ein. Seine Interpretation Freyres lässt ihn zunächst auch in einem konservativen Licht erscheinen, jedoch würdigt Candido auch die innovativen und emanzipatorischen Elemente (vgl. Melo 2006: 38). Freyres Nachwirken war jedoch nicht nur in Brasilien erkennbar – hier aber vor allem angesichts der Gründung der Stiftung zur Forschung über die lusotropicologia in Recife.42 Im Gesamt lateinamerikanischen Kontext öffnete

1922 erhob die Geração do Cenetário den Modernismus zu einer zweiten Unabhängigkeit Brasiliens, die neue, eigenständige künstlerische Formen in den Blick nimmt und das genuin Brasilianische hervorbringen sollte. Die zentrale Formation der Grupo do Cinco, um Mário de Andrade, Menotti del Picchia, Anita Malfatti und Tariswald (das Künstlerehepaar Oswald de Andrade und Tarsila do Amaral), schaffte es mit dem zwar oftmals mehr angepriesenen als umgesetzten Modernismus, die künstlerische Landkarte Brasiliens massiv zu verändern und São Paulo in die erste Liga zu katapultieren. Die Semana de Arte Moderna findet bis heute großen Widerhall und unterliegt teilweise einem glorifizierenden Mythos. Für die nationale Entwicklung der brasilianischen Kunstszene und ihr Selbstverständnis müssen die Bewegungen der 1920er Jahre als richtungsweisend gelten. Siehe weiterführend: Miceli, Sérgio: Nacional estrangeiro. História social e cultural do modernismo artístico em São Paulo, São Paulo 2003. 40Siehe dazu sein Werk: Moreira Leite, Dante: O caráter nacional brasileiro, São Paulo 82017. 41Siehe dazu: Candido, Antonio: Formação da literatura brasileira, Belo Horizonte 92000. 42Das Seminário de Tropicologia in Recife wurde offiziell 1966 ins Leben gerufen und beschäftigte sich hauptsächlich mit Brasilien und dem lateinamerikanischen Kontext. Die Tropenstudien sollten aus einem interdisziplinären Blickwinkel betrieben werden. 1980 wurde die Einrichtung in die Fundação Joaquim Nabuco umgewandelt. Informationen zur aktuellen Arbeit der Stiftung: https://www.fundaj.gov.br/ [15.01.2019].

5 Kritik

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er den Weg, der die charakteristische Rassenmischung von der Genetik löste und mit der Idee der mestiçagem eine Hinwendung zur kulturellen Bedeutung dieser Mischung begründete.43 In der lusophonen Welt beeinflusste er vor allem in den 1960er und 70er Jahren eine Debatte um koloniale Identität. Auch in den USA, die als das stetige Negativ eingesetzt wurden, inspirierte Freyre mit seiner Idee der mestiçagem neue Ansätze im Forschungsbereich zur Sklaverei. Der Einfluss in Europa war vor allem bei den Autoren Roland Barthes44 und Fernand Braudel45 sichtbar (vgl. Lund 2006: 8). Zusammenfassend besteht sein größtes Verdienst darin, die soziale Realität einer rassisch gemischten Bevölkerung mit der Idee der mestiçagem positiv zu betrachten und sie in Abgrenzung zu den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts aufzuwerten. Dabei bleibt er nicht frei von Widersprüchen. Das theoretische Schwanken und Weitschweifen kann als Symptom der vielen Einflüsse gedeutet werden, die seinen intellektuellen Weg bestimmen (vgl. Marcussi 2013: 276– 277). Obwohl es diese Grundambiguität ist, die Gilberto Freyres Werk ausmacht, soll doch im Folgenden detailliert auf die Kritik an seiner Idee der mestiçagem eingegangen werden. Denn es erscheint fundamental für die untergeordnete Leitfrage, inwiefern die Idee der mestiçagem und das später noch vorzustellende theoretische Konzept der Transkulturalität am selben Problem kranken. Gemeint ist dabei, ob sie Ethnizität mehr überdecken als ausdifferenzieren.

5 Kritik Da bereits an mehreren Stellen Gilberto Freyres Herkunft und seine Verwurzelung im Nordosten Brasiliens und insbesondere im Bundesstaat Pernambuco thematisiert wurde, soll auch der Einstieg in die Kritik an seiner Idee der

43Die

Theorien zu Rassenmischung waren vor Freyre weitestgehend von der Idee der genetischen Verbesserung getragen. Dabei sind die nicht-europäischen Rassen gemeint. In dem bereits vorgestellten Werk La raza cósmica des mexikanischen Autors Vasconcelos geht es beispielsweise darum, sich genetisch von den indigenen und afrikanischen Einflüssen zu lösen. Freyre war in diesem Umfeld die einflussreichste Stimme, die einen anderen Weg eröffnete und zum Beispiel Afrika als eine Wiege der brasilianischen Kultur und Zivilisation anpries (vgl. Lund 2006: 30). 44Siehe: Barthes, Roland: Maitres et Esclaves, in: Les Lettres Nouvelles, No 1, 1953, S. 107–108. 45Siehe: Braudel, Fernand: Introduction to Gilberto Freyre. Padroni e Schiavi: La Fomazione della Famiglia Brasiliana in Regime di Economia Patriarcale, Torino 1965.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

mestiçagem von diesem regionalen Gesichtspunkt ausgehen. Sérgio Costa wirft Freyre vor, eine regional beschränkte Position einzunehmen und nicht Brasilien als Ganzes zu betrachten. Dies macht er daran fest, dass er die im späten 19. und bis ins 20. Jahrhundert andauernde Immigration aus Europa46 und auch aus Japan47 in seinem Panorama über die Gesellschaft nicht thematisiert. Regional fanden die Migrationsströme vor allem im Süden des Landes statt, den Freyre damit als weniger prägend für das nationale Bild erscheinen lässt. Die Integration der Immigranten und deren Kinder als Thema nicht in die Idee der mestiçagem miteinzubeziehen, lässt die brasilidade hinsichtlich ihrer Mischung als monokulturell erscheinen. Dies spiegelt sich wider in der Nationalisierungskampagne von Getúlio Vargas, in deren Rahmen dieser attestiert, dass die neuen Immigranten die brasilianische Nation e­nt-charakterisieren würden. Ihnen war somit ein Bürgerstatus ermöglicht worden, der aber mit keiner emotionalen kulturellen Bindung in den 1930er Jahren einherging (vgl. Costa 2001: 147). Freyres Regionalismus bringt ihm zudem den Vorwurf ein, dass durch seine essayistische Interpretation in CGS und auch durch die Idee der mestiçagem die eigentlichen Machtbeziehungen unter einem Deckmantel verborgen blieben. Die eigentliche Macht läge weiterhin bei der dominierenden Klasse der Oligarchie. Diese Tatsache sehen Kritiker ausgedrückt in den Mythen der democracia racial und des lusotropicalismo. Jene stützten ein System, in dem sich die Vorstellung einer cultura brasileira verewigen sollte, die ein Kontinuum seit der Kolonialzeit und keinen Bruch mit alten Eliten verkörpere (vgl. Mota 2008: 98). Diese Vorstellung stelle darüber hinaus die patriarchale Gesellschaft und die alltäglich feststellbare Rassenmischung in einem positiven Licht dar, ohne die damit verbundene systeminterne Gewalt deutlich abzubilden (vgl. Schwarcz 2000a: 33). Freyre wird also vorgeworfen, sich mit seiner Neuinterpretation nicht bemüht zu haben, die realen Verhältnisse der sozialen Machtstrukturen verändern zu wollen. Der Schwarze – o preto, o negro – würde aufgewertet zum nationalen Element – nossos pretos. Welchen tatsächlichen Kräften der einzelne Schwarze in der Gesellschaft ausgesetzt ist, wird von Freyre nicht beleuchtet (vgl. Lund 2006: 23).

46Zum

Überblick über die europäische Immigration nach Brasilien siehe die Aufsätze von Elda Evangelina González Martínez, Giralda Seyferth, Zuleika Maria Forcione Alvim, die sich mit der spanischen, deutschen und italienischen Immigration detailliert auseinandersetzen. Die Beiträge sind zu finden in: Fausto, Boris (Hrsg.): Fazer a América Latina. A Imigração em Massa para a América Latina, São Paulo 2000. 47Zur japanischen Immigration in Brasilien siehe den Überblick: Daigo, Masao: Pequena história da imigração japonesa no Brasil, São Paulo 2008.

5 Kritik

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Der Vorwurf des Verdeckens und Versteckens wird nochmals laut, wenn Freyres kulturelle Kritik am Biologismus in den Blick genommen wird. Joshua Lund wirft dem Intellektuellen vor, Rasse nur als eine versteckte Form des Monstrums der Klasse weiterzuführen. Lund kritisiert damit in Anlehnung an die Frage der Machtstrukturen, dass Freyre nicht das grundsätzliche Problem benenne, nämlich die Marginalisierung der Armen und sie Suche nach Möglichkeiten einer sozialen Veränderung. Seinem Projekt fehle es an der Produktivität, die ebenfalls für Brasilien kennzeichnende soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Sie sei es nämlich, die das materielle Unwohlsein des Landes begründe. Die Kritiker warnen, die Sprache Freyres habe nicht die Fähigkeit, die heimtückischen Klassenhierarchien zu de-naturalisieren. Mit dieser Sprache ist die Idee der mestiçagem gemeint und deren Abkehr von der Kategorie der Rasse hin zur Kultur trotz gleichen Vokabulars (vgl. ebd.: 20–21). Wie gezeigt, steht Freyre mit dieser Methode in der anthropologischen Tradition Boas, der für eine d­ es-racilização eintrat. Kritisch betrachtet, wird Freyres Idee der mestiçagem jedoch von einer re-racialização begleitet. Dies zeigt sich, da die soziale Organisation in CGS weiterhin einem rassischen Narrativ unterworfen bleibt. Larsen bezeichnet Rasse aus diesem Kontext heraus als modernen brasilianischen Fetisch – fetiche da raça (vgl. Larsen 2006: 387). Die Kritik an Freyres Idee der mestiçagem ist in den 1960ern besonders deutlich, da hier genau diese fehlende Anpassung an aktuelle Verhältnisse in den Fokus rückt. Diese neue Generation von Intellektuellen und Wissenschaftlern wirft ihm vor, der Beschreibung der sozialen Ungleichheit lediglich einen neuen Anstrich verliehen zu haben (Skidmore 2002: 2/19). Besonders deutliche Opposition zu Freyre nimmt der Soziologe Florestan Fernandes48 ein.

48Fernandes

kann als wissenschaftlicher Gegenpol zu Gilberto Freyre gesehen werden. Er etablierte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Ikone der professionalisierten Sozialwissenschaften in Brasilien. Mit seinem bedeutendsten Werk dieser Periode, A Integração do Negro na Sociedade de Classes (1965), diskreditierte er Gilberto Freyres politisches und akademisches Renommee. In seiner Vorgehensweise grenzte er sich bewusst von Freyre ab, indem er als Material für seine Gesellschaftsanalyse quantitative Studien wie den Zensus benutzte und nicht wie Freyre mit historischen Schlussfolgerungen arbeitete, die keinerlei empirische Datenbasis vorzuweisen haben. Ein weiterer methodologischer Unterschied zwischen Freyre und Fernandes besteht in ihrer unterschiedlichen Schwerpunktsetzung. Freyre konzentriert sich bei seiner Analyse der brasilianischen Gesellschaft auf die horizontale Ebene, also die sozialen Beziehungen der einzelnen Individuen miteinander. Fernandes rückt hingegen das Verhältnis der Rassen und die damit verbundene Ungleichheit, die vertikale Ebene, in den Vordergrund. Er distanzierte sich persönlich auch aufgrund der vorgestellten regionalen Kurzsichtigkeit von Freyre, da er quasi Sinnbild für die südbrasilianische Forschungstradition ist. Siehe für weitere Details: Telles 2004.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis

Die Kritik beschränkt sich aber nicht auf Freyres blinden Fleck der realen Machtverhältnisse, sondern rückt auch seine Rolle für die Modernisierung des Landes in den Fokus. Dazu stellt Larsen mit Bezug auf René Descartes fest, dass der Grund für die Probleme mit der Modernisierung in einer fehlenden natürlichen Subjektform läge. Es gäbe also durch die hybride Vermischung keine Form der Reinheit, von der aus man sich von den Anderen abgrenzen könne. Freyre trete quasi mit der Gegenthese dazu an, dass die brasilianische Hybridität, ausgedrückt in der Idee der mestiçagem, eine eigene Variante der Moderne darstelle (vgl. Larsen 2006: 39). Jedoch kann hierbei angeführt werden, dass erneut der Vorwurf der re-racialização deutlich wird: Denn, wie Wissenschaftler wie García Canclini49 feststellen, führe eine kulturelle Hybridität dazu, dass nationale Mythen demontiert würden, jedoch nie reanimieren oder modernisieren könnten. Da letzteres jedoch genau der Anspruch Freyres ist, muss auf eine Fokussierung des Hybriden auf die Kategorie der Rasse geschlussfolgert werden. Dies wird ihm als Widerspruch zu der eigentlich methodischen kulturellen Kehrtwende ausgelegt. Der Wert hinter Freyres Idee der mestiçagem, nämlich die positive Aufwertung der verschiedenen Rassen, verliert nicht seine Bedeutung als Basis. Um jedoch wirklich zu einer Modernisierung beitragen zu können, fordern manche Kritiker, dieses Verständnis um ein neues Narrativ von Rasse zu erweitern – ohne jedoch einen konkreten Konzeptvorschlag zu unterbreiten (vgl. ebd.: 383–384). Insgesamt endet Freyres Werk laut Alfredo Cesar Melo an drei Stellen in einer Aporie: Zum einen schwanke seine Ausdrucksweise ziellos zwischen Sehnsucht und feierlichem Optimismus. Zum anderen könne sein Essay CGS sowohl als emanzipatorisch, aber auch konformistisch interpretiert werden. Und abschließend wäre es trotz der angebrachten Kritik an Freyres modernisierendem Potential der konservative Autor aus Pernambuco gewesen, der mehr Einfluss auf das nach Modernisierung lechzende Brasilien der 1930er Jahre genommen hätte als die anderen progressiven Stimmen (vgl. Melo 2006: 27). Was die dargestellten kritischen Stimmen eint, ist die Warnung, dass Freyres Popularität und Bekanntheitsgrad nicht die kritische Analyse seines Werkes verstellen sollten. Er gehört eindeutig einer Generation an, die die cultura brasileira maßgeblich geprägt und mit beeinflusst hat. Diese Generation, die vor allem in den 1930er Jahren die Sehnsucht nach nationaler Einheit hatte, zeichnete sich auch dadurch aus, dass Informationen zu diesem Zwecke bewusst manipuliert wurden. Man arbeitete mit einem umfangreichen und komplexen Material und

49Siehe:

Canclini 1989.

5 Kritik

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interpretierte es ideologisch. Freyre galt mit seiner Methode in diesem Kreis jedoch auch als Grenzfall (vgl. Mota 2008: 93). Stimmen wie Caio Prado Junior, Francisco José de Oliveira Viana oder Sérgio Buarque de Hollanda gelten als geradlinigere Analytiker (vgl. Skidmore 2002: 13). Für die Idee der mestiçagem bedeutet dies, dass sie kritisch als unausgesprochene Stigmatisierung wahrgenommen wird, die der Gewalt und Grausamkeit des patriarchalen Systems eine gewisse Spiritualität verleiht. Ebenso wird der mit ihr verbundenen methodischen Wende Freyres ein spiritueller Rassismus unterstellt (vgl. Sales 2006: 233). Correia Leite hält 1947 fest, dass die Nation der Mestizen, wie sie mit der Idee der mestiçagem nicht nur biologisch, sondern auch als nationales Bild konstruiert wurde, nicht den Mut besitze, den Rassismus zu denunzieren: [N]esta nação de mestiços, são somente os negros que têm a coragem de denunciar o racismo. […] [Como consequência] continuamos a acreditar piamente na mentira sentimental de que, no Brasil, não existe preconceito. Mas o Brasil continua a ser um enorme alojamento de escravos, com alguns negros na Casa Grande. (Correia Leite 1947: 1)50

Dieser Vorwurf der sentimentalen Lüge, dass Brasilien keine Vorurteile kenne, wird dem Argument, Rasse und Kultur entsprängen bei Freyre derselben Sprache und benützten dasselbe Vokabular, zur Seite gestellt (vgl. Burke 2008: 59). Die Historikerin Karen Lisboa gibt zu bedenken, dass bei der Frage, ob es sich bei der Idee der mestiçagem um einen verschleierten Rassismus handele, der Einfluss der Außenperspektive nicht unterschätzt werden solle:51 Nesse percurso, evidencia-se que uma sociedade marcada pela miscigenação, como nossa, convida estes forasteiros a projetar imagens idealizadas de nossas relações sociais bem como tecer interpretações mais críticas. Considerando o largo horizonte de visões que caminham entre o discurso da mestiçagem e da percepção

50Correia

Leite, José: Preconceito, casa grande, e senzala, in: Alvorada, März 1947, S. 1, zitiert nach Andrews, George Reid: Democracia Racial brasileira 1900–1990: um contraponto americano, in: Estudos Avançados Vol. 11/No. 30, S. 93–115, S. 100. 51Lisboa nimmt in ihrem Werk Mundo Novo, Mesmo Mundo aus dem Jahr 2011 systematisch Bezug zu dieser Frage auf, wie die Selbst- und Fremdwahrnehmung das nationale Verständnis prägen würden. Besonders ist hierzu das Kapitel drei Caráter Nacional, Cultura e „Brasilidade“ zu beachten: Lisboa, Karen M.: Mundo Novo Mesmo Mundo. Viajantes de língua alemã no Brasil (1893–1942), São Paulo 2011, S. 136–173.

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2  Brasiliens Weg von der Rasse zur Kultur: Ein Kulturverständnis de um racismo velado, impõe perguntar quais as principais representações que estes estrangeiros traçam sobre os “brasileiros”, que, afinal, são os protagonistas destas práticas sociais analisadas pelos autores. (Lisboa 2011: 135)

Aus einer besonderen Perspektive kritisiert der brasilianische Anthropologe mit kongolesischen Wurzeln, Kabengele Munanga, die in Brasilien alles bestimmende Idee des frühen 20. Jahrhunderts, eine kulturelle Einheit entstehen zu lassen. Er spricht dazu sowohl die biologische, rassische Mischung, ausgedrückt durch den Begriff der miscigenação, als den Synkretismus der kulturellen Mischung, der im Begriff der mestiçagem enthalten ist, an. Für Munanga muss einer nationalen Einheit keine kulturelle vorausgehen (vgl. Munanga 2006: 39).52 Freyre verbindet mit den meisten seiner Kritiker, dass für ihn die Aufwertung und Verteidigung des negros elementar war für die nationale Formation Brasiliens. Was ihm aber Gegner wie Munanga entgegenhalten, ist, dass er einen zweifelhaften Universalismus angepriesen hätte. Durch den Begriff des mestiço sei eine Art Halb-Rasse entstanden, die mit ihrer Zweideutigkeit ebenfalls zu dieser universal denkenden und Unterschiede marginalisierenden Idee der mestiçagem passe (vgl. Munanga 2005: 136). Abschließend bleibt zu Freyres Ehrenrettung festzuhalten, dass er nicht nur dafür kritisiert werden soll, was er alles nicht sagt. Sein Erfolg und seine Popularität müssen wertgeschätzt werden, da sie die Sehnsucht zeigen, die die brasilianische Gesellschaft in den 1930er Jahren – und bis in die Gegenwart – prägte, sich mit der eigenen Singularität auseinanderzusetzen. Im weiteren Verlauf der Arbeit gilt es, mit dem nächsten Abschnitt zu zeigen, inwiefern ein philosophisches Fundament auszumachen ist, mit dem diese Idee der mestiçagem einem Kulturbegriff zugeordnet werden kann. Beziehungsweise soll gezeigt werden, welche Elemente von zwei unterschiedlichen Kulturbegriffen in der Idee zu identifizieren sind. Dabei stellen Johann Wolfgang Herder und Ludwig Wittgenstein die beiden philosophischen Säulen der Betrachtung dar. Es muss der jeweilige Kulturbegriff extrahiert werden. Dieser stellt nicht nur die Verbindung zum spezifisch brasilianischen Verständnis von Kultur dar, sondern verlinkt jenes Verständnis auch mit den zu diskutierenden multikulturellen und transkulturellen Kulturkonzeptionen.

52Mit

Rückbezug auf Abdidas do Nascimento und Florestan Fernandes fordert auch Munanga, Brasilien als pluri-rassische und pluri-ethnische Gesellschaft einzuordnen. Dem durch die mestiçagem errichteten Unikulturalismus hält er die Idee des Plurikulturalismus entgegen. Siehe zu dieser These: Munanga 1999.

3

Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe

Wie erwähnt, soll mit folgendem Teil herausgefiltert werden, aus welchen philosophischen Quellen sich ein Kulturbegriff speisen kann. Dabei werden bewusst Johann Wolfgang Herder und Ludwig Wittgenstein zur Analyse herangezogen, da ihre Theorien und Kulturbegriffe gewinnbringende Parallelen, aber auch Divergenzen aufweisen. Diese Unterschiede sind es, die zu den sich abgrenzenden multi- und transkulturellen Konzeptionen überleiten. An dieser Stelle sollen die beiden Philosophen und ihre Theorien zu Kultur einer Analyse hinsichtlich der Kategorien der Anthropologie, des Kulturbegriffs und des Umgangs mit kultureller Pluralität und Differenz unterzogen werden. Diese Klassifizierungen werden als zielführend erachtet, da sie bei beiden Denkern eine übergeordnete Systematik zu Tage treten lassen. Erst anhand eines solchen Kategoriensystems kann im Anschluss auf ein komplexes Kulturkonzept geschlossen werden. Die beiden Autoren wurden ausgewählt, da sie Kultur als sozial konstruiert ansehen, diese aber dadurch auch unbestimmt lassen und keine klare Definition vorgeben. Trotz alledem ist es der Anspruch, einen implizierten Kulturbegriff herauszuarbeiten.

1 Johann G. Herder: Die Dialektik von Einzelkultur und Gesamtmenschheit Eine Beschäftigung mit Johann Gottfried Herder kann nicht erfolgen, ohne ihn und seine Ideen im Kontext der Aufklärung, also den seine Lebenszeit bestimmenden Diskurs, zu verstehen. Herder war nicht darum bemüht, den zeitgenössischen Ideen der Aufklärung eine philosophische Denkweise diametral entgegenzustellen, sondern sich selbst mehr als Verteidiger des Eigenrechts © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Krüger, Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30850-6_3

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3  Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe

historischer Epochen und der Kultur „gegen die Selbstüberschätzung des ‚erleuchteten Jahrhunderts‘ “ (Schmitz 1989: 352) zu sehen. Er kann nicht als Begründer eines neuen philosophischen Systems gelten. Vielmehr ist sein Ziel, auf explizite und implizite Weise Position gegen den Sensualismus und Rationalismus etablierter zeitgenössischer Denker zu beziehen (vgl. Auernheimer 2013: 150–151). Hans Dietrich Irmscher formuliert Herders Blickwinkel in seinem Nachwort zur Abhandlung über den Ursprung der Sprache folgendermaßen: „Er entwickelt seine eigenen Ideen bei gegebenem Anlass und in polemischer Anknüpfung an bereits vorliegende Ideen.“ (Irmscher 1966: 138) Die Ablehnungshaltung gegen den aufgeklärten Rationalismus äußert sich bei dem Philosophen auch in der methodologischen Vorgehensweise. In seinen Ideen arbeitet er mit Analogien, also Ähnlichkeitsrelationen. Dadurch entsteht jene Vieldeutigkeit, die Herders Gedanken ausmacht und die ihm gleichzeitig zum Vorwurf gemacht wird (vgl. Bollacher 2005: 87). Damit verbunden ist die Kritik an den sich teilweise widersprechenden Argumenten und an der Unschärfe seiner Begriffe (vgl. Genthe 1901: 63). Immanuel Kant moniert in einer Rezension zu Herders Ideen, dessen Argumentation sei „ohne logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder ohne sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze“ (Kant 1784: 45). Jedoch macht es sich Herder selbst nicht zum Ziel, zur Formung und Begrenzung in der Philosophie beizutragen. Gerade die Ent-Idealisierung und Überwindung eines für ihn eurozentristischen und teleologisch geprägten Aufklärungsdenkens steht im Mittelpunkt seiner Geschichtsphilosophie. Hier wird erneut der Gegensatz zum kantianischen Denken deutlich, welches gerade im Frühwerk, „eine unheilige Allianz von philosophischer Aufklärung und europäischem Kolonialismus [offenbart] […] – ein Paradebeispiel für die Antinomie der Aufklärung“ (Herb 2018: 382).1 Im Sinne seines Selbstverständnisses als Geschichtsphilosoph ist ihm daran gelegen, eine Real- und

1Kant

steht demnach mit seinen Ausführungen zu Hautfarbe und Klimaeinflüssen und der damit verbundenen Hierarchisierung der Völker in einer eurozentristischen und rassischen Tradition, von der sich koloniale Herrschaftsansprüche ableiteten. Jedoch muss angemerkt werden, dass er mit den neunziger Jahren des 18. Jahrhundert einen kolonialismuskritischen Perspektivenwandel vollzieht. Karlfriedrich Herb gibt dabei zu bedenken, dass diese antikoloniale Wende nicht unumstritten sei. Es müsse reflektiert werden, dass sich Kant mit diesem Schritt den Veränderungen der imperialen Weltordnung seiner Zeit anpasst, ohne wirklich Selbstkritik an seinen Thesen zu üben (vgl. Herb 2018: 383/392/395). Siehe vertiefend zur Positionierung Immanuel Kants im Spannungsfeld von Aufklärung und kolonialem Denken: Herb, Karlfriedrich: Unter Bleichgesichtern. Kants Kritik der kolonialen Vernunft, in: Zeitschrift für Politik, Vol. 65/No. 4, 2018, S. 382–398.

1  Johann G. Herder: Die Dialektik von Einzelkultur und Gesamtmenschheit

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Universalgeschichte zu schreiben, die an ihrem Nutzen für den Beitrag zu einer menschlichen Philosophie gemessen werden soll und keinerlei epistemologischen Vorbegriffen gerecht werden muss. Gleichzeitig kennt das Herder’sche Geschichtsverständnis kein lineares Entwicklungsmodell und keinen Endzweck und es empfindet das zeitgenössische Geschichtsverständnis als rationale Hybris (vgl. Bollacher 2005: 87/Auernheimer 2013: 154). Somit wird deutlich, dass eine verkürzte Einordnung Herders als Antikritiker diesem Denker nicht gerecht werden kann: Sein Werk gehört „zur bürgerlichen Aufklärung, aber wie ihr böses Gewissen“ (Schmitz 1989: 352). Was Herder so interessant und wichtig für den philosophischen Diskurs dieser Arbeit macht – die Verbindung des brasilianischen Kulturverständnisses der mestiçagem mit dem multikulturellen Konzept von Kultur –, ist sein Fragen nach dem Link, der eine Gesellschaft zusammenhält. Auch die gegenwärtige Auseinandersetzung, inwiefern Gesetze kulturell verankert sein müssen, um wirken zu können, entspricht Herders Kritik, dass Gesetze nur eine zweitrangige Rolle spielen, solange sie nicht kulturell eingebunden und verwurzelt sind (vgl. Auernheimer 2013: 171). Die Rezeptionsgeschichte des Philosophen kann als kontrovers bezeichnet werden. Dabei teilen sich die Betrachtungsperspektiven in zwei Lager. Das eine behauptet, er polarisiere mit seinen Reflexionen über Staat und Volk: „[Der] natürlichste Staat ist also auch ein Volk mit einem Nationalcharakter.“ (Ideen IX., 4., S. 273). Er sei daher in die Nähe des Nationalismus, kolonialistischer Rechtfertigungsstrategien und des christlichen Universalismus zu stellen. Das andere feiert ihn gerade wegen des für seine Zeit so bahnbrechenden Gegenkurses zum eurozentristischen Aufklärungsdenken als Anti-Kolonialisten und humanistischen Weltbürger und bezeichnet ihn darüber hinaus als Begründer des relativistischen Historismus (vgl. Löchte 2005: 8). Da sich Herder aus kulturphilosophischer Perspektive für die Gleichwertigkeit von Kulturen und deren Unvergleichbarkeit ausspricht, stellt er im modernen Diskurs um Multikulturalismus und Wertepluralismus einen zentralen Referenzpunkt dar. Seine Gedanken zum interkulturellen Verstehen aus dem 18. Jahrhundert finden auch in den modernen Theorien Wiederhall (vgl. ebd.: 12). Der Verweis auf den hohen Aktualitätswert des Herder’schen Denkens soll weniger zu einer Hochstilisierung des Philosophen führen, als vielmehr zur bewussteren Wahrnehmung der Tatsache, dass Fragen um interkulturellen Austausch, kulturelle Identität und Ethnozentrismus ein kontinuierliches Interesse bis in die Gegenwart erfahren haben, beitragen. Herder kann angesichts seines historischen Kontexts und aufgrund seiner Kulturtheorie als Wegbereiter der Moderne bezeichnet werden. Auf diesem Weg bringen ihm vor allem Kant und Fichte Ablehnung entgegen. Kant fühlt sich

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3  Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe

sogar durch die Kritik des Philosophen in den Ideen an seiner Aufteilung der Rassen, die die Inferiorität nicht-europäischer Völker deutlich hervortreten lässt, massiv angegriffen (vgl. Herb 2018: 386). Doch neben dieser Verkennung seiner Gedanken eigneten sich Denker wie Hegel sogar jene implizit an, verschwiegen aber Herder als Quelle der Ideen (vgl. Maurer 2012: 78). Als Gründungsvater des Historismus, neben Meinecke und Stadelmann,2 steht auch er vor den Herausforderungen dieses neuen Denkens. Ihm ist das Problem der relativistischen Skepsis bewusst. Sie entsteht durch die Gefahr der Orientierungslosigkeit angesichts der Vielfalt historischer Phänomene (vgl. Jacobs 1994: 64). Gleichzeitig wird sein Geschichtsverständnis von der Frage geleitet: „Wodurch wird es möglich, das Fremde trotz seiner Fremdheit, trotz seiner Unvergleichbarkeit zu begreifen?“ (Ebd.: 64) Die Fragen nach dem Verstehen von Fremdheit und nach der sinnerfüllten Einheit trotz Vielfalt machen die Herder’sche Geschichtsphilosophie zur zentralen Ideengeberin der modernen Multikulturalismusdebatte. Die aufgeworfene Fragestellung erfordert es, im Folgenden die anthropologischen Grundlagen, die Kulturdefinition und den Umgang mit Differenz in Herders Denken genauer auf den Prüfstand zu stellen. Anhand dieser Kategorien soll im Weiteren auch in Abgrenzung ein transkulturelles Verständnis von kultureller Vielfalt ausgemacht werden.

1.1 Mannigfaltigkeit als kulturanthropologische Grundannahme Die Beschäftigung mit Herder und dessen Kulturbegriff ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass der Philosoph einen Standpunkt einnimmt, der sich auch in seiner Anthropologie widerspiegelt. Der wissenschaftliche Ansatz begrenzt sich dabei nicht auf ein Spezialgebiet, von dem aus versucht wird, auf die gesamte Wirklichkeit zu schließen. Vielmehr fokussiert er sich auf die „Anschauung und Bewertung der ganzen Persönlichkeit des Menschen nach seiner Stellung im Weltzusammenhange und seiner Bedeutung in der Gesamtwirklichkeit“ (Genthe 1902: 16).

2Siehe

dazu: Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus. 2Bde., München, 1936/ Stadelmann, Rudolf: Der historische Sinn bei Herder, Halle a. d. Saale 1928.

1  Johann G. Herder: Die Dialektik von Einzelkultur und Gesamtmenschheit

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Herders anthropologisches Denken lässt zwei Stränge erkennen. Zum einen sieht er den Menschen in den Gesamtzustand der Natur eingebunden (vgl. Löchte 2005: 33). Für ihn stellen Natur und Kultur keine radikalen Gegensätze dar. Bis zum dritten Buch in den Ideen steht die Einordnung des Menschen in den natürlichen Kreislauf im Fokus. Er spricht von organisch wirkenden Kräften, die sich auf alle Geschöpfe erstrecken. Für Herder sind diese Kräfte auf die göttliche Schöpfung, eine göttliche Urkraft zurückzuführen. Diese allem innewohnenden Kräfte sind bereits in der Natur angelegt und sie werden durch konsequente Weiterführung zu Kultur weiterentwickelt. Die Mannigfaltigkeit dieser organisch wirkenden Kräfte leitet sich somit ebenfalls von jener göttlichen Urkraft ab. Die Natur ist also nur der genaue Zusammenhang und die bestimmte Wechselwirkung dieser göttlichen Kräfte. Nach Herder scheint folglich dieses göttliche Kräftesystem in jedem Lebewesen und Organismus angelegt und strebt nach Vervollkommnung, wobei die menschliche Vernunft die höchste Stufe ist, die aus dieser Veranlagung heraus entwickelt werden kann. Die beiden Entwicklungsstufen Natur und Kultur sind dadurch eng miteinander verbunden und nicht scharf voneinander abgetrennt. Auch wenn die Kultur eine Weiterentwicklung der natürlichen Veranlagungen darstellt, kann sie wiederum nichts ausbilden was nicht im natürlichen Dasein angelegt ist (vgl. Genthe 1902: 18–19). Der Denker darf aber keinesfalls als Naturalist gelten, da er deutlich macht, dass sich der Mensch durch seine selbsttätige Geistigkeit auszeichnet. Diese geistige Eigenständigkeit ist kein direktes Produkt der natürlichen Veranlagungen, wird aber benötigt, um zu einem Bewusstsein für das Naturgeschehen zu gelangen. Im Gegensatz zum Naturalismus versteht Herder Natur nicht als rationale, wissenschaftliche Kategorie, sondern als ein System geistiger und göttlicher Kräfte: „Jedes Ding ist an seinem Platze eine Darstellung der unendlichen Wirkung Gottes in seinen Kräften, die organisch sich darstellend zugleich Geist und Körper bilden.“ (Kühnemann 1893: 151) Die menschliche Kultur ist für ihn ein Spiegelbild des natürlichen Daseins (vgl. Genthe 1902: 22). Der Anthropozentrismus ist der zweite Strang im anthropologischen Denken des Philosophen. Er nimmt auch in den Ideen ab dem dritten Buch eine bestimmende Rolle ein. Diese Elemente werden deutlich, wenn Herder den Menschen als „Göttersohn“ (Ideen IV., 4: 108) und als „Krone der Schöpfung“ (Ideen X., 2: 185) bezeichnet. Der Mensch erhält eine Sonderstellung unter den Geschöpfen Gottes. Er steht demnach am oberen Ende einer Pyramide, die in ihrem stufenartigen Aufbau nach Veredelung strebt und von der Menschengattung angeführt wird. Diese Spitzenstellung des Menschen in Bezug auf das Bild der Pyramide der Gattungen versinnbildlicht Herder auch nochmals in der Darstellung des Menschen als zentralen Punkt im Kreis der Tiere (vgl. Löchte

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2005: 35). Trotz der Ansiedlung des Menschen an der Spitze der Stufenleiter im System der aufsteigenden Organisationsformen tritt dieser nicht aus dem Schöpfungsprozess heraus, sondern wird das „feine Mittelgeschöpf“ (Ideen II., 4: 54) unter den Tieren, weil sich in ihm alle natürlichen Fähigkeiten im feinsten Sinne sammeln (vgl. Bollacher 2005: 89). Ein Ausdruck für die edle Bestimmung und übergeordnete Stellung ist für Herder der aufrechte Gang, der als zentrales Unterscheidungsmerkmal gegenüber der restlichen Tier- und Pflanzenwelt angeführt wird: „Der aufrechte Gang des Menschen ist ihm einzig natürlich: ja er ist die Organisation zum ganzen Beruf seiner Gattung und sein unterscheidender Charakter.“ (Ideen III., 6: 84) Durch seine Körperhaltung ergibt sich auch eine Überlegenheit hinsichtlich der Verteilung der organisch wirkenden Kräfte: Die ganze Proportion der organischen Kräfte eines Tieres ist in der Vernunft noch nicht günstig. In seiner Bildung herrschen Muskelkräfte und sinnliche Lebensreize, die nach dem Zweck des Geschöpfs in jede Organisation eigen verteilt sind und den herrschenden Instinkt jedweder Gattung bilden. Mit der aufrechten Gestalt des Menschen stand ein Baum da, dessen Kräfte so proportioniert sind, daß [sic] sie dem Gehirn, als ihrer Blume Krone, die feinsten und reichsten Säfte geben sollte. (Ideen IV., 1: 94)

Dadurch bleibt der Kulturzustand den vernunftbegabten Wesen vorbehalten. Der Mensch grenzt sich also als einziges vernunftgeleitetes Wesen vom Rest der Schöpfung ab. Kultur entsteht somit durch Freiheit und eigenen Kompetenzerwerb, wodurch Herder den prinzipiell aufgehobenen Unterschied von Natur und Kultur an der besonderen Stellung des Menschengeschlechts doch wieder deutlich werden lässt (vgl. Genthe 1902: 23). Der Mensch ist zwar ein natürliches Wesen und aus der Natur entstanden, jedoch nicht ihr explizites Werk, sondern er betreibt eine Autogenese, bringt sich somit selbst hervor (vgl. Bollacher 2005: 85/Auernheimer 2013: 153). Vernunft, Freiheit und die damit verbundene Fähigkeit, zu wählen und Handlungen selbst zu bestimmen, machen den spezifischen Menschencharakter aus. Zugleich sind diese Eigenschaften der Grundstein von Kulturentwicklung. Jedoch betont der Denker, dass das Kulturwesen Mensch zwar mit dieser Vernunftbegabung ausgestattet ist, ihm damit aber auch das Schicksal des immer Lernenden ereilt: „Der Mensch muß [sic] am längsten lernen, weil er am meisten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigenerlangte Freiheit, Vernunft und Kunst ankommt.“ (Ideen IV., 5: 114) Der Fortschritt einer Kultur steht also im direkten Zusammenhang mit dem Streben des Menschen nach Weiterentwicklung und Vervollkommnung (vgl. Genthe 1902: 25–26). Der Mensch kann bei Herder somit grundsätzlich als Kulturwesen identifiziert werden. Wobei die Geschichte seiner Bildung als Kulturgeschichte betrachtet werden muss, die ihren Anfang im menschlichen Drang und Zwang zur

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Kommunikation hat. Er sieht in den Kulturgütern Sprache und Schrift den Grundstein der Kulturgeschichte, da der Mensch durch Überlieferung und Tradition beginnt, seine eigene Geschichte zu schreiben (vgl. Maurer 2012: 82). Sein anthropologischer Ansatz besticht dadurch, dass er, wie beschrieben, in zwei Strängen argumentiert. Einerseits steht der Mensch in einem synchronen Kontext, indem er ein in die Gesellschaft eingebundenes Individuum ist, das nur im sozialen Bund leben kann. Andererseits bemüht Herder die Metapher der Kette, wenn er verdeutlichen möchte, dass die Menschheit ein diachron gewachsenes Ganzes darstellt (vgl. Markworth 1994: 53). Der einzelne Mensch ist somit Glied einer Kette, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit hat und sich durch pädagogisches Vermitteln und Erwerben von Wissen bis in die Zukunft fortentwickelt. Hierbei gilt es zwei Dinge zu beachten: Zum einen, dass es sich dabei um einen autogenen Prozess handelt, nämlich dass der Mensch mehr als Natur ist, indem er sich selbst hervorbringt und nur durch seine Lebensbedingungen beschränkt wird – beispielsweise durch klimatische Verhältnisse. Zum anderen muss hervorgehoben werden, dass Herder deutlich Abstand nimmt von einem linearen Entwicklungsmodell, da er die Planbarkeit des Verlaufes der Menschheit als rationale Hybris empfindet (vgl. Auernheimer 2013: 154). Die Möglichkeit zur Selbstbestimmung des Menschen, die durch die ihm verliehene Vernunft ermöglicht wird, ist der bestimmende Faktor. Durch diese grundsätzliche Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen und den gleichzeitig dominanten Einfluss von Ort, Zeit und Tradition auf das Individuum und ganze Völker entsteht die Mannigfaltigkeit derselben. Jedoch führt diese Mannigfaltigkeit explizit nicht dazu, dass die Einheit des Menschengeschlechts aufgelöst würde. Im Gegenteil: Durch die grundsätzlich gleichen Chancen, sich als vernunftbegabtes Wesen Traditionen anzueignen und zu vermitteln, wird die Gleichwertigkeit der Menschen zu einem anthropologischen Faktum (vgl. Löchte 2005: 14). Somit ist Herders Menschenbild dadurch gekennzeichnet, dass der Einzelne und einzelne Völker nach Perfektibilität ihrer natürlichen Anlagen streben, dabei aber mit anderen gleichwertig agieren und die Gesamtheit des Menschengeschlechts nicht auseinanderbrechen lassen. Die Identifikation des Menschen als Kulturwesen – „Des Menschen Natur ist Kultur!“ (Bollacher 2015: 92) – steht in direktem Zusammenhang mit der „Kette der Bildung“ (Ideen IX., 1: 253), die den Menschen erst durch Sozialisierung Mensch werden lässt.3

3Von

perfectibilité spricht auch Rousseau, in dem Moment, wenn er nach der Natur des Menschen fragt. Jedoch wird deutlich, dass er im Gegensatz zu Herder den Menschen in seiner originalen Natürlichkeit nicht als soziales Wesen sieht und die Mitmenschen und

70

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Der nächste Abschnitt nimmt deswegen Herders Auffassung und mögliche Definition von Kultur in den Blick.

1.2 Herders ganzheitliches Geschichts- und Gesellschaftsbild Die Beschäftigung mit Kultur ist für den Philosophen mit dem Wunsch verbunden, den oft teleologisch geprägten und sehr beschränkten Kulturbegriff seiner Zeit zu erweitern. War Kultur im 17. Jahrhundert noch ein Lehnwort für das Bestellen von Erde und Acker, so versuchte Herder auf innovative Art und Weise Kultur nicht auf bestimmte Lebensformen zu begrenzen, sondern im Gegenteil auf alle denkbaren Gebiete auszuweiten. Damit schuf er die Grundlage der modernen Komplexität von Kultur, da er in Anlehnung an Pufendorfs Kulturbegriff4 der Bedeutung von Kultur neue Ebenen hinzufügte. Wie bereits aufgezeigt, erhebt sich für ihn die Kultur im Gegensatz zu den Denkern der Aufklärung nicht über die Natur (vgl. Löchte 2005: 27–30), auch wenn ihm kritisch vorgeworfen werden kann, dass er diese Gegensätzlichkeit nicht ohne Widersprüche auflöst: Einerseits argumentiert er mit Analogien zwischen Natur und Kultur, was im Folgenden noch näher aufgezeigt wird. Anderseits betont er in deutlichem Maße die Autogenese des Menschen, der nur durch sich selbst bestimmt wird. Deswegen wohnt seinen Argumenten immer eine gewisse Ambiguität und Widersprüchlichkeit inne. Der Philosoph ist bemüht, Kultur als ein ganzheitliches System anzusehen, wobei auch die gesamte Persönlichkeit des Einzelnen, der sich wiederum in

somit den Anderen sowie den Einzelnen zur Selbstbestimmtheit drängen (vgl. Herb 2011: 12): Man ist not made für social existence. […] Perfectibilité instead of sociabulité: is what makes sense of the original nature. (Herb 2011: 12) Herb zeigt aber auch auf, dass Rousseau mit seiner Vorstellung des republikanischen Festes eine Situation ausmacht, in der der Einzelne mit dem Anderen und seiner eigenen Identität gleichzeitig existieren kann (vgl. Herb 2011: 14). 4Samuel von Pufendorf begreift Kultur als die Gesamtheit derjenigen Tätigkeiten, durch die sich der Mensch vom Tier abgrenzt und sein spezifisch menschliches Dasein definiert. Siehe dazu: Pufendorf, Samuel von: De iure naturae et gentium libri octo, Buch II, Kapitel 4, Frankfurt a. M. ²1684.

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einem sozialen Geflecht befindet, durch das er geprägt wurde und das er selbst auch mitgestaltet, bewertet wird (vgl. Genthe 1902: 15–16). [U]nd doch ist offenbar der Mensch dazu geschaffen, daß [sic] er Ordnung suchen, daß [sic] er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß [sic] die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedächtnis. Und macht nun nicht eben dies Bauen der Zeiten aufeinander das Ganze unsres Geschlechts zum unförmlichen Riesengebäude, wo einer abträgt, was der andere anlegte, wo stehenbleibt, was nie hätte gebaut werden sollen, und in Jahrhunderten endlich alles ein Schutt wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen desto zuversichtlicher wohnen? (Ideen, Vorrede: 11)

Kultur kann erst durch die Einbindung des Individuums in diesen sozialen Verband und in die Kette der Bildung durch Erziehung entstehen. Das Ziel der Kette ist dabei die Humanität. Jene fungiert als Wertidee des Kulturationsprozesses und gleichzeitig auch als sein Ziel (vgl. Genthe 1902: 31). Dieser Lösungsversuch – das Erweitern der Bedeutungsebenen von Kultur – hängt mit seiner spezifischen Problemstellung zum Geschichtsbild und zur Kulturdefinition zusammen: Wie kann kulturelle Verschiedenheit begründet werden und wie lässt sich Fremdes miteinander vergleichen? Die Methode zur Klärung dieser Frage ist die Lebensalteranalogie, also die Bildungsgesetzte alles Lebendigen aus einer ganzheitlichen Perspektive zu betrachten. Um die im Raum stehende Frage nach der Begründung und Vergleichbarkeit verschiedener Kulturen beantworten zu können, zeichnet Herder ein bestimmtes Bild, das der Betrachter von Kultur, also das in den Fokus rückende interpretierende Subjekt, einnehmen muss: Die Betrachtung von Kultur ist mit einer sympathetischen Einfühlung verbunden. Der Betrachter muss eine Art Selbstentäußerung vornehmen. Dazu wird ihm abverlangt, sich aus seinem eigenen historischen Kontext zu lösen und pejorative Vorannahmen abzulegen. Dieser divinatorische Akt der Öffnung ist demnach entscheidend, um das Grundproblem, wie Fremdes zu begreifen ist, zu lösen (vgl. Bollacher 2005: 94/Jacobs 1994: 68–70). Auch an dieser Stelle sind gewisse Gefahren und Ambiguitäten festzustellen. Einerseits muss übermäßige Orientierung am Fremden vermieden werden, um die eigene Originalität nicht zu gefährden, beziehungsweise in den Hintergrund rücken zu lassen (vgl. Jacobs 1994: 63).5 Diese Gefahr der Unter-

5Herder

verweist deutlich auf Johann Joachim Winkelmann (1717–1768). Er macht dem Kunsthistoriker zum Vorwurf, dass er als Interpret der griechischen Kunst Außergewöhnliches geleistet habe, aber gleichermaßen dadurch die Fähigkeit verwirkt

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drückung der originären Möglichkeiten entsteht dann, wenn eigenständige Epochen und Kulturerscheinungen aus ihrem Kontext in einen fremden übertragen werden, so formuliert durch Herder 1769 in einem Reisejournal: Kein Mensch, kein Land, kein Volk, keine Geschichte des Volks, kein Staat ist dem anderen gleich, folglich auch das Wahre, Schöne und Gute in ihnen nicht gleich. Wird dies nicht gesucht, wird blindlings eine andre Nation zum Muster genommen, so Alles erstickt […]. Worinn also die erste Cultur bestehe, in Nutzung dessen, was in einer Nation liegt: in Erweckung dessen, was in ihr schläft. (SWS 4: 472)6

Andererseits sieht er selbst die Gefahr, dass der hermeneutische Prozess immer durch eine gewisse Subjektivität geprägt sein wird, da sich der Einzelne niemals ganz von seinem sozial definierten Standpunkt lösen kann (vgl. Jacobs 1994: 67). Dieses Problem, dass sich das Subjekt grundsätzlich niemals ganz von seiner Prägung loslösen und im Gegenstand selbst auflösen kann, kommentiert er explizit, wenn er über den Fachbereich der Biographie spricht: Unpartheyisch, wie ein Richter der Todten müste er (scil.: der Biograph) urtheilen: und doch – gehört nicht fast ein kleiner Grad von verliebter Schwärmerei dazu, seinen Mann so sehr der Phantasie einzuprägen, daß man sein Bild nachher, wie aus dem Kopf, entwerfen kann? Und soll dies Bild aus dem Kopf entworfen werden, wie leicht können alsdenn aus der Kammer des Herzens Säfte heraufwallen, um es zu tuschen und auszumalen? Es wird in unserem Geist gepräget und siehe da! Unser Gepräge drückt sich von unten ein, und tritt in die Züge des anderen. (SWS 2: 260)

Das Geschichts- und Kulturverständnis Herders weist ein deutlich praktisches Interesse auf. Der Interpret bezieht sich mit dem Ansatz auf seine eigene Gegenwart, seine Lebensumstände (vgl. Irmscher 1973: 46). Man kann von Applikation im Sinne Hans Georg Gadamers sprechen, wenn man in Betracht zieht, dass dieser Gegenwartsbezug entscheidenden Einfluss auf das Resultat des hermeneutischen Prozesses ausübt (vgl. Gadamer 1960: 290/307). Der Denker zielt darauf ab, dass sich das handelnde Subjekt seiner eigenen historischen

hätte, auch andere Epochen und Kulturkreise im gleichen Maße zu erfassen. Dadurch zeichnet Herder auch das Bild seines Verständnisses von Historismus nach, das sich im Idealfall aus einer neutralen, empathischen Ebene heraus entwickelt. 6Vgl. Suphan, Bernhard (Hrsg.): Herders sämmtliche Werke, 33. Bde., Berlin 1877–1913. Hier und fortlaufend als SWS bezeichnet.

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Position bewusst wird und somit seine Aufgabe im Gesamtkontext der Weltgeschichte besser begreifen und wahrnehmen kann (vgl. Jacobs 1994: 71).7 Dieser schon mehrmals angesprochene weltgeschichtliche Zusammenhang wird durch seine Kulturtheorie der Lebensalteranalogie verdeutlicht. Es kommt zum Ausdruck, dass die verschiedenen Kulturen ihren eigenen organischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Dieses organizistische Verständnis von Geschichte und Kultur orientiert sich an der Naturlehre von der Entwicklung der Pflanze. Herder zeigt auf, dass jedes Individuum und gleichzeitig jede Kultur einer natürlichen Gesetzmäßigkeit folgt. Mit botanischer Metaphorik ausgedrückt: Vom Keim zum Kern bis hin zur Blüte und größten Entfaltung und dem anschließenden Vergehen. Er spielt aber auch mit dem Bild der Lebensaltermetaphorik, wenn er von den Entwicklungsstufen von Kulturen spricht und auf die Phasen von Kindheit über Adoleszenz hin zu Erwachsenenund Greisenalter verweist. Diese Stufen der organischen Entwicklung sind durch äußere Einflüsse gekennzeichnet, die auch das Entwicklungstempo bestimmen (vgl. Auernheimer: 2013: 157–158/Löchte 2005: 13–14). Zu diesen Faktoren zählen Ort, Zeit und für Herder besonders ausschlaggebend das jeweilige Klima:8 Alle Pflanzen wachsen hin und wieder wild in der Welt; auch unsre Kunstgewächse sind aus dem Schoß der freien Natur, wo sie in ihrem Himmelsstrich in größter Vollkommenheit wachsen. Mit den Tieren und Menschen ist’s nicht anders; denn jede Menschenart organisiert sich in ihrem Erdstrich zu der ihr natürlichsten Weise. (Ideen II., 1: 45)

7Dieser

als praxisnah erscheinende Ansatz des einfühlenden Verstehens erweist sich jedoch selbst für Herder methodologisch als unzulänglich. Das von Enthusiasmus hinsichtlich historischer Vielfalt getragene Geschichtsverständnis stößt somit an seine Grenzen der Umsetzbarkeit und löst nicht das hermeneutische Problem nach der Frage des Ursprungs kultureller Vielfalt (vgl. Jacobs 1994: 68). 8Klimatheorie nach Herder: Mit seiner Klimatheorie verdeutlicht Herder, dass er trotz postulierter Ablehnung von Vorurteilen doch einem gewissen Eurozentrismus verhaftet bleibt. Tritt er auch als Verfechter der kulturellen Vielfalt auf, so stilisiert er doch das gemäßigte Klima Europas und vor allem Griechenlands. Dort würden die optimalen Voraussetzungen für die Entfaltung des Humanitätsideals herrschen. Herder verweist auf die benachteiligte Stellung von Kulturen in extremen Zonen wie Nordeuropa oder Schwarzafrika. Trotz der Feststellung einer allgemeinen Unterlegenheit dieser klimatisch extrem gelegenen Kulturen versucht Herder den Anschein zu wahren, dass es sich dabei um keine grundsätzliche Minderwertigkeit handelt (vgl. Löchte 2005: 15).

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Der Ansatz der Lebensalteranalogie impliziert die Idee der Unvergleichbarkeit und das Prinzip der Veränderung.9 Die Ansicht, dass Kulturen nicht miteinander vergleichbar seien, resultiert bei ihm daraus, dass die unterschiedlichen Bedingungen und äußeren Umstände jede Kultur auf ihre eigene Art und Weise formen. Befindet sich also eine Kultur noch im Knabenalter und die andere bereits in ihrer Blütezeit des erwachsenen Mannes, so ergibt sich aus dem Entwicklungsstadium keine Wertung, welche Kultur höherwertiger sei. „Alles ist auf unserer Erde Abwechslung einer Kugel: kein Punkt dem anderen gleich, kein Hemisphär dem anderen gleich, Ost und West so sehr einander entgegen als Nord und Süd“ (Ideen I., 4: 23). Wie dieser Ansatz einerseits die Vergleichbarkeit ablehnt, so zeigt er andererseits deutlich auf, dass Individuum und Kultur in einen Prozess des sich Fortentwickelns eingebunden sind. Dabei werden neue Entwicklungsstufen erklommen, alte verändert, verworfen oder übernommen. Die verschiedenen Kulturen unterliegen somit keinem allgemein gültigen Maßstab, mit dem ein Vergleich ihrer Wertigkeit möglich würde, sind aber geeint durch die organischen Gesetzmäßigkeiten des Entstehens, Aufblühens und Vergehens (vgl. Löchte 2005: 14). Überall wo Menschen leben können, leben Menschen, und sie können fast überall leben. Da die große Mutter auf unsrer Erde kein ewiges Einerlei hervorbringen konnte noch mochte, so war kein andres Mittel, als daß [sic] sie das ungeheuerste Vielerlei hervortrieb und den Menschen aus einem Stoff webte, dies große Vielerlei zu ertragen. (Ideen I., 4: 24)

Der Versuch, aus Herders Werk eine eindeutige Kulturdefinition zu gewinnen, gelingt nicht. In seiner Vorrede zu den Ideen macht der Autor deutlich, dass er die Gefahr sieht, dass Unterdrückung stattfinden könne, wenn Kultur von oben als Definition auf Völker angewendet werde: Kultur […] [n]ichts ist unbestimmter als dieses Wort, und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. […] [D]enn daß [sic] das Abstraktum ganzer Staaten glücklicher sein könne, wenn alle einzelne Glieder in ihm leiden, ist Widerspruch oder vielmehr nur ein Scheinwort, das sich auf den ersten Blick als ein solches bloßgiebet. (Ideen, Vorrede: 8)

9Abgrenzung

zu Spinoza: positive Deutung von Verfall und Missständen. Siehe dazu: Auernheimer 2013: 157.

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Jedoch zeichnet sich sein erweitertes Verständnis von Kultur, trotz fehlender konkreter Definition, dadurch aus, dass es die Ebene der Erziehung hinzufügt. Unter Kultur wird somit die Erziehung des Menschen, des Individuums und gleichzeitig die Erziehung des gesamten Menschengeschlechts durch ein soziales Umfeld im Allgemeinen verstanden. Damit stellt Herder eine direkte Verknüpfung zwischen Kulturentwicklung und Geistesbildung her (vgl. Genthe 1902: 43–44). Kultur ist also für ihn ein wertfreier Begriff, der die gesamten politischen, sozialen und künstlerischen Lebensumstände mit einbezieht. Er bringt bei der Beschreibung, was Kultur ausmacht, an vielen Stellen seines Werkes das Bild der Kugel ins Spiel. Wenn er feststellt, dass ein Vergleich verschiedener Kulturen nicht zulässig ist, begründet er dies damit, dass die Glückseligkeit von Individuen und Völkern kulturell gebunden ist. Der Philosoph lehnt also die Vorstellung einer konstanten Menschennatur oder eines statischen Gattungscharakters deutlich ab und betont hingegen immer wieder den kulturellen Bezug auf die eigene Kette der Bildung in den einzelnen Kulturen. Die Individualität des Menschen und der Kultur steht immer in einem Traditionszusammenhang, wobei dies nicht als starre Linie verstanden werden soll, sondern der Empfänger der überlieferten Tradition gleichzeitig befähigt und angehalten ist, die vorhandenen Kenntnisse zu erweitern und die Tradition für die Zukunft mitzugestalten (vgl. Löchte 2005: 31–32/41–43). Ein Aspekt des erweiterten Kulturbegriffs Herders, der sämtliche Lebensumstände miteinbezieht, darf nicht ausgeblendet werden: Seine Lebensalteranalogie und somit das Prinzip der organischen Entwicklung von Kultur wirken sich nicht nur auf die Bildung des Geistes des Individuums, sondern auch auf die Entwicklung des Volksgeistes aus. Geologische Formation, großräumliche Strukturen und klimatische Bedingungen entscheiden über die Ausprägungen der Lebensart und somit auch darüber, wie sich der Nationalcharakter formt. Jener ist somit auch nicht natürlich vordefiniert, sondern wird von den Lebensumständen geprägt. Die verschiedenen Völker und Nationen existieren trotz ihrer Unvergleichbarkeit nicht isoliert voneinander. Sie bilden in ihrer Gesamtheit auch eine Kette der Kultur. Das ganze Menschengeschlecht betreffend, besteht also durchaus ein Bezug der Kulturen zueinander, wobei Herder auch hier so verstanden werden muss, dass er von Entwicklung spricht, wenn die verschiedenen Epochen der Kulturen betrachtet werden und dabei kein Endzweck, beziehungsweise kein Endziel, vorliegt, an dem diese Entwicklung gemessen würde (vgl. Genthe 1902: 39–41). Wie aufgezeigt, betrachtet der Geschichtsphilosoph, wenn er von Kultur spricht, den Einzelnen und dessen Anthropologie bis in seine tiefsten Schichten. Das, was das Individuum ausmacht, es herausbildet und fortentwickelt, ist

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somit die Kultur. Es ist also keine externe Prägung, sondern die Verbindung aus individueller Veranlagung und die Korrelation mit den äußeren Lebensumständen, die die menschliche Kultur ausmacht. Um Herders Begriff von Nation zu verstehen, ist deutlich zu machen, dass Kultur einen bestimmten Träger hat: Das Volk. Um sich, vom anthropologisch betrachteten Kulturverständnis Herders ausgehend, dessen Nationsverständnis und der damit einhergehenden Bedeutung zu nähern, bleibt festzustellen, dass er Kultur und Kultur eines Volkes gleichsetzt. Volk unterliegt bei ihm einer Bedeutungsvielfalt und umfasst zum Beispiel die gemeinsame Sprache und Tradition, die sich in Märchen, Poesie und Liedern ausdrücken (vgl. Löchte 2005: 80). Die Abgrenzung der begrifflichen Unterscheidung von Volk und Nation bei Herder ist wie viele Teile seiner Philosophie nicht eindeutig und ohne Widersprüche. Was eindeutig zu bestimmen ist, ist der Fakt, dass die Vaterlandsliebe und -verbundenheit in seinem Denken in jedem Falle sozial bedingt sind. Sowohl das Volks- als auch das Nationsverständnis konstituieren sich also nicht aus Verträgen oder Verfassungen, sondern begründen sich eindeutig kulturell und traditionell. Die oft synonyme Verwendung der Begriffe Volk und Nation resultiert, wie auch an anderen Stellen festgestellt, aus einer gewissen Unschärfe der Herder’schen Theorie. An diesem Punkt kommt hinzu, dass er sich bei der Verwendung von Volk und Nation nicht explizit auf real bestehende Kollektive bezieht (vgl. ebd.: 81–82). Bei den Begrifflichkeiten, so meint Koepke, ginge es eher um eine „innere Qualität, die eigentlich […] in der Natur der Sache liegt, aber die keineswegs in der Gegenwart vorhanden sein muß [sic]“ (Koepke 1987: 214). Ziel war es, den Kulturbegriff des Philosophen herauszuarbeiten und die jeweilige individuelle und kollektive Bedeutung von Kultur zu erfassen. Wie sich gezeigt hat, vermeidet Herder nicht ganz unbewusst eine genaue Definition von Kultur. Die Alterität zwischen Beobachter und der zu beobachtenden Kultur versucht er durch seine Methode der Analogien und Ähnlichkeitsrelationen aufzulösen: Der Mensch wird also immer in einem Gesamtkosmos betrachtet. Betont wurden auch die Widersprüchlichkeiten und theoretischen Ungenauigkeiten, welche aber nicht die Tatsache in Abrede stellen, dass der Denker ein Begründer des modernen, erweiterten Kulturbegriffs ist, der Pluralität als historisches Gesetz etabliert. Diese Vielfalt, welche bereits in der anthropologischen Grundlegung als Mannigfaltigkeit immer wieder hervorgehoben wurde, erhält in Bezug auf die Betrachtung verschiedener Kulturen eine neue Bedeutung. Nachdem Kultur bei Herder im Rahmen eines ganzheitlichen und organizistischen Geschichts- und Gesellschaftsbildes verortet ist, stellt sich im nächsten Analysepunkt die Frage, wie in diesem Kulturverständnis Differenz gedacht wird.

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1.3 Philosophische Antinomie: Universalismus vs. kultureller Eigenwert Aus den anthropologischen Betrachtungen, die zu Herder angestellt wurden, ergab sich ein grundlegendes Merkmal seiner Philosophie sowie seiner Kulturtheorie: Die Mannigfaltigkeit.10 Wie gezeigt, erstreckt sie sich nicht nur auf die Vielfältigkeit der Individuen an sich, sondern auch auf die Formen kultureller Zusammenschlüsse. Nachdem näher betrachtet wurde, wie sich nach Herder historisch und sozial eine Kultur formiert, soll daran anschließend der Blick auf das Verhältnis von Kulturen zueinander gerichtet werden. Nicht nur in Herders Kulturtheorie, sondern in den Diskursen um kulturelle Differenz ist allgemein eine philosophische Antinomie auszumachen: Nämlich die Frage, ob kulturelle Differenz aus der Perspektive eines menschlichen Universalismus gedacht werden muss oder ob der kulturelle Eigenwert das Verhältnis der Kulturen zueinander bestimmen sollte. Die Interpretationen Herders reichen vom Kulturrelativisten bis hin zum Kulturuniversalisten. Es bleibt zu zeigen, mit welchen Argumenten der Denker die kulturellen Eigenwerte der einzelnen Kulturen in den Vordergrund rückt und mit welchen er einen menschlichen Universalismus begründet. Der Kulturrelativismus zeichnet sich dadurch aus, dass er vorgibt, jede Kultur aus sich heraus zu verstehen (vgl. Auernheimer 2013: 165). Im Gegensatz zum universalistischen Ansatz steht nicht normatives Urteilen im Vordergrund, sondern eine gleichberechtigte kulturelle Vielfalt (vgl. Löchte 2005: 13). Kulturübergreifende, allgemeine Konstanten werden nicht anerkannt. Was für wahr und gültig erachtet wird, bezieht sich immer auf eine bestimmte Kultur X und kann somit nie allgemeingültiger Maßstab werden. Dieser Ansatz darf aber nicht als Subjektivismus gewertet werden, da nicht das Individuum den Rahmen des moralischen Maßstabes bildet, sondern die Kultur und folglich ein Kollektiv. Demnach sieht der Relativismus eine Kontextgebundenheit der moralischen Werturteile vor. Daraus folgt, dass weder ein Vergleich noch eine Bewertung oder Hierarchisierung verschiedener Kulturen zulässig sind (vgl. Craig 1998: 189–190/Löchte 2005: 217). Es kristallisieren sich einige Punkte

10In

so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auf der Erde erscheint, so ist’s doch überall ein und dieselbe Menschengattung. Sind in der Natur keine zwei Blätter eines Baumes einander gleich, so sind’s noch weniger zwei Menschengesichte und zwei menschliche Organisationen. Welcher unendlichen Verschiedenheit ist unser kunstreiche Bau fähig! (Ideen VII., 1: 183)

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in Herders Kulturtheorie heraus, die für ihn eine Zuordnung als Relativisten zulassen: Seine betonte Ablehnung des Eurozentrismus und die damit verbundenen Phänomene wie Kolonialismus und Sklaverei gliedern sich ein in ein relativistisches Bild von kulturellen Zusammenhängen. Auch sein Widerspruch zu dem von den Aufklärern postulierten linearen Kulturfortschritt bis hin zur hochentwickelten westlichen, europäischen Kultur deutet auf seine Ablehnung eines universellen Bildes einer Idealkultur hin.11 Darüber hinaus nimmt er immer wieder Bezug auf die soziale Gebundenheit des Individuums.12 Trotz seines anthropologischen Interesses an dem Einzelnen ist dessen Eingebundenheit in seinen sozialen Kontext die entscheidende Variable (vgl. Löchte 2005: 212–213). Herder betrachtet das Individuum daher immer in seiner Rolle innerhalb eines kulturellen Kollektivs. Gleichzeitig ermöglicht ihm dieser Zugang eine Methode des kulturellen Perspektivenwechsels, da die Formation der jeweiligen Kultur dem Gesetz der Mannigfaltigkeit unterliegt und damit unendlich verschiedene Ausprägungen annehmen kann. Diesen erkennbar relativistischen Argumenten der dargestellten Theorie stehen jedoch auch universalistische Tendenzen entgegen. Der Kulturuniversalismus geht von der Einheit des Menschengeschlechts aus, die sich beispielsweise in der menschlichen Fähigkeit zu sprechen und der Begabung zur Vernunft ausdrückt (vgl. Auernheimer 2013: 168). Wie bereits erwähnt, soll durch den absoluten Ansatz die Möglichkeit entstehen, normativ zu urteilen und einzelne Kulturen an einem übergreifenden Maßstab zu messen und einordnen zu können. Neben der dargestellten Betonung des kulturellen Eigenwertes stellt Herder aber auch die Idee der Humanität als zentrales Element seiner Theorie heraus, um die Universalität des Menschengeschlechts beziehungsweise der Menschlichkeit zu konstatieren. Die dadurch entstehende philosophische Antinomie reiht sich in das Bild seines mehrdeutigen Ansatzes ein. Interpreten meinen, dass sich in seinem Spätwerk die Spannung wiederum weiter zu den relativistischen Elementen verschärft. Dies beruht darauf, dass

11Jedem

Geschlecht hat der Natur gnuggetan und sein eigenes Erbe gegeben. […] Weder der Pongo noch der Longimaus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollst du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du es bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehn. (Ideen VII., 1: 186) 12Vater und Mutter, Mann und Weib, Kind und Bruder, Freund und Mensch – das sind Verhältnisse der Natur, durch die wir glücklich werden; was der Staat uns geben kann, sind Kunstwerkzeuge, leider aber kann er uns etwas weit Wesentlicheres, uns selbst, rauben. (Ideen VIII., 5: 246)

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der Humanitätsbegriff als übergeordnetes Prinzip immer mehr hervorgehoben wird. Die Maxime des „anything goes“ (Fischer 1995: 225) der relativistischen Perspektive wird durch die Idee der Humanität sozusagen regulativ im Zaum gehalten. Trotz der Bemühung Herders, eine Betrachtung von Kultur zu ermöglichen, die abseits des europäischen Maßstabes ihre Methodik findet,13 entspringt der zwar offen gehaltene Humanitätsbegriff gleichwohl einem „heilsgeschichtliche[n] christliche[n] Universalismus“ (Schmidt-Biggemann 1996: 33). Dieser universelle Gültigkeitsanspruch lässt den Philosophen in dem von ihm kritisch belebten Diskurs der Aufklärung zum Universalisten werden, der er nie sein wollte (vgl. Fischer 1995: 225). Wie sowohl im Kapitel zur Herder`schen Anthropologie als auch in jenem zu seinem Geschichtsverständnis herausgearbeitet, konkurriert die grundsätzliche kulturelle Mannigfaltigkeit mit der menschlichen Einheit. Letztere entsteht durch die universell gültigen und jede Kultur konstituierenden Prinzipien aus Erziehung und Bildung und wird an dem Ziel des Humanitätsideals gemessen. Im Humanitätsbegriff ist die Mannigfaltigkeit sozusagen durch Einheit teils aufgehoben, was an dieser Stelle noch einmal deutlich macht, dass Herder nicht von einem natürlichen Menschen ausgeht, sondern dass bei ihm der soziale Kontext die menschliche Existenz begründet und Voraussetzung für eine Weiterentwicklung ist: Da indessen der menschliche Verstand in aller Vielartigkeit Einheit sucht und der göttliche Verstand, sein Vorbild, mit dem zahllosesten Mancherlei auf der Erde überall Einheit vermählt hat, so dürfen wir auch hier aus dem ungeheuren Reich der Veränderungen auf den einfachsten Satz zurückkehren: Nur ein und dieselbe Gattung ist das Menschengeschlecht auf der Erde. (Ideen VII., 1: 184)

Aus diesem antinomischen Spannungsverhältnis heraus bringen Vicky Spencer und Isaiah Berlin eine weitere Interpretation Herders als Pluralisten in die Debatte ein. Dieser Versuch soll als Schlichtung verstanden werden. Der kulturelle Pluralismus, so wie er Ende des 19. Jahrhunderts und im 20.

13Da

nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß [sic] wir, beinah ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruhet, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d.i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede. Es gibt also eine Erziehung des Menschengeschlechts, eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebet. (Ideen IX., 1: 248–249).

80

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Jahrhundert als Theorie entstanden ist, stimmt mit der relativistischen Annahme überein, dass eine gleichberechtigte kulturelle Vielfalt in allen Teilen der Welt vorliege und diese Vielfalt von keinen von außen auferlegten Werten und Normen beschränkt werden dürfe (vgl. Löchte 2005: 209).14 Jedoch grenzt sich laut Berlin der Pluralismus vom Relativismus dadurch ab, dass er ein objektives Korrelat benötige, also eine invariante Wertvorstellung. Diese Werte gehen dabei aus dem spezifischen Menschencharakter hervor, ergeben sich also aus einer überzeitlichen und überregionalen Betrachtung der Menschheit (vgl. Berlin 1990: 108–109). Nach Spencer lehnt der Pluralismus im Sinne Herders sowohl Absolutismus als auch Relativismus bei der Betrachtung kultureller Vielfalt und Unterschiede ab. Er schafft es, die Spannung zwischen kulturellem Eigenwert und universalistischen Tendenzen stimmig erscheinen zu lassen (vgl. Spencer 1998: 70). Kritisch betrachtet, ist die Abgrenzung zum Universalismus sehr unscharf, da nicht deutlich hervorgeht, wer genau für die Festlegung der zwar nur in begrenztem Maße vorliegenden, aber doch essentiell wichtigen übergreifenden Wertvorstellungen verantwortlich ist. Die pluralistische Deutung der Herder’schen Kulturtheorie kann nur dann zu einer Balance von Partikularismus und Universalismus führen, wenn auch hier die soziale Kontextabhängigkeit miteinbezogen wird. Wie das einzelne Subjekt einem sozialen und kulturellen Leitfaden durch Bildung und Erziehung folgt, kann auch eine moralische Ordnung und Wertvorstellung nie universell gültig sein. Ihre Gebundenheit an die sozialen Bedingungen machen sie dynamisch und veränderbar (vgl. Löchte 2005: 219). Neben diesen Deutungsmustern, die in Herders Werk auszumachen sind, macht der Denker selbst klar, dass die Form des Kosmopolitismus keinen geeigneten Ansatz darstellt, um den Umgang mit kultureller Differenz zu beschreiben. Dadurch, dass sich der Kosmopolit an jedem Ort zuhause wähnt, leugnet er folglich die Bindungskraft seiner ursprünglichen Kultur: „In seiner armen Hütte hat jener für jeden Fremden Raum, den er mit gleichgütiger Gutmütigkeit als seinen Bruder aufnimmt und ihn nicht einmal, wo er her sei, fraget. Das verschwemmte Herz des müßigen Kosmopoliten ist eine Hütte für niemanden.“ (Ideen VIII., 5: 245) In diesem Zusammenhang ist es auch von

14Auch

bei Herder ist eine Ablehnung äußerer moralischer Maßstäbe auszumachen: Schon der Name Glückseligkeit deutet an, daß [sic] der Mensch keiner reinen Seligkeit fähig sei, noch sich dieselbe erschaffen möge; er selbst ist ein Sohn des Glücks, das ihn hie- und dahin setzte und nach dem Lande, der Zeit, der Organisation, den Umständen, in welchen er lebt, auch die Fähigkeit seines Genusses, die Art und das Maß seiner Freuden und Leiden bestimmt hat. (Ideen VIII., 5.: 241)

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Bedeutung, über sein ambivalentes Verhältnis zur Akkulturation zu sprechen. Die immer wieder erkennbare Widersprüchlichkeit Herders kommt auch in diesem Punkt zum Tragen. Spricht er noch zu Beginn der Ideen davon, dass sich das Menschengeschlecht dadurch auszeichne, dass es überall leben könne, also eine unendliche Anpassungsfähigkeit besitze: Überall wo Menschen leben können, leben Menschen, und sie können fast überall leben. Da die große Mutter auf unsrer Erde kein ewiges Einerlei hervorbringen konnte noch mochte, so war kein andres Mittel, als daß [sic] sie das ungeheuerste Vielerlei hervortrieb und den Menschen aus einem Stoff webte, dies große Vielerlei zu ertragen. (Ideen I., 4: 24)

Er warnt daran anschließend auch eindringlich vor den schwerwiegenden Folgen, die mit einer insbesondere fremdbestimmten Assimilation und Verpflanzung verbunden wäre. Die Skepsis ergibt sich aus der Gefahr der Entwurzelung. Als Beispiel dient ihm vor allem die europäische Kolonialisierung von Naturvölkern und deren Versklavung in andere Länder, was er als Gewaltverbrechen an ihrer kulturellen Zugehörigkeit ansieht (vgl. Auernheimer 2013: 164–165). Trotz einer generellen Anpassungsfähigkeit des Menschen bleibt bei Herder die Kritik bezüglich Akkulturationsprozessen gleichzeitig erhalten: „All zu schnelle, zu rasche Übergänge in ein entgegengesetztes Hemisphär und Klima sind selten einer Nation heilsam worden; denn die Natur hat nicht vergebens ihre Grenzen zwischen weit entfernten Ländern gezogen.“ (Ideen VII., 4: 206) Im Umgang mit der Frage nach kultureller Differenz und Abgrenzung nimmt bei Herder das Ideal der Humanität, wie gezeigt, eine entscheidende Rolle ein. Die Idee der Humanität entspringt nicht original seinem Denken, sondern entwickelte sich mit der Renaissance zum zentralen Thema. Herder erklärte jedoch die Humanitätsidee zum physischen Gesetz, also den Ausgleich der verschieden, auf den Einzelnen wirkenden Kräfte und zum sittlichen Gebot, an dem das menschliche Handeln gemessen werden kann. Humanität soll somit ermöglichen, dass Kultur in einem harmonischen Umfeld entstehen und sich fortentwickeln kann. Sie erzeugt sowohl das Gleichgewicht der Kräfte als auch Gerechtigkeit (vgl. Genthe 1902: 33–36). Betrachtet man Humanität im Herder’schen Verständnis zudem als Kulturideal, ergeben sich daraus zwei entscheidende Folgerungen: Zum einen ermöglicht Humanität – trotz der postulierten Unvergleichbarkeit von Kulturen – aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen die Möglichkeit des Vergleichs, da Kulturen hinsichtlich ihres Grades, wie sehr sie nach dem Ideal der Humanität ausgerichtet sind, gegenübergestellt werden. Zum anderen erreicht Herder damit, dass alle Kulturen gleichberechtigt in ihrer pluralen Form

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nebeneinander existieren können, da sie das gleiche Ziel anstreben. Zudem wird dadurch der Weg für die Verständigung zwischen den Kulturen geebnet (vgl. Löchte 2005: 215/Genthe 1902: 51). Es bleibt festzustellen, dass der Vorwurf, Herder sei ein reiner Kulturrelativist, der alle universellen aufklärerischen Maßstäbe verleugnet, nicht vollkommen zutrifft. Jedoch besteht durch das starke Betonen und Hervorheben des menschlichen und damit auch kulturellen Eigenwertes die aufgezeigte philosophische Antinomie. Jene wiederum kann auch als fruchtbar und produktiv gewertet werden (vgl. Auernheimer 2013: 168). Kristeva sieht in diesem Denken im Vergleich zu Aufklärern wie Kant eine große Errungenschaft, da durch das Hervorheben des Besonderen gegenüber den universellen menschlichen Merkmalen, wie beispielsweise den Sprachen und Sitten, eine gewisse Neugier und Offenheit gegenüber Fremdem bewirkt wird: „Die Einfühlung […] in das Differente und Fremdartige wird daher zum Kennzeichen des würdigen und gebildeten Menschen.“ (Kristeva 1990: 197) Die unterschiedlichen Lebensarten sind Grundlage für die verschiedenen Nationalcharaktere und gleichzeitig Grund für die kulturellen Differenzen zwischen ihnen. Dieses Verhältnis der Kulturen sieht Herder jedoch nicht als statisch an. In Gestalt eines kulturellen Synkretismus stehen bei ihm die einzelnen Kulturen in Kontakt zueinander. Jedoch stellt er deutlich heraus, dass dabei keine Vermischung stattfindet (vgl. Auernheimer 2013: 164). Das Spezifikum seiner Kulturtheorie kennzeichnet sich dadurch aus, den positiven Einfluss der Kulturen aufeinander anzuerkennen. Wiederum bleibt dabei als Grundkonstante erhalten, dass die Selbstbestimmung der Eigenkultur immer im Zentrum steht. Glücklich und auserwählt ist der Mensch, der in seinem engen beschränkten Leben, soweit er kann, von Phantasien zum Wesen, d.i. aus der Kindheit zum Mann, erwächst und auch in dieser Absicht die Geschichte seiner Brüder mit seinem Geist durchwandert. Edle Ausbreitung und Erziehung um uns gezogen, herauszusetzen wagt und unter andern Nationen wenigstens lernt, was man entbehren möge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich, was man lange für wesentlich hielt! […] Was diese Nation ihrem Gedankenkreis unentbehrlich hält, daran hat jene nie gedacht oder hält es gar für schädlich. (Ideen VIII., 2: 223)

Herder warnt sogar vor der Gefahr, die eigene Kultur durch die Nachahmung einer fremden Form verarmen zu lassen. Dies stellt für ihn die schlimmst mögliche Auswirkung dar, die auf einen Kontakt zwischen unterschiedlichen Kulturen folgen kann (vgl. Löchte 2005: 153). Dass Kulturen aufeinanderstoßen, wird als Fakt angesehen. Daraus ergibt sich, dass es eine totale Abschottung einzelner Kulturen nicht geben kann, sondern vielmehr entsteht die Notwendigkeit, einen friedlichen Völkerkontakt herzustellen (vgl. ebd.: 159). Die Anforderungen, die

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sich aus Herders Kulturtheorie und seinem interkulturellen Verständnis ergeben, sind die Anerkennung kultureller Vielfalt nebst höchster Relevanz der kulturellen Selbstbestimmung und die Einsicht für eine gegenseitige Verantwortung. Die inter- und die intrapersonelle Perspektive macht Herder zu einem Denker der Moderne, da seine kulturanthropologische Theorie speziell die Selbständigkeit kultureller Formationen in den Blick nimmt:15 „Jedem Bemerkenden muß [sic] es aufgefallen sein, daß [sic] in den unzählbar-verschiedenen Gestalten der Menschen gewisse Formen und Verhältnisse nicht nur wiederkommen, sondern auch ausschließend zueinander gehören.“ (Ideen, VII., 4: 202) Die dargestellte philosophische Antinomie zwischen Relativismus und Universalismus lässt die Auslegung seines Ansatzes so interessant wie auch komplex erscheinen. Vielmehr macht die Diskussion deutlich, dass Herder ein Mitbegründer der modernen Multikulturalismusforschung ist, da er unentwegt die Frage stellt, was eine Gesellschaft zusammenhält, wenn nicht allgemeingültige, universale Werte vorliegen, sondern jene von jeder Kultur eigens abgeleitet werden (vgl. Bollacher 2005: 93). Die Ambivalenzen und Widersprüche dieses Denkens werden auch deutlich, wenn man fragt, was sein Ansatz für die Betrachtung unserer zeitgenössischen Situation der Globalisierung und des „in-between“ bereithält. Einerseits tritt Herder im gegenwärtigen Kontext als Verteidiger und Lobredner der Authentizität auf. Andererseits erlangt er als Prediger von Vielfalt und Individualität Rang und Namen. In einem postmodernen Sinn zeigt er die Dominanz des Partikularen auf: Um das Universelle zu offenbaren, muss es in einem historischen und damit partikularen Kontext stehen (vgl. Auernheimer 2013: 171–172). Georg Auernheimer fasst den Stellenwert, den Herders Kulturtheorie für moderne Kulturkonzepte einnimmt, prägnant zusammen: Es wäre vermessen, in Herders Philosophie ein für die heutige Weltgeschichte zukunftsweisendes Konzept hineininterpretieren zu wollen. Ebenso verfehlt ist es aber, ihn nur als Befürworter von Bodenständigkeit und als den Wegbereiter […] eines engstirnigen Kulturalismus zu sehen. Man könnte ihn als kritischen Konservativen charakterisieren, der die destruktiven Tendenzen der Moderne frühzeitig registriert hat. (Ebd.: 173)

15Der

Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch, sondern nur gradweise. Das Gemälde der Nation hat hier unendliche Schattierungen, die mit den Räumen und Zeiten wechseln (vgl. Ideen IX., 1: 250).

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1.4  Mestiçagem im Sinne Herders Die Perspektiven, die mit dem aus Herders geschichtsphilosophischem Ansatz extrahierten Kulturbegriff auf die Idee der mestiçagem eröffnet werden, sind zunächst von den auffallenden Parallelen zwischen Herder und Freyre geleitet. Beide Autoren erscheinen, wie gezeigt, als Denker eines bestimmten Zeitgeistes. Jedoch eint sie auch, dass sie sich deutlich von dominierenden Strömungen absetzen wollen. So wurde deutlich, dass Freyre und sein Werk ein Kind der republica velha sind und durchaus traditionelle oligarchische und regionalistische Werte aufrechterhalten. Gleichzeitig hat sich gezeigt, dass Letztgenannter in den 1930er Jahren bewusst eine methodische Öffnung ermöglichte und damit auch den dominierenden Rassentheorien des frühen 20. Jahrhunderts entgegentrat. Gespiegelt kann man aber auch bei Herder sehen, dass er nicht ohne den Kontext der Aufklärung zu verstehen ist. Zwar postuliert er, gegen die Selbstüberschätzung der aufklärerischen Ideen antreten zu wollen, jedoch steht sein philosophisches Denken deutlich in dieser Tradition. Er stellt somit den Aufklärern keine diametral widersprechende Denkweise entgegen, möchte sich aber dennoch mit einem neuen philosophischen System abgrenzen und das vernachlässigte Eigenrecht von Kultur verteidigen. Beide Autoren, Freyre und Herder, verbindet, dass sie sich zum Ziel setzen, ein humanistischeres Bild von Kultur anzustreben. Letzterer benutzt das Humanitätsideal, um den Menschen zur Perfektibilität anzuleiten. Zudem soll die angenommene Unvergleichbarkeit der Kulturen durch dieses Ideal abgefedert werden. Auch für das Bewusstsein des kulturellen Eigenwerts verweist Herder auf das Humanitätsideal, das verhindern soll, dass der Einzelne entwurzelt wird. Jede Kultur kann spezifisch ihre Humanität ausbilden, was somit eine kulturelle Leistung darstellt. Auch wenn er gegen die eurozentristische Herabwürdigung nicht-europäischer Kulturen antritt, so sieht der Verfechter der kulturellen Vielfalt aber vor allem doch seine Klimatheorie und das Humanitätsideal in Europa am besten verwirklicht. Auch Gilberto Freyre zeichnet mit der Idee der mestiçagem ein Bild von Kultur, das sich als humanistisches Vorbild durch seine Einzigartigkeit herausheben soll. Es bleibt aber zu bedenken, dass die Abgrenzung immer auf die USA und deren separatistisches Rassensystem zurückgeht. So zeigt sich, dass Humanität innerhalb des Herder’schen Kulturbegriffs als anzustrebendes Ideal fungiert, wohingegen sie in der Idee der mestiçagem erst Verwirklichung und Singularität erlangt und nicht apriori vorausgesetzt wird. Eine philosophische Tiefe, wie die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur und der daraus resultierenden Identifikation des Menschen als Kulturwesen

2  Ludwig Wittgenstein: Das Netz aus Ähnlichkeiten

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bei Herder hervorbringt, fehlt in der Idee der mestiçagem. Jedoch gehen beide Haltungen grundsätzlich von einer Mannigfaltigkeit der Kulturen aus. Dabei fällt jedoch ins Auge, dass mit der Idee der mestiçagem stets die Betrachtung der drei Rassen im spezifisch brasilianischen Kolonialisierungsprozess im Fokus steht. Damit ist Herders Kulturbegriff bereits breiter angelegt und auf keinen spezifischen Fall ausgerichtet. Bei beiden Beispielen steht die Gleichwertigkeit von Kulturen im Vordergrund, wenn auch auf der einen Seite universal und auf der anderen Seite im spezifischen Fall gedacht. Ein weiterer Aspekt, der eine Parallele aufzeigt, ist die Betrachtung von Kultur als ein ganzheitliches System, das alle Gebiete des Lebens umfasst. Jedoch kristallisiert sich heraus, dass Herder Kultur mit Nation gleichsetzt. Freyres Idee der mestiçagem zielt zwar ebenfalls darauf ab, als ein neues und einheitsstiftendes Element wahrgenommen zu werden, jedoch wird immer die Mischung aus den getrennten Kulturen betont. Dies spiegelt sich aber auch in Herders Ablehnung von Akkulturation wider. Wie gezeigt, sieht er darin das Übel der Entwurzelung begründet, spricht sich aber für einen Synkretismus aus. Freyres spätere Idee ist ebenfalls von einem eher synkretischen Charakter geprägt, da es nicht darum geht, in dem Geflecht der drei Rassen und Kulturen eine als dominierend festzulegen. Es bleibt die Frage, wie sich die Idee der mestiçagem und der Herder’sche Kulturbegriff zueinander positionieren, beziehungsweise welche Kernaussage der mestiçagem mit dem Kulturbegriff Herders unterfüttert werden kann. Als Antwort tritt deutlich hervor, dass mit der Zusammenführung klar wird, wie in der Idee der mestiçagem die Herder’sche Theorie von Kultur als nationales Produkt auszumachen ist. Diese Verbindung von Kultur und Nation ist somit durch Herder philosophisch begründbar und kann bei der Untersuchung der Kulturkonzeption weiterverwendet werden. Somit gilt es, den Blick an dieser Stelle auf Ludwig Wittgenstein zu lenken und wie im vorherigen Schritt den aus seiner Sprachphilosophie herausgelösten Kulturbegriff auf die Bedeutung für die Idee der mestiçagem anzuwenden.

2 Ludwig Wittgenstein: Das Netz aus Ähnlichkeiten Leben und Ordnung. Die zentrale Frage, die Wittgenstein vor allem sich selbst stellt, zielt darauf ab, die Ordnung der Welt zu ergründen, ob sie a priori vorbestimmt ist und worin sie im jeweiligen Fall bestehen könnte. Auf der Suche nach Antworten fand er sich immer wieder in einer Sackgasse zwischen zwei Polen wieder. Zum einen bildet die Weltzugewandtheit den Referenzpunkt seines

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Denkens. Dazu kann man Wittgensteins naturwissenschaftliches Interesse, seine Absage an Absolutheit, Dogmatismus und Spekulation und die damit verbundene Selbstgewissheit, die in Form von rationaler Argumentation zum Tragen kommt, auf der einen Seite erkennen. Auf der anderen Seite steht diesem Welt- und Selbstverständnis eine emotionale Sicht entgegen. Sie wird angetrieben von der Angst vor Versagen und Orientierungsverlust. Diese beiden Extreme, die seine Existenz und Persönlichkeit kennzeichnen, bringt er durch die Philosophie miteinander in Einklang. Durch die Tätigkeit des Philosophierens, die sich bei ihm im Experimentieren, Erfinden oder Konstruieren manifestiert, findet er einen Weg, seine Angst abzumildern. Hierbei ist nochmals zu betonen, dass er durch das Spielen und Experimentieren mit Sprache und Gedanken keine Absolutheit, sondern vielmehr einen Punkt erzeugen möchte, an dem die eigenen Zweifel und Ängste zur Ruhe kommen. Seiner Philosophie kommt damit eine ganz bestimmte Funktion zu: Die Herstellung von Ordnung im Leben (vgl. Gebauer 2009: 12). Auch innerhalb des Wittgenstein’schen Gesamtwerkes lässt sich diese Hinwendung zur Praxis und damit ein Wandel in der Perspektive und Methode erkennen. Er beschäftigt sich explizit mit dem menschlichen Leben und dem Verständnis von jenem. Die Form von formaler Vorbestimmung, sei sie göttlicher oder beispielsweise platonischer Art, kann nicht dasselbe Verständnis des menschlichen Lebens erzeugen, wie zum Beispiel die Betrachtung aller tatsächlichen menschlichen Tätigkeiten und Möglichkeiten. Und eben dieses Verhältnis von Taten und Möglichkeiten zueinander kennzeichnet Wittgensteins Philosophie. In seinem Spätwerk, den Philosophischen Untersuchungen grenzt er sich von seinem TCL ab, indem er von der Annahme abweicht, dass die menschliche Welt alles sei, was auch logisch der Fall sein könnte. Vielmehr hält er im Spätwerk an einer bestimmten Gewissheit, dass man sich mit unmittelbar vorliegenden Tatsachen auseinandersetzen müsse, fest. Dieses strategische Umdenken wird begleitet von der Auffassung, dass nicht mehr das Wesen des Menschen den Untersuchungsgegenstand der Philosophie darstellte, sondern die Analyse seiner Tätigkeiten. Aufgrund dessen wird die Spätphilosophie des Denkers zugespitzt auch als praxeologischer Fundamentalismus (Garver 1999: 51) bezeichnet. Wittgenstein spricht in seinem Satz 4.114 der Grenze im TCL noch eine eindeutige Funktion zu: „Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. – Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen.“ (Wittgenstein 2014: 39). Der Begriff der Grenze bleibt somit auch im Spätwerk zwar weiterhin eine zentrale philosophische Frage, jedoch gerät der Terminus nun unter Verdacht, Instrument eines „Terrorismus rationalistischer Phantasien“ (Heinrich 1993: 12) und somit überspannt zu sein, was von einer radikalen Anwendung herrührt.

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Im Folgenden wird anschließend an die Klärung, welche anthropologischen Merkmale der Wittgenstein’schen Philosophie zu Grunde liegen, eine Annäherung an den in ihr enthaltenen Kulturbegriff versucht. Da ein Kennzeichen seiner philosophischen Denkweise darin besteht, absolute Begriffsbildungen und klare Definitionen zu umgehen, wird es sich bei der Beschäftigung mit seinem Bild von Kultur eher um einen Abgrenzungs- und Interpretationsprozess handeln. Im nächsten Teil nimmt nochmals die Grenzziehung eine zentrale Rolle ein, wenn es darum geht, wie in der Logik Wittgensteins das Verhältnis verschiedener Kulturen zueinander gedacht werden muss. Da sich die Untersuchung auf das Spätwerk des Philosophen konzentriert, kommt wiederum die Tatsache zum Tragen, dass die späten Gedanken des Denkers jegliche akkurate Grenzziehung von Begriffen und Definitionen ablehnen. Vielmehr steht der jeweilige Kontext im Vordergrund. Die Diskussion, wie Unterschiede zwischen Kulturen gedacht werden müssen, dreht sich immer um die Bedeutung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit (vgl. Garver 1999: 37–40).

2.1 Anthropologie des zeremoniellen Tieres: Wittgensteins Sprachphilosophie Die Beschäftigung mit Wittgensteins Spätwerk in dieser Dissertationsschrift ist eine bewusste Entscheidung. Die Philosophischen Untersuchungen stellen eine markante Wendung innerhalb seines Gesamtwerkes dar, da sich eine Hinwendung sowohl zum praktischen Handeln als auch zum anthropologischen Denken vollzieht.16 Sein Ansatz in den PU kann innerhalb seiner Philosophie als Bruch verstanden werden, herbeigeführt durch die beschriebene, neue praxisorientierte Ausrichtung. Jedoch stellen die PU auch nach außen eine Art Revolution seitens Wittgensteins Gedanken dar. Seine Auffassung von Philosophie liest sich als Gegenentwurf zur etablierten akademischen Philosophie, der über die Ablehnung von Metaphysik und Essentialismus hinausgeht. Wie die Darstellung seiner Methode noch zeigen wird, nimmt er in seinen Betrachtungen einen Standpunkt ein, der sich nicht ausschließlich in einer der neuzeitlichen Kategorien wie Sprachkritik, Logischer Positivismus, Kantianismus und weiteren denken lässt (vgl. Gebauer 2009: 13).

16Siehe

dazu: PU 23.

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Die Loslösung von definitiven Antworten und Begriffen wird auch an der Methode in den PU deutlich erkennbar, mit der Wittgenstein sich der Frage nach Ordnung stellt. Allgemein ist von ihm beabsichtigt, dass der Leser zur eigenen Interpretation aufgefordert wird. Dies steht mit dem Ziel, eine Denkbewegung anzustoßen, in Verbindung. Das Denken und damit auch die Philosophie sind bei Wittgenstein nicht linear zu verstehen. Die Dynamik erzeugt Zwischenglieder (vgl. PU 122) und spinnt sich somit immer wieder fort, wobei die Richtung in keiner Weise festgelegt ist. Diese Philosophie des Denkens ist charakteristisch für das Spätwerk Wittgensteins, insbesondere in den PU. Damit lässt sich methodisch eine Demarkationslinie zum Denken im TLC, das eher als ruhend und statisch beschrieben werden kann und einen Ewigkeitsanspruch anvisiert, ziehen (vgl. Gebauer 2009: 33). Mit der Einführung des Sprachspiels in den PU tritt die Bewegung als Grundelement der Philosophie weiter in Erscheinung. Verkörpert wird diese Dynamik in Form von Beteiligung des einzelnen Ichs am gemeinschaftlichen Spiel, das keine isolierte Ich-Existenz zulässt. Das Handeln nimmt eine zentrale Rolle ein (vgl. Gebauer 2009: 39). Damit manifestiert sich nochmals, dass Wittgensteins Denken an dieser Stelle keine konkrete Endlösung für die Frage nach der Ordnung vorsieht, sondern eher mit aus der Praxis stammenden Fakten hantiert, die einer gewissen Wandelbarkeit und Weiterentwicklung unterliegen: „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als sehen sollten. D. h., wo wir sagen sollten: Diese Sprachspiel wird gespielt.“ (PU 654) Damit geht einher, dass der Philosoph sein methodisches Ideal nicht darin verwirklicht sieht, mit dem Konzept des Sprachspiels eine ‚ideale Sprache‘ zu entwerfen. Vielmehr geht es um ein Durchleuchten und Verstehen der Alltagssprache. Die Struktur der PU kennzeichnet sich zudem dadurch aus, dass sie keine besitzt. Die Methode des Sprachspiels lebt davon, dass ständig der Blickwinkel geändert wird und nie eine Aufklärung des einzelnen Spiels stattfindet, ganz abgesehen von zusammenfassenden, überblickenden Elementen. Methodisch verlangt diese Konstruktion der PU mit ihrem Sprachspiel und der Analogienbildung dem Leser eine enorme Eigenleistung ab, da er sich selbst eine Vorstellung machen soll (vgl. Gebauer 2009: 41–44): „Denk nicht, sondern schau.“ (PU 66) Dieses bewusste Vorgehen, Zusammenhänge nicht offensichtlich zu machen, setzt ein Kontextwissen des einzelnen Spielers voraus und fordert von jenem ein, Rekonstruktionen, Interpretationen und Ergänzungen vornehmen zu können (vgl. Gebauer 2009: 19). Somit ist es nicht nur Wittgensteins Methode, Zwischenglieder und Ähnlichkeitsrelationen herzustellen, sondern auch der Interpret ist angehalten, diese Werkzeuge zu benutzen, um sich über eine netzartige,

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und eben in keinem Falle zentrierte, Perspektive ein Muster des Wittgenstein’schen Denkens zu konstruieren. Für Wittgenstein bilden das praktische Leben und die Philosophie zwei Seiten ein und derselben Medaille. Diese Spiegelung tritt erneut in seiner Wahrnehmung des Menschen auf. Dieser stellt einerseits eine körperliche Existenz im sozialen Prozess dar und gleichzeitig übernimmt er von einem äußeren Standpunkt aus die Funktion eines Denkers und Beobachters (vgl. ebd.: 16). In den PU wird deutlich, dass Wittgenstein keine externe Perspektive kennt und zulässt. Kein Subjekt kann isoliert von den sozialen Abläufen stehen und eine reine Beobachterrolle spielen. Der zu beschreibende Gegenstand ist immer ein Teil unserer Welt und jene entspringt nach Wittgenstein unseren Erkenntnissen und ist wiederum durch den Gebrauch von Sprache entstanden. Das zu Untersuchende ist folglich stets etwas selbst Produziertes, das auf der Grundlage von bereits bestehenden Praktiken entwickelt wurde. Somit sind es der Sprachgebrauch und das Sprachspiel, die Orientierung bieten, indem sie Neues hervorbringen und mit der bestehenden Praxis verknüpft bleiben. Durch eine symbolische Praxis, also der Anwendung von sprachlichen Symbolen, wird das Erfassen der Welt überhaupt möglich. Zu diesem Verständnis ist jedoch das Benutzen von bereits bestehenden Ordnungen, deren Bedeutung nicht unterschätzt werden darf, die angesprochene Voraussetzung. Da die Sprache und ihr Gebrauch demgemäß immer eines praktischen Kontextes bedürfen, in dem sie entwickelt und angewendet werden, kann der Spracheinsatz und damit auch der Blick auf die Welt nicht theoretisiert werden, sondern es kann nur eine Beschreibung erfolgen. Nur deswegen ist eine Beschreibung zulässig, da eine Theorie einen abstrakten, externen Blickwinkel als Grundlage hat, die Philosophie des Sprachspiels Wittgensteins jedoch lediglich im jeweiligen praktischen Kontext verstanden werden muss und somit auch nur aus ihm heraus beschreibbar ist (vgl. ebd.: 30–31). Davon ausgehend ist folglich auch kein Blick auf die Welt als Gesamtheit mit all ihren einzelnen Prozessen möglich, da es keine Person, keine IchInstanz geben kann, die losgelöst eine übergeordnete theoretische Perspektive einnimmt. Eine Loslösung aus dem jeweiligen Handlungskontext ist für das einzelne Ich nicht möglich (vgl. ebd.: 38). So wie der soziale Kontext den Einzelnen konstituiert, so bildet er auch gleichzeitig die Grenzen seines Einblicks in die Gesamtheit der Welt. Um Wittgensteins anthropologisches Konzept zu hinterfragen, ist es notwendig, den Entwicklungsprozess eines jeden Menschen hinsichtlich seiner körperlichen als auch sozialen Formung zu betrachten. Der Körper rückt als Referenzsystem deutlich in den Fokus, da der Mensch die Sprachentwicklung bereits in der Kind-

90

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heit nonverbal erlernt, indem er in dieser Zeit ein System der Gebräuche entdeckt. Dabei fungiert der Körper als Werkzeug, mit dem eine Eingliederung in die bereits äußerliche, normierte Welt versucht wird. Von Bedeutung ist dabei, dass sich das Kind darauf stützen kann, immer wieder von der Außenwelt die gleichen Bedeutungen vermittelt zu bekommen. In der Praxis findet somit eine Normierung, Brauchbarmachung des Körpers statt (vgl. ebd.: 78). Um zu verstehen, wie sich Kulturen formieren und entwickeln, zeigt der Philosoph, dass sich die Welt nicht aus Gedanken, sondern aus einer Ordnung von Handlungen zusammensetzt. Die Sprache ist dabei auch ein Verhalten, das sich in diese Ordnung einreiht. Wenn beispielsweise das Kleinkind Sprache noch nicht versteht, so wird durch die kulturell bedingte Ordnung seiner Umgebung ein System bereitgestellt, in dem Möglichkeiten des Lernens bereitstehen. Die Weitergabe von Techniken und Fertigkeiten können diese sichern und gleichzeitig wird ein Erlernen derselben für Unwissende möglich. Der Zuwachs an Techniken erzeugt wiederum eine Veränderung und Weiterentwicklung. Die Analogie vom Kleinkind, das in eine Welt hineingeboren wird, die schon von einem Ordnungssystem durchzogen ist, mit dem Entwicklungsprozess von Kulturen, besteht darin, dass in beiden Fällen die gewachsenen Strukturen Lerngelegenheiten bieten, die ein Verstetigen und Weiterentwickeln erst möglich machen (vgl. ebd.: 85). Lernen ist für Wittgenstein das Begreifen von etwas, das man zuvor noch nicht durchdringen konnte. Die Weitergabe von kulturellen Techniken im Rahmen dieses kindlichen Lernprozesses bildet für ihn die Basis seiner Sprachphilosophie (vgl. ebd.: 86). Der Körper des Kindes nimmt die zentrale Rolle ein, da durch Nachahmung eine Praxis entsteht, die den Einzelnen in die Ordnung der Welt integriert. Voraussetzung dafür ist das Einstellen des Mechanismus: Bei diesem Prozess sollen Fertigkeiten erzeugt werden, die ermöglichen, in bestimmten Lagen stets passende Handlungen vollziehen zu können. Ziel ist es, dass in einer gemeinsamen Lebensform, in einem gemeinsamen Kulturkreis, von einem gleichen Körpergebrauch ausgegangen werden kann. Nicht die Natur erzeugt die gleichen Verhaltensmuster und Gebrauchsformen innerhalb von Kulturen, sondern die von allen nachvollziehbaren und nachahmbaren Regeln einer Kultur konstituieren den Körper und eben keine natürliche Determiniertheit. Somit wendet sich Wittgenstein in diesem Punkt von klassischen anthropologischen Standpunkten ab, wenn er betont, dass das Subjekt seine körperliche und gesellschaftliche Konstitution in einer geteilten menschlichen Praxis selbst hervorbringen muss und der Körpergebrauch nicht durch äußere, natürliche Einflüsse vorbestimmt ist (vgl. ebd.: 90–91). Die Verständlichkeit von Sprache und Körperlichkeit hängt bei Wittgenstein mit kulturellen Voraussetzungen zusammen. Beide entstehen durch aktive

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Tätigkeiten im Austausch mit anderen. Dabei bilden sich Umgangskörper und Umgangssprache heraus. Durch Vergleich und Nachahmung wird eine Übereinstimmung erzeugt. Umgangskörper und -sprache bringen eine Konformität und Gleichheit hervor, die Wittgenstein als Vorbedingungen für ein gesellschaftliches Leben sieht (vgl. ebd.: 100) „Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam dies klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen“ (PU 242). Nach Marcell Mauss ist der Umgangskörper deswegen so notwendig, weil er einerseits durch seine kulturelle Eingebundenheit den Einzelnen dazu befähigt, Techniken zu erlernen und andererseits ein Instrument darstellt, um sich in der Weltordnung zurechtzufinden (vgl. Mauss 2010: 199–200)17. Festzuhalten bleibt an der Stelle, dass dieser Grad an kultureller Gleichheit und Übereinstimmung, also die Grundkonstante der Wittgenstein’schen Anthropologie, kein natürlich hervorgebrachtes Phänomen ist, das Menschen miteinander verbindet. Vielmehr wird diese Verbindung aktiv, sozial konstruiert und durch Eigenleistung des Einzelnen erst möglich. Diese Tatsache der Selbstkonstruktion stellt auch den grundlegenden Unterschied dar, den Wittgenstein zwischen Mensch und Tier ausmacht. In seiner Naturgeschichte, also mit der Methode der übersichtlichen Darstellung und der Erfindung von Zwischengliedern zwischen Sprachspielen, macht der Denker deutlich, dass der Mensch von der Kultur eines Gemeinwesens erzeugt wird. Das Tier hingegen ist von seiner genetischen Veranlagung bestimmt, die ihm ganz bestimmte Verhaltensprogramme vorgibt. Der Kulturationsprozess, also das Eingliedern von etwas Natürlichem in den Bereich der Kultur, wird beim Tier durch Dressur erreicht. Hierbei soll die Dominanz der biologischen Vorbestimmung bewusst abtrainiert werden. Mit Blick auf den Menschen spricht Wittgenstein sowohl vom „Einstellen des Mechanismus“ als auch vom „Abrichten“ (PU 5). Durch die minimale Ausstattung mit biologischen Verhaltensmustern ist der Mensch einerseits auf Selbstkonstruktion angewiesen, jedoch gleichzeitig auch anhängig von der sozialen Gemeinschaft, in die er geboren wurde. Um das Ziel der Kulturation, also das Einführen des Kindes in die jeweilige Gemeinschaft, zu gewährleisten, muss eine „Abrichtung“ erfolgen, die dem Kind ermöglicht, durch Nachahmung eigenständig die kulturellen Programme seiner sozialen Umwelt zu erlernen. Im Unterschied zum Tier wird ihm willkürlich keine natürliche

17Siehe

zum Begriffs des Umgangskörper weiterführend das gesamte Kapitel Die Techniken des Körpers (197–220) in: Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München 2010.

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Veranlagung genommen. Zwar stellt der Akt des Abrichtens eine Willkür dar, die von der Umgebung am Einzelnen ausgeübt wird, jedoch ist diese positiv konnotiert, da sie das Kind seiner eigentlichen Bestimmung, dem Leben in der Kultur, zuführt. Das Annehmen ersten regelhaften Verhaltens, die bewusste Verwendung des Körpers und die Lenkung, beziehungsweise die Erziehung durch andere Menschen, sind es, was die Naturgeschichte des Menschen nach Wittgenstein kennzeichnet (vgl. Gebauer 2009: 21–93): „Befehlen, fragen, erzählen, plauschen gehören zu unserer Naturgeschichte so wie gehen, essen, trinken, spielen.“ (PU 25) Ausgehend von dieser dargestellten anthropologischen Ausrichtung und Auslegung der Naturgeschichte erscheint das bereits erwähnte Zitat Wittgensteins fragwürdig: „Man könnte fast sagen, der Mensch wäre ein zeremonielles Tier.“ (Wittgenstein 1994: 128) Diesen Zweifel macht er auch selbst deutlich: „Das ist wohl teils falsch, teils unsinnig, aber es ist auch etwas Richtiges daran.“ (Ebd.: 128) Wie gezeigt, kann die Gleichsetzung von Mensch und Tier nicht gelingen, da die Dichotomie von tierischen, nüchternen und menschlichen, rituellen Handlungen stets erhalten bleibt. Jedoch spricht Wittgenstein auch von etwas Richtigem bei der Bezeichnung des Menschen als ein zeremonielles Tier: Damit betont er, dass das menschliche Handeln allgemein einen zeremoniellen Charakter hat. Die Bezeichnung ist eher als phänomenologische Bemerkung zu verstehen, die gerade den identifizierbaren Unterschied zwischen ritueller Handlung und tierischem Gehorchen von biologischen Vorgaben weiter hervorheben soll (vgl. Brusotti 2014: 145/Nordmann 2015: 119–121). In den folgenden Ausführungen rückt der Begriff der Lebensform in den Mittelpunkt. Seine Ausbildungen bilden nämlich im Sinne von Kultur das System, das die spezifischen Handlungsmuster und Riten hervorbringt, die der Einzelne wie beschrieben erwirbt, erhält und weiterentwickelt.

2.2 Praxisorientierung: Kultur als Lebensform Bereits bei der Betrachtung seiner anthropologischen Sichtweise fällt Wittgensteins Verwendung des Begriffs des Sprachspiels ins Auge. Mit dem Ansinnen, eine Annäherung an einen möglichen Kulturbegriff zu wagen, legt die Analyse im Folgenden dar, in welchem Zusammenhang Sprache, Sprachspiel und Lebensformen stehen. Sie bezieht sich auch an dieser Stelle fast ausschließlich auf die PU als Spätwerk des Denkers, da „die Begriffe ‚Sprachspiel‘ und ‚Lebensform‘ zu den Grundbegriffen der reifen Philosophie Wittgensteins gehören“ (Schulte 1999: 157).

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Bereits zu Beginn der PU macht er deutlich, dass für ihn Sprache nicht als konkrete Zuordnung verstanden werden soll. Das Vorgehen, einem Ding beziehungsweise einem Gegenstand ein exaktes Wort zuzuweisen, erscheint aus seiner Perspektive unterkomplex. Statt Zuordnung steht die Verwendung im Fokus. Entscheidend ist, wie Sprache angewandt wird und wie sowohl Sender als auch Empfänger miteinander operieren (vgl. Kienzler 2007: 25). In PU 5 spricht sich Wittgenstein, wie bereits erwähnt, gegen das Erklären von Sprache aus: Wenn man das Beispiel im § 1 betrachtet, so ahnt man vielleicht, inwiefern der allgemeine Begriff der Bedeutung der Worte das Funktionieren der Sprache mit einem Dunst umgibt, der das klare Sehen unmöglich macht. – Es zerstreut den Nebel, wenn wir die Erscheinungen der Sprache an primitiven Arten ihrer Verwendung studieren, in denen man den Zweck und das Funktionieren der Wörter klar übersehen kann. Solche primitiven Formen der Sprache verwendet das Kind, wenn es sprechen lernt. Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern Abrichten. (PU 5)

Es ist also nicht nur so, dass das Erklären von Sprache abgelehnt wird, sondern, dass jenes sogar die Gefahr birgt, die eigentliche Funktionslogik der Sprache zu verbergen. Der von Wittgenstein gewählte Ausweg aus dem Dilemma des Erklärens ist die Einordnung der Sprache in den Handlungskontext (vgl. Lange 1998: 143). In PU 7 setzt er diese Verbindung aus Sprache und ihrer Anwendung mit einem Spiel gleich und benennt es konkret: […] Wir können uns auch denken, daß [sic] der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlenen. Ich will diese Spiele ‚Sprachspiele‘ nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. […] Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie erworben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen. (PU 7)

Das Sprachspiel stellt keinen Terminus technicus dar, da es gerade in Abgrenzung zum Modell der Erklärung keine allgemeinen Aussagen treffen möchte. Die spezifische Anwendung des Sprachspiels ist das Entscheidende. Dabei bleibt das Sprachspiel nicht beschränkt auf Sprache, sondern weitet sich auch auf sprachähnliche Vorgänge aus (vgl. PU 1d,2,6,8,9). Anders ausgedrückt, fließen dabei Sprachliches und Nichtsprachliches im Sprachspiel zusammen und es wird deutlich, dass sie sich gegenseitig bedingen (vgl. Schulte 1999: 157). Die Verbindung zwischen Spiel und Sprache besteht in der Regelhaftigkeit, die eben auch auf gewisse Gesten und Handlungsabläufe übertragen werden kann (vgl. Lange 1998: 141–142). Die beschriebene Verwobenheit von Sprechen und Handeln führt

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dazu, dadurch entstehende Verhaltensabläufe eine Menge an Regelmäßigkeiten zu erzeugen. Zu betonen bleibt an diesem Punkt, dass es im täglichen Leben und in der von Wittgensteins fokussierten Alltagspraxis nicht nur um ein einziges Sprachspiel geht, sondern, dass jeder mit mehreren Sprachspielen konfrontiert und in diese eingebunden ist. Zudem kann ein Sprachspiel auch mehr als einmal gespielt werden (vgl. Savigny 2011: 9). Es dient als klares und überschaubares Beispiel. Die Funktion der Sprachspiele liegt darin, zu beschreiben und zu beleuchten – nicht zu erklären – wie Sprache mit der Praxis zusammenhängt und wie in einem Kontext des Handelns mit Sprachmitteln umgegangen wird (vgl. Lange 1998: 140/Kienzler 2007: 26). Diese „Gebrauchstheorie der Bedeutung“ (Savigny 1999: 120) kann nur über das Mittel des Sprachspiels funktionieren, da die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken erst durch die Rolle im Sprachspiel erkennbar wird (vgl. Savigny 2011: 8). Das formale Kennzeichen des Charakters von Sprachspielen – die Ähnlichkeit – geht aus der dargestellten Regelhaftigkeit hervor. Der Begriff der Familienähnlichkeit steht in Wittgensteins Philosophie somit im Mittelpunkt. Später wird noch auf die Bedeutung dieser Ähnlichkeit eingegangen, wenn es darum geht, verschiedene Lebensformen nebeneinander zu betrachten. Doch für diese Betrachtung sowohl von Sprachspielen als auch der im Folgenden noch darzustellenden Lebensformen, gilt eine Prämisse: Die Ähnlichkeit geht nicht aus einem, sich in jedem einzelnen Sprachspiel oder jeder Lebensform zu findenden Merkmal hervor. Sie muss als Netz verstanden werden, das keinen Mittelpunkt besitzt, auf den alle Teile durchgängig zurückzuführen sind (vgl. Lange 1998: 140). In PU 15 macht Wittgenstein nochmals deutlich, dass durch das Beschreiben anstelle des Erklärens die Ähnlichkeit zur Maxime erhoben wird und sich gegen die exakte Zuweisung auflehnt:18 Am direktesten ist das Wort ‚bezeichnen‘ vielleicht da angewandt, wo das Zeichen auf dem Gegenstand steht, den es bezeichnet. Nimm an, die Werkzeuge, die A beim Bauen benützt, tragen gewisse Zeichen. Zeigt A dem Gehilfen ein solches Zeichen, so bringt dieser das Werkzeug, das mit dem Zeichen versehen ist. So, und auf mehr oder ähnliche Weise bezeichnet ein Name ein Ding, und wird ein Name einem Ding gegeben. – Es wird sich oft nützlich erweisen, wenn wir uns beim Philosophieren sagen: Etwas benennen, das ist etwas Ähnliches, wie einem Ding ein Namenstäfelchen anheften. (PU 15)

18Auch

in Bezug auf die Entstehung beziehungsweise Ausbildung von Lebensformen ist die Abkehr vom Modell des Erklärens signifikant: Lebensformen erhalten erst Identität, wenn ein Abbruch der Erklärung erfolgt und akzeptiert wird, dass ein ganzheitliches Verstehen nicht möglich ist (vgl. Simon 1999: 211).

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Es finden somit durch die Einführung des Sprachspiels zwei Verschiebungen statt: Zum einen wird die philosophische Einsicht durch die übersichtliche Anordnung abgelöst. Zum anderen weicht die Dominanz der Definition der Präferenz der Verwendung. Daraus leitet sich ab, dass sowohl Sprache als auch Sprachspiele niemals als vollständig betrachtet werden können und sollen (vgl. Kienzler 2007: 29). Ihr Charakteristikum und ihre Funktion als netzartige Orientierungshilfe heben die Spezifität des sprachphilosophischen Ansatzes Wittgensteins hervor: Wir wollen nicht das Regelsystem für die Verwendung unserer Worte in unerhörter Weise verfeinern oder vervollständigen. Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß [sic] die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. (PU 133)

In der Trias seiner zentralen Begriffe aus Sprachspiel, Lebensform und Familienähnlichkeiten stehen die ersten beiden in einem entscheidenden Verhältnis: „Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen […].“ (PU 19) Wenn es um die konkrete Vorstellung eines Beispiels von Sprachspielen geht, können diese nicht ohne Bezug zu einer konkreten Handlungsrealität dargestellt werden. Um sich einem Kulturbegriff im Wittgenstein’schen Sinne anzunähern, ist an dieser Stelle entscheidend, dass das Einbettungsverhältnis zwischen Sprachspielen und Lebensformen erkannt wird. Sowohl Sprache als auch Lebensform stellen ein Regelsystem dar. Dabei ist von Bedeutung, dass sich das Regelsystem der Sprache in das soziale Regelsystem einbettet, in die Lebensform. Damit die Sprache überhaupt Bedeutung erlangt, müssen konventionelle Vorbedingungen gegeben sein, die sich aus der Lebensform und ihren sozialen Regeln heraus ergeben. Die Konsequenz aus dem in PU 19 und 23 angezeigten Einbettungsverhältnis19 beider Systeme ist, dass, wenn sich der Einzelne in einem bestimmten Regelsystem einer Sprache konform verhalten möchte, er gezwungen ist, auch die Konventionen der zugehörigen Lebensform und die dort vorherrschenden sozialen Regeln zu kennen und vor allem anzuwenden (vgl. Savigny 2011: 24/28). Es wird klar, Sprachspiel kann nicht mit

19Siehe

dazu insbesondere PU 23: Wie viele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? – Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir ‚Zeichen‘, ‚Worte‘, ‚Sätze‘, nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andere veralten und werden vergessen. […] Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß [sic] das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform […].

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Lebensform gleichgesetzt werden, jedoch besteht eine enge Korrelation zwischen beiden: „Das Wort ‚Sprachspiel‘ soll hier hervorheben, daß [sic] das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform […].“ (PU 23) Lebensformen werden durch die einzelnen Personen, die am Sprachspiel beteiligt sind, erzeugt. Deren natürlicher und sozio-historischer Handlungskontext ist dabei maßgeblich. Daraus ergibt sich zugleich, es existiert keine Urform der Lebensform und sie kann auch nicht im Singular gedacht werden kann, sondern es besteht eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten (vgl. Haller 1999: 55). Diese Absenz eines gemeinsamen Kerns, auf den alle Lebensformen zurückzuführen wären – ebenso wie das fehlende Element, das allen Sprachspielen gemeinsam ist – zeugt davon, dass Wittgenstein nicht von einer allgemeinen menschlichen Kultur ausgeht. Auch in Bezug auf das eigene Vorstellungsvermögen ist eine Lebensform nie in ihrer ganzen Komplexität vorstellbar, sondern nur in einer primitiven Form und somit nur Grundlage (vgl. Simon 1999: 196/202). Was eine Lebensform nach innen kennzeichnet, ist nicht das Verstehen, sondern die in der Praxis erlernte und erfahrene Übereinstimmung: So sagst du also, daß [sic] die Übereinstimmung der Menschen entscheide, was richtig und was falsch ist?“ – Richtig und falsch ist, was Menschen sagen; und in der Sprache stimmen die Menschen überein. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform. (PU 241)

Der bereits attestierte praxeologische Fundamentalismus Wittgensteins wird unterstrichen, wenn er in PU 242 darüber hinaus die Übereinstimmung nicht in der Definition, sondern im Urteil, also dem Handeln, begründet sieht: „Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern […] eine Übereinstimmung in den Urteilen […]“ (PU 242). Dass der Wegfall eines gemeinsamen Handlungsspielraums auch den Bruch der Verständigung zwischen den Beteiligten einer Lebensform bedeuten würde, kann durch folgende Charakterisierung von Lebensform erklärt werden: „Die Klasse der Reaktionen, in denen wir übereinstimmen, und die Art ihrer Verflechtung mit unseren Handlungen bilden unsere Lebensform.“ (Kripke 1987: 121) Wie bereits teilweise geschehen, soll auf Grundlage der bisherigen Analyse Lebensform im Sinne Wittgensteins mit Kultur gleichgesetzt werden. Er selbst nimmt diese Übereinstimmung nicht wörtlich in den PU vor. In einem früheren Werk, dem Blue Book, lässt der Philosoph hingegen eindeutig erkennen, dass im Falle von Lebensform von Kultur gesprochen werden kann und dass das zudem im Plural möglich ist (vgl. Wittgenstein 1984: 202). Jedoch kann Wittgensteins zu

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Beginn eingeführtes fundamentales Anliegen, das er mit den PU bezweckte – das Erkennen und Herstellen von Ordnung – eng mit dem Herausbilden eines Kulturverständnisses verstanden werden. In PU 132 hält er fest, der Sprachgebrauch erzeuge eine Ordnung erzeugt. Wie dargestellt, können Sprache und damit auch Sprachspiele nur in einem sozialen Kontext existieren. Daraus ist zu schließen, dass Kultur die angestrebte Ordnung verkörpert: „Wir wollen in unserem Wissen vom Gebrauch der Sprache eine Ordnung herstellen: eine Ordnung zu einem bestimmten Zweck; eine von vielen möglichen Ordnungen, nicht die Ordnung […]“ (PU 132). Mit dieser Textstelle wird erneut deutlich, Wittgenstein geht nicht von einer allgemeinen Menschenkultur aus, sondern hebt die Diversität explizit hervor. Für ihn manifestiert sich die Kultur in der Sprache. Und deren unweigerliche Verbindung zum Handeln legt offen, Kulturen können nur über ritualisiertes Sozialverhalten entstehen. Da, wie Wittgenstein immer wieder betont, kein zentraler Maßstab für Sprache oder gemeinsame Merkmale von Sprachspielen und Lebensformen vorliegen, lehnt sein Kulturverständnis die Logik eines organischen Wachstums von Kultur ab. Die spezifische Leistung des Denkers liegt aus kulturphilosophischer Perspektive somit darin, den bedeutungsvollen Zusammenhang zwischen Sprache und Lebensform und damit Kultur belegt zu haben (vgl. Sedmak 1999: 173–174). Die angestellte Herleitung eines Kulturbegriffs bei Wittgensteins erzeugt einen deutlichen Rückbezug zum bereits angesprochenen anthropologischen Verständnis: Die Konstruktion eines Umgangskörpers, das damit verbundene Verständnis des eigenen Körpers, stellt eine kulturelle Voraussetzung dar, um Gebrauch von den sozialen Techniken machen zu können, die eine kulturelle Eingliederung erfordert. Die Gleichheit und Konformität, die das Einbettungsverhältnis zwischen Sprachspiel und Lebensform erfordert, werden durch Umgangssprache und Umgangskörper erzeugt (vgl. Gebauer 2009: 100). Aus diesem markanten Zusammenhang zwischen Anthropologie und Kulturphilosophie, den Wittgenstein zwar nicht wörtlich hervorhebt, der aber durch die Analyse aufgezeigt wurde, lassen sich zwei Bedeutungsebenen der Kultur ausmachen: Ihren generellen Charakter zeigt sie dadurch, dass sie es Menschen grundsätzlich ermöglicht, sich miteinander zu verbinden. Gleichzeitig beinhaltet Kultur ein Potenzial, trennend zu wirken, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der spezifischen Gruppenleistung verstanden wird (vgl. Mall 1999: 67). Stand bisher die Anthropologie und die Innenansicht von Lebensformen im Zentrum, so soll im Weiteren gezeigt werden, wie Lebensformen in ihrer Funktion als menschliche Bezugssysteme auch eine bedeutsame Außenwirkung haben: Sie ermöglichen es dem Einzelnen, andere Menschen wahrzunehmen und

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zu verstehen (vgl. Schulte 1999: 161). Inwiefern der Begriff der Familienähnlichkeit bei der Betrachtung des Verhältnisses verschiedener Kulturen zueinander eine zentrale Rolle spielt, muss anschließend geklärt werden.

2.3 Zerfranste Ränder, offene Grenzen: Netz der Familienähnlichkeiten Wie bereits aufgezeigt, verfolgt Wittgenstein nicht das Ziel, den Kern des Menschengeschlechts oder auch das gemeinsame Zentrum der menschlichen Sprache ausfindig zu machen. Vielmehr handelt es sich bei seinem Spätwerk um einen anti- beziehungsweise post-essentialistischen Ansatz (vgl. Wohlfahrt 2000: 84): Statt etwas anzugeben, was allem, was wir Sprache nennen, gemeinsam ist, sage ich, es ist diesen Erscheinungen gar nicht Eins gemeinsam, weswegen wir für alle das gleiche Wort verwenden, – sondern sie sind miteinander in vielen verschiedenen Weisen verwandt. Und dieser Verwandtschaft, oder dieser Verwandtschaften wegen nennen wir sie alle „Sprachen“. Ich will versuchen, dies zu erklären. (PU 65)

Der Versuch, den Begriff der Verwandtschaft deutlich zu machen, führt ihn zu dem Ergebnis, dass wir „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten [sehen], die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“ (PU 66). Das Bild des Fadens, aus dem das Netzt gewoben ist, besticht in dieser Erklärung. Dabei wird auch hier von einer zentralen Stütze, einem tragenden Stück abgesehen: „[D]ie Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß [sic] irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß [sic] viele Fasern einander übergreifen. […] [E]s läuft ein Etwas durch den ganzen Faden, – nämlich das lückenlose Übergreifen dieser Fasern.“ (PU 67) Ebenfalls in PU 67 führt Wittgenstein seinen zentralen Begriff der Familienähnlichkeit20 ein. Er spricht dabei von verschiedenen Gliedern einer Familie, die sich in ihren Ähnlichkeiten überschneiden. Der Denker zeigt im Verlauf der PU auf, „daß [sic] das Wort eine Familie von Bedeutungen [ist]“ (PU 77) und gleichzeitig stellt er sich die Sprache als eine Familie von Sprachspielen vor. Spinnt man diesen Gedanken weiter, kann in seinem Sinne gesagt werden, dass die Gesamtheit der Menschen eine Familie aus ähnlichen Menschen, beziehungsweise

20Siehe

dazu: PU 67.

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ethnischen Gruppen und Völkern ist. Das Werkzeug der Analogie wurde bereits angesprochen. Diese stellt eine Konstellation der Ähnlichkeit von Dingen her, die per se ungleich sind. Gerade im Kontext einer interkulturellen Philosophie nimmt dieser Gebrauch von Analogie die Funktion ein, ein Bewusstsein der Überlappung zu generieren, ein Bewusstsein abseits von totaler Identität und völliger Differenz. Mit dem Begriff der Familienähnlichkeiten geht es Wittgenstein darum, in diesem genannten Sinne ein Gleichbleiben der Struktur, eine starre Identität zu vermeiden (vgl. Mall 2000: 55). Durch die Analogien, die im Konkreten in Sprachfamilien oder Völkerfamilien beziehungsweise Kulturfamilien hergestellt werden, entsteht eine gewisse Entsprechung (vgl. Wohlfahrt 2000: 85): „Identität in der Differenz und Differenz in der Identität.“ (Ebd.: 85) Es zeigt sich, dass eine absolute Identität abgelehnt und vielmehr von einem horizontalen Verständnis von Analogie und Identität zu sprechen ist. Der anti-essentialistische Ansatz mit einer in der dezentral verwobenen Identität begründeten Negierung eines Obersprachspiels (Schneider 1999: 150), also einem übergeordneten Charakteristikum des Menschengeschlechts, schlägt sich ebenfalls in Wittgensteins Verständnis von Grenze nieder: „Man kann sagen, der Begriff ‚Spiel‘ ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern.“ (PU 71) Mit dieser Verschwommenheit betont er darüber hinaus die Vagheit der Regel. Er beschäftigt sich mit Phänomenen und nicht mit Dingen an sich. Die Bedeutung, die beispielsweise Kant dem Begriff des Phänomens zukommen lässt, wird von ihm darauf reduziert, dass jenes nur eine Erfahrung, beziehungsweise eine Wahrnehmung, ist, die praktisch stattfindet, aber keine allgemeine Grenzziehung in Bezug auf Sprachspiele zulässt (vgl. Sedmak 1994: 261/Moser 1984: 95). Versinnbildlicht wird diese fehlende Grenzziehung in seinem polyzentrischen Bild der alten Stadt zu Beginn der PU: Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und die umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. (PU 18)

Das Bild der alten Stadt, in Abgrenzung zu ihrem modernen Gegenstück, verkörpert eine gewisse Dynamik. Die Bewegung zwischen den Zeiten und zwischen den Baustilen wird optisch erkennbar und ist positiv konnotiert. Newton Garver stellt passend dazu fest, dass Wittgenstein der Unbestimmtheit eine Funktion zukommen lässt. So wie Sprachspiele als per se offen charakterisiert sind (vgl. Schneider 1999: 146), so haben Lebensformen eine unbestimmte Erscheinungsform (vgl. Garver 1999: 37). Wie bereits aufgeführt, stellt der Denker die

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Verwendung über die klare Definition, sodass der Kontext automatisch aufgewertet wird. Daraus erschließt sich, es werden keine klaren, scharfen Grenzen gedacht. Die Idee des Spiels findet bei Wittgenstein unter den Zwischengliedern von speziellen Formen statt. Und wie gezeigt, sind die Familienähnlichkeiten nötig, um Analogien in diesem Spiel herzustellen. Dabei ist entscheidend, dass durch den Fokus auf dem Kontext und durch die Analogien der Zwischenglieder Verbindungen der einzelnen Lebensformen untereinander bestehen können, aber gleichzeitig nicht müssen (vgl. Heinrich 1993: 119). Die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Sprachspiele und Lebensformen lassen den Schluss zu, dass es zwischen ihnen auch Unterschiede geben muss. Ram Adhar Mall identifiziert die Einordnung dieser Vielfalt im Spätwerk Wittgensteins treffend: Es geht weder um Einheit und Vielfalt noch um Einheit oder Vielfalt noch um sowohl Einheit als auch Vielfalt noch um weder Einheit noch Vielfalt, sondern um Einheit angesichts der Vielfalt. Der Gedanke von den ‚überlappenden Familienähnlichkeiten‘ ist diese Einheit angesichts der Vielfalt jenseits der beiden Fiktionen einer totalen Identität und einer radikalen Differenz. (Mall 2000: 68)

Trotz der deutlichen Vielfalt und der Unterschiede in den Lebensformen und damit zwischen den Kulturen behält das Spätwerk auch an dieser Stelle seine Dynamik. Ungeachtet der Divergenzen der Kulturen ermöglichen die offenen, „zerfaserten“ Ränder der Sprachspiele eine interkulturelle Begegnung. Die Sprachspiele befinden sich somit in andauernder Bewegung, angestoßen von den Zwischengliedern. Die Bewegung wird Teil des alltäglichen Gebrauchs und Verständnisses, weil sich die Kulturen nicht hermetisch gegeneinander abschotten. Für dieses Kennzeichen der interkulturellen Bewegung ist eine gewisse Sprachkompetenz nötig, die es ermöglicht, dass man Offenheit gegenüber fremden Regelsystemen zeigt und gleichzeitig seine sprachlichen Handlungsmöglichkeiten erweitert (vgl. Schneider 1999: 145–146). Die offenen Grenzen von Sprachspielen – „Wir haben nichts darüber vereinbart“ (PU 41) – deuten an, dass man von Nachbarschaft zwischen ihnen sprechen kann. Dabei ist die Veranlagung des Verhältnisses nach Wittgenstein so, dass die Begegnung von zwei Sprachspielen auf Weiterentwicklung ausgerichtet ist. Es besteht kein Zwang dazu, entscheidend ist jedoch vielmehr, dass kein tertium comparationis benötigt wird. Selbst wenn also Reibungen in diesem Begegnungsprozess auftreten sollten, gibt es, wie gezeigt, kein Obersprachspiel, keine übergeordnete Instanz, die einen Maßstab festlegt oder Regeln bestimmt, wie der Kontakt und in der Folge die Weiterentwicklung stattzufinden hat (vgl. Schneider 1999: 146–147). Diese Veranlagung

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und Ausrichtung hin zu einer Weiterentwicklung, wenn Sprachspiele und somit Kulturen aufeinandertreffen, muss an dieser Stelle als deutliches Kennzeichen des Wittgenstein’schen Denkens hervorgehoben werden. In dieser Logik ist gleichzeitig kein Vergleich der Kulturen möglich. Die Kontextgebundenheit der Sprachspiele und Lebensformen bezieht sich immer auf die „Umstände unsres gewöhnlichen Lebens“ (PU 156). Kulturen lassen sich nach Wittgenstein, wie aufgezeigt, nicht erklären, sondern nur in der Praxis erleben und erfahren. Da somit jede Kultur einer eigenen inneren Dynamik folgt und kein Ideal für Sprache oder Lebensform festgelegt werden soll, kann das Werkzeug des Vergleichs gleichermaßen nicht greifen (vgl. Sedmak 1999: 175). Auch wenn Wittgenstein an keiner Stelle explizit das Wort Konflikt benutzt, wenn es um die Begegnung von verschiedenen Lebensformen geht, so muss man doch zumindest davon ausgehen, dass es an gewissen Stellen zu Unklarheiten kommen muss, wenn zwei verschiedene Regelsysteme mit unterschiedlichen Spielregeln aufeinandertreffen: [E]s ist für diese Betrachtung wichtig, daß [sic] ein Mensch für einen anderen ein völliges Rätsel sein kann. Das erfährt man dann, wenn man in ein fremdes Land mit gänzlich fremden Traditionen kommt; und zwar auch dann, wenn man die Sprache des Landes beherrscht. Man versteht diesen Menschen nicht. […] Wir können uns in sie nicht finden. (PU 568)

Dieser Moment der Fremdheit kann abgefedert werden, wenn eine Kulturkompetenz vorliegt. Wenn also versucht wird, den Kontext der fremden Kultur nachzuvollziehen, ihn sich vorzustellen, ist es nötig, gegebene Regeln einzuhalten und regelfreie Zusammenhänge zu erkennen (vgl. Sedmak 1999: 178). Allgemein stellen die Übersetzungsschwierigkeiten die Barriere dar, die durch den Vorgang der Einbettung von Sprachspielen in Lebensformen auftreten können. Die Vielzahl von Lebensformen und Kulturen lässt wiederum eine Fülle von Möglichkeiten von einzubettenden Sprachen zu. Wenn durch das dynamische System der interkulturellen Begegnung eine Berührung, eine Überlappung von Kulturen entsteht, treten die genannten Übersetzungsschwierigkeiten auf. In diesem Fall wird der Austausch erschwert, weil beide Seiten nicht dieselben konventionellen Vorbedingungen haben und somit ihr Regelsystem nicht übereinstimmt. Es scheint mit dem Moment der Einbettung nur einen Punkt zu geben, an dem der Konflikt zwischen Kulturen auftreten kann, nämlich wenn „man die Lebensform in der Rolle sieht, wie sie Wittgenstein offenbar vorschwebte, nämlich in der Rolle eines die Sprache einbettenden sozialen Systems“ (Savigny 1999: 136). Die Mannigfaltigkeit von sozialen Kontexten und Sprachsystemen

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lässt auf die Vielfalt der möglichen Verständigungsprobleme schließen (vgl. ebd.: 132–136). Aus dieser Möglichkeit des Konflikts kann sich sowohl der Zustand der Exklusion als auch der der Fremdheit einstellen, die zu unterscheiden sind. Handelt es sich beim Aufeinandertreffen von Kulturen um eine Verweigerung des Zugangs zur jeweiligen Sozialgrammatik, also eine Verweigerung des Mandats, so spricht man von Exklusion. Sie entsteht in einem Diskurs um Macht und Gerechtigkeit und der Zurückweisung hinsichtlich der Teilhabe. Die Fremdheit geht im Gegensatz dazu aus dem Fakt des Nichtbeherrschens einer sprachlichen, grammatikalischen und sozialen Kompetenz hervor, denn „[d]ie gemeinsame menschliche Handlungsweise ist das Bezugssystem, mittels welches wir uns eine fremde Sprache deuten“ (PU 206). In der Praxis wird dies daran deutlich, dass die Regeln der fremden Kultur unbekannt sind, eine nachhaltige Unsicherheit im Umgang mit jenen besteht: Denken wir uns, die Leute in jenem Land verrichteten gewöhnliche menschliche Tätigkeiten und bedienen sich dabei, wie es scheint, einer artikulierten Sprache. Sieht man ihrem Treiben zu, so ist es verständlich, erscheint es ‚logisch‘. Versuchen wir aber, ihre Sprache zu lernen, so finden wir, daß [sic] es unmöglich ist. Es besteht nämlich bei ihnen kein regelmäßiger Zusammenhang des Gesprochenen, der Laute, mit den Handlungen. […] Zu dem, was wir ‚Sprache‘ nennen, fehlt die Regelmäßigkeit. (PU 207)

Die von Wittgenstein dargestellte Unsicherheit ist im Moment der Fremdheit eng mit einem Zustand der Orientierungslosigkeit verbunden (vgl. PU 508).21 Die Fremdheit bedeutet, dass es nicht möglich ist, zu unterscheiden, ob eine Handlung regelgerecht ist oder nicht, weil das zu überprüfende Kriterium nicht bekannt ist (vgl. PU 546). Es ist also neben der grundsätzlichen Akzeptanz und Einbindung von Seiten der anderen Kultur – ansonsten kann von Exklusion gesprochen werden – von Bedeutung, ob und wie viel des sozialen Kontextes und somit der Regelhaftigkeit der jeweiligen Kultur dem neu Hinzutretenden bekannt ist (vgl. Sedmak 1999: 178–181). Doch der Mangel an Orientierung, der die Fremdheit auslöst, unterliegt ebenfalls einem dynamischen Prozess, ähnlich der Begegnung der Sprachspiele:

21Vergleiche

PU 508: […] Ich bin nicht gewohnt, Temperaturen in Fahrenheit-Graden zu messen. Darum ‚sagt‘ mir eine solche Temperaturangabe nichts.

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Es gibt Gefühle der Wohlvertrautheit; […] Ebenso gibt es Gefühle der Fremdheit: Ich stutzte; sehe den Gegenstand, oder Menschen, prüfend oder mißstrauisch [sic] an; sage ‚Es ist mir alles fremd‘. – Aber weil es nun dies Gefühl der Fremdheit gibt, kann man nicht sagen: jeder Gegenstand, den wir gut kennen und der uns nicht fremd vorkommt, gebe uns ein Gefühl der Vertrautheit. – Wir meinen quasi, der Platz, den einmal das Gefühl der Fremdheit einnimmt, müsse doch irgendwie besetzt sein. Es ist ein Platz für diese Atmosphäre vorhanden, und nimmt ihn nicht die eine ein, dann eine andere. (PU 596)

Wie Wittgenstein am Ende von PU 596 andeutet, entsteht eine spezielle Atmosphäre, wenn zwei Kulturen mit verschiedenen Regelsystemen aufeinandertreffen und keine Vertrautheit über die Spielregeln besteht. Die beiden Kulturen stehen vor der Herausforderung, den ‚Platz‘ zu besetzten, der bis dahin noch mit einem Gefühl der Fremdheit behaftet ist. Somit evoziert mangelnde Vertrautheit mit fremden Regelsystemen keinen Stillstand. Es entsteht vielmehr ein neuer Raum, in dem sich neue Formen des Handelns und der Sprache bilden können und sie dadurch etwas Eigenständiges, etwas Neues erzeugen (vgl. Sedmak 1999: 182–183). Die attestierte Absicht, dass der Philosoph in seinem horizontalen Verständnis von Kultur eine dynamische Vorstellung vom Verhältnis zwischen den Kulturen hat, bestätigt sich im Umgang mit Fremdheit. Das Hervorbringen von neuen Sprachspielen ist durch die Ähnlichkeit ermöglicht und in dem Raum realisierbar, der entsteht, wenn Regelhaftigkeit aufgrund von fehlenden Kriterien nicht verstanden wird. Dieser positive Ausweg aus der Situation des ‚Konflikts‘ zwischen den Kulturen kann nur gelingen, wenn nicht versucht wird, die andere Kultur verstehen zu wollen. Dies würde nämlich eine Absolutheit voraussetzen, die kein Sprachspiel und keine Lebensform annimmt. Das vollkommene Durchdringen einer fremden Kultur ist demnach nicht möglich. Da Sprachspiel sowie Kultur nicht erklärt, sondern nur erlernt werden können und im interkulturellen Umgang Sprach- und Kulturkompetenzen gefordert sind, spiegelt sich im interkulturellen Austausch wie in Wittgensteins Anthropologie und seinem Kulturverständnis wider, dass der Fokus auf der Verwendung von Sprache und dem Handeln der Menschen liegt. Dabei wurde deutlich, wovon sich der Denker entschieden abwendet: Einheitliches Menschengeschlecht, exakte Definitionen, übergeordnete Ideale, beziehungsweise Obersprachspiele, absolute Identität sowie radikale Differenz. Zu klären bleibt, wie sich sein angedeuteter Kulturbegriff und sein Umgang mit kultureller Differenz der Idee Herders von Kultur und der Betonung des kulturellen Eigenwerts gegenüberstellen lassen. Doch vor dieser Gegenüberstellung muss die Aufmerksamkeit nochmals auf die Bedeutung des

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identifizierten Kulturbegriffs bei Wittgenstein für die Brasilien prägende Idee der mestiçagem gelenkt werden.

2.4  Mestiçagem im Sinne Wittgensteins Auch zwischen Freyre und Wittgenstein lässt sich ähnlich wie zwischen ihm und Herder eine Parallele hinsichtlich der selbstgewählten Positionierung innerhalb der eigenen Disziplin ausmachen. Wie gezeigt, vollzieht Wittgenstein mit den PU einen methodischen Bruch innerhalb der Philosophie. Dies erinnert stark an die Freyre’sche Neuausrichtung innerhalb der Anthropologie und Ethnologie mit der Hinwendung zur Kategorie Kultur. Darüber hinaus besteht zwischen beiden Autoren eine Nähe, da sie jeweils vermeiden, definitive Aussagen und Begriffe zu prägen. Wie bei Freyre bereits deutlich gemacht wurde und auch bei Wittgenstein auszumachen ist, werfen die Denker mehr Fragen auf, als sie letztendlich beantworten. Dabei ist ersichtlich, dass dies nicht rein argumentativer Schwäche geschuldet ist, sondern vielmehr einen Teil des jeweiligen Ansatzes bildet, um sich von stark vordefinierten Ideen abzugrenzen. Gerade bei Wittgenstein steht das Undefinierte im Fokus. Auch Freyre hebt, wie noch zu zeigen sein wird, den mestiço als Element zwischen den definierten Rändern hervor. Die von Wittgenstein betonte Bewegung und Dynamik, mit der Kultur in Verbindung gebracht wird, spiegelt sich in den Beschreibungen Freyres zum dynamischen Prozess der Mischung der Rassen und damit auch der Kulturen während der Kolonialisierungsphase wider. Der Vorstellung der rassischen Reinheit stellt Freyre die Hybridität der brasilianischen Gesellschaft entgegen. Diese formte sich Freyre zu Folge in einem Prozess, der das Gleichgewicht zwischen kulturellen, rassischen aber auch wirtschaftlichen, religiösen und regionalen Antagonismen herzustellen versucht. Dabei sei es nach seiner Ansicht der brasilianischen Gesellschaft immer wieder gelungen, durch Bewegungen eine charakteristische Verbrüderung herzustellen – „mobilidade social peculiares ao Brasil“ (Freyre 2006: 117). Die Wittgenstein’schen Elemente der Dynamik, aber auch die der Anpassungsfähigkeit, sind somit auch in Freyres Idee der mestiçagem als zentrale Voraussetzung auszumachen. Wenn Wittgenstein darüber hinaus von Sprachspiel und Lebensformen spricht, welche als Kulturbegriff zusammengefasst wurden, bekommt auch die Kontextgebundenheit eine entscheidende Rolle. In Anlehnung daran zeigt sich bei der Idee der mestiçagem, dass sie direkt mit dem Kontext der brasilianischen Kolonialisierungsgeschichte verknüpft ist und nicht davon losgelöst stehen und als allgemein gelten kann. Freyres zahlreiche Verweise darauf, dass die spezifische

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Kolonialisierung Brasiliens in direktem Zusammenhang mit den portugiesischen Eroberern stehe, entspricht dem. Dabei hebt er die außergewöhnliche hybride kulturelle Vergangenheit der Portugiesen und ihr Talent zur Mischfähigkeit und Beweglichkeit hervor. Hierin begründet sich nach Freyres Idee der mestiçagem der singuläre brasilianische Kontext, in dem sich die singuläre Kultur formen konnte. Darüber hinaus sind beide Beispiele von einem praxeologischen Ansatz her gedacht, der nicht die Reinformen betont, sondern die Zwischenglieder. Wittgensteins zentrale Elemente der Überlappung aber auch der Unbestimmtheit, welche eine tragende Funktion für die Zwischenglieder des Sprachspiels einnehmen, erzeugen Anknüpfungspunkte zu Freyres Verständnis der brasilianischen Kultur. Bei der Idee der mestiçagem wird dieses Zwischenglied von Kultur durch den mestiço zum Ausdruck gebracht. Ihm kommt, wie gezeigt, im binären System von weißen und nicht-weißen Rassen eine Sonderrolle zu. Auch sprachlich wird diese kulturelle Form des Dazwischens durch die Idee der mestiçagem zu einem festen Bestandteil, um soziale Realitäten auszudrücken. Wie festgestellt, wird der mestiço und damit ein Zwischenglied zum nationalen Symbol. Eine weitere Parallele zwischen den beiden Ansätzen lässt sich ausmachen, wenn man sich bewusst macht, dass Freyre gegen den Zeitgeist – vor allem also gegen die europäischen Rassentheorien, die vor allem eine biologisch determinierte Abwertung von Nicht-Weißen vornehmen – ankämpft. Es wurde deutlich gemacht, dass sich die Idee der mestiçagem von dieser biologischen Perspektive der Rassenmischung stückweit löst, sie eben unter Einfluss von kulturellen Werten betrachtet und damit weiterfasst. Auch Wittgenstein wendet sich gegen eine natürliche Determiniertheit. Der Körper ist für ihn dabei kulturell und nicht durch die Natur konstruiert. Mit dem Begriff des Umgangskörpers drückt er aus, dass man den eigenen Körper verstehen muss, um die sozialen Techniken nutzen und sich kulturell ausbilden zu können. Die Kultur erhält in beiden Fällen einen verbindenden Charakter, der sich von einer als abgrenzend empfundenen, natürlichen, beziehungsweise biologischen Determiniertheit abhebt. Mit dem Umgangskörper aber auch mit der Umgangssprache tritt bei Wittgenstein die Bedeutung der Alltagspraxis hervor. Es wurde deutlich, dass für ihn keine Urform, also kein Kern des menschlichen Lebens, existiert, der allgemein gültig ist. Erst der Gebrauch von Körper und Sprache ist es, was dem Leben Ordnung verleiht. Die Kultur als eine ordnende Komponente manifestiert sich dabei in der Sprache, welche aber wiederum von Verwendung lebt. Auch mit der Idee der mestiçagem hat sich gezeigt, dass für eine neue Perspektive auf Kultur die Mikroebene des Alltagslebens herangezogen wurde. Freyre ging bei der Erklärung der Idee nicht von einer festgeschriebenen brasilianischen Kultur aus,

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die zu präsentieren war. Vielmehr, so betont er, gelte, dass die singuläre Kultur ein Produkt der Mischung sei. Hierin lässt sich wiederum die Verwendung als grundlegendes Element ausmachen. Die Ordnungsfunktion, die Wittgenstein der Sprache und ihrer Verwendung zuweist, erweist sich als parallel zur Bedeutung des Portugiesischen im brasilianischen Kolonialisierungs- und Nationalisierungsprozess. Die Tatsache, dass die Kolonialherren die portugiesische Sprache von Beginn an als zentrales einheitsstiftendes Element einführten und auch durchsetzten, wies dem Gebrauch der Sprache eine Ordnungsfunktion zu. Wie sich im gegenwärtigen brasilianischen Portugiesisch zeigt, war die Verwendung der Sprache wiederum von Dynamik und Anpassungen geprägt. So lassen sich im brasilianischen Portugiesisch deutliche Einflüsse indigener und afrikanischer Sprachelemente ausmachen, wodurch es sich klar vom kontinentalen Portugiesisch abgrenzt. Zusammenfassend manifestiert sich bei beiden Autoren die Kultur im Sprachgebrauch, der Ordnung gibt, aber gleichzeitig keinen festen Regeln unterliegt, sondern offen für neue Einflüsse ist. Im nächsten Schritt soll die Aufmerksamkeit auf die Gegenüberstellung von Herder und Wittgenstein zurückgeführt werden, bevor davon ausgehend, die Frage nach Formen der Kulturkonzeption und deren Zusammenhang mit der Idee der mestiçagem näher betrachtet wird.

2.5 Zusammenfassung Der angestellte Versuch, bei den beiden Denkern Herder und Wittgenstein einen Kulturbegriff zu identifizieren, kann als weiteres Element in der Gesamtsystematik auf der Suche nach Ordnung in der natürlichen Unbestimmtheit von Kultur gewertet werden. Dabei wurde offensichtlich: Beide Denker geben keine explizite, wörtliche Definition von Kultur – im Gegenteil – sie betonen dieses Zurückhalten einer Definition sogar besonders. Es hat sich gezeigt, dass Herder in seinen Ideen unter Kultur implizit die Erziehung des Menschen, des Individuums und gleichzeitig die Erziehung des gesamten Menschengeschlechts durch ein soziales Umfeld versteht. Kultur ist also für ihn ein wertfreier Begriff, der die gesamten politischen, sozialen und künstlerischen Lebensumstände mit einbezieht. Auf der anderen Seite spricht Wittgenstein in den PU davon, dass, sich eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorzustellen. In der Analyse wird klar, Sprache ist immer in eine Lebensform eingebettet. Dieses Einbettungsverhältnis bedeutet für Wittgenstein

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Kultur. Sowohl Sprache als auch Lebensform stellen ein Regelsystem dar. Dabei ist von Bedeutung, dass das sich das Regelsystem der Sprache in ein soziales Regelsystem einbettet, in eben die Lebensform. Mit der Gegenüberstellung Herders und Wittgensteins im Hinblick auf einen nicht explizit dargelegten, aber doch zu identifizierenden Kulturbegriff lässt sich eine markante Differenz zwischen den beiden Ansätzen ausmachen. Ausdrucksstark wird der Unterschied beider Kulturbegriffe bei der bildhaften Darstellung in Form von Kugel und Netz. Wittgenstein arbeitet mit dem Bild des Netzes, wenn es um Lebensformen also Kulturen geht: Kultur ist damit ein Netz an Ähnlichkeiten von Sprachspielen in einer Lebensform, die jeweils keinen Mittelpunkt besitzen und an ihren Grenzen offen sind. Herder hingegen bringt bei seiner Beschreibung, was Kultur ausmacht, an vielen Stellen seines Werkes das Bild der Kugel ins Spiel, die erneut auf die Humanität als Ideal verweist – sie als Mittelpunkt der Erziehung und damit der Kultur charakterisiert. Der Rückbezug zum kulturellen Eigenwert und somit zu einem persönlichen, intersubjektiven, aber auch gesellschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt ist essentieller Bestandteil seiner Theorie. Diese Abweichung der beiden unscharfen Kulturbegriffe, mit der bildhaften Vorstellung eines kugel- und netzförmigen Aufbaus, legt den Fokus darauf, das Zentrum einer Kultur zu betrachten. Diese Unterscheidung nach innen wurde in der Analyse bewusst angestellt. Denn der im Fortlauf beleuchtete den Rand von Kulturen, also die Peripherie, genauer. Auch beim Aufdecken von Parallelen und Divergenzen im äußeren Verhältnis von Kulturen, kann der Ansatz des jeweiligen Autors nicht ohne die nach innen gerichtete Perspektive auf Kultur gedacht werden. Die Interdependenz von innerer Konzeption – in diesem Fall Bewertung der Bedeutung des Zentrums für den Kulturbegriff – und dem Umgang des jeweiligen Kulturverständnisses mit Differenz nach außen ist von erheblicher Bedeutung. Bevor die Perspektive des Vergleichs auf das Verständnis von Kultur an ihren Rändern schwenkt, sollen in diesem Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie die Verbindungs- und Trennungslinien der Herder’schen und Wittgenstein’schen Methodologie beleuchtet werden. Eine Gemeinsamkeit besteht in ihrem methodologischen Ansatz der Analogien und Ähnlichkeitsrelationen: Herder mit seiner Lebensalteranalogie und Wittgenstein mit den Familienähnlichkeiten zwischen Sprachspielen und Lebensformen. Jedoch ist die unterschiedliche Stoßrichtung der beiden Ansätze entscheidend. Während Wittgenstein Analogien horizontal denkt und absolute Identität ablehnt, geht Herder von einer organischen Entwicklung von Kultur aus, die sich nicht nur auf die Bildung des Geistes des

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3  Kugel vs. Netz: Zwei philosophische Kulturbegriffe

Individuums, sondern auch auf die Entwicklung des Volksgeistes auswirkt.22 Auch wenn er sich explizit gegen die Vorstellung eines Endzwecks und eines teleologischen Aufklärungsdenkens richtet, so liegt ihm im Vergleich doch ein anderes Kulturverständnis zugrunde, das auf einen Mittelpunkt in der Kultur abzielt. Für Wittgenstein gilt jedoch: „Identität in der Differenz und Differenz in der Identität.“ (Wohlfahrt 2000: 85) Herder spricht sich darüber hinaus gegen die Vergleichbarkeit von Kulturen aus. Ein Grund ist, dass die Glückseligkeit von Individuen und Völkern kulturell gebunden ist. Er lehnt also die Vorstellung einer konstanten Menschennatur als allgemein gültigen Maßstab ab. Das vertikale Kennzeichen bleibt jedoch durch die organischen Gesetzmäßigkeiten und das Humanitätsideal gegeben. Auch Wittgensteins Analogiebildung macht keinen Vergleich der Kulturen möglich. Die Kontextgebundenheit der Sprachspiele und Lebensformen bezieht sich immer auf die „Umstände unsres gewöhnlichen Lebens“ (PU 56). Kulturen lassen sich nach Wittgenstein nicht erklären, sondern nur in der Praxis erleben und erfahren. Da somit jede Kultur einer eigenen inneren Dynamik folgt und kein Ideal für Sprache oder Lebensform festgelegt werden soll, kann auch das Werkzeug des Vergleichs nicht greifen. Mit dem Blick auf den Umgang der beiden Ansätze mit kultureller Differenz gerichtet, werden ausgehend von den Divergenzen in der Methode abermals entscheidende Unterschiede deutlich: Die Unvergleichbarkeit der Kulturen federt Herder durch das Ideal der Humanität ab. Er erreicht damit, dass alle Kulturen gleichberechtigt in ihrer pluralen Form nebeneinander existieren können, da sie das gleiche Ziel anstreben. Zudem wird dadurch der Weg für die Verständigung zwischen den Kulturen geebnet. Der Vorwurf, der Denker sei ein reiner Kulturrelativist, wurde bereits entkräftet. Jedoch besteht durch das starke Betonen und Hervorheben des menschlichen und damit auch kulturellen Eigenwertes die charakteristische philosophische Antinomie in seinem Werk. Die einzelnen Kulturen stehen in Gestalt eines kulturellen Synkretismus in Kontakt zueinander. Wie festgestellt, ist es entscheidend, dass Herder keine Möglichkeit der Ver-

22Für

Herder ist das Volk neben dem Individuum der entscheidende Träger von Kultur. Das steht in direktem Zusammenhang mit seinem Nationenverständnis: Eine Nation konstituiert sich nicht auf der Grundlage eines Vertrages, sondern ist ein historisch, aber vor allem kulturell gewachsenes Konstrukt. Dadurch wird in einer erweiterten Perspektive nachvollziehbar, dass Herder die Pluralität von Kulturen als historisches Gesetz erachtet, da durch diese Selbstkonstruktion der Kulturen und auch Nationen mit ihren unterschiedlichen Mittelpunkten die Vielfalt hervorgebracht wird.

2  Ludwig Wittgenstein: Das Netz aus Ähnlichkeiten

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mischung von Kulturen aufzeigt. Das Spezifikum seiner Kulturtheorie kennzeichnet sich vielmehr dadurch aus, den zwar positiven Einfluss der Kulturen aufeinander anzuerkennen, jedoch dabei die Grundkonstante zu erhalten, dass die Selbstbestimmung der Eigenkultur immer im Zentrum steht. Wie durch Textbelege hervorgehoben, akzentuiert der Philosoph nochmals die Bindungskraft der Kultur, wenn er die Form des Kosmopolitismus in die Kritik nimmt, da sie das schlimmste Ausmaß an fehlendem Rückbezug zu den kulturellen Wurzeln verkörpert. Beide Denker gehen also von einer Mannigfaltigkeit der kulturellen Formen aus. Wittgenstein hat jedoch im Vergleich zu Herder ein entgegengesetztes Ziel vor Augen: Er möchte ein Bewusstsein der Überlappung generieren, ein Bewusstsein abseits von totaler Identität und völliger Differenz. Mit dem Begriff der Familienähnlichkeiten geht es ihm darum, in diesem genannten Sinne ein Gleichbleiben der Struktur, eine starre Identität, zu vermeiden. Er verfolgt einen anti-essentialistischen Ansatz, der diese Überlappung ermöglichen soll. Herder hingegen setzt sich die Ent-Idealisierung des europäischen Aufklärungsdenkens und das ideologische Abwenden vom Eurozentrismus zum Ziel. Jenes soll dadurch erreicht werden, dass trotz Anerkennung der Vielfältigkeit ein individueller, selbstkonstruierter, organisch gewachsener Mittelpunkt von jeder Kultur Gleichwertigkeit erfährt. An dieser Stelle wird der Schwerpunkt, den beide Denker legen, nochmals deutlich: Ist es für Herder die innere Konstanz und Bindungskraft, die das Verhältnis der Kulturen nach außen reguliert, so stellt für Wittgenstein die Offenheit am Rande, an der Peripherie, die Zielsetzung dar, an der sich auch die Selbstkonstruktion des Individuums im Inneren orientiert – der deutliche Praxisbezug Wittgensteins fällt ebenfalls damit zusammen. So kann festgehalten werden, die Denker stehen sich bei der Gegenüberstellung mit den Leitmotiven des inneren Rückbezugs und der äußeren Möglichkeit der Neugestaltung entgegen, jedoch sind beide Verfechter einer kulturellen Vielfalt. In Bezug auf die Wahrnehmung von Fremdheit und möglicher Assimilation lassen sich darüber hinaus bei beiden verschiedene Konzepte erkennen. Herder warnt eindringlich vor den schwerwiegenden Folgen, die mit einer Verpflanzung verbunden sind. Die Skepsis ergibt sich aus der Gefahr der Entwurzelung. Trotz einer generellen Anpassungsfähigkeit des Menschen bleibt bei ihm die Kritik bezüglich Akkulturationsprozessen gleichzeitig erhalten. Dass Kulturen aufeinanderstoßen, sieht er als Tatsache an. Er folgert, eine totale Abschottung einzelner Kulturen könne es nicht geben, sondern es müsse vielmehr ein friedlicher Völkerkontakt versucht werden. Die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit der Sprachspiele und Lebensformen lassen auch bei Wittgenstein den Schluss zu, dass es eine Form der interkulturellen Begegnung geben müsse. Die Sprachspiele befinden sich in

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andauernder Bewegung, angestoßen von ihren Zwischengliedern. Die Bewegung wird Teil des alltäglichen Gebrauchs und Verständnisses, weil sich die Kulturen nicht hermetisch gegeneinander abschotten. Wittgenstein spricht hierbei gerne von Nachbarschaft zwischen ihnen. Dabei ist die Veranlagung des Verhältnisses nach Wittgenstein so, dass die Begegnung von zwei Sprachspielen auf Weiterentwicklung ausgerichtet ist. Im Hinblick auf die Bedeutung der Spielregeln, die nach Wittgenstein verstanden werden müssen, um Teil einer Kultur sein zu können, evoziert mangelnde Vertrautheit mit fremden Regelsystemen explizit keinen Stillstand. Es entsteht vielmehr ein neuer Raum, in dem sich neue Formen des Handelns und der Sprache bilden können und etwas Eigenständiges, etwas Neues erzeugen. Hier wird erneut der horizontale, offene Ansatz deutlich, der sich an der Peripherie der Kultur manifestiert. Wie bereits angesprochen, schlagen sich die zwei unterschiedlichen Kulturbegriffe und ihre jeweils zentral beziehungsweise peripher ausgerichtete Stoßrichtung in den beiden bildhaften Vorstellungen von Kultur als Kugel und als Netz nieder. Zusammenfassend wird deutlich, dass beide Denker von einer Vielfältigkeit der Kulturen und einem interkulturellen Aufeinandertreffen ausgehen. Auch der Begriff der Weiterentwicklung zeigt sich bei beiden als etwas Zentrales. Jedoch ist bei Herder die einzelne Kultur angehalten, sich hinsichtlich des Humanitätsideals weiterzuentwickeln und ihrem kulturellen Eigenwerten treu zu bleiben, weil sonst Entwurzlung droht. Wittgenstein sieht die Weiterentwicklung gerade am Rand der Kultur angesiedelt, wo durch die Bewegung der Sprachspiele mit dem Fremden Neues erzeugt wird und sich das Netz weiter ausbreitet. Für beide Kulturbegriffe hat der Rand der Kultur eine entscheidende Funktion. In beiden Fällen nicht im negativen, abschottenden Sinne, jedoch bei Herder erkennbar mehr abgrenzend und auf den kulturellen Mittelpunkt verweisend als bei Wittgenstein – der die offenen Grenzen als etwas Sinnstiftendes wahrnimmt. Wenn man also die Kulturkonzepte der Denker mit zwei Antonymen kennzeichnen müsste, sollte die Wahl auf folgende Begrifflichkeiten fallen: Zuordnung im Gegensatz zu Verwendung.

3 Universalismus als gemeinsamer Gegner? 3.1 Abgrenzung von Universalismus und Relativismus Bisher zeigt die Untersuchung der Ansätze Herders und Wittgensteins hinsichtlich eines Kulturkonzepts, dass sich, auch aus dem unterschiedlichen zeitlichen Kontext heraus, grundsätzlich andere Stoßrichtungen ergeben. Zwar bildet die

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Frage nach einer kulturellen Ordnung denselben Ausgangspunkt für beide, jedoch trennt sich der theoretische Ansatz der zwei Philosophen an dem Punkt, an dem es um den Umgang mit dem kulturell Anderen geht. Jedoch steht darüber hinaus die These im Raum, als Gegner eines universalistischen Denkens seien beide zu sehen. Kann also dieser gemeinsame Gegenpol dazu dienen, herauszufiltern, inwiefern sich aus einer Universalismuskritik mit verschiedenem Verständnis von kultureller Differenz die modernen Kulturkonzeptionen des Multi- und Transkulturalismus entwickeln konnten? Dazu ist es nötig, den Begriff des Universalismus näher zu bestimmen. Der Widerstreit von Universalismus und Relativismus ist ein genuin politiktheoretischer Diskurs. Dabei steht die zur Debatte, wie aus einem eigenen Verständnis heraus ein anderes Konstrukt von Kultur verstanden werden kann. Die Philosophin Seyla Benhabib entwickelt ihren Universalismusbegriff, indem sie davon ausgeht, dass jedes menschliche Wesen ein grundlegendes moralisches Recht besitzt „Das Recht, Rechte zu haben.“ (Benhabib 2007: 503)23 Benhabib identifiziert verschiedene Formen des Begriffes. Der essentialistische Universalismus ist für sie auf eine These heruntergebrochen folgendermaßen zu verstehen: „Als Universalismus kann man die Überzeugung bezeichnen, dass es eine grundlegende menschliche Natur oder ein Wesen des Menschen gibt, durch die wir als Menschen bestimmt sind.“ (Ebd.: 505) Besonders im 18. Jahrhundert kristallisiert sich die Konfrontationslinie zwischen der Mehrheit der Philosophen, die von einer unveränderlichen und vorherzusehenden Natur des Menschen ausgeht – Beispiele dafür sind Thomas Hobbes, David Hume oder auch Adam Smith – und dem Lager um Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant heraus. Lange Zeit war Universalismus quasi automatisch mit Essentialismus gleichgesetzt (vgl. ebd.: 505). Den Menschen steht also durch ihre grundsätzliche Gleichheit die Möglichkeit zu, sowohl aufgrund derselben kognitiven Fähigkeiten als

23Die

Formulierung das Recht, Rechte zu haben [the right to have rights] wurde von Hannah Arendt in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Frankfurt/M. 1955, 614) eingeführt. Sie sieht in den Menschenrechten einen Universalismus verkörpert, der bedrohlich wirkt und in Widerspruch zu staatlicher Souveränität tritt (vgl. Herb 2014: 32). Auch Hegel beginnt seine Philosophie des Rechts mit dem Recht der „Persönlichkeit“, unter dem er das Recht des Individuums versteht, als ein rechtsfähiges Wesen zu gelten. Wie Arendt sieht Hegel diesen Status als das Ergebnis politischer, kultureller und sozialer Entwicklungen und Kämpfe innerhalb der Weltgemeinschaft, zugleich aber als die einzige mit dem modernen Begriff der Freiheit zu vereinbarende Position (vgl. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke in 20 Bänden, Bd. 7, hrsg E. Moldenhauer, Frankfurt a. M. 1970, 92–94).

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auch durch ein universales Vermögen – auch die menschliche Vernunft genannt – ihr menschliches Wesen selbst, wie auch die dadurch erforderlichen Normen zu erkennen (vgl. Zapf 2016: 91). Diese Zweistufigkeit des Universalismus mit seinen kognitiven und normativen Elementen spiegelt sich auch in Benhabibs Auffassung wider: [Dass] es einen normativen Gehalt der menschlichen Vernunft gibt, das heißt, dass es gültige Verfahren der Untersuchung, des Beweises, des Fragens gibt, die seit der Aufklärung zum kognitiven Erbe der westlichen Philosophie gehören. Minimalbestandteile dieses normativen Gehalts der Vernunft sind Unparteilichkeit, intersubjektive Verifikation von Ergebnissen, Argumenten und Daten, Konsistenz von Überzeugungen und Selbst-Reflexivität. (Benhabib 2007: 506)

Seyla Benhabib gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass die Trennung zwischen moralischem und kognitivem Universalismus zwar zu treffen, aber grundsätzlich jedem Menschen moralischer Respekt zuzuerkennen ist. Die Entscheidung, inwiefern dem noch ein kognitiver Universalismus zugrunde liegen muss, ist eine rein philosophische Diskussion im Widerstreit von Essentialismus und Begründungsuniversalismus (vgl. ebd.: 506). Für die politikwissenschaftliche Perspektive dieser Arbeit haben die universalistischen Theorien eine entscheidende Bedeutung. Die universellen Normen wiegen politisch schwer und sind ein gesellschaftliches Machtinstrumentarium, da sie Kennzeichen für moralisch gebotene, politische und soziale Verhältnisse hervorbringen. Der Rückbezug auf diese Kriterien kann benutzt werden, um aus moralischem Gebot politische Notwendigkeiten abzuleiten (vgl. ebd.: 92). Ab dem 20. Jahrhundert beschäftigten sich Denker wie Jürgen Habermas und John Rawls mit der Frage, wie eine Selbstbeschränkung des Universalismus denkbar wäre. Dabei ergaben sich die beiden Möglichkeiten, von einer moralischen Terminologie auszugehen oder den Universalismus im Sinne einer gruppenspezifischen Ethik zu verstehen. Der Bereich der ethischen Norm bezieht sich dabei auf spezifische Kulturen. Die Selbstbeschränkung des Universalismus auf den rein moralischen Bereich, ohne Blick auf spezifische Kulturen, birgt das Potential, nochmals die grundsätzliche Vorstellung eines gemeinsamen Wesens der Menschheit zu festigen, da dieser nicht in die kulturell bedingt unterschiedlichen Lebenswelten eingreift (vgl. Zapf 2016: 93). Susan Wright identifiziert jedoch, ausgehend von diesem Universalismusverständnis, ein Paradox der modernen Gesellschaftsrealität: Die Norm der Anerkennung kultureller Differenz wird von einzelnen Kulturen oder auch Minderheiten als eine universelle Norm postuliert. Dadurch entsteht die Möglichkeit, dass partikulare Normen auf dieser

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Grundlage erzwungen, beziehungsweise eingeklagt, werden können, da sie sich auf eine universelle Anerkennung von Partikularismus berufen (vgl. Wright: 1998: 14). Auch Raimon Panikkar unterstellt den Universalismustheorien ein grundlegendes Problem: „The problem is that we tend to identify the limits of our own vision with the human horizon.“ (Panikkar 1982: 87) Er beschäftigt sich, wie auch die vorliegende Arbeit, mit der Frage nach Konzeptionen von Kultur und ihrem Verhältnis zueinander. Für ihn ist klar, es kann kein universelles Konzept – in der Ableitung auch keine universelles Konzept von Kultur – geben, weil jedes nur an seinem Entstehungsort Wirkung entfaltet und keine Ausdehnung vorgesehen ist.24 Wenn also doch universale Konzepte installiert werden sollen, kann dies nur dadurch geschehen, dass andere bestehende eliminiert werden oder das auserwählte Konzept zum zentralen Referenzpunkt erhoben wird, was beides einen willkürlichen und auch gewalttätigen Zug aufweist (vgl. ebd.: 84). Mit Wilhelm Lütterfelds Worten werden die Widersprüchlichkeiten des Universalismus nochmals auf den Punkt gebracht: [E]s sind vor allem drei Einsichten, die unsere moralischen Universalisierungsansprüche permanent einschränken. Zum einen die kulturelle Pluralismuserfahrung und das Wissen um die geschichtliche Kontingenz der moralischen Überzeugungen; zum anderen die begrifflich erforderliche Trennung zwischen der bloß subjektiven Überzeugung von universaler Gültigkeit und der faktisch objektiven Geltung. Und nicht zuletzt die Einsicht, daß [sic] wir in allen Universalisierungsansprüchen die eigenzentrische Perspektive als Verständigungs- und Beurteilungshintergrund nicht ausblenden können. (Lütterfelds 1997: 180–181)

Gemäß dem Motto, Wer A sagt, muss auch B sagen, kommt keine Kritik am Universalismus ohne einen Verweis auf den Relativismus als dessen Gegenmodell aus. Letzterer lebt von der Abgrenzung zum ersten. Für den Relativismus ist der jeweilige soziale Kontext ausschlaggebend, wodurch Kulturrelativisten Werte und Normvorstellungen nur aus der jeweiligen Kultur heraus formulieren und keine übergeordneten Kategorien akzeptieren. Dem Universalismus wird vorgeworfen, dass er unter dem Deckelmantel universaler Normen doch nur einen westlichen

24Ausgangspunkt

ist genau wie bei Benhabib die Untersuchung der Legitimationsgrundlage der Menschenrechte beziehungsweise die Überlegung, inwiefern die Menschenrechte einen universalen Wert darstellen.

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chauvinistischen Ethnozentrismus etablieren möchte (vgl. Zapf 2016: 94–95). Aus postkolonialer Sicht25 hat die Anwendung von universalistischen Theorien in der Praxis die politische Auswirkung, dass universelle Normen Kulturen zunächst zerstören, um sie dann neu zu bestimmen und zu unterwerfen (vgl. Dallmayr 1996: 208–209). Gleichzeitig ist der Relativismus nicht frei von Kritik, wenn es um seine Umsetzung in die politische Praxis geht, die ihn zur Legitimierung von Herrschaft instrumentalisiert. Kultur wird nicht mehr als unabhängiges Phänomen betrachtet, sondern instrumentalisiert, um einen Herrschaftsanspruch abzuleiten (vgl. Pollis 1996: 320).26 Wenn also im Relativismus die partikulare Kultur als Referenzrahmen von Normensystemen Geltung erlangen soll, bleiben mehrere Fragen offen: Was genau wird als Kultur definiert? Wie geht man mit Kulturen um, die im historischen Rückblick nur durch politischen Machteinfluss entstanden sind? Sind diese anders zu gewichten als ‚selbstgewachsene‘, indigene Kulturen? Wie soll mit hybriden Formen verfahren werden (vgl. Wright 1998: 13/ Eriksen 2001: 137)? Der Relativismus gibt darauf keine Antworten. Bevor der Blick auf die beiden Philosophen Herder und Wittgenstein fällt, um deren Universalismuskritik genauer zu betrachten und, um zu untersuchen, inwiefern ihre Überlegungen als Basis der modernen Kulturkonzeptionen von Multi- und Transkulturalismus gelten können, soll an dieser Stelle ein Gedanke von Raimon Panikkar zum Verhältnis von Individuum und Gesamtkultur hervorgehoben werden: An individual is an isolated knot; a person the entire fabric around that knot, woven from the total fabric of the real. The limits to a person are not fixed, they depend utterly on his or her personality. Certainly without the knots the net would collapse; but without the net, the knots would not even exist. (Panikkar 1982: 90)

25Vergleiche zur Strömung des Postkolonialismus vor allem: Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 2008. 26Panikkar sieht diese Gefahr auch im Fall der globalen Implementierung der Menschenrechte und zeichnet treffend ein Bild des Trojanischen Pferdes: [T]o proclaim the undoubtedly positive concept of Human Rights may turn out to be a Trojan horse, surreptitiously introduced into other civilizations which will then all but be obliged to accept those ways of living, thinking and feeling for which Human Rights is the proper solution in case of conflict. It is little like the way technology is often introduced in many parts of the world: it is imported to solve the problem that it has itself created. (Panikkar 1982: 90).

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3.2 Herder als Universalist, der er nie sein wollte? Wie bereits im Punkt Philosophische Antinomie: Universalismus vs. kultureller Eigenwert dieser Arbeit aufgeführt und diskutiert, gibt es verschiedene Deutungen Herders, die ihn sowohl als Universalisten als auch als Kulturrelativisten verstehen, beziehungsweise ihn als Vorreiter eines pluralistischen Kulturverständnisses identifizieren. Zu dieser Sichtweise soll jedoch der vergleichende Aspekt hinzutreten und herausarbeiten, inwiefern der Universalismus als zentraler Gegner eingestuft werden kann und inwieweit sich dies mit der Philosophie Wittgensteins in Einklang bringen lässt oder sich dazu gegensätzlich verhält. Wie bereits aufgezeigt, ist es das Charakteristikum Herders, dass er versucht, die Einheit einer kulturellen Gruppe, einer Nation angesichts der von der Natur gegebenen Vielfalt beziehungsweise ihrer Mannigfaltigkeit zu finden. Jedoch vollführt der Denker dabei einen Drahtseilakt zwischen den zwei perspektivischen Polen des Universalismus und des Relativismus. Der Widerspruch der beiden theoretischen Zugänge ist ein der Aufklärung immanentes Problem, das er versucht auszubalancieren, aber letztendlich nicht lösen kann (vgl. Fischer 1995: 219). Michael Morton nennt die Opposition von Universalismus und Partikularismus im Sinne Herders das „master problem of his entire career“ (Morton 1989: 20). Jedoch ist Herder versucht, kulturelle Vielfalt in ein aufklärerisch-humanistisches Denken seiner Zeit zu integrieren, ohne dabei auf den von ihm stark kritisierten Universalismus in Form von Eurozentrismus, kolonialer beziehungsweise imperialer Machtdemonstration und politisch konstruierter Geschichtsphilosophie zurückzugreifen (vgl. Kramer 2004/Fischer 1995: 221). Der deutliche Angriff auf das Aufklärungsdenken wird durch den Philosophen somit von innen heraus deklariert und richtet sich gegen die eigenen zeitgenössischen Ideale (vgl. Beiser 1992: 204). Dass er zwar den universalistischen Anspruch der Aufklärung ablehnt, jedoch selbst eigene universale Elemente benutzt, wurde bereits aufgezeigt und wird von Bernd Fischer treffend formuliert: Will Herder die partikulare nationale Kultur vor dem universalen Anspruch einer aufgeklärten Weltkultur bewahren, so hat er seinerseits wenig Hemmungen, die partikularen regionalen und schichtenspezifischen Kulturen dem universalen und normativen Anspruch einer neuen Nationalkultur zu opfern. (Fischer 1995: 218)

Hinsichtlich der Frage, ob der Universalismus für Herder der entscheidende Gegner ist, muss argumentiert werden, dass er von einem genuinen Relativismus

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ausgeht, der das Partikulare hervorhebt. Auch wenn dies die Basis seines geschichtsphilosophischen Denkens ausmacht, wird seine relativistische Tendenz eingegrenzt und die Gefahr des anything goes durch ein entscheidendes Element überwunden: Das Humanitätsideal. Wie bereits in dieser Arbeit angemerkt, wird er durch den Begriff der Humanität teilweise zum Universalisten, der er nicht beabsichtigt hat zu sein. Jedoch selbst wenn die Humanität als universales Element in Herders Philosophie klassifiziert wird und diese es ihm ermöglicht, Kulturen und Nationen an einem gewissen Maßstab zu messen, so muss deutlich werden, dass sie neben den relativistischen Elementen existiert. Zwar verkörpert die Humanität ein Ideal, jedoch kann jenes wiederum von den einzelnen Kulturen und Nationen auf ihre spezifische Art und Weise erreicht werden. Die Verwirklichung von Humanität ist somit eine kulturelle Leistung und erzeugt ihren Wert durch die spezifische Umsetzung (vgl. ebd.: 224–225). Damit bleibt klar, Herder bemüht sich, moralische Standards, die vom geschichtlichen und kulturellen Kontext losgelöst sind, abzulehnen und die Idee der Vielfalt zu erweitern. Davon ausgehend nimmt der Universalismus bei ihm die Funktion eines abschreckenden Beispiels ein, an dem die eigene Theorie immer wieder gemessen wird, jedoch ist terminologisch von der Feindschaft als verschärfte Form der Gegnerschaft abzusehen, weil er sich doch zur Kontrolle des relativistischen Ansatzes auf universale Elemente bezieht. Das Einbauen dieser Elemente in Form eines Instrumentariums zur Regulierung des genuin relativistischen Ansatzes erzeugt bei Herder einen dynamischen Kulturbegriff, der jedoch als zentrale Frage weiterhin die Bindungskraft einer kulturellen Gemeinschaft und einer Nation im Blick behält. Dadurch befindet sich Herder mitten im modernen Multikulturalismusdiskurs, der im Spannungsfeld von globalen Tendenzen und der Aufwertung regionaler Kräfte stattfindet.

3.3 Wittgenstein als hoffnungsloser Relativist? Die Beschreibung Wittgensteins als Denker, der sich zwischen jeglichen Förmlichkeiten bewegt, lässt sich aus der bisherigen Analyse ablesen. Eine konkrete Positionierung im Streit zwischen Universalismus und Relativismus ist in seinem Falle nicht auszumachen und mit Sicherheit auch nicht erwünscht (vgl. Kertscher 2009: 89). Auch wenn er selbst versucht, der Kontroverse zwischen den beiden Ansätze zu entfliehen, so lässt sich beim Blick auf sein Gesamtwerk doch eine Tendenz erkennen: Mit dem TLC aus dem Jahre 1921 argumentiert Wittgenstein deutlich in einer universalistischen Tradition, wenn man sich auf seine Theorien zur natürlichen Sprache bezieht (vgl. Bierwisch 2008: 37). Im Frühwerk

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ist sein Schreiben durch eine „geradezu verzweifelte Wahrheits- und Klarheitssuche“ (Somavilla 2014: 49) gekennzeichnet. Die Metaphorik wird bestimmt vom Gegensatz zwischen Dunkelheit und Licht, wobei das Letztere mit Klarheit, Wahrheit und Erhellung verbunden wird. Die ethisch-religiöse Anschauung, dass es eine transzendentale Annäherung an das Licht der Erkenntnis gäbe, bringt er in dem Brief-Fragment Der Mensch in der roten Glasglocke aus dem Jahr 1925 zum Ausdruck (vgl. ebd.: 66–67). Das Fragment kann als „Stück ziemlich naiver Metaphysik“ (Brusotti 2014: 24) eingeordnet werden und geht sogar noch einen Schritt hinter den TLC zurück (vgl. ebd.: 26), der im Gegensatz dazu von der Idee getragen ist, die menschliche Welt sei alles, was auch logisch der Fall sein könnte. Mit dem Betonen einer metaphysischen Realität in diesem Fragment von 1925 ist eine anfängliche universale Ausrichtung Wittgensteins nicht zu leugnen, jedoch vollzieht er einen fundamentalen Wandel bereits mit dem TLC. Später in den PU, die 1953 erstmals veröffentlicht wurden, wird sein Konzept der Sprachspiele eher von einer relativistischen Position getragen (vgl. Bierwisch 2008: 37), die sich in zwei Aspekten seines Ansatzes zeigt, in der Hinwendung zum Individuum und der Akzeptanz einer Notwendigkeit von Pluralität und Widerspruch (vgl. Kertscher 2009: 90). Wittgensteins Kritik am Universalismus ist ethisch begründet, da er klarmacht, es könne für Fragen nach Glück und Moral des Einzelnen und die damit verbundenen Konflikte des Individuums keine universalen Lösungen geben. Eine Ethik ohne Kontextbezug und Berücksichtigung der individuellen Persönlichkeit kann für Wittgenstein nicht tragend sein (vgl. ebd.: 92). Neben der Ablehnung eines ethischen Universalismus stellt er sich auch dagegen, eine objektive Basis von Sprache anzuerkennen. Mit einer Grammatik würde in seinen Augen immer versucht werden, die Realität wiederzugeben, was für ihn nicht Sinn von Sprache sein darf. Das Absprechen einer äußeren Zweckmäßigkeit derselben ist als Kritik am Universalismus zu verstehen. Sie wird dadurch untermauert, dass der Philosoph auch keine innere Veranlagung des Menschen zum Spracherwerb identifiziert, sondern, wie in der bereits ausgeführten Darstellung gezeigt, auf einen Prozess des Erlernens, des Abrichtens verweist (vgl. Zitterbarth 2011: 109). Dem universalen Verständnis eines ‚inneren Selbst‘, das unabhängig vom jeweiligen Kontext existiert und sozusagen aus sich heraus seine Meinung bildet, stellt Wittgenstein sein Privatsprachenargument entgegen. Das ab PU 234 dargelegte Argument spricht sich verkürzt dargestellt dagegen aus, dass Sinn nicht durch eine innere Instanz begründet werden kann (vgl. Pin-Fat 2000: 668). Er und seine Sympathisanten werfen dem Universalismus einen fehlenden kulturellen Kontext vor und mahnen an, dass Werte über tatsächliche Szenarien und Handlungen verankert werden müssen (vgl. Kertscher 2009: 93).

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Jedoch relativiert sich in gewissem Maße, ähnlich wie auch gegenüber Herder, die Ablehnung zum Universalismus. Der Denker streitet nicht ab, dass so etwas wie eine „common humanity“ (Pin-Fat 2000: 668) existiert, jedoch sieht er diese nicht im Inneren jedes Einzelnen fest verankert. Vielmehr ist sie als Handlung zu verstehen, die vom jeweiligen persönlichen Kontext abhängt und dadurch einer ständigen Differenzierung bedarf (vgl. ebd.: 668). Auch Wittgenstein fängt das relativistische Angstgespenst des anything goes ein, indem er davon spricht, dass Sprache über Regeln funktioniert. Diese sind kein Abbild einer universalen Grammatik, sondern entspringen der innergesellschaftlich übereinstimmenden Praxis. Soziale Gepflogenheiten bilden somit eine gemeinsame Basis, ohne nach einer Letztbegründung zu verlangen. Damit halten Regeln den grundsätzlich relativistischen Ansatz in Zaum, sind aber durch ihren Praxisbezug kulturspezifisch und somit nicht universal fixiert (vgl. Zitterbarth 2011: 109–110). Dieser, wie bereits festgestellt, bei Wittgenstein grundlegende praxeologische Ansatz ermöglicht über die Option des Erlernens neuer Handlungsweisen und damit Lebensformen, dass sich Kulturen trotz fehlender universaler Basis austauschen und vermischen können (vgl. ebd.: 111). Die oftmals verkürzte Darstellung des Denkers als hoffnungslosen Relativisten (vgl. Pin-Fat 2000: 666) greift somit nicht. Bei der Beantwortung der Frage, ob der Universalismus sein erklärter Gegner sei, kann im Hinblick auf die PU, ähnlich wie bei Herder, von einem genuin relativistischen Ansatz gesprochen werden. Jedoch ist Wittgensteins Instrumentarium zur Begrenzung der Gefahren des Relativismus deutlich differenzierter angelegt. So ist die bereits herausgearbeitete Unterscheidung in den beiden Stoßrichtungen der Philosophen abermals lesbar, da Wittgenstein mehr Raum für Offenheit und Entstehung von Neuem lässt und nicht wie Herder den Rückbezug zum Kern einer Gemeinschaft anstrebt. Die Parameter des Umgangs mit kultureller Differenz und die Positionierung im Widerstreit von ‚modernem‘ Universalismus und der partikularen Vielfalt der Kulturen bleiben in der weiteren Analyse zentral. Wenn es darum geht, die unterschiedliche Konzeption des Multi- und Transkulturalismus zu ergründen, werden genau diese Parameter überprüft und als Grundlage für eine Unterscheidung herangezogen.

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Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur

Wie angesprochen, bildet der Umgang mit kultureller Andersartigkeit den Ausgangspunkt der Gegenüberstellung der beiden Konzeptionen von Multikulturalismus und Transkulturalität. Dabei soll nicht das Ziel verloren gehen, vor allem das Konzept der Transkulturalität mit einer aussagekräftigen theoretischen und historischen Tiefe zu versehen, die im bisherigen Diskurs, wie eingangs erwähnt, bemängelt, beziehungsweise als weitgehend obsolet diagnostiziert wurde. Erst im Anschluss daran wird es möglich, sich mit den Formen der Trans_Konzepte auseinanderzusetzen, beziehungsweise jene zu hinterfragen. Doch gilt es, die semantischen Wurzeln, die historische Tiefe und theoretischen Grundannahmen des Multikulturalismus voranzustellen. Wie zu zeigen sein wird, ist es die transkulturelle Kritik an den multikulturellen Ansätzen, die die neuen Konzepte in der Theorie vorantreibt. Ausgehend von den beiden vorgestellten Denkern Herder und Wittgenstein ließ sich bereits eine philosophische Abgrenzung im Umgang mit kultureller Differenz ablesen. Die Differenzierung gelingt über die Betrachtung der unterschiedlichen Mechanismen, mit denen beide Seiten die als vorausgesetzt geltende Mannigfaltigkeit der Kulturen erklären. Herder wendet dabei den Blick nach innen, zum Mittelpunkt verweisend, um die Gleichwertigkeit der Kulturen zu betonen – Gleichwertigkeit bei gleichzeitig deutlicher Unterschiedlichkeit. Die Grenze übernimmt die Funktion der Zuordnung. Inwiefern diese Merkmale im Konzept des Multikulturalismus ebenfalls auszumachen sind, bleibt im Folgenden zu überprüfen. Zudem muss vorweggenommen und im Auge behalten werden, dass sich das im Anschluss vorzustellende Konzept der Transkulturalität als Lösungsvorschlag für die Probleme, die aus dem multikulturellen Ansatz heraus

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Krüger, Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30850-6_4

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entstehen, versteht.1 Deswegen ist es umso mehr von Bedeutung, die von Herder abgeleiteten und im Konzept der Multikulturalität zentral werdenden Positionen zum Umgang mit kultureller Differenz als Grundlage für die theoretische Eingrenzung und Historisierung des transkulturellen Ansatzes herauszuarbeiten. Bedeutung des Suffixes im multikulturellen Kontext An dieser Stelle ist eine Unterscheidung vorzunehmen, welche für die weitere Arbeit grundlegende Bedeutung besitzt, sowie im allgemeinen Diskurs der Kulturtheorien getroffen werden muss. Die begriffliche Schwammigkeit ist an vielen Stellen festzustellen, wenn es um die Themenfelder Multikulturalität, Multikulturalismus und die damit eng verbundene Interkulturalität geht. In Bezug auf die Begriffe macht es jedoch einen gewichtigen Unterschied, welche Suffixwahl vorgenommen, beziehungsweise welche Ableitungssilbe im jeweiligen Kontext verwendet wird. Steht das Suffix -tät generell für eine Zustandsbeschreibung, so hebt sich das Suffix -ismus davon ab, indem es eine Glaubenshaltung, eine Ideologie oder eine politische Haltung wiedergibt. So stehen sich auch bei der Unterscheidung von Multikulturalität und Multikulturalismus zwei Begriffe gegenüber, von denen der erste einen deskriptiven Charakter besitzt und somit eine Beschreibung der Realität widerspiegelt. Die zweite Variante – der Multikulturalismus – bringt zum Ausdruck, dass der Begriff in dieser Form normative Implikationen mit sich bringt. Er verliert seine Neutralität, da er sich als politische Bewegung und Lebenseinstellung versteht (vgl. Beyersdörfer 2004: 43). Der Politikwissenschaftler und Soziologe Alf Mintzel bringt das Verhältnis der beiden Formen auf den Punkt: Es empfiehlt sich, immer dann, wenn kulturelle Vielfalt, kultureller Pluralismus, cultural diversity als gegebene Wirklichkeit gemeint ist, den Begriff Multikulturalität zu verwenden – in Abgrenzung zum Multikulturalismus mit seinen politischen, pädagogischen, ideologischen Konnotationen, die im Bereich der wertenden und appellierenden Funktionen der jeweiligen Begriffsprägung liegen. (Mintzel 1997: 58)

Solange von Multikulturalität die Sprache ist, geht man zunächst nur von einer Gleichzeitigkeit aus, die darauf anspielt, dass in der Gesellschaft Pluralität an verschiedenen Gruppen und Einflüssen auszumachen ist. Es wird nur eine temporäre

1An

dieser Stelle muss vorweggenommen werden, dass zur Konzeption eines Transkulturalismus noch keine Forschungsliteratur vorliegt, jedoch im dritten Teil der Arbeit ein Systematisierungs- und Anwendungsversuch vorgenommen wird.

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Momentaufnahme vorgenommen und keine Aussage über das faktische Verhältnis zwischen den Gruppen getroffen. Wie diese Gruppierungen entstanden sind, etwa durch historische, beziehungsweise koloniale Umstände oder durch Zuwanderung, bleibt ebenso außen vor, wie auch die Frage, ob sich das Verhältnis der Gruppen zueinander ausgewogen oder konflikthaft gestaltet (vgl. Beyersdörfer 2005: 43). Auch auf der Ebene der Wahl des Präfixes ist eine präzise Betrachtung erforderlich und für die Verwendung im Diskurs entscheidend. Durch genauere Definition werden sowohl die enge Verzahnung als auch die Abgrenzung von Multikulturalität und Interkulturalität klar. Interkulturalität ist voraussetzungsvoller, weil sie von einer grundlegenden multikulturellen Struktur ausgeht und nicht allein das Mehr an Gruppierungen thematisiert, sondern auch das sich daraus abzuleitende Verhältnis zwischen ihnen. Wie bereits erwähnt, gibt Multikulturalität im Gegensatz dazu keine Auskunft darüber, in welchem Ausmaß Gruppen miteinander in Kontakt treten. Die Korrelationen zwischen beiden Begriffen wird spürbar, wenn man sich bewusstmacht, dass eine erhöhte Dichte an verschiedenen Gruppen und Kulturen in einer Gesellschaft die Notwendigkeit für Interkulturalität steigert.2 Der Multikulturalismus steht für eine Vielzahl an politischen Programmen und Lebenseinstellungen, die sich massiv voneinander abheben können. Ein Konsens, ob sich Multikulturalismus grundsätzlich zum Ziel setzt, dass kulturelle

2Ein

wichtiger Zusatz ist, dass es sich bei der Begegnung von Kulturen bezüglich der Interkulturalität sowohl um Kulturen innerhalb einer Gesellschaft als auch um Kulturen mit verschiedenen nationalen Grenzen handelt. Interkulturalität ignoriert zunächst die Unterteilung in Nationen. Der Begriff bezieht sich grundsätzlich auf das Aufeinandertreffen von Menschen aus verschiedenen Kulturen (vgl. Beyersdörfer 2004: 44). Die seit dem Beginn der 2000er Jahre en vouge gewordenen Begriffe, wie interkulturelles Training und interkulturelle Handlungskompetenz nehmen diese grundlegende Unterscheidung an, betten jedoch diesen Moment der Begegnung von Kulturen in einen ökonomischen Kontext ein. Kulturen werden meist vereinfacht mit Nationalkulturen gleichgesetzt. Die Stereotypisierung von Kulturen wird kritisch erkannt, jedoch gleichzeitig für ein mögliches Verständnis der fremden Kultur benutzt. Die für das wirtschaftliche Handlungsfeld vorgegebenen Ratschläge sind teilweise sehr unterkomplex und nehmen eine faktische innergesellschaftliche Pluralität nicht mit auf. Grundlegend zum Themengebiet der interkulturellen Kompetenz: Alexander Thomas, Eva-Ulrike Kinast, Sylvia SchrollMachl: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kooperation. 2 Bände. Bd 1: Grundlagen und Praxisfelder; Bd 2: Länder, Kulturen und Interkulturelle Berufstätigkeit, Göttingen, 2003.

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Vielfalt in einer Gesellschaft vorherrschen muss, ist umstritten.3 Tariq Modood hält dabei treffend fest, es sei die Herausforderung des Multikulturalismus trotz verschiedener politischer Haltungen sei, ein gegenseitiges Verständnis der verschiedenen Ansichten zu erzielen: I see multiculturalism, therefore, as constituting an interrelated set of political ideas which are a development out of, and therefore after due modification compatible with, contemporary democratic politics, especially those of the centre-left. Multiculturalism of course challenges certain ways of thinking and certain political positions, but the challenge is of inclusion and adjustment, not of giving up one comprehensive politics for another. (Modood 2007: 19)

Nach der Klärung der teilweise auftretenden Unschärfe der Begrifflichkeiten im multikulturellen Diskurs soll im Anschluss der Multikulturalismus im Zentrum stehen. Wie aufgezeigt, gibt es verschiedene Auslegungen und Spielarten, weshalb im nächsten Schritt die Vorbedingungen, unter denen sich der Multikulturalismus entwickelte, herausgearbeitet werden.

1 Kulturelle Identität als horizontales Mosaik: Der Multikulturalismus 1.1 Vorbedingungen Der Begriff des Multikulturalismus ist unweigerlich mit dem Begriff und dem Phänomen der Globalisierung und den mit ihr einhergehenden Prozessen verbunden. Moderne Kommunikationsmittel erzeugen eine Gleichzeitigkeit, unabhängig von Zeitzonen und Kontinenten.4 Menschliche Interaktion hat eine

3Eine

eindeutige Position nimmt hierbei Axel Schulte ein, der den Multikulturalismus als Gegensatz zu Modellen kultureller und gesellschaftlicher Homogenität ansieht. Vielfalt muss für ihn im Multikulturalismus ausschließlich positiv bewertet, wenn nicht sogar zur final anzustrebenden Maxime erhoben werden. Siehe dazu: Schulte, Axel: Multikulturelle Gesellschaft: Zu Inhalt und Funktion eines vieldeutigen Begriffs, in: Multikulturelle Gesellschaft: der Weg zwischen Ausgrenzung und Vereinnahmung?, Bonn 1992, S. 11–40, S. 12. 4Epstein übt Kritik an der Wahrnehmung der Globalisierung als Phänomen des PanAmericanism: In fact, about a global culture we often mean – explicitly oder implictly, approvingly or disapprovingly – Pan-Americanism. (Epstein 2009: S. 328).

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enorme Erleichterung erfahren und wirft doch gleichzeitig neue Fragen in Bezug auf die Gestaltung des sozialen Gefüges auf. An diesem Punkt wird die Verzahnung mit dem Konzept des Multikulturalismus, der versucht, die multikulturelle Realität in Form eines gesamtgesellschaftlichen Programms zu erfassen, deutlich. Der Multikulturalismus muss als Gegenreaktion auf die Gefahr einer kulturellen Homogenisierung und die damit verbundene Kanonisierung einer Weltkultur, die durch globale Prozesse ermöglicht wird und ins Zentrum zu rücken scheint, verstanden werden. Der Rückbezug zur eigenen kulturellen Identität, Cooconing, ist als Anti-Globalisierungsmaßnahme zu sehen, die dem Einzelnen einen spezifischen Raum, eine Komfortzone, in einer multiplen Welt zuschreibt (vgl. Epstein 2009: 329/Cuccioletta 2012: 78). David Bennett macht deutlich, dass der Multikulturalismus aus der Perspektive der Globalisierung nur eine Randerscheinung, ein Epiphänomen, darstellt (vgl. Bennett 1998: 2), während dagegen die Globalisierung erst eine Auseinandersetzung mit multikulturellen Ansätzen angestoßen hat. Da es an dieser Stelle jedoch gilt es, die multikulturelle Perspektive zu untersuchen und es ist zu zeigen, unter welchen Vorzeichen eine Notwendigkeit für dieses Konzept entstand. Bei der Frage nach der Begründung, warum sich multikulturelle Theorien und Politiken ausbilden, übernimmt die Globalisierung die Doppelfunktion als Auslöser und Antagonist. Der Multikulturalismus greift in die Globalisierungsdebatte ein, indem er einerseits anerkennt, dass die Globalisierung eine politische und vor allem eine ökonomische Konzeption vorgibt, jedoch auch bemerkt, dass eine Lücke hinsichtlich eines Konzepts zum globalen Umgang mit multiplen kulturellen Formen klafft (vgl. Cuccioletta 2001: 9): We have an economic concept, a political concept, yet, the one that remains the most important in our Global Village, the question of multiple identities without barriers, based on the movement and flow of peoples and of society is absent. (Ebd.: 9)

Historisch betrachtet haben sich multikulturelle Gesellschaften als soziales Phänomen lange vor der politischen Implementierung von multikulturellen Maßnahmen entwickelt. Grundlage für die veränderte soziale Zusammensetzung und die damit verbundene ethnische Diversifikation ist der Fakt der Migration.5

5Hierbei

muss darauf hingewiesen werden, dass die soziale Bereitschaft einen multikulturellen Ansatz zu verfolgen, auch von den migrationshistorischen Entwicklungen und Traditionen abhängt Eine Öffnung hin zum Multikulturalismus basiert auf einer Immigrationstradition: In den USA und Kanada ist die Akzeptanz der ethnisch und kulturell

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Die regionenspezifisch unterschiedlichen Kontexte von Migration und der unterschiedliche Umgang mit der auftretenden kulturellen Pluralisierung wird in der anschließenden Analyse nochmals detaillierter aufgegriffen. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass sich Multikulturalismus – entstanden durch neuzeitlichen Zuzug oder als politische Bewegung zur Aufarbeitung historisch gewachsener ethnischer Differenz und Ungleichheiten (vgl. Modood 2007: 2) – mit der Spannung zwischen verschiedenen Gruppen auseinandersetzt. Die Zielsetzung des Multikulturalismus ist es nicht, eine Assimilation von Kulturen zu erreichen. Es wird nicht davon ausgegangen, dass es eine mainstream-Kultur gibt, in die sich langfristig die hinzutretenden kulturellen Gruppen integrieren, sondern dass im Sinne eines Plurikulturalismus die Gesellschaft als Mosaik verstanden werden muss. Die größte kulturelle Gruppe ist dabei nur ein Teilstück (vgl. Delafenetre 2007: 90–91).6 Der Multikulturalismus identifiziert somit eine zeitnah entstandene oder historisch gewachsene Ungleichheit in der Größe und Gewichtung

jeweils ‚anderen‘ eher zu erwarten als in den (europäischen und asiatischen) Gesellschaften, die von der Fiktion ethnischer und daher auch kultureller Homogenität ausgehen. (Pelinka 2001: 159) Siehe dazu auch: Neubert, Stefan, Roth, Hans-Joachim, Yildiz, Erol: Multikulturalismus. Ein umstrittenes Konzept, in: ders. (Hrsg.): Multikulturalität in der Diskussion. Neuere Beiträge zu einem umstrittenen Konzept, Wiesbaden 2013, S. 9–29, S. 9–10. 6Es wird hier zwischen zwei Formen des Umgangs mit kulturellem Pluralismus unterschieden. Einerseits besteht der auf Gleichheit ausgerichtete Ansatz der Integration und Assimilation. Und dem steht die sogenannte Form des Plurikulturalismus, dessen Prämisse es ist, dass keine Angleichung erfolgt, sondern die Gesellschaft in Form eines Mosaiks ihrer kulturellen Teile aufgebaut ist, gegenüber. An den Beispielen Kanadas und Australiens wird historisch betrachtet deutlich, dass eine multikulturelle Politik mit beiden Ansätzen versucht wurde. Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre waren frühe multikulturelle Initiativen von dem Gedanken der Angleichung getragen. Dieser Integrationism setzte voraus, dass eine mainstream-Kultur vorliegt und jedem Zuwanderer ohne Berücksichtigung seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe dieselben Möglichkeiten zugestanden werden müssen. Ab Mitte der 1970er Jahre setzte sich in beiden Ländern die zweite Form des kulturellen Pluralismus als Ansatz durch: Ging man vorher von einer langfristigen demographischen Assimilation der kulturellen Minderheiten aus, so rückte in Abgrenzung dazu der Ansatz in den Fokus, dass polyethnische Gesellschaften permanent von der Verschiedenheit ethnischer Gruppen leben und dem Staat die Aufgabe zukommt, sicherzustellen, dass diese Gruppen auch weiterhin ihre sozialen Praktiken ausüben können und somit erhalten bleiben. Vergleiche dazu: Delafenetre, David G.: Interculturalism, multiculturalism and transculturalism: Australian and Canadian Experience, in: Nationalism and ethnic politics, 2007, S. 89–110, S. 90–91.

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von kulturellen Gruppen zueinander. Ziel ist nicht die Herstellung einer Gleichheit, sondern vielmehr eines Gleichgewichts zwischen dominierenden und minorisierten Gruppen in ihren Anteilen an dem gesellschaftlichen kulturellen Mosaik (vgl. Strasser 2010: 355). Unabhängig von ihrer kulturellen Zusammensetzung muss im Blick behalten werden, dass sich Gesellschaften aus multikultureller Perspektive durch ihre Konturen sowohl nach innen als auch nach außen kennzeichnen. Sie basieren im praktischen Zusammenleben auf der Grenzziehung gegen andere Formen nach außen und auf dem eigenen Selbstverständnis nach innen (vgl. Ariëns 2013: 7). Dabei ist der Multikulturalismus von Beginn an mit einem Problemhorizont konfrontiert: Auf der einen Seite stehen die gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und Ordnungen, die sich als homogen und als in sich geschlossen verstehen und sich so auch nach außen abgrenzen. Auf der anderen Seite existiert der Fakt der Zuwanderung – wie beispielsweise Einwanderungswellen aus akuten geopolitischen Gründen – der eine hochgradige Diversifikation der Gesellschaft erzeugt. Dieses Aufeinanderprallen von Homogenitätsmodell und faktischer Pluralisierung der kulturellen Zusammensetzung lässt dem Begriff der Multikulturalität und dem der Politik des Multikulturalismus ab dem Ende des 20. Jahrhunderts vor allem im nordamerikanischen und europäischen Raum eine enorme Aufmerksamkeit zukommen (vgl. ebd.: 9).7 Für die Einbettung des Konzepts des Multikulturalismus ist es unerlässlich, explizit dessen Genese und Bedeutung im wissenschaftlichen Kontext zu betrachten. Tariq Modood spricht hierbei von einer „cross-disciplinary irony“ (Modood 2007: 19), wenn der Diskurs um kulturelle Differenz in Sozial- und Politiktheorie gegenübergestellt wird. Edward Said kann als einer der Vorreiter bezeichnet werden, die den Diskurs um Differenz innerhalb der Sozialtheorie und

7Die

politischen Folgen aus dieser Entwicklung sind bedeutend und werden intensiv diskutiert. Pierre Rosanvallon merkt an, dass die konventionellen demokratischen Verfahren aus dem Gleichgewicht geraten sind und nicht mehr greifen. Das demokratische Prinzip des Vorrangs der Mehrheit erzielt keinen mehrheitlichen gesellschaftlichen Konsens mehr. Die Annahme, die Mehrheit repräsentiere auch das Ganze, ist aufgelöst. Vielmehr findet ein Erstarken der Selbstwahrnehmung der Minderheiten in demokratischen Gesellschaften statt, die sich aus der Rolle eines Teils mit zu vernachlässigender Größe herauswinden und Sichtbarkeit anstreben. Siehe weiterführend dazu: Rosanvallon, Pierre: The Metamorphoses of Democratic Legitimacy: Impartiality, Reflexivity, Proximity, in: Constellations, Vol. 18/No. 2, 2011, S. 114–123. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zu zeigen sein, inwiefern eine multikulturelle Konzeption dieses Phänomen begünstigt hat oder eine reine Konsequenz aus ihr ist.

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in den cultural studies zu Beginn der 1980er Jahre angestoßen haben.8 Die Ironie liegt darin begründet, dass es aber eben auch prominente Vertreter der Sozialtheorie der späten 1980ger Jahre waren – beispielsweise Derrida und Foucault –, die den politischen Diskurs um multikulturelle Maßnahmen und ihre Anwendung kritisierten. Gleichzeitig waren es die Denker der Politischen Theorie, die zur selben Zeit begannen, sich intensiv diesem Diskurs um kulturelle Differenz und dem politischen Konzept des Multikulturalismus zu widmen. Wenn auch teilweise aus unterschiedlicher Perspektive, so kann doch festgehalten werden, dass Theoretiker wie unter anderem Will Kymlicka, Iris Young, Bhikhu Parekh und Charles Taylor zu Beginn der 1990er Jahre den Multikulturalismus als Begriff in der Politikwissenschaft verankerten (vgl. ebd.: 19).9 Die Verortung der Debatte um den Multikulturalismus ist von mehreren Disziplinen beeinflusst, so auch von anthropologischen und sozialempirischen Ansätzen. Sie findet jedoch nicht aus Zufall hauptsächlich im politikwissenschaftlichen Kontext statt. Die Konfrontation der modernen Demokratietheorien mit den sich durch Migration und allgemein gesellschaftlicher Diversifizierung verändernden Bedingungen nimmt deutlich Raum innerhalb der Disziplin ein.10 Diese Abklärung der Vorbedingungen zur weiteren Analyse des Konzepts des Multikulturalismus hat gezeigt, dass sich jener sowohl realpolitisch als auch theoretisch aus einer Problemstellung heraus entwickeln konnte, die für das 20. Jahrhundert und dessen technologische, politische und soziale Prozesse signifikant ist. Bevor folgende Ausführungen auf einzelne Strömungen innerhalb des Multikulturalismus und auf Gegenpositionen sowie Alternativmodelle eingehen, wird zunächst eine exaktere begriffliche und inhaltliche Definition und Eingrenzung erstellt, um anschließend den diesem Konzept zugrundeliegenden Kulturbegriff zu untersuchen und ihn in Bezug zu den bereits erarbeiteten philosophischen Ansätzen zu setzen.

8Siehe

dazu: Said, Edward: Orientalism, New York 1978. zentralen Werke der aufgeführten Denker, werden im Fortlauf der Arbeit detaillierter vorgestellt. 10Die Tatsache, dass sich in Bezug auf die Forschung zu transkulturellen Kulturkonzepten noch keine politiktheoretische Diskussion etabliert hat, muss an dieser Stelle aufgezeigt werden. Im Gegensatz dazu ist ein starker Fokus auf multikulturalistische Ansätze innerhalb der politikwissenschaftlichen Disziplin erkennbar. In der weiteren Analyse wird darauf Bezug genommen, Begründungen werden aufgezeigt und eigene Einordnungen versucht. 9Die

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127

1.2 Definition und Eingrenzung 1.2.1 Hinführung Wie bereits angesprochen, impliziert das multi bei der Auseinandersetzung mit Kulturkonzeptionen zunächst, dass von einem Mehr an, beziehungsweise einer Pluralität von verschiedenen kulturellen Gruppen und Einflüssen in einer Gesellschaft ausgegangen wird (vgl. Beyersdörfer 2004: 43). Die Darstellung des Multikulturalismus gleicht mithin einem „picture of society as a ‚mosaic‘ of several bounded, nameable, individually homogeneous and unmeltable minority unicultures which are pinned onto the backdrop of a similarly majority uniculture“ (Vertovec 1996: 51). Die grundlegende Idee ist dabei, die real bestehenden exkludierenden Tendenzen in modernen Gesellschaften durch eine vorwiegend inkludierende Sichtweise zu ersetzten (vgl. Pelinka 2001: 153). „Generell kann von einem trial and error-Verfahren gesprochen werden“ (Strasser 2010: 343), wenn man sich vor Augen führt, wie dieses Bild des kulturellen Mosaiks und die daraus erwachsenen Maßnahmen und Forderungen entstanden sind – haben sie sich doch im Spannungsfeld von Anpassungsforderungen einerseits und Differenzförderung andererseits ausgebildet (vgl. ebd.: 343). Die Begriffswahl Multikulturalismus entwickelte sich seit den 1990er Jahren zum Modethema und Leitbegriff, um zu versuchen, die zunehmende kulturelle Diversifizierung der modernen westlichen Einwanderungsgesellschaften zu erfassen. Diese westliche Prägung des Begriffes wird dadurch erkennbar, dass sie aus dem genuin westlichen Diskurs um Menschenrechte, Egalität und Universalität hervorgegangen ist.11 So kann nicht davon ausgegangen werden, es handle sich um ein politisch neutrales und absichtsloses Konzept (vgl. Pelinka 2001: 163/Reckwitz 2001: 179). Durch den oftmals inflationären Gebrauch des Begriffs, ohne dass er ein spezifisches Politikfeld bestimmen würde, verliert dieser seinen augenscheinlichen Glanz, wenn hinterfragt wird, welche Rolle Kultur in (post-)modernen

11Diese

Absichten drohen jedoch einen wesentlichen Aspekt von Kultur zu verdecken: Nämlich die Funktion, Differenz zu erzeugen und sie sichtbar zu machen. In dieser Funktion der Abgrenzung des Eigenen vom Fremden hat Kultur noch einen Nebenbuhler: Die Kategorie der Rasse. Wenn Kultur als abgrenzende Kategorie also durch universelle Ansätze an Sichtbarkeit verliert, entsteht eine potentielle Gefahr: Kultur drückt politisch akzeptabel das aus, was ‚Rasse‘ politisch nicht (mehr) akzeptabel zum Ausdruck bringt. (Pelinka 2001: 164) Der Zusammenhang der beiden Begriffe und Kategorien Kultur und Rasse wird im Weiteren noch zentralen Stellenwert einnehmen, dem sei an dieser Stelle vorausgegriffen.

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Gesellschaften als Kategorie noch einnimmt und wie sich das Programm des Multikulturalismus zur demokratischen Ordnung positioniert (vgl. Neubert 2013: 9). Es geht in der vorliegenden Arbeit nicht darum, dem Multikulturalismus eine Generalabsage zu erteilen oder allgemein eine Wertung vorzunehmen. Vielmehr sollen in den nächsten Schritten zum einen das Stigma eines glorifizierenden Erklärungsmodells beseitigt und zum anderen die politiktheoretischen Wurzeln in den Vordergrund gestellt werden. Die Besonderheit, die auch zur Beschäftigung mit dem Konzept des Multikulturalismus angeregt hat, ist seine spezifische Zusammensetzung aus einer analytischen Theorie moderner Kulturen und gleichzeitig aus einer normativen politischen Philosophie, die sich auch in politischen Programmen widerspiegelt. Der interne Streit um die Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte und ihre prominenten Vertreter – Charles Taylor und Will Kymlicka – werden an späterer Stelle noch detailliert aufgegriffen werden. Diese Debatte gilt es zu erwähnen, da sie verdeutlicht, dass das Konzept des Multikulturalismus von einer normativpolitikphilosophischen Perspektive dominiert wird (vgl. Reckwitz 2001: 179– 180). Aus diesem Grund und in Hinblick auf die zur Transkulturalität ebenfalls anzustellende Analyse ist es geboten, eine gewisse Reduzierung vorzunehmen. Die zugrundeliegende Theorie zur Kultur des Konzepts soll in den Fokus rücken und in Bezug zu den vorgestellten Modellen gesetzt werden. Zunächst erfolgt die Einordnung des Multikulturalismus als Theorie und normatives Leitbild.

1.2.2 Multikulturalismus als Theorie Die theoretische Auseinandersetzung mit der Pluralisierung von westlichen Gesellschaften ist eng mit der Frage nach der eigenen Identität und den jeweiligen Gruppenidentitäten verbunden. Bewegungen wie beispielsweise der Afrozentrismus in den USA sind von einem neuen Selbstverständnis, von neuen Fragen an das eigene Selbst und sein Umfeld geprägt: Was ist meine Natur? Worin besteht mein kulturelles Erbe? Und wie kann ich für mich und diejenigen, die dieselben Wurzeln teilen, öffentlich Anerkennung erwirken? Wie können wir als Kollektiv wahrgenommen werden? (vgl. Modood 2007: 2) Der Blick geht somit zunächst in die Vergangenheit, um gemeinsame kulturelle, historische und ethnische Wurzeln aufzudecken, die möglicherweise von den gleichmachenden Tendenzen der Globalisierung verschüttet wurden. Der theoretische Ansatz des Multikulturalismus „re-enforces boundaries based on past cultural heritages“ (Cuccioletta 2001: 8). Auch wenn die grundsätzliche Blickrichtung des Ansatzes in die Vergangenheit schielt, so bewegt er sich doch auch im Hier und Jetzt. Wenn man berücksichtigt, dass er eine Gleichzeitigkeit herzustellen versucht, eine Gleichzeitigkeit zwischen

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Einheit und Differenz. Einerseits entspringt das Konzept den Prinzipien der Gleichheit und Freiheit sowie den allgemeinen Menschenrechten. Diese einheitsstiftenden Elemente sollen verhindern, dass soziale Gefüge durch Partikularismus auseinanderreißen. Gleichzeitig wird die Differenz der einzelnen Teile der Gesellschaft stark gemacht, indem historisch benachteiligte oder im Demokratisierungsprozess hinsichtlich ihrer Bürgerrechte beschnittene kulturelle Gruppen eine besondere Stellung erhalten (vgl. Strasser 2010: 345). In diesem politikphilosophischen Diskurs um gesellschaftliche Pluralität und individuelle beziehungsweise Gruppenidentität versucht der Multikulturalismus als theoretischer Ansatz ein Gegenmodell zu Rassismus, Xenophobie und Nationalismus darzustellen (vgl. Pelinka 2001: 153). In diesem Zusammenhang bleibt jedoch festzuhalten, dass aus theoretischer Perspektive im Falle des Multikulturalismus Widerspruch erhoben wird, da er nicht als eine umfassende Politiktheorie wahrzunehmen ist. Die politische Idee des Multikulturalismus geht begriffsgeschichtlich aus dem Kontext des Liberalismus und dessen zentralen Annahmen zu Egalitarismus und Bürgerrechten hervor. Ihn jedoch als reines Nebenprodukt des Liberalismus zu betrachten, ist zu kurz gegriffen (vgl. Modood 2007: 6–7). Der Politikwissenschaftler Bhikhu Parekh macht deutlich, dass es sich um keinen fundierten, umfassenden politischen Ansatz handelt. Gleichzeitig behandelt er den Multikulturalismus in seinem Werk Tour de force. Rethinking Multiculturalism aus dem Jahr 2000 zunächst wie eine vollwertige Politiktheorie. Er macht eine umfassende Perspektive des Multikulturalismus deswegen aus, weil dieser alle grundlegenden staatlichen Funktionen anspricht. Parekh zufolge fordert der Multikulturalismus die Loslösung von tradierten Mustern, wie beispielsweise von der Wahrnehmung eines Staates als kulturelle Einheit. Es wird sozusagen eine Neuprogrammierung bereits bekannter kultureller, sozialer und vor allem politischer Parameter eingefordert (vgl. Parekh 2000: 336). Auch wenn Parekh dem Multikulturalismus zum Schluss seiner Analyse einen negativen Bescheid ausstellt und ihn nicht als umfassende Politiktheorie anerkennt, so ist doch entscheidend, dass sich dieser nicht im luftleeren Raum bewegt. Die theoretischen Wurzeln und Querverbindungen sind gewichtig: „Of course, a political multiculturalism may be part of a larger theory such as moral or thruth relativism, liberalism, postcolonialism, (anti-)globalization and so on.“ (Modood 2007: 7) Der Multikulturalismus verfolgt, wie bereits angemerkt, neben seinem theoretischen Anspruch, elementare politische Parameter umzudeuten, auch einen starken praxisorientierten Ansatz. Genau diese Ambition, real existierende und erfahrbare Unterschiede in der Hierarchie der Kulturen zu bekämpfen und ihnen eine Idee entgegenzuhalten, die die jeweiligen Kulturen nebeneinander und somit

130

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auch miteinander anordnet (vgl. Pelinka 2001: 153), wird im nächsten Schritt genauer aufgezeigt.

1.2.3 Multikulturalismus als politisches Programm Die praxisorientierte Komponente des Multikulturalismus und das daraus resultierende politische Programm ergeben sich dadurch, dass mit diesem Ansatz nicht nur analytisch, sondern auch normativ gearbeitet wird. Grundsätzlich steht die Analyse von westlichen Gegenwartsgesellschaften im Mittelpunkt. Die Entscheidung, ob der Multikulturalismus diesbezüglich hinreichend Aussagekraft besitzt, wird kontrovers diskutiert. Was in jedem Fall deutlich wird, ist, dass es faktisch kulturelle Minderheitsgruppen waren und sind, die die Debatte sowohl auf theoretischer Ebene vorangetrieben – konkret in der Sozial- und Politiktheorie – und auch für die Etablierung der Frage nach der Anerkennung und Integration von Minoritäten auf politischer Bühne gesorgt haben. Aus diesem westlichen Diskurs entstand der Multikulturalismus als politisches Leitbild für den gerechten und ausgleichenden Umgang der dominierenden Mehrheitskultur mit den anderen kulturellen Kollektiven (vgl. Reckwitz 2001: 179).12 Dass die Ausgestaltung dieses Ausgleichs bewirkte, dass das Verständnis von Multikulturalismus heute als vielfältig und vielschichtig gilt, hat sowohl eine Außenals auch eine Innenperspektive: Zunächst wurde vor allem im US-amerikanischen Kontext das Erstarken von Forderungen nach einer multikulturellen Politik und nach einer neuen selbstbewussten Pluralisierung als rein nationales Phänomen aufgefasst. Diese zu Beginn als lokal wahrgenommene Entwicklung verlieh den frühen multikulturellen Forderungen einen nationalen Glanz, bevor der Diskurs seine internationale Dimension entfaltete. Von außen betrachtet kann der Multikulturalismus als Warnsignal für eine Krise gedeutet werden. Bestehende Definitionen und Konzepte wie Nation, Nationalstaat und Nationalkultur werden nicht aufgelöst, aber in ein neues Verhältnis gestellt. Vor allem die Bindung von Nationalstaat und Nationalkultur wird aufgelockert. Nach innen ist es die interne Pluralisierung, die als Seismograph dafür gesehen werden kann, dass es sich um eine Umstrukturierung und damit Veränderung der Parameter der inneren sozialen Struktur handelt (vgl. Bennett 1998: 2). Dass der Multikulturalismus als politisches Programm nicht genuin eine Aussage darüber trifft, inwiefern sich Gesellschaften grundsätzlich eine kulturelle

12Diskurshistorisch

wird im Folgenden noch näher aufgezeigt werden, wie sich der Multikulturalismus zunächst als Leitbegriff innerhalb von sozialen Bewegungen formierte, um in einem folgenden Schritt Einzug in die Sozialtheorien zu halten.

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Vielfalt als Ziel setzen, soll an dieser Stelle nochmals deutlich gemacht werden. Die angesprochene Vielschichtigkeit ist auch mit einer gewissen Spannweite hinsichtlich der Auslegungsmöglichkeiten innerhalb der verschiedenen Gesellschaften verbunden. Axel Schulte sieht die ethnisch-kulturelle Vielfalt im Multikulturalismus als explizit positiv, erhebt sie sogar zum anzustrebenden Ziel moderner Gesellschaften (vgl. Schulte 1992: 12). Dem hält Alf Mintzel die Form des politischen Multikulturalismus – den er vom pädagogischen abgrenzt – entgegen, wobei er wiederum zwischen einem kritisch-emanzipatorischen und einem partikularen, beziehungsweise völkischen Multikulturalismus unterscheidet. Der kritisch-emanzipatorische Ansatz des politischen Multikulturalismus hinterfragt die Möglichkeit eines „Zusammenleben[s] von einheimischer Bevölkerung und Einwanderungsminderheiten ohne soziale Diskriminierung, ohne Assimilation oder Segregation dieser Minderheiten“ (Mintzel 1997: 64). Dem entgegen geht der partikulare Ansatz eines politischen Multikulturalismus von einem Volk als einer homogenen kulturellen Einheit aus. Es werden die spezifischen Differenzen anerkannt und man schlussfolgert daraus, die Möglichkeit einer Vermischung von verschiedenen Kulturen in einer Gesellschaft sei nicht möglich (vgl. ebd.: 61–65). Der Konsens, den eine Gesellschaft hinsichtlich des Umgangs letztendlich mit ihrer innergesellschaftlichen Vielfalt bildet, folgt keinem starren Muster. Die Modelle beschreiben nur theoretische Ausrichtungsmöglichkeiten. Ebenso findet die politische Umsetzung des Multikulturalismus in einem gewissen Spielraum statt. Eine Analyse und Einordnung einzelner Gesellschaften zeigt, dass es sich oft um Mischformen handelt und die politischen Maßnahmen in einem länderspezifischen Kontext implementiert werden und somit auch divergieren. Wie später in der Begriffshistorie noch deutlich werden wird, nimmt der Multikulturalismus vor allem im US-amerikanischen Kontext als leitende Philosophie des Bildungswesens einen großen Stellenwert ein.13 So wie auch Mintzel vom pädagogischen Multikulturalismus spricht, kann man das Bildungssystem als konkretes Feld multikultureller Maßnahmen nicht außer Acht lassen. Folgt man jedoch Tariq Modood, so überwiegt der politische Ansatz des Multikulturalismus, da die jeweilige politische Ausgestaltung der Maßnahmen die Ziele vorgibt und somit auch konstitutiv für das Bildungswesen ist: „[M] ulticulturalism came to mean the political accommodation of non-white, mainly post-immigration minorieties in ways which went beyond the analyses of colour-

13Vergleiche

dazu: Glazer, Nathan: The Reality of Multiculturalism in the United States, in: Bipan, Chandra/Sucheta Mahajan (Hrsg.): Composite culture in a multicultural society, New Delhi 2007, S. 18–31.

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racism and socio-economic disadvantages, though it varies between countries.“ (Modood 2007: 15) Diese grundsätzliche länder- beziehungsweise gesellschaftsspezifische Differenz innerhalb der angesprochenen Verortung des Einzelnen in der pluralisierten Gesellschaft macht eines deutlich, wenn wir von Multikulturalismus als politischem Programm sprechen: „Der Multikulturalismus ist kein eindeutiges, abgegrenztes oder inhaltlich festgelegtes Politikfeld.“ (Strasser 2010: 343) Trotz inhaltlicher Unschärfe, Vielschichtigkeit und zahlreicher Auslegungsmöglichkeiten, stellt der Multikulturalismus in seiner politischen Programmatik mehr als eine politische Situationsbewältigung dar. Obwohl die Schärfe fehlt, bietet er als politisches Programm eine reflexive Perspektive für das kollektive Zusammenleben, das immer komplexere Formen der Interaktion ausbildet. Auch die kritische Debatte um das Konzept des Multikulturalismus, die auch im Weiteren nicht zu kurz kommt, ist zweckmäßig, da sie Potenziale und Hindernisse kultureller Vielfalt in den Vordergrund rückt (vgl. Ariëns 2013: 16). Der Multikulturalismus als politisches Programm nimmt demnach die Funktion einer „Systematisierungshilfe [zur] produktiven Suche nach Handlungs- und Gestaltungsoptionen“ (Ebd.: 16) ein. Bevor im übernächsten Schritt der Blick auf den spezifischen Kulturbegriff gerichtet und dabei der Bezug zu Johann Gottfried Herder vorgenommen wird, steht jetzt ein Überblick über die Diskussionshistorie des Begriffs des Multikulturalismus an.

1.3 Diskussionshistorie Um den Multikulturalismus verorten und ihn auch später in Bezug zu anderen Konzeptionen von Kultur setzen zu können, ist es wichtig, einen Überblick über die Entwicklung der Begriffsgeschichte zu geben und die Diskurse, aus denen sich das Konzept entwickelt oder in die es sich eingefügt hat, zu betrachten. Dabei erscheint es interessant, die jeweils länderspezifische Entwicklung und Diskussion zu kontrastieren. Realpolitisch bildeten die neuen sozialen Bewegungen Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre den Kontext, in denen sich der Multikulturalismus zunächst als normative Leitidee entwickelte (vgl. Reckwitz 2001: 179). Dabei muss deutlich gemacht werden, dass es verstärkt der nordamerikanische Raum war, der sich mit diesen neuen sozialen Themen, wie beispielsweise dem Umgang mit Minderheitskulturen und deren Rolle im sozialen Gefüge, konfrontiert sah und die Diskussion vorantrieb. Wie bereits mehrfach aufgezeigt, versteht sich der

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Multikulturalismus nicht nur als politisches Programm, sondern auch als Theorie – auch wenn ihm vielerseits der Status einer eigenständigen Politiktheorie abgesprochen wird. Sein theoretischer Ansatz entstand aus einer Kontroverse im liberalen politischen Spektrum. Die Begriffe Differenz und Pluralität bildeten den Zündstoff, an dem sich Liberale und Kommunitaristen rieben und ihre unterschiedlichen Ansätze entfalteten.14 Auch wenn der Multikulturalismus aus einer liberalen Debatte entstanden ist, so steht er in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu ihr: „Multiculturalism is a child of liberal egalitarism but, like any child, it is not simply a faithful reproduction of its parents“ (Modood 2007: 7). Es ist wichtig zu erkennen, dass es zwar die liberale Matrix ist – die Prinzipien, die Institutionen und die politischen Normen – mit der der Multikulturalismus hantiert, an der er aber gleichzeitig kritisch ansetzt und welche er neu ausrichten möchte (vgl. ebd.: 7–8). Der Ansatz des Multikulturalismus fügt sich in die postmoderne Philosophie in so weit ein, als dass jene den ‚Widerstreit‘15 bewusst offen hält – den vermeintlichen Widerspruch zwischen gleichzeitiger Einheit und Differenz. Das Erfahren von Differenz ist aus postmoderner Perspektive eine Grunderfahrung, die jedem Menschen in modernen heterogenen Gesellschaften zu Teil wird (vgl. Scheer 2012: 84). An diesem Punkt soll der Multikulturalismus nicht als genuin postmoderner Ansatz eingeordnet werden. Wichtiger ist es, zu erkennen, dass durch postmodernes Denken erst ein Bewusstsein und eine Akzeptanz für Differenztheorien ermöglicht wurden, die menschliches Handeln beziehungsweise menschliche Interaktion und Kommunikation auf der Mikroebene betrachten (vgl. Neubert 2013:11): Die postmoderne Dekonstruktion von ‚Metaerzählungen‘ (Jean-Françoise Lyotard) hat zu einer Verflüssigung von Wirklichkeitskonzeptionen, zur Wiederentdeckung und Neubewertung gesellschaftlicher Vielfalt und soziokultureller Perspektivität beigetragen. (Ebd.: 10–11)

14Der

Verweis zu den beiden Strömungen des liberalen Multikulturalismus und den erweiterten Forderungen der Kommunitaristen werden unter dem Punkt Mesticagem und der totalitätsorientierte Kulturbegriff dieses Kapitels weiter erläutert werden. 15Der Begriff des Widerstreits ist im postmodernen Diskurs eng mit dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard verbunden. Er thematisiert dabei das Ideal der Herrschaftsfreiheit, das nicht frei von der Gefahr ist, im Eigentlichen doch Herrschaftsansprüche zu verbergen, die sich im Gleichsetzen des Nichtgleichen zeigen. Siehe weiter dazu: Lyotard, Jean-François: Der Widerstreit, München 1987.

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Doch nicht nur postmoderne, sondern auch postkoloniale Ansätze greifen die multikulturelle Konzeption wieder auf. Aus deren Perspektive wird erneut angemerkt, Multikulturalismus umfasse keine festgelegte Theorie und kein einheitliches politisches Programm, sondern nehme vielfältige Formen und Ausgestaltungen an. Die Kritik besteht darin, dass in dieser Verschiedenheit eine Ungleichheit besteht, vor allem, wenn es um die Zentrum-Peripherie-Debatte geht. Sind es nicht vor allem die USA, die sich selbst zum staatlichen und akademischen Vorbild eines multikulturellen Leitbildes erhoben und Gesellschaften, wie beispielsweise Australien in die Rolle eines Landes der Peripherie manövriert haben (vgl. Bennett 1998: 2)? Bevor der länderspezifische Kontext in der Begriffsgeschichte noch einmal genauer betrachtet wird, soll ein Blick auf die semantischen Wurzeln geworfen werden. Der Begriff Multikulturalismus wird als aktuell und noch jung begriffen, da er ein Phänomen darstellt, das sowohl als politische Debatte in Kanada und anderen Staaten des Commonwealth seit den 1990ern Einzug hielt als auch die Bildungslandschaft in den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt hat. In Europa erlangte das Konzept in den letzten Jahren im Zusammenhang mit Immigration und Bürgerrechten erhebliche Brisanz. Davon abgesehen und häufig auch übersehen, hat der Begriff literarische Wurzeln, die in den ersten 1940er Jahren liegen. Edward Fröhlich Haskell betitelt sein 1941 erschienenes erstes Schriftwerk folgendermaßen: Lance: A Novel About Multicultural Man. Die Hauptfigur seines Romans, Major Campell, weist deutlich autobiographische Züge auf. Selbst als Kind schweizerisch-amerikanischer Missionarseltern macht Haskell von Beginn an die Erfahrung mit anderen Kulturen, da er seine Kindheit in einer Vielzahl europäischer Länder verbringt, bevor er in die USA umsiedelt. Das Besondere an der Verwendung des Begriffs multicultural durch ihn besteht darin, dass er zeitkritisch das Modell des Nationalstaates und seine starre Verlinkung mit der einen Nationalkultur anprangert: Men in all climes and all times live by little things they know […]. Their contact has been with one language, one faith, and one nation. They are unicultural […]. But we, being children of the great age of transportation and communication, have contacts with many languages, many faiths, and many nations. We are multicultural. (Haskell 1941: 321)

Haskells Aufbruchsstimmung ist unverkennbar, auch wenn er diese multikulturelle Erfahrung nur wenigen Zeitgenossen zuschreibt und sich dabei ohne weitergehende Reflexion auf männliche Akteure beschränkt. Genau an diesem Punkt setzt Nathan Glazer 1997 an, wenn er sich auf Huskells Werk bezieht und

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es sogar mit seinem eigenen Buch We Are All Multiculturalists Now kontrastiert. Er ist einer der ersten, die den Multikulturalismus bewusst in Verbindung mit Rasse, beziehungsweise Ethnie, setzten und den Begriff aus der literaturwissenschaftlichen Verwendung herausführen. Für ihn stellt der Multikulturalismus vereinfacht den Preis dar, den die USA im Angesicht ihrer gescheiterten Integration von schwarzen Bürgern zu zahlen haben. Für Glazer, einem Verfechter des Universalismus, ist die Maßnahme Multikulturalismus der realistische, pragmatische Kompromiss, um Ungerechtigkeit auszugleichen (vgl. Sollors 2002: 166).16 Der Weg des Begriffs des Multikulturalismus zeigt, dass er ausgehend von der Beschreibung einer literarischen Figur durch seine reale Kraft, traditionelle Muster zu sprengen, Einzug in die Sozialwissenschaft und Politik gehalten hat. Der nächste Blick schwenkt auf die Entwicklung und Bedeutung des Begriffs in den verschiedenen Ländern, beziehungsweise Regionen. Kanada gilt nicht nur aufgrund der Denker – Charles Taylor und Will Kymlicka17 –, die die gegenwärtige Debatte dominieren, als Vorreiter für das Konzept des Multikulturalismus. Bereits 1964 war es der Soziologe Charles Hobart, der den Begriff in Kanada prägte (vgl. Porter 1975: 277). Der kanadische Historiker und Politiker Paul Yuzyk verleiht dem Begriff erstmals politisches Gewicht, indem er in den 1960ger Jahren Hobarts Wortwahl entleiht, um bei der Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism 1963 dafür einzutreten, sich als kanadische Gesellschaft von der US-amerikanischen Leitidee des melting-pots18 abzugrenzen, da sonst hinsichtlich der kulturellen Vielfalt des Landes Identi-

16Als

klarer Kritiker von Glazer ist Walter Benn Michaels zu nennen, der sich an der pragmatischen Auslegung des Multikulturalismus Glazers stört. Er kritisiert, dass die Transformation der Betrachtung von Rassismus aus einer universalistischen hin zu einer relativistischen Perspektive – verkörpert durch den gleichen Wert von Differenz – nur die Vorzeichen ändert, aber der Rassismus weiter bestehe. The modern concept of culture is not a critique of racism; it is a form of racism. (Michaels 1995: 129) Siehe im Detail dazu: Michaels, Walter Benn: Our America: Nativism, Modernism, and Pluralism, Durham 1995. 17Für beide Autoren bilden der Fall Quebec und die Formierung einer frankokanadischen kulturellen Gemeinschaft den Hintergrund für ihre Sozialtheorie. Im Folgenden wird unter Kritik aufgezeigt werden, welche Einschränkungen sich dadurch auch für ihre Theorien ergeben werden. Siehe dazu: Dhamoon, Rita: Shifting from ‘Culture’ to ‘the Cultural’: Critical Theorizing of Identity/Difference Politics, in: Constellations, Vol. 13/No. 3, 2006, S. 354–373, S. 355/358; Nicholson, Linda: To be or not to be: Charles Taylor and the Politics of Recognition, in: Constellations. Vol. 3/No. 1, 1996, S. 1–16, S. 3/11–12. 18Die Begriffsgeschichte geht auf einen Roman des britischen Autors Israel Zangwill zurück: Zangwill, Israel: The Melting Pot. Drama in four acts, London 1909. Siehe weiterführend: Glazer, Nathan/Moynihan, Daniel: Beyond the Melting Pot, Cambridge 1970 und

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täten drohten ausgelöscht zu werden (vgl. Cuccioletta 2001: 5). Eine konkrete politische Implementierung des Multikulturalismus fand in Kanada 1988 durch den Canadian Multicultural Act19 statt. Es war das erste Land weltweit, das ein nationales Multikulturalismusgesetz erließ. Mit diesem Schritt wurde der Multikulturalismus zu einem integralen Bestandteil der kanadischen Gesellschaft und übernahm eine tragende Rolle im Entscheidungsfindungsprozess auf bundesstaatlicher Ebene (vgl. Dewing 2013: 6). Ziel des Gesetzes war es, „to preserve, enhance and incorporate cultural differences into the functioning of Canadian society, while ensuring equal access and full participation of all Canadians in the social, political, and economic sphere“ (Ebd.: 6). Trotz des Versuchs der kanadischen Politik, sich von der Integrationsstrategie der USA durch eine bewusste Implementierung multikultureller Maßnahmen abzugrenzen, bleibt den beiden Gesellschaften vor allem im Gegensatz zu Europa doch eines gemein: Beide Länder blicken auf eine Tradition zurück, die von der Immigration geprägt ist. Wenn auch in verschiedenen Epochen, unter unterschiedlichen Vorzeichen und in anderer Intensität verlaufen, so hat die nationale Identität doch jeweils den Fakt der Zuwanderung verinnerlicht (vgl. Pelinka 2001: 159). Anton Pelinka geht sogar so weit zu sagen: „In den USA und Kanada ist die Akzeptanz der ethnisch und kulturell jeweils ‚anderen‘ eher zu erwarten als in den (europäischen und asiatischen) Gesellschaften, die von der Fiktion ethnischer und daher auch kultureller Homogenität ausgehen.“ (Ebd.: 159) Auch wenn Kanada politisch und in der Sozialtheorie die Vorreiterrolle im Multikulturalismusdiskurs für sich beansprucht, so waren es doch die USA und ihre progressive Identitätspolitik, die den Multikulturalismus prägten. Der Rückbezug zur jeweiligen kulturellen Herkunft und die Forderung, sich mit Seinesgleichen politische Anerkennung und Mitsprache zu verschaffen, kennzeichnete die dortigen sozialen Bewegungen und vor allem das Bildungssystem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.20 Der Multikulturalismus als leitende

Jacoby, Tamar: Reinventing the Melting Pot: The New Immigrants and What It Means to be American, Cambridge 2004. 19Siehe weiterführend: Hudson, Graham: Multiculturalism and the Canadian Constitution, in: Osgoode Hall Law Journal (hrsg. von Stephen Tierney), Vol. 46, No. 3, 2008, S. 675– 871. 20Siehe dazu weiterführend: Wolters, Raymond: Educational Reform in the 1960s, in: ders. (Hrsg.): Race and Education 1954–2007, Columbia 2008, S. 155–187; Hanushek, Eric A.; Kain, John F.; Rivkin, Steve G.: New Evidence about Brown v. Board of Education:

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Philosophie im Bildungswesen der USA spiegelt sich auch in der Politik der positiven Diskriminierung, der sogenannten Affirmative Action wider.21 Der Verweis auf den nordamerikanischen Raum wird dann entscheidend, wenn man den Blick nach Europa gleiten lässt. Nicht das Erstarken einer sozialen und politischen Bewegung gilt hier als Ausgangspunkt der Multikulturalismusdebatte, vielmehr hat sich der Multikulturalismus als Reaktion auf die Migrationsströme von außerhalb Europas in die mehrheitlich weißen und christlichen Staaten Europas entwickelt. Somit lag die Immigration nicht als historischer Fakt und als Tradition bereits in dem Maß vor, dass die Frage nach der Anerkennung der Gruppendifferenzen im demokratischen System im Vordergrund gestanden hätte. Vielmehr muss in Europa von einem verengten Multikulturalismus und einem „post-immigration phenomenon“ (Modood 2007: 3) gesprochen werden. Die Bewegungen in Nordamerika sind als breit angelegter Multikulturalismus zu betrachten (vgl. ebd.: 2–3).22 Die Verengung zeigt sich im Falle Deutschlands gerade daran, dass der Multikulturalismus fast ausschließlich mit Migration assoziiert wird und bereits a priori ein Konfliktpotenzial mit sich bringt.23 Eine umfassende kritische Reflexion der postmodernen Verhältnisse in westlichen Demokratien wird weitgehend ausgeblendet. Multikulturalismus benutzt man im deutschen Kontext oft, um ein verzerrtes Bild der ‚Wirklichkeit‘ aus der Perspektive einer bestimmten Gruppe zu geben (vgl. Neubert 2013: 22–23). Sabine Strasser merkt darüber hinaus an, dass der Multikulturalismus sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf politischer Ebene in Europa immer mehr in Misskredit geraten ist. Terroristische Gewaltakte und spürbare gesellschaftliche

The Complex Effects of School Racial Composition on Achievement, in: Journal of Labor Economics, Vol. 27/No. 3, 2009, S. 349–383. 21Für eine genauere Definition und Abgrenzung siehe: Kellough, Edward J.: Understanding affirmative action: politics, discrimination, and the search for justice, Washington 2006. 22Hierbei erweist sich zum Verständnis auch der temporäre Blick als aufschlussreich: In Europa wird der Multikulturalismus als akute Reaktion auf kurzfristigen Zuzug bewertet. In Nordamerika hingegen als Tradition einer multiethnischen Zusammensetzung der Gesellschaft. 23In Deutschland wird gerne das Bild suggeriert, die Gesellschaft wäre traditionell homogen aufgebaut gewesen, bis ein massiver, nicht gewollter Zuzug stattgefunden hat. In Wirklichkeit kann bereits die deutsche Nachkriegsgesellschaft als multikulturell bzw. multiethnisch eingeordnet werden. Durch dieses Heraufbeschwören einer historisch nicht haltbaren Homogenitätsidee wird erneut der Unterschied zum nordamerikanischen Kontext deutlich.

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Teilung werden mit dem Begriff in Verbindung gebracht und zu Teilen wird er auch als Grund dafür genannt (vgl. Strasser 2010: 342).24 An dieser Stelle soll exkursorisch noch Frankreich als gesondertes Beispiel angesprochen werden. Ähnlich wie Großbritannien blickt das Land auf eine starke weltpolitische Rolle während der Kolonialzeit zurück und ist dadurch bedingt auch in der Moderne ein Hauptziel der Migrationsströme, vor allem aus den ehemalig französisch besetzten Gebieten. Frankreich sah sich also früh mit dem Fakt der kulturellen Differenz konfrontiert. Die Besonderheit besteht darin, dass mit Alain Finkelkraut25, Pierre Bourdieu26 und Slavoj Žižek27 ab den 1980er Jahren eine Reihe einflussreicher Denker massive – wenn auch polemisch vorgebrachte – Kritik am Multikulturalismus übten (vgl. Neubert 2013: 25). Besonders der polnisch stämmige Finkielkraut zeichnet ein düsteres Bild der Gegenwartsgesellschaft und nimmt eine sehr drastische Haltung ein. Der Multikulturalismus symbolisiert für ihn eine chaotische Atmosphäre des Durcheinanders. Ganz im

24Gerade

der Rechtspopulismus zieht stets den Multikulturalismus als Begründung heran, warum gesellschaftlicher Zusammenhalt und gemeinsame Werte abhandengekommen seien. Der umstrittene russische Philosoph Alexander Dugin und Wortführer der europäischen rechten Intelligenz bezeichnet den Multikulturalismus sogar als Trojanisches Pferd des Kapitalismus. Siehe den Kommentar dazu unter: Assheuer, Thomas: Die Konterrevolution, in: ZeitOnline, 24. Februar 2016, online abrufbar unter: http://www.zeit. de/2016/07/rechtpopulismus-pegida-parteien-europa-erfolg [30.01.2018]. 25Das zentrale Buch Finkielkrauts, das sich mit dem französischen nationalen Identitätsdiskurs befasst, erschien 1999 unter dem Titel „L‘ingratitude. Conversation sur notre temps“. Auf deutsch war zunächst ein Erscheinen unter dem Titel „Der eingebildete Kosmopolit. Über die Tyrannei der neuen Superelite“ im Klettverlag geplant, wurde damit jedoch nie aufgelegt. 2001 erschien das Buch im Ullsteinverlag: Finkielkraut, Alain: Die Undankbarkeit. Gedanken über unsere Zeit, Berlin 2001. 26Bourdieu kritisiert im Multikulturalismusdiskurs, dass die Begründungen für Exklusion von Minderheiten oft eine symbolische Gewalt in sich trügen, die die Ausgeschlossenen annähmen, weil der offizielle Diskurs von den Ausschließenden geführt wird, die damit ein Monopol erzeugten. Siehe dazu: Bourdieu, Pierre: Pascalian meditations, Standford 2000. 27Žižek hinterfragt, warum die Probleme der Moderne immer als Problem der Intoleranz betrachtet werden und nicht der Ungleichheit. Die Antwort ist nach ihm im Grundsatz der Ideologie des liberalen Multikulturalismus zu finden. Politische Unterschiede werden zu kulturellen Unterschieden naturalisiert – beispielsweise politische Ungleichheit oder ökonomische Ausbeutung. Er bezeichnet dies als Kulturalisierung der Politik. Diese natürlichen kulturellen Unterschiede können damit nur hingenommen, also akzeptiert werden. Siehe dazu: Žižek, Slavoj: Multiculturalism, or the cultural logic of multinational capitalism, in: New Left Review, Vol. 0/No. 225, 1997, S. 28–51.

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Verständnis des jakobinischen Integrationsmodells stehen für ihn in Frankreich der republikanische Staatsbürgeruniversalismus und der Erhalt der nationalen Kultur im Mittelpunkt. Er möchte nicht als konservativer Hardliner und Outsider wahrgenommen werden, jedoch die multikulturelle Euphorie eindämmen (vgl. Hanimann 2009). Die Kritik von französischer Seite ist darüber hinaus interessant, da sie den Multikulturalismus auch auf ökonomischer und ethnischer Ebene angreift: Die Verherrlichung von Differenz und Anerkennung, die der Multikulturalismus für jene postuliert, sei im Grunde nur ein weiterer Schritt des Kapitalismus auf dem Weg, die Ökonomie von der Politik abzutrennen und eine neue Form des Rassismus entstehen zu lassen (vgl. Neubert 2013: 25).28 Der hier etablierte Überblick über Begriffsgeschichte und Semantik des Multikulturalismus hat gezeigt, dass der heute nahezu inflationäre Gebrauch des Begriffs nicht ohne Kontext betrachtet werden darf. Der Kontext kann eben diskursorisch oder länderspezifisch sein. Diese Erkenntnis wird in einem Zitat Søren Kierkegaards nochmals deutlich: „Die Begriffe haben nämlich ebenso wie die Individuen ihre Geschichte und vermögen ebenso wenig wie diese, der Gewalt der Zeit zu widerstehen.“ (Kierkegaard 1961: 7) Die Einschränkung, die Kierkegaard im Anschluss vornimmt, soll der Ausgangspunkt für die weitere Analyse sein, wenn im nächsten Schritt der Kulturbegriff herausgearbeitet wird, der dem theoretischen Multikulturalismus zugrunde liegt und auf den alle Spielarten zurückgreifen: „[A]ber bei alle dem und mit alledem behalten sie gleichwohl eine Art Heimweh nach ihrer Geburtsstätte.“ (Ebd.: 7)

1.4 Kulturbegriff 1.4.1 Kultur und Differenz Mit der angesprochenen „Geburtsstätte“ wird auf das verwiesen, was die vielfältigen Ausprägungen des multikulturellen Ansatzes miteinander eint und sozusagen ihren gemeinsamen Nenner ausmacht: Auf den Kulturbegriff. Der erste Schritt zeigt, welches das Basisvokabular ist, mit dem Multikulturalisten hantieren. Darüber hinaus soll der Bezug zu Herders Kulturverständnis hergestellt und dessen Wirkkraft auf die moderne Multikulturalismusdebatte dargestellt werden.

28Siehe

dazu ebenfalls: Žižek, Slavoj: Multiculturalism, or the cultural logic of multinational capitalism, in: New Left Review, Vol. 0/No. 225, 1997, S. 28–51.

140

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Laut Andreas Reckwitz gründet sich der Multikulturalismus auf einem totalitätsorientierten Kulturbegriff29, der davon ausgeht, dass mehrere Kulturen existieren, die sich durch ihre jeweiligen homogenen Lebensformen abgrenzen lassen. Es findet eine deutliche Unterscheidung zwischen der eigenen und der fremden Lebensform statt. Der Einzelne gehört also einer sozialen Gemeinschaft an, die ein gemeinsames Sinnsystem aufweist, an dem jedes Individuum30 der Gemeinschaft teilnimmt. Damit ist die Grundannahme des Kulturmodells des Multikulturalismus, dass eine Vielzahl von Kulturen und sozialer Kollektive überschneidungsfrei nebeneinander existieren (vgl. Reckwitz 2001: 186). Anton Pelinka hebt die ethnische Begründung des Kulturbegriffs im Multikulturalismus hervor. Grundsätzlich ist der Anspruch des multikulturellen Ansatzes, zwischen den einzelnen Kulturen zu vermitteln und ein harmonisches, funktionierendes Miteinander herzustellen. Für den Brückenschlag bildet jedoch die Differenz zwischen den Kulturen die Grundlage und muss in der multikulturellen Logik auch weiter erhalten bleiben, um in sich konsistent zu sein. Das zentrale Merkmal des Multikulturalismus ist somit das Betonen von Differenz. Er wird jedoch der Gefahr ausgeliefert, seinen Begriff von Kultur zu verengen und zu simplifizieren, wenn sich dieses Betonen von Differenz allein auf das Ethnische fokussiert. Jene verbindet sich dabei aufs engste mit der Herkunft. Kultur als Form gemeinsamer Ethnizität lässt den Anschein einer Stabilität aufkommen, die die jeweilige Zugehörigkeit je nach Herkunft als natürlich und gegeben erscheinen lässt. Die Herkunft wird, wie auch die Faktoren Alter

29Im

Gegensatz dazu bezieht sich der bedeutungsorientierte Ansatz darauf, dass Kultur als ein Komplex erfasst wird, der sich aus Praktiken verschiedener sozialer Ordnungen zusammensetzt und mehrere nicht messbare Sinnhorizonte umfassen kann. Dies steht der Auffassung der totalitätsorientierten Sichtweise von einem gemeinsamen Sinnsystem des zugehörigen Kollektivs des jeweiligen Subjekts entgegen (vgl. Reckwitz 2001: 187). Es wird deutlich, dass der bedeutungsorientierte Kulturbegriff die Variablen Individuum, Kollektiv und Kultur kennt. Kollektiv und Kultur sind im Gegensatz zur totalitätsorientierten Sichtweise aber voneinander entkoppelt. Diese Variablen stehen bei dem bedeutungsorientierten Kulturbegriff in einem Verhältnis von kulturellen Interferenzen. 30Wie gezeigt sind sowohl der totalitäts- als auch der bedeutungsorientierte Kulturbegriff von einem modernen Verständnis von Individuum geprägt. Siehe zu der Entwicklung von individueller und bürgerlicher Freiheit unter den Bedingungen der Moderne: Herb, Karlfriedrich: Triumph des Individuums – Ende des Bürgers? Constant über die Freiheit der Moderne, in: Oliver, Lembcke/Florian, Weber (Hrsg.): Republikanischer Liberalismus. Benjamin Constants Staatsverständnis, Baden-Baden 2013, S. 25–41; Herb: Karlfriedrich: Bürgerliche Freiheit. Politische Philosophie von Hobbes bis Constant, München 1999.

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und Geschlecht, als natürliche Differenz eingeordnet, die politisch nicht verhandel- und beeinflussbar ist. Die Tendenz hin zu einem starren Kulturbegriff ist hier gegeben (vgl. Pelinka 2001: 154–156). Die Analyse hat bisher gezeigt, dass Multikulturalismus stets aus theoretischer und praktischer Perspektive beleuchtet werden muss. So weicht die faktische Komponente im Diskurs die theoretisch stark homogene Denkweise auf. Die grundsätzliche Akzeptanz von Minderheiten in einer Gesellschaft, ohne jenen einen Assimilationsdruck aufzuerlegen, hat gezeigt, dass prinzipiell die verschiedenen Kulturen als gleich angesehen werden. Damit löst sich der Multikulturalismus von seiner starren Auslegung. Gleichzeitig wird dadurch eine kulturrelativistische Position eingenommen. (vgl. Scheer 2012: 83) Vor der genaueren Analyse, inwiefern der aufgezeigte Kulturbegriff des Multikulturalismus auf der Herder’schen Auffassung von Kultur aufbaut und in welcher Form sich die Multikulturalismusdebatte damit in die Universalismus- und Partikularismuskontroverse einbettet, ist es noch geboten, den Aspekt der Kultur als Seismograph für Machtverhältnisse und den Zusammenhang von Kultur und Rasse zu beleuchten. Die kulturrelativistische Annahme des Multikulturalismus, dass alle Kulturen durch ihren unanfechtbaren Eigenwert gleichwertig nebeneinander existieren, produziert aber auch eine blinde Stelle. Es steht der Vorwurf im Raum, dass Kultur als ideologischer Begriff missbraucht wird, um faktische Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu kaschieren. Der Verweis auf die spezifische Eigenart der Kulturen und damit ihre Eigenständigkeit lässt völlig außer Acht, welche faktischen sozio-ökonomischen Bedingungen zu dem Unterschied zwischen den Lebensweisen geführt haben (vgl. ebd.: 83). Das Ausmaß, in dem Kulturen in ihrem Machtpotenzial voneinander divergieren können, kann denkbar weit gefasst werden. Je nach Machtbalance gestaltet sich das Erzielen eines Miteinanders derselben unterschiedlich schwierig. Dadurch wird deutlich, dass eine multikulturelle Gesellschaft nicht nur auf der moralischen, intrinsischen Bereitschaft ihrer einzelnen Mitglieder zum Miteinander beruht. Vielmehr sind es politische, soziale, ökonomische sowie historische Voraussetzungen, die eine Ungleichheit oder relative Gleichheit im Zusammenleben erzeugen und auch machtpolitisch gelenkt werden können (vgl. Pelinka 2001: 153). Darüber hinaus führt ein zu kulturrelativistischer und auch essentialistischer Ansatz innerhalb des Multikulturalismus möglicherweise dazu, dass die Rekonstruktion und Erhaltung kultureller Eigenwerte so stark dominieren, dass die Option der Integration völlig ausgeblendet wird und somit auch aus dem Fokus der politischen Maßnahmen rückt (vgl. Scheer 2012: 83). Durch das Gewähren von Räumen für Einzelkulturen erweitert sich der Handlungsspielraum einer Gesellschaft um weitere

142

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Optionen. Dies ist mit Folgen sowohl auf der persönlichen Mikroebene als auch für das politische Programm verbunden: Die ‚vollständige Integration‘ in eine Gemeinschaft ist ersetzt worden durch eine Mehrzahl von begrenzten Mitgliedschaften in unterschiedlichen Teilsystemen. Die funktionelle Differenzierung verändert damit zwangsläufig auch das Möglichkeitsund Aufgabenspektrum persönlicher Beziehungen sowie die Bedingungen ihrer strukturellen Ordnung. (Neubert 2013: 15)

Das Phänomen Integration verkörpert für den multikulturellen Ansatz zugleich ein Dilemma: Wie beschrieben, kann ein kulturrelativistischer Ansatz, der zudem nicht an einem Gleichgewicht der Kulturen interessiert ist, dazu führen, dass ein Ungleichgewicht und somit die Minorisierung oder sogar Ghettoisierung benachteiligter Gruppen die Konsequenz ist. Dabei stellt die Integration das zu vermeidende Ziel dar. Im Falle eines Machtarrangements, das auf das Gleichgewicht der Kulturen ausgerichtet ist und die Unterschiede zwischen den einzelnen Beteiligten reduzieren möchte, tritt der Gegensatz zum kulturrelativistischen Ansatz zutage: Das Ziel ist hier langfristig die Integration der Kulturen. Der hierbei stattfindende Abbau von Differenz und die damit allmählich verbundene Folge, dass der Multikulturalismus beginnt, sich selbst aufzulösen, weil die Differenz als sein Fundament obsolet wird, bringt die Gefahr mit sich, dass multikulturelle Maßnahmen politisch nicht umfassend umgesetzt werden. Als Konsequenz daraus entsteht die Möglichkeit, für eine neue Form der Kultur, sich herauszubilden, die sich von den alten Machtverhältnissen, bestehend aus einer dominierenden Trägerkultur und den Subkulturen, abhebt und die vormals politische Klarheit der Verhältnisse aufhebt (vgl. Pelinka 2001: 158–161). Insgesamt muss bei der Betrachtung des multikulturellen Kulturbegriffs beachtet werden, dass der Begriff Kultur nicht dazu vorgesehen ist, die Wirklichkeit kultureller Differenzen zu überlagern oder zu verzerren. Wie bereits angesprochen, ist aber gerade die Reduzierung des Begriffs Kultur auf Ethnizität und somit Herkunft besonders bedenklich, da andere Faktoren, wie beispielsweise Geschlecht oder Religion mit ihrem starken Einfluss auf die Ausbildung kultureller Identität ausgeblendet werden – in der Praxis aber deutlich als Grund für Konflikte auszumachen sind. In modernen heterogenen Gesellschaften hat sich die Gewichtung dahingehend verschoben, dass Differenz nicht mehr ausschließlich über den Faktor Kultur erfahren wird. Das Erfahren von Differenz erfolgt oft in der Wahrnehmung von Machtstrukturen. Der Machtkampf bezieht sich dabei auf Normalisierungsstrategien, also auf die Art und Weise, wie mit veränderten gesellschaftlichen

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Umständen umgegangen wird und welche Regeln als grundlegend gelten sollen. Hierbei sind natürlich wiederum kulturelle Praktiken betroffen, die im Machtgefüge jeweils einen hohen Stellenwert einnehmen, toleriert oder ausgeklammert werden können (vgl. Scheer 2012: 85).31

1.4.2 Kultur und Rasse An dieser Stelle ist hervorzuheben, welchen kulturstiftenden Einfluss der Faktor Rasse auf die Identität Einzelner, Gruppen und Gesellschaften hat und in welchem Verhältnis er innerhalb des Multikulturalismus zum Kulturbegriff steht. Dazu muss zunächst eine Grundunterscheidung getroffen werden, wenn im Weiteren von Rasse und Rassismus gesprochen wird. Der Begriff der Rasse ist wissenschaftlich nicht haltbar. Es gibt keine biologische Begründung für diese Art der Unterscheidung von Menschen. Der Rassismus hingegen ist ein in den Sozialwissenschaften begründetes und auch notwendiges Konzept, das bestimmte Funktionen einnimmt. Wichtig ist zu erkennen, dass es das Konzept des Rassismus ist, welches den Begriff der Rasse erst erzeugt (vgl. Pelinka 2001: 155). In Bezug auf den Multikulturalismus erscheint es notwendig, zu hinterfragen, welche funktionale Rolle Rasse einnimmt und welche Parallelen zum Begriff Kultur bestehen. Wie bereits mehrfach erwähnt, steht der Multikulturalismus der Gefahr einer zu forcierten Ethnisierung gegenüber. Diese ist eng mit einem Kulturrelativismus verbunden, der auf alle sozialen Bereiche übergreift und auch dort auf ethnischer Grundlage Unterschiede begründet. Wenn in diesem Zusammenhang Kultur dazu instrumentalisiert wird, um faktisch dieselben Differenzierungen vorzunehmen wie der biologische Rassismus, nur ohne einen

31Ein

Ansatz, wie Differenz machtpolitisch erklärbar ist, wird beispielsweise mit dem Postkolonialismus dargestellt. Der Begriff postkolonial kann zunächst als Begriff zur Periodisierung der Phase nach der Dekolonialisierung verwendet werden. Er kann im postmodernen Kontext aber auch mit erhaltenen kolonialen oder neokolonialen Machtstrukturen in Verbindung stehen. Postkolonialismus drückt ein Oppositionsverhältnis aus: [G]egen Kolonialismus – und somit die kritische Auseinandersetzung mit Rollenbildern und Machtstrukturen (verstanden als eine komplexe Matrix von Macht und Machtlosigkeit, Zentrum und Peripherie, Herrschenden und Beherrschten; sowie ökonomische, kulturelle und politische Beziehungen zwischen Nationen, Ethnien, Kulturen), die ihren Ursprung im Kolonialismus haben und bis heute fortwirken. (Assmann 2014) Die prominentesten Vertreter und ihre Werke sind: Said, Edward: Orientalism, New York 1978; Spivak, Gayatri C.: Can the Subaltern Speak? in: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hrsg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Illinois 1988, S. 271–314; Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London 1994.

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begrifflichen Verweis auf Rasse, so entsteht ein kulturalistisch argumentierender Rassismus. Dieser zeigt sich vor allem dadurch, dass die einzelnen Kulturen als unvereinbar gelten und eine Vermischung ausgeschlossen wird. Kultureller Rassismus geht somit aus einem statischen Kulturbegriff hervor, der Kultur als eine geschlossene Identität ansieht (vgl. Bade 1996: 14). Es ist folglich ein ethnisch begründetes Kulturverständnis, das Rassismus und Kulturalismus verbindet. Wenn außer der ethnischen Begründung keine weiteren Faktoren wie Alter, Geschlecht, soziale Schicht oder weitere eine funktionale Rolle für die Definition von Kultur haben, so rücken auch Kultur und Rasse als Erzeugnisse der Konzepte nahe zusammen und werden kaum unterscheidbar (vgl. Pelinka 2001: 155–156). Im Falle des Multikulturalismus kann von einer Ideologie gesprochen werden, die den Einzelnen vor allem in seiner Rolle als Mitglied eines Kollektivs sieht und hierbei wiederum ist dieses ethnisch bestimmt. In dieser Denkstruktur wird auch von einer nach Ethnien unterscheidenden Realität vorausgesetzt, dass Kriterien erarbeitet werden müssen, um eine Gleichheit, beziehungsweise Ausgewogenheit in deren Verhältnis herzustellen. Was den Multikulturalismus an dieser Stelle mit dem Multirassismus vereint, ist die kollektive Basis, über die er die einzelnen Menschen erfasst – einmal unter dem Kriterium der Ethnie und einmal unter dem der Rasse. Beide Ansätze erzeugen das Bild eines Mosaiks, das alle Teile beinhaltet, aber deutlich auf ihre Separation bedacht ist (vgl. Delafenetre 2007: 95–96).32 Das grundlegende Verständnis von Kultur im Multikulturalismus wurde bereits dargestellt: Kultur wird als homogene Einheit wahrgenommen, die jedoch in einer Vielzahl und in verschiedenen Formen vorliegen kann. Im kulturrelativistischen Sinne ist es möglich, dass eine ganze Palette von Kulturen und sozialer Kollektive überschneidungsfrei nebeneinander existiert. Wenn Multikulturalismus die Einheit und Einzigartigkeit der verschiedenen Kulturen allein über das Merkmal Herkunft definiert, ist er in seiner Differenzierung

32Die

Vorstellung eines strukturellen gesellschaftlichen Systems, welches die Menschen nach dem Merkmal der Rasse kategorisiert, ist im 21. Jahrhundert und nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts nicht mehr denkbar und erscheint dubios. Kritiker geben aus dieser Logik heraus zu bedenken, wie ein Multikulturalismus, der durch das Kriterium der Ethnie eine Politik von Minderheiten- und Kollektivrechten einfordert, mit dem Modell einer liberalen Demokratie vereinbar sein kann. Siehe dazu: Delafenetre, David G.: Interculturalism, multiracialism and transculturalism: Australian and Canadian experiences in the 1990s, in: Nationalism and ethnic politics, Band1, Heft 3, Philadelphia 2007, S. 89–110, S. 96.

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eindimensional. Konzeptionell unterscheidet er sich dann nicht mehr vom Rassismus (vgl. Pelinka 2001: 156). Auch wenn die Gefahr einer konzeptionellen Engführung beim Multikulturalismus besteht, bleibt zu beachten, dass er eine pluralistische und tolerante Variante des Kulturalismus darstellt und seine Intentionen nicht rassistisch sind. Er basiert zwar grundlegend auf der Differenz von Kulturen, geht aber über die vereinfachte Unterscheidung des Rassismus nach Hautfarben hinaus. Auch erweitert der Multikulturalismus sein Spektrum an kultureller Differenz, wenn er Unterschiede nicht nur sozio-­ ökonomisch begründet. Die Idee des Ausgleichs, eines Gleichgewichts betrifft in der Konzeption des Multikulturalismus gerade eben ein breitgefächertes Spektrum von ‚non-white‘ Kulturen und Minderheiten, die nach den großen, meist bewusst gesteuerten Migrationswellen, in eine Gesellschaft eintreten (vgl. Modood 2007: 15). Insgesamt wurde deutlich, dass der Multikulturalismus zum Ziel hat, Differenz einerseits zu betonen, gleichzeitig aber auch, die Vielfalt der Formen dieser Differenz hervorzuheben. Der grundsätzlich auf Einheit und Homogenität ausgerichtete Kulturbegriff unterstreicht die kulturrelativistische Sicht, dass jede Kultur in sich geschlossen anerkannt werden muss. Die genauere Analyse hat gezeigt, dass Rasse und Kultur funktionale Parallelen aufweisen. Beide Begriffe sind ein Weg, um Differenz zu fassen und auszudrücken. Und beide gehen dem Bedürfnis nach Ein- und Ausgrenzung nach, so dass jeweils eine Unterscheidung zwischen ‚in-group‘ und ‚out-group‘ möglich wird. Die Gefahr, Kultur einfach nur als politisch korrekten Begriff zu verwenden, obwohl die Logik von Rasse greift, besteht aufgrund des Kulturverständnisses. Diese Gefahr liegt dem Multikulturalismus aber nicht als Leitidee zugrunde. Zu zeigen bleibt, inwiefern bereits Johann Gottfried Herder diesen engen Begriff von Kultur geprägt hat und welche Funktion jener in Bezug auf kulturelle Differenz übernimmt und somit als Grundlage des Multikulturalismus gewertet werden kann.

1.4.3 Kultur und Herder Die Auseinandersetzung mit Herders Philosophie hat gezeigt, dass sich vor allem ein zentrales Merkmal durch seinen gesamten philosophischen Ansatz zieht: Die Mannigfaltigkeit. Darüber hinaus hat die Analyse im ersten Teil der Arbeit hervorgebracht: Herders Denken kann nicht frei von Widersprüchen und einer gewissen Unschärfe gesehen werden. Wenn man auf dieser grundlegenden Ebene bleibt und die zentralen Elemente des Multikulturalismus betonen will, sind es Begriffe wie Vielfalt und Mehrdeutigkeit, die ebenfalls ins Auge stechen. Der Multikulturalismus lebt von der Annahme der Existenz einer Vielfalt von Kulturen. Davon abgesehen hat die Betrachtung bisher deutlich gemacht, wie der

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Begriff des Multikulturalismus, sein theoretischer Zugang und die politischen Implikationen einer Mehrdeutigkeit unterliegen. Diese bezieht sich sowohl auf das Verständnis von Kultur als auch von Multiplizität. Das Zelebrieren der Vielgestaltigkeit kultureller Formen ist der Philosophie Herders ebenso bekannt wie dem Konzept des Multikulturalismus. Beide eint ihr stellenweise äquivoker Umgang mit Begrifflichkeiten, wie eben mit dem der Vielfalt. Die Analyse zum Herder’schen Kulturbegriff fiel im ersten Teil der Arbeit zunächst ernüchternd aus, da der Philosoph selbst keine explizite Definition liefert. Jedoch konnte sein extrahierter Begriff von Kultur – wobei unterstellt wird, dass die fehlende exakte Definition bei ihm ein gewähltes Mittel sei – herausgefiltert werden. Für den Denker, der sich in Opposition zu traditionellen aufklärerischen Ansätzen versteht, ist Kultur etwas Ganzheitliches. Als prägend erweist sich das Bild der Kugel, das er immer wieder zeichnet. Kultur wird als geschlossene Einheit verstanden, wobei der Einzelne in einen sozialen Verband eingebunden ist und sich mit diesem Kollektiv die Sinnesgrenzen teilt. Verkürzt auf seine dargestellte Anthropologie und das Verhältnis zur Natur blickend, ist es die Erziehung, die Herder dafür verantwortlich macht, dass soziale Systeme und somit Kultur funktionieren und erhalten bleiben. Er misst der Kultur sogar einen progressiven Charakter bei, jedoch nur was die interne Weiterentwicklung – wiederum durch Bildung und Erziehung – betrifft und nicht die an den Grenzen zu anderen Sinnsystemen. Ebenso zeigte sich, dass der Multikulturalismus mit einem totalitätsorientierten Ansatz operiert, wenn er auf Kultur blickt. Er definiert sie als ein Kollektiv mit homogener Lebensform. Auch hier kann eine direkte Parallele zwischen der Herder’schen Kulturphilosophie und dem kulturtheoretischen Ansatz des Multikulturalismus hergestellt werden. Jedoch bildet Herder mit seiner Philosophie, die über den Kulturbegriff hinausreicht, eine breitere Basis für das Verständnis des totalitätsorientierten Kulturbegriffs des Multikulturalismus. Wie dargestellt, ist es die Zurückführung seines Kulturverständnisses auf anthropologische Grundannahmen, die Charakterisierung des Menschen als Kulturwesen und ein organizistisches Geschichts- und Gesellschaftsbild, welche den Kulturbegriff untermauern und das Fundament für die multikulturelle Sichtweise bilden. In der Frage nach dem Umgang mit kultureller Differenz hat sich herauskristallisiert, dass für Herder die Stichworte Gleichwertigkeit und Vergleich zentralen Stellenwert einnehmen. Die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Kulturen und damit der sozialen Sinnsysteme sind die Voraussetzung für seine pluralistische Sichtweise. Ebenso ist der Vergleich der einzelnen Kulturen für ihn entscheidend, jedoch dadurch, dass er ihn ablehnt. Für beides liegt die Begründung in der Methodik der sogenannten Lebensalteranalogie. Über jene

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macht er klar, dass sich jede Kultur in einem spezifischen Stadium befindet, das von Klima und anderen Umwelteinflüssen extern mitbestimmt wird. Mit Glückseligkeit betitelt er das, was der Einzelne und das Kollektiv nur dadurch erreichen, indem sie sich ihre Kultur selbst schaffen und keinem Ideal einer statischen, beziehungsweise konstanten Menschennatur nachstreben. Auch der Multikulturalismus basiert auf der Annahme, dass Kulturen Zusammenschlüsse sozialer Systeme sind, die in einer Vielzahl vorliegen, jedoch überschneidungsfrei. Das multikulturelle Verständnis von Differenz fordert und fördert die kulturelle Selbstperzeption des Eigenen und des Fremden. Auch die tragende Idee des Brückenschlags, die dieses Weltbild antreibt, lebt von der Grundlage, um im Bild zu bleiben, dass beide Ufer gleichberechtigt sind, aber gleichzeitig die trennende Lücke konstant bestehen bleibt. Assimilation ist aus multikultureller Sicht nicht erstrebenswert, das wurde gezeigt. Damit geht das Betonen der Differenz einher und der Eigenwert einer jeden Kultur soll anerkannt werden. Hier liegt die direkte Verbindung zu Herder, der dieser Besinnung auf den Eigenwert wiederum die philosophische und anthropologische Begründung durch seine Lebensalteranalogie liefert. Es wird erneut deutlich, dass der Multikulturalismus mit (post-)modernen Begriffen hantiert, jedoch der Rückgriff auf Herder die Philosophie hinter dem Ansatz immer wieder erst unterfüttert. Die Untersuchung ist ausführlich auf die Frage eingegangen, ob Herder und seine Kulturtheorie als universalistisch oder partikularistisch eingeordnet werden sollen. Auch das Problem, ob man ihn als Kulturrelativisten bezeichnen könne, stand im Raum. Es wurde gezeigt, dass sich der Philosoph innerhalb dieser Antinomie zwischen Universalismus und Relativismus geschickt windet. Aus der Perspektive seiner Wirkungszeit erscheint er nahezu als revolutionärer Denker, der sich vom menschlichen Universalismus der Aufklärung und der Idealisierung des linearen Kulturfortschritts loslöst und beides sogar kritisiert. Die eindeutigen kulturrelativistischen Züge, nämlich dass Kultur nur aus sich selbst heraus verstanden werden könne und es keine kulturell übergreifenden, allgemeinen Maßstäbe geben dürfe, kommen bei Herder deutlich zum Tragen. Wie gezeigt, wird jedoch mit dem Humanitätsideal eine Lücke gefunden, die Mannigfaltigkeit durch Einheit – was die Menschen in Hinblick auf Erziehung betrifft – aufzuheben. Nicht selten wird ihm unterstellt, mit dem universalistischen Element des Humanitätsideals das davon zu galoppieren drohende Pferd des Kulturrelativismus im Zaum halten zu wollen. Dieses Angstgespenst einer zu relativistischen Perspektive auf Kultur kennt auch der multikulturelle Diskurs. Wie mehrfach erwähnt, ist es die eindimensionale Bestimmung von Differenz allein über das Merkmal der Herkunft, die als kritisch empfunden wird. Der kulturrelativistische Ansatz des Multikulturalismus scheint der Gefahr ausgeliefert,

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sein pluralistisches Denken durch eine zu stark ausgeprägte ethnische Fundierung zu verzerren und zu verkürzen. Die multikulturellen Merkmale, nämlich keinen Assimilationsdruck auszuüben und die Kulturen als geschlossene Einheiten zu sehen, die gleichwertig nebeneinander existieren, lassen das Konzept frei von Universalismus erscheinen. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch das Entspringen des Multikulturalismus aus einem rein westlichen Diskurs kritisch anzumerken. Die bisherige Analyse – vor allem auch die Aufarbeitung der semantischen Wurzeln – hat hervorgebracht, dass die literaturwissenschaftlichen Wurzeln der Begrifflichkeit der Multikulturalität sowie des Multikulturalismus ihre Ursprünge im nordamerikanischen Kontext um die Mitte des 20. Jahrhunderts haben. Auch in der Forschung wird zum Thema Multikulturalismus lediglich auf den Unterschied zwischen Nordamerika und Westeuropa eingegangen. Die bisherige Analyse hat ebenfalls gezeigt, wie Differenz im multikulturellen Zeitalter über Machstrukturen erfahrbar wird, die sich unter anderem in dem Verhältnis der verschiedenen Kulturen verdeutlicht. Die Diskrepanz zu Herder wird an dieser Stelle klar: Er bezieht Position als Universalismusgegner. Der Multikulturalismus und die Debatte über ihn stehen mit ihrer regionalen Verdichtung auf den nordamerikanischen und europäischen Kontext und dem gleichzeitigen Anspruch, eine allgemeine Erklärungs- und Lösungsoption für das Zusammenleben von verschiedenen Kulturen in einer Gesellschaft gefunden zu haben, der Herder’schen Grundposition entgegen. Der Eindruck würde täuschen, nähme man an, ein Relativismus im Herder’schen Sinne bestünde darin, dass jede Gesellschaft in der Theorie des Multikulturalismus ihr eigenes Machtgefüge zwischen den Kulturen ausbilde und eigene Maßnahmen zur Ausbalancierung oder Verstetigung festlege. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass damit wiederum ein westliches Konzept von Macht und Struktur für allgemein gültig festgelegt werden würde. Grundsätzlich ist aber zu erkennen, dass die Multikulturalismusdebatte genau wie Herders Gedanken von der Antinomie von Universalismus und Relativismus getrieben ist – aber durch sie auch fruchtbar befeuert wird. Die Definition von Kultur als etwas Geschlossenes, das überschneidungsfrei und ohne den Anspruch des Vergleichs neben anderen existiert, eint die beiden Ansätze. Darüber hinaus bietet sich der Bezug Herders auf den Multikulturalismusdiskurs an, da der Philosoph in einer Vorreiterrolle Pluralität nicht nur als Realität, sondern sogar als ein historisches Gesetz betrachtet. Die historisch gewachsene Pluralität kultureller Formen bildet bei ihm das Fundament für multikulturelle Theorie und Programme. Zudem bleibt die eine grundlegende Frage Herders offen, die bis in die Moderne Brisanz in sich trägt: Wenn keine universellen Werte gelten, was ist es, das eine Gesellschaft zusammenhält? Wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, erweist sich der Multikulturalismus als eine Strömung, die

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sich im Konfliktfeld von Liberalismus und Kommunitarismus entwickelt hat. Beide Strömungen und somit auch der Multikulturalismus sind auf der Suche nach dem Kitt, dem Element, das gerade eine moderne, komplexe und diversifizierte Gesellschaft benötigt, um zu bestehen. Ferner sind es Stimmen wie die eines Andreas Reckwitz und eines Georg Auernheimers, die Herder innerhalb der modernen Multikulturalismusdebatte als zentralen Dreh- und Angelpunkt aufrufen: Einerseits wird er als Prediger skizziert, dabei sowohl als Prediger einer gewissen Authentizität, beziehungsweise Selbstbezogenheit der jeweiligen Kultur und auch als Missionar der Vielfalt der dabei vorliegenden Formen (vgl. Auernheimer 2013: 171–172). Andererseits besteht Herders Rolle in der modernen multikulturellen Kulturforschung darin, dass er den Weg für eine empirische Analyse von Kultur geebnet hat, indem er die Messbarkeit von Kultur nicht an allgemeine Maßstäbe knüpft, sondern den Maßstab für die jeweilige Kultur auch nur aus in ihr selbst verankert sieht (vgl. Reckwitz 2001: 185). So ist das Wegbereiten Herders für den Multikulturalismus folgendermaßen zu verstehen: Sein totalitätsorientierter Kulturbegriff sieht eine Vielfalt vor, die sich als eine Multiplizität von homogenen Gemeinschaften versteht und damit die Begründung modernen multikulturellen Denkens begründet (vgl. ebd.: 186). In dieser Arbeit soll Herder nicht explizit als Gründungsvater des multikulturellen Denkens identifiziert oder für mögliche Verengungen und Missstände verantwortlich gemacht werden. Jedoch wurde aufgezeigt, dass die genaue Aufarbeitung seines Verständnisses kultureller Differenz manche undurchsichtigen Stellen des Multikulturalismus beleuchtet und dadurch philosophische Tiefe und ein breiteres Verständnis erlangen. Die Verortung der Theorie Herders und ihr Einfluss auf die Moderne ist kaum besser zu formulieren als folgt: Es wäre vermessen, in Herders Philosophie ein für die heutige Weltgesellschaft zukunftsweisendes Konzept hineinzuinterpretieren zu wollen. Ebenso verfehlt ist es aber, ihn nur als den Befürworter von Bodenständigkeit und als den Wegbereiter einer rückwärtsgewandten Romantik und eines engstirnigen Kulturalismus zu sehen. Man könnte ihn als einen kritischen Konservativen charakterisieren, der die destruktiven Tendenzen unserer Moderne frühzeitig registriert hat. (Auernheimer 2013: 173)

Eine Loslösung von Herder und seinem Kulturbegriff bedeutet im selben Zug aber auch eine Auflösung der multikulturellen Matrix. Die Alternativmodelle, die im Weiteren noch vorgestellt werden, sind gerade daran interessiert, sich vom totalitätsorientierten Kulturbegriff zu entkoppeln und ihn im Gegenteil sozialkonstruktivistisch auszulegen. Beginnend mit Herder und aufgegriffen von multikulturellen Theorien ist Kultur eng mit den Sinnsystemen einer Gemeinschaft

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verbunden und findet auch an deren Grenze ihre eigene. Wenn aber in einem weiteren Schritt dem einzelnen Subjekt zugestanden wird, an Sinnsystemen zu partizipieren, die außerhalb der traditionellen Gemeinschaft liegen, so löst sich die Kopplung von Kultur und – ethnischer, völkischer, nationaler – Gemeinschaft auf33 (vgl. Reckwitz 2001: 186–187). Die kritischen Alternativmodelle zum Multikulturalismus setzen genau an diesem Punkt an. Das spezifische Konzept der Transkulturalität wird anschließend im Mittelpunkt stehen und sich in Abgrenzung zur multikulturellen Auffassung kultureller Differenz innerhalb von Gesellschaften positionieren. Zudem tritt der bereits vorgestellte Denker Ludwig Wittgenstein an, um an den Grundfesten des totalitätsorientierten Kulturbegriffs zu rütteln und es bleibt zu zeigen, inwiefern er damit eine transkulturelle Basis geschaffen hat. Doch bevor es darum geht, die zentralen Strömungen herauszuarbeiten, die sich im Multikulturalismus entwickelt haben, gilt es, den analytischen Rückbezug zur Idee der mestiçagem herzustellen. Dazu wird aufgezeigt, welche Parallelen sich zwischen dem Multikulturalismus, seinem Kulturbegriff und dem brasilianischen Verständnis von Kultur – ausgedrückt in der Idee der mestiçagem – feststellen lassen. Es soll aber auch deutlich werden, an welchen Punkten die Idee und die Konzeption von Kultur voneinander abweichen.

1.5  Mestiçagem und der totalitätsorientierte Kulturbegriff An dieser Stelle soll gezeigt werden, wie sich die zu Beginn vorgestellte Idee der mestiçagem und das multikulturalistische Kulturkonzept zueinander verhalten. Obwohl die These der Arbeit darauf abzielt, zu analysieren, inwiefern die Idee der mestiçagem als transkulturell eingeordnet werden kann, so kristallisiert sich heraus, dass die transkulturelle Konzeption nicht ohne ihren multikulturellen Gegenspieler gedacht werden kann. Aufgrund dessen soll auch die Idee der

33Zu

Ende des 20. Jahrhunderts wird diese Abkoppelung von Kultur und Gesellschaft in den Sozialwissenschaften von zentraler Bedeutung. Der für die interkulturelle Forschung bedeutende Philosoph und Soziologe, Georg Simmel, spricht bereits Ende des 19. Jahrhunderts von der „Kreuzung sozialer Kreise“ und bettet sich damit in die modernen Sozialtheorien ein, die davon ausgehen, dass sich das Subjekt gleichzeitig in mehrere Wissensordnungen einfügt. Siehe dazu: Simmel, Georg: Über soziale Differenzierung. Soziologische und psychologische Untersuchungen, Leipzig 1890.

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mestiçagem in beiden Konzepten beleuchtet werden, um darauf aufbauend wiederum Rückschlüsse auf die eigentliche These herstellen zu können. Es ist zu beobachten, welche Parallelen zwischen Idee und Konzeption von Kultur zu sehen sind, jedoch werden die Punkte, an denen vor allem ein divergierender Kulturbegriff deutlich wird, von entscheidender Bedeutung sein. Zunächst zeigt der Überblick, dass der Multikulturalismus nicht auf Assimilation ausgelegt ist und keine mainstream-Kultur anstrebt, an die sich weitere Kulturen anpassen sollen. Ebenso fordert er keine Gleichheit der verschiedenen Kulturen, sondern vielmehr ein Gleichgewicht. Das funktionierende Miteinander steht im Zentrum. Er erkennt damit die Existenz unterschiedlich einflussreicher kultureller Gruppen an, was aber nicht zur Dominanz der stärksten führen muss. Bereits in Bezug auf Herder verdeutlicht, ist es der synkretische Charakter der Idee der mestiçagem, der sich als parallel sowohl zu Herders Ablehnung von Akkulturation als auch der im Falle des Multikulturalismus elementaren Ablehnung von Assimilation erweist. Weiter in dieser abwehrenden Haltung denkend, ist das Verständnis des Multikulturalismus – vor allem aus theoretischer Perspektive – als ein Gegenmodell zu Rassismus und Xenophobie auszumachen. Auch hier ist wiederum zu erkennen, dass auch die Idee der mestiçagem antritt, um sich gegen den durch die Rassentheorien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts transportierten Rassismus zu wehren. Jedoch muss an dieser Stelle bereits auf einen Kritikpunkt hingewiesen werden. Dem Multikulturalismus wird zum Vorwurf gemacht, er kaschiere durch seine ideologische Begrifflichkeit faktische Machtverhältnisse, die durchaus auf rassische beziehungsweise ethnische Unterschiede zurückgehen. Dies scheint an dieser Stelle von Bedeutung zu sein, da auch Freyre und seiner Idee der Vorwurf entgegengebracht wird, er löse sich zwar augenscheinlich von der Kategorie der Rasse mit der Hinwendung zur Kultur, habe aber damit die ungleichen Machstrukturen, die sich durch die Klasse ausdrücken, nicht im Blick. Vor allem die Darstellung, wie sich der Multikulturalismus in den USA entwickelt hat, machte klar, dass die geforderten Maßnahmen ein gewisses Selbstbewusstsein für die Pluralisierung erforderten. Noch mehr aber ließen diese Forderungen auch einen nationalen Glanz entstehen. Abgesehen von inhaltlichen Differenzen, bedeutet, wie gezeigt, auch die Idee der mestiçagem mit dem Werk von Gilberto Freyre für den Nationalisierungsprozess Brasiliens in den 1930er Jahren eine Glanzstunde. Somit haben die Idee und die Konzeption von Kultur gemeinsam, dass sie in einen politisch gewollten Prozess integriert sind, der zur Stärkung eines nationalen Einheitsgefühls beitragen soll. Darüber hinaus eint beide zudem der Vorwurf der Unschärfe und der breiten Auslegungsmöglichkeiten. Im Falle des Multikulturalismus wurde festgestellt, ist

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er trotz alle dem mehr als nur eine Situationsbewältigung. Er reflektiert aus einer neuen Perspektive das kulturelle Zusammenleben einer Gesellschaft. Wie festgestellt, bietet sich der Multikulturalismus als Systematisierungshilfe an, sei es in Form der Theorie oder des Programms. Bei Freyres Idee verhält es sich ähnlich, wenn ihm trotz des Vorwurfs, nicht wissenschaftlich korrekt zu arbeiten, eines zugutegehalten wird: Er löst sich von einer traditionell starken externen Perspektive auf Brasilien. Der Zugang über das Element der Hybridität, das in seiner Idee der mestiçagem dominiert, macht jene ebenfalls zu einer innovativen Hilfestellung, um real existierende kulturelle, rassische und gesellschaftliche Beziehungen in Brasilien neu zu bewerten. In beiden Fällen wird darauf abgezielt, am Ende der Neubewertung eine gewisse nationale Stärke hervortreten zu lassen. An dieses Argument der Parallelität schließt sich die Feststellung an, der Multikulturalismus stelle auch für die Theorie einen Wegbereiter dar, nämlich für die empirische Analyse von Kultur. Überblickend war es ebenfalls Freyre, der mit seiner methodischen Öffnung für die brasilianische Wissenschaft wegweißend war und sich von tradierten Mustern lossagte. Wenn er und die Idee der mestiçagem zwar, wie verdeutlicht, ab den 1960ern unter starken wissenschaftlichen Beschuss gerieten, gerade durch die Sozialwissenschaftler und deren empirische Ansätze, so ebnete er jedoch trotzdem den Pfad für diese Auseinandersetzung. Die aufgezeigten Parallelen zwischen der multikulturellen Konzeption von Kultur und der Idee der mestiçagem haben im Kern gezeigt, wie zwei theoretische Analysewerkzeuge einander gegenüberstehen, die sich beide gegen eine rassistische Perspektive stellen, um kulturell plurale Gesellschaften zu betrachten. Doch muss ebenfalls hervorgehoben werden, dass beide theoretischen Versuche dieser Neuordnung auch deutlich divergierende Punkte trennen. Grundsätzlich spricht sich der Multikulturalismus für eine Pluralität der Kulturen aus. Begriffshistorisch wurde deutlich, dass dieses Betonen der Vielfältigkeit im Falle des Multikulturalismus auf die lange Tradition der Einwanderung in den USA und Kanada zurückgeht, in den Ländern, in denen die Konzeption maßgeblich geprägt wurde. Im Falle der Idee der mestiçagem ist es eher der Hintergrund der Kolonialisierungsgeschichte Brasiliens, der für die Pluralität der Kulturen verantwortlich gemacht wird – Freyre wurde explizit vorgeworfen, dass er die Immigrationswellen seit dem 19. Jahrhundert nicht berücksichtigt. Als Parallele kann betrachtet werden, wie es externe Faktoren sind, die zu einer Pluralisierung der Gesellschaft geführt haben, also keine einheitliche Kultur als Ausgangspunkt genommen wird. Jedoch entsteht bei Freyre die Pluralität dadurch, dass sich der äußere Einfluss in einem inneren Zusammenfließen

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ausdrückt, wohingegen in der multikulturellen Konzeption lediglich eine Vervielfältigung der kulturellen Gruppen stattfindet. Ein weiterer grundlegender Unterschied besteht hinsichtlich des Diskurses, in den sich die beiden Beispiele einbetten. Der Multikulturalismus konnte als ein Phänomen der Globalisierung identifiziert werden. Er fügt sich also in einen westlichen Diskurs von modernen Einwanderungsgesellschaften ein, die wiederum westliche Werte, wie Menschenrechte, Egalität und Universalismus thematisieren. Die Idee der mestiçagem bleibt dagegen mehr im spezifischen Kontext Brasiliens verhaftet und versucht eben gegenteilig den aufoktroyierten westlichen Diskurs abzuschütteln und eigene Kategorien zu finden. Diese Differenz tritt zu Tage, wenn man die begriffsgeschichtliche Entwicklung in beiden Fällen kontrastiert und feststellt, dass sich die multikulturelle Konzeption vorwiegend im nordamerikanischen Raum konstituiert hat. Auch der Fokus auf unterschiedliche Auslegungen des Konzepts in Nordamerika und Westeuropa macht nur eine sehr periphere Rolle anderer Regionen und Einflüsse im Diskurs deutlich. Die Begriffshistorie betrachtend, wurde bei der Idee der mestiçagem klar, dass sie sich im spezifisch brasilianischen und lateinamerikanischen Kontext gebildet hat. Die Abgrenzung gegen Rassenideologien oder von der Ideologie des branqueamento verdeutlicht, wie sehr das genuin lateinamerikanische Phänomen der Vermischung der Kulturen, die seit der Kolonialzeit die Region prägen, im Vordergrund steht. Mit der Tendenz zur Aufwertung der indigenen und afrikanisch stämmigen Bevölkerung wendet man sich dezidiert von europäischen Idealen ab. Hinzukommt die normative Perspektive, die in der Theorie des Multikulturalismus ausgemacht wurde und der Idee der mestiçagem entgegensteht. Denn Freyres Idee enthält soweit keine normativen Handlungsanweisen und Forderungen, diese wurden erst in der Ideologie der democracia racial ausgemacht, die sich natürlich darauf beruft, aber nicht der Gegenstand der Untersuchung ist. Der Effekt, dass ein gewisser nationaler Glanz in beiden Fällen erzielt werden sollte, wurde bereits als Parallele identifiziert. Was jedoch zu bedenken bleibt, ist, wie der Multikulturalismus aber auch dafür eintritt, den Nationalstaat von einer einzelnen Nationalkultur loszulösen. Die Idee der mestiçagem möchte zwar ebenfalls verhindern, dass sich eine dominierende Rasse und damit auch Kultur durchsetzt und alle anderen Einflüsse zur Assimilation zwingt. Jedoch ist sie mit der Vorstellung verbunden, etwas Neues zu schaffen, das sich in seiner Hybridität von den vorherigen Kategorien abhebt, aber doch als neues Ganzes einheitsstiftend wirken soll. Deswegen besteht an dieser Stelle zwischen Nationalstaat und Nationalkultur trotz hybrider Weiterentwicklung noch weiter eine starke Bindung.

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Damit verbunden ist die zentrale Angst des Multikulturalismus, mit dem Abbau der Differenz könne das Fundament einer multikulturellen Ordnung verloren gehen und eine Form von Kultur entstehen. Somit besteht der größte Gegensatz darin, dass die mestiçagem darauf abzielt, etwas Neues hervorzubringen und zum nationalen Symbol zu erheben und der Multikulturalismus im Gegensatz genau darin seine größte Bedrohung und die nationale Einheit gefährdet sieht. Die Differenz ist für den Multikulturalismus somit eine nötige Erfahrung, um Machtstrukturen auszumachen und ins Gleichgewicht zu bringen. Für die Idee der mestiçagem ist es von Bedeutung, die Differenzen aufzulösen, indem sie in etwas neuem Gemeinsamem zusammenfließen. Dabei kehrt sich erneut die konträre Grundannahme der beiden Beispiele hinsichtlich der Pluralität heraus: Der Multikulturalismus postuliert eine Vielzahl verschiedener, aber überschneidungsfreier Kulturen, wohingegen die Idee der mestiçagem von dem hybriden Gedanken der Vermischung geleitet ist. Der für den Multikulturalismus als totalitätsorientiert festgestellte Kulturbegriff weist ein eher geschlossenes Bild von Kultur auf und gibt damit Anstoß für vielerlei Kritikpunkte, die im Anschluss auch noch vorgestellt und diskutiert werden sollen. Auch die Alternativmodelle, die sich abgrenzend davon ausgebildet haben, werden noch dargestellt. Die Idee der mestiçagem und ihre teils konträren Grundannahmen betten sich damit in diesen nach Alternativen suchenden Kontext ein und stellen den Link zur transkulturellen Konzeption dar. Jedoch geht es im nächsten Abschnitt zunächst darum, die zwei starken Positionen innerhalb des Multikulturalismus darzustellen, an denen sich auch zusätzlich zum Kulturbegriff die Kritik entzündet und an welchen die Alternativmodelle andocken.

1.6 Strömungen und Positionen Der Universalismus als Antagonist – bereits bei der Gegenüberstellung der beiden Philosophien Herders und Wittgensteins stand diese Annahme im Raum und wurde doch auf verschiedene Art wieder entschärft. Bei Herder konnte man deutlich erkennen, dass es trotz zunächst grundlegender Ablehnung universellen Denkens – vor allem Universalismus im Sinne einer aufgeklärten Weltkultur – sein Bestreben war, nationale Einheit trotz kultureller Vielfalt zu erzeugen. Auch mit der Analyse des Multikulturalismus zeigte sich bisher ganz klar. Er lehnt es ab, universale Maßstäbe an die einzelnen Kollektive anzulegen und möchte sie somit gleichwertig werden lassen. Der erneute Blick auf das Verhältnis zum großen Mitspieler Universalismus läutet auch den nächsten Schritt ein, nämlich

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die beiden zentralen Strömungen innerhalb des Multikulturalismus und ihre Position in der Universalismus-Partikularismusdebatte zu betrachten. Die Autoren Will Kymlicka und Charles Taylor wurden als Stellvertreter für verschiedene Auslegungen des multikulturellen Ansatzes bereits mehrfach erwähnt. Dies soll jetzt mit dem Vorwissen durch das bisher Aufgezeigte vertieft werden. Der kanadische Philosoph und Politikwissenschaftler Will Kymlicka bestimmt als zeitgenössischer Wissenschaftler maßgeblich die Diskussion um die klassische Form des Liberalismus ebenso wie den Umgang mit ethnischer Diversität innerhalb der westlichen liberal-demokratischen Rahmenordnung. Mit ihm treten die ethnischen Minderheiten und ihr Anspruch auf rechtlichen Schutz in den Mittelpunkt, da die im Liberalismus postulierte Gleichheit sonst verloren zu gehen droht (vgl. Maciel 2014: 284). Andreas Reckwitz sieht den Ansatz Kymlickas als einen Versuch der Universalismuserweiterung, da sich jener weiterhin im westlich dominierten Diskurs der liberalen Matrix bewegt, jedoch versucht, das Individuum in seiner kulturellen Diversität in diesem Rahmen zu erfassen und einzubinden (vgl. Reckwitz 2001: 181). Mit Charles Taylor betritt ein Politikwissenschaftler und Philosoph die multikulturelle Bühne, der den Begriff der Anerkennung34 im komplexen Zusammenhang des Verhältnisses von Minderheits- und Mehrheitskulturen prägte. Er identifiziert in den westlichen, liberalen Gesellschaften die Normen der Gerechtigkeit und des Respekts als universal geltend. Davon ausgehend, strebt er an, die partikularen kulturellen Anteile dieser westlichen kollektiven Lebensform sichtbar werden zu lassen (vgl. ebd.: 181). Es geht Taylor zwar nicht darum, den westlichen Werteuniversalismus aufzulösen, aber er möchte ihn aufweichen, öffnen und den realen ethnischen Verhältnissen anpassen – sozusagen eine Universalismusüberwindung erreichen.

34Aus

ideengeschichtlicher Perspektive tritt Hannah Arendt als Antagonistin in diesem Punkt hervor, wenn sie den Faktor der öffentlichen Anerkennung geradezu herabwürdigt. Dieses Verweigern der Bedeutung ergibt sich aus der von ihr angelegten neo-aristotelischen Trennung zwischen Öffentlichem und Privaten. Solange der Wettstreit um Anerkennung nur aus inneren Trieben heraus stattfindet, verbleibt die Forderung nach Anerkennung abseits des Öffentlichen. Karlfriedrich Herb gibt hierbei kritisch zu bedenken, dass Arendt mit ihrer Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit modernes Konfliktpotential in Bezug auf den Begriff der Freiheit bewusst umgeht. Herb merkt an, dass Arendt das Wesen des Politischen zwar auf dem gemeinsamen Handeln und Wettbewerb begründet sieht, jedoch der Kampf um Anerkennung – welcher sich bei Taylor und in multikulturellen Gesellschaften als zentrales Element herauskristallisiert – missachtet wird (vgl. Herb 2014: 28–29).

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Beide Denker hinterfragen die Verankerung von Minderheiten in modernen westlichen Demokratien. Ebenso bewegen sie sich innerhalb eines multikulturellen Selbstverständnisses, das vor allem auf einem gemeinsamen Kulturverständnis fußt, welches bereits allgemein für den Multikulturalismus als Strömung aufgezeigt wurde. Doch an welchen Punkten entstehen die spezifischen Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten zwischen liberalem und kommunitaristischem Ansatz? Im Folgenden wird gezeigt, dass es zum einen ausschlaggebend ist, wie Differenz gedacht wird: Sieht der liberale Multikulturalismus nach Kymlicka die individuelle Freiheit als höchstes Gut und damit die Differenz als einen externen Faktor außerhalb des Einzelnen, so verortet die kommunitaristische Strömung innerhalb des Multikulturalismus die Differenz intern, da das Individuum in einen starken sozialen Kontext eingebunden ist und somit die Gruppe die Macht besitzt, individuelle Freiheit zu begrenzen. Darüberhinaus tritt hierbei bereits der zweite Aspekt hervor, an dem sich die Ansätze trennen: Es ist eben diese Gemeinschaft und soziale Einbindung, die der Kommunitarismus wiederzubeleben versucht.35 Im Gegensatz dazu hat Gemeinschaft im liberalen Denken keinen tatsächlichen oder etablierten, sondern vielmehr einen mythischen Charakter. Es geht dem liberalen Ansatz weniger darum, das Individuum vollkommen einzubinden, als es vielmehr als Mitglied in verschiedenen Teilsystemen zu sehen (vgl. Neubert 2013: 10–13). Trotz der Vorwegnahme der Grundunterscheidung ist es an dieser Stelle notwendig, zu analysieren, wie die beiden Ansätze vor dem Hintergrund der Antagonie von Partikularismus und Universalismus Kultur als Faktor nutzen, um im Verhältnis von dominierenden und dominierten Gruppen in einer Gesellschaft Gleichheit zu erzeugen.

1.6.1 Der liberale Multikulturalismus Zunächst soll hervorgehoben werden, warum mit Kymlicka der Liberalismus im Multikulturalismusdiskurs eine zentrale Bedeutung einnimmt. Den Referenzrahmen bildet die moderne liberale Ordnung eines Staates, in der jedem Individuum die Möglichkeit bereitgestellt werden muss, seine Freiheitsrechte ausüben zu können. Eine weitere Besonderheit dieser Form des Multikulturalismus ist es, gruppenspezifische Minderheitenrechte in dieser liberalen Ordnung zu verankern (vgl. Maciel 2014: 383). Kymlicka selbst merkt an, „that we were

35Kommunitaristen verstehen sich vor allem als Modernisierungsgegner, die die kontinuierliche Entbindung des Individuums von seinem sozialen Kontext kritisieren und eine Wiedereinbettung anstreben (vgl. Neubert 2013: 11).

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witnessing a growing convergence within the Western democracies on the ideal of ‘liberal multiculturalism’“ (Kymlicka 2005: 82). In der Frage, wie kulturelle Diversität theoretisch erfasst werden kann, stellt der liberale Multikulturalismus heute den dominierenden öffentlichen Ansatz dar. Kymlicka löst die Frage nach theoretischer Methode über die Citizenship-Theorie36. Wie später gezeigt wird, setzt Charles Taylor mit seiner Theorie der Anerkennung37 an demselben Punkt wie sein vermeintlicher Gegenspieler Kymlicka an, nur mit einem erweiterten Konzept (vgl. Dhamoon 2006: 354). Ersterer begreift den liberalen Multikulturalismus als einen „process of democratic citizenisation“ (Kymlicka 2010: 100). Um diesen Prozess nachvollziehen zu können, bettet er den Multikulturalismus in eine Folge von Menschenrechtsrevolutionen des 20. Jahrhunderts ein.38 Er unterscheidet dabei drei Phasen: Zu Beginn den Weg hin zur Dekolonisation zwischen 1948 und 1965, anschließend die Bekämpfung von rassischer Segregation und Diskriminierung vor dem Hintergrund der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zwischen 1955 und 1965 und darüber hinaus den in den 1960ger Jahren aufflammenden Kampf um Multikulturalismus und Minderheitenrechte (vgl. ebd.: 100). Mit dieser Unterteilung des 20. Jahrhunderts in Wellen der Demokratisierung, welche deutliche Auswirkungen auf den Bürger und seinen Status besitzt, weist Kymlicka darauf hin, dass es primär um den Bruch mit alten Hierarchien geht, die er benennt mit: „[T]he relations of conqueror and conquered, coloniser and colonised, master and slave, settler and indiginous, racialised and unmarked, normalised and deviant, orthodox and heretic, civilised and primitive, ally and enemy.“ (Ebd.: 100) An dieser Stelle ist es wiederum von Bedeutung, darauf hinzuweisen, dass der Bezugspunkt Kymlickas allein die traditionellen westlichen Demokratien sind, insbesondere der nordamerikanische Kontext. Er stellt fest, der Siegeszug des Multikulturalismus von den 1970er bis in die Mitte der 1990er Jahre als boomender Trend in den westlichen Demokratien

36Siehe

Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship, Oxford 1995. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. 22012 38Hier wird auf seine Argumentation im Aufsatz „The rise an fall of multiculturalism“ zurückgegriffen (Kymlicka, Will: The rise and fall of multiculturalism? New debates on inclusion and accomodation in diverse societies, in: International Social Science Journal, Vol. 61/No. 199, 2010, S. 97–112). Eine vertiefte Darstellung zu dem Aspekt der Menschenrechtsrevolutionen des 20. Jahrhunderts in Verbindung mit der Diskussion um ethnische Diversität siehe: Kymlicka, Will: Multicultural odysseys: navigating the new international politics of diversity, Oxford 2007. 37Siehe

158

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würde identifiziert, jedoch immer noch vom jeweiligen nationalen Narrativ abhängen, welches auch über den möglichen Fall des Ansatzes entscheidet (vgl. ebd.: 97). Kymlicka deutet das 20. Jahrhunderts als das Jahrhundert des nation building39, wobei Sprache und Kultur dominierender Gruppen dem Rest der Bevölkerung übergestülpt wurden40 (vgl. Kymlicka 2007: 62). Der liberale Multikulturalismus muss als Reaktion auf diesen Prozess des nation building verstanden werden. Es geht um die Kritik an diesem Prozess, dem vorgeworfen wird, dem kulturellen Bestehen von Minderheiten entgegenzuwirken. Die besondere Protektion von Minderheiten im Sinne des liberalen Multikulturalismus soll ausgleichend zu den historischen Entwicklungen erfolgen (vgl. Maciel 2014: 385). Kymlicka bezeichnet mit „dialectic of nation-building and minority rights“ (Kymlicka 2001a: 49) das Verhältnis der kulturellen Verengung durch Nationenbildung und der Öffnung durch Minderheitenrechte. Dass die Aussagen des Philosophen in Bezug auf den liberalen Multikulturalismus als Standardposition gelten, wird von seiner zentralen und prägnanten These gestützt: Minderheiten müssen unter staatlichem Schutz stehen, um nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, aufgrund ihres kulturellen Status benachteiligt zu werden (vgl. Maciel 2014: 383). Allgemein entsteht der liberale Multikulturalismus in einem angespannten Klima: Westliche Demokratien sehen ihre Einheit durch zunehmende Differenz bedroht. Wie es später zu zeigen gilt, ist es Taylor, dessen Antwort darauf die Anerkennung als grundlegendes menschliches Bedürfnis ist. Doch zunächst sieht Kymlicka in seiner liberalen Denkweise die Selbsterkenntnis des Individuums als den Lösungsweg an41 (vgl. Dhamoon 2006: 358). „Kymlicka’s conceptual marriage of liberalism and multiculturalism“ (Herr 2007: 24) wurde

39Siehe

für grundlegende Literatur zu nation building: Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation, Frankfurt a. M. 2005; Fukuyama, Francis: Staaten Bauen. Die neue Herausforderung internationaler Politik, München 2004; Hobsbawm, Eric: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a. M. 1991. 40Neben Sprache und Kultur bezieht sich die Dominanz ebenfalls auf Elemente wie staatliche Symbolik, Rechtssystem oder Einwanderungspolitik, siehe dazu: Kymlicka, Will: Multicultural odysseys: Navigating the new international politics of diversity, Oxford 2007, S. 62–63. 41Dabei wird im gleichen Atemzug kritisch angemerkt, dass sowohl Taylor als auch Kymlicka nur darauf bedacht sind, einzelnen moralischen Werten Bedeutung zukommen zu lassen. Der Vorwurf besteht darin, dass beide Ansätze blind für die tatsächliche Art sind, wie soziale und politische Ordnungen bestimmt werden – nämlich vor allem durch Macht und nicht durch Moral. Siehe dazu: Dhamoon, Rita: Shifting from ‘Culture’ to ‘the Cultural’: Critical Theorizing of Identity/Difference Politics, in: Constellations,Vol. 13/No. 3, 2006, S. 354–373, S. 358.

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159

dadurch ermöglicht, dass die Individuen als frei, gleich und vor allem autonom betrachtet werden. Die liberale Matrix ist somit Teil des Multikulturalismus und ruft zur Autonomie auf, die das Individuum hin zum guten Leben führen und es befähigen soll, sich selbstständig in bestehenden Narrativen zu behaupten. Kultur ist im klassischen Liberalismus kein Bestandteil der Matrix und ihr steht kein eigener Wert zu. Kultur wird nur in Verbindung mit Autonomie betrachtet, da sie die Bedingungen schafft, um den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft Autonomie zu ermöglichen. Der Referenzpunkt besteht für Kymlicka nicht in den spezifischen kulturellen Praktiken, sondern vielmehr in der kulturellen Struktur, der „societal culture“ (Ebd.: 25). Die im liberalen Multikulturalismus zentralen Forderungen nach Freiheit und Autonomie jedes Individuums setzt nach Kymlicka die Eingebundenheit in eine sogenannte societal culture voraus. Diese besitzt jedoch keinen Eigenwert, sie ist mehr Hilfsmittel für den Einzelnen zur tatsächlichen Umsetzung, beziehungsweise zum Ausleben der individuellen Freiheit. Ein gemeinsames kulturelles Vokabular „provides its members with a meaningful way of life across the full range of human activities, including social, educational, religious, recreational, and economic life, encompassing both public and private spheres“ (Kymlicka 1995: 76). Brisanz erhält diese Verknüpfung von Autonomie und kultureller Eingebundenheit in Bezug auf Minderheiten und deren Status gegenüber der dominierenden Kultur. Denn im Rückschluss bedeutet der Ansatz Kymlickas, dass auch Angehörige von societal cultures, die nicht der nationalen Mehrheit entsprechen, nur dann autonom und frei über sich bestimmen können, wenn ihr eigene societal culture im westlichen Kontext zusätzlich bestehen kann. An dieser Stelle stößt ein zu eng gefasster Liberalismusentwurf an seine Grenzen. Grundsätzlich unterscheidet Kymlicka in der Debatte um Minderheiten zwischen zwei Formen: Zum einen spricht er von nationalen Minderheiten, die ein festes Territorium beanspruchen, sich aber in die für die fremdartige dominierende Kultur nicht eingliedern können und nicht zugehörig fühlen. Zum anderen führt er die Migranten an, die nicht nach regionaler Separation streben, sondern mehrheitlich freiwillig versucht sind, sich in die bestehende Kultur einzufügen (vgl. Herr 2007: 24–26).42 Auf dieser Grundlage unterscheidet Kymlicka zwischen

42Weiterführend

zu nationalen Minderheiten bei Kymlicka siehe: Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship, Oxford 1995, S. 10–13/30/79–80. Zur Vertiefung in Bezug auf polyethnische Rechte siehe: Kymlicka, Will: Politics in the Vernacular: Nationalism, Multiculturalism, and Citizenship, Oxford 2001b, S. 163–165 und Kymlicka, Will: Multicultural Citizenship, Oxford 1995, S. 31.

160

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gruppenspezifischen und polyethnischen Rechten. Erstere sollten den nationalen Minderheiten zugestanden werden, um ihre Unabhängigkeit und ihre eigenständige Kultur vor dem Einfluss der Mehrheit, die die staatliche Regierung formt, zu schützen. Hier findet ein aktiver Zuspruch von Selbstbestimmungsrechten statt. Im Gegensatz dazu steht der von Kymlicka angeregte Umgang mit Migranten als Minderheit. Hier werden klassische multikulturelle Maßnahmen, wie die Anpassung der Lehrpläne, positive Diskriminierung oder Sicherstellung eines gewissen prozentualen Anteils in der Zusammensetzung der Legislative im Gegensatz zu den nationalen Minderheiten abgelehnt. Es sind sogenannte polyethnische Rechte, die die volle ökonomische und politische Partizipation garantieren und die Möglichkeit zum Empfinden von kultureller Einzigartigkeit und kulturellem Stolz bieten sollen. Hierbei steht das Ziel der Integration im Fokus (vgl. ebd.: 26). Wie bereits aufgezeigt, stellt der liberale Multikulturalismus laut Kymlicka eine Reaktion auf den Prozess des nation building im 20. Jahrhundert dar. Er geht hierbei noch weiter, wenn er diesem Prozess attestiert, dass er sich allein an der Kultur der Mehrheit orientiert und das kulturelle Überleben von Minderheiten sogar bedroht. Die gruppenspezifischen Rechte und die damit verbunden multikulturellen Maßnahmen des Staates stellen den Versuch dar, diese Missachtung der Minderheiten auszugleichen und die Ungerechtigkeiten zu reduzieren. Die Gruppenrechte sind somit bestrebt, eine Gleichheit der Bürger zu erzeugen. Für den Zustand der Gleichheit ist ein gerechter Zugang zu den eigenen kulturellen Strukturen notwendig. Innerhalb dieser Maßnahmen des liberalen Multikulturalismus sieht Kymlicka jedoch auch zwei Formen der Limitierung geboten: Zum einen die interne Limitierung, die es ablehnt, dass innerhalb von Gruppen die Möglichkeit zur Kritik, Revision oder der Ablehnung von Autoritäten beschnitten wird. Zum anderen wird diese Gerechtigkeit und Gleichheit dadurch eingegrenzt, dass extern von staatlicher Seite darauf zu achten ist, keine der Minderheiten die anderen Gruppen dominieren zu lassen. Die Methode aus interner Restriktion und externem Schutz zielt ganz im liberalen Sinne auf das Individuum ab. Es soll vor der Verletzung durch kulturelle Praktiken geschützt werden. (vgl. Maciel 2014: 385–386).43 Es wird jedoch auch Kritik an dem Ansatz von Kymlicka laut: So seien es vor allem die verletzbaren in-group members, wie Frauen oder sexuelle Minderheiten, jene Individuen, die durch Gruppenrechte und eine fehlende Ausstiegsmöglichkeit

43Wie

die polyethnischen Rechte, die sich auf die Migranten innerhalb des Nationalstaats beziehen, im liberalen westlichen Modell zu Gleichheit und Gerechtigkeit führen sollen, wird nicht ausgeführt.

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161

aus der jeweiligen Gruppe im liberalen Multikulturalismus nicht ausreichend geschützt werden. Spezifische Gruppenrechte können somit im Kontext des liberalen Multikulturalismus als notwendig aber im Hinblick auf die Verletzbarkeit von Individuen innerhalb von Gruppen als ungenügend eingestuft werden (vgl. Kukathas 1992: 116).44 Daran anschließend warnt die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Iris Young allgemein vor der Gefahr, dass mit einem normalisierten Standard historisch ausgeschlossene Gruppen weiter benachteiligt werden. Der Vorwurf an liberale Ansätze des Multikulturalismus und somit auch an Kymlicka, laviert, dass der Liberalismus trotz seiner Verpflichtung zur Unparteilichkeit den Schleier, der um die eigentlichen partikularen Interessen gelegt wurde, nicht lüftet (vgl. Moore 2009: 326).45 Darüber hinaus sehen Brian Barry und Jeremy Waldron den Ansatz von Kymlicka als zu protektionistisch. Sie behaupten, die kulturellen Identitäten, die im liberalen Multikulturalismus über die Gruppenzuordnung entscheiden, unterlägen einem essentialisierten Verständnis von Kultur. Die gruppenspezifischen Rechte verlören somit entscheidende weitere soziale Faktoren, die auf das Individuum wirkten, aus dem Blick (vgl. Barry 2001: 305/Waldron 2000: 228). Ausgehend von dieser Kritik, dass sich die Individuen im liberalen Multikulturalismus zwar autonom in kulturellen Narrativen positionieren können (vgl. Maciel 2014: 384), jedoch die Kultur sehr essentialisiert wird, soll nun die Bedeutung von Kultur und damit verbunden von Rasse genauer untersucht werden. Es wurde bereits festgestellt, dass der Multikulturalismus den Begriff Kultur generell eng mit Ethnizität verknüpft, was einige Gefahren mit sich bringt. Die Position des liberalen Multikulturalismus nimmt die Variable Kultur in den Fokus, indem sie individuelle Freiheit daran knüpft, ob sich der Einzelne in einer societal culture entfalten kann. In der klassisch traditionellen liberalen Matrix ist Kultur jedoch kein Bestandteil. Als universalistischer Ansatz geht der mainstream-Liberalismus von freien, rationalen und gleichen Individuen aus, die

44Siehe

weiterführend dazu: Okin, Susan: Is Multiculturalism Bad for Women? in: ders. (Hrsg.): Is Multiculturalism Bad for Women?, Princeton 1999, S. 7–27. 45In Justice and the Politics of Difference geht Young weiter auf die Gefahr eines zu ausschweifenden Universalismus ein: Moral reason that seeks impartiality tries to reduce the plurality of moral subjects and situations to a unity by demanding that moral judgment be detached, dispassionate, and universal. But such an urge to totalization necessarily fails. Reducing differences to unity means bringing them under a universal category, which requires expelling those aspects of the different things that do not fit into the category. Difference thus becomes a hierarchical opposition between what lies inside and what lies outside the category, valuing more what lies inside than what lies outside. (Young 2011: 103)

162

4  Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur

auch so behandelt werden müssen. Erst mit Kymlicka und der Verknüpfung von Liberalismus und dem multikulturellen Ansatz wurde die Bedeutung von Kultur hervorgehoben. Kymlicka geht eben so weit, dass Kultur zur Voraussetzung wird, um Freiheit ausüben zu können – nicht zu vergessen in Form von gruppenspezifischen Kontexten (vgl. Herr 2007: 23/30). Im liberalen Multikulturalismus kann Kultur als funktionales Werkzeug betrachtet werde, das den Rahmen bereitstellt, in dem das Individuum seiner liberalen Freiheit nachgehen kann (vgl. Dhamoon 2006: 359). Die Citizenship-Theorie von Will Kymlicka und die noch vorzustellende Theorie der Anerkennung von Charles Taylor verbindet, an diesem Punkt vorweggenommen, das Verständnis von Kultur als Code. Sozusagen als Symbol für sowohl ethnische Gruppen und historische Nationen als auch für linguistische Minderheiten. Diese Chiffrierung bringt mit sich, dass Kulturen als homogene Gebilde betrachtet und auch mit den einzelnen Bevölkerungsgruppen gleichgesetzt werden. Der Ansatz Kymlickas, Kulturen als spezifische Konfiguration von geschlossenen Kulturen zu definieren, bleibt blind für Ähnlichkeiten zwischen und Differenzen innerhalb der Gruppen. Wie auch im Anschluss zu zeigen sein wird, erweitert Taylor durch den dialogischen Charakter der Identitätsbildung zwar den liberalen Horizont, der grundsätzliche essentialistische Ansatz – Kulturen als homogene Entitäten zu betrachten – eint ihn jedoch weiterhin mit Kymlicka (vgl. ebd.: 354–356).46 Wie bereits festgehalten, kann Kymlickas liberaler Ansatz in der Multikulturalismusdebatte als Erweiterung verstanden werden, da er abseits der klassischen liberalen Theorie der Kultur eine entscheidende Rolle zukommen lässt. Er gerät aber auch in die Kritik, da er zwar die ethnische, nationale und linguistische Differenz unterscheidet, dabei jedoch den Aspekt der Rasse und der Hautfarbe nicht miteinbezieht. Dies deckt sich mit dem eben Aufgezeigten, dass kein weiterer differenzierter Blick in die einzelnen, als homogen dargestellten Gruppen, hineingeworfen wird. Kymlicka essentialisiert beispielsweise die Bevölkerungsgruppe von Quebec, wenn er jeden dieser Gruppe zuordnet, der Teil der französisch sprechenden Gesellschaft ist, ohne dabei die internen Unterschiede zu benennen, die etwa durch afro-amerikanische oder karibische

46Hieran

schließt die Kritik von Seyla Benhabib an, die Essentialisierung und Homogenisierung von Kultur würde den Eindruck erwecken, dass Kulturen bewertet und verglichen werden können. Sie hält dem entgegen, einzelne kulturelle Praktiken könnten bewertet werden, aber in keinem Fall eine gesamte und in sich komplexe Kultur. Siehe dazu: Benhabib, Seyla: The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Golden Era, Princeton 2002, S. 58

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163

Abstammung hinsichtlich der Rasse bestehen. Historisch gewachsene und moderne Formen von Rassismus, aber auch Kolonialismus und Imperialismus werden so durch die Verlinkung von Kultur und Multikulturalismus nicht berücksichtigt (vgl. ebd.: 355/358).47 Kymlicka sieht diese Weiterentwicklung jedoch trotzdem als deutlichen moralischen Fortschritt: „[T]he shift from racialism to culturalism is an obvious moral improvment.“ (Kymlicka 1991: 96) Der Denker verliert aber durch diese De-Politisierung von Kultur den Blick dafür, inwiefern diese doch eng mit Rassismus verwoben sein kann. Durch den gezeigten Ansatz, dass Kultur ein Werkzeug darstellt, welches das Individuum dahingehend befähigt, seine Freiheit auszuleben, liefert Kymlicka eine generalisierte Theorie, wie mit Diversität umgegangen werden muss. Diese Einschränkung erkennen Kritiker und greifen sie auf. Ein späterer Teil der Analyse geht nochmals detaillierter auf die Kritiken und Gegenströmungen zum Multikulturalismus ein. Als direkte Reaktionen auf Kymlickas Ansatz im Speziellen sind jedoch die feministische Anthropologie von Seyla Benhabib48 und das Konzept der Strange Multiplicity von James Tully49 zu nennen, die wie erwähnt, nochmals aufgegriffen werden (vgl. Dhamoon 2006: 359). Der klassisch liberalere Ansatz hat sich als per se universalistisch erwiesen, da er, wie gezeigt, alle Individuen als rational und gleich wahrnimmt:50 „Die

47In

der politischen Theorie wird nach Hauptmerkmalen unterschieden, die für die Epochen ausschlaggebend sind, um Differenz zu begründen. Differenzierte man in der Renaissance auf Grundlage des christlichen Glaubens vor allem zwischen europäischer und nichteuropäischer Welt, so drängte mit der Aufklärung die Dialektik von europäischer Vernunft und nicht-europäischer Ignoranz in den Mittelpunkt. Mit dem 19. Jahrhundert wurde Rasse zum Unterscheidungsmerkmal von Normalheit und Andersartigkeit. Mit dem 20. Jahrhundert verschiebt sich der Horizont für Differenz, indem Kultur zum entscheidenden Merkmal avanciert. Siehe dazu: Scott, David: Culture in Political Theory, in: Political Theory, Vol. 31/No. 1, 2003, S. 92–115, S. 104. 48In The Claims of Culture zeigt Benhabib, wie Kultur deutlich sozial konstruiert ist. Ihr Anspruch ist es, die heterogenen, hybriden und dynamischen Dimensionen von Kultur zu beleuchten. Siehe: Benhabib Seyla: The Claims of Culture. Equality and Diversity in the Golden Era, Princeton 2002. 49Tully ist bemüht, im Gegensatz zu Kymlicka, Kultur vom Konzept der Nation zu lösen und die Überlappung zu zeigen, die Kultur mit sich bringt. Er betont mehr den interkulturellen Aspekt. Siehe dazu: Tully, James: Strange Multiplicity: Constitutionalism in an Age of Diversity, Cambridge 1995. 50Siehe weiter zur politischen Theorie des Liberalismus: Ingram, Attracta: A Political Theory of Rights, Oxford 1994; Smith, Roger: The Constitution and Autonomy, in: Texas Law Review, Vol. 60/No. 2, 1982, S. 175–205.

164

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politische Theorie des Liberalismus basiert auf einer individualistischen Moralontologie, die Individuen als grundsätzlich gleich und als die ausschließlichen letzten Träger sozialer und politischer Rechte betrachtet.“ (Brunner 1998: 370) Erst durch die Variable Kultur, die im liberalen Multikulturalismus eingeführt wird, erweitert sich das Konzept und erfährt eine partikulare Öffnung. Damit wird versucht, kollektive in individuelle Rechte einzubinden (vgl. ebd.: 371). Die genauere Analyse dieses Ansatzes durch Betrachtung der Theorie seines prominentesten Vertreters, Will Kymlicka, hat gezeigt, dass auch trotz grundsätzlicher Öffnung nicht auf universalistische Elemente verzichtet wird – siehe die Fokussierung auf historisch gewachsene nationale Grenzen, linguistische Sprachgemeinschaften und das Ausblenden von Rassismus und interner Diskriminierung bei der Betrachtung ethnischer Gruppen. Damit steht Kymlicka ganz in der Tradition Herders und seines Ansatzes, denn auch bei ihm wird sichtbar, dass der traditionelle Universalismus erweitert und ausgefächert werden muss. Ebenso ist auch die Theorie Kymlickas in Parenthese zu Herder von dem Angstgespenst des ausufernden Partikularismus getrieben. Die gezeigte Konzentration auf Nationen und Demokratien der westlichen Hemisphäre und der gleichzeitig universelle Gültigkeitsanspruch reihen sich in diese grundlegende Ambivalenz ein. Leszek Kolakowski sieht die westlichen Werte des Liberalismus durch Kymlicka so im Multikulturalismus vertreten, „daß [sic] die Kultur, die diese Ideen nachdrücklich zu artikulieren, für ihren Sieg zu kämpfen und sie – wenn auch nur unvollkommen – in das öffentliche Leben einzubringen vermochte, eine überlegene Kultur ist“ (Kolakowski 1991: 25–26). Mit dem dänischen Philosophen Frederik Stjernfelt soll nochmals ein Verteidiger der Errungenschaften des Kymlicka’schen Ansatzes zu Wort kommen. Er sieht in der Form des liberalen Multikulturalismus, wie Kymlicka ihn einführt, die Möglichkeit zur Versöhnung des Individuums mit dem Kulturalismus, der die Menschen grundsätzlich determiniert (vgl. Stjernfelt 2012: 49). Ausgehend davon wird im Folgenden der oftmals als Gegenspieler Kymlickas dargestellte Politikwissenschaftler Charles Taylor und sein Ansatz von Multikulturalismus in die Analyse miteinbezogen werden.

1.6.2 Die Politik der Anerkennung als Antwort Wie bereits mehrfach angedeutet, kann man Will Kymlickas Theorie nicht ohne einen Verweis auf Charles Taylor nennen. Letzterer wird oftmals als Gegenpart innerhalb der Multikulturalismusdebatte dargestellt. Es bleibt zu zeigen, ob eine tatsächliche Spannung zwischen den beiden vorliegt oder ob es sich bei Taylor eher um eine Antwort auf die Herausforderungen des liberalen Multikulturalismus handelt und damit um eine Erweiterung. Darüber hinaus muss

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jedoch auch die These, dass beide Ansätze unter denselben Vorzeichen handeln, überprüft werden. Der Anspruch des Kanadiers Taylor ist es, die politischen Strukturen allgemein zu hinterfragen, also das als selbstverständlich Empfundene und das Marginalisierte eingehend zu betrachten. Dabei stellt er die sozialen Praktiken moderner – an späterer Stelle nochmals zu zeigen, auch explizit westlicher – Gesellschaften in den Mittelpunkt. Er zielt darauf ab, die unbewussten, invisiblen symbolischen Ordnungen und kulturellen Codes, die den sozialen Praktiken vorgelagert sind, herauszufiltern. Taylor argumentiert aus einem interpretativ-hermeneutischen Blickwinkel. So sollen verdrängte oder marginalisierte kollektive Sinnhorizonte wieder ins politische Licht gerückt werden (vgl. Reckwitz 2000: 618/Reckwitz 2004b: 37). Es geht Taylor zudem darum, den historisch gewachsenen Anspruch auf die Anerkennung der eigenen Identität zu untersuchen und ihn vor allem philosophisch zu untermauern. Er fragt in seiner Theorie des Multikulturalismus aktiv danach, wie der Beitrag von ehemals ausgeschlossenen Kulturen heutzutage in liberalen Demokratien des Westens bewertet werden muss. Wie noch zu zeigen sein wird, geraten die gruppenspezifischen Rechte,51 die Taylor fordert, mit der klassischen Form des Liberalismus in Konflikt (vgl. Blum 1998: 51/Nicholson 1996: 1/16). In späterer Kontrastierung zu Kymlicka thematisiert Taylor grundsätzlich, dass dessen liberales Denken zu sehr auf das Individuum fokussiert sei. Hier kann also vorausgreifend bereits angemerkt werden, dass Taylor, über die Perspektive des Individuums hinaus, bewusst die kollektive Identität aufs Tableau bringt: „Taylor attempts a reconfiguration of liberalism.“ (Nicholson 1996: 1) Zur Erklärung dieser kollektiven Identität, beziehungsweise Identitäten, führt Taylor eine Kulturanalyse durch, die die sozialen Praktiken, das Hintergrundwissen und die Verstehensakte in den Fokus rückt. Dabei spielt die Interpretation des eigenen Selbst und der eigenen Handlung eine zentrale Rolle: „The claim is that our interpretation of ourselves and of our experience is constitutive of what we are, and therefore cannot be considered as merely a view on reality, separable from reality.“ (Taylor 1985a: 47) Taylors Kulturanalyse stützt sich somit auf den

51Taylor

kann einerseits als Verfechter von gruppenspezifischen Rechten angesehen werden. Gleichzeitig plädiert er für die Generalisierung eines neuen modernen sozialen Rahmens, der die Identität und das mit ihr verbundene Bedürfnis nach Anerkennung erfasst. Auch in seiner ethischen und politischen Dimension. Vergleiche dazu: Nicholson, Linda: To be or not to be: Charles Taylor and the Politics of Recognition, in: Constellations, Vol. 3/No. 1, 1996, S. 1–16, S. 1.

166

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Menschen als self-interpeting animal, der sich selbst und den Hintergrund seiner sozialen Praktiken interpretiert: We say that the practices which make up a society require certain self-descriptions on the part of the participants. These self-descriptions can be called constitutive. And the understanding formulated in these can be called pre-theoretical. (Taylor 1985b: 93)

Es ist Kymlicka, der die Autonomie an den Anfang seiner Überlegungen stellt, um dem Individuum zu ermöglichen, eigenständig in vorhandenen Narrativen zu bestehen. Nach Taylor gebiert der Individualismus des 18. Jahrhunderts die Ethik der Authentizität, welche die subjektive Wende52 einleitet und zudem den Einzelnen auffordert, in Eigenverantwortung, sowohl selbstständig zu denken als auch politisch den Willen des Individuums über seine gesellschaftliche Pflicht zu stellen (vgl. Taylor 1995b: 34). Hier löst sich Taylor im Vergleich zu Kymlicka bereits ein Stück weit vom klassischen liberalen Vokabular der Autonomie. Darüber hinaus wird bei Taylor deutlich, wie der Aspekt der Treue zu sich selbst in den Vordergrund rückt, wobei diese Selbsttreue eng mit dem Bewusstsein für die eigene Originalität verbunden ist. Das moderne Ideal der Authentizität basiert auf diesem Prinzip der Originalität, nämlich dass die Richtlinien, nach denen das eigene Leben gestaltet wird, nicht von einer äußeren Konformität her begründet seien, sondern davon ausgehen, dass ein Ideal zugrunde liege, das aus dem eigenen Inneren erwachse (vgl. ebd.: 38): „Indem ich die Originalität definiere, definiere ich mich selbst.“ (Ebd.: 39) Die eigene Identität muss vom Individuum auch noch angenommen werden: „Meine Identität gehört erst mir, wenn ich sie akzeptiere.“ (Taylor 2001: 273) Wie angesprochen, ist die philosophische Untermauerung ein Ziel von Taylors Beitrag zum Multikulturalismusdiskurs. Deswegen bezieht er sich mit seinem Authentizitätsideal deutlich auf Johann Gottfried Herder (vgl. Nicholson 1996. 2/Auernheimer 2013: 171–172),

52Rousseau

hat in Taylors Verständnis die subjektive Wende auf dem Weg in die Moderne angestoßen. Die Prinzipien des französischen Philosophen, zum einen das „Gefühl des Daseins“, also eine authentische moralische Verbindung zu sich selbst, zum anderen die „Freiheit durch Selbstbestimmung“, also die Möglichkeit, allein und nur für sich selbst Entscheidungen zu treffen, zeigen, dass eine Hinwendung zum Subjekt stattgefunden hat. Siehe dazu: Rousseau, Jean-Jaques (1978): Träumereien eines einsamen Spaziergängers, in: ders.: Schriften, hg. von Ritter, Henning, München (Bd. 2), S. 637–760; Rousseau, Jean-Jacques (1964): Œuvres Complètes. Bd. III: Du Contrat social. Ecrits politiques. Hg. v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond. Bibliothèque de la Pléiade, Paris.

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167

wenn er in seiner Kulturtheorie von der Lebensalteranalogie spricht. Diese bringt zum Ausdruck, dass die verschiedenen Kulturen ihren eigenen organischen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Dieses organizistische Verständnis von Geschichte und Kultur zeigt, dass jedes Individuum und gleichzeitig jede Kultur einer natürlichen Gesetzmäßigkeit folgen. Die von Herder verwendete botanische Metaphorik spricht von Keim und Kern (vgl. Auernheimer 2013: 157–158/Löchte 2005: 13–14). Der starke Rückbezug zu den Wurzeln des eigenen Selbst ist beiden Denkern, sowohl letzterem als auch Taylor, gemein. Der Übertrag von der individuellen auf die kollektive Ebene zeigt dies ebenfalls. Die Authentizität und Originalität – die individuelle Identität – bildet der Einzelne nach Ansicht Taylors aber eben nicht von der sozialen Umwelt isoliert aus, sondern erst durch den Dialog mit anderen. Somit ist die Akzeptanz nicht mehr auf das Individuum allein beschränkt, sondern wird auch extern von Bedeutung. In diesem Dialog mit den anderen stehen die Optionen der Übereinstimmung und der Auseinandersetzung gleichzeitig offen (vgl. Taylor 1995b: 55).53 Die Genese der Identität geht eben auf diesen Dialog als Kampf um Anerkennung54 zurück: „Wir bestimmen unsere Identität stets im Dialog und

53Dass der Einzelne die Anerkennung Anderer anstrebt, ist kein explizites Kennzeichen der Moderne, jedoch haben sich in dieser die Bedingungen der Anerkennung deutlich verändert. War die Anerkennung vorher als selbstverständlich hingenommen worden, so kommt im neuzeitlichen Verständnis die Möglichkeit des Scheiterns, der Ablehnung, hinzu. Die neue Definition über die eigene Originalität hat die vormoderne Anerkennung ins Wanken gebracht und eben den Spielraum eröffnet, der auch die Verweigerung derselben zulässt: Die Identität gehört also fest zur modernen Zivilisation. Nachdem das vom Rang abhängige soziale Schicksal des einzelnen – in einer zunehmend egalitären Gesellschaft – erheblich an Einfluß [sic] verloren hatte, konnten die Menschen zwar im Grunde werden, was sie wollten oder was ihren Fähigkeiten entsprach. Dazu bedurfte es aber nicht nur der egalitären, sondern auch jener expressiven Revolution, die eine eigentümliche Seinsweise jedes einzelnen Menschen anerkennt, ihn also ermutigt, seine Originalität vollends zu verwirklichen, statt von außen auferlegte Normen zu befolgen. Das gibt dem Ideal der Authentizität, wonach man sich selbst treu bleiben soll, eine neue, radikalisierte Bedeutung. (Taylor 2001: 274) 54Taylor unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Formen der Anerkennung: Erstens die demokratische Anerkennung, welche die „gleiche Würde“ aller in den Vordergrund rückt und sich beispielsweise auf die gleiche Bürgerschaft innerhalb einer politischen Gemeinschaft abzielt. Taylor wendet sich dieser Form der Anerkennung jedoch nur peripher zu, Axel Honneth entwickelt diesen Ansatz in seinem Werk The Struggle for Recogition. The Moral Grammer of Social Conflicts weiter. Die zweite und von Taylor weiter ausgeführte Form der Anerkennung bezieht sich auf den Anderen in seiner kulturellen Besonderheit.

168

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manchmal sogar im Kampf mit dem, was unsere ‚signifikant Anderen‘ in uns sehen wollen.“ (Taylor 2012: 20) Somit schließt das Authentizitätsideal auch eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft mit ein, da unsere Identität von der Anerkennung anderer abhängt: „Meine eigene Identität ist entscheidend abhängig von meinen dialogischen Beziehungen zu anderen.“ (Taylor 1995b: 57) Die Anerkennung stellt somit geradezu die Bedingung für eine erfolgreiche Identitätsbildung dar, denn nur, wenn der Einzelne anerkannt ist, kann er in der Gesellschaft er selbst sein. Auch hier ist der Verweis auf Herder deutlich. Jener betont stets den Eigenwert von Kulturen und damit auch von Gesellschaften. Er macht aber zudem deutlich, dass das Individuum nur in seiner Rolle innerhalb eines kulturellen Kollektivs Bestand haben kann. Auch wenn erst mit dem modernen Denker Taylor der Begriff Anerkennung zentral wird, so ist die dialogische Abhängigkeit der eigenen Identität von anderen Mitgliedern der gleichen Gruppe bereits bei Herder angelegt. Für Taylor stellt sich aber auch die Frage, was eben diese Gesellschaft, in der der Einzelne nach Anerkennung strebt, kennzeichnet. Was macht die Identität einer Gruppe, eines Kollektivwesens, aus? Diese Frage ist ein Teil des Grundkonflikts der Moderne: Ihr Kennzeichen, dass Rechte allgemeingültigen Charakter haben sollten und Einzelne nicht privilegieren, sondern Gleichheit erzeugen, steht dem ebenfalls modernen Bedürfnis nach Anerkennung entgegen. Letzteres bezieht sich auf die Forderung, im Öffentlichen miteinzubinden, was das Spezifische des Individuums und des Kollektivs ausmachen (vgl. Nicholson 1996: 3). Taylor fokussiert sich auf den zweiten Aspekt und zieht die Parallele zwischen dem Individuum und der Gruppe, indem er zeigt, dass beide ständig nach sich selbst suchen und bestrebt sind, die eigene Originalität auszubilden. Auch ihre Beziehungen nach außen stimmen überein. Sowohl das Kollektiv als auch der Einzelne bewegen sich in einem kommunikativen Umfeld, treten also in einen Dialog mit anderen ein, um ihre Identität zu finden, wobei die Anerkennung durch einen Fremden, einen Anderen, erfolgen muss (vgl. Taylor 2001: 277– 278): „Die Völker sind ebenso wie die einzelnen aufgefordert, einander in ihren unersetzlichen, aber komplementären Eigenarten anzuerkennen, da sie gemeinsam den Chor der ganzen Menschheit bilden.“ (Ebd.: 276) Ähnlich wie die Einzelpersönlichkeit grenzt sich ein Kollektivwesen in seiner Originalität von

Somit nicht in ihrer allgemeinen Gleichstellung zu den anderen, sondern der spezifischen kulturellen Identität. Siehe weiterführend: Honneth, Axel: The Struggle for Recogition. The Moral Grammer of Social Conflicts, Cambridge 1995.

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anderen ab, was aber gleichzeitig verlangt, dass die Mitglieder dieses Kollektivs von der gleichen Selbstdefinition ausgehen. Die beiden Formen der Identität, sowohl die individuelle als auch die kollektive, durchdringen sich wechselseitig. Eine eigenständige Gruppe umfasst selbstdefinierte Individuen, welche gleichzeitig eine Kollektividentität annehmen müssen, damit die Gruppe Bestand hat. Taylor sieht auch die Möglichkeit, dass sich die Einzelnen über die Gruppe definieren, wenn das Kollektiv eine Originalität ausgebildet hat, die der eigenen entspricht. Eine gemeinsame Kultur und Historie tragen positiv zur Identitätsbildung bei, da sie die Anerkennung durch andere aus dem gleichen Kollektiv erleichtern und gleichzeitig die Basis für die gemeinsame Originalität darstellen (vgl. ebd.: 277–278): Die Gruppenzugehörigkeit liefert wichtige Elemente für die persönliche Identität. Und es nimmt zugleich die Gruppe, sofern sich genügend Mitglieder relativ fest zu ihr bekennen, eine kollektive Identität an, die das gemeinsame historische Handeln trägt. (Ebd.: 277)

Kollektive, beziehungsweise Gruppen, sind so konzipiert, dass verschiedene Existenzen in ihnen leben können, die sich unterscheiden, jedoch gleichwertig sind. Taylor macht jedoch deutlich, wie der gleiche Wert der Existenzen nicht durch den Unterschied zwischen ihnen begründet ist. Vielmehr sieht er das Gleichheitsprinzip durch einen fundierten gemeinsamen Wertekanon gekennzeichnet (vgl. Taylor 1995b: 62). An diesem Punkt kommt der Kultur eine einheitsstiftende Rolle zu: Wir können zwar ein Lippenbekenntnis zur gleichen Anerkennung ablegen, doch wir werden nur dann eine gemeinsame Gleichheitsauffassung vertreten, wenn wir uns über weitere Dinge einig sind. Die Anerkennung der Unterschiede verlangt, ebenso wie die Selbstwahl, einen Bedeutungshorizont, in diesem Fall einen Horizont, der uns gemeinsam ist. (Ebd.: 62–63)

Dieser Punkt leitet über zur Abgrenzung von Kymlicka. Ist dessen Gleichheitsverständnis der Individuen noch eng mit der universalen liberalen Matrix verwoben, so erweitert Taylor diese. In Bezug auf Gleichheit treten mit ihm nun kulturelle Werte in den Vordergrund, welche Egalität zwischen einzelnen Existenzen erzeugen. Das Bekenntnis zu einer kulturellen Gemeinschaft wird dadurch gleichzeitig Voraussetzung. Er spricht sich für ein prozedurales Verständnis von Liberalismus aus. Dies bedeutet, dass die öffentliche Sphäre in einem liberalen Rahmen konzipiert ist und somit den Einzelnen schützt, jedoch auch die Möglichkeit besteht, kollektive Ziele zu formulieren (vgl. Nicholson 1996: 8).

170

4  Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur

Taylor wird wegen eben dieses neugedachten Liberalismus auch explizit mit der Strömung des Kommunitarismus55 innerhalb der Politischen Philosophie in Verbindung gebracht. Kommunitaristen verstehen sich als Gegenspieler zu den neo-liberalen Ansätzen der Moderne – diese werden vor allem durch John Rawls Gerechtigkeitstheorie aus dem Jahr 1971 verkörpert56. Wie es auch Taylor tut, so diagnostizieren Kommunitaristen den modernen – westlichen – Gesellschaften einen Mangel an sozialem Zusammenhalt und einen Werteverlust. Die Gesellschaften hätten sich vom gemeinwohlorientierten Ansatzpunkt des republikanischen Denkens, einem staken Bürgertum und gleichzeitiger Zivilgesellschaft entfernt (vgl. Rieger 2015: 328). Anders als die Theorie zum Multikulturalismus von Kymlicka fordert Taylor in der kommunitaristischen Tradition eine stärkere Wertegemeinschaft,57 in der sich der Einzelne in seinen sozialen Kontext wieder einbettet und die damit verbundene Verantwortung wahrnimmt. Liberale Grundrechte und ihre universelle Gültigkeit werden jedoch nicht in Frage gestellt (vgl. Neubert 2013: 12). Taylors kommunitaristische Kritik an den liberalen Theorien von John Rawls und Ronald Dworkin58 – welchen er eine Differenzblindheit attestiert – geht deutlich sichtbar weiter als Kymlickas Ansatz. Allgemein steht Taylors kommunitaristische Rückbesinnung auf die Gemeinschaft und ihre moralische Stärke erneut in der Tradition Herders, der stets Bezug auf die soziale Eingebundenheit des Individuums nimmt. Sie bildet die entscheidende Variable (vgl. Löchte 2005: 212–213). Ist bei Herder bereits durch das Gesetz der Mannigfaltigkeit die Methode des kulturellen Perspektivenwechsels angelegt, so nennt Taylor die Begegnungsmöglichkeit mit dem ‚Anderen‘ die „Horizontverschmelzung“59 (Taylor 2012: 54).

55Taylor

weist teilweise die Bezeichnung als Kommunitarist zurück, wird aber von außen eindeutig der Strömung zugeordnet. Weitere prägende Autoren der kommunitaristischen Strömung sind: Amitai Etzioni, Alasdair MacIntyre, Robert Putnam, Michael Sandel und Michael Walzer. 56Siehe dazu: Rawls, John: A Theory of Justice, Oxford 1972. 57Michael Sandel spricht auch von der Notwendigkeit der Remoralisierung von Politik und Gesellschaft, siehe dazu: Sandel, Michael J.: Justice. What’s the Right Thing to Do?, New York 2009. 58Siehe dazu: Rawls, John: A Theory of Justice, Oxford 1972; Dworkin, Ronald: Taking Rights Seriously, Cambridge 1978. 59Taylor bezieht sich dabei auf Hans Georg Gadamer, der durch die Verschmelzung die Fremdheit eines anderen Horizonts aufhebt. Siehe dazu weiter: Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960.

1  Kulturelle Identität als horizontales Mosaik: Der Multikulturalismus

171

Dieser angesprochene Weg der Identitätsbildung über den Dialog mit dem ‚Anderen‘ grenzt Taylor von Kymlicka ab. Auch dass der dialogische Charakter Anerkennung und vor allem die Nichtanerkennung zur Folge haben kann, ist für Taylors Theorie entscheidend und für Kymlicka keine Option. Mag Taylor zunächst durch seine „more nuanced view of identity production“ (Ebd.: 356) Kymlicka als seinen essentialistischen Gegenspieler erscheinen lassen, so relativiert sich diese Gegenüberstellung durch Taylors Anspruch, Kulturen bewerten zu wollen: „[I]n arguing that judgements about worth are possible and necessary, he evokes the idea that cultures must be unified and homogeneous in such a way as to make assessments about them as whole entities.“ (Ebd.: 356) Die Darstellung der liberalen, auf Anerkennung basierenden Multikulturalismustheorie hat gezeigt, dass die moderne liberale Ordnung deren Dreh- und Angelpunkt ist – wie dargestellt, in Form von Erweiterung oder versuchter Überwindung der aufgezeigten Mängel. Soweit wurde ebenfalls deutlich, wie Taylor von derselben liberalen Matrix ausgeht, wenn auch unter einem kritischeren Gesichtspunkt. Jedoch eint die Bestrebung, ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen herzustellen, seinen Ansatz mit dem Kymlickas (vgl. Maciel 2014: 389). „In the end it would be wrong to claim that liberal multiculturalism and recognition-based approaches are fully compatible, but we need not see them as in tension.“ (Ebd.: 389) Als nächstes bleibt zu betrachten, wie sich der bereits bei Kymlicka und Taylor attestierte essentialistische Ansatz im spezifischen Kulturbegriff des auf Anerkennung basierten Ansatzes widerspiegelt. Im zweiten Teil der Arbeit wurde unter Kultur und Herder bereits dargelegt, wie der allgemeine Kulturbegriff des Multikulturalismus aufs Engste mit dem ganzheitlichen Kulturverständnis Herders verbunden ist. Auch Taylor lässt keinen Zweifel daran, dass er mit Herder in Bezug auf die notwendige soziale Eingebundenheit des Individuums in sein soziales Umfeld Hand in Hand geht. Er zeigt jedoch, wenn er konkrete Kriterien für Kulturen aufstellt, detailliert, was Herder bereits mit dem Begriff Volk als sprachliche und historische Gemeinschaft andeutet. Der Wert einer Kultur könne nach Taylor somit bestimmt werden und müsse je nachdem Anerkennung erhalten. Die Kultur habe über einen längeren Zeitraum hinweg den Bedeutungshorizont vieler verschiedener Menschen bestimmen müssen. Darin sind zwei Merkmale enthalten: Einerseits die zeitliche Beständigkeit dieser Variablen und andererseits der Fakt, dass sie für viele Menschen als wertvoll angesehen wird. Kulturen müssen also zudem eine gewisse Stabilität und historische Reife aufweisen (vgl. Taylor 2012: 70). An dieser Stelle wird Taylor auch die schärfste Kritik entgegengehalten, nämlich die,

172

4  Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur

er schließe durch diese Definition automatisch viele Gruppen aus, vor allem jene, die sich in einem Transformationsprozess befinden und von dem „Dazwischen“ leben. Kritiker sprechen von einem Bild, in dem die Theorie Taylors – und vor allem in einer dominierenden westlichen Kultur – andere, ungefestigte, fluide Formen von Kultur marginalisiert (vgl. Dhamoon 2006: 356). Reckwitz benennt Taylors Multikulturalismus auch als „pluralistisches Homogenitätsmodell der Kultur“ (Reckwitz 2001: 183). Dazu ist laut Taylor notwendig, dass sich die Individuen und das Kollektiv den gleichen Sinnhorizont teilen und andere Kollektive und deren Sinnhorizonte als fremd einstufen. Dies zeigt, wie Taylor sein Bild von multiplen Monokulturen deutlich nach der Philosophie des 19. Jahrhunderts und deren totalitätsorientierten Grundlagen ausrichtet (vgl. ebd.: 183– 184). An dieser Stelle kann das Aufstellen der Kriterien von Kultur einerseits als Behebung des Mangels bei Herder, der keine Definition liefert und ambivalent bleibt, oder andererseits als Entfremdung vom Herder’schen Ideal der Mannigfaltigkeit und seiner pluralistischen Vision der Gleichwertigkeit gewertet werden. Lawrence Blum merkt ergänzend an, dass, wie bereits allgemein zum Multikulturalismus festgestellt, Taylor sich nur mit ethnischen Formen von Kulturen auseinandersetzt und zum Beispiel keine Regional- oder Institutionenkulturen miteinbezieht (vgl. Blum 1998: 53). Wie allgemein aufgezeigt, aber auch bei Kymlicka bereits zu Tage getreten, ist der Multikulturalismus im Taylor’schen Sinne aufs Engste mit dem Begriff der Rasse und dem Phänomen des Rassismus verwoben. Dies wurde durch den starken Rückbezug auf die Ethnie, die Herkunft, nachgewiesen. Taylor lenkt gerade durch die Einführung des Kriteriums der historischen Reife nochmals das Augenmerk auf die ethnische Fundierung seines Konzepts. Hierbei muss aber betont werden, dass das Erstarken vor allem westlicher Kulturen und ihre lange Stabilität unter anderem auf dem historischen Fakt von Rassismus in Form von Kolonialismus und Sklaverei basieren. Blum verweist darauf, wie gerade im US-amerikanischen Kontext die Entstehung und der Umgang mit Minderheitengruppen tief mit der Rassengeschichte des Landes verbunden sind (vgl. ebd.: 51). Über das Ende des imperialen Zeitalters hinaus bleibt in der Moderne ein postkoloniales Konfliktpotenzial, sowohl in den Kolonien durch willkürliche Territorialpolitik als auch in den imperialen Machtzentren, die sich im 21. Jahrhundert durch ihre ethnische Diversität auszeichnen, bestehen (vgl. Bade 1996: 9). Taylor versucht sich diesem postkolonialen Konflikt zu stellen, indem er fordert, dass Individuen und Gruppen bei Anerkennung ihrer bestimmten kulturellen Identität kein herabwürdigendes Bild verliehen werden dürfe. Er

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bezieht sich dabei auf Frantz Fanon60, welcher die Kolonisatoren dafür an den Pranger stellt, wie sie den Kolonisierten ein Selbstbild der Minderwertigkeit auferlegen (vgl. Taylor 2012: 51–53). Taylor bezieht sich folgendermaßen auf ihn: „Der Kampf um Freiheit und Gleichheit muß [sic] daher die Revision dieser Bilder einschließen.“ (Ebd.: 52–53) Er verkennt dabei jedoch, dass das Vermeiden eines degradierenden Selbstbildes durch die Mehrheit einer größeren Gesellschaft nicht mit der Anerkennung der kulturellen Bestimmtheit gleichzusetzen ist. Somit greifen auch die Maßnahmen multikultureller Curricula und anderer positiver Diskriminierungsmaßnahmen im Hinblick auf diese postkoloniale Problematik61 nicht (vgl. Blum 1998: 60). Themen wie Kolonialismus und Rassismus erfahren bei Taylor also die Aufmerksamkeit, die Kymlicka verweigert, jedoch auch in einem eher peripheren Maße und wie gezeigt, in einer inadäquaten Weise. Taylors Ansatz bleibt in der Logik dieser Analyse noch hinsichtlich seiner Positionierung im Spannungsfeld von Universalismus und Relativismus zu verorten. In Anlehnung an Herder macht Taylor die Gleichwertigkeit aller Kulturen zur Prämisse. Dieser gleiche Wert führt jedoch zu einem Relativismus, der die Situation erzeugt, Kulturen problemlos miteinander vergleichen zu können, je nachdem welche Werte sie hervorbringen. Blum sieht an diesem Punkt der Taylor’schen Theorie die Gefahr eines „thoroughgoing relativsm“ (Ebd.: 57). Dieser Relativismus in der Multikulturalismusdebatte allgemein, aber auch im Speziellen bei Taylor, basiert auf der Annahme, dass Werturteile von Machtinteressen unabhängig seien. Diese Form des Relativismus in Bezug auf den Wert von Kulturen kann somit in der Debatte nur benutzt werden, wenn die Frage nach Macht und Einflussnahme ausgeblendet wird. Die Messung und Aufwertung einzelner Werte macht den Multikulturalismus blind für die Realität, nämlich dafür, wie der Faktor Macht die politischen und sozialen Ordnungen bestimmt (vgl. Dhamoon 2006: 358/Nicholson 1996: 14). Doch auch Taylor ist nicht frei von der Angst vor dem galoppierenden Pferd des ungezähmten Relativismus. Die bereits gezeigten Kriterien für die Definition von Kulturen – der Dreiklang

60Die

beiden Hauptwerke Fanons mit welchen er die postkolonialen Grundvokabeln etabliert sind: Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a. M. 1968; Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken, Frankfurt a. M. 1980. 61Siehe dazu weiter: Blum, Lawrence: Multiculturalism, Racial Justice and Community, in: Lawrence, Foster/Patricia, Herzog, Patricia (Hrsg.), Contemporary Philosophical Perspectives on Pluralism and Multiculturalism: Defending Diversity, Amherst 1994, S. 175–205.

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aus Ethnie, Nation und Sprache – nehmen genau an diesem Punkt ihre Funktion auf, nämlich eine Bemessungsgrundlage von kulturellem Wert herzustellen und somit das relativistische Gespenst der Gleichwertigkeit im Zaum zu halten. Mit der Fokussierung, vor allem auf die Langlebigkeit und die Sprache einer Kultur, stellt Taylor Universalkriterien auf. Er ist sich mit Kymlicka einig, wenn sie Kultur zwar nicht als etwas Gestaltloses einordnen, blenden sie jedoch aus, dass diese jenseits der ethnisch-linguistischen Dimensionen auch über Systeme wie Rasse, Geschlecht, Ableismus, Heteronormalität oder andere durch historisch gewachsene Interaktionen entstehen (vgl. Dhamoon 2006: 357). Die Kritikpunkte an Taylor decken sich an vielen Stellen mit den Verwürfen, die auch schon Kymlicka entgegengebracht wurden, wie beispielsweise die Arroganz dominierender westlicher Kulturen, welche die geschichtlich gewachsenen Machtstrukturen ausblenden. Beiden Kanadiern wird vorgehalten, aus einer zu nordamerikanischen, regional beschränkten Perspektive zu arbeiten. Im Speziellen stellt für die Kritiker Taylors seine Fokussierung auf den Fall Quebecs die Übergeneralisierung eines natürlichen Konflikts dar (vgl. Nicholson 1996: 3/11–12). Trotz der Erweiterung der liberalen Matrix um den Faktor der Kultur verharrt Taylor in einem universellen Denken, das wie bei Kymlicka eine deutliche Konsequenz hat: „[An] unidemsional analysis of identity.“ (Dhamoon 2006: 357) Die zu Beginn der Gegenüberstellung der beiden kanadischen Sozialphilosophen aufgestellte These, dass ihre augenscheinliche Gegensätzlichkeit sich dadurch auflöst, dass sie ähnliche Einschränkungen ihrer Theorien vornehmen, kann an dieser Stelle bestätigt werden. Die sich überschneidenden Kritikpunkte werden auch im nächsten Kapitel von Bedeutung sein, wenn es darum geht, die Strömung des Multikulturalismus im Allgemeinen noch einmal einer kritischen Analyse zu unterziehen und dabei die prominentesten Kritiker und ihre Forderungen zu beleuchten.

1.7 Kritik Die Kritikpunkte an den beiden zentralen Ansätzen des Multikulturalismus haben bereits die Schwachstellen des Konzepts hervorgebracht. So erfordert die von den beiden Theoretikern losgelöste allgemeine Kritik eine weitere Untergliederung. Zunächst muss der kritische Blick auf das Prinzip der Authentizität eingefangen werden. Anne Phillips spricht vom Regime der Authentizität, in das der Einzelne gezwungen wird. Sie legt weiter dar, dass der starke Rückbezug zum eigenen Selbst gleichzeitig die Distanz zum anderen erhöht und grundsätzlich

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den Austausch, Grenzüberschreitungen und den kulturellen Wandel erschwert. Der Multikulturalismus verliert unter dieser Perspektive seinen befreienden Moment und wird eher mit einer kulturellen Zwangsjacke assoziiert (vgl. Philips 2009: 14). Ebenso gibt Nancy Fraser zu bedenken, dass der Multikulturalismus auch mit Blick auf die kollektive Identität durch Authentizität angreifbar wird. Sie betont, dass die Individuen den Druck verspüren, sich einer Gruppenkultur zuordnen und eine authentische Identität ausbilden zu müssen, um Anerkennung zu finden. Es besteht dabei die Gefahr, dass die Komplexität des Einzelnen durch eine – womöglich unvermeidbare – simplifizierte Gruppenidentität überlagert wird und damit Möglichkeiten des Austausches verloren gehen (vgl. Fraser 2001: 24). In dem Fall, wenn ethnische Gruppenrechte höher bewertet werden als die Individualrechte, entsteht der bereits gezeigte Vorwurf des Ethnozentrismus. Dieser ist nicht nur eine mögliche Folge des Multikulturalismus, sondern gleichzeitig auch seine größte Gefahr, da pluralistische Gesellschaften vom Prinzip der Vielfalt leben und auch die Basis einer multikulturellen Strömung darstellen (vgl. Schlesinger 1992: 72). Neben Ethnozentrismus droht sich durch ein Überbetonen der kulturellen Differenz und ein starkes nationales Bewusstsein, die Grenzziehung zum kulturell und ethnisch Anderen zu verstärken. Segregation und das Entstehen von Parallelgesellschaften stehen damit in direktem Zusammenhang (vgl. Strasser 2010: 345/363).62 Auch im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Multikulturalismus als politische Maßnahme mit der liberalen demokratischen Grundordnung werden Bedenken laut. Im politischen Kontext würde dem Mittel des Multikulturalismus beispielsweise ein juristischer Ansatz für soziale Interaktion vorausgesetzt werden, der jedoch den demokratisch repräsentativen Institutionen so nicht eingeschrieben ist (vgl. Cuccioletta 2001: 6). Hierauf verweist auch immer wieder Seyla Benhabib, wenn sie zu bedenken gibt, dass in liberalen Demokratien einzelne kulturelle Praktiken bewertet und berücksichtigt werden können, jedoch keine Bewertung gesamter Kulturen vorgesehen ist (vgl. Benhabib 2002: 58).

62Der

aus Afrika stammende und nach Kanada immigrierte Schriftsteller Neil Bissoondath zeigt in seinem Roman Selling Illusion. The cult of multiculturalism in Canada, wie der Multikulturalismus als Maßnahme ein bereits gespaltenes Land weiter in die soziale Teilung geleitet hat. Als Grund nennt er ebenfalls die Überbewertung der kollektiven vor den individuellen Rechten. Er spricht weiter auch von einer Ghettoisierung der einzelnen ethnischen Gruppen. Siehe weiter dazu: Bissoondath, Neil: Selling Illusions. The Cult of Multiculturalism in Canada, Toronto 2002.

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4  Zuordnung vs. Verwendung: Die Konzeptionen von Kultur

Abseits der Kritik an der politischen Umsetzbarkeit erfährt das theoretische Konzept auch den Vorwurf, durch sein Betonen des Stolzes und Eigenwertes von Kulturen zwar von einer edlen Grundidee getragen zu sein, jedoch dabei einem rückwärtsgewandten Rassismus zu unterliegen. Die Reduktion des Ansatzes auf seine ethnische Dimension wurde bereits bei den beiden Hauptvertretern mehrfach sichtbar. Mikhail Epstein sieht hierbei „a variety of reductionism, which includes the reduction of a diversity of personalities to their ‘origins’, their ‘genetic’ predetermined nature“ (Epstein 2009: 336). Der von Epstein als Reduktion benannte Tatbestand der Essentialisierung von Kultur wurde bereits aufgegriffen. Der zusätzliche Vorwurf, dass Kultur dabei sogar ideologische Züge annähme, stellt darauf ab, dass reale Herrschafts- und Machtverhältnisse retuschiert werden sollen. Um die Kritik am Multikulturalismus abzurunden, muss auf die der Theorie und dem darauf basierenden politischen Programm innewohnenden Ambiguität und dem damit einhergehenden Dilemma eingegangen werden. Das Konzept des Multikulturalismus bewegt sich einerseits zwischen dem Pol der Idealisierung und gleichzeitig der Wahrnehmung des Begriffs als Reizwort, als Abwehrhaltung, anderseits laviert die Strömung zwischen ihrer Stärke – der politischen Überzeugungskraft – und dem negativen Attest der praktischen Nutzlosigkeit (vgl. Ariëns 2013: 16). Das zentrale Dilemma, das sich aus dieser Ambiguität und den zusätzlich aufgeführten Vorwürfen generiert, wiegt schwer: Löst sich der Multikulturalismus von seinem Anspruch, das Machtarrangement zwischen den gesellschaftlichen Gruppen ausgleichen zu wollen, so laufen die schwächeren Kulturen Gefahr, an den Rand gedrängt zu werden. Strebt der Multikulturalismus jedoch in der Praxis die theoretisch geforderte Gleichgewichtigkeit von Kulturen, also ein gleichgewichtiges Machtarrangement, an und setzt das in vollem Maße um, so führt dies in der logischen Konsequenz zum Auflösen von Differenz. Wie aber mehrfach gezeigt, stellt die Differenz und die damit einhergehende Zuordnung sozusagen das Lebenselixier des Multikulturalismus dar. Die größte Kritik am Multikulturalismus besteht also darin, dass er konsequent zu Ende gedacht, eine self-destroying-prophecy ist, die sich in der politischen Umsetzung selbst obsolet macht oder aber bei Fortbestehen stets sich selbst widerspricht (vgl. Pelinka 2001: 160/164). Das Zeichnen des Bildes eines Brückenschlages sei an dieser Stelle erneut erlaubt: Ein Aneinanderrücken zweier Ufer macht langfristig die Existenz einer Brücke hinfällig. Der ausgeprägte kulturelle Essentialismus des Multikulturalismus erscheint jedoch wie ein emsiger Brückenbauer, der ständig die Differenz – um im Bild zu bleiben, den Fluss – rekonstruiert, damit die eigene Existenz gerechtfertigt bleibt.

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Abschließend soll nun einer dieser mutmaßlichen Brückenkonstrukteure, Will Kymlicka, mit seiner Einschätzung zur Zukunft des Modells des Multikulturalismus noch einmal zu Wort kommen: „So the future of multiculturalism depends on wether states can persuade their citizens that the benefits of multiculturalism are worth the risks, and that the state has the capacity and determination to manage these riks.“ (Kymlicka 2005: 85) Bevor der transkulturelle Ansatz als Lösung, Alternative oder Konkurrenzmodell den vorgestellten Ergebnissen gegenübergestellt wird, ist es notwendig, die aus der multikulturellen Strömung entstandenen Alternativmodelle im Überblick darzustellen. Gleichzeitig dient dieser Überblick dazu, die Besonderheit des Transkulturellen im Anschluss beleuchten zu können, indem die These überprüft wird, inwiefern das Transkulturelle in seinem Kontrast zum Multikulturalismus eine tragbare Lösung dessen theoretischer und praktischer Schwachpunkte darstellt.

1.8 Alternativmodelle Aus dem Multikulturalismusdiskurs selbst heraus sind drei Positionen abzuleiten, die sich als Alternativmodelle verstehen, indem sie die verschiedenen Schwachstellen des liberalen Multikulturalismus, aber auch die der kommunitaristischen Auslegung aufgreifen. Vorweggenommen muss klargestellt werden, dass es sich dabei nicht um eigenständige Theorien handelt. Zudem ist auch die Kritik oft überlappend, jedoch unterscheiden sich die alternativen Positionen vor allem in ihrer Zielsetzung. Zunächst soll der kritisch-selbstreflektierte Multikulturalismus vorgestellt werden. Der zentrale Vorwurf dieser Position betrifft den prozeduralen Liberalismus, dessen Blindheit für den Faktor Kultur und die damit verbundene Unfähigkeit, den eigenen Ethnozentrismus zu erkennen. Gleichzeitig wird dem Kommunitarismus sein statisches Gemeinschafts- und Kulturverständnis vorgehalten. Das zentrale Ziel dieser Position ist die Vermittlung. Es soll das Verhältnis von formaler Gleichheit als Prinzip und faktischer Identitätspolitik ausgeglichen und damit die Gleichheit in der Differenz angestrebt werden. Vom Multikulturalismus ist dabei einerseits gefordert, seine Stellung als Ideologie abzulegen, gleichzeitig aber die ausschlaggebende Widerstandsform für Minderheiten darzustellen (vgl. Neubert 2013: 16–18). Die in dieser Alternative angestoßenen kulturellen Phänomene wie Hybridisierung und Dekonstruktion versuchen, die kritisch eingeforderte Loslösung des Multikulturalismus von seinem ethnischen Essentialismus aus in den Blick zu nehmen. Diese Reduktion,

178

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die der Essentialismus, wie bereits aufgezeigt, bewirkt, soll dahin umgewandelt werden, dass Gruppen als komplexe soziale Phänomene begriffen werden und nicht als starre ethnischen Gemeinschaften (vgl. Modood 2007: 98): The distinctness of a group is neither a fiction nor an essence. It is true that we cannot understand group membership, group goals and group behavior as if they were something discrete and independent of wider socio-economic structures and processes, but again, such multidimensionality is characteristic of social phenomena as such and not distinctive of ethnicity. (Ebd.: 115)

Man kann besagte kritisch selbstreflektierte Version des Multikulturalismus auch in verschiedenen postmodernen Ansätzen wiederfinden, sei es in den Cultural Studies63, der Critical Pedadagogy64 oder in den Post-colonial Studies65. Mit dem demokratischen Multikulturalismus rückt eine zweite Zielsetzung in den Fokus: Die Repräsentation. Orientiert an der Theorie von Iris Young66 visiert sie wie in der klassischen multikulturellen Perspektive nicht den rechtlichen Schutz von Minderheiten an, sondern vielmehr deren öffentliche Sichtbarkeit. Durch die demokratische Repräsentation von allen Gruppen im Öffentlichen soll eine plurale, partizipatorische und gemeinsame Kultur entstehen. Die Kritik setzt vor allem am liberalen Multikulturalismus und am negativen Freiheitsbegriff Kymlickas an. Man wirft ihm vor, die ökonomische Dimension bei der Betrachtung der Gründe für Marginalisierung auszublenden. Es wird dagegen eingefordert, den Zusammenhang von Kultur und Ökonomie bei der Frage nach

63Siehe

dazu grundlegend: Hall, Stuart/Du Gay, Paul (Hrsg.): Questions of Cultural Identity, London 1992; Morley, David/Chen, Kuan-Hsing (Hrsg.): Stuart Hall – Critical Dialogues in Cultural Studies, London 1996; Hall, Stuart: The Work of Representation, in: ders. (Hrsg.): Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 1997, S. 13–74. 64Mehr dazu bei: Bhabha, Homi: The Location of Culture, London 1994; Hall, Stuart: When was the ‘post-colonial’? Thinking at the Limit, in: Iain Chambers and Lidia Curti: The Post-Colonial Question: Common Skies, Divided Horizons, London 1996, S. 242–260. 65Siehe: Giroux, Henry: Living Dangerously. Multiculturalism and the Politics of Difference, New York 1993. 66Siehe dazu weiter: Young, Iris: Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990 und Young, Iris: Deferring Group Presentation, in: Ian, Shapiro/Will, Kymlicka (Hrsg.): Ethnicity and Group Rights, New York 1997, S. 349–376.

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der Zusammensetzung von Gesellschaften deutlicher hervorzuheben. Mit Nancy Fraser67 erhält diese Position nochmals Rückendeckung, wenn jene den Kampf um Anerkennung mit Anstrengung um ökonomische Umverteilung gleichsetzt. Die Idee eines demokratischen Multikulturalismus stellt den klassischen Grundfesten der liberalen Gesellschaftsordnung neue Möglichkeiten gegenüber: Sei es der Kontrast von negativem und betont positivem Freiheitsbegriff, von paternalistischem und partizipatorischem Grundverständnis oder von Schutz der Minderheiten und deren Befähigung zur Teilhabe (vgl. Brunner 1998: 385–386). Ähnlich wie der kritisch-selbstreflektierte Alternativansatz kreist ein weiterer aus der postkolonialen Debatte um das Stichwort der Hybridisierung: Der Ansatz der kulturellen Interferenzen. Die klassischen Formen des Multikulturalismus diagnostizieren eine Heterogenität zwischen den Kollektiven, woraus sich eine Multiplizität an kulturellen Gemeinschaften ergibt. Die Alternative der kulturellen Interferenzen hingegen sieht die Heterogenität vielmehr innerhalb der Kollektive verortet und beschreibt Multikulturalismus als hybride Gleichzeitigkeit. Diese Gleichzeitigkeit bezieht sich darauf, dass der Einzelne parallel Träger verschiedener kultureller, beziehungsweise sozialer Praktiken und background languages sein kann und auch das Kollektiv intern nicht eingeschränkt ist. Die entscheidende Abgrenzung zu Modellen von Kymlicka und Taylor bestehen in der Fassung des Kulturbegriffs. Auf Herder rekurrierend ist der Kulturbegriff aufs Engste mit dem Begriff der Gemeinschaft und deren Charakteristika verbunden. Durch den Verweis auf eine andere theoretische Fundierung – hier wird zum ersten Mal Wittgenstein als Gegenspieler zu Herders Kulturverständnis ins Spiel gebracht – wird versucht, den Kulturbegriff von der Gemeinschaft zu lösen. Dadurch kann der Einzelne zum Träger verschiedener Wissensordnungen werden und wie gezeigt, verschiedene Praktiken ausleben. Das darauf zurückgehende Phänomen der Kreolisierung und kulturellen Hybridisierung steht in der theoretischen Tradition Homi Bhabas68. Jedoch wird dem Konzept der kulturellen Interferenzen seine theoretische Schwäche vorgehalten. Um als eigenständige und tragfähige Theorie, losgelöst von seinen postkolonialen Ursprüngen, bestehen zu können, fehlt die theoretische Tiefe.

67Weiterführend:

Fraser, Nancy: From Redistribution to Recognition? Dilemmas of Justice in a ‘Post-Socialist Age’, in: New Left Review, Vol. 1/No. 212, 1995, S. 68–93. 68Hier erneut der Verweis auf: Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London 1994.

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Bevor nun ausgehend von diesen Alternativmodellen des Multikulturalismus die transkulturelle Konzeption als Gegenentwurf betrachtet wird, soll der Blick nochmals auf die hinleitende und rahmengebende Idee der mestiçagem gelenkt werden. Die Kritik am Multikulturalismus und an den Positionen seiner prominentesten Vertreter brachte einerseits drei Parallelen hervor. Die Kritik, dass das Konzept von Kultur im Extremfall als Zwangsjacke fungiert, wurde auch Gilberto Freyre und seiner Idee der mestiçagem entgegengebracht. Ebenso leiden beide an dem Vorwurf, dass sie von einer edlen Grundidee geleitet seien, in der Ausführung aber doch einem versteckten Rassismus unterlägen. Gleichermaßen stehen sie im Kreuzverhör, realexistierende Herrschafts- und Machtverhältnisse geschickt unter dem Deckmantel von Kultur zu retuschieren. Andererseits zeigt sich deutlich, an welchen Stellen, die beiden Ansätze voneinander abweichen. Die Kritik, die Authentizität trete im Multikulturalismus wie ein Regime auf, ist der Idee der mestiçagem nicht bekannt. Auch der Vorwurf, Gruppenrechte überzubetonen und damit durch Ethnozentrismus zu Segregation und Parallelgesellschaften zu führen, widerspricht Freyres Idee. Besonders interessant für die angestrebte Analyse ist jedoch, in welchen Punkten die gezeigten multikulturellen Alternativmodelle auf diese Kritik reagieren. Denn die dabei verwendeten Elemente, die das klassische Konzept erweitern sollen, sind es, die an die Idee der mestiçagem erinnern und die Überleitung zur transkulturellen Konzeption von Kultur darstellen. Diese Elemente der Alternativmodelle sind zum einen die Vermittlung und die Hybridisierung, zum anderen die Forderung, die Kultur nicht ohne zugehörigen ökonomischen Kontext zu betrachten. Diese Elemente, die bereits bei Freyre immer wieder identifiziert wurden, leiten an, die Idee der mestiçagem als eine Alternative zum Multikulturalismus zu betrachten und dabei die Möglichkeit, sie als transkulturell einordnen zu können, zu untersuchen. Die zentrale Forderung der vorgestellten Alternativmodelle bezog sich zudem auf die Neufassung des multikulturellen Kulturbegriffs, der auf Herder zurückgeht. Dies soll auch die angestrebte Analyse anleiten und zum Untersuchungsgegenstand werden. Die Frage, was das transkulturelle Konzept kennzeichnet wird somit immer bedeutender. Worin besteht die Abgrenzung zum Multikulturalismus? Kann das Transkulturelle überhaupt als eine Form von -ismus verwendet werden? Inwiefern gehen die unterschiedlichen Ansätze auf die theoretische Unterschiedlichkeit des Kulturbegriffs zurück? Kann es eine transkulturelle Lösung der multikulturellen Defizite geben? Verkürzt ausgedrückt, hat die Analyse bisher gezeigt, dass der Multikulturalismus ebenso wie die Multikulturalität von der Theorie und Praxis der Zuordnung leben. Dabei scheint das Konzept an dem stetigen Rückbezug auf das Merkmal der Ethnie zu kranken. Der Universalismus erscheint als

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großer Gegner und gleichzeitig als Zufluchtsort und Strukturgeber. Inwiefern sich transkulturelle Merkmale diesem Konzept entgegenstellen oder anschließen, soll im nächsten Kapitel bearbeitet werden.

2 Kulturelle Identität als subjektinternes Mosaik: Die Transkulturalität Die Silbe trans ist vor allem als räumlicher und symbolischer Begriff in Verwendung. Traditionell wird trans mit einer Form des Hinübers oder eines Brückenschlags in Verbindung gebracht. Alltägliche Beispiele wie der Begriff des Transporters, des Transatlantiks oder der Transplantation implizieren diese räumliche Auffassung von der Bewegung zwischen zwei Orten. Jedoch bedingen weitere Komposita von trans auch eine zeitliche Dimension, die mitschwingt. Bei der Transzendenz beispielsweise ist die räumliche Bewegung nur mehr symbolisch und der zeitliche Aspekt kommt hinzu. Allgemein ist die Konnotation von trans als Wegstrecke und Metamorphose der Punkt, an dem Raum und Zeit gleichzeitig wirken. Die Idee, dass es Grenzen zu transzendieren gilt, ist, wie gezeigt, nicht ein genuin modernes Phänomen, jedoch kann man beobachten, dass Konzepte wie Transgender, Transhumanismus und eben auch Transkulturalität mit der Moderne an Bedeutung und Eigendynamik zunehmen. Kulturtheoretisch, aber auch politikwissenschaftlich, erlangen die Trans_Konzepte ab dem Moment Relevanz, wenn „die zu überschreitenden Grenzen, die zu transzendierenden Entitäten als Einschränkung, ideologische Verblendung, Herrschaftsformation oder affirmative Systemreproduktion angesehen“ (Kimmich 2016: 264) werden (vgl. ebd.: 263–264). In diesem Teil gilt es, die Konzeption von Translation und die systematische Weiterentwicklung zur Transkulturalität grundlegend zu erörtern. Die Analyse macht es sich auch zum Ziel, kritisch denkend aufzudecken, inwiefern die natürlichen fluiden Grenzverläufe und durchlässigen Konturen durch Begriffe wie Transkulturalität und Hybridität erst aufgrund ihrer schablonenhaften Verwendung regelrecht verfestigt werden (vgl. Rau 2016: 15). Damit verbunden, scheint es nötig, die theoretische Tiefe und die damit zusammenhängende Leistungsfähigkeit des Konzepts der Transkulturalität zu beleuchten. Der Blick in die Diskussionshistorie und der konkrete Bezug zu Herders Theorie im Falle des multikulturellen Konzepts hat neue Aspekte beleuchtet und die Debatte bereichert. Methodisch ist dies für das transkulturelle Konzept ebenfalls anvisiert, indem auch paradigmatisch Wittgensteins Theorie des Sprachspiels herangezogen wird. Auch die Analyse, inwiefern die Idee der mestiçagem mit den Merkmalen des transkulturellen Konzepts deckungsgleich oder abweichend ist, soll

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davon ausgehend, angestellt werden. In Anlehnung an die Erschließung der multikulturellen Perspektive erscheint es notwendig, ähnlich zu verfahren und mit der Hinführung an dieser Stelle die Bedeutung des Suffixes in den Blick zu nehmen. Bedeutung des Suffixes im transkulturellen Kontext Die begriffliche Schwammigkeit, die bereits im multikulturellen Diskurs festgestellt wurde, wenn es um die Abgrenzung der Themenfelder -tät und -ismus geht, bedarf auch, angepasst an den transkulturellen Diskurs, einer Klärung. Es wurde bereits deutlich gemacht, dass eine beliebige begriffliche Verwendung oder eine Vermischung zu Ungenauigkeiten und Fehlschlüssen führt. Die Bedeutungen der Ableitungssilben – die Zustandsbeschreibung im Falle von -tät beziehungsweise die Ideologie, die Glaubenshaltung oder das politische Programm bei der Form des -ismus – spiegelten bereits wider, dass je nach Variante andere Konnotationen und Funktionen einer Begrifflichkeit ausgedrückt werden. Der Unterschied des transkulturellen im Gegensatz zum multikulturellen Begriffsspektrum besteht darin, dass es zunächst nicht die Suffixformen -tät und -ismus sind, die es voneinander abzugrenzen gilt. Der bisherige Forschungsstand beschränkt sich darauf, das Konzept der Transkulturation und der Transkulturalität gegeneinander zu stellen. Trotz gelegentlicher Verwendung der Ausdrucksform Transkulturalismus erscheint diese als beliebige oder vor allem auf Unwissen gründende Begriffsverwendung, denn eine Erläuterung dieser Begrifflichkeit samt ihrer Konnotation, Funktion und realen Bedeutung stellt ein Desiderat dar. Wie es im Folgenden im Detail zu zeigen gilt, basiert die Unterscheidung der transkulturellen Modelle der -tion und -tät nicht wie im multikulturellen Diskurs auf der Abgrenzung von Beschreibung und Programm. Hier verbleibt man auf der beschreibenden Ebene, wobei Raum und Zeit als Abgrenzung auftreten. Die Transkulturation spiegelt nämlich einen dynamischen Prozess von Hybridisierung wider, der mit den Strukturen der Kolonialzeit und deren Logiken verbunden ist. Transkulturalität dagegen bezieht sich auf das Beleuchten und Skizzieren postkolonialer Praktiken und Realitäten, denen ein soziales Imaginäres, also ein Kontinuum, eingeschrieben ist, das die Moderne mit dem kolonialen Erbe verbindet (vgl. Tuer 2010: 209). Mit Trans_Konzepten im Allgemeinen verbindet man also vor allem die Idee des Übergangs und des Überwindens. Durch den Blick auf die bisher mehrheitlich verwendeten Suffixformen im kulturellen Kontext wurde deutlich, dass sich die Debatte dabei auf die Beschreibung von dynamischen Prozessen bezieht. Eine natürliche Unschärfe, die diesem Begriffskonzept genuin eingeschrieben ist, will der aktuelle Teil der Arbeit versuchen, zu konkretisieren, beziehungsweise sie soll nutzbar gemacht werden. Dazu folgt die Einordnung der transkulturellen

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Konzepte in den Kontext der Moderne und eine vertiefte Betrachtung, welche Funktionen das Präfix trans einnehmen kann.

2.1 Situation der Moderne Wie zu Beginn der Verweis auf die Vorbedingungen in der Darstellung der multikulturellen Konzeption die Begrifflichkeit in den Kontext der Moderne einbettet, soll auch in diesem Teil der Arbeit die Situation der Moderne beleuchtet und nachvollziehbar gemacht werden, wie sich die transkulturellen Konzepte darin positionieren. Es wurde herausgearbeitet, dass sich der Multikulturalismus als eine Reaktion auf die Gefahr einer kulturellen Homogenisierung versteht, die empfundener Maßen von der Globalisierung in modernen Zeiten ausgeht. Die Konsequenz des erstarkenden Rückbezugs zur eigenen Identität stand, wie gezeigt, in der multikulturellen Ausgangsdiskussion im Zentrum.69 Bereits vor der Implementierung multikultureller Maßnahmen war das gesellschaftliche Phänomen der Multikulturalität als gesellschaftliche Realität bekannt. Dieser historische Rückblick ist in dieser Weise auch auf die modernen, aktuellen transkulturellen Konzepte anwendbar. Der Gedanke des fließenden Übergangs zwischen Kulturen und das Erschaffen von etwas Neuem durch das Aufeinandertreffen verschiedener Entitäten ist nichts, was nicht schon seit den frühesten Gesellschaftsformen erfahrbar gewesen wäre. Neu ist die Verknüpfung dieser Gedanken und dieser Beobachtung mit anderen Konzepten der Moderne und dem Streben, das Phänomen theoretisch sowie philosophisch zu verstehen und eingrenzen zu wollen.70

69Siehe

dazu Punkt Vorbedingungen im Kapitel zum Multikulturalismus. muss an dieser Stelle aber erneut Hannah Arendt angeführt werden, die laut Herb in ihrer Vita activa der Moderne einen kritischen Befund ausstellt. Demnach ermögliche die Moderne erst, dass sich der Einzelne in seiner Intimität selbst entdeckt. Was für das transkulturelle Denken die Grundvoraussetzung symbolisiert, um im Alltag und auf der Mikroebene in den Austausch mit anderen zu treten, verkörpert für Arendt die Auflösung des Politischen und der politischen Pluralität. Der Widerspruch zur transkulturellen Öffnung auf allen Ebenen wird zudem deutlich, wenn der Philosoph und Politikwissenschaftler Karlfriedrich Herb der Denkerin eine Art republikanische[…] Klaustrophobie unterstellt, [die] den öffentlichen Raum an all seinen Grenzen bedroht [sieht]: durch das Eindringen des Privaten (Herb 2014: 36). Siehe näher zu Arendts Verständnis von Moderne und Intimität: Herb, Karlfriedrich: Die republikanische Klaustrophobie – Politischer Raum bei Hannah Arendt, in: Ders./Mareike, Gebhardt/Kathrin, Morgenstern (Hrsg.): Raum und Zeit. Denkformen des Politischen bei Hannah Arendt, Frankfurt a. M. 2014, S. 27–37.

70Abgrenzend

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Die Aufmerksamkeit für transkulturelle Konzeption von Kultur steht in einem engen Zusammenhang mit dem Prozess des nation building des 19. und 20. Jahrhunderts. In der westlichen Hemisphäre beinhaltet dieser, dass das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz einer Modifizierung unterzogen wurde: Die Gleichheit der Kultur. Kulturelle Andersartigkeit, bedingt durch Einwanderung oder Zugehörigkeit zu einer – oftmals indigenen – Minderheit, bedeutete, dass man mit der kulturellen Mehrheit nicht gleich und damit einhergehend auch nicht vor dem Gesetz gleich war. Das Wort der Stunde lautete: Anpassung (vgl. Hoerder 2005: 20). Bezeichnungen wie entwurzelt oder in limbo wurden verwendet, um die Lebensformen von Migranten aus einem staatszentrierten Denken heraus zu erfassen. Das Verständnis transkultureller Formen des Zusammenlebens aufgrund unterschiedlicher kultureller Hintergründe fand keine Beachtung, da jene vor allem in den alltäglichen Beziehungen und nicht primär im politischen System zu finden waren. Es war die feministische Perspektive der Migrationsforschung, die die transkulturelle Wende, den Paradigmenwechsel, herbeiführte. Die Forderung nach einer internationalisierten und theoretisch fundierten Herangehensweise, um die Lebensformen von Migranten und Migrantinnen zu erfassen, ermöglichte es, dass der Begriff transkulturell zum Schlüsselbegriff avancierte (vgl. ebd.: 25). Die Globalisierung trat schon in der multikulturellen Diskussion in den Vordergrund, dort eher als Gegenspieler. Im transkulturellen Kontext wird sie vor allem aus einer zeitlichen und räumlichen Perspektive heraus als bedrohlich empfunden. Die zeitliche Delimitierung führt dazu, dass die Zeit ihren ordnenden Charakter für die Abläufe des Lebens verliert. Ein Beispiel kann hier sein, die globalen wirtschaftlichen Prozesse und Kommunikationswege zu betrachten, die sich nicht mehr an jeweiligen Zeitzonen oder Arbeitszeitregelungen orientieren, sondern von ständiger Verfügbarkeit, unabhängig von lebensordnenden Zeitmustern, geprägt sind. Das Beispiel greift auch für den Aspekt der räumlichen Delimitierung, also der Entgrenzung der Lebensräume. Es spannt sich ein Beziehungsnetz quer über den Globus, das sich von zeitlichen und räumlichen Grenzen gelöst hat. Diese Entwicklung ist ein „Paradigmenwechsel, der mehr ist als ein neutraler Austausch des einen durch ein anderes Paradigma“ (Elm 2001: 6). Es ist leicht vorstellbar, dass sich dieser Entwicklungsprozess auch auf die kulturellen Identitätsmuster niederschlägt. Das transkulturelle Konzept versucht zu beschreiben, wie diese kulturellen Formen des Übergangs und der Bewegung Grenzen sprengen, obsolet machen oder neue Identitäten schaffen (vgl. ebd: 5/6). Als Ausganglage für die Betrachtung der Trans_Konzepte stellt sich somit ein Gesellschaftsbild der Moderne dar, das davon geprägt ist, dass sich die Individuen von alten Traditionsmustern lösen und die Gesellschaft ein ausdifferenziertes Bild

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annimmt.71 Der angesprochene Paradigmenwechsel, der in seiner Komplexität und Reichweite nicht zu unterschätzen ist, schlägt sich aber auch darin nieder, dass auf vertikaler gesellschaftlicher Ebene der gemeinsame Nenner verloren geht. Sich von den Individuen der gleichen sozialen Schicht, durch die man aufgrund von Traditionen, Geschichte, Religion oder Nationalbewusstsein verbunden ist, zu entbinden, kann mit der Gefahr der Orientierungslosigkeit einhergehen. Positiv ausgedrückt, kann die Entwicklung hin zu einer sogenannten Multioptionsgesellschaft auch als Chance betrachtet werden (vgl. Elm 2001: 6/Stoll 2005: 2). Die bereits im multikulturellen Diskurs angesprochene Spannung zwischen Massenkultur und kulturellem Eigenwert tritt auch bei dieser Betrachtung der modernen Bedingungen wieder zu Tage (vgl. Epstein 2009: 328). Der Unterschied zwischen einem multi- und einem transkulturellen Vorgehen bezüglich des Erfassens der Kennzeichen der Moderne könnte darin bestehen, dass die erste Herangehensweise lösungsorientiert vorgeht und einen Missstand, nämlich das Ungleichgewicht kultureller Gruppen in einem staatlichen Gefüge auszugleichen versucht. Die zweite fordert im Gegensatz dazu, die kulturellen Entwicklungen nicht an den staatlichen Grenzen enden zu lassen, sondern es wird dann vielmehr eine Harmonie der kulturellen Gruppierungen als möglich betrachtet, wenn sich kulturelle Identitäten losgelöst von Begrenzungen entfalten können. Bevor die Ausführungen zeigen, welche Positionen im transkulturellen Feld bezogen werden, wie sie sich vom Multikulturalismus abgrenzen und welche Kritik angebracht werden muss, sind noch zwei Schritte notwendig: Um den den transkulturellen Konzepten zugrunde liegenden Kulturbegriff herauszufiltern und damit die philosophische Basis deutlich werden zu lassen, ist es nötig, einen Blick in die Begriffshistorie zu werfen, um den Gegenstand besser einordnen zu können. Dem vorgelagert soll zunächst jedoch eine Erläuterung zu den Kennzeichen, auf denen das transkulturelle Verständnis fußt, gegeben werden.

71An dieser Stelle muss deutlich gemacht werden, dass diese Bestandsaufnahme vorwiegend für westliche Industriegesellschaften im Allgemeinen gilt. Die Auswirkungen der Globalisierung sind in allen Gesellschaften spürbar, nur kann nicht verallgemeinert werden, eine Ausdifferenzierung sei stets die Folge ist. Die Reaktion des Rückzugs und der Abschottung sind ebenfalls denkbare und feststellbare Phänomene. Und auch innerhalb der westlichen Hemisphäre sind Reaktionen wie populistische Bewegungen als deutlicher Gegenentwurf auszumachen.

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2.2 Kennzeichen und Merkmale Grundsätzlich konnte bereits festgestellt werden, dass der Umgang mit dem transkulturellen Konzept ähnlich wie die multikulturellen theoretischen Erklärungsformen einer gewissen Unschärfe unterliegt, wenn man die Suffixwahl betrachtet. Wie im vorherigen Punkt angeschnitten, wird im transkulturellen Diskurs vorwiegend zwischen Transkulturation und Transkulturalität unterschieden. Beide Formen sollen in dem sich diesem Kapitel anschließenden Teil genauer voneinander abgetrennt werden, indem die Begriffsgeschichte in Augenschein genommen wird. Vorweg ist an dieser Stelle jedoch bereits die Grundunterscheidung zu verdeutlichen. Mit dem Begriff der Transkulturation soll die Hybridisierung von Kultur zum Ausdruck gebracht werden. Es geht dabei um eine Beschreibung des Kampfes zwischen sich begegnenden Kulturen. Den zeitlichen Kontext bildet die Kolonialzeit. Diese Periode ist auch für den Begriff der Transkulturalität entscheidend, wenn auch eher rückblickend. Dieser Begriff bezieht sich auf soziale Praktiken, die sich von einem sozialen Imaginären ableiten, das durch die kolonialen Gesellschafts- und Machtverhältnisse entstanden ist und weiter fortbesteht. Es ist somit ein postkolonialer zeitlicher Kontext, der sich mit den Nachwirkungen kolonialer Kontinuitäten beschäftigt (vgl. Tuer 2010: 209). Auch wenn an manchen Stellen die Leistungsfähigkeit der Transkulturalität und ihrer Konzeption hinsichtlich der Lösung des Problems der sozialen Ungleichheit in Zweifel gezogen wird (vgl. Rau 2016: 15), so ist der Anspruch dieser Arbeit doch ein anderer. Es wird hier vielmehr nach der theoretischen Trag- und Leistungsfähigkeit dieses Konzepts gefragt. Und wenn der Form der Transkulturation auch das negative Image anhaftet, durch ihre Dynamik sogar Ungleichheit manifestiert zu haben (vgl. Vautier 2006: 370), so ist aus der angestrebten Fragestellung heraus Vorsicht vor einer Vorverurteilung des Konzepts geboten. Da sich, wie gesagt, die Analyseebene auf die theoretischen Komponenten des Konzepts bezieht, werden die Kennzeichen und Merkmale herausgearbeitet, bevor man sie in einen größeren theoretischen Zusammenhang bringen kann. Mit dem Präfix trans geht eine etymologische Öffnung einher, die es mit sich bringt, dass statische Begriffe beginnen, sich zu lösen. Doch nicht nur auf der begrifflichen Ebene wird eine Dynamik mit der Verwendung des trans angestoßen, sondern auch die Identität des Einzelnen muss in dieser Denkweise als Bewegung verstanden werden (vgl. Soto 2004: 151). Neben der Bewegung als grundlegendem Kennzeichen tritt hinzu, dass das Erzeugen von etwas Neuem

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erscheint. Dieses Schaffen, beziehungsweise Entstehen von neuen Lebensformen stellt ein zentrales Merkmal dar. In der transkulturellen Konzeption geht es darum, diese neu entstandenen Lebensweisen zu erfassen, die sich durch Amalgamierung von Elementen verschiedener Kulturen herausbilden konnten (vgl. Sandkühler 2004: 3). In ihrem Vorwort „Zum Status der Trans_Konzepte“ zeigen Ariane Rau und ihre Mitautorinnen auf, dass zudem die Grenze ein entscheidender Faktor ist. Vor allem sind es die fluiden Grenzverläufe, die laut den Autorinnen das Phänomen darstellen, das es greifbar zu machen gilt. Rau und Kollegen gehen sogar soweit, zu sagen, die Trans_Konzepte bei der Betrachtung des Phänomens des Prozesses und des Werdens gingen analytisch und konzeptionell vor (vgl. Rau 2016: 7). Daraus lässt sich ableiten, dass bis hierhin zwei Merkmale auszumachen sind, die ein transkulturelles Denken bestimmen: Der kulturelle Übergang zum einen und die Kraft der Transformation zum anderen. Bei diesem Übergang darf die Grenze jedoch nicht im klassischen, statischen Sinn gedacht werden, Grenzen erscheinen vielmehr als koexistente Netzwerke, die einer andauernden Transformation unterliegen (vgl. Sandkühler 2004: 3). Da die Diskussion um den transkulturellen Umgang mit Diversität und kultureller Pluralität den Ausgangspunkt bildet, muss hervorgehoben werden, dass die transkulturellen Konzepte nicht ohne den kulturellen Bezug angesprochen werden können.72 Spiegeln sich doch in der Debatte um Transgender beispielsweise ebenfalls die bereits genannten Kennzeichen wider, so bleibt es spezifisch zu zeigen, wie die Kennzeichen des Übergangs und der Transformation im explizit kulturellen Feld Anwendung finden. Zunächst bricht die transkulturelle Konzeption von Kultur mit den klassischen Formen und sucht nach einer Kulturverfasstheit jenseits dieser bekannten Muster. Diese Suche nach neuen Kulturformen hat eine transversale Dynamik. Die neuen Formen können sich nur entwickeln, wenn die bisher bestehenden durchschritten wurden. Durch diesen Prozess soll mit der bereits angesprochenen Amalgamierung von alten Elementen etwas genuin Neues geschaffen werden – also eine neue Kulturform auf Basis von durchdrungenen alten Kulturformen. Dabei kann aber diese Form geschaffen werden, die an sich schon anschlussfähig ist – diese kulturelle Anschlussfähigkeit findet sich auch in verschiedenen Bereichen, wie beispielsweise Kunst und

72Der

Begriff Trans_Konzepte kann als Überbau zu den Bedeutungen der Suffixe -tion und -tät verstanden werden. Jedoch unter der Prämisse, dass sich von anderen Formen wie Transgender, Transatlantik, Transport etc. abgegrenzt wird und nur der kulturelle Bezug betrachtet wird.

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Literatur (vgl. Elm 2001: 12–13).73 Mit dem Blick auf das Individuum gerichtet, zielen die transkulturellen Konzepte darauf ab, den Einzelnen von seiner Determinierung durch Kultur zu befreien (vgl. Epstein 2009: 336). Die Literaturwissenschaftlerin Dorothee Kimmich stellt darüber hinaus fest, dass eine transkulturelle Kulturvorstellung nur schwer mit einer systemtheoretischen Herangehensweise vereinbar ist. Das Verhältnis von System, Systemgrenze und Systemkommunikation bleibt unklar. Nach Kimmich hängt diese Unschärfe eng mit dem Begriff von Differenz zusammen. Das transkulturelle Konzept arbeitet weder rein erkenntnistheoretisch noch ausschließlich mit politischen und geschichtlichen Grenzziehungen. Sie lassen sich somit weder der linguistischen Differenztheorie noch den Kulturwissenschaften zuordnen. Kimmich nennt jedoch eine Möglichkeit, die transkulturellen Konzepte in ein Modell einzuordnen, das „nicht auf der Bestimmung von Einheiten durch ihre Differenz zu anderen Einheiten – Zeichen oder auch Systeme –, sondern auf einer granularen Abstufung von mehr oder weniger Ähnlichkeit im Hinblick auf einen Idealtypus“ (Kimmich 2016: 266–267) beruht: Die Fuzzy Logic74. In diesem aus der Philosophie stammenden Modell geht es darum, „Grenzen […] nicht als Demarkationslinien, sondern als breite Zonen zu denken“ (Ebd.: 267). Die Linguisten um Eleanora Rosch75, George Lakoff76 und Lotfi Zedah77 nehmen in den 1970er Jahren Bezug auf Ludwig Wittgensteins Modell der Familienähnlichkeiten.

73Als

Beispiele des künstlerischen Lebens kann das Institut du monde arabe in Paris angeführt werden. Das Institut wurde eingerichtet, um den kulturellen Austausch zwischen Frankreich und der arabischen Welt zu stärken. Gegründet 1987 vom französischen Architekten Jean Nouvels steht das Institut heute auch für die Synthese aus traditioneller Ornamentik und High-Tech-Architektur. Siehe mehr dazu auf der Homepage des Instituts: https://www.imarabe.org/fr. 74Das Verständnis der Fuzzy Logic, dass Identitäten und Differenzen als Erklärungsmuster von der Betrachtung der Ähnlichkeit verschiedener Phänomene abgelöst wird, geht auf die Fuzzy-Set-Theorie, also die unscharfe Mengenlehre, von Lotfi Zadeh zurück, der sie an der University of California, Berkeley entwickelte. Siehe dazu: Zadeh, Lotfi Askar: Fuzzy sets, in: Information and Control, Vol. 8/No. 3, Amsterdam 1965, S. 338–353. 75Zur Prototypenlehre von Eleanor Rosch: Rosch, Eleanor: Natural Categories, in: Cognitive Psychology, Vol. 4/No. 3, Amsterdam 1973, S. 328–350; Rosch, Eleanor: Cognitive Representations of SemanticCategories, in: Journal of Experimental Psychology, Vol. 4/No. 3, Washington 1975, S. 192–233. 76Siehe näher dazu: Lakoff, George: Linguistik und natürliche Logik, Frankfurt 1971. 77Weiter: Zadeh, Lotfi Askar: Fuzzy Languages and their Relation to Human and Machine Intelligence, in: Maurice, Marois (Hrsg.): Man and Computer. Proceedings, Basel 1972, S. 130–165.

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Wittgensteins Spieltheorie lebt von der Vagheit, da ein expliziter Grenzbegriff nicht angewandt wird. Die Konnotation der Vagheit nimmt dabei positive Züge an bis hin zu dem Punkt, dass sie als erstrebenswerter Zustand und nicht als Defizit wahrgenommen wird. Auch die linguistischen Ansätze aus den 1970er Jahren zeichnen sich dadurch aus, dass die relative Ähnlichkeit von Phänomenen untersucht wird und die wissenschaftlichen Kategorien wie Identität und Differenz in den Hintergrund rücken (vgl. ebd.: 266–268). Auch wenn die Theorie der Fuzzy Logic und damit auch der Begriff der Vagheit und die Überlegungen Wittgensteins aktuell mehr in der psychologischen Diskussion Aufmerksamkeit auf sich ziehen (vgl. Smith 1993: 216/Rehkämper 2005), so bleibt es doch der Anspruch, den Bezug zu diesem Modell und damit auch verbunden zu Wittgenstein und seinem Kulturbegriff aus einem philosophischen Ansatz heraus im Auge zu behalten.78 Ein weiteres Kennzeichen transkultureller Konzepte ist der Dialog, beziehungsweise die Interaktion. Die kubanische Poetin Nancy Morejón widmete sich 1982 in ihrem Werk Nación y mestizaje en Nicolás Guillén79 der transkulturellen Logik. Mit Verweis auf die kubanische Kolonialgeschichte und die damit verbundene Vermischung der Kulturen, arbeitet sie heraus, dass die transkulturelle Lebensform konstant aus einer Interaktion von mindestens zwei aber auch durchaus mehreren kulturellen Komponenten besteht. Der entscheidende Faktor dabei ist die forcierte Ungewissheit über den Ausgang. Welche Art der Auswirkungen diese Begegnung mit sich bringt, darf und kann nicht vorher festgelegt sein. Jedoch wird von einer Prämisse ausgegangen: Der dialogische Prozess strebt stets die Bildung einer dritten kulturellen Entität an (vgl. NavarroAyala 2012: 17). Dieser Prozess unterliegt darüber hinaus noch einer inneren Logik, nämlich dem Verlauf aus Aufklärung, Missverständnis und Neubewertung der Identität. Dieser Dreiklang lässt bereits erahnen, dass für die Identität des Einzelnen der Prozess der Neuaushandlung seiner Otherness durchaus schmerzhafte Züge mit sich bringen kann.80 Jedoch ist ein übergeordnetes Ziel

78Similarity

als Prinzip der Anordnung umstritten. Siehe dazu: Smith 1993: 216. Nancy: Nación y mestizaje en Nicolás Guillén, La Habana 1982. 80Ideengeschichtlich hat dieses zwiespältige Verhältnis zwischen dem eigenen Selbst und dem Anderen eine lange Tradition. Karlfriedrich Herb verweist dabei auf Jean-Jacques Rousseau, der die Frage stellt, was in dem Moment passiert, wenn das eigene Selbst auf den Anderen trifft. Der Vergleich mit dem Anderen bedeutet für Rousseau eine Art Selbstentfremdung. Herb macht deutlich, dass der natürliche, wilde Mensch sich seiner selbst genug ist und es der Anblick durch den Anderen und seine Meinung sind, die den Verlust des eigenen Selbst bedeuten. Siehe detailliert dazu: Herb, Karlfriedrich: Beyond 79Morejón,

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auszumachen: Die Transformation der Identität aller (vgl. Dupuis 2008: 500). In bildhafter Sprache ausgedrückt, kann dieser dialogische Prozess als Geburt bezeichnet werden. Das sich aus dem Dialog, der Interaktion, entwickelnde neue Subjekt nimmt die alten Elemente in sich auf, transformiert sie aber zu etwas Neuem, Eigenständigem (vgl. Navarro-Ayala 2012: 18–19). Dieses Merkmal lässt in Vorschau auf den Kontext der semantischen Entwicklung des transkulturellen Konzepts bereits auf die Nähe zu und die Verknüpfung mit der Figur des Mestizen und die damit verbundenen sozialen, kulturellen und psychologischen Konzepte des Mestizentums schließen. Eingängig stehen der Begriff und seine Formen Pate für die Geburt einer neuen Menschenart, die alte Formen in sich aufnimmt und neu interpretiert. Alan West-Durán, ein aus Kuba stammender Literaturkritiker und Experte für afro-karibische Kultur, nimmt direkt auf Morejón Bezug und gibt zu bedenken, dass dieser Prozess des Dialogs und der Interaktion auch praktische Folgen mit sich bringt. In seinen Augen sind asymmetrische Machtverhältnisse die Konsequenz. Er beschreibt sie folgendermaßen: Colonial imposition (conquest, slavery, racialist domination), obligatory assimilation, genocide, political cooptation, passive resistance (theft, sabotage, feigning sickness, illegal trade), political subterfuge, tricksterism, and outright rebellion. From the point of view of subjugated peoples, the cultural response can involve mimicry, commercial exploitation top-down appropriation, and bottom-up subversion (irony, parody, pastiche, carnival, open revolt). (West-Durán 2005: 986)

Der australische Professor für cultural studies Jeff Lewis ergänzt West-Durán an dieser Stelle, wenn er feststellt, dass die Integration als Machtverhältnis im transkulturellen Konzept nicht vorgesehen ist. Wie gesagt, sind es der Übergang und die Transformation, die die Machtbeziehungen zwischen sich begegnenden Kulturen hervorbringen: Diese sind vor allem erzeugt durch Sprache und Geschichte: Transculturalism does not seek to privilege the semiotic over the material conditions of life, nor vice versa. Rather, it accepts that language and materiality continually interact within an unstable locus of specific historical conditions. However, our

understanding Rousseau and the Beginning of the Other, in: Ders./Barbara, Weber/Eva, Marsal/Takara, Dobashi/ Petra, Schweitzer (Hrsg.): Cultural Politics and Identity, Wien 2011, S. 11–15.

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access to and knowledge of these material and historically defined conditions are necessarily filtered through an engagement with language and language wars. (Lewis 2002: 25)

Damit kann abrundend zu den beiden Grundmerkmalen des kulturellen Übergangs und der kulturellen Transformation hinzugefügt werden, dass die Aspekte der Interaktion und des Dialogs sowie der ‚Geburt‘ einer genuin neuen Entität aus bereits vorhandenen Gesichtspunkten zu diesen hinzutreten. Neben einem progressiven Umgang mit dem Begriff der Grenze, aber auch der Differenz, trat hervor, dass die Machtbeziehungen im transkulturellen Diskurs neu konstruiert werden. Ergänzend zu den Merkmalen von transkulturellen Konzepten, die von außen sichtbar werden und übergreifend erkennbar sind, erscheint es wichtig, das Selbstverständnis dieser Konzepte und die auf sie wirkenden Einflüsse ebenso miteinzubeziehen. Transkulturelle Konzepte verstehen sich selbst als Praxis einer kulturellen Kreativität und gleichzeitig als eine performative philosophische Analyse. Darüber hinaus will das Konzept als ein Akt des gesellschaftlichen Widerstands gesehen werden (vgl. Navarro-Ayala 2012: 17). Vor allem inwiefern das Selbstverständnis als (performative) philosophische Analyse mit der in dieser Arbeit angestellten Untersuchung des Konzepts nach seiner philosophischen und theoretischen Tragfähigkeit übereinstimmt oder auseinanderklafft, wird es zu zeigen gelten. Das transkulturelle Denken entwickelte sich jedoch nicht isoliert von anderen Einflüssen. Es bettet sich in seinem heutigen Verständnis in gewisse Denktraditionen und -muster ein. Eine Dreiergruppe Anthropologinnen – Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Szanton Blanc – etablierte im USamerikanischen Kontext zu Beginn der 1990er Jahre das Konzept der transnationalen Migration. Der Anspruch der Autorinnen bestand darin, darauf aufmerksam zu machen, dass Migranten soziale Praktiken aus verschiedenen Nationalstaaten verwenden und somit sich selbst nicht nur einer nationalen Gemeinschaft zugehörig fühlen, sondern mindestens zweien, wenn nicht mehreren. Dieser Versuch der Loslösung von einem binären Denken – Emigrant und Immigrant – führte dazu, wie der Soziologe Alejandro Portes es ausdrückt, wie offensichtlich wird, dass transnationale Migranten ein „doppeltes Leben“ führen und wie damit ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Interessen zwischen den verschiedenen Nationen und Kulturen stattfinden (vgl. Lüthi 2005). Diese nicht unumstrittene Perspektive in der Migrationsforschung macht an dieser Stelle deutlich, dass sowohl der Prozess als auch der Dialog kennzeichnend sind. Was aber noch wichtiger erscheint, ist die Verbindung beider Konzepte durch ihr Verhältnis zum Raum. Die Dynamik, die durch transkulturelle Prozesse

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im Raum entsteht, soll diesen von einer statischen und ahistorischen Konzeption lösen. Geschichte und Zeit könnten dadurch neu verstanden werden (vgl. Kimmich 2012a: 10–11). Die Idee der Crossing Borders von Gayatri Spivak, die aus einer Kritik an der vergleichenden Literaturwissenschaft im englischsprachigen Raum entsteht und eine Öffnung für interdisziplinäres Denken fordert, spricht ebenfalls den Raum an, der in Bewegung ist und dadurch Kreativität erzeugt (vgl. Spivak 2003).81 „Der Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht“ (de Certeau 1988: 217) – mit diesem Blick des französischen Philosophen Michel de Certeau korrespondiert ein drittes Konzept, das im Zusammenhang mit transkultureller Konzeption genannt werden muss: The Black Atlantic. Das gleichnamige Werk des britischen Soziologen Paul Gilroy aus dem Jahr 1993 verbindet durch die Metapher des Ozeans räumliches mit kulturellem Denken. Ausgelöst durch die Sklaverei sei eine komplexe Neuformierung von Kulturen erzwungen worden.82 Durch die Zwangsverschleppung werden Ort und kulturelle Zugehörigkeit gewaltsam voneinander getrennt – die Beziehung zwischen Ort und Kultur muss überdacht werden. Diese spatial dislocation kann im Sinne von Hybridität und Synkretismus Kreativität hervorbringen, aber gleichzeitig auch Angst erzeugen. Die Funktion des Ansatzes des Black Atlantic innerhalb des transkulturellen Denkens könnte als mahnend beschrieben werden. Der Ansatz zeigt auf, dass Kultur nie im machtfreien Raum entsteht und sich weiterentwickelt. Auch die angepriesene Fluidität kann unter bestimmten machtpolitischen Bedingungen gewaltsam wirken (vgl. Gilroy 2004: 17–22). Die drei grob skizzierten Ansätze nahmen Einfluss auf das transkulturelle Konzept und geben damit vor allem eines zu erkennen: Transkulturalität und ihr zugrundeliegendes Konzept sind Teil des spatial turns83. In der philosophischen Tradition ist die Zeit das dynamische Element und der Raum wird statisch gedacht. Transkulturalität steht jedoch für ein chronisches Raumdispositiv – wie gezeigt, in Verbindung mit Metaphern wie Grenzüberschreitung, Überlappung oder auch Migration. Damit wird bereits an dieser Stelle eine erste Abgrenzung

81Siehe

detailliert dazu das Kapitel zur Ideologie der Planetary in Spivaks Death of a Discipline. Spivak, Gayatri Chakravorty: Death of a Discipline, New York 2003, S. 71–102. 82Ein gewaltsamer Aspekt, der beachtet werden muss: Verschiedene Kulturen des afrikanischen Kontinents werden der faktischen Komplexität der Zusammensetzung unangemessen zu einer einzigen Kultur zusammengefasst. 83Siehe auch weiterführend zur Unterscheidung von spatial turn und topographischer Wende: Bachmann-Medick, Doris: Cultural turns: Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Hamburg 2014.

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zum multikulturellen Konzept deutlich, denn bei jenem muss man von einem chthonischen Raumdispositiv sprechen, das sein Denken von einem spezifisch räumlichen Mittelpunkt ausgehen lässt. Eine bereits an den Schnittstellen mehrfach aufgezeigte postkoloniale Theorie geht auch von dieser chthonischen Perspektive aus und nimmt die Zeit als das Dynamische in den Fokus (vgl. Kimmich 2012: 10–12). Im nächsten Schritt ist es geboten, sich detailliert mit der Begrifflichkeit der transkulturellen Konzepte und ihrer Entwicklung, Abgrenzung und der Genese im länderspezifischen Kontext auseinanderzusetzen. Die bereits angesprochene grundsätzliche Unterscheidung zwischen Transkulturation und Transkulturalität wird hier deutlich zum Tragen kommen und in einen Gesamtüberblick zur Diskussionshistorie eines transkulturellen Konzepts eingebettet.

2.3 Begriffsgeschichte Wie vorweggenommen, widmet sich dieses Kapitel dem Überblick über die Entwicklung der Begriffsgeschichte im transkulturellen Kontext. Angelehnt an das Vorgehen im Kapitel zur Diskussionshistorie des Multikulturalismus wird auch jetzt angestrebt, semantische Abgrenzungen aufzuzeigen und ihre Funktion zu erörtern und ebenso die Diskurse, aus denen sich die Transkulturalität entwickelt hat, zu betrachten. Dabei ist es gewinnbringend, die länderspezifische Entwicklung und Diskussion zu kontrastieren. Im Vorgriff muss angemerkt werden, dass dieser Teil der Arbeit sehr wichtig ist, rückt er doch die spezifisch lateinamerikanische Konnotation und Genese der Begrifflichkeit in den Fokus, was im Gesamtbild der Analyse entscheidend ist. Bevor also die Bedeutung der Americas84 untersucht wird, geht der Blick zuerst zur Disziplin der Literaturwissenschaft. Denn es war eine literaturwissenschaftliche ‚Entdeckung‘, dass es Formen von Kulturen gibt, die als hybrid und somit von einem Zentrum losgelöst bestehen (vgl. Navarro-Ayala 2012: 21). Peter-Ulrich Merz-Benz hebt hervor, dass das Konzept der Transkulturalität eben

84Unter

Americas wird grundsätzlich der gesamte geographische Raum des amerikanischen Kontinents, also sowohl Nord- als auch Südamerika verstanden. Jedoch hat es sich vor allem im US-amerikanischen Kontext etabliert, von den Americas zu sprechen in Bezug auf Themen aus Ländern der südlichen Hemisphäre. Deshalb wird auch in dieser Arbeit mit dem Begriff auf einen Großraum Bezug genommen, der sich geschichtlich, ökonomisch und kulturell von Nordamerika abgegrenzt sieht.

194

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aus vor allem dem Bereich der Literatur- und Sprachwissenschaft sowie aus den Disziplinen der Ethnologie und Kulturtheorie stammt. Damit möchte er verdeutlichen, dass es sich um keinen soziologischen Begriff handelt. Jedoch mit der – auch bereits gezeigten – Anwendung im Bereich der Migrationsforschung entsteht eine Anschlussfähigkeit an die Soziologie über den Begriff des Fremden (vgl. Merz-Benz 2016: 63). Für die vorliegende Analyse ist dies entscheidend, da im Laufe der Begriffshistorie Perspektiven aus verschiedenen Disziplinen vereint werden. In den letzten Jahren wurden beispielsweise im kanadischen Kontext, speziell für die Region Quebec, transkulturelle Konzepte als Analyseinstrumente herangezogen, um die literarische Form der Fiktion zu untersuchen (vgl. Vautier 2006: 370). Bereits im Kanada der 1980er Jahre floss das transkulturelle Denken in die literarische Strömung der migrant literature ein (vgl. Dupuis 2008: 497). Der maßgebliche transkulturelle Impuls in der vergleichenden Literaturwissenschaft ging von Gayatri Spivak und ihrem Werk Death of a Discipline, entstanden im Jahr 2003, aus. Spivak attestiert einen Mangel an Kommunikation innerhalb und zwischen den heterogenen subalternen Kulturen, wodurch global gesehen, ein Problem der eingeschränkten Durchlässigkeit zwischen den Kulturen bestehe. Dieser revolutionäre Aufruf zur Erneuerung des Denkens in der vergleichenden Literaturwissenschaft wird – ohne inhaltliche Bewertung – als Umwälzung gesehen, die eine allgemeine Ausweitung transkultureller Konzeption von Kultur bewirkte (vgl. Rau 2016: 11–12). Im lateinamerikanischen Entwicklungsverlauf ist es der uruguayische Romanist Ángel Rama, der mit seinem Werk Transculturación narrativa en América Latina (1982) das Konzept der Transkulturation des kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz in die Literaturwissenschaft einfließen ließ. Bereits bis hierhin zeigt der Einblick, dass die Literaturwissenschaften zwar nicht alleinige Quelle der transkulturellen Konzeption von Kulturverständnis sind, jedoch im 20. Jahrhundert entscheidend für eine Verbreitung, Vertiefung und Aufwertung verantwortlich waren. Die Formen der transkulturellen Konzepte als Begriffe zu bezeichnen, die Produkte des 20. Jahrhunderts seien, ist damit absolut richtig. Es muss für ein tieferes Verständnis die Vorbedingungen geklärt werden. Und in dieser Retrospektive sind es vor allem die Americas, die als historische Wurzel identifiziert werden können. Bedingt durch die Kolonialgeschichte Lateinamerikas,85 die

85An

dieser Stelle wird nicht auf die Unterscheidung zwischen portugiesischer und spanischer oder auf den Gegensatz zur französischen Kolonialisierungsstrategie Lateinamerikas eingegangen. Die Vermischung der Rassen, bezeichnet als mesticagem/ mestissage/mestice, ist ein Phänomen, das den gesamten geographischen und kulturellen

2  Kulturelle Identität als subjektinternes Mosaik: Die Transkulturalität

195

sich vor allem in der gesellschaftlichen Zusammensetzung niederschlug, trat ein Phänomen hervor, das bis heute für die Region symbolträchtig ist: Der Mestize86. Neben bekannten Konstanten, wie Kolonialherr und Ureinwohner, trat also eine neue Bevölkerungsschicht hervor, die sich aus einem Prozess der Vermischung entwickelte. Dabei waren je nach Länderkontext vor allem die Vermischung von Europäern und Indigenen gemeint oder aber auch der Europäer mit afrikanisch stämmigen Sklaven, sowie weniger beachtet, die Vermischung von Indigenen und Sklaven. José Marti beschreibt den Prozess der Vermischung in seinem Werk Nuestra America im Jahr 1891 als Grundlage der amerikanischen Identität. Marti konstatiert, dass die Bewohner der Americas durch die kolonialen und post-kolonialen Immigrationswellen nicht nur weitgehend biologisch, sondern auch kulturell als Mestizen bezeichnet werden müssen. Die Dialektik mit dem Anderen sei in den Americas somit ein genetischer, aber auch vor allem kulturell eingeschriebener Bestandteil der Identität der Mehrheit der Bevölkerung. Im 19. Jahrhundert sind es vor allem die an die europäischen Institutionen angelehnten Nationalisierungsprozesse, die in Lateinamerika vorangetrieben werden. Als sogenannter Aufbruch in die Moderne wurde versucht, durch ethnische und sprachliche Homogenisierung eine nationale Definition für die einzelnen Bevölkerungen zu konstruieren. Dieser aus Europa importierte und von den Eliten teilweise gewaltsam umgesetzte Ansatz muss als Begründung für die Forderungen des 20. Jahrhunderts gesehen werden. Mit Autoren wie Fernando Ortiz oder Néstor García Canclini wird die Suche nach einer eigenen kulturellen Originalität zur ausschlaggebenden Aufgabe. Diese Originalität sollte aus der eigenen Historie und aus den spezifisch regionalen Prozessen heraus abgeleitet werden und nicht mehr europäische Prozesse und Begriffe als Muster auferlegt

Raum durchzieht, der als Lateinamerika bezeichnet wird. Die einzelnen historischen Prozesse und Bedingungen sind zum Teil sehr unterschiedlich und bedürfen einer gesonderten Betrachtung. Besonders bei der Darstellung des iberischen Expansionsschubs gilt es, die Uneinheitlichkeit in zeitlicher wie regionaler Hinsicht zu beachten. Es darf nicht der Fehler gemacht werden, die iberische Expansion zu verallgemeinern. Siehe näher zum historischen Kontext: Feldbauer, Peter: Globalgeschichte 1450–1620: Von der Expansionsund Interaktionsgeschichte, in: Friedrich Edelmayer/Peter Feldbauer/Marija Wakounig (Hrsg.): Globalgeschichte 1450–1620. Anfänge und Perspektiven, Wien 2002, S. 23–32. 86Der Begriff findet vor allem Gebrauch in Lateinamerika, wobei darunter ein „Mischling“ verstanden wird. Länderabhängig ist auch eine verschiedene Verwendung für die Vermischung von Europäern mit der indigenen Bevölkerung oder den aus Afrika verschleppten Sklaven während der Kolonialzeit möglich.

196

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bekommen. Es war somit einerseits die Forderung nach einer Neudefinition der kulturellen Identität, die sich aus der Schieflage zwischen kolonialgeschichtlich spezifischer Bevölkerungszusammensetzung und starrem Nationalstaatskonzepts ergab. Andererseits forderten oben genannte Autoren auch die Reintegration von Gruppen, die in dem vorausgegangenen Nationalisierungsprozess nicht oder inadäquat mit eingeschlossen wurden (vgl. Côte 2010: 121–122). Der Prozess der Transkulturation stand mit diesem neuen Denken Pate für den kulturellen Entwicklungsprozess lateinamerikanischer Gesellschaften. Er fand auch im späten 20. Jahrhundert Eingang in die Latin American Cultural Studies (vgl. Soto 2004: 149).87 Bis kurz vor dem Übergang ins 21. Jahrhundert hatte die Forschung lateinamerikanische und karibische Konzepte weitestgehend vernachlässigt. Vor allem die Poétique de la relation des franko-karibischen Schriftstellers und Philosophen Edouard Glissant aus dem Jahre 1990 zog Aufmerksamkeit auf sich, da durch den neuen Begriff der Relation klassische Kulturgrenzen gesprengt wurden. Die Hauptaussage seines Konzepts besteht darin, dass jede Identität in einer Beziehung zu einer anderen steht. Statt Identität als identité-racine zu verstehen, die sich im Herder’schen Sinne nach außen abgrenzt und homogenisierend wirkt, spricht Glissant von einer identité-relation und damit von der Identität als etwas Hybrides ohne Endpunkt (vgl. Ernst 2015: 19): „L’identité-relation – est liée […] au vécu conscient et contradictoire des contacts de cultures.“ (Glissant 1990: 158) Sein Ansatz nahm auch Einfluss in Europa und in den USA.88 Diese theoretische Entwicklung war vor allem in der Peripherie, abseits der hegemonialen Mächte Europas, spürbar. Gleichzeitig prallten richtungsweisende Beiträge sowohl aus dem hispanischen, karibischen als auch dem kanadischen Kontext an der nationalstaatlichen Ausrichtung der dominierenden Sozialwissenschaften ab. Deshalb blieben transkulturelle Ansätze, wie der von Fernando Ortiz aus dem Jahr 1940, zu ihrer Zeit unbeachtet. Ein Grund dafür war auch ihre Methodik als grounded theory, die sich auf empirische Forschung bezieht und damit im Gegensatz zu klassischen Kultur- und Sozialtheorien stand (vgl. Hoerder 2005: 26–27).89 Die Wiederbelebung der Transkulturation und die

87Als

die klassischen Vertreter dieser Disziplin gelten Antonia Benítez-Rojo, Mary Louise Pratt, Ángel Rama sowie Sylvia Spitta. In der aktuell erstarkten US-amerikanischen Forschung zu Latino Studies stechen Gustavo Pérez Firmat und José David Salvídar hervor. 88Siehe Ette 2001 89Ein weiterer Antagonist des zu starren nationalstaatlichen Denkens und des Eurozentrismus ist die erkenntnistheoretisch entscheidende Diskurstheorie. Die großen Namen dieser Strömung haben mehrheitlich einen transkulturellen Hintergrund – heißt, dass

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197

anschließende Weiterentwicklung zum Konzept der Transkulturalität zum Ende des 20. Jahrhunderts greift aber auf genau diese lange Zeit verkannten Wurzeln zurück. Deswegen beginnt der autorenzentrierte Blick in die Begriffshistorie auch mit dem kubanischen Anthropologen Fernando Ortiz, dessen Beschreibung der transculturación zum Referenzpunkt transkulturellen Denkens avancierte. Fernando Ortiz prägte mit seinem 1940 in spanischer Sprache veröffentlichtem Werk Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar die Studien zur lateinamerikanischen Kulturwissenschaft, in dem er den Begriff der transculturación etablierte, um die gesellschaftliche Entwicklung Kubas einzuordnen. Ortiz‘ Beobachtungen und Rückschlüsse entstanden nicht plötzlich, sondern sind eng mit dem Denken von José Marti, der im 19. Jahrhundert auf Kuba lebte und wirkte, verbunden. Mit Nuestra America machte Marti 1891 sein Denken zur Genese und Situation der amerikanischen Kultur und ihrer Gesellschaften öffentlich. Marti identifiziert das Mestizentum, den mestiço, als die Wurzel der amerikanischen Kultur.90 Jedoch ist es mehr der Begriff der métissage, also der Prozess der interkulturellen Vermischung, der für den einzelnen Amerikaner von Bedeutung ist. Durch die Kolonialgeschichte bildet sich eine Form der Kultur heraus, die sich aus dem Prinzip zusammensetzt, dass sich eine native, ursprüngliche Bevölkerung mit der durch Immigration ausgelösten neuen und in sich wiederum sehr diversifizierten Bevölkerung vermischt. Diese Mischung, diese Tendenz zum Mestizentum ist es, was jeden Amerikaner sowohl biologisch als auch kulturell ausmacht. Wie bereits erwähnt, aber von Marti

sie in mehr als nur einer Kultur sozialisiert worden sind und durch das Einnehmen verschiedener Perspektiven erkannten, dass es keine universal gültige Theorie und Sprache geben kann. Beispiele für französischsprachige Theoretiker, die biographisch auch in nichtfranzösischen Kontexten sozialisiert wurden und in ihrem Denken die oben angesprochene Antagonistenrolle einnahmen, sind beispielsweise: Roland Barthes, Jacques Derrida, Frantz Fanon, Pierre Bourdieu. Antonio Gramsci und Mikhail Bakhtin reihen sich in die Erfahrung eines transkulturellen Lebens dadurch ein, dass sie den Bruch der Regime des Faschismus und Stalinismus erlebten und diesen Wechsel verarbeitet haben. Siehe dazu Hoerder 2005: 27. 90Marti versteht „amerikanisch“ als ganze Hemisphäre, die sich um Lateinamerika spannt. In seinem erstmals 1891 veröffentlichtem Essay Nuestra América kritisiert er die Abhängigkeit Lateinamerikas von Nordamerika und Europa. Er muss aber auch als politischer Denker eingeordnet werden, der die Einbindung von Indios, Mestizen und Schwarzen in die jeweiligen nationalen politischen Prozesse fordert. Sein Ziel ist es, die lateinamerikanische Gestalt Amerikas von der nördlichen abzugrenzen. Siehe dazu weiter: Marti, José: Nuestra América, Barcelona 1970.

198

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nochmals explizit aufgezeigt, ist die Dialektik mit dem Anderen etwas, was dem Amerikaner und der amerikanischen Kultur qua Biologie und Geschichte eingeschrieben ist (vgl. Cuccioletta 2001: 8). Was Marti zum Ausdruck bringt und für Ortiz zum Ausgangspunkt wird, ist genau diese, sich auf den Anderen beziehende Konstruktion des eigenen Ichs. Die eigene Identität besteht somit niemals isoliert, sondern bedarf stets einer Auseinandersetzung mit Anderen. Der französische Schriftsteller Guy Scarpetta zeichnet dieses Verhältnis in seinem Werk L’impurité 1989 in Form eines Mosaiks nach: „Impurity is the order of the day. The we and you, include also the he and the she of all linguistic groups, of all nationalities, of all the sexes. We are of all the cultures. Each person is a mosaic.“ (Scarpetta 1989: 26) Ähnlich wie Néstor García Canclini91 in den 1980er und 1990er Jahren mit der Entwicklung des Konzepts der Hybridität, versucht auch Ortiz mit dem Konzept der Transkulturation die amerikanische Kultur aus einer kosmopolitischeren Perspektive zu betrachten und ihr einen inklusiveren Charakter zu verleihen. Damit reiht er sich in die neue Welle der Wissenschaftler der 20. Jahrhunderts ein, die den Nationalisierungsprozess des 19. Jahrhunderts, spezifisch in Amerika kritisieren und versuchen, die durch den vormaligen Prozess ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen zu reintegrieren. In seinem berühmtesten Werk geht Ortiz strukturalistisch vor: Die Gegensätzlichkeit, die zwischen den Produkten Tabak und Zucker aufgezeigt wird, soll das koloniale Aufeinandertreffen europäischer, indigener und afrikanischer Kulturen rekonstruieren. Diese zwei Produkte dienen als Schablone. Sie verdeutlichen, dass im kubanischen Kontext von den beiden Produkten und ihrer Herstellungsweise abgeleitet, sowohl Massenproduktion als auch Spezialisierung stattfand. Auch vor dem Hintergrund dieser gegensätzlichen agrokulturellen Verarbeitung zeichnet er das Bild einer kubanischen Kolonialgesellschaft, deren Bestehen zwar auf dieser Gegensätzlichkeit der Produkte gegründet ist, die es jedoch schafft, aus dem angespannten Verhältnis von Metropole und Kolonie besonders herauszutreten (vgl. Côte 2010: 122–123). Der Autor begründet mit der Transkulturation einen Neologismus, der sich als Gegenkonzept zur Akkulturation versteht. Den vor allem spezifisch kubanischen Kolonialisierungsprozess beschreibt er als einen „sincretismo de culturas“ (Ortiz 1973: 130). Die Transkulturation stellt für ihn den Endpunkt eines Prozesses dar, der sich aus verschiedenen Teilschritten

91Siehe

dazu vor allem: Canclini, Néstor García: Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, México 1989.

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199

zusammensetzt: „Y cada immigrante como un desarraigado de su tierra nativa en doble trance de desajuste y de reajuste, de desculturación o exculturación y de aculturación o inculturación, y al fin, de sinteses de transculturación.“ (Ortiz 1973: 130) Dies beschreibt, wie sich das kulturelle Mosaik des Einzelnen zusammensetzt: Es findet gleichzeitig eine Dekulturation der Vergangenheit und das Entstehen einer neuen Mestizenkultur statt (vgl. Cuccioletta 2001: 8). Ortiz gelang es darüber hinaus, ein neues Verständnis für die kolonialen Verhältnisse zu schaffen. Einerseits machte er deutlich, dass die generalisierte Einteilung in Ureinwohner, Kolonisator und Versklavte zu undifferenziert sei, da jede Gruppe in sich sehr diversifiziert erscheine, was er in einem Zitat zur afrikanischen Bevölkerung herausstellt: Los negros trajeron con sus cuerpos sus espíritus, pero no sus instituciones, ni su instrumentario. Vinieron negros con multitud de procedencias, razas, lenguajes, culturas, clases, sexos y edades, confundidos en los barcos y barrancones de la trata y socialmente igualdados en un mismo régimen de esclavitud. (Ortiz 1973: 133)

Neben diesem Einblick in die reale Diversität der Immigrantengruppen stellt der Autor gleichzeitig heraus, dass, angekommen in der neuen Welt, alle Beteiligten sich in einem wiederum für alle neuen Gefüge wiederfanden und die Transkulturation auch als die schmerzhafte Konsequenz des Prozesses empfunden werden konnte: En tales condiciones de desgarre y amputación social desde continentes ultraoceánicos, año tras año y siglo tras siglo, miles y miles de seres humanos fueron traídos a Cuba. En mayor o menor grado de disociación estuvieron en Cuba así los negros como los blancos. Todos conviviente, arriba o abajo, en un mismo ambiente de terror y de fuerza; terror del oprimido por el castigo, terror del opresor por la revanche; todos fuera de justiciar, fuera de ajuste fuera de sí. Y todos en trance doloroso de transculturación a un nuevo ambiente cultural. (Ortiz 1973: 134)

Mit Verweis auf seinen Kollegen aus der Anthropologie, den polnisch-stämmigen Briten Bronislaw Malinowski92, begründet Ortiz sein Konzept aktiv auf dem Gegensatz zum angelsächsischen Modell der Akkulturation:

92Der

Sozialanthropologe Bronisław Malinowski, auch als Vater der Feldforschung bekannt, macht im Vorwort zu Ortiz Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar seine Begeisterung für dessen Kritik an eurozentristischen Kategorien und seinem Respekt für

200

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Entendemos que el vocablo transculturación expresa mejor las diferentes frases del proceso transitivo de una cultura a otra, porque éste no consiste solamente en adquirir una distinta cultura, que es lo que en rigor indica la voz angloamericana acculturation sino que el proceso implica también necesariamente la pérdida o desarraigo de una cultura precedente, lo que pudiera decirse una parcial desculturación, y, además, significa la consiguiente creación de nuevos fenómenos culturales que pudiern denominarse neoculturación. (Ebd.: 134–135)

Es geht ihm somit darum, zu zeigen, mit welcher Gewalt die Kolonialmächte Kulturen verdrängt, verschoben und hybridisiert haben. Sein Vorgehen zeigt den gegensätzlichen Fokus zum anthropologischen Konzept der Akkulturation, welches nur das Phänomen in Betracht zieht, dass die dominierende Kultur die anderen Kulturen absorbiert (vgl. Tuer 2010: 208). Dies erscheint Ortiz zu kurz gegriffen für die zahlreichen kulturellen Entwurzlungen, die die Weltgeschichte seit 1492 mit sich gebracht hat. Vielmehr beabsichtigt er, mit seinem Neologismus eine lateinamerikanische Alternative zu erschaffen, die in einem postkolonialen Sinn ein anderes Bewusstsein für Kulturkontakte und -konflikte erzeugen sollte (vgl. Soto 2004: 151–155). Zudem ist der Wissenschaftler bemüht, Lateinamerika aus der konzeptionellen Zwangsjacke zu befreien, die vorgibt, dass die Kultur eine verheißungsvolle Verschmelzung europäischer und nicht-europäischer Einflüsse sei, die aber stets an europäischen Standards gemessen werden. Diese kulturelle Reproduktion, die in Lateinamerika stattfand, möchte Ortiz nicht weiter als Mimesis verstanden wissen. Sie soll vielmehr als Genesis, etwas Neues, gesehen werden (vgl. ebd.: 159). Auch Homi Bhabha benutzt beispielsweise nicht den Begriff der Mimesis, sondern den der Mimikry. Im Gegensatz zu einer transkulturellen Identität, die verschiedene Elemente

die Integrität subalterner Kulturen deutlich. Auch Malinowski möchte den Begriff der Transkulturation vom nordamerikanischen Begriff der Akkulturation abgegrenzt wissen: Un proceso en el cual emerge una nueva realidad, compuesta y compleja; una realidad que no es una aglomeración mecánica de caracteres, ni siquiera un mosaico, sino un fénomeno nuevo, original e independiente. Para describir tal proceso el vocablo de raíces latinas transculturación proporciona un término que no contiente la implicación de una cierta cultura hacia la cual tiene que tender la otra, sino una transición entre dos culturas, ambas activas, ambas contribuyientes con sendos aportes, y ambas cooperantes al adveniemiento de una nueva realidad de civilización. (Malinowski 1973: 7–8)

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201

unterschiedlicher ethnischer Herkünfte in sich aufnimmt, wird sie selbst in sich zu etwas Neuem. Bhabha verdeutlicht, dass mit Mimikry nur eine sehr genaue Annäherung an eine angestrebte Kultur erreicht werden kann, jedoch nie eintritt, dass man nie gleich ist und somit die Einschränkung immer wieder reproduziert wird (vgl. Gebhardt-Fuchs 2016: 33–34). Zusammenfassend fand Ortiz‘ Einführung des Begriffs der Transkulturation immer unter nationalen Vorzeichen statt. Die Produkte Tabak und Zucker symbolisieren nationale Institutionen Kubas. Mit ihrem weltweit erfolgreichen Export stand dem Begriff und Konzept vermutlich eine schnelle Weiterverbreitung bevor (vgl. Soto 2004: 152). Heute gehen Kulturtheoretiker aber auch teilweise auf Distanz zu ihm. Die Kritik bezieht sich auf die starke biologische Begründung kultureller Evolution. Trotz des Vorwurfs, schwer fassbar und unpraktikabel zu sein, ist der Begriff der Transkulturation ein wichtiges Analysetool, das zur Historisierung und Begrenzung des modernen Konzepts der Transkulturalität beiträgt (vgl. Soto 2004: 152/Rau 2016: 8). Der anthropologische Ansatz des Autors fand auch außerhalb seiner Disziplin Beachtung. Es war Ángel Rama, der mit dem Werk Transculturación narrativa en América Latina93 aus dem Jahr 1982 den Begriff der Transkulturation in der Literaturwissenschaft verankerte. Wie noch gezeigt werden wird, war dies der Beginn der breiten internationalen Aufmerksamkeit für das Konzept. Er sah das Konzept der Transkulturation als Möglichkeit, den Modernismus in der lateinamerikanischen Literatur zu analysieren, da sich dieser von europäischen Mustern loslöste und eine eigene Originalität hervorbrachte (vgl. Tuer 2010: 208). Auch dieser Wissenschaftler sieht in dem Begriff eine Gültigkeit für die gesamte lateinamerikanische Hemisphäre. Mit einer wachsenden Unabhängigkeit der Region rücken zudem die regionale Literatur und indigenen Elemente in den Fokus. Grundlegend beruft man sich auf multiple Narrative, die sich mit der semiotischen und materiellen Dimension der Kolonialisierung einerseits und dem daraus entstandenen rassischen, sprachlichen und kulturellen Prozess der mestizaje andererseits beschäftigen (vgl. Tuer 2010: 208). Rama erweitert das Konzept von Ortiz an der Stellschraube der Neokulturation. Er hebt hervor, dass die Kontaktkulturen in einem hohen Maße selektiv und kreativ damit umgehen, wie sich Elemente der jeweils anderen Kultur angeeignet oder durch den Kontakt

93Rama,

Ángel: Transculturación narrativa en América Latina. Buenos Aires 2007 [1982].

202

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eigene Traditionen neu bewertet werden können (vgl. Ernst 2015: 9).94 Versteht der eine Transkulturation noch im Sinne einer kulturellen Hybridisierung einer Gesellschaft, steht sie bei dem anderen bereits für „the multivalent dynamics of literary innovation“ (Tuer 2010: 209). Die lateinamerikanische Resonanz in den Literaturwissenschaften blieb aber nicht auf die Region beschränkt. Auch im nord-amerikanischen Kontext fanden ein Umdenken und eine konzeptionelle Öffnung ab den späten 1980er Jahren statt. Man brach bis dahin nicht mit der Tradition, dass wissenschaftliche Ansätze rein national geprägt waren. Neue Impulse aus den Peripherien wurden vor allem in der Alten Welt abgewertet. Europa, aber auch die US-amerikanische Forschungskultur, kennzeichneten sich durch ihr Modell des e pluribus unum aus, das sich an die vorherrschende Assimilations- und Akkulturationstheorie angliederte. Das Postulat des monokulturalistischen Staates schmetterte die bereits früh vorhandenen Ansätze zur kulturellen Interaktion ab. Die Entwicklung des transkulturellen Denkens in Kanada zeigt dabei auf, dass ab den 1990ern ein Umdenken in der Analyse europäischer Geschichte stattfand. Diese wurde nicht mehr rein territorial analysiert, sondern transkulturell-prozessual (vgl. Hoerder 2005: 26–27).95 Kanada ist durch eine gespaltene Rezeptionsgeschichte hinsichtlich transkulturellen Denkens geprägt. Die Spaltung bezieht sich auf die jeweilige Entwicklung im anglophonen und frankophonen Teil des Landes. Im ersteren Teil war es der postkoloniale Diskurs, der sich weiterhin mit der Frage des Verhältnisses von Peripherie und Zentrum auseinandersetzte und welcher durch transkulturelle Einflüsse die klassische Dialektik aufweichte und geteilte kulturelle Erfahrungen miteinbezog. In Quebec, dem Symbol des frankophonen Kanada, fand zum Ende des 20. Jahrhunderts eine deutlichere Öffnung statt, vor allem in der Literaturwissenschaft. Es entstand die post-québécois Literatur. Eine zentrale Figur ist hierbei der Schriftsteller Pierre Nepveu, der in L´Ecologie du réel aufzeigt, welche pluralistische und dialogische Situation die Quebecer

94Vergleiche

zu diesem Aspekt ebenfalls Rama 2007. dazu weiter: Bentley, Jerry: Old World Encounters. Cross Cultural Contacts and Exchanges in Pre-Modern Times, New York 1993; Hoerder, Dirk: Cultures in Contact. World Migrations in the Second Millennium, Durham 2002; Hoerder, Dirk/Harzig, Christiane/Shubert, Adrian: The Historical Practice of Diversity. Transcultural Interactions from the Early Modern Mediterranean to the Postcolonial World, New York 2003.

95Siehe

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203

Literaturlandschaft bereitstellte und sie für neue Einflüsse so besonders öffnete (vgl. Vautier 2006: 369). Das transkulturelle Schreiben bezeichnet er als „une pratique de l’ici sans cesse renouvellée“ (Nepveu: 214). Dass eine genuin kanadische Konzeptionalisierung von transkulturell stattfand, wird daran deutlich, wie Lamberto Tassinari als Mitbegründer der kulturkritischen Zeitschrift Vice Versa. Revue transculturelle 1985 den Begriff ohne Rückbezug auf Ortiz definierte. Es ging ihm vor allem darum, ein anderes Verständnis von Einheit als die in Kanada wissenschaftlich und politisch betonten Konzepte des Inter- und Multikulturalismus zu erreichen. Vor allem dem Multikulturalismus wurde zum Vorwurf gemacht, sich als Ganzes zu verstehen, das seine Grenzen in Raum und Zeit findet (vgl. Ernst 2015: 9–10). Das Transkulturelle sollte sich genau daran nicht mehr halten: Le terme transculturel a une dimension politique car ce mot implique la traverse d’une seule culture en même temps que son dépassement. L’unité quil’il sous-tend n’a pas la même resonance que celle qu’évoquent les termes ‘inter-culturel’ ou ‘multiculturel’. Ceux-ci définissent un ensemble et le circonscrivent dans un espace et un temps, alors que le transcultural ne posséde pas de périmètre. C’est le passage et l’implication totale à travers et au-delà des cultures. (Caccia 1985: 299)

Hier bekommt das transkulturelle Konzept eine politische Bedeutung, da es als Provokation im Kampf um die Identität der frankophonen Gebiete in Kanada verstanden wird (vgl. Ernst 2015: 10). Wenn auch weniger unter provokativen Vorzeichen, so bleibt zu zeigen, dass das Transkulturelle auch in den USA über die Literaturwissenschaft Einzug in die nationale Wissenschaft hielt. Die US-amerikanischen Modernisten wollten sich zum Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend von dem postkolonialen self-fashioning, also der Selbstinszenierung und Verfestigung postkolonialer Muster, die noch in binärem Denken verhaftet sind, lösen. Das Transkulturelle wurde dabei als Form der Kritik benutzt (vgl. Soto 2004: 159). Mit Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation möchte die Romanistin Marie-Louise Pratt 1992 die europäische Präsenz in Afrika und Lateinamerika neu interpretieren. Ihren Begriff von Transkulturation leitet sie von Ángel Rama ab, da beide die modernistische Literaturbewegung in Lateinamerika hinterfragen. Für Pratt rückt vor allem die literarische Form des Reiseberichts in den Fokus, weil durch ihn eine Perspektive auf die Peripherie gerichtet wird, die nicht von einer Metropole aus gesteuert ist und sich vor allem nicht mehr um die Dynamik des Besitzes dreht. Die Interaktion des Erzählers dieser Berichtsform bezeichnet sie mit dem

204

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neuen Begriff der contact zone (vgl. Pratt 1992: 5–6). Die Transkulturation fällt damit als Phänomen unter die Kategorie dieser contact zone. Dieser Raum des Kulturkontakts bildet aber oftmals asymmetrische Machtverhältnisse der verschiedenen Kulturen ab – wie unter kolonialen Bedingungen und in der Sklaverei (vgl. Ernst 2015: 10–11). Genau aus dieser Logik heraus wird die Idee der contact zone und das in ihr enthaltene Phänomen der Transkulturation teils als negativ konnotiert angesehen. Die Kritiker meinen, dass es sich dabei nur um eine weitere eurozentristische Form des Imperialismus handelt, die Ungleichheiten im Kontaktraum wieder reproduziert und manifestiert (vgl. Vautier 2006: 370).96 Pratt räumt diesen Vorwurf an keiner Stelle wörtlich aus, jedoch hinterfragt sie durchaus das transkulturelle Verhältnis auch in die Richtung von der Peripherie aus hin zur Metropole. Dabei wirft die Wissenschaftlerin den Zentren eine Blindheit für die Einflüsse vor, die von den Peripherien aus wirken. Sie fragt konkret: „[H]ow does one speak of transculturation from the colonies to the metropolis?“ (Pratt 1992: 6) Bei der Entwicklung transkultureller Konzepte liegt die Leistung Pratts darin, dass sich die Literaturwissenschaften im US-Kontext für die Idee von hybriden Kulturen, die auch ohne den gelenkten Einfluss eines Zentrums entstehen können, öffneten (vgl. Navarro-Ayala 2012: 21).97 Doch nicht nur für die US-amerikanische Literaturwissenschaft konnte die Autorin ein neues Denken anstoßen, auch ihr Einfluss auf europäische Konzepte in den Geisteswissenschaften wird deutlich. Der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch muss dabei besonders hervorgehoben werden. Er steht nicht nur deutlich in der Linie, die von Ortiz bis zu Pratt reicht und die Idee der Transkulturation aufgreift. Er entwickelt diese weiter und prägt das Konzept der Transkulturalität98. Welsch und sein Konzept werden deshalb im weiteren Verlauf der Analyse noch einen gesonderten Gliederungspunkt darstellen. An dieser Stelle jedoch stehen weniger der fundierte Blick

96Siehe

bezüglich vertiefter Kritik: Chapman, Rosemary: Writing of/from the Fourth World: Gabrielle Roy and Ungava, in: Québec Studies 35, 2003, S. 45–62. 97Als Beispiel dafür kann die Literaturwissenschaftlerin Françoise Lionnet von der University of California angeführt werden, die 2005 mit Minor Transnationalism Pratts Ansatz aufnimmt und weiterentwickelt; siehe: Lionnet, Françoise/Shih, Shu-mei (Hrsg.): Minor Transnationalism, London 2005. 98Erstmals stellte Welsch das Konzept 1992 vor: Welsch, Wolfgang: Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie, Vol. 2, 1992, S. 5–20; Mehrere erweiterte Fassungen folgten.

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205

hinter dem Aufbau seines Konzepts und die Rückbezüge zum Kulturbegriff im Fokus als vielmehr seine Einordnung im Sinne der Begriffshistorie. Die sukzessive Entwicklung von einem anthropologischen oder auch ethnologischen Konzept der Transkulturation, das vor allem Einzug in die nordamerikanische Literaturwissenschaft hielt, wird dadurch weitergeführt, dass mit den Welsch’schen Schriften eine philosophische Perspektive innerhalb der Globalisierungsforschung99 hinzukommt (vgl. Kimmich 2012a: 7–8). Er entfaltet sein kultur-philosophisches Konzept von Transkulturalität nicht in einem zentralen Werk, vielmehr entwickelt er es in verschiedenen Aufsätzen und Beiträgen.100 Nichtsdestotrotz zogen und ziehen seine Ideen in der Geisteswissenschaft Aufmerksamkeit auf sich, da ihnen ein revolutionärer Charakter zugrunde liegt, der sich aus zwei Elementen zusammensetzt: Zum einen entkoppelt der Philosoph Kultur von einem bestimmten Träger und von einem spezifischen Territorium. Damit entfällt die Angst vor einem ausufernden Kulturrelativismus, da Gesellschaften nur noch als Gemengelagen gesehen werden, die an keine definierten Grenzen stoßen. Zum anderen tritt das Konzept der Transkulturalität in aktive Rivalität zum Konzept des Multikulturalismus und seiner Anerkennung von Differenz. Vor allem auf kollektiver Ebene erklärt Welsch den Multikulturalismus und seine geforderte Distinktion über kulturelle Gruppen schlichtweg für falsch. Dem Individuum lägen verschiedene kulturelle Muster vor, die es frei kombinieren und somit als individuelle bricolage101 weiterentwickeln könne. Die Transkulturalität ist somit auf den Einzelnen und seine innere Diversität gerichtet (vgl. Lösch 2016: 87–88). Im Rahmen der Begriffsgeschichte nimmt diese Weiterentwicklung des transkulturellen Denkens hin zu einem Konzept der Transkulturalität eine Sonderstellung ein. Als Antipode muss nämlich nicht

99Neben

Welschs philosophischer Perspektive müssen noch die soziologische Perspektive von Ulrich Beck und die anthropologische von Ulf Hannerz genannt werden. Siehe zur Vertiefung beispielsweise: Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a. M. 2007; Hannerz, Ulf: Anthropology’s world. Life in a twenty-first-century discipline, London 2010. 100In dem gesonderten Abschnitt zur Theorie von Welsch wird diese Streuung des Konzepts nochmals deutlich hervorgehoben werden. 101Der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss benutzt 1962 in La Pensée sauvage den Ausdruck bricolage. Er wollte damit das Mythologische erfassen, das im Gegensatz zum Technischen stehen sollte. Mythologisches Denken ist nach Lévi-Strauss darauf ausgerichtet, die vorhandenen Materialen zu benutzen, um neue Probleme zu lösen. Siehe detailliert: Lévi-Strauss, Claude: La Pensée sauvage, Paris 1962.

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nur das Konzept des Multikulturalismus genannt werden, sondern die bis dahin auch bestimmende postkoloniale Umrahmung. Es wird versucht, historisch tiefer zu gehen, indem man sich von dem zeitlichen Kontext der Kolonialisierung und Dekolonialisierung entkoppelt und sowohl antike als auch neuzeitliche Prozesse mehr in den Vordergrund rückt. Durch diese Verflechtung mit der Globalisierungsdebatte rückt das Konzept der Transkulturalität verstärkt in den Fokus von Politikwissenschaft und Ökonomie. Auch eine Annäherung an die Trans Area Studies102 wird deutlich (vgl. Kimmich 2012a: 8–9). Die Leistung Welschs muss darin verstanden werden, dass er ein Konzept entwickeln möchte, das losgelöst von kolonialer Argumentation auf die Realität einer postmodernen Gesellschaft anwendbar ist und eine philosophisch-theoretische Tiefe besitzt (vgl. Rau 2016: 9). »Transkulturalität« erfasst [damit] im Gegensatz zur »Transkulturation« die Pluralität von Weltbildern, grenzt sich bewusst von einem Nullpunkt zwischen »eigenen« und »fremden« Einzelkulturen ab und stellt die vermeintlich kollektiven Unterschiede zur Disposition. (Ebd.: 9)

Bevor die Arbeit in den nächsten Schritten den dem Konzept der Transkulturalität zu Grunde liegenden Kulturbegriff unter Rückbezug zu Ludwig Wittgenstein analysiert, soll abschließend ein kurzer Ausblick gegeben werden, welche Entwicklung die Intention vor allem in den 2000ern erfahren hat. Mit Death of a Discipline fordert Gayatri Chakravorty Spivak 2003 einen transkulturellen Zugang zu den Disziplinen der vergleichenden Literaturwissenschaft und der Sprachwissenschaft. Ihr angestrebtes Ziel ist es dabei, mit dem bereits vorgestellten Ansatz der Crossing Borders eine attestierte Undurchlässigkeit zwischen globalen Kulturen zu beseitigen, indem die Kommunikation mit und innerhalb subalterner Kulturen gestärkt wird (vgl. ebd.: 11). Auch der Afrikanist und Anthropologe Jacky Bouju erweitert 2003 in La culture dogon: de l’ethnologie coloniale à l’anthropologie réciproque contemporaine das Konzept der Transkulturalität dahingehend, dass er diese als „la reconnaissance réciproque d’un univers de significations partagées“ (Bouju 2003: 2) definiert. Seine Konzeption bezieht sich ebenfalls wie die vorgehenden auf ein Verständnis von Kulturen über ihre Grenzen hinweg, hinterfragt jedoch die Ansicht, dass

102Siehe als prägendes Werk dazu: Ette, Ottmar: TransArea: eine literarische Globalisierungsgeschichte, Berlin 2012.

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Kulturen als Inseln gesehen werden, die sich historisch und sozial unabhängig herausgebildet haben. Es tritt die gegenseitige Gebundenheit, die Relation in den Vordergrund, die auch die Grenzen zwischen dem uns und dem jenen relativiert (vgl. Benessaieh 2010: 25–26). Wie der Überblick zur Begriffsgeschichte und Semantik des Multikulturalismus gezeigt hat, ist es unbedingt nötig, den länder- beziehungsweise regionenspezifischen Kontext der Entwicklung eines Begriffs oder eines Konzepts in den Blick zu nehmen. Denn auch das Konzept der Transkulturalität hat eine diskursorische Dynamik, die mit der kontextgebundenen Debatte in Verbindung steht. War es in der Multikulturalismusdebatte vor allem noch die teils unterschiedliche Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte zwischen nordamerikanischem und europäischem Raum, setzt man in der transkulturellen Diskussion bereits einen neuen Raum, nämlich vor allem den lateinamerikanischen, aber auch einen größeren zeitlichen Rahmen an, wenn koloniale Verhältnisse auf ihre gegenwärtigen Nachwirkungen hin überprüft werden. Im nächsten Schritt erscheint es sinnvoll, das Konzept der Transkulturalität hinsichtlich seines Fundamentes – dem Kulturbegriff – zu hinterfragen.

2.4 Kulturbegriff 2.4.1 Kultur ohne statische Bedingungen Die Erkenntnisse des deutschen Philosophen Wolfgang Welsch waren bereits im Abschnitt zur Begriffsgeschichte eine zentrale Säule, da er das transkulturelle Verständnis von Kultur zum ersten Mal als Transkulturalität bezeichnete und es konzeptionell vertiefte. Auch für den Blick auf den Kulturbegriff, der einem transkulturellen Verständnis zu Grunde liegt, hat Welsch entscheidende Beiträge geleistet. In Parenthese zur Analyse des Kulturbegriffs der Multikulturalisten soll mit den Welsch‘schen und weiteren Perspektiven ein systematischer Überblick darüber gegeben werden, mit welchem grundlegenden Vokabular in der transkulturellen Debatte hantiert wird. Der sich daraus abzuleitende Kulturbegriff wird im Anschluss daran untersucht. Und es gilt klar zu stellen, inwiefern er sich von Ludwig Wittgensteins Kulturbegriff ableitet und welche Wirkkraft sich dadurch entfaltet. In einem weiteren Schritt sieht die Arbeit vor, den Kulturbegriff auch mit der Idee der mestiçagem abzugleichen und die Möglichkeit der Einordnung als transkulturell zu bewerten. Zu Beginn steht nun aber der veränderte Kulturbegriff in der Ethnologie im Zentrum, der Einfluss darauf nimmt, wie die Transkulturalität ihren Kulturbegriff neu konzipiert.

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Der deutschstämmige Ethnologe Franz Boas, der 1886 in die USA emigrierte, gilt als Begründer der cultural anthropology103 im nordamerikanischen Kontext. Mit seinem Aufsatz The Methods of Ethnology aus dem Jahr 1920 gab er einen Anstoß zum Umdenken über methodologisches Vorgehen innerhalb der Ethnologie. Die Bedeutung der Ausführungen für den transkulturellen Kulturbegriff liegt darin, dass die Sicht auf Kultur innerhalb seiner Disziplin bis dato als sehr statisch galt und Boas sich gegenläufig für den permeablen Charakter derselben stark machte. Wie deutlich werden wird, verwendet Boas die Vorsilbe trans selbst nicht, jedoch bildet sein definitorischer Neuansatz die Grundlage für den transkulturellen Kulturbegriff. Das static phenomena of culture in der Ethnologie ging stets davon aus, dass die Ähnlichkeiten zwischen Gesellschaften, die sich auch teilweise auf verschiedenen Kontinenten befinden, einerseits durch Evolution und andererseits durch Migration begründet sind. Der Blick in das Innere dieser Gemeinschaften wird dabei ausgeblendet und auch innergesellschaftliche Gründe für diese Ähnlichkeiten zieht man nicht in Erwägung (vgl. Boas 1920: 311). Und genau dieser Blick nach innen ist es, den Boas mit seinem dynamic phenomena of cultural change wagt. Er rückt dabei die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft in den Mittelpunkt und möchte über eben dieses Binnenverhältnis den kulturellen Wandel erforschen. Sein methodologisches Vorgehen sieht so aus, dass er dynamische Prozesse analysiert und über diese erst auf die fundamentalen Fragen, die es zu beantworten gilt, hinweist (vgl. ebd.: 316). Diese Methode steht somit im Gegensatz zum bisherigen Vorgehen, bei welchem die Fragen bereits feststanden und statisch auf alle Prozesse, so dynamisch sie auch sein mochten, angewendet wurden. Boas macht deutlich, dass für ihn jede Kultur ihre eigene Geschichte hat und gleichzeitig durch die jeweilige innere Entwicklung ihrer Gesellschaft gekennzeichnet ist. Die Prägung von Kultur findet aber nicht nur von innen statt, sondern

103Die Cultural Anthropology, die sich mit Franz Boas in den USA entwickelte, ist durch ihren Kulturrelativismus gekennzeichnet, der das Kulturspezifische in den Fokus stellt. Im Unterschied zur Kulturanthropologie, wie sie im deutschen Kontext verstanden wird, verhält sie sich konträr, da die europäische Forschung zwar auch auf das Kulturspezifische blickt, jedoch mit der Zielsetzung dadurch auf das Allgemeinmenschliche schließt. Siehe dazu: Haller, Dieter: Die Suche nach dem Fremden. Geschichte der Ethnologie in der Bundesrepublik 1945–1990, Frankfurt 2012, S. 231; Mühlmann, Wilhelm Emil (Hrsg.): Kulturanthropologie, Köln 1966, S. 17.

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beruht auch deutlich auf äußeren Einflüssen, die auf Gesellschaften und somit auch auf Kulturen wirken (vgl. ebd.: 316–317): „We rather see that each cultural group has its own unique history, dependent partly upon the peculiar inner development of the social group, and partly upon the foreign influences to which it has been subjected.“ (Ebd.: 317) Zudem bezieht sich Boas` Kritik, wie später auch im Konzept der Transkulturalität, auf den Ansatz der Akkulturation. Die Annahme, dass kulturelle Praktiken in andere Regionen gebracht und auf andere Gruppen angewandt werden können, ohne dabei selbst einem Wandel zu unterliegen, erklärt er für falsch (vgl. Boas 1920: 318). Eine Transformation von Praktiken kann nicht ohne Wandel der Praktiken selbst stattfinden: „[T]he phenomena of acculturation prove that a transfer of customs from one region into another without concomitant changes due to acculturation, are very rare.“ (Ebd.: 318) Die Professorin für Internationale Studien an der TÉLUQ Universität von Quebec Afef Benessaieh104 resümiert Boas Umdenken so, dass sich der bestehende Funktionalismus und der durch Boas angestoßene Diffusionismus gegenüberstehen. Der funktionalistische Begriff von Kultur geht davon aus, dass Kulturen stabile Systeme darstellen, die sich wiederum aus Praktiken und Überzeugungen zusammensetzen, welche sich nachweisbar jeweils einem spezifischen Kollektiv zuordnen lassen. So tritt Boas‘ anthropologische Schule dagegen an, indem sie aus einer historischen Perspektive Kultur anders zu verstehen wagt und dabei die Diffusion in den Mittelpunkt stellt. Kultur wird als permeabel betrachtet und befindet sich dieser Auffassung nach „in a [constant] state of flux.“ (Ebd.: 317) Kultur löst sich somit davon, als isoliertes System oder als ein geschlossenes Ganzes begriffen zu werden (vgl. Benessaieh 2010: 13). Dieser Anstoß erhielt in den 1970ern in den USA nochmals Aufmerksamkeit, als sich Clifford Geertz in seinem Werk The Interpretation of Cultures 1973 in die Tradition der von Boas begründeten Schule der Cultural Anthropology einreiht. Auch er sieht Kultur als etwas Dynamisches und beruft sich auf die Definition als Bedeutungsnetz, das sich durch menschliche Praxis selbst spinnt: The concept of culture […] is essentially a semiotic one. Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has

104Siehe weiterführend zu Benessaiehs Forschung zu Franz Boas: Benessaieh, Afef: Boas Goes to Americas: The Emergence of Transamerican Conceptions of Culture, in: Maryemma, Graham/Wilfried, Raussert (Hrsg): Mobile and Entangled Americas, New York 2016, S. 301–320.

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spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning. (Geertz 1973: 5)

Ebenso verweist Wolfgang Welsch auf Geertz, wenn er Kritik an der Prämisse der Ethnologie des 20. Jahrhunderts übt und sagt, dass Kultur ein strukturiertes und integriertes organisches Ganzes sei (vgl. Welsch 1997: 81).105 Dieser Wandel, dieses kritische Umdenken in der Ethnologie nimmt auch Einfluss auf den Kulturbegriff in anderen Disziplinen. So ist es eben der deutsche Philosoph Welsch, der mit seinem Konzept der Transkulturalität einen Kulturbegriff entwickelt, welcher diese Merkmale der Dynamik und des Netzes erneut aufgreift. Doch zu Beginn entwickelt sich auch der transkulturelle Kulturbegriff in Abgrenzung zu einer traditionellen Variante, die es darzustellen gilt. Dabei bleibt zu beachten, welche Rolle auch ethnische Fundierung und damit rassische Implikationen spielen.

2.4.2 Kultur ohne kulturellen Rassismus Der klassische Kulturbegriff Im traditionellen Sinne wird Kultur in Verbindung mit Nation oder Region gedacht und hat somit eine starke territoriale Prägung. Zudem fungiert Kultur in diesem Sinne als Generalbegriff, der die organische Lebensgestalt von Völkern zu erfassen versucht. Dieser Anspruch wird nach Welsch auch im Kulturbegriff Herders erkennbar. Bei der Beschreibung des klassischen Kulturbegriffs bleibt der Denker des 19. Jahrhunderts stets der Referenzpunkt im Welsch’schen Denken. Auch die Charakteristika eines solchen Begriffs von Kultur sind an die Herder’sche Philosophie angelehnt: Dabei ist jede Kultur spezifisch und von anderen deutlich unterscheidbar. Den Kern, über den sich Kulturen definieren, bildet das Volk. Damit hängt eine Vereinheitlichung durch den Kulturbegriff zusammen, nämlich die Annahme, dass jedes Objekt und jede Handlung einer ganz bestimmten Kultur zugeordnet werden können und nur ausschließlich deren Bestandteil sind (vgl. Welsch 1992: 5–6). Diese drei Charakteristika sind die Schablone für die Kritik an Herder und seiner Definition von Kultur, die Welsch

105In einer Fußnote macht Welsch als stellvertretende Stimme für das klassische Verständnis in der Ethnologie ein Werk aus: Benedicts, Ruth: The Patterns of Culture, Boston 1934. Neben Geertz gab es in den 1980er Jahren noch weitere fundierte Gegenmeinungen dazu, beispielsweise: Archer, Margaret: Culture and Agency, Cambridge 1988.

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in einem späteren Aufsatz anlegt. Daran angelehnt besteht die Kritik hinsichtlich a) der interkulturellen Abgrenzung, die zwischen den Kulturen herrscht, b) der ethnischen Fundierung des Kulturbegriffs und c) der sozialen Homogenisierung, die dadurch entsteht, dass Objekte und Handlungen nur bestimmten Kulturen zugeschrieben werden und dort Geltung erfahren (vgl. Welsch 1994: 86). Die Mängel, die Welsch und mit ihm das transkulturelle Denken an dem traditionellen Kulturbegriff ausmachen, sind vielfältig. Zum einen besteht der Angriff darin, dass Kulturen traditionell ein hermetischer Charakter unterstellt wird, welcher wiederum ein Kommunikationsproblem zwischen ihnen erzeugt, sie im nächsten Schritt in dieser Verfasstheit aber unfähig sind, das entstandene Defizit zu überwinden (vgl. Welsch 1992: 10). Damit einher geht, dass eben diese Verfasstheit der Kulturen nach dem traditionellen Verständnis im Auge der transkulturellen Perspektive nicht mehr zeitgemäß ist. Es liegt somit zum anderen ein deskriptives Manko vor, das Welsch darin sieht, dass Kultur nicht mehr mit einer faktischen Einheitlichkeit zusammenfällt – das Vereinheitlichungsmoment fällt weg. Was zudem fehlt, sind erweiterte Möglichkeiten zur Differenzierung, die der traditionelle Kulturbegriff nicht vorsieht (vgl. Welsch 1994: 87). Welsch macht deutlich, wie dieser Kulturbegriff auf zwei Ebenen scheitert: Zum einen wird er nach seiner Definition der inneren Komplexität moderner Kulturen nicht gerecht. Zum anderen ist seine Anwendung nicht angemessen, da sie die faktische äußere Vernetzung von Kulturen – denn nach Welsch enden binnenkulturelle Lebensformen nicht an nationalen oder regionalen Grenzen – nicht miteinbezieht (vgl. ebd.: 89). Wie in der Kritik angedeutet, sieht Welsch Kulturen als in sich multikulturell aufgebaut, wobei er damit nicht nur die rein ethnische Zusammensetzung der Gruppenmitglieder meint (vgl. Welsch 1992: 6). Auf diesen grundsätzlichen Befund zur Verfasstheit moderner Kulturen beruft sich Welsch auch, wenn er dem traditionellen Kulturbegriff in seiner Form einen Hang zum kulturellen Rassismus nachsagt. Konkret wirft er dem klassischen Begriff vor, strukturell kultur-rassistisch zu sein. Dies bedeutet für ihn, dass selbst, wenn der biologisch-ethnische Rassismus überwunden ist oder wegfällt, eine kulturelle Form desselben bleibt. Den Grund dafür sieht er in der manifestierten Trennschärfe nach innen und außen, die der Begriff von Kultur mit sich bringt (vgl. ebd.: 8). Diese strikte Trennung der Kulturen und den damit verbundenen Rassismus unter und zwischen ihnen sieht der Philosoph als gefährlich an – vor allem als normativ gefährlich, in Kombination mit einer deskriptiven Untauglichkeit. Rasse, beziehungsweise die biologische Abstammung, wird im Falle des traditionellen Kulturbegriffs nicht mehr als die bestimmende Grundlage für Kultur gesehen. Das gefährliche Moment entsteht jedoch dann, wenn sie die Kategorie der Rasse erst erzeugt, weil jene eine Funktion für die Kultur

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einnimmt106 – nämlich die Abgrenzung zu anderen Kulturen. In dieser Logik erhöht das Maß der Abgrenzung auch gleichzeitig den kulturellen Rassismus (vgl. Welsch 1994: 90). Die teils scharfe Kritik an dem traditionellen Kulturbegriff und seinem Paten Johann Gottfried Herder stellen die Grundlage für Welsch dar, auf die er die Notwendigkeit zurückführt, den Kulturbegriff tatsächlichen Lebensrealitäten anzupassen. Diese Methode trägt der Entwicklung Rechnung, dass Begriff und Gegenstand von Kultur zu weit auseinanderklaffen (vgl. ebd.: 84). Die Beobachtung der Entwicklung der Passgenauigkeit von Begriff und Gegenstand macht der Autor auch daran fest, dass Ausdrücke wie Kulturdiffusion und Kulturnivellierung im allgemeinen Sprachgebrauch geläufig sind und zeigen, dass Kultur abgelehnt wird. Diese Ablehnung sieht Welsch eben darin begründet, dass eine überholte Kategorisierung nicht mehr eine veränderte Realität erfassen kann. Auch die vertikale und horizontale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften wird im traditionellen Kulturbegriff nicht adäquat widergespiegelt (vgl. Welsch 1997: 67–68). Der französische Künstler Jean Dubuffet107 beschreibt bereits 1951 die Diagnose, die Welsch in den 1990ern stellt: I think that the culture of the Occident is a coat which doesn’t fit him, which, in any case, doesn’t fit him anymore. I think this culture is very much like a dead language, without anything in common with the language spoken in the street. This culture drifts further and further from daily life. It is confined to certain small and dead circles as a culture of mandarins – it no longer has real and living roots. (Stiles 2012: 216)

Welsch bedient sich eines ähnlichen Vokabulars, wenn er den bestehenden Kulturbegriff als Korsett bezeichnet, das von den tatsächlichen Kulturen gesprengt

106Die Thematik der Rasse als Funktion für Kultur wurde bereits von Claude Lévi-Strauss aufgegriffen. Auch ihm ging es darum, Rasse als kulturelles Konstrukt und weniger als biologische Gegebenheit anzusehen. Welsch entlehnt Lévi-Strauss auch die Schlussfolgerung, dass der Grad in dem sich eine autonom entstandene Kultur von anderen Kulturen abgrenzt, ihr Potenzial für kulturellen Rassismus erhöht. Siehe dazu weiter: Lévi-Strauss, Claude: Race et Culture, in: ders.: Le regard éloigné, Paris 1983, S. 21–48. Siehe weiter zur strategischen Funktion von Rassismus: Foucault, Michel: Faire vivre et laisser mourir: la naissance du racisme, in: Les Temps Modernes, Vol. 46/No. 535, 1991, S. 37–61. 107Diese Einschätzung vertrat Jean Dubuffet im Rahmen eines Vortrags mit dem Titel Anticultural Positions am 20. Dezember 1951 in Chicago.

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wird. Damit verbunden, verweist der Philosoph auf die praktische Relevanz einer Anpassung von Begriff und Gegenstand jenseits der theoretischen Bedeutung. Der Weg zu einem besseren Begreifen liegt für ihn in der transkulturellen Konzeption von Kultur (vgl. Welsch 1992: 8). Und diesen transkulturellen, von Herder losgelösten Kulturbegriff gilt es im Folgenden aus Welschs Theorie der Transkulturalität und weiteren transkulturellen Ansätzen herauszufiltern. Der transkulturelle Kulturbegriff Bevor der transkulturelle Kulturbegriff erfasst wird und somit auch die Ausführungen von Wolfgang Welsch dazu noch mehr Bedeutung einnehmen, bleibt eine Beobachtung zu klären, die sich bereits in der Kritik des traditionellen Begriffs bemerkbar machte. Wenn Welsch von Kultur spricht, bezieht er sich generell auf den westlichen Typus von Kulturen. Dies macht er auch wörtlich klar (vgl. Welsch 1994: 84). Bevor in einem späteren Schritt Welsch und sein Konzept der Transkulturalität und damit auch der transkulturelle Begriff von Kultur einer kritischen Perspektive ausgesetzt werden, bleibt bereits im Vorgriff zu bedenken, dass Begrifflichkeiten wie moderne Gesellschaften einer klaren räumlichen Begrenzung unterliegen – auch wenn der Philosoph nicht ausschließt, dass das Konzept der Transkulturalität weltweite Bedeutung erlangen könnte. Anknüpfend an die kritische Feststellung, dass Kultur im traditionellen Sinne zu starr an Nation und Region gebunden sei, ist sie im transkulturellen Verständnis entterritorialisiert und noch wichtiger, von spezifischen Kulturträgern entkoppelt (vgl. Lösch 2016: 87). Kultur ist in ihrer transkulturellen Form kein unschuldiger Sammelbegriff, sondern vielmehr eine Erweiterung, die nationale, geographische und ethnische Grenzen sprengt (vgl. Rau 2016: 9). Jedoch entwickelt Welsch sein Konzept der Transkulturalität bis in die 2010er Jahre weiter und revidiert seine strikte Haltung dahingehend, dass Heimat und Regionalität wieder aufgewertet werden und unter veränderten Vorzeichen Bestandteil des transkulturellen Kulturbegriffs sein können108 (vgl. Welsch 2010b: 62).

108Bereits in seinem Aufsatz von 2000 Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung spricht Welsch von sogenannten Bezugskulturen. Diesen Begriff nimmt er auf, da er die Transkulturalität als Übergang versteht. Diese Phase des Übergangs besteht aber deutlich aus einem Doppelprozess: Ein Netz an transkulturellen Lebensformen wird gewoben, aber auf der Basis bestehender Kulturen, die somit als Fundament des Gewebes eine Aufwertung im Vergleich zu eingangs vollkommener Ablehnung erfahren (vgl. Welsch 2000: 341). In einem Beitrag aus dem Jahren 2009 vertieft Welsch diese neue Sichtweise in seinem transkulturellen Denken nochmals. Kultur teilt er in zwei Bedeutungseben auf: Er erkennt an, dass es eine pre-kulturelle und eine kulturelle Ebene von Kultur gibt. Sein

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Den größten Unterschied zum traditionellen Begriff stellt die Bedeutung der Lebensformen dar. In dem Moment, da die traditionelle Form der Kultur in einer modernen Welt ausgedient hat, rücken transkulturelle Lebensformen in den Vordergrund. Diese Verdrängung führt so weit, dass die klassischen Kulturen sogar zu Subkulturen der transkulturellen Lebensformen werden. Deren ‚Siegeszug‘ ist dadurch begründet, dass sie es schaffen, antiquierte Muster wie FreundFeind, aber auch Gegensätze wie Eigenheit und Fremdheit aufzulösen (vgl. Welsch 1992: 5/12). Der schweizerische Soziologe Peter-Ulrich Merz-Benz nennt in Anlehnung daran vier Kennzeichen transkultureller Lebensformen: a) Sie sind nicht deckungsgleich. Das bedeutet, dass eine Zugehörigkeit über Sprache, Religion oder Region nicht zusammenfallen muss, um einer Lebensform anzugehören; b) Gleichzeitig sind Lebensformen dadurch gekennzeichnet, dass sie sich gegenseitig vereinnahmen, was zur Folge hat, dass ein ständiger Prozess im Gange ist, bei dem sich Lebensformen andere einverleiben und die ursprünglichen so umgestaltet werden, so dass der einverleibte neue Teil zum Ausdruck ihrer selbst wird; c) Des Weiteren überschneiden sich verschiedene Lebensformen in einem Individuum. Daniel Bell prägt diesbezüglich den Begriff der crosscutting identities109; d) Letztendlich können sich auch Lebensformen zu stabilen Konstellationen zusammenschließen und sich in dieser Formation nach außen abgrenzen. Jedoch ist dabei das Maß an innerer Konsistenz nicht ausschlaggebend, sondern tritt an die zweite Stelle. Eine Auflösung dieser Konstellation ist jederzeit ohne Folgen möglich. Daraus abgeleitet muss bei der Verwendung des Begriffs Kultur im transkulturellen Kontext beachtet werden, dass er eher als ein Kollektivsingular verstanden werden muss, der sämtliche Tätigkeiten einer Gesellschaft erfasst – von alltäglichen Praktiken bis hin zur Wissenschaft (vgl. Merz-Benz 2016: 64–68). Die Vorstellung einer reinen Kultur wird durch den transkulturellen Kulturbegriff von einer gelebten Kultur, die sich von realen Bedingungen ableitet, abgelöst. Diese gelebte Pluralität entstand jedoch nicht plötzlich, sondern war in vielerlei Formen bereits vorhanden. Es ist vor allem die Globalisierung, die diese Vernetzung sichtbar werden lässt (vgl. Benessaieh 2010: 15–16). Klar

Ziel ist es dabei, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Kultur durchaus auch in transkulturellen Lebenswelten universelle Anteile hat, die es erst ermöglichen, sich transzendierende Elemente von Kultur vorzustellen (vgl. Welsch 2009: 15–16). 109Siehe dazu: Bell, Daniel: The Winding Passage. Essays and Sociological Journeys 1960– 1980, Cambridge 1980.

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wird dabei zudem, dass Kultur im transkulturellen Sinne keine Einzelkultur mehr sein kann, sondern jede einzelne alle anderen als Trabanten um sich herum hat und mit ihnen in Kontakt steht. Dadurch rücken alle Kulturen und Lebensformen für das Individuum in innere und äußere Reichweite. Das Exotische wird nahezu entzaubert und dies nicht nur in der Fremde, wo es in die neue Kultur übergeht, sondern auch an seinem Ursprung. Diese Entzauberung einer vermeintlich fremden Kultur an ihrem eigentlich angestammten Ort hängt wiederum damit zusammen, dass Authentizität an Wertigkeit verliert. Sie wird geradezu als Folklore abgetan. Die strikte Trennung in Fremdes und Eigenes löst sich auf (vgl. Welsch 1994: 95–96). Diese Umdeutung von Kultur hat aber noch eine weitere Folge: An die Stelle der Differenz als Orientierungsfaktor rückt für den Einzelnen und auch für Gruppierungen die Ähnlichkeit (vgl. Benessaieh 2010: 19). Eine Distinktion der einzelnen Individuen erfolgt, wie angesprochen, nicht mehr über Gruppenzugehörigkeit. Hingegen können frei verfügbare Muster kombiniert werden und ergeben eine spezifische Zusammensetzung jeder Person (vgl. Lösch 2016: 88). In diesen Kontext bettet auch Welsch seinen Begriff der Transdifferenz. Diese soll eine Differenz, die sich im Sinne eines ethnonationalistischen Essentialismus versteht, ersetzen und die Trennschärfe zwischen den Kulturen und Lebensformen abschwächen. Jedoch gibt Welsch zu bedenken, dass eine eingeschriebene Differenz sogar nötig ist, damit sich die Transdifferenz entwickeln kann (vgl. ebd.: 90). Die gesamten dargestellten Aspekte des transkulturellen Kulturbegriffs machen deutlich, dass dieser Umdeutung eine gewisse Zielsetzung und Wirkkraft eingeschrieben ist. Welsch macht klar, dass es primär darum geht, Kulturen und ihre Mitglieder anschluss- und übergangsfähiger zu machen (vgl. Welsch 1994: 108). Der Anspruch geht dabei nicht so weit, dass der neue Begriff eo ipso die Wirklichkeit verändern oder gar revolutionieren soll. Ziel ist es, existierenden Separatismus einzugrenzen und Aufklärungsarbeit zur veränderten Lebensrealität zu leisten (vgl. Welsch 1997: 74). Bei der Frage, wer diese Aufklärungsarbeit vorantreiben kann, findet Welsch eine deutliche Antwort: [D]ie Perspektive der Transkulturalität […][ist] wie eine Brille, die einem neue Dinge und vertraute Dinge anders zu sehen erlaubt. […] Eine solche Perspektive begrifflich zu erklären und anzubieten – das kann ein Philosoph tun. Sie anzunehmen und gar umzusetzen – oder sie zu kritisieren und zu verändern – wäre eine Sache von uns allen. (Welsch 2000: 350–351)

Der russisch-stämmige Literaturwissenschaftler Mikhail Epstein wirft sogar die These auf, dass dieser transformierte und an die Wirklichkeit angepasste

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transkulturelle Kulturbegriff das Individuum von der Last der Kultur befreien kann. Transkulturalität sei demnach eine Rebellion gegen den Determinismus und erzeuge eine Neuordnung bestehender Elemente – wie auch den Faktor Rasse (vgl. Epstein 2009: 337). Im Folgenden geht es weniger darum, wovon sich transkulturelles Denken entkoppelt, sondern vielmehr um die Frage, welcher philosophische Ansatz sich darin widerspiegelt. In Parenthese zu der Analyse des Herder’schen Kulturbegriffs im multikulturellen Konzept, gilt es zu untersuchen, wie die bereits detailliert aufgearbeiteten Komponenten des Kulturbegriffs Wittgensteins in dieser beschriebenen neuen, transkulturellen Denkweise enthalten und für sie grundlegend sind.

2.4.3 Kultur ohne Herder Ludwig Wittgenstein nimmt im Konzept der Transkulturalität von Wolfgang Welsch die Rolle des philosophischen Fundaments für den neuen, revolutionär anmutenden Kulturbegriff ein. Zu zeigen ist, wie Welsch dabei vorgeht. Dabei steht jedoch die These im Raum, dass Wittgenstein zwar durchaus als die philosophische Stütze des transkulturellen Denkens gesehen werden kann, Welsch jedoch bei seiner Begründung dafür zu sehr an der Oberfläche bleibt und es eine tiefere Verwurzelung des neuen Kulturbegriffs in der Wittgenstein’schen Denktradition darzustellen gilt. Grundsätzlich sieht Welsch mit Wittgenstein den Beginn einer Verschiebung. Die Aufmerksamkeit wird nicht mehr darauf gerichtet, dass durch hermeneutisches Vorgehen das Fremde, das Andere verstanden werden soll. Vielmehr geht es in einem neuen pragmatischen Ansatz darum, mit dem Unbekannten in Kontakt und in Austausch zu treten. Durch den fokussierten Blick auf die Lebensformen der Einzelnen, die so verästelt und vernetzt sind, dass es an einer Stelle immer Anknüpfungspunkte beziehungsweise Überlappung gibt, gelingt diese Interaktion (vgl. Welsch 1997: 77). Welsch sieht genau darin den Mehrwert dieses philosophischen Denkens begründet, da bei diesem Kulturbegriff der Pragmatismus die zentrale Rolle einnimmt. Wittgenstein verortet die Lebensformen und somit auch die Kultur dort, wo tatsächliche Lebenspraxis geteilt wird (vgl. Welsch 1995a: 43). Und jener Raum ist nicht durch Begriffe wie Region oder Nation umrahmt. Diese Pragmatik und der damit reformierte Kulturbegriff, der seine Wurzeln eben bereits bei Wittgenstein hat, zeichnet sich für Welsch methodisch dadurch aus, dass er betrachtet, anstatt erklärt. Mit der Betrachtung steht die Realität im Zentrum. Frühere Erklärungsmuster bedurften vor allem des Faktors Ethnie

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für ihre Funktionslogik, was im neuen Verständnis hinfällig ist (vgl. Welsch 1994: 106). Dieses von Wittgenstein angestoßene Umdenken gilt nach Welsch auch deswegen als Startpunkt für das transkulturelle Denken und vor allem für sein Konzept der Transkulturalität, da es die in jedem angelegte transkulturelle Binnenverfassung zu Tage fördert. Wie gezeigt, war es auch genau diese Binnenverfassung von Kulturen, die über die Ethnologie – gezeigt am Beispiel Franz Boas – an Einfluss gewann und den Kulturbegriff des 20. Jahrhunderts veränderte. Bis hierhin wurden Argumente aufgeführt, die Welsch selbst benutzt und formuliert, um seine Nähe zum Ansatz von Wittgenstein deutlich zu machen. Jedoch soll an dieser Stelle mehr geleistet werden, indem man, von Welsch losgelöst, die Kulturbegriffe der beiden gegenüberstellt. Der im vorherigen Abschnitt extrahierte transkulturelle Kulturbegriff trifft somit auf den herausgearbeiteten Begriff von Kultur nach Wittgenstein. Dabei schweift der Blick zum einen auf das zentrale Merkmal, das beide Begriffsuntersuchungen antreibt und zum anderen darauf, wie versucht wird, daraus eine Minimaldefinition abzuleiten. Weiter ist es der Umgang mit Differenz, der den Vergleich abschließt. Im Abschnitt zur Philosophie Wittgensteins wurde herausgearbeitet, dass die Verwendung die Zuordnung als zentrales Kennzeichen ablöst. Es geht also darum, sich mit den unmittelbaren Tatsachen auseinanderzusetzen. Damit wird nicht mehr das Wesen des Menschen untersucht, sondern seine jeweiligen spezifischen Tätigkeiten. Wie gezeigt, setzt auch der transkulturelle Kulturbegriff mit einer Kritik an bestehenden Analysemustern an: Der in der Ethnologie begonnene Wandel der Perspektive, weg von einem static phenomena of culture hin zu einem dynamic phenomena of cultural change, bildet ab, was Welsch später als deskriptives Manko des traditionellen Kulturbegriffs bezeichnet. Jedoch wird nicht nur die falsche Beschreibung angeprangert, sondern auch die fehlende Vernetzung der Individuen und Gruppen, was ähnlich wie bei Wittgenstein eine Ausrichtung auf die Tätigkeiten erfordert. Ein weiteres damit verbundenes zentrales Merkmal bei Wittgenstein ist die Durchdringung des Alltags. Dabei geht es nicht darum, eine übergeordnete Idealsprache zu finden, nach der sich der Einzelne ausrichten muss. Tatsachen gelten als Urphänomene, die es erfordern, dass gefragt wird, wie mit ihnen umgegangen wird. Gespiegelt sind es laut transkulturellem Denken die Anpassung des Kulturbegriffs an die Lebensrealitäten und das Überprüfen eben dieser Passgenauigkeit von Begriff und Gegenstand, die beobachtet werden müssen. Auch hier wird der Alltag in den Fokus gestellt. Der transkulturelle Kulturbegriff geht jedoch einen Schritt weiter, wenn er sämtliche menschliche Tätigkeiten zu erfassen versucht und dies in Bereiche vom Alltag bis zur Wissenschaft hineinreicht.

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Auch bei dem Versuch, Kultur als Begriff einzugrenzen, ergeben sich Parallelen. Sie bewegt sich bei Wittgenstein zwischen Sprache und Lebensform, wobei ihr markantestes Merkmal ist, die Kommunikation und Vernetzung zwischen den Menschen zu ermöglichen. Mit dem transkulturellen Kulturbegriff stehen die vielfältigen Lebensformen im Vordergrund. Es wurden vier Kennzeichen dieser transkulturellen Lebensformen aufgezeigt. Der Blick auf Wittgensteins Verständnis von Lebensformen zeigt, dass die grundlegende Eigenschaft der Kommunikationsfähigkeit die Voraussetzung für alle vier transkulturellen Kennzeichen ist – weder die Befreiung von der Konformität, das gegenseitige Einverleiben, das innere Überschneiden noch die Fähigkeit sich zusammenzuschließen, wäre ohne Lebensformen und ihren Charakter der Vernetzung und Anschlussfähigkeit denkbar. Darüber hinaus ist wichtig, dass Wittgenstein Lebensformen niemals im Singular denkt, ihnen aber gleichzeitig einen gemeinsamen Kern abspricht. Die Gemeinsamkeiten der Lebensformen bestehen nicht aus einem kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern einem gemeinsamen Gebrauch – beispielsweise des Körpers. Das Subjekt konstruiert somit seine Verfasstheit durch den Körpergebrauch selbst und auch durch seine Tätigkeiten in der Gesellschaft. Es ist keine übergeordnete Instanz von außen, die diese Konstituierung lenkt. Die Begegnung dieser Subjekte erfolgt durch ein dynamisches Netz zwischen ihnen, das an der Stelle, wo gemeinsame Muster erkennbar werden, eine Annäherung ermöglicht. Auch der transkulturelle Kulturbegriff lehnt einen solchen gemeinsamen definitorischen Kern ab, wenn er von den Lebensformen spricht, denn genau daran entfaltet er seine Kritik am traditionellen Muster. Auch Welsch betrachtet die Lebensformen nie im Singular und fordert das transkulturelle Denken auf, Kultur im Kollektivsingular zu verstehen. Dies bedeutet, dass es keine Einzelkulturen geben kann, sondern jede Kultur, wie gezeigt, durch die Anschlussfähigkeit der Lebensformen alle anderen Kulturen als Trabanten um sich hat, mit denen sie interagieren kann und sich damit ständig in einem Prozess der Bewegung befindet. Zuletzt geht es darum, die Parallelen hinsichtlich des Umgangs mit Differenz aufzuzeigen. Erkennbar lehnt Wittgenstein jede Form von Essentialismus ab. Seine Metaphorik des Fadens und des Netzes machen deutlich, dass der Einzelne gegenüber den Anderen und deren Innerem zwar ein Außenstehender bleibt, jedoch Annäherung möglich ist. Mehr noch – das Sprachspiel erzeugt über bestehende Praxis sogar neue Lebensformen. Der Philosoph erteilt sowohl einer totalen Identität als auch einer übergeordneten regelnden Instanz eine Absage, da nur so ein Bewusstsein für die in der Realität stattfindende Überlappung der Lebensformen und den offenen Entwicklungsprozess von Kulturen geschaffen

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werden kann. Daran angelehnt, wendet sich auch der transkulturelle Kulturbegriff von nationalen und regionalen Grenzen ab und betrachtet eine strikte Trennung zwischen dem Innen und dem Außen sogar als Gefahr für die Gesellschaft. Trotz Ablehnung von Faktoren wie Ethnie oder biologische Abstammung als Grundlage für individuelle und kulturelle Identität einerseits, erweitert Welsch den Kulturbegriff im Laufe seiner Forschung vor allem dahingehend, dass sogenannte Bezugskulturen bestehen. Damit bringt er zum Ausdruck, dass Begriffe wie Heimat und Region nicht einfach für nichtig erklärt werden, sondern eine Basis für die Vernetzung sein können, jedoch frei gewählt und vor allem jeder Zeit abwählbar oder abwandelbar sind. Im Analyseteil zu Wittgenstein wurde deutlich, dass in seinem Kulturbegriff der Grenze als bestimmendes Element eine Absage erteilt wird. Der Hoffnung, Grenzen würden Fremdheit mildern, widerspricht er. Es ist die Dynamik des Netzes und ihre Chance, an jeder Verbindungsstelle etwas Neues zu erschaffen, die die gefürchtete Orientierungslosigkeit abfängt und Fremdheit abfedert. Parallel dazu sieht auch das Transkulturelle keinen Wert für das Konzept der Grenze vor. Statt der Differenz, die sich durch Grenzziehung ausbildet, sind es die Ähnlichkeiten an den Berührungspunkten der Lebensformen, die Gefühle wie Fremdheit oder Exotik auflösen. Erneut liegt im Vergleich der feine Unterschied darin, dass Welsch eine jedermann eingeschriebene Differenz anerkennt, die die Grundlage ist für die in der Praxis stattfindend Überlappung. Abrundend bleibt festzustellen, dass sowohl Wittgenstein als auch die sich auf ihn berufenden transkulturellen Stimmen von der Grundannahme ausgehen, kulturelle Formen würden in einer Mannigfaltigkeit vorliegen, der ein zu enger Kulturbegriff nicht gerecht wird. Ziel Wittgensteins ist es daher, für den Einzelnen und die Gesellschaften ein Bewusstsein zu erzeugen, dass eben diese kulturellen Formen sich in dynamischen Prozessen immer wieder überlappen. Auch Welsch und die mit ihm verbundene transkulturelle Forschung erkennen die Relevanz dieser praxisrelevanten Überlappung und erklären davon ausgehend das Ziel: Individuen, Gesellschaften und Kulturen sollten ihre eingeschriebene Anschluss- und Übergangsfähigkeit gezielt wahrnehmen und danach handeln. Im nächsten Schritt gilt es, den von Welsch geprägten transkulturellen Kulturbegriff in Beziehung zu der Idee der mestiçagem zu stellen, wie auch schon im Falle des Multikulturalismus geschehen. Dabei geht es darum, herauszuarbeiten, inwiefern die brasilianische Idee von Kultur als transkulturell eingestuft werden kann und welche Rückschlüsse auf die Tragfähigkeit des transkulturellen Konzepts dadurch gezogen werden.

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2.5  Mestiçagem und der transkulturelle Kulturbegriff Die Beschäftigung mit Trans_Konzepten im Allgemeinen hat gezeigt, dass mit der Vorsilbe grundsätzlich eine etymologische Öffnung erzielt wird, die sowohl räumlich als auch zeitlich neue Konnotationen möglich macht. Räumlich rückt dabei das Kennzeichen der Bewegung zwischen zwei Orten in den Vordergrund. Als Teil des spacial turns zeigen die neuen Raumkonzepte auf, dass die Beziehung von Ort und Kultur überdacht werden muss. Dabei sind die Elemente der Überlappung und der Migration zentral. Auch in Bezug auf den zeitlichen Kontext wurde deutlich, wie das transkulturelle Konzept aus einer postkolonialen Perspektive argumentiert und dabei besonders die Nachwirkungen kolonialer Kontinuitäten aufarbeiten möchte. Mit Blick auf die von Freyre entwickelte Idee der mestiçagem werden Parallelen sichtbar, da auch mit der damit verbundenen Begrifflichkeit eine Öffnung einherging. Die Vermischung der Rassen aus Sicht ihrer biologisch bestimmten Determiniertheit wurde um den Aspekt der Kultur erweitert. Wie erwähnt, besteht sprachlich zwischen mestiçagem und miscigenação kein Unterschied, jedoch gilt Freyres Erweiterung um den Faktor Kultur als revolutionär. Hinsichtlich der räumlichen und zeitlichen Perspektive steht die Idee der mestiçagem auch für eine Neubewertung der kolonialgeschichtlichen Entstehung der brasilianischen Gesellschaft. Mit der besonders betonten Aufwertung der afrikanischen kulturellen Elemente durch Freyre, wurde bewirkt, dass sie räumlich nicht mehr als fremd wahrgenommen, sondern vielmehr zu genuin brasilianischen Elementen wurde. Das transkulturelle Merkmal, dass das Exotische entzaubert wird, trifft an dieser Stelle zu. Beispiele wie Capoeira oder Candomblé wurden bereits angesprochen. Auch zeitlich versucht die Idee der mestiçagem koloniale Kontinuitäten aufzuzeigen und sie neu zu beleuchten. Jedoch muss deutlich gemacht werden, dass Freyre und seine Idee an diesem Punkt einer Einschränkung unterliegen. Denn trotz der Aufwertung der afrobrasilianischen Elemente und vor allem des Zwischenglieds, des mestiços, kann sich Freyre, wie klar wurde, nicht davon lösen, die alte republikanische Ordnung zu glorifizieren. Die Ausgangslage der Trans_Konzepte, sich von alten Traditionsmustern zu befreien und ein ausdifferenzierteres Bild der Gesellschaft zu ermöglichen, trifft damit nur bedingt auf die Idee der mestiçagem zu. Zwar schielt Freyres Perspektive in die Zukunft auf die neue, positive Verbindung der drei Rassen, jedoch wird kein Bruch mit alten, kolonialen Traditionen erzwungen. Das nationale Bewusstsein soll also nicht durch einen Bruch, sondern durch eine harmonische Neubewertung der Vergangenheit gestärkt werden. Somit sind die allgemeinen transkulturellen Elemente des Übergangs und des Überwindens durchaus in Freyres Idee zu identifizieren, wirken jedoch durch

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diesen wohlwollenden Rückblick nur eingeschränkt. Zudem trat hervor, wie das transkulturelle Konzept in den Kontext der nation building-Prozesse des 19. und 20. Jahrhunderts eingebettet ist. Und trotzdem zeigte sich, dass es die alltäglichen Beziehungen sind, die für die transkulturellen Lebensformen den Ausschlag geben und nicht primär das politische System. Auch die Idee der mestiçagem wurde als Teil eines Nationalisierungsprozesses mit einem entsprechenden Fokus auf den Alltag identifiziert. Die Ebene des politischen Systems bleibt in der Idee der mestiçagem ebenfalls noch zweitrangig, erst der Begriff der democracia racial und die damit verbundenen realpolitischen Implikationen greifen diesen politischen Aspekt auf. Der Überblick ermöglicht die Erkenntnis darüber, dass der Begriff der Grenze in den Trans_Konzepten durch das Bild von koexistenten Netzwerken abgelöst wird, die einer andauernden Transformation unterliegen. Gespiegelt erscheint der Begriff der Grenze bei Gilberto Freyre eher ambivalent. Geht es ihm doch einerseits darum, die Vermischung zwischen den Rassen und damit auch der Kulturen hervorzuheben und dieser mehr Bedeutung zuzumessen, so ist er in seinem Denken doch auch begrenzt. Einerseits durch die gezeigte Engführung auf die europäischen, indigenen und afrikanischen Elemente aus dem kolonialen Zeitalter – eine Berücksichtigung der japanischen Immigration oder der erneuten europäischen Zuwanderung im 19. Jahrhundert findet bei Freyre nicht statt – und andererseits lässt er seine Idee deutlich an den nationalen Rändern enden, da es genau um diese nationale Stärkung geht. Zu dieser grundsätzlichen Ausrichtung der Trans_Konzepte treten die gezeigten Kennzeichen des Konzepts der Transkulturalität hinzu. Dabei handelt es sich um das Element der Bewegung, das Ziel, etwas Neues entstehen zu lassen und den fluiden Charakter von Grenzen. Darüber hinaus kennzeichnet das Konzept die transversale Dynamik, Bekanntes zu überwinden, aber auch den Versuch, gleichzeitig traditionelle Elemente zu amalgamieren und in sich aufzunehmen. Zuletzt sind es die Anschlussfähigkeit und der Dialog in Verbindung mit der Interaktion, die das Konzept der Transkulturalität ausmachen. Diese sechs Kennzeichen lassen sich mehrheitlich in Freyres Idee der mestiçagem ausmachen. Bereits bei der Analyse der Theorie Wittgensteins hinsichtlich der Bewegung und Dynamik, die mit der Kultur in Verbindung gebracht wird, spiegelten sich die Idee der mestiçagem und die Beschreibungen Freyres zum dynamischen Prozess der Mischung der Rassen und damit auch Kulturen während der Kolonialisierungsphase wider. Die Bewegung, so Freyre, habe in der brasilianischen Gesellschaft immer wieder dazu beigetragen, eine charakteristische Verbrüderung herzustellen. Damit ist das Wittgenstein’sche Element der Anpassungsfähigkeit ein Bindeglied, das sich sowohl in Freyres Idee der mestiçagem als zentrale Voraussetzung als auch im Konzept der

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Transkulturalität ausmachen lässt. Auch bei einem weiteren Kennzeichen wirkt Wittgenstein vermittelnd, denn von seiner Theorie wurde bereits abgeleitet, dass sich aus der Bewegung der Sprachspiele etwas Neues, etwas Eigenständiges entwickelt, das als Element in der Idee der mestiçagem ebenfalls auszumachen ist. Im Falle des Multikulturalismus wurde an dieser Stelle eine Diskrepanz festgestellt, da das Konzept eher daran orientiert ist, Bestehendes zu organisieren. Im Falle der Transkulturalität jedoch wird das Element deutlich aufgegriffen und als zentral angesehen. Bei Freyre schwingt jedoch immer mit, das Neue sollte einen gemeinschaftsstiftenden Charakter haben soll, wobei das Konzept der Transkulturalität diese Einschränkung nicht macht. Der Aspekt der fluiden Grenze kam bereits zum Tragen, als gezeigt wurde, wie die Idee der mestiçagem nur bedingt Grenzen auflöst. Dabei identifizierten die Untersuchungen, dass Freyre trotz der Tatsache, dass er der transkulturellen Charakteristik von Überwindung folgt, stark auf die drei Rassen des Kolonialisierungsprozesses und die brasilianische Nationalgrenze bedacht ist. Die Tendenz Freyres und seiner Idee, traditionelle Werte nicht abzuschaffen, sondern in ein neues Gesellschaftsbild harmonisch zu integrieren, stellt sich als parallel zu den transkulturellen Kennzeichen dar. Denn auch hier steht die Vorstellung, Altes in einer transversalen Dynamik zu überwinden und es doch gleichzeitig bei diesem neuen Geburtsvorgang wieder zu integrieren, im Fokus. Diese transkulturelle Transformation setzt sich zum Ziel, alle Identitäten zu verändern, was dahingehend mit Freyre übereinstimmt, als dass auch die Idee der mestiçagem eine Transformation der gesamten brasilianischen Gesellschaft anstrebt, ohne dabei die traditionellen Wurzeln zu leugnen. Zuletzt soll auf die Elemente des Dialogs und der Interaktion geblickt werden. Deren Voraussetzung ist es, im Sinn der Transkulturalität, Offenheit und Ungewissheit über den Ausgang des Austauschprozesses zuzulassen. Die neue, dritte kulturelle Entität, die im Dialog von zwei Kulturen entsteht, darf also nicht vorher schon festgelegt sein. Dies soll wiederum verhindern, dass sich alte Machtbeziehungen fortsetzen können – sie sollen vielmehr neu konstruiert werden. An diesem Punkt ist die Idee der mestiçagem erneut beschränkter als das Konzept der Transkulturalität, da der mestiço als Zwischenglied das bereits vorgegebene Ergebnis des Dialogs und der Interaktion zwischen den Rassen verkörpert. Zwar stellt er das Dritte, das Neue dar, jedoch wurde auch gezeigt, wie die traditionellen Machtstrukturen allein dadurch nicht zu lösen sind, sondern nur einen neuen, erweiterten Anstrich erhalten. Wie im Falle der multikulturellen Konzeption von Kultur, soll auch bei der transkulturellen Form der Kulturbegriff mit der Idee der mestiçagem kontrastiert werden. Die Nähe zum Ethnologen Franz Boas zeigte sich in beiden Fällen sehr deutlich. Das dynamic phenomena of cultural change, die Säule des Konzepts

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der Transkulturalität, erweist sich nach Wolfgang Welsch als parallel zu dem bedeutenden Einfluss, den Boas auf Freyre und seine Idee hatte. Jedoch geht Welsch mit seinem Konzept einen Schritt weiter, wenn er auf revolutionäre Art mit dem bei ihm herausgearbeiteten Kulturbegriff, die Kultur eines bestimmten Kulturträgers von einem Territorium entkoppelt. Mit dieser Erweiterung sprengt er nationale und auch ethnische Grenzen. Wie bereits mehrfach zu erkennen war, steht Freyre dieser Annahme trotz inhaltlicher Nähe hier entgegen, da seine Idee der mestiçagem ein genuin brasilianisches Phänomen ist, das aufs Engste mit der brasilianischen Bevölkerung als Träger und dem nationalen Territorium verbunden ist. Dieser Nationalisierungsgedanke ist es, der sich als konträr erweist. Weniger konträr verhalten sich die beiden Kulturbegriffe hinsichtlich der Forderung, sich mehr an tatsächliche Lebensrealitäten anzupassen. Transkulturalität versteht Kultur als Kollektivsingular, der sämtliche Tätigkeiten des Alltags betrachtet. Nach Welsch ist es genau dieses Betrachten der Transkulturalität, das sich vom Erklären abgrenzt. Denn laut seiner Ausführungen bedarf es für die Erklärung einiger Konstanten, wie beispielsweise der Ethnie, wohingegen das Betrachten nur von der Realität ausgeht. So wendet sich, wie verdeutlicht, auch Freyre aktiv dem Mikrokosmos des Alltags und all den darin enthaltenen Tätigkeiten zu, um die spezifisch brasilianische Gesellschaftsform besser zu verstehen. Jedoch ist zu beobachten, dass er im Sinne Welschs und der Transkulturalität zu sehr in einer Art des Erklärens verhaftet bleibt. Das Erklären bezieht sich auf die kolonialen Beziehungen zwischen Herren und Sklaven, Frauen und Männern, Kolonisierten und Ureinwohnern und anderen Dialogpartnern im transkulturellen Sinn. Damit schließt sich auch der Kreis zu der Frage, warum sich Freyre aus dieser transkulturellen Logik heraus nicht von der Ethnie, beziehungsweise Rasse, lösen kann, da er nämlich seine Perspektive nicht hin zur Betrachtung richtet. Grundsätzlich stimmen die Idee der mestiçagem und der transkulturelle Kulturbegriff jedoch grundlegend darin überein, dass sie den Faktor, der zur kulturellen Orientierung dient, beide im Gegensatz zur multikulturellen Logik von Differenz auf Ähnlichkeit umlenken. Auch die Rebellion gegen einen starren Determinismus und die heftige Kritik am angelsächsischen Konzept der Akkulturation verbinden beide, wenn auch der Multikulturalismus stets den Gegenpol der Transkulturalität bildet, worauf Freyre mit seiner Idee keinen Bezug nimmt oder vielmehr in derselben Art und Weise auch nicht nehmen kann. Über den Vergleich der Merkmale hinaus erscheint es an diesem Punkt gewinnbringend, die gemeinsamen Wurzeln der Idee der mestiçagem und des Konzepts der Transkulturalität nochmals ins Auge zu fassen. Die Americas wurden in der Begriffshistorie als die geschichtlichen und geographischen

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Wurzeln der Transkulturalität herausgearbeitet. So werden die Kolonialgeschichte und das Element des Mestizen als Produkt der Vermischung aus Kolonialherren und Kolonialisierten zum Symbol für die gesamte Region. Es zeigte sich zudem, dass das 20. Jahrhundert für die gesamten Americas von der Suche nach einer eigenen Originalität, die sich von europäischen Begriffen und damit auch von der externen Bestimmung über die eigene Identität lossagt, geprägt war. Fernando Ortiz und sein Konzept der transculturación haben sich als wegweisend für diesen Befreiungsprozess Lateinamerikas aus der Zwangsjacke europäischer Standards herauskristallisiert. Deshalb sollen abrundend seine und Gilberto Freyres Annahmen in einem Überblick gegenübergestellt werden. Beide Autoren und ihre Werke entstehen in etwa zur selben Zeit – mit weniger als 10 Jahren Differenz – und legen den Grundstein für das lateinamerikanische Selbstbild einer harmonischen Rassendemokratie. Zudem eint die beiden, kritisch auf den starken Industrie- und Handelskapitalismus zu reagieren. Ortiz beschäftigt dabei die Angst vor externen Einflüssen, weshalb sein Nationalismusverständnis als traditionell bewertet wird. Freyre hingegen gilt als konservativ, weil er auf die ökonomischen Veränderungen mit Rückzug in die Nostalgie über alte Gesellschaftsstrukturen reagiert. Obwohl beide Autoren über Länder und Gesellschaften berichten, die eine ähnliche Historie aufweisen – rund 350 Jahre Sklavenwirtschaft, sehr späte Abschaffung der Sklaverei und ein diktatorisches und populistisches Regime der 1930er und 1940er Jahre – so unterscheiden sie sich doch markant in der Bewertung des Mestizen, beziehungsweise des Mulatten. Ortiz führt den Zucker als Symbol für die kapitalistische Ausbeutung an, welche verhinderte, dass sich die Rassen vereinigen konnten und eine echte cubanidad entstand. Überlagert wurde dabei die Frage nach der rassischen Zusammensetzung der Gesellschaft durch die Klasse als Faktor für die Gruppenidentität. Die Rassen sollten quasi vereint unter der Fahne einer Klasse gegen externe Mächte einstehen. Dem steht Freyres essentialistische Theorie eines homem tropical, der den Rassismus bekämpfen möchte, diametral entgegen (vgl. Pinto 2002: 74–83). Nichtsdestotrotz sind die Parallelen bedeutend, da sowohl der Eine als auch der Andere mit revolutionärer Art die rassischen Stereotype ihrer Zeit hinterfragen und das Selbstbild einer ganzen Weltregion prägen (vgl. ebd.: 85). Die Gegenüberstellung der Gedanken beider Autoren hat gezeigt, dass das Konzept der Transkulturalität begriffsgeschichtlich seine Wurzeln in Lateinamerika hat und auch die Idee der mestiçagem mit einer parallelen Fragestellung in diesen Kontext eingebettet ist. Die vorgestellten Parallelen in den Merkmalen und nun auch in der Genese des Konzepts fördern die Nähe der Freyre’schen Idee und des transkulturellen Konzepts zu Tage. Doch gilt es, die Divergenzen nicht aus dem Blick zu verlieren. Zunächst soll die Transkulturalität in ihrer Rolle als

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Gegenspieler des Multikulturalismus nochmals genauer beleuchtet werden, um dann anschließend kritisch nach den Schwachstellen und nach der, wie eingangs vermutetet, verminderten theoretischen Tragfähigkeit zu fragen, bevor dies nochmals in Bezug zur Idee der mestiçagem gesetzt wird.

2.6 Gegenposition als Selbstverständnis 2.6.1 Transkulturalität als Gegensatz zu Multikulturalismus Die bisherigen Darstellungen haben gezeigt, wie sich das konkrete Konzept der Transkulturalität von Wolfgang Welsch vor allem dadurch auszeichnet, dass bisherige Konzepte und Begriffe kritisch betrachtet werden. Sowohl der philosophische Ansatz Herders mit seinem organischen Verständnis von Geschichte und Kultur als auch das darauf aufbauende Konzept des Multikulturalismus werden immer wieder als Gegenpol angeführt. Im Folgenden geht es darum, genau dieses, sich davon abgrenzende Selbstverständnis des transkulturellen Konzepts zu hinterfragen. Welschs Charakterisierung des multikulturellen Konzepts von Kultur bezeichnet letzteres zunächst als progressiv, da es sich darin von konservativen Haltungen abheben will. Auch wenn der Kulturbegriff – wie gezeigt – als traditionell, beziehungsweise regressiv gelten muss, möchte Welsch mit dem multikulturellen Versuch ein ausgewogenes Arrangement sowohl zwischen mehreren Kulturen innerhalb eines staatlichen Rahmens erzeugen als auch eine neue Perspektive eröffnen. Diese ist darauf ausgerichtet, Verständigung zwischen den Kulturen zu ermöglichen und Konfliktpotenzial abzumildern. Jedoch fällt Welschs Diagnose negativ aus, wenn er dieses Vorhaben zwar als progressiv, aber in der Folge doch als ineffizient bezeichnet. Er kommt zu diesem Schluss, da er im multikulturellen Konzept stets die separierenden Schranken als Basis erkennt, die man aber nicht abzuschaffen versucht. Dies mündet für Welsch mit der Form des Multikulturalismus in der Gefahr eines politischen Fundamentalismus, der das Individuum zu sehr in Schranken denkt (vgl. Welsch 1995a: 40). Neben dieser attestierten Unfähigkeit, die Folgeprobleme der favorisierten kulturellen Pluralität in einem Nationalstaat zu lösen, formuliert Welsch noch einen konkreten Vorwurf: [Man gewinnt] oft den Eindruck, daß [sic] die Parteigänger des Multikulturalitätskonzepts zwar die gesellschaftlich garantierten Freiheitsrechte zugunsten der multikulturellen Gruppen voll in Anspruch nehmen, sich aber weitaus weniger mit den Folgeproblemen intensivierter Multikulturalität befassen wollen, – manchmal scheinen sie diese Probleme überhaupt nur verstärken, nicht lösen zu wollen. Eine

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wirklich tragfähige Version von Multikulturalismus müßte [sic] die multikulturelle Frage heute jedenfalls von vornherein im Blick auf Durchdringungsphänomene der vielen Kulturen angehen. (Welsch 1997: 70–71)

Auch andere Stimmen nehmen multikulturelle Maßnahmen als eine Form des staatlichen Diversitätsmanagements wahr. Hierbei wird aber weiterhin von Kulturen als Stereotype ausgegangen und die Diversität als Amalgam einzelner Communities betrachtet (vgl. Benessaieh 2010: 18–19). Das Konzept der Transkulturalität sieht sich selbst als ein postmodernes Phänomen, das sich zwischen Multikulturalismus und Dekonstruktion bewegt. Kulturelle Ursprünge werden erkannt, aber mit dem Ansinnen, sie schnellst möglich zu dekonstruieren. Mikhail Epstein geht soweit, Transkulturalität als mögliche Lösung des großen Paradoxons der Postmoderne – dieses Spagats zwischen Anerkennung und Dekonstruktion – zu bezeichnen (vgl. Epstein 2009: 339). Inwiefern das transkulturelle Konzept diese Rolle als Hoffnungsträger einnimmt, hängt auch davon ab, welche Parallelen zum multikulturellen Konzept bestehen und an welchem entscheidenden Punkt der Unterschied deutlich wird. Grundsätzlich geht es beiden Konzepten darum, einen Weg zu finden, wie mit Alienität und Alterität umgegangen werden soll. Die kulturelle Differenz und ihre Rolle in modernen nationalstaatlich orientierten Gesellschaften dienen dabei als Indikator (vgl. Lösch 2016: 92). An dieser Stelle ist es auch geboten, in Kürze auf das Konzept der Interkulturalität einzugehen, das sich im Dreiklang mit Multikulturalismus und Transkulturalität Gemeinsamkeiten teilt. Allgemein geht die Interkulturalität auch über den Gedanken der kulturellen Separierung des Multikulturalismus hinaus, kann aber nicht mit der Transkulturalität gleichgesetzt werden. Interkulturalität ist dadurch gekennzeichnet, dass sich zwei Kulturen gegenseitig als Ganzes anerkennen und davon ausgehend in einen Dialog eintreten. Die Tatsache der Andersheit gilt dabei nicht als verhandelbar; verhandelbar ist nur der Ausgangspunkt. Die Transkulturalität geht von einem Minimum von zwei kulturellen Akteuren aus, wobei nach oben keine Grenze gesetzt wird. Es bleibt dabei nicht nur beim Dialog, sondern es führt zu einer Begegnung zwischen Kulturen und somit zu einem Prozess mit Folgeentwicklungen. Darüber hinaus wird die Andersheit in diesem Prozess immer neu verhandelt und bildet so eben nicht die Basis (vgl. Dupuis 2008: 500). Betonen sowohl die Interkulturalität als auch der Multikulturalismus den Bedarf an einer Managementform kultureller Pluralität, so sieht die Transkulturalität keinen Mehrwert in einem Dualismus zwischen marginalisierten und dominierenden Kulturen (Benessaieh 2010: 18–19). Welsch honoriert, dass die Interkulturalität das Konfliktpotenzial des Multikulturalismus und seines eng gefassten Kulturbegriffes erkennt und die Lösung

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durch den Dialog zu erreichen versucht. Er macht aber auch deutlich, warum dieser interkulturelle Vorschlag nicht als tragfähiges Lösungskonzept gelten kann: Solange man die Primärthesen von der Insel- oder Kugelverfassung der Kulturen mitmacht, werden diese Folgeprobleme nicht lösbar sein, weil diese Probleme der genannten Primärthesen entspringen. Das klassische Kulturkonzept schafft durch seinen Primärzug – den separatistischen Charakter der Kulturen – das Sekundärproblem der schwierigen Koexistenz und strukturellen Kommunikationsunfähigkeit dieser Kulturen. Daher können diese Folgeprobleme auf der Basis dieses Konzepts nicht gelöst werden. […] Das Konzept geht die Problemwurzel nicht an. Es ist nicht radikal genug, sondern bloß kosmetisch. (Welsch 1994: 94–95)

Somit ist festzuhalten, dass sich aus der Gegenüberstellung der multi- und transkulturellen Konzeptionen aber auch mit dem Blick auf die Interkulturalität zum einen Gemeinsamkeiten und zum anderen ein entscheidender Unterschied ergeben: Grundlage der drei Konzepte ist eine binäre konzeptionelle Ausrichtung von Kulturen – wenn auch, wie gezeigt, im Falle der Transkulturalität als Ausgangspunkt für die Dekonstruktion dieser binären Anordnung. Gleichzeitig verstehen sich alle Konzeptionen als ein Deskriptionsmuster, um die gegenwärtige kulturell vernetzte Welt zu erfassen. Gemein ist ihnen zudem ein normativer Impetus, mit dem sie gegen feststehende Ressentiments antreten wollen und ihre Identitätsmodelle dementsprechend formulieren. Dazu passend treten die Konzepte gegen ein Defizit an gesellschaftlichem Wissen um die Komplexität kultureller Verfasstheit an. Damit werden sie in der öffentlichen und auch wissenschaftlichen Debatte jeweils zu Hoffnungsträgern (vgl. Lavorano 2016: 149). Mit Blick auf die bereits angestellte Analyse lassen sich sowohl eine Entwicklungslinie zwischen den Konzepten als auch deutliche Bezugspunkte feststellen: Steht der Multikulturalismus wie ein Fundament am Anfang der Reihung, so bezieht sich das interkulturelle Denken noch sehr stark auf diesen und versucht, ihn um den Aspekt des Dialoges zu erweitern und damit seine Schwachpunkte zu kompensieren. Die fundierte Darstellung des Konzepts der Transkulturalität hingegen zeigt, dass es vielmehr darum geht, die multikulturellen Grundfesten zu dekonstruieren und nicht zu modifizieren. Es wurde zudem klar, dass der Multikulturalismus gegenwärtig einen krisenhaften Status einnimmt. Daher tritt die Transkulturalität im Gewand einer Heilslösung für diese Probleme auf. Die gerade eben dargelegten Gemeinsamkeiten bestätigen diese These, da die Rückkopplung zum multikulturellen Konzept sowohl für Welsch als auch für die anderen Stimmen stets ausschlaggebend ist. Der entscheidende Clou, den das transkulturelle Konzept für sich beansprucht, ist die beschriebene Kehrtwende

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in Bezug auf den Kulturbegriff. Hierin liegt auch der maßgebliche Unterschied begründet. Welsch beispielsweise erkennt, dass das Festhalten an einem traditionellen Kugelmodell von Kulturen die Folge aus der immer größeren Verunsicherung angesichts globaler Prozesse ist.110 Der identifizierte rettende Charakter des transkulturellen Konzepts besteht daher darin, dass man sich starken Bindungen nicht gänzlich verweigert, aber ein umfassenderes Verständnis von kultureller Diversität ermöglicht. Welsch bringt diese lösungsorientierte Sichtweise mit der Metapher von Stand- und Spielbein auf den Punkt: Lassen Sie es mich mit dem Bild von Standbein und Spielbein erklären: Es ist gut, ein Standbein zu haben und für viele bildet die lokale, regionale oder nationale Identität dieses Standbein. Aber das Standbein soll nicht zum Klumpfuß [sic] werden. Das Standbein soll viele Spielbewegungen, soll Offenheit für Anderes ermöglichen, nicht ausschließen. (Welsch 2010a: 10)

2.6.2 Transkulturalität in der Universalismusdebatte Mit dem Abschnitt, der untersuchte, inwiefern der Universalismus als gemeinsamer Gegner der beiden Philosophen Herder und Wittgenstein gewertet werden kann, wurde eines deutlich: Der Widerstreit von Universalismus und Relativismus ist ein genuin politiktheoretischer Diskurs. Dabei steht die Frage im Raum, wie aus einem eigenen Verständnis heraus ein anderes Konzept – von Kultur – verstanden werden kann. Darüber hinaus wurde aus der Universalismusdebatte ein Paradoxon der modernen Gesellschaftsrealität abgeleitet: Die Norm der Anerkennung kultureller Differenz wird von einzelnen Kulturen oder auch Minderheiten als eine universelle Norm postuliert. Dadurch entsteht die Möglichkeit, partikulare Normen auf dieser Grundlage zu erzwingen, beziehungsweise einzuklagen, da sie sich auf eine universelle Anerkennung von Partikularismus berufen (vgl. Wright: 1998: 14). Auch Wolfgang Welsch und sein Konzept der Transkulturalität bewegen sich in diesem Spannungsfeld des Universalismus und seiner Gegenpositionen.

110Als weitere Erklärung für den Rückbezug auf das Kugelmodell nennt Welsch den in der Menschheitsgeschichte verwurzelten Tribalismus, beziehungsweise den Ostrazismus – das Ausstoßen von Abweichlern aus einer Gruppe. Beides seien Mechanismen, die bereits in der Steinzeit und bis in die Hochkulturen erkennbar waren. Solange sich Gruppen durch Blutsverwandtschaft kennzeichneten, waren diese Mechanismen logisch und effizient. Doch Welsch sieht in dem Moment, als die Blutsverwandtschaft von Kulturen als Definitionsgrundlage von Gruppen abgelöst wurde, den Beginn der Krise zwischen Begriff und Realität. Siehe dazu: Welsch 2010a: 9.

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Welsch begründet in seinem Konzept einen expressiven Individualismus, der die Frage nach Anerkennung am Ende obsolet werden lässt. Es geht vielmehr darum, Kollektive nicht mehr ethnisch oder kulturbezogen zu begründen. Zugespitzt soll sich das Individuum von den multikulturellen Gruppenzwängen emanzipieren (vgl. Lösch 2016: 91). Grundsätzlich gesprochen, strebt das transkulturelle Konzept an, sich von einer westlichen, universellen Philosophie, die sich als pluralistisch bezeichnet, aber doch immer wieder nur in verschiedenen Gewändern auftritt, zu befreien (vgl. Elm 2001: 40). Auch Welsch selbst gesteht ein, sein Konzept gehe primär von Kulturen westlichen Typs aus. Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass der Globalisierungsprozess, diesen kulturellen Typus weiter vorantreibt, womit er, global gesehen, auf dem Vormarsch ist (vgl. Welsch 1994: 108). Dabei bleibt im Sinne der Diskussion um Universalismus und in diesem Falle seines Gegenspielers Partikularismus die Frage offen, ob Transkulturalität somit durch die Globalisierung eine Uniformierung erzeugt. Die Antwort Welschs fällt folgendermaßen aus: Natürlich nicht. Nur verändert sich unter Bedingungen der Transkulturalität der Modus der Vielheit – und deshalb erkennt sie nicht jeder, sondern verwechselt sie manchmal mit Uniformierung. Vielheit im traditionellen Modus der Einzelkulturen schwindet in der Tat zunehmend. Aber das heißt nicht, daß [sic] Uniformität einträte. Vielmehr bildet sich eine Vielheit neuen Typs: die Vielheit unterschiedlicher Lebensformen von transkulturellem Zuschnitt. Sie ist durch hohe Individualisierungsgrade und Differenzenmannigfaltigkeit gekennzeichnet. (Ebd.: 109)

Dieser transkulturelle Zuschnitt von Lebensformen bringt zum Ausdruck, dass das Konzept zwei Ebenen hat: Die universalistische Tendenz durch die Suche nach Ähnlichkeiten und den Anknüpfungs- und Übergangspunkten zwischen den Lebensformen. Gleichzeitig weist es aber auch eine (kultur-)relativistische Ebene auf, wenn immer wieder betont wird, dass es zwischen den Lebensformen und auch Kulturen keinen kleinsten gemeinsamen Nenner gäbe, auf den sie sich reduzieren ließen (vgl. Benessaieh 2010: 21). Somit rückt neben den Vorwurf der Uniformierung der konträre Verdacht der forcierten Partikularisierung111 ins

111Partikularismen sind eine Reaktion auf das Verschwinden traditioneller Identitäten, die durch die Vermischung und Vernetzung von Kulturen entstanden sind. Alle Identitäten, die sich selbst als partikularistisch betrachten, sind jedoch trotzdem mit faktischer Transkulturalität und innerer Pluralität konfrontiert. Die Transkulturalität nimmt somit die Gestalt eines Keims an, eines Pluralitätskeims, der sich nicht negieren lässt (vgl. Welsch 1997: 79).

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Blickfeld. Partikulare Tendenzen entstehen nach Welsch als eine Reaktion auf Globalisierung, welche diesen parallel entstehenden Trend zum Partikularen nicht erfasst. Dabei kann die Forderung nach einer spezifischen kulturellen Identität nicht einfach unterdrückt werden. Die Transkulturalität versucht deswegen, den Konkurrenzkonzepten Globalisierung und Partikularisierung gerecht zu werden. Durch die eingeschriebene Logik des Prozesses schaffen es transkulturelle Identitäten sowohl kosmopolitisch verfasst als auch lokal verankert zu sein.112 Welsch lehnt mit seinem Konzept zwar die statische ethnische Definition von Kultur im Sinne des traditionellen Kulturbegriffs ab, erweitert sein Konzept aber dahin, dass dieser lokale Anteil an der Identität des Individuums über Ethnie definiert sein kann, jedoch im keinen Fall muss. Die Zugehörigkeit wird dadurch frei wählbar (vgl. Welsch 1997: 78–79). Zeitlich betrachtet, nimmt Welschs Erweiterung der Transkulturalität um den Aspekt der möglichen und frei wählbaren Zuordnung ab 2009 einen neuen Stellenwert ein. Von diesem Moment an spricht er von culture universals oder auch von culture semi-universals. Diese kulturellen Universalismen sind nicht mit solchen im allgemeinen Sinn gleichgestellt. Sie sind als Anknüpfungspunkt für transkulturelle Kommunikation zu verstehen. Nicht alle Menschen, aber doch viele teilen sie. Damit wird die Lücke, die zwischen dem einen Pol der elementaren Gemeinsamkeit und dem anderen Pol der absoluten Differenz klafft, gefüllt. Es geht somit nicht darum, das allgemeine Wesen der Menschheit zu ergründen, aber auch gleichzeitig nicht um reines Differenzdenken. Der Blick richtet sich vielmehr auf transkulturelle Ähnlichkeiten, die einen gewissen Grad an elementaren Gemeinsamkeiten beinhalten können, jedoch immer noch stets das Ziel der Anschlussfähigkeit und den Vernetzungscharakter als Prämisse ansetzen (vgl. Welsch 2009: 32–33). Damit ähneln Welschs Spuren in diesem Spannungsfeld von Universalismus und Partikularismus stark den Spannungen, die bei Wittgenstein zwischen Universalismus und Relativismus ausgemacht wurden.113 Er wirft dem klassischen Universalismus einen fehlenden kulturellen Kontext vor und mahnt an, dass Werte über tatsächliche Szenarien

112Siehe dazu weiter: Hannerz, Ulf: Cultural Complexity. Studies in the Social Organization of Meaning, New York 1992. 113Zu beachten ist an dieser Stelle, dass der Universalismus jeweils durch verschiedene Gegenpositionen herausgefordert wird. Ist es im Abschnitt zu Wittgenstein eher die relativistische Position, die sich universellen Tendenzen stellt, so rückt mit Welsch eine partikularistische Gegenstimme in den Fokus. Für die Analyse bleibt jedoch der zentrale

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und Handlungen verankert werden müssten (vgl. Kertscher 2009: 93). Jedoch relativiert auch er in Teilen die Ablehnung universalistischer Elemente. Wie gezeigt, streitet er nicht ab, dass so etwas wie eine „common humanity“ (PinFat 2000: 668) existierte, jedoch sieht er diese nicht im Inneren jedes Einzelnen fest verankert. Vielmehr sei sie als Handlung zu verstehen, die vom jeweiligen persönlichen Kontext abhänge und dadurch einer ständigen Differenzierung bedürfe (vgl. ebd.: 668). Wittgenstein betont, dass Sprache über Regeln funktioniere. Diese Regeln seien kein Abbild einer universalen Grammatik, sondern entsprängen einer innergesellschaftlichen übereinstimmenden Praxis. Soziale Gepflogenheiten bildeten somit eine gemeinsame Basis, ohne nach einer Letztbegründung zu verlangen. Damit seien Regeln durch ihren Praxisbezug kulturspezifisch und nicht universal fixiert. Dieser, wie bereits festgestellt, bei Wittgenstein grundlegende praxeologische Ansatz ermöglicht über die Option des Erlernens neuer Handlungsweisen und damit Lebensformen, dass sich Kulturen trotz fehlender universaler Basis austauschen und vermischen können (vgl. Zitterbarth 2011: 109–111). Er distanziert sich damit auch von einem traditionellen Kern der Kulturen, welcher universell gleich konzipiert ist. Jedoch gibt auch er mit der common humanity ein Element an, das eine Minimalbasis zwischen den Menschen schafft, daraus aber keine Folgen ableitet, sondern die Freiheit zur individuellen Gestaltung lässt. Ein Zitat von der US-amerikanischen Politikwissenschaftlerin Amy Gutman bringt die Situation auf den Punkt: „Zugegeben, wir vermögen nicht außerhalb jeglicher Kultur zu stehen. Doch deshalb brauchen wir […] noch längst nicht innerhalb einer, und nur einer, partikularen Kultur stehen.“ (Gutman 1995: 291) Der schweizerische Soziologe Peter-Ulrich Merz-Benz weist in diesem Kontext auf eine innere Gefahr hin, die durch diesen Umgang mit kulturellen Universalismen auftreten könnte. Zum Teil würden die durch die Transkulturalität aufgelösten kulturellen Grenzen Unsicherheit erzeugen. In dieser Lage seien es Werte und ihre Bedingtheit, die die Akteure der Lebensformen und deren Handlungen bestimmten. Die Gefahr bestünde darin, dass ein zu großes Erstarken einzelner Werte dazu führen könnte, keine anderen mehr zuzulassen und dieselben dadurch auszuschließen. Das stünde im Widerspruch zum transkulturellen

Wert der Gegenüberstellung darin bestehen, dass der Universalismus als Gegner untersucht wird und dabei die Argumente, die gegen ihn angebracht werden, miteinander in Relation gesetzt werden.

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Denken und seiner Konzeption (vgl. Merz-Benz 2016: 79–80). Daher wäre es die Gefahr, die im Inneren lauere: Wenn den sogenannten culture universals zu viel Wert beigemessen würde, führe das zu einer inneren Sprengung der Transkulturalität. Mit diesem Hinweis auf die innere Gefahr spannt sich der Bogen hin zum abschließenden Analysepunkt, zur kritischen Perspektive auf das Konzept der Transkulturalität und ihrer theoretischen Tragfähigkeit.

2.7 Kritik Die von Merz-Benz angesprochene innere Gefahr beinhaltet bereits den Hinweis, das Konzept der Transkulturalität berge mögliche Widersprüche in sich. Im Folgenden geht es darum, diese Paradoxa aufzuzeigen und das transkulturelle Selbstbild kritisch zu hinterfragen. Dazu kommen zunächst die Kritiker zu Wort, die diesen Vorwurf der theoretischen Unschärfe näher ausführen. Anschließend soll es das Ziel sein, das Transkulturalitätskonzept, vor dem Spiegel der in dieser Arbeit angestellten Struktur, einer kritischen Betrachtung auszusetzen: Das bedeutet, dass die Darstellung des Konzepts auf ihre Rückbezüge zu anderen Konzepten, zur Begriffsgeschichte und ihrer philosophischen Grundlage kritisch befragt wird. Zu Beginn sei der Vorwurf erhoben, die Transkulturalität sei konzeptionell nur an der Oberflächendurchdringung interessiert und schiele auf technologischen Fortschritt, ohne dabei ein nötiges Bewusstsein für die Tiefenstruktur von Kultur und ihre Funktion der Orientierung herauszubilden (vgl. Elm 2001: 13). Es scheint, als wenn Wolfang Welsch auf diesen spezifischen Kritikpunkt an seinem Konzept direkt Bezug genommen hätte. Denn, wie gezeigt, erweitert er das Konzept konkret ab 2009 um das Argument der Bezugskulturen. Hierbei versucht er, sich von diesem Vorwurf zu lösen, indem er klarstellt, dass regionale und nationale Bezüge durchaus sinnstiftend für die Identitätsbildung sein könnten, er jedoch deren dogmatischen Charakter weiterhin ablehne. Des Weiteren wird Welsch und seinem Konzept vorgeworfen, er trenne zwischen innerer und äußerer Transkulturalität, dabei argumentiere er jedoch theoretisch sehr unscharf. Konkret bleibt fragwürdig, ob sowohl die Bedeutung transkultureller Strukturen für das Individuum selbst als auch für die Interaktion mit anderen eine historisch gewachsene Tatsache oder reine Reaktion auf die Globalisierung ist (vgl. Lavorano 2016: 152). Auch dieser Kritikpunkt muss entschärft werden, denn Welsch macht durchaus klar, dass transkulturelle Strukturen seit Beginn ein

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Teil der Menschheitsgeschichte waren und gleichzeitig durch die Prozesse der Globalisierung nur beschleunigt und deutlicher sichtbar werden. Der hier folgende Kritikpunkt deutet auf einen theoretischen Stolperstein hin, der sich nicht leicht widerlegen lässt: In seiner Deutung von Multikulturalität und Multikulturalismus, die stets der Ausgangspunkt für die Entfaltung seines eigenen Konzepts sind, unterstellt er diesem traditionellen Konzept, es führe dazu, dass sich Kulturen voneinander abschotten. Der Widerspruch tritt an dem Punkt auf, an dem Welsch anbringt, die Transkulturalität sei eine Beschreibung der Realität, die vor allem durch netzartige Strukturen zwischen den Kulturen geprägt sei. Ralf Elm hinterfragt, wie beides zusammenzubringen sei, wenn Multikulturalismus bereits Abschottung erzeugt habe und gleichzeitig die Transkulturalität aber vorgebe, Vernetzung in der Realität zu erkennen (vgl. Elm 2001: 13). Auch wenn nachvollziehbar ist, dass gemeint sein muss, trotz Abschottung bestünden gleichzeitig netzartige Strukturen zwischen den Kulturen weiter, so bleibt Welsch eine solche Aussage schuldig. Theoretisch hinterlässt er somit an dieser Stelle eine Lücke. Neben den Lücken, die theoretisch offenbleiben, fallen aber auch die traditionellen Konstanten auf, die er wiederum nicht schafft, abzustreifen. Ralf Elm und Stephanie Lavorano unterstellen ihm eine Sprachnot114. Wie bereits gezeigt, ist es das Bild vom dichotomen Verhältnis von Kulturen, von dem Welsch ausgeht, um dieses dann durch die fluiden Grenzen weich zu zeichnen. Doch besteht der Vorwurf an ihn, dadurch die Grenze noch vielmehr zu stabilisieren und Kultur als alleinigen Identitätsfaktor zu zementieren (vgl. Elm 2001: 13/Lavorano 2016: 152–153). Mit dem Argument, dass der Autor die Transkulturalität als einen Übergangsprozess bezeichnete, der allmählich die alten Strukturen abstreife (vgl. Welsch 2000: 341), lässt sich der Vorwurf zwar entschärfen. Jedoch bleibt die Feststellung, die Transkulturalität sei in dem Stadium, das Welsch beschreibt, noch nicht von der starken Kopplung an die Faktoren Kultur und Grenze frei. Ähnlich dazu verhält sich der Kritikpunkt, Welsch schaffe es nicht, sich des Rassismusproblems zu entledigen. Es entstehe vielmehr ein theorieimmanentes Paradoxon, da es der Anspruch des transkulturellen Konzepts sei, in der Theorie

114Der Vorwurf der Sprachnot ist insbesondere nachzulesen bei: Wimmer, Franz Martin: Interkulturelle Philosophie. Probleme und Ansätze, Wien 2000, S. 171.

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eine Alternative zu starren Identitäten zu sein. Wenn der Philosoph jedoch auch den Anspruch erhebt, die Transkulturalität fasse die gegenwärtigen Verhältnisse adäquat, dann fällt auf, dass in einer vernetzten, globalisierten – und vor allem meist westlich zentrierten – Welt der Rassismus ebenso allgegenwärtig ist. Damit gibt Welsch paradoxerweise an, die Realität abbilden zu wollen, obwohl in dem theoretischen Konzept dazu dieses reale Problem schlichtweg ausgeblendet bleibt. Die Diversität, die er an die Stelle von absoluter Differenz rückt, ist aber auch weiterhin ein Teil eines Diskurses, der sich nicht von rassistischen Strukturen lösen kann. Der alleinige Perspektivenwechsel von der Differenz auf die Diversität ist somit noch kein Gegenentwurf zur Rassifizierung. Dem Konzept der Transkulturalität fehlt eben dieser Alternativvorschlag zur rassischen Ordnung, da es zwar den Pluralismus im Inneren der Individuen und der kulturellen Formen zwischen den Gesellschaften hervorhebt, jedoch den eigentlichen Nährboden von Rassismus nicht effizient bekämpft: Die Schnittstelle von innerer Diversität und äußerer Eindeutigkeit (vgl. Lavorano 2016: 150–153). Grundsätzlich zeichnet die Transkulturalität aber mit dem Narrativ der kulturellen Diversität und des ‚Wir‘ ein antirassistisches Selbstbild. Diese positive Tatsache wird dadurch getrübt, dass die naturalisierte Diversität eine rein westliche Denkfigur ist. 1994 schreibt Welsch bereits, dass es sich bei der Transkulturalität um ein zunächst rein westliches Phänomen handele – auch wenn er die Prognose stellt, dass es durchaus auch für die restlichen Weltregionen und Kulturkreise von Bedeutung werden könne. Mit dem „narrative[n] ‚Wir‘ [tritt] das Imago einer quasi ‚indigenen Kultur‘ hervor, die nur als der ‚Westen‘ zu identifizieren ist und gegenüber dem ‚Rest der Welt‘115 positioniert wird.“ (Ebd.: 152) Lavorano macht Welsch darüber hinaus den Vorwurf, durch seine Konzeptualisierung des Menschen über den Faktor Kultur einen Re-Essentialismus zu betreiben. Diese Vorrangstellung von Kultur bei dem Prozess der Identitätsfindung des Einzelnen geht eine Verbindung mit der Vorstellung ein, Kulturen seien per se plural verfasst. Dieses Verständnis gilt es an dieser Stelle nicht zu bewerten, jedoch ist festzuhalten, dass es einer dezidiert westlichen Denktradition entspringt. Damit rückt der Faktor Kultur in ein anderes Licht als die Transkulturalität ihn ursprünglich proklamierte: Das Kulturelle wird der bestimmende Faktor in der Identitätsbildung und erhält dadurch das Attribut

115Der Ausdruck ist eine Anspielung auf das Kapitel Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht von Stuart Hall in seinem Werk aus dem Jahre 1994: Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität, Hamburg 1994.

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des Zwangs.116 Hier entsteht der Verdacht, dass ein essentialisierter Kulturrelativismus nicht befreiend wirkt, sondern Kulturgrenzen wieder neu setzt und stereotypisierend auftritt (vgl. ebd.: 151/153/160). Auch Ariane Rau weist drauf hin, dass die Transkulturalität schon durch ihre theoretische Konzeption zum Essentialismus und Kulturrelativismus neigt. Zudem hält sie fest, dass auch andere Trans_Konzepte seien noch nicht vom Kulturellen losgelöst und überdeckten möglicherweise der Kulturrelativismus ökonomische, soziale und politische Realitäten (vgl. Rau 2016: 11). Im Vergleich gibt Rau aber auch versöhnlich zu bedenken: „Durch einen souveränen Umgang mit Trans_Konzepten könnte die kulturelle Hegemonie gleichsam überwunden und auf diese Weise ein neuer Weg der Kommunikation eröffnet werden.“ (Ebd.: 11) Trotz des Ausblicks auf eine möglicherweise von der Kultur losgelöstere theoretische Basis bleibt das von Welsch vorgestellte Konzept an diesem Punkt widersprüchlich. Der Widerspruch richtet sich vor allem gegen den eigenen Anspruch, grenzsprengend zu agieren. Dorothee Kimmich schlägt mit ihrer Kritik in dieselbe Kerbe, wenn sie diagnostiziert, dass kulturelle Konflikte eben oft eine politische oder eine ökonomische Begründung hätten – Transkulturalität wäre somit nur noch ein Konzept, das das Überleben von Kultur fördere ohne die Realität abzubilden, wie es der eigene Anspruch jedoch besagt. Radikal fragt Kimmich, ob es statt der Abbildung der angeblichen realen Realität kultureller Verhältnisse durch die Transkulturalität nicht angebracht wäre, sich auch im wissenschaftlichen Diskurs von Kultur zu lösen (vgl. ebd.: 15). Doch letztendlich ist es Wolfgang Welsch selbst, der der mehrmals als sein Konzept ausgewiesenen Transkulturalität – wenn auch sicherlich nicht absichtlich – mit folgender Aussage einen utopischen Charakter verleiht: „Vielleicht kommen wir im Zeitalter der Transkulturalität tatsächlich dem alten Traum von einer ‚Family of Man‘ ein Stück näher.“ (Welsch 2012: 38) Wie zu Beginn des Abschnitts angezeigt, geht es abschließend darum, das Konzept nach den strukturellen Kriterien des bisherigen Aufbaus kritisch zu hinterfragen. Dabei wird auf den Umgang mit der Begriffshistorie, die Rückkopplung zum philosophischen Fundament, den Kulturbegriff Ludwig Wittgensteins und auf die Abgrenzung zum multikulturellen Konzept Bezug genommen.

116Siehe weiter zur Kritik des Kulturessentialismus im Falle der Transkulturalität: Ezil, Ökan/Kimmich, Dorothee/Werberger, Annette (Hrsg.): Wider den Kulturzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur, Bielefeld 2009.

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Zunächst sticht ins Auge, dass Welschs Konzept der Transkulturalität den Aspekt der Begriffshistorie nur anreißt und keinen tieferen Überblick gibt. Die Verortung der transkulturellen Idee in den verschiedenen Disziplinen spiegelt sich im Konzept der Transkulturalität nur dahingehend wider, dass Welsch auf den Wendepunkt in der Ethnologie hinweist, der für ihn den Ausgangspunkt für transkulturelles Denken darstellt. Wie die Arbeit jedoch deutlich gezeigt hat, ist es auch der literaturwissenschaftliche Diskurs, der dem transkulturellen Denken zu internationaler Bedeutung verholfen hat. Beispiele sind die kanadische migrant literature in den 1980ern oder ab 2003 der Impuls von Spivak. Da Welsch bereits 1992 sein Konzept entwickelt, ist kritisch zu beanstanden, dass er die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Transkulturellen vor allem im frankophonen Kanada der 1980er Jahre nicht würdigt. Einflüsse wie Spivak entwickeln sich erst in den 2000ern, sodass sich der Vorwurf, auf diese späteren Impulse bezogen, abschwächt. An einem anderen Punkt können Welsch und sein Konzept nicht entlastet werden: Der fehlende Bezug zu der begrifflichen Genese des Transkulturellen und damit auch zu Fernando Ortiz. Die Vorleistungen von Ortiz mit seinem Begriff der transculturación blendet dieser fast vollständig aus. Einzige Ausnahme bildet die Erwähnung Fernando Ortiz‘ in einem Aufsatz aus dem Jahr 2010 und dort auch nur in Form einer Fußnote. Mit dem Ausblenden Ortiz‘ finden mehrere Aspekte bei Welsch keine Bedeutung: Der Einfluss der Kulturwissenschaften auf das transkulturelle Denken, die Analyse kolonialer Verhältnisse und ihre Rolle für das Konzept der Transkulturalität und eine frühe Abgrenzung gegen das Konzept der Akkulturation. Die historischen Wurzeln transkultureller Konzeption von Kultur und ihr Bezug zu den Americas werden nicht aufgezeigt, obwohl, wie dargestellt, die Entwicklungslinie deutlich zu erkennen ist. Damit geht ebenfalls verloren, dass die kulturelle Mischung, die Welsch zwar als Element der Transkulturalität ausmacht, in der lateinamerikanischen Form des Mestizen nicht erwähnt wird. Die Fokussierung auf rein europäische Denkfiguren und Symbole der kulturellen Vernetzung spiegelt den Vorwurf des Eurozentrismus wider, der ihm bereits aus anderen Gründen gemacht wurde.117 Der deutlich gewordene länderspezifische Kontext, der für die Entwicklung der Transkulturalität als Konzept so wichtig ist, findet bewusst keine Beachtung – jedoch nicht nur die lateinamerikanischen Wurzeln, sondern

117Die vorliegende Arbeit hat mit ihrer dargestellten Methode und Perspektive deutlich gemacht, dieser Engführung entgegenzuwirken ohne Positionen wie Welsch nicht zu berücksichtigen, sondern sie vielmehr konstruktiv zu kritisieren.

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auch der nordamerikanische Einfluss. Marie-Louise Pratt veröffentlichte in den USA zeitgleich zu Welsch ihr Konzept der transkulturellen contact zone. Aber der chronologische Überblick zu Welschs Entfaltung und Erweiterung seiner Argumente offenbart, dass dieser Einfluss auch in späteren Aufsätzen nicht aufgegriffen wird. Als nächstes wurde der Bezug des Konzepts der Transkulturalität zu Wittgensteins philosophischen Überlegungen bezüglich des Begriffs der Kultur untersucht. Die Arbeit konnte im Sinne Welschs argumentieren, dass der Rückbezug zu Wittgenstein in der Logik des transkulturellen Konzepts notwendig ist. Kritisch bleibt aber anzumerken, dass dieser Verweis doch oftmals weit an der Oberfläche bleibt. So entlehnt Welsch den verkürzt dargestellten Kulturbegriff von Wittgenstein und auch sein Verständnis von Lebensformen. Jedoch hat das Kapitel zu Wittgenstein in dieser Arbeit verdeutlicht, dass der Kulturbegriff nicht ohne die anthropologischen Grundlagen erklärbar ist. Welsch verkürzt diesen Bezug jedoch scharf. Damit geht darüber hinaus auch der starke Bezug zwischen Kultur und Sprache verloren, der für Wittgenstein als Sprachphilosoph so elementar und bereits in seinem anthropologischen Bild enthalten ist. Welsch lässt zudem Wittgenstein als Gegenspieler zu Herder antreten – was auch in der Struktur der vorliegenden Arbeit angelegt ist – ohne dabei jedoch beide Denker hinsichtlich ihres methodischen Vorgehens oder in Bezug auf die erwähnten anthropologischen Grundlagen zu hinterfragen. Er entnimmt beiden die grundlegende Gegensätzlichkeit der Metaphorik der Kugel und des Netzes, ohne diese weiter zu vertiefen. Auch die Verortung der Transkulturalität in der Universalismusdebatte gelingt erst, wenn – wie in der vorliegenden Arbeit – diese fehlenden Aspekte zusätzlich herausgearbeitet werden. Auch der Bezug zu anderen Konzeptionen von Kultur fällt bei Welsch im Falle der Transkulturalität spärlich aus. Zwar wurde deutlich aufgezeigt, dass die Multikulturalität und der Multikulturalismus als zentraler Ausgangspunkt benutzt werden, um sich abzugrenzen. Aber, obwohl das multikulturelle Denken die Basis bildet, wird es von ihm nicht in seiner Breite erfasst. Auch hier kann eine verkürzte Perspektive unterstellt werden. Denn die dargestellten Positionen, die für den Multikulturalismus als Konzept prägend sind – konkret die Ansätze von Kymlicka und Taylor – erfahren bei ihm wiederum keine Erwähnung oder Bedeutung. Dabei wäre genau diese Tiefe so entscheidend, da sich die Transkulturalität selbst als Lösungsvorschlag für die Paradoxa und Kritikpunkte des Gegenkonzepts versteht. Auch um sich selbst von den Vorwürfen des essentialisierten Kulturrelativismus zu befreien, wäre der erste Schritt, die gespiegelte Debatte im entgegenstehenden Konzept zu erkennen, sie aufzuarbeiten und, genau aus dieser Analyse heraus, eigene Schlüsse zu ziehen. Neben

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dem großen multikulturellen Gegenpol zeigt Welsch auch nur an einer einzigen weiteren Stelle, dass er weitere mit der Transkulturalität in Verbindung stehende Konzepte und Ansätze beachtet: Mit dem Verweis auf das Konzept der Hybridität von Edward Said in seinem Aufsatz von 2000. Jedoch geschieht dies auch nur peripher. Im Hinblick auf die theoretische Tragfähigkeit der Transkulturalität wird interessanterweise der Blick auf die präsentierten Alternativansätze zum Multikulturalismus bedeutend. Denn auch schon hier wurde der Ansatz der kulturellen Interferenzen angeschnitten. Parallelen bestehen in der Loslösung des Kulturbegriffs von der multikulturellen Matrix und der Hinwendung zu Wittgenstein. Da dieser Ansatz dem postkolonialen Diskurs entstammt, sind Phänomene wie Kreolisierung und Hybridität bekannt. Dass der Ansatz als peripheres Produkt in einer zu dominierenden postkolonialen Theorie im Hintergrund bleibt, wird ebenfalls mit theoretischer Oberflächlichkeit begründet. Verknüpfend hat die Transkulturalität das Potential, diesen postkolonialen Ansatz mit aufzunehmen und sich selbst theoretisch breiter aufzustellen. Wenn die angebrachte Kritik so umgesetzt würde, dass die Begriffsgenese, der gezeigte länderspezifische Kontext sowie die deutlichere Positionierung in der Universalismus-Relativismus-Debatte die entsprechende Bedeutung für das Konzept erfahren würden, bestünde die Möglichkeit, eine neue Ebene an theoretischer Tragfähigkeit zu betreten und das Konzept seinem Eigenanspruch – der Abbildung der realen Verhältnisse – gerechter werden zu lassen.

2.8  Mestiçagem und Transkulturalität unter dem Deckmantel der Rasse? Der letzte Punkt der Analyse soll zur Beantwortung der untergeordneten Leitfrage, inwiefern die Idee der mestiçagem und das Konzept der Transkulturalität am selben Problem, nämlich dem Überdecken von Rasse, kranken, dienen. Dazu blickt die Analyse zurück auf die Kritikpunkte, die sowohl Freyre und seiner Idee als auch Welsch und seinem Konzept entgegengebracht wurden. Mit dem Hinweis auf Freyres Regionalismus und seine essayistische Interpretation in CGS wurde der Vorwurf laut, dass durch die Idee der mestiçagem die eigentlichen Machtbeziehungen unter einem Deckmantel verborgen blieben. Die seit der Kolonialzeit dominierende Klasse der Oligarchie habe somit ihre Macht erhalten und in Mythen wie der democracia racial später ausdrücken können. Freyres blinder Fleck hinsichtlich der realen Machtverhältnisse spiegelt sich in dem attestierten theorieimmanenten Paradoxon des Entwurfs von Welsch wider. Es

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wurde gezeigt, dass Welsch sich als ohnmächtig erweist, das Rassismusproblem zu entkräften. Das angesprochene Paradoxon besteht darin, dass der Anspruch des transkulturellen Konzepts, die gegenwärtigen Verhältnisse adäquat fassen zu wollen, von ihm selbst nicht erfüllt wird. Denn statt den existierenden Rassismus, der gerade in der modernen globalisierten Welt spürbar ist, real abzubilden, wird er in den theoretischen Ausführungen schlichtweg ausgeblendet. Im Rückschluss auf Freyres Idee bedeutet dies, dass die Transkulturalität die Machtbeziehungen, die den Rassismus gegenwärtig stützen, ebenfalls nicht hinterfragt, sondern versucht, sie unter dem Mantel der Hybridität verschwinden zu lassen. Ein weiterer Vorwurf wurde laut, als Freyres Idee der mestiçagem fehlende Produktivität unterstellt wurde. Sie habe es nicht ermöglicht, mit ihr die für Brasilien kennzeichnende soziale Ungleichheit zu bekämpfen, die das materielle Unwohlsein des Landes begründe. Die Kritiker sehen den Grund dafür in der spezifischen Sprache Freyres. Diese beraube ihn der Fähigkeit, die heimtückischen Klassenhierarchien zu de-naturalisieren. Seine Sprache in der Idee der mestiçagem spiegele zwar die Wende von der Kategorie der Rasse hin zur Kultur wider, jedoch bliebe das verwendete Vokabular dasselbe. Die attestierte Sprachnot im Konzept von Wolfgang Welsch kann dem parallel angestellt werden. Zwar fehlt dabei der Bezug zum Faktor Rasse, jedoch geht es darum, dass er sich in seinem Konzept nicht vom Faktor Kultur und dem Element der Grenze lösen kann, obwohl der Gedankenentwurf genau diese Entkopplung selbst einfordert. Kultur bleibt somit der zentrale Faktor zur Bestimmung der Identität. Folglich sind Idee und Konzept mit dem Laster versehen, die selbstauferlegten Anforderungen nicht zu erfüllen und sich von diesem Widerspruch auch nicht befreien zu können – der Grund ist in beiden Fällen eine theoretische Engführung hinsichtlich der Kategorien Rasse und Kultur. An einer Stelle wurde Freyre sogar vorgeworfen, mit der Idee der mestiçagem eine sentimentale Lüge entworfen zu haben. Diese bestünde darin, dass er behaupte, Brasilien kenne keine rassischen Vorurteile. Dieser Angriff wird ebenfalls mit dem Argument des doppeldeutigen Vokabulars begründet. Ein betrügerisches Vorgehen wurde auch der Transkulturalität unterstellt, wenn sie von einem Narrativ der kulturellen Diversität und des ‚Wir‘ als ein antirassistisches Selbstbild spreche. Es wurde gezeigt, dass sich dieses aus westlicher Perspektive entworfene Konzept anmaßt, eine Art indigenes Imago eines ‚Wir‘ zu kreieren. Damit schlägt das deutlich am Westen ausgerichtete Konzept in dieselbe Kerbe wie Freyres Idee, da der harmonische Gedanke der hybriden kulturellen Vermischung von einer perspektivischen Engführung eingetrübt ist. Zuletzt muss wiederholend angeführt werden, dass Freyres Kritik an der biologischen Determinierung der brasilianischen Gesellschaft selbst auch

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von Gegnern angegriffen wurde. Sein Lösungsvorschlag der kulturellen Neubewertung steht im Verdacht, Rasse nur als eine versteckte Form des Monstrums der Klasse weiterzuführen. Dies ist wiederum begründet durch die aufgezeigte Ablehnung, traditionelle Machtstrukturen wirklich zu benennen und zu bekämpfen. Diese Fokussierung auf die Rasse wurde auch in dem Element der Hybridität festgestellt. Ebenso trägt das Konzept der Transkulturalität wenig dazu bei, den Nährboden für Rassismus effizient zu bekämpfen, wenn, wie gezeigt, zwischen innerer Diversität und äußerer Eindeutigkeit ein breites Spektrum an Antwortmöglichkeiten liegt. Wie erwähnt, liefert das transkulturelle Konzept somit keinen Vorschlag, wie alternativ mit der real existierenden rassischen Ordnung umgegangen werden kann. Die Kritikpunkte, warum die theoretische Tragfähigkeit des Konzepts der Transkulturalität fraglich bleibt, wurden im vorhergehenden Schritt dargelegt. Eine Möglichkeit, wie diese Belastbarkeit des Konzepts erhöht werden könnte, bestünde darin, dass die Begriffsgenese, der länderspezifische Kontext sowie die Positionierung in der Universalismus-Relativismus-Debatte dazu beitragen könnten. Mit dem angestellten Blick auf den Vorwurf, der Faktor Rasse sei sowohl in der Idee der mestiçagem als auch im Konzept der Transkulturalität unter dem Deckmantel der Kultur immer noch zentral, wurde ein entscheidender blinder Fleck identifiziert, der die Tragfähigkeit schwächt. Auch im Falle des Multikulturalismus war es das starke Rekurrieren auf die Herkunft und die Ethnie von kulturellen Gruppen. Jedoch wiegt der Vorwurf im Falle der Transkulturalität schwerer, da sie propagiert, sich genau von dieser Engführung zu befreien, sich aber letztendlich verdeckt doch nicht davon loslösen kann. Es bleibt jedoch in Frage zu stellen, inwieweit es grundsätzlich zielführend und gewinnbringend ist, überhaupt Konstanten wie Ethnie und Kultur überwinden zu wollen.

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Fazit

Die vorliegende Arbeit hatte sich zu Beginn das Ziel gesetzt, eine zentrale Fragestellung beantworten zu wollen: Inwiefern lässt sich die mestiçagem als brasilianische Idee von nationaler Identität in den begrifflichen und konzeptionellen Dualismus von Multikulturalismus und Transkulturalität einordnen? Diese präzise Fragestellung wurde dazu im Laufe der Analyse aus einem übergeordneten Zusammenhang herausgelöst und auf Teilaspekte hin untersucht, die sie dann in der Gesamtschau aber immer wieder in den gesamtheitlichen Überblick zusammenführte. Das hier abschließende Kapitel dient in der Logik der vorliegenden Arbeit dazu, zu hinterfragen und aufzuzeigen, inwiefern die angefertigte Analyse konkret in Bezug auf die Fragestellung einen Erkenntnisgewinn erzeugen konnte. Dazu werden drei Schritte angesetzt: Im ersten soll die Argumentationsstruktur der Arbeit noch einmal überblickt werden, jedoch ohne erneut den Inhalt bis ins Detail wiederzugeben. Es schließt sich eine Vorstellung der gewonnen Erkenntnisse an. Im letzten Schritt geht es darum, zu schlussfolgern, welche weiteren Desiderate in der Forschung mit den gewonnenen Erkenntnissen beleuchtet werden können, beziehungsweise zu welchen anderen Themenbereichen lohnende Anknüpfungspunkte entstanden sind. Doch zunächst richtet sich der Blick auf die Zielsetzung der Arbeit, bevor davon ausgehend, die Argumentationsstruktur nachgezeichnet wird. Wie Titel und Leitfrage avisieren, soll die Forschungslücke, die dem transkulturellen Kulturkonzept unterstellt wird, durch eine systematische philosophische Aufarbeitung, eine Kontrastierung mit der multikulturellen Forschung sowie durch eine Verknüpfung mit dem brasilianischen Kontext der mestiçagem geschlossen werden. Aus dieser Zielsetzung ergab sich auch die zweite untergeordnete Frage, inwiefern zu beobachten ist, dass die Idee der mestiçagem und das theoretische Konzept der Transkulturalität am selben Problem kranken, nämlich © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 S. Krüger, Brasilien zwischen Multikulturalismus und Transkulturalität, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30850-6_5

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5 Fazit

an einer oberflächlich verdeckten, aber doch auszumachenden Fokussierung auf Ethnizität. Der Mehrwert, der mit dieser Arbeit zu erzielen war, lag zum einen darin, das theoretische Konzept der Transkulturalität – im Sinne Wolfgang Welschs – zu skizzieren, es auf ein breiteres philosophisches Fundament zu stellen und im Kontrast zur multikulturellen Konzeption von Kultur zu betrachten. Zum anderen sollte dies eng mit dem Anspruch verbunden werden, den spezifisch brasilianischen Umgang mit kultureller Diversität, der sich in der Idee der mestiçagem ausdrückt, hinsichtlich seines Kulturbegriffs zu untersuchen, der dann in das Spannungsfeld von multikultureller und transkultureller Konzeption eingeordnet werden konnte. Die Literaturwissenschaftlerin Eurídice Figueiredo ist dabei eine Stimme, die die Verbindung zwischen dem brasilianischen Kulturverständnis und dem theoretischen Konzept der Transkulturalität bereits andeutet: Os discursos da mestiçagem se cruzam e às vezes se confundem com os discursos da transculturação, do hibridismo e da crioulização em diferentes regiões. Podese detectar um processo muito complexo, em que se desliza do biológico para o cultural, e deste, para processos mais especificamente literários e lingüísticos. (Figueiredo 2007: 64)

Um die Argumentationsstruktur der Arbeit noch einmal zu verdeutlichen, sei daran erinnert, wie einleitend davon gesprochen wurde, dass das Hinterfragen der eigenen Identität ein Teil der brasilianischen Selbstwahrnehmung zu sein scheint. Daran anschließend wurden Stimmen zu Gehör gebracht, die dieses Selbstbild der eigenen Nation, das mit der Idee der mestiçagem in den 1930er Jahren entstand, als eine Art kulturelles Kunstwerk einordnen. Dabei ergab sich deutlich, dass dieses Imago einer geeinten Nation, die sich von der Unabhängigkeit von Portugal bis hin zu einem Paradebeispiel für eine rassisch gemischte und harmonisch aufgebaute moderne Gesellschaft formierte, vor allem durch einen Prozess der Naturalisierung der rassischen Gegensätze geschaffen wurde (vgl. Schwarcz 2006a: 25–26). Der Gedanke des Soziologen Sérgio Costas, dass er in der Idee der mestiçagem das Momentum ausmacht, in welchem das Narrativ der brasilianischen Nation geboren wurde, soll dafür stehen (vgl. Costa 2001: 146). Für diese in der politischen Theorie verorteten Dissertation rückte damit die Idee der mestiçagem in den Fokus, da die besondere kulturelle Komplexität der brasilianischen Gesellschaft einerseits aus europäischer Wissenschaftsperspektive undurchdringbar erscheint und andererseits doch Anknüpfungspunkte zu aktuellen Debatten liefert – vor allem zu Auseinandersetzungen um Rassismus und rassische Diskriminierung. Davon ausgehend, blickte die Arbeit fasziniert auf

5 Fazit

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dieses Verständnis von nationaler Identität, das sowohl inklusiv wirkt als auch für die Konservierung des rassischen Denkens steht. In Bezug auf Brasilien wurde auch Gilberto Freyre zu einem zentralen Protagonisten, da mit ihm der Wandel von einer traditionell an der Rasse ausgerichteten Sichtweise hin zu einer kulturalistischen Perspektive nachvollzogen werden konnte. Er fungierte deswegen so passend als Pate für diesen Wandel, da er zeigt, dass es die spezifisch brasilianische rassische Mischung der Gesellschaft ist, die ein starkes Bewusstsein für die eigene Nation begründet und nicht, wie lange behauptet, dieses Selbstbewusstsein hemmt. Für die weitere Analyse war die Erkenntnis ausschlaggebend, dass Freyre die Kategorien Rasse und Kultur zwar neu voneinander abgrenzt, sie aber nicht als Antagonisten betrachtet. Er vollzieht somit keinen harten Bruch, wodurch sich aber der Vorwurf herauskristallisierte, dass biologische und kulturelle Determination bei seiner Idee nicht immer offensichtlich trennbar sind (vgl. Marcussi: 2013: 278). Ebenfalls stellte sich für den späteren Bezug zu den Beobachtungen als grundlegend heraus, dass die Idee der mestiçagem auf die Tendenz hinweist, dass eigentliche Machtbeziehungen unter einem kulturellen Deckmantel verborgen werden. Auch sein Nachdenken über Distanz und lokale Differenz, das vor allem in der Anekdote über die Marinheiros in New York deutlich wurde, konnte als postkolonial charakterisiert werden, was im weiteren Verlauf Verbindungsstellen zu den modernen Kulturkonzeptionen und den darin enthaltenen Strömungen schuf. Auch das Hervorheben des Elements des mestiços stellte sich als Bindeglied zur Wittgenstein’schen Undefiniertheit zwischen den Rändern heraus. Der Blick auf die jeweiligen Kulturbegriffe von Herder und Wittgenstein diente im Anschluss daran dazu, Elemente aus zwei konträren philosophischen Kulturbegriffen in der Idee der mestiçagem auszumachen. Die beiden Denker nahmen somit die Funktion einer Verbindungsstelle zwischen brasilianischem Kulturverständnis und theoretischer Diskussion um Multikulturalismus und Transkulturalität ein, da die Analyse erst über das Extrahieren eines Kulturbegriffs an Tiefe gewinnen konnte. Bei beiden Denkern wurde eine übergeordnete Systematik ausgemacht, die den Rückschluss auf die komplexen Kulturkonzepte erst ermöglichte. Herders Gedankengut, welches das Individuum vor allem aus einer kulturellen Perspektive betrachtet, erwies sich als gewinnbringender Verbindungspunkt, da er damit als Begründer eines modernen, erweiterten Kulturbegriffs auftritt, der die kulturelle Vielfalt und Mannigfaltigkeit auf grundlegende Art darstellt. Sein dynamischer Kulturbegriff, der immer die Bindungskraft zwischen kultureller Gemeinschaft und Nation im Blick behält, identifiziert ihn deutlich als Teil des modernen Multikulturalismusdiskurses, welcher sich

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mit der Spannung aus globaler Tendenz und Aufwertung regionaler Kräfte auseinandersetzt. Wittgensteins Gegenposition erwies sich als produktiv, da er mit seinem Kulturbegriff die Kultur in der Sprache angelegt verortet und damit das Handeln in den Vordergrund rückt. Dieser praxeologische Ansatz ist es, der Wittgenstein als Bindeglied zwischen der Idee der mestiçagem und der Transkulturalität besonders wertvoll machte. Die Gegenüberstellung des jeweils extrahierten Kulturbegriffs bei Herder und Wittgenstein öffnete zwei unterschiedliche Argumentationsstränge, die in der Diskussion um die Kulturkonzepte wieder stark hervortreten. Während Wittgenstein Analogien horizontal denkt und absolute Identität ablehnt, geht Herder von einer organischen Entwicklung von Kultur aus, die sich nicht nur auf die Bildung des Geistes des Individuums, sondern auch auf die Entwicklung des Volksgeistes auswirkt. Beide betonen also die Mannigfaltigkeit der kulturellen Formen. Wittgenstein hat jedoch im Vergleich zu Herder ein entgegengesetztes Ziel vor Augen: Er möchte ein Bewusstsein der Überlappung generieren, ein Bewusstsein abseits von totaler Identität und völliger Differenz. Die Gegenüberstellung schärfte aber auch die Analyse zur mestiçagem. Die Idee steht in Verbindung zu Herder, da dieser den Zusammenhang von Kultur und Nation, der im brasilianischen Kulturverständnis mit angelegt ist, philosophisch begründet. Jedoch trat vor allem der Ansatz des Ersten hervor, da durch sein Betonen von Zwischengliedern, der Überlappung und seine Ablehnung von Reinformen eine deutliche Nähe zu Freyres Ausführungen auszumachen war. Der dritte Teil der Arbeit zeigt, dass es nicht Ziel war, einer der Kulturkonzeptionen eine Generalabsage zu erteilen oder eine Wertung abzugeben. Vielmehr erwies es sich, dass in beiden Fällen die Vorstellung eines glorifizierenden Erklärungsmodells für moderne Gesellschaften entkräftet werden konnte, indem die politiktheoretischen Wurzeln herausgearbeitet und somit auch argumentative Schwachpunkte und Lücken verdeutlicht wurden. Im Fall des Multikulturalismus trug die Unterscheidung, das Konzept sowohl als Theorie als auch als politisches Programm zu verstehen, dazu bei. In jedem Fall wurde das Selbstbild als Systematisierungshilfe auf der Suche nach Handlungsoptionen hinsichtlich seiner Unschärfe, Vielschichtigkeit und den zahlreichen Auslegungsmöglichkeiten untersucht. Dabei trat hervor, dass es politische, soziale, ökonomische und historische Voraussetzungen sind, die es zu lenken gilt, da sich aus ihnen ein Ungleichgewicht und eine Ungleichheit im Zusammenleben der Kulturen ergeben kann. Zudem wurde deutlich, wie sich der Multikulturalismus darum bemühte, zwischen Einheit und Differenz zu vermitteln, jedoch das Betonen der Differenz stets als zentrales Merkmal erhalten blieb, was für seine Rolle als Gegenpart zur Transkulturalität entscheidend war. Auch der Rückbezug

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zu Herder war dadurch wiederum nachvollziehbar, da es um die Anerkennung des Eigenwerts jeder Kultur geht, die Herder philosophisch begründet, und die der Multikulturalismus aufgreift. Letzterer hantiert somit mit (post-)modernen Begriffen, wobei dies stets mit dem philosophischen Ansatz Herders unterfüttert ist. Es sollte deutlich geworden sein, dass Herder nicht unreflektiert als expliziter Gründungsvater des Multikulturalismus gelten oder für seine Schwächen verantwortlich gemacht werden kann. Jedoch war seine theoretische Tiefe hilfreich, manch undurchsichtige Stelle im multikulturellen Konzept besser ausleuchten zu können. Gleichzeitig haben kritische Assoziationen wie Regime der Authentizität oder kulturelle Zwangsjacke verdeutlicht, dass die Alternativansätze zum Multikulturalismus stets mit der Loslösung vom Herder’schen Kulturbegriff argumentieren, um somit die als zu eng empfundene multikulturelle Matrix aufzulösen. Auch die für die Arbeit rahmengebende Idee der mestiçagem offenbarte einen Zusammenhang mit der Kritik, die am Multikulturalismus geübt wurde, da sich drei Parallelen identifizieren ließen: Die Kritik, das Konzept von Kultur im Extremfall als Zwangsjacke fungieren zu lassen, wurde Gilberto Freyre entgegengebracht. Ebenso leiden sowohl Herder als auch Freyre an dem Vorwurf, dass sie von einer edlen Grundidee geleitet seien, in der Ausführung aber doch einem versteckten Rassismus unterlägen. Gleichermaßen stehen sie im Verdacht, real existierende Herrschafts- und Machtverhältnisse geschickt mit dem Deckmantel von Kultur zu retuschieren. Andererseits zeigte sich deutlich an welchen Stellen, die beiden Ansätze voneinander abweichen. Die kritisierte Tatsache, dass die Authentizität im Multikulturalismus wie ein Regime auftrete, ist der Idee der mestiçagem nicht bekannt. Auch der Vorwurf, Gruppenrechte überzubetonen und damit durch Ethnozentrismus zu Segregation und Parallelgesellschaften zu führen, widerspricht Freyres Idee. Als besonders interessant erwiesen sich jene Anknüpfungspunkte, an denen die gezeigten multikulturellen Alternativmodelle auf diese Kritik reagierten. Denn die dabei verwendeten Elemente, die das klassische Konzept erweitern sollen, waren es, die an die Idee der mestiçagem erinnerten und die Überleitung zur transkulturellen Konzeption von Kultur darstellten. Diese Elemente der Alternativmodelle sind zum einen die Vermittlung und die Hybridisierung zum anderen die Forderung, die Kultur nicht ohne zugehörigen ökonomischen Kontext zu betrachten. Diese Elemente, die bereits bei Freyre immer wieder identifiziert wurden, leiteten die Argumentation dazu an, die Idee der mestiçagem als eine Alternative zum Multikulturalismus zu betrachten und dabei die Möglichkeit, sie als transkulturell einordnen zu können, zu untersuchen. Obwohl die These der Arbeit darauf abzielte, zu analysieren, inwiefern die Idee der mestiçagem als transkulturell eingeordnet werden kann, zeigte dennoch

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der dritte Teil auch deutlich, wie die transkulturelle Konzeption von Kultur nicht ohne ihren multikulturellen Gegenspieler gedacht werden kann. Die Analyse musste sich damit auseinandersetzen, dass die transkulturelle Forschung nicht denselben Stellenwert im politiktheoretischen Diskurs hat, wie sie das breite Feld des Multikulturalismus einnimmt. Jedoch konnte methodisch durch den Rückbezug auf Wittgenstein und damit durch ein paralleles Vorgehen in der Aufarbeitung dieses Ungleichgewicht ausgeglichen werden und es ließen sich Vergleichsmöglichkeiten schaffen. Die Verflechtung mit Wittgenstein gestaltete sich deshalb als passgenau, da sowohl jener als auch Wolfgang Welsch als Stimmen des transkulturellen Denkens für eine Überlappung der Kulturen eintreten, die die Individuen, Gesellschaften und Kulturen anschluss- und übergangsfähiger werden lassen wollen. Somit entpuppte sich Wittgenstein mit seinem Kulturbegriff als ähnlich fundamental für die philosophische Aufarbeitung der Transkulturalität wie Herder für den Multikulturalismus. Welsch argumentiert in seinen Ausführungen zur Transkulturalität ebenso wie die vorliegende Arbeit, dass sich Wittgenstein als Gegenspieler zu Herder verhält. Jedoch leistet er im Gegensatz zur angestellten Analyse nicht den vergleichenden Blick auf das methodische Vorgehen oder die anthropologischen Grundlagen. Er entnimmt beiden Theorien lediglich die gegensätzliche Metaphorik der Kugel und des Netzes, ohne diese aber weiter zu vertiefen. Die Arbeit wirft Welsch somit vor, mit seinen Verweisen auf Wittgenstein zu stark an der Oberfläche zu bleiben und den Bezug zu verkürzen. Die hier angestellte Argumentation konnte durch die philosophische Unterfütterung den entscheidenden Clou des transkulturellen Konzepts deutlicher hervorkehren, nämlich die Kehrtwende, die der Kulturbegriff vollzieht, indem er sich vom Herder’schen Ansatz abwendet. Der dadurch als rettend empfundene Charakter der Transkulturalität besteht also darin, dass man sich starken Bindungen nicht gänzlich verweigert, aber ein umfassenderes Verständnis von kultureller Diversität ermöglicht. Es wurde jedoch auf Folgendes hingewiesen: Der transkulturelle Kulturbegriff besitze eine nationale, geographische und ethnische Sprengkraft und dürfe nicht als unschuldiger Begriff betrachtet werden. Es zeigt sich ebenso, dass die Gefahr besteht, einzelne Werte zu sehr erstarken zu lassen, was der transkulturellen Grundforderung nach Anschluss- und Übergangsfähigkeit widerspräche. Diese Grundforderung ist es auch, wie die Arbeit herausfilterte, die das Bindeglied zwischen Freyres Idee der mestiçagem, Wittgensteins Kulturbegriff und dem transkulturellen Konzept darstellt. Die von Wittgenstein aufgezeigte Tatsache, dass sich aus der Bewegung der Sprachspiele etwas Neues, etwas Eigenständiges entwickelt, fand sich als Element in der Idee der mestiçagem wieder. Dadurch wurde der Kontrast zum Multikulturalismus nochmals deutlich, da jener im Gegensatz dazu darauf bedacht ist, Bestehendes zu

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organisieren. Im Falle der Transkulturalität jedoch wird dieses Element deutlich aufgegriffen und als zentral angesehen. In Verbindung mit Freyre schwingt dabei aber immer noch mit, dass das Neue einen gemeinschaftsstiftenden Charakter haben soll, wobei Wittgenstein und das Konzept der Transkulturalität diese Einschränkung nicht machen. Grundsätzlich stimmen die Idee der mestiçagem und der transkulturelle Kulturbegriff darin überein, den Faktor, der zur kulturellen Orientierung dient, im Gegensatz zur multikulturellen Logik von der Differenz auf die Ähnlichkeit umzulenken. Auch konnte die Arbeit zeigen, dass die Rebellion gegen einen starren Determinismus und die heftige Kritik am angelsächsischen Konzept der Akkulturation beide verbindet. Neben diesen Argumentationslinien der angestellten Analyse, die auch bereits einen gewissen Mehrwert offenbarten, gilt es jedoch im zweiten Schritt der Schlussbetrachtung, nochmals explizit gewonnene Erkenntnisse und Ergebnisse in Bezug auf die gestellte Fragestellung zusammenzufassen. Der erste Teil der Arbeit, der die Idee der mestiçagem und damit auch die Person Gilberto Freyre in den Fokus nahm, brachte die Erkenntnis, dieser müsse sowohl wissenschaftlich als auch zeitgeschichtlich als elementarer Baustein eines Umbruchs bewertet werden, sei es durch das Setzen neuer Akzente im Bereich der Anthropologie, durch die Aufwertung der Kategorie Kultur oder durch seinen Einfluss auf die gesellschaftlichen Transformationen der 1930er Jahre. Als größter Verdienst des Autors muss das Denken verstanden werden, das erstmals die soziale Realität einer rassisch gemischten Gesellschaft positiv betrachtet und sich von bis dahin dominierenden Rassentheorien abgrenzt. Jedoch ist in Anlehnung an diese glorifizierende Erkenntnis in der Arbeit deutlich geworden, dass eine tiefgehende Analyse auch die Kehrseite dieses Denkens offenbart. Denn trotz der wissenschaftlichen Nähe zu Franz Boas, der für eine des-racilização steht, wurde das Paradoxon ausgemacht, dass Freyre die Kategorie der Rasse zwar deutlich abwertet, jedoch bei seiner kulturalistischen Wende dem rassischen Narrativ immer treu bleibt und sich nie final davon löst. Somit ist auch die Idee der mestiçagem so aufgebaut, dass die Referenzpunkte für Rasse mit den Argumenten für die Kategorie Kultur übereinstimmen. Abrundend war es jedoch der enorme Einfluss auf die Modernisierung Brasiliens, der den Konservativen unter den eigentlich progressiven Kräften der 1930er Jahre hervorstechen ließ. Die Gegenüberstellung der Kulturbegriffe Herders und Wittgensteins hatte zum Ergebnis, dass zwei grundsätzlich entgegengesetzte Stoßrichtungen zum Vorschein kamen, obwohl beide von der Frage nach kultureller Ordnung umrahmt sind. Das Bild von Kultur einerseits als Kugel und andererseits als Netz wurde bemüht, um diese aufs Zentrum und auf die Peripherie gerichteten Stoßrichtungen darzustellen. Für die zwei Kulturbegriffe hat der Rand der Kultur

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eine entscheidende Funktion. In beiden Fällen nicht im negativen, abschottenden Sinn, jedoch bei Herder erkennbar mehr abgrenzend und auf den kulturellen Mittelpunkt verweisend als bei Wittgenstein – der die offenen Grenzen als etwas Sinnstiftendes wahrnimmt. Wenn man also die Kulturbegriffe der Denker mit zwei Antonymen kennzeichnen müsste, sollte die Wahl auf folgende Begrifflichkeiten fallen: Zuordnung im Gegensatz zu Verwendung. Vor allem im Rückbezug auf die Idee der mestiçagem kam dies final zum Tragen, da der Kulturbegriff vor allem als parallel zu Wittgenstein identifiziert wurde und beide Kultur als etwas Verbindendes charakterisieren, das sich von einer natürlichen oder biologischen Determiniertheit abgrenzt. Elemente wie Anpassungsfähigkeit und Dynamik aus Wittgensteins Denken wurden als zentrale Voraussetzungen in Freyres Idee der mestiçagem ausgemacht, was diese Erkenntnis der näheren Verortung in Wittgensteins Theorie begründete. Der Analyseteil zum Multikulturalismus ließ vor allem durch die Aufarbeitung der Begriffsgeschichte den Schluss zu, dass es sich bei dem stark westlich geprägten Konzept grundsätzlich um eine Debatte handle, die von der Antinomie von Universalismus und Relativismus lebe. Dies und die Definition der Kultur als etwas Geschlossenes, das überschneidungsfrei und ohne Anspruch auf Vergleich nebeneinander existieren kann, entpuppte sich als der rote Faden, der sich bis Herder zurück spinnen ließ. Aus dieser Erkenntnis konnte aber zugleich ein weiteres Ergebnis gewonnen werden, nämlich das zentrale Dilemma oder auch der blinde Fleck des Multikulturalismus. Die Arbeit brachte hervor, dass innerhalb des Konzepts einer kulturrelativistischen Annahme ein ideologischer Begriff von Kultur gegenübersteht, der sich zum Ziel gesetzt hat, das Machtarrangement gerecht auszugleichen, aber faktisch bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse kaschiert. Die Merkmale der Herkunft, beziehungsweise der Ethnie sowie auch der Universalismus konnten somit als Gegner des Multikulturalismus und gleichzeitig als ständige Zufluchtsorte und Strukturgeber für ihn ausgemacht werden. Das Ergebnis der Kontrastierung des Konzepts mit der Idee der mestiçagem war, dass deutlich wurde, wie die mestiçagem darauf abzielt, etwas Neues hervorzubringen und zum nationalen Symbol zu erheben. Der Multikulturalismus sieht im Gegensatz dazu genau darin seine größte Bedrohung und die nationale Einheit gefährdet. Die Differenz ist für den Multikulturalismus somit eine nötige Erfahrung, um Machtstrukturen zu identifizieren und ins Gleichgewicht zu bringen. Für die Idee der mestiçagem ist es von Bedeutung, die Differenzen aufzulösen, indem sie in etwas neues Gemeinsames zusammenfließen. Dabei kehrt sich erneut die konträre Grundannahme der beiden Beispiele hinsichtlich der Pluralität heraus: Der Multikulturalismus postuliert eine Vielzahl verschiedener aber überschneidungsfreier Kulturen, wohingegen die

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Idee der mestiçagem von dem hybriden Gedanken der Vermischung geleitet ist. Erneut sind an diesem Punkt die Erkenntnisse zu betonen, die sich aus der Analyse der Begriffsgeschichte ergaben. Denn dadurch konnte der Multikulturalismus dem westlichen Diskurs von modernen Einwanderungsgesellschaften zugeordnet werden, der Werte wie Menschenrechte, Egalität und Universalismus thematisiert. Die Idee der mestiçagem bleibt dagegen mehr im spezifischen Kontext Brasiliens verhaftet und versucht eben gegenteilig, den aufoktroyierten westlichen Diskurs abzuschütteln und eigene Kategorien zu finden. Eine Einordnung als multikulturell wurde somit abgelehnt. Auch der Teil zur Analyse der Transkulturalität brachte mehrere Ergebnisse hervor, die zur Beantwortung der Leitfrage beitrugen. Zunächst wurde deutlich, dass sowohl Multikulturalismus als auch Transkulturalität versuchen, als Deskriptionsmuster zu dienen, um die gegenwärtige, kulturell vernetzte Welt zu erfassen. Sowie jedoch ein blinder Fleck des Multikulturalismus ausgemacht werden konnte, so trat auch im Falle der Transkulturalität hervor, wie ein internes Paradoxon große Fragen aufwirft. Bei dem Denker Wolfgang Welsch zeigte sich, dass sein Konzept der Transkulturalität dahingehend ohnmächtig bleibt, wenn es gilt, Rassismus als Ausdruck eines existierenden Machtverhältnisses zu bekämpfen. Und dies, obwohl der Anspruch des Konzepts darin besteht, gegenwärtige Verhältnisse adäquat abbilden zu wollen. Diese faktische Blindheit bestätigte sich theoretisch, da gezeigt wurde, wie Welsch zwar den Multikulturalismus als Gegner benennt, aber die theoretische Tiefe des anderen Konzepts – wie in der Arbeit dargestellt – nicht erfasst und damit der Transkulturalität die Möglichkeit nimmt, einen wirklichen Lösungsvorschlag zu verkörpern. Doch auch bei der zentralen Frage, inwiefern die Transkulturalität mit der Idee der mestiçagem übereinstimmt, ergab sich, dass durchaus zentrale Elemente wie beispielsweise der Übergang übereinstimmen. Doch neben dem harmonischen Gedanken an eine hybride kulturelle Vermischung, der dem Konzept und der Idee gemein ist, ist dies ebenso eine gewisse perspektivische Engführung, wie die Schritte der Analyse zeigten. Wie ans Licht kam, erscheint Freyres Idee der mestiçagem in mehreren Punkten beschränkter als das transkulturelle Konzept. Zum einen deshalb, weil die Transkulturalität es einfordert, nationale und ethnische Grenzen zu sprengen, Freyre aber trotz Annäherung an den Gedanken stets in einer auf die Nation fokussierten Perspektive verharrt. Damit verbunden ist auch sein Festhalten an der glorifizierenden Darstellung der republikanischen Ordnung, was einem ausdifferenzierten Gesellschaftsbild, wie es die Transkulturalität einfordert, entgegensteht. Zum anderen erwies sich, wie der mestiço als Zwischenglied zwar einer transkulturellen Logik entspringt, seine Konstruktion im Sinne Freyres jedoch nie ergebnisoffen, sondern

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bereits vorbestimmt, also festgelegt, war, da das Neue, Gemischte doch von traditionellen Machtstrukturen mitbestimmt wurde. Als weitere zentrale Erkenntnis der Arbeit zeigte sich in diesem Abschnitt, dass der Kontext, in den sich die Transkulturalität bettet, entscheidend ist und oft verkannt oder nur oberflächlich betrachtet wird. Es war der literaturwissenschaftliche Diskurs, vor allem die aus Kanada stammende Strömung der migrant literature in den 1980er Jahren und der postkoloniale Diskurs, der mit Spivak ab den 2000ern angestoßen wurde, welcher die richtungsweisenden Impulse für das Konzept bewirkte. Wie gezeigt, ist es wiederum zu kurz gegriffen, zu behaupten, dass sich das transkulturelle Konzept gänzlich aus einer literaturwissenschaftlichen Quelle speise. Trotz des bedeutenden Beitrags zur Vertiefung und Erweiterung durch die genannte Disziplin wurde als Ausgangspunkt auch der geographische, sprachliche und historische Raum Lateinamerika herausgestellt. Diese Einsicht ist vor allem dem Einbezug der Idee der mestiçagem geschuldet, da durch die begriffsgeschichtliche Aufarbeitung der Transkulturalität und die Untersuchung auf inhaltliche Nähe zum brasilianischen Kulturverständnis deutlich wurde, dass Parallelen hinsichtlich der Merkmale und der Genese zwischen beiden bestehen. Darüber hinaus zeigte sich, welche Bedeutung vor allem die Dialektik mit dem Anderen hat. Das Merkmal der Überlappung und des Dialogs zeigte sich im Falle Lateinamerikas als genetisch eingeschriebener Bestandteil der Identität der Mehrheit der Bevölkerung. Insgesamt kann als Ergebnis gelten, dass sich die eingangs aufgestellte Hypothese, die brasilianische Idee der mestiçagem sei im Spannungsfeld der Kulturkonzeptionen als transkulturell einzuordnen, bestätigen lässt. Jedoch zeigt die Beantwortung der Frage nach dem entscheidenden blinden Fleck der Kategorie Rasse sowohl in der Idee der mestiçagem als auch beim transkulturellen Konzept, dass sie nachweisbar dasselbe Laster tragen, nämlich den selbstauferlegten Anforderungen nicht zu genügen und sich von dem Widerspruch nicht befreien zu können, doch einer Engführung auf die Kategorien Kultur und Rasse zu unterliegen. Dazu muss erwähnt werden, dass auch im Falle des Multikulturalismus ein starkes Rekurrieren auf die Kategorien der Herkunft und der Ethnie von kulturellen Gruppen angeprangert wurde, der Vorwurf im Fall der Transkulturalität aufgrund des formulierten eigenen Anspruchs, sich von diesen Kategorien bewusst zu lösen, aber schwerer wiegt. Bevor abschließend ein Ausblick gegeben werden soll, der auf mögliche Anknüpfungsfelder, beziehungsweise Verknüpfungen zu anderen interdisziplinären Debatten eingeht, muss an diesem Punkt nochmals knapp die angestellte Methode reflektiert werden. Die Beschäftigung mit dem Begriff und

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der wissenschaftlichen Kategorie der Kultur birgt, wie gezeigt, eine Menge an Unbestimmtheit und eine definitorische Schwammigkeit. Diese Breite an Auslegungsmöglichkeiten hat sich auch in Bezug auf die multikulturellen und transkulturellen Kulturkonzeptionen widergespiegelt. Dazu noch den Bogen zum brasilianischen Kulturverständnis, das sich ebenfalls durch sein Betonen der Durchmischung genauer Zuordnungen kennzeichnet, zu spannen, erschien zu Beginn durchaus gewagt. Jedoch hat die angestellte Methode, wie sie in der Einleitung vorgestellt und in der Analyse angewandt wurde, bewirkt, dass eine übergeordnete Systematik angelegt werden konnte, die die vorgestellten Ergebnisse zustandekommen ließ. Um in Bezug auf die Auswahl der dazu angesetzten Kategorien dem Vorwurf der Willkür entgegenzuwirken, bauen sich diese, wie gezeigt, aus den beiden philosophischen Kulturbegriffen Herders und Wittgensteins und der inneren Logik der Kulturkonzepte stringent auf. Gleichwohl soll aber auch selbstkritisch angemerkt werden, dass unter Mitberücksichtigung weiterer interdisziplinärer Zugänge und Vertiefungen natürlich andere methodische Zugänge zur gestellten Frage möglich sind, die auch noch weiterführende und eventuell auch divergierende Ergebnisse zu liefern vermögen. Jedoch hat sich der hier angelegte Rahmen der Arbeit als passend erwiesen. Neben diesen Erkenntnissen brachte die Analyse auch hervor, dass Teilaspekte in der Arbeit das Potenzial bergen, bei tiefergehender Betrachtung weitere Fragen aufzuwerfen. Daher muss mit dem letzten Abschnitt darauf hingewiesen werden, welche Themen lohnenswerte Anknüpfungspunkte für weitere Diskussion im Bereich der Forschung zu Kulturkonzeptionen anbieten. Dies wäre zum einen die dargestellte liberale Matrix, die vor allem in Bezug auf den Multikulturalismus einen zentralen Stellenwert einnahm. Der Liberalismus als Grundlage für multikulturelles Denken trat deswegen hervor, da er das Individuum zu einem guten Leben anleiten und dazu befähigen sollte, sich in bestehenden Narrativen zu behaupten. Die Arbeit hat zudem aufgezeigt, dass sich innerhalb der liberalen Matrix zwei unterschiedliche Ansätze hinsichtlich ihrer Interpretation von Differenz und Pluralität entfalten – zum einen das Lager der traditionellen Liberalen und zum anderen das der Kommunitaristen. Eine entscheidende Beobachtung lädt nun zu weiteren Beobachtungen ein, nämlich die, dass der Multikulturalismus zwar nachweislich das Kind einer liberalen Debatte ist, jedoch weder ein reines Nebenprodukt darstellt, noch in einer direkten Abhängigkeit zur liberalen Matrix steht. Ausblickend erscheint es interessant, in einem weiteren Schritt diese liberale Basis genauer zu betrachten und zu klären, inwiefern sie als sinnstiftend oder hemmend auf die Weiterentwicklung bestehender Kulturkonzeptionen wirkt. Auch im Hinblick auf die Entwicklung

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liberaler Positionen in der brasilianischen Debatte um nationale Identität zeigt sich ein weiteres Diskussionsfeld, das, mit einer neuen Frage versehen, zur Bearbeitung auffordert. Der Multikulturalismus und die Transkulturalität haben sich im Rahmen der Arbeit aber auch als Spiegel dafür erwiesen, dass Konzepte wie Nation, Nationalstaat und Nationalkultur in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt werden sollen – um sie in der transkulturellen Logik stellenweise sogar zur Auflösung zu zwingen. Vor allem stand die starke Bindung zwischen Nationalstaat und Nationalkultur unter Generalverdacht. Die Arbeit hat aber auch im Teil zu Brasilien und der Idee der mestiçagem gezeigt, dass mit dem Ende der Sklaverei und dem neuen Ziel, die ehemaligen Sklaven in den modernen Staat zu integrieren, eine per definitionem vom Bürgerstatus ausgeschlossene Gruppe in die bürgerliche Gesellschaft mit eingebunden werden musste. Was die Arbeit in Bezug dazu nicht leisten konnte, aber an dieser Stelle zur weiteren Diskussion stellen möchte, ist folgende Frage: Wie gehen die verschiedenen Kulturkonzeptionen mit der anhaltenden Entgrenzung kultureller Räume um und in welcher Weise sind sie bemüht, diese durch rechtliche Institutionengefüge beziehungsweise politische Maßnahmen auszugleichen? Die bereits mit Herder ins Blickfeld gerückten Begriffe wie Volk und Nation würden dadurch erneut hinterfragt. Es wird eine fruchtbare Verknüpfung mit der modernen CitizenshipForschung angeregt. Auch hier besteht die Möglichkeit, dies wiederum mit Bezug zum brasilianischen Kulturverständnis, der Idee der mestiçagem, zu verknüpfen. Es erscheint als mögliche Forschungsidee, zu hinterfragen, inwiefern die in dieser Arbeit gezeigte grundsätzliche Einordnung der Idee der mestiçagem als transkulturell ein spezifisches Verständnis von Bürgersein mit sich bringt, in welchem Verhältnis also das spezifische Kulturverständnis Brasiliens der 1930er Jahre und der politische Begriff des Bürgers stehen. Abschließend sollen der mehrfach angewandte Begriff und die angesprochene Strömung des Postkolonialismus noch einmal in den Blick genommen werden. In dieser Arbeit wurde postkoloniales Denken mit einem Oppositionsverhältnis zu Rollenbildern und Machtstrukturen, die als koloniale Kontinuitäten erscheinen, assoziiert. Auch stand der Begriff des Postkolonialismus Pate, um ein Ungleichverhältnis aufzudecken, das sich vor allem in einem traditionellen Gefälle von Zentrum und Peripherie manifestierte. Viele Erkenntnisse zu den Kulturkonzeptionen wurden als postkolonial gewertet, da sie eine Abkehr von traditionellen Machtdiskursen zum Ausdruck brachten. Was ausblickend und auch verbindend interessant erscheint, ist die Frage, inwiefern der Postkolonialismus

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als eigenständige Disziplin gewertet werden kann und welchen Einfluss er auf Diskussionen wie beispielsweise Liberalismus, Kulturkonzeptionen oder auch die Citizenship-Theorien hat.1 Eine Diskussion, inwiefern postkoloniales Denken die Basis gerade für die hier zentral skizzierte Transkulturalität darstellt oder auch die Frage, ob es vielmehr diese Transkulturalität ist, die das postkoloniale Denken hervorgebracht hat, wäre interessant und lohnenswert. Das Fazit der vorliegenden Dissertationsschrift und seine Unterteilung machen abermals deutlich, dass das gewählte Thema bewusst einen sehr komplexen Problemhorizont ins Auge fasst. Gerade der Ausblick auf weitere damit verknüpfte Diskussionsfelder offenbart, wie die Abgrenzung und die Rahmenfindung in dieser Arbeit ausschlaggebend waren, um eine konkrete Forschungsfrage zu beantworten und Ergebnisse präsentieren zu können. Doch bestand von Beginn an auch der Reiz darin, sich einem komplexen Thema zu widmen und eine strukturelle Logik zu entwickeln, anhand derer der oft als schwammig empfundene Problemaufriss konkreter bearbeitet werden konnte. Ebenso stellt die in den einleitenden Worten angesprochene eigene perspektivische Öffnung im wissenschaftlichen Diskurs über Eurozentrismus und rein westliche Denkmuster einen deutlichen Mehrwert dar. Das Bewusstsein für die persönliche und wissenschaftliche Prägung war es, was im Prozess der Arbeit zu Tage trat und es erst ermöglichte, die neuen und anderen Perspektiven in ein objektives Projekt zu integrieren.

1Dass die postkoloniale Logik auch Gefahren birgt und zu neuen eigentlich als überwunden gedachten Aporien führen kann, macht Karlfriedrich Herb deutlich: Wer sich auf den schwankenden Boden postkolonialer Epistemologie begibt, muss die Fixpunkte neuzeitlicher Subjektivität aufgeben. Das philosophische Selbst entdeckt sich hier als verkleideter Europäer. Die in seinem Namen erhobenen Wahrheitsansprüche lassen allenfalls – wenn überhaupt – in hybrider Gestalt und in unaufhebbarer Konkurrenz zu alternativen Narrativen normative Legitimität ausbuchstabieren. Nachdem das Universale als eurozentristische Provinz entlarvt ist, bieten offensichtlich nur noch Provinzen theoretische Bodenhaftung und schwachen Ersatz für erschöpfte Universalismen. (Herb 2018: 396)

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