Korruption im Kaiserreich: Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914 [1 ed.] 9783737009607, 9783847109600

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Korruption im Kaiserreich: Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914 [1 ed.]
 9783737009607, 9783847109600

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Anna Rothfuss

Korruption im Kaiserreich Debatten und Skandale zwischen 1871 und 1914

Mit 9 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Darmstadt, Technische UniversitÐt Darmstadt, Dissertation, 2018.  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Markus Lþpertz, Ausschnitt Glasfenster  VG Bild-Kunst, Bonn 2018 Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0960-7

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Erste Annäherungen an den Begriff der Korruption . . . . . . 1.1.1 Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Korruptionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Die wissenschaftliche Definition von Korruption . . . . 1.1.3 Zum Verhältnis von Korruption, Staat und Gesellschaft . 1.2 Kommunikation und Korruption: Debatten und Skandale . . 1.3 Korruption im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Das Kaiserreich in der geschichtswissenschaftlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Korruption im Kaiserreich: Thesen . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Das Quellenmaterial – Presse im Deutschen Kaiserreich 1.4 Von Debatte zu Debatte: Der Aufbau der Studie . . . . . . . . 1.4.1 Die Struktur der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Der Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit: Die lange Korruptionsdebatte der 1870er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Gründerkrise 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Der Fall der preußischen Eisenbahnkonzessionen 1873 . . . . . 2.1 Kalamität und Korruption: Die Vorwürfe Eduard Laskers im preußischen Abgeordnetenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 »Ein national-liberales Manöver«: Die Rezeption der Korruptionsvorwürfe in der tagespolitischen Presse . . . . . 2.3 »Das Preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral«: Normenaushandlungsprozesse in der öffentlichen Debatte .

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Inhalt

3.2 Neue Themen: Korruption, Antiliberalismus, Judenfeindlichkeit . 3.2.1 Der Tanz um das goldene Kalb: Franz Perrot und Otto Glagau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Neue Ziele: Die Anti-Kanzler-Liga . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Presse, Reichstag, Gerichtssaal: Momente der Verdichtung . . . . 3.3.1 Die konservativen »Ära-Artikel« in der Presse – Exkurs: Die Verbindung von Judenfeindlichkeit und Korruption am Beispiel der katholischen Germania . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 »Eine ehrenlose Verleumdung, gegen die wir alle Front machen sollten«: Die »Ära-Artikel« im Deutschen Reichstag 3.3.3 Der Korruptionsvorwurf vor Gericht . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ausblick: Korruption und Antisemitismus in den 1890er Jahren . 4 Französische Korruptionsdebatten und ihre Bedeutung für die politische Kommunikation des Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . 4.1 »Jamais on ne vit situation pareille.« Korruptionsdebatten in Frankreich 1887–1893 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Der Skandal der Dekorationen 1887 . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Der Panamaskandal 1892/93 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Politik und Korruption: Die Rezeption der französischen Korruptionsskandale 1887–1893 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Meistbietend verkauft: Das moralische Urteil der französischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die politische Instrumentalisierung der Korruptionsskandale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.1 Die Republik im Fokus: Die Auseinandersetzung zwischen Republikanern und Konservativen . . . . . 4.2.2.2 Die Episode Boulanger . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2.3 Die Interessenkonflikte der Parteien am Beispiel der parlamentarischen Untersuchungskommissionen . . 4.2.2.4 Interessenpolitik neuer politischer Akteure am Beispiel der Berichterstattung des boulangistischen Intransigeant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Frankreich vor der Welt: Die französische Rezeption der ausländischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die französischen Korruptionsskandale im Spiegel der deutschen Presseberichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Die normative Bewertung der deutschen Presse . . . . . . .

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Inhalt

4.4.2 Korruptionsskandale als Intrige? Französische Interessenpolitik in deutscher Beurteilung . . . . . . . . . . 4.4.3 Das deutsche Urteil verschärft sich: Der Panamaskandal . . 4.4.4 Grenzübergreifende Kontextualisierung der Skandale: Korruptionskommunikation und Kritik am Kaiserreich . . 4.4.5 Korruptionskommunikation als Instrument der sozialdemokratischen Skandalberichterstattung am Beispiel der »Bochumerei« (1892) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.6 Nachspiel: Der Welfenfondsskandal. Sozialdemokratische Versuche der Nebenskandalierung . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger 1873–1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Motive eines Skandalierers: Matthias Erzberger und die Zentrumspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 »Das Duell Bülow-Podbielski«: Der Korruptionsvorwurf als Ressource der Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Die linksliberale Pressekampagne gegen Landwirtschaftsminister Podbielski . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 »Wird Pod gegangen werden?« Das Vorgehen Bernhard von Bülows . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Die Skandalierungsinitiativen der Sozialdemokratie . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Professionalisierung des Korruptionsvorwurfs: Karl Liebknecht und der Kornwalzerskandal 1913 . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Der sozialdemokratische Umgang mit dem Korruptionsvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Krupp auf der Anklagebank: Rezeption und Bedeutung der Gerichtsverfahren für den Korruptionsskandal . . . . . . . 6.1.3 »Schlimmer als Panama«: Der Kornwalzerskandal im zeitgenössischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Andere Länder, andere Sitten? Die Vorwürfe gegen Siemens-Schuckert 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Der deutsche Titel- und Ordensschacher 1914 . . . . . . . . . . . 6.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Korruptionskommunikation: Ein demokratisches Instrument der politischen Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Korruptionskommunikation als Instrument der Interessenpolitik: Deutschland und Frankreich im Vergleich . . . 7.2.1 Reform statt Revolution: Staatlichkeit als Thema der Korruptionskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Politische Partizipation, Interessenpolitik, Korruptionskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Gesellschaftlicher Normenwandel im Spiegel der Korruptionskommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 Quellen- und Literaturverzeichnis . Verzeichnis der zitierten Zeitungen Ungedruckte Quellen . . . . . . . . Gedruckte Quellen . . . . . . . . . Aus dem Internet . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieses Buch ist eine geringfügig überarbeitete, nicht systematisch auf den aktuellen Stand der Literatur gebrachte Version meiner im Dezember 2017 an der TU Darmstadt eingereichten Dissertationsschrift. Sie entstand im Rahmen eines von DFG und ANR geförderten Forschungsprojekts zur Politischen Korruption in der Moderne, das nunmehr in vierter »Generation« fortgeführt wird. Aus meiner Zeit als Promovendin und Mitarbeiterin an der TU Darmstadt nehme ich viele wunderbare Erinnerungen, Freundschaften und Erfahrungen mit – im Besonderen den hohen Stellenwert gemeinschaftlichen Arbeitens. Wenngleich sich das Stereotyp der einsamen, im Lichte einer Leselampe zwischen Bücherstapeln arbeitenden HistorikerInnen wacker hält, stellt eine wissenschaftliche Publikation doch auch immer eine gemeinschaftliche Produktion dar. So wurde auch meine Arbeit in ihrer Entstehung von verschiedenen Seiten unterstützt, wofür ich sehr dankbar bin: Neben der Förderung durch die DFG erhielt ich nach Ablauf der Projektlaufzeit ein Stipendium des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz, das mir eine intensive und ungestörte Schreibphase ermöglichte. Ein großzügiger Druckkostenzuschuss vonseiten der Gleichstellungsbeauftragten am FB 2 der TU Darmstadt hat schließlich die Veröffentlichung der Arbeit maßgeblich unterstützt. Neben dieser finanziellen und strukturellen Förderung sind im Besonderen die Unterstützung einzelner Personen und der kontinuierliche Austausch mit anderen für die Stärken dieser Arbeit verantwortlich – die Schwächen des Werks sind hingegen allein auf meine Entscheidungen zurückzuführen. Ganz herzlich möchte ich mich bei meinem Doktorvater Jens Ivo Engels bedanken. Wenn ich vor lauter Bäumen keinen Wald mehr erkennen konnte, boten seine Ratschläge die notwendige Orientierung. Seine anhaltenden Forderungen nach analytischem Denken, strukturierten Argumentationen, klarem Ausdruck und transparentem Zeitmanagement, die mich nachhaltig schulten, weiß ich – insbesondere nach Verlassen des akademischen Umfelds – sehr zu schätzen. Auch meinem Zweitgutachter Fr8d8ric Monier möchte ich herzlich für seine

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Dank

Unterstützung, sein großes Interesse an meiner Arbeit und seine Geduld mit meinem bisweilen holprigen Französisch danken. Herzlicher Dank gilt zudem Dieter Schott, der mich seit meinem ersten Semester an der TU Darmstadt als Mentor in meinem Studium begleitete und durch positive Impulse und Ratschläge zu dessen Gelingen beigetragen hat. Es war mir daher eine große Freude, dass Herr Schott als Mitglied der Prüfungskommission auch meinen letzten Schritten an der TU Darmstadt beiwohnte. Ebenfalls danken möchte ich Birte Förster, die mich dem POC/K-Projekt empfohlen und mit ihren Ratschlägen unterstützt hat. Besonders dankbar bin ich meinen ProjektmitstreiterInnen und langjährigen KollegInnen am Institut für Geschichte der TU Darmstadt, die den Entstehungsprozess dieser Arbeit in unterschiedlichen Stadien begleitet haben. Durch rege Gespräche, ehrliches Feedback und ihre Ermunterungen haben sie diese Arbeit nachhaltig geprägt: Robert Bernsee, Christian Ebhardt, Philipp Hertzog, Annika Klein, Ralf König, Andrea Perthen, Karsten Uhl, Silke Vetter-Schultheiß. Besonderer Dank gilt Volker Köhler und Matthias Lieb, die mir als scharfsinnige Diskussionspartner wertvolle Anregungen lieferten und meinen Gedanken wiederholt eine neue Richtung gaben. Ihr wart nicht nur unermüdliche Motivatoren und kritische Korrekturleser, sondern in den richtigen Momenten vor allem Freunde. Im Kolloquium des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte erhielt ich sodann neuen Input vonseiten der MitarbeiterInnen, für den ich mich an dieser Stelle bedanken möchte. Darüber hinaus waren die Unterstützung und die Motivation durch meine MitstipendiatInnen unschätzbar wertvoll. Stellvertretend gilt mein besonderer Dank Florian Kerschbaumer, Gabriele von Roedern, Sune Schlitte und Paul Strauss. Dass ich meine Dissertation in den letzten Monaten parallel zu meinem Job beenden konnte, verdanke ich auch der Unterstützung meiner Vorgesetzten Rainer Schmitt und Annette Haas, die mir den nötigen Freiraum gewährten. Ann-Marie Vollmert danke ich für ihre Unterstützung, Motivation und Freundschaft – eine bessere Kollegin könnte ich mir nicht wünschen. Zu guter Letzt möchte ich meinen FreundInnen und meiner Familie danken, die mich über die Jahre begleitet und unterstützt haben. Ihr habt lange Archivbesuche und Phasen geistiger Zerstreutheit ertragen, mich geerdet und mir mit Eurer Freude, Herzlichkeit und Unterstützung über schwierige Momente hinweggeholfen. Jana und Nina, vielen Dank für Eure grenzenlose Freundschaft. Henriette, ohne Dich hätte das Finale nicht beginnen können. Barbara, Oma, Manfred, Eva: Ich danke euch. Sven, Du hast mein Leben um viele Farben und Zwischentöne bereichert, ich danke Dir für Deine liebevolle Unterstützung, für Mut und eine neue Perspektive. Gewidmet ist diese Arbeit der Person, die seit jeher an und auf meiner Seite

Dank

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ist: meiner Mutter Ursula Rothfuss. Bis heute sind mir ihr bedächtiges Wesen, ihre Neugierde und Wärme Inspiration und ich danke ihr für einen moralischen Kompass, für Beständigkeit und Liebe.

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Einführung

»Es war einmal eine Zeit, da wurde Bestechung eines Beamten in Preußen als eine der schmutzigsten Handlungen betrachtet. Das war eine köstliche Zeit; die Zeit eines, wenn auch naiven, so doch achtenswerten Stolzes auf die Integrität des preußischen Beamtentums. Doch sie ist dahin, sie ist entschwunden. Heute scheint Bestechlichkeit nur noch als ein kleiner Schönheitsfehler empfunden zu werden, sozusagen als eine Modetorheit, eine Verbeugung vor der Allmacht des Geldes, die auf freundliches Verständnis stößt, selbst bei der Justiz.«1

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde das Deutsche Kaiserreich von einer Reihe Korruptionsskandale erschüttert. Die politische Öffentlichkeit verfolgte empört, wie deutsche Staatsanwaltschaften im Abstand weniger Monate wegen Bestechung von Staatsbeamten, wegen des Verrats militärischer Geheimnisse und wegen des Vorwurfs des Titelhandels gegen Politiker und Beamte ermittelten. Der mit Abstand bekannteste Korruptionsfall dieser Zeit war der sogenannte Kornwalzerskandal, der die systematische und langwierige Bestechung preußischer Beamter durch das Rüstungsunternehmen Krupp enthüllte. Die Korruptionsvorwürfe gegen den Essener Betrieb sorgten für gewaltigen Aufruhr. Noch nie zuvor hatte das Kaiserreich einen Korruptionsskandal dieser Größenordnung erlebt: Über Monate standen einschlägige Parlamentsdebatten, Anhörungen und Gerichtsprozesse im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und wurden von allen politischen Richtungen rege diskutiert. Auf diesen Skandal bezog sich auch der Vorwärts in seinem Artikel »Reinlichkeitsschwund« vom 22. Oktober 1914. Wie das obige Zitat illustriert, interpretierte die Zeitung der Sozialdemokratischen Partei die Affäre als vorläufigen Höhepunkt einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Sie beklagte die wachsende Akzeptanz politischer Korruption, die sie auf einen grundlegenden Wandel deutscher Moralvorstellungen zurückführte. Selbstverständlich beruhten diese Beobachtungen nicht auf wissenschaftlichen Untersuchungen oder quantitativen Erhe1 Vorwärts, Reinlichkeitsschwund, 22. 01. 1914.

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Einführung

bungen – und gerade deshalb inspirieren sie Fragen nach der Beziehung von Korruption und Gesellschaft: Wie gestaltete sich der gesellschaftspolitische Umgang mit Korruption im Kaiserreich? Hatten sich Moralvorstellungen gewandelt und das gesellschaftliche Verhältnis zu Korruption im Verlauf der Jahre nachhaltig verändert, wie der Vorwärts behauptete? Oder war das Sprechen über Korruption ein Teil oder gar Instrument der politischen Auseinandersetzung? Verbanden politische Zeitungen wie der Vorwärts ihre Berichterstattung über Korruption mit Propaganda? Und wie verhielt sich die Regierung, wie verhielten sich Politiker und Parteien? Die historische Korruptionsforschung hat sich derartigen Fragen bisher nur zögerlich gewidmet. Bis auf wenige Ausnahmen, wie beispielsweise die Untersuchungen Frank Böschs zum Kornwalzerskandal, liegen quasi keine empirischen Fallstudien über die Korruptionsdebatten des Kaiserreichs vor.2 Auch existieren keine Arbeiten, welche die politischen Korruptionsdebatten gebündelt darstellen, analysieren und nach längerfristigen Prozessen fragen. Stattdessen sind Korruptionsdebatten bislang fast ausschließlich am Rande von thematisch andersgelagerten Untersuchungen – quasi als Nebenprodukte – erschlossen worden: so beispielsweise die Korruptionsvorwürfe gegen Reichskanzler Bismarck in den 1870er Jahren, die im Kontext der Antisemitismusforschung untersucht worden sind.3 Aus diesen bruchstückhaften Einblicken lassen sich erste Eindrücke gewinnen. So scheint sicher zu sein, dass Korruption bereits vor den Skandaljahren 1913/14 in der politischen Öffentlichkeit thematisiert wurde und eine Auseinandersetzung mit dem Thema auf politischer Ebene stattfand: Korruptionsvorwürfe wurden in unterschiedlichen Kontexten in den Parlamenten diskutiert, so etwa im Rahmen von Budgetdebatten. Neben den vereinzelten Hinweisen aus der Forschungsliteratur stützen auch Quellen diesen ersten Eindruck: Eine Stichwortsuche in verschiedenen Bibliothekskatalogen beispielsweise zeigt, dass über die Jahre zahlreiche juristische Abhandlungen, Zeitungsartikel, Flugschriften und (Fach-)Bücher erschienen, die 2 Vgl. Frank Bösch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, S. 445–467; Ders.: »Krupps ›Kornwalzer‹. Formen und Wahrnehmungen von Korruption im Kaiserreich«, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 337–379. Weitere Beispiele: Jens Ivo Engels/Anna Rothfuss: »Les Usages de la Politique du Scandale. Le SPD et les D8bats sur la Corruption Politique pendant le Kaiserreich (1873– 1913)«, in: Cahiers JaurHs 209 (2013), S. 33–51; Jens Ivo Engels: »Panama in Deutschland: Der Panama-Skandal in der deutschen Presse 1892/1893«, in: Andreas von Gelz/Sabine RußSattar/Dietmar Hüser (Hrsg.), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin/New York 2014, S. 107– 123. 3 Beispielhaft Daniela Weiland: Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«. Zur Entstehung des modernen Antisemitismus im frühen Kaiserreich, Berlin 2004. Für eine vollständige Historiographie vgl. Kap. 3 dieser Arbeit.

Einführung

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auch von einer zivilgesellschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema zeugen. So war beispielsweise Korruptionsbekämpfung Gegenstand von Gesetzesentwürfen oder -änderungen und inspirierte die Gründung nationaler und kommunaler Vereine.4 Die vorliegende Dissertation möchte diese unterschiedlichen Puzzleteile zusammenfügen und ergänzen, um so die bestehende Forschungslücke einer überblicksartigen Darstellung der politischen Korruptionsdebatten des Deutschen Kaiserreichs zu schließen. Das Ziel der Arbeit wird dabei sein, Korruptionsdebatten und -skandale zu identifizieren, sie auf Ausrichtung und Verlauf vergleichend zu untersuchen und nach allgemeinen Entwicklungstendenzen zu fragen. Um die Ergebnisse der Analyse bestmöglich im Kontext der internationalen Korruptionsforschung zu verorten, wird die Untersuchung um einen punktuellen Vergleich mit französischen Korruptionsskandalen ergänzt, deren gut erforschte Grundlagen eine einfach zu erschließende und sinnvolle Kontrastfolie ergeben. Auf diese Weise können Entwicklungen hinterfragt und Besonderheiten der deutschen sowie der französischen Korruptionskommunikation identifiziert werden. Das Forschungsvorhaben wird von den Fragen angeleitet, welche Rolle Korruption in der politischen Kommunikation des Kaiserreiches spielte, wann, warum und auf welche Weise Korruption debattiert oder skandaliert wurde.5 Der Untersuchungszeitraum ist dabei auf die Jahre zwischen der Reichsgründung 1871 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Juli 1914 beschränkt. Da das Kriegsgeschehen die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands drastisch veränderte und damit auch die Grundlagen der Korruptionsdebatten und infolgedessen ihre Vergleichbarkeit beeinflusste, sind die Kriegsjahre von der Untersuchung ausgeschlossen.6

4 Vgl. bsph. Volker Köhler/Anna Rothfuss: »Ehrbare Kaufmänner und unlauterer Wettbewerb. Der Verein gegen das Bestechungsunwesen 1911–1935«, in: Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Fr8d8ric Monier/Olivier Dard (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft, Köln/Weimar/ Wien 2015, S. 177f. 5 Die Autorin hat sich entschieden, im analytischen Kontext auf die in der Forschung gebräuchliche Form skandalieren/Skandalierer zurückzugreifen, um sich von der in den Quellen üblichen Schreibweise skandalisieren/Skandalisierer abzugrenzen; vgl. auch: Annika Klein: Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, Göttingen 2014, S. 16. 6 Unser verstorbener Kollege Ralf M. König (TU Darmstadt) erforschte im Rahmen seiner Doktorarbeit die deutschen Korruptionsdebatten der Kriegszeit 1914–18. Vgl. auch Annika Klein/Ronald Kroeze: »Governing the First World War in Germany and the Netherlands. Bureaucratism, Parliamentarism and Corruption Scandals«, in: Journal of Modern European History 11 (2013), Nr. 1, S. 109–129 sowie Klein, Korruption und Korruptionsskandale in der Weimarer Republik, Kap. II: Neuanfänge und Altlasten. Viele Ereignisse, die in der direkten Nachkriegszeit Skandale auslösten, fanden häufig in der Kriegszeit statt, wie Klein zeigen kann.

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Einführung

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Erste Annäherungen an den Begriff der Korruption

Um die Korruptionsdebatten des Kaiserreichs zu untersuchen, ist zu Beginn notwendig, den Schlüsselbegriff dieser Arbeit in konzeptioneller und methodischer Hinsicht zu fassen. Was bedeutet eigentlich Korruption? Worauf bezieht sich der Begriff ? Diese Fragen zu beantworten, ist essenziell; denn Korruption gehört zu den Begriffen, die notorisch schwer zu fassen sind, weil sie – damals wie heute – mit einer Vielzahl verschiedener Bedeutungen assoziiert werden. Gerade weil sich hinter Korruption weiträumige Konzepte und Assoziationen zu verbergen scheinen, gilt es, den Begriff historiographisch zu verorten, im Sinne des Forschungsvorhabens zu definieren und aufzuzeigen, an welche Forschungsdiskurse angeschlossen wird.

1.1.1 Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Korruptionsbegriffs Um uns dem Begriff der Korruption zu nähern, kehren wir zu dem einführenden Zitat des Vorwärts aus dem Jahre 1914 zurück. Tatsächlich verwendete das Blatt in diesen Zeilen den Begriff der Korruption nicht; stattdessen berichtete es von Bestechung und Bestechlichkeit. Und dennoch drängt sich beim Lesen der Gedanke an Korruption nahezu unwillkürlich auf – ein Automatismus, der nicht nur heute, sondern auch während des Kaiserreichs bestand, wie die Arbeit darlegen kann: Verortet man das Zitat im größeren Kontext der sozialdemokratischen Skandalberichterstattung, so zeigt sich, dass der Vorwärts eine Vielzahl verschiedener Begriffe – wie beispielsweise Bestechung – mit Korruption gleichsetzte und simultan verwendete. Dabei handelte es sich nicht um ein spezifisch sozialdemokratisches Vorgehen, sondern um eine gesellschaftliche Konvention, wie das Beispiel eines zeitgenössischen Lexikonartikels zeigt. »Meyers Konversationslexikon« definierte »Korrumpieren« bzw. »Korruption« in seiner vierten Auflage (erschienen zwischen 1885 und 1892) wie folgt: »Korrumpieren (lat.), verderben (besonders in sittlicher Beziehung), bestechen; korrumpiert, verderbt, der Bestechung zugänglich. Korruption (lat.), Verdorbenheit, Sittenverderbnis, besonders Bestechlichkeit, korrupt, verdorben, schlecht, nichts taugend, verkehrt, verschroben.«7

Die Beispiele zeigen, dass Korruption als Oberbegriff für ein breites Wortfeld fungierte, das verschiedene Begriffe assoziativ vereinte. Dabei können die un7 Autorenkollektiv : Meyers Konversationslexikon, Leipzig/Wien4 1885–1892, Bd. 10, S. 103. Online einzusehen unter : http://www.retrobibliothek.de/retrobib/seite.html?id=109732 (2. 8. 2016).

Erste Annäherungen an den Begriff der Korruption

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terschiedlichen Begrifflichkeiten verschiedenen Bedeutungsebenen zugeordnet werden.8 Einerseits wurden konkrete Handlungen, wie beispielsweise Bestechung, als korrupt verurteilt. Andererseits galten auch (Verhaltens-)Formen angeblicher moralischer Insuffizienz als korrupt. So konnte man etwa aufgrund von Homosexualität, Ehebruch oder Meineid als korrupt charakterisiert werden.9 Gemein hatten die unterschiedlichen Bedeutungen des Korruptionsbegriffs, dass sie alle grundlegend negativ besetzt und Ausdruck eines moralischen Stigmas waren. Das Zitat des Vorwärts unterstreicht diesen Umstand beispielhaft, lobte das Parteiblatt doch die Zeit, in der Bestechung als eine der »schmutzigsten Handlungen« interpretiert worden sei.10 Diese dem Korruptionsbegriff des Kaiserreichs inhärente negative Bewertung ist umso bemerkenswerter, als Korruption in den Gesetzestexten der Zeit keine Rolle spielte. Dort wurden lediglich spezifische Elemente aus dem Wort- und Handlungsfeld, beispielsweise Bestechung oder Vorteilsnahme, geahndet.11 Über die auf Handlungen und moralische Unzulänglichkeit bezogene Ebene hinaus existierte eine weitere Bedeutungsebene, die Korruption als gesellschaftspolitisches Phänomen interpretierte. Kennzeichnend für diese Deutung war die Annahme, dass eine Korrelation zwischen Staat, Gesellschaft und Korruption bestehe. Dieses Korruptionsverständnis hat eine lange Tradition und lässt sich von Plato über Machiavelli bis hin zu Montesquieu oder Rousseau verfolgen. Machiavelli beispielsweise interpretierte Korruption als inhärenten Bestandteil der politischen Ordnung, als prinzipielle Möglichkeit, ein politisches System zu destruieren. Er ging davon aus, dass politische Systeme einem kontinuierlichen Wechsel zwischen Ordnung und Korruption unterworfen seien, der immer dann eingeleitet werde, wenn Partikularinteressen Vorrang vor dem Gemeinwohl gewährt werde.12 Mit Beginn der Aufklärung verlor Machiavellis

8 Vgl. u. a. Jens Ivo Engels: Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014, S. 165f. 9 Beispielhaft Ahlwardt, Hermann: Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum. II Theil. Der Eid eines Juden, Berlin 1891, S. 18. 10 Vorwärts, Reinlichkeitsschwund, 22. 1. 1914. 11 Im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich bestanden verschiedene juristischen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für den Norddeutschen Bund größtenteils unverändert weiter (bsph. Beamten Bestechung §§ 332–333). Besonders im Bereich der Wirtschaft wurden jedoch auch neue Gesetze geschaffen, die öffentlich als korrupt stigmatisierte Praktiken bekämpften, wie bspw. das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UGW), vgl. Köhler/ Rothfuss, Der Verein gegen das Bestechungsunwesen, S. 178f. Und: Korruption ist auch heute kein juristisches Delikt. 12 Vgl. Imke Röhl: Das Primat der Mittelmäßigkeit – Politische Korruption in Deutschland. Ein Kompendium, Berlin 2007, S. 61–86; Oliver Marchart: »In Verteidigung der Korruption – Eine postfundamentalistische Perspektive«, in: Behemoth 7 (2014), Nr. 1, S. 13f.; Carl J. Friedrich: »Corruption Concepts in Historical Perspective«, in: Arnold J. Heidenheimer/

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Vorstellung eines systemimmanenten, kontinuierlichen Wechsels zwischen Ordnung und Korruption an Bedeutung. Die Relation von Korruption, Staat und Gesellschaft blieb jedoch in unterschiedlichen Ausprägungen Teil des Korruptionsbegriffs – wie in späteren Teilen der Arbeit detaillierter gezeigt werden soll.13 Diese unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Korruptionsbegriffs waren in öffentlichen Korruptionsdebatten meist simultan und in unterschiedlicher Ausprägung vertreten, wie auch an einem aktuellen Beispiel gezeigt werden kann: Im Jahre 2016 wurde der Slogan »Lock her up!« zu einem integralen Bestandteil der Wahlkampagne des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. In dieser an Hillary Clinton adressierten Phrase verdichteten sich symbolisch verschiedene Vorwürfe: Die Trump-Unterstützer kreideten der demokratischen Kandidatin beispielsweise an, in ihrer Funktion als Außenministerin unter Präsident Barack Obama geheime Staatsinformationen über ihr privates E-Mail-Konto verschickt und damit die Sicherheit des Landes gefährdet zu haben. Des Weiteren inspirierten vor allem aber auch Korruptionsvorwürfe die Forderung, Clinton ›wegzusperren‹. So etwa gegen die Clinton Foundation, die der Präsidentschaftskandidatin und ihrer Familie als schwarze Kasse gedient habe.14 Der Slogan »Lock her up!« wurde damit zur symbolischen Antwort auf Clintons Politik, die vorrangig an persönlichen Interessen orientiert sei. Darüber hinaus verbanden sich mit der Phrase aber nicht nur die Vorwürfe gegen die Person Clintons. Die Demokratin stand sinnbildlich für das sogenannte corrupt establishment, an dem sich die Wut vieler TrumpUnterstützer entzündete. In deren Augen glich Washington, D. C. einem Sündenpfuhl: Die amerikanische Politik, so die landläufige Kritik, sei geprägt von alten, behäbigen und ineffizienten Strukturen, welche die Korruption der Politiker über Jahre befördert hätten. Vielfach verband sich auch Kritik an Globalismus, Kapitalismus und den Medien mit dem Vorwurf korrupter Politik.15 Michael Johnston (Hrsg.), Political Corruption. Concepts & Contexts, New Brunswick NJ3 2001, S. 15–24. 13 Ein kurzer, aber prägnanter Überblick über die Begriffsgeschichte der Korruption bei Jens Ivo Engels: Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014, Kap. S. 165f. 14 Vgl. bsph. Nick Gass, ›Lock her up‹ chant rules Republican convention, 20. 7. 2016, http:// www.politico.com/story/2016/07/rnc-2016-lock-her-up-chant-hillary-clinton-225916 (17. 7. 2017); Anthony Zurcher, US Election: Why is Clinton’s Foundation so controversial, 23. 8. 2016, http://www.bbc.com/news/election-us-2016-37168505 (17. 7. 2017); Lauren Carroll, Fact checking the Clinton Foundation controversy, 1. 9. 2016, http://www.politifact.com/ truth-o-meter/article/2016/sep/01/fact-checking-clinton-foundation-controversy/ (18. 7. 2017). 15 Exemplarisch: Wahlkampfspot von Trump gegen das »corrupt political establishment«: https://www.youtube.com/watch?v=vST61W4bGm8 (18. 7. 2017); Bericht über den Werbespot: Ben Wolfgang/S. A. Miller : Trump closing argument is battle cry against Clinton cor-

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Konträr dazu wurde Trump von seinen Unterstützern als Außenseiter im positiven Sinne dargestellt: als unabhängiger Macher, der mit fester Hand gegen die Korruption des Systems vorgehen werde, wie die beiden folgenden Karikaturen verbildlichen.

Abb. 1: Ben Garrison, »New Brooms Sweep Clean«, Pro-Trump-Karikatur aus dem US-Wahlkampf 2016

Damit illustriert das Beispiel des Slogans »Lock her up!« exemplarisch die unterschiedlichen Bedeutungsebenen des Korruptionsbegriffs und zeigt, dass sich Korruptionsvorwürfe sowohl auf einzelne Individuen oder Personengruppen als auch auf Nationen und Systeme erstrecken können.16 Die Phrase wurde zum Sinnbild für den Kampf gegen Clinton einerseits und das politische System, welches sie repräsentierte, andererseits. Gegen dieses Stigma konnte sich Clinruption, 22. 10. 2016, http://www.washingtontimes.com/news/2016/oct/22/donald-trumpsclosing-argument-battle-cry-against-/ (18. 7. 2017); Katie Reilly : Donald Trump Makes Closing Argument to Voters in New Ad, 5. 11. 2016, http://time.com/4559597/donald-trumpclosing-argument-campaign-ad/ (18. 7. 2017). 16 Unter dem Stichwort der Old Corruption wurde bspw. an der Wende zum 19. Jahrhundert in Großbritannien ein gesamtgesellschaftlicher Verfall diagnostiziert, vgl. Jens Ivo Engels: »Politische Korruption in der Moderne. Debatten und Praktiken in Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert«, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 329f.; Philip Harling: The Waning of »Old Corruption«. The Politics of Economical Reform in Britain, 1779–1846, Oxford 1996.

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Abb. 2: Ben Garrison, »Drain the Swamp«, Pro-Trump-Karikatur aus dem US-Wahlkampf 2016

ton im Wahlkampf nicht erfolgreich zur Wehr setzen – es war absolut und blieb ungeachtet der Ergebnisse juristischer Untersuchungen bestehen. Interessanterweise wurde jedoch auch Trump im Laufe des Wahlkampfs wiederholt der Korruption bezichtigt. Im Gegensatz zu Clinton schienen die Vorwürfe an dem Geschäftsmann jedoch ohne großen Effekt abzuperlen.17 Die Korruptionsvorwürfe wurden in Bezug auf die beiden Kandidaten nicht nur unterschiedlich rezipiert, sondern auch bewertet. Damit unterstreicht das Beispiel die Leitfrage dieser Arbeit: Wie funktionierte das Sprechen über Korruption im Deutschen Kaiserreich? Welchen Regeln war es unterworfen und welche Funktionen erfüllte es? Wann wurde Korruption politisch? Lassen sich Parallelen und Entwicklungslinien feststellen?

17 Interessanter Artikel über die unterschiedliche Wahrnehmung von Clinton und Trump: Daniel W. Drezner: Why Hillary Clinton’s Perceived Corruption Seems to Echo Louder than Donald Trumps Actual Corruption, 6. 9. 2016, https://www.washingtonpost.com/postevery thing/wp/2016/09/06/why-hillary-clintons-perceived-corruption-seems-to-echo-louderthan-donald-trumps-actual-corruption/?utm_term=.4d247b284de7 (18. 7. 2017).

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1.1.2 Die wissenschaftliche Definition von Korruption Wie das Beispiel aus dem amerikanischen Wahlkampf gezeigt hat, werden verschiedene Dinge als korrupt benannt und wird über Korruption in unterschiedlichen Kontexten gesprochen. Dies gilt auch für das Deutsche Kaiserreich. Um die Korruptionsvorwürfe jener Zeit zu analysieren, ohne dabei unreflektiert unsere heutigen Vorstellungen zu Grunde zu legen, nutzt die Arbeit ein konstruktivistisches Korruptionsverständnis, das Korruption als Zuschreibung durch die Zeitgenossen begreift. Es geht davon aus, dass das Verständnis von Korruption zeitlichen wie auch räumlichen Veränderungen unterworfen ist: Was eine Gesellschaft in einer bestimmten Epoche als Korruption bezeichnet oder mit Korruption assoziiert, ist wandelbar. Diese konstruktivistische Korruptionsdefinition hat seit einigen Jahren wachsende Verbreitung in den Geschichtswissenschaften erfahren. Wegbereitend hierfür waren vor allem die Arbeiten der Politikwissenschaftler Arnold Heidenheimer und Michael Johnston. Ausgangspunkt ihrer Forschungen war die gängige normative und amtszentrierte Definition, welche Korruption als Missbrauch eines öffentlichen Amtes zu privatem Nutzen beschreibt.18 Hiervon ausgehend plädiert besonders Johnston dafür, Korruption stärker in ihrem spezifischen gesellschaftspolitischen Umfeld zu untersuchen. Er lenkt damit den Blick auf die Bedeutung gesellschaftlicher Normengefüge, vor deren Hintergrund Korruption als deviantes Verhalten beschrieben wird.19 Zudem rückt Johnston die grundlegenden Kategorien der Korruptionsdefinition – öffentlicher/privater Nutzen und öffentliches Amt – in den Fokus und betont, dass die Definitionen dieser Kategorien stets Gegenstand gesellschaftlicher Normenaushandlungsprozesse gewesen und daher kontinuierlichem Wandel unterworfen seien. Die Erforschung dieser (historischen) Prozesse, so seine Überzeugung, verspreche daher nicht allein Einsicht in zeitgenössische Korruptionsvorstellungen, sondern liefere auch neue Erkenntnisse über die Entwicklung

18 Diese Definition ist heute in Politik und Wirtschaft weitverbreitet und wird u. a. von der NGO Transparency International verwendet. Auch im Kaiserreich finden sich bereits Quellen, die Korruption auf diese Weise definieren. Vgl. https://www.transparency.de/was-ist-korrupti on.2176.0.html (3. 8. 2016); Volksstaat, Corruption, 22. 1. 1873. Forschungsüberblick: Ulrich von Alemann: »Politische Korruption: Ein Wegweiser zum Stand der Forschung«, in: Ders. (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung, Wiesbaden 2005, S. 13–49. Einleitend zu den Forschungen von Heidenheimer/ Johnston vgl. Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston (Hrsg.), Political Corruption. Concepts & Contexts, New Brunswick NJ3 2001. 19 Michael Johnston: »Keeping the Answers, Changing the Questions: Corruption Definitions Revisited«, in: Ulrich von Alemann (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung, Wiesbaden 2005, u. a. S. 61f.

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gesellschaftspolitischer Systeme.20 Für das vorliegende Forschungsvorhaben ergibt sich daraus, dass Korruption nicht zwangsläufig auf die Sphäre des Politischen beschränkt sein muss, um zum Thema politischer Korruptionsdebatten zu werden. Im Fokus steht die Devianz bestehender Normensysteme und deren politische Thematisierung.21 Der Ansatz von Johnston hat der im Wachsen begriffenen historischen Korruptionsforschung in den vergangenen Jahren wichtige Impulse geliefert; er wurde debattiert, erprobt und ergänzt.22 Bedeutende Anregungen für die methodische und praktische Auseinandersetzung mit Korruption kamen dabei von dem Darmstädter Historiker Jens Ivo Engels. Engels betonte die für die Analyse hilfreiche Differenzierung zwischen Debatten und Praktiken – dem (kritischen) Sprechen über Korruption und den Handlungen, auf die dabei Bezug genommen wird.23 In diesem Kontext regte Engels an, den Begriff der Mikropolitik für die historische Korruptionswissenschaft nutzbar zu machen.24 Als mikropolitische Praktiken lassen sich Handlungen neutral und losgelöst von ihrer gesellschaftlichen Bewertung beschreiben und damit wissenschaftlich untersuchen – ein 20 Vgl. ebd., u. a. S. 71f.; Ders.: »The Search for Definitions: The Vitality of Politics and the Issue of Corruption«, in: International Social Science Journal 48 (1996), S. 321–335. 21 Vgl. auch Hillard von Thiessen: »Korruption und Normenkonkurrenz. Zur Funktion und Wirkung von Korruptionsvorwürfen gegen die Günstling-Minister Lerma und Buckingham in Spanien und England im frühen 17. Jahrhundert«, in: Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/ Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld, Geschenke, Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009, S. 92f.; Ernesto Garzjn Vald8s: »Zur moralischen Bewertung von Korruption: ein Vorschlag«, in: Alemann, Ulrich von (Hrsg.), Dimensionen politischer Korruption. Beiträge zum Stand der internationalen Forschung, Wiesbaden 2005, S. 158. 22 An dieser Stelle sind vor allem die Forschungen des Bielefelder SFB 584/Teilprojekt B17 zur Politischen Korruption in der Frühen Neuzeit, die Arbeiten des Darmstädter DFG-Projekts zur politischen Korruption und des DFG/ANR-Projekts POC/K ebenfalls zur politischen Korruption zu nennen, in deren Umfeld verschiedene Veröffentlichungen entstanden sind. Vgl. u. a. Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Alexander Nützenadel (Hrsg.), Geld, Geschenke, Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, München 2009; Niels Grüne/Simona Slanicka (Hrsg.): Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, Göttingen 2010; Ronald G. Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engels (Hrsg.): Integration, Legitimation, Korruption. Politische Patronage in Früher Neuzeit und Moderne, Frankfurt a. M. 2011; Jens Ivo Engels/Fr8d8ric Monier/Natalie Petiteau (Hrsg.): La Politique Vue d’en Bas. Pratiques Priv8es et D8bats Publics 19e–20e siHcles, Paris 2012; Olivier Dard/Jens Ivo Engels/ Andreas Fahrmeir/Fr8d8ric Monier (Hrsg.): Scandales et Corruption / l’Ppoque Contemporaine, Paris 2014. 23 Vgl. bsph. Engels, Politische Korruption in der Moderne, S. 313–350; Ders., Geschichte der Korruption, S. 14. 24 In der Soziologie hat der Begriff Mikropolitik eine lange Tradition; vgl. bsph. Tom Burns: »Micropolitics: Mechanisms of Institutional Change«, in: Administrative Science Quarterly 6 (1961), S. 257–281. Neben Engels gingen auch von Wolfgang Reinhard Versuche aus, den Begriff in die Geschichtswissenschaft einzuführen; vgl. Wolfgang Reinhard: »Die Nase der Kleopatra. Geschichte im Lichte mikropolitischer Forschung. Ein Versuch«, in: Historische Zeitschrift 293 (2011), S. 631–666.

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Vorgehen, das in diesem Forschungsvorhaben Anwendung finden soll.25 Darüber hinaus betonte Engels den spezifisch modernen Charakter der Korruptionsdefinition nach Johnston, ohne dabei an die veraltete These anzuschließen, Korruption sei allein ein Phänomen moderner Gesellschaften.26 Stattdessen verwies Engels unter anderem auf die Studien der Soziologen Bruno Latour und Zygmunt Bauman, die herausgearbeitete haben, dass sich Gesellschaften im Übergang zur Moderne zunehmend an universalen Normen orientierten. Vor diesem Hintergrund können die konstitutiven Binärpaare der neoklassischen Korruptionsdefinition (öffentlich/privat, Eigennutz/Gemeinwohl) als typisch moderne Erscheinungen verstanden werden.27 Darüber hinaus nahmen neben der zunehmenden Differenzierung und Kategorisierung noch weitere ›typisch‹ moderne Prozesse Einfluss auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Korruption. Dazu sind beispielsweise das Heranwachsen einer medial vermittelten politischen Öffentlichkeit, das zunehmende gesellschaftliche Partizipationsbegehren oder die veränderten Formen gesellschaftlicher Selbstbeschreibung zu rechnen.28 Das Paradox der Moderne, so die Schlussfolgerung Engels’, besteht daher darin, dass Gesellschaften mit fortschreitender Modernisierung – mit dem Wandel hin zu modernen Normensystemen – neue Praktiken als korrupt

25 Vgl. Engels, Geschichte der Korruption, S. 23f. Vgl. auch die 2015 vorgelegte Dissertation von Volker Köhler, der das Konzept der Mikropolitik am Beispiel der Weimarer Republik praktisch erprobt und verfeinert hat und darüber hinaus erfolgreich Vorschläge für dessen zukünftige Nutzung vorlegen konnte. Volker Köhler: Genossen – Freunde – Junker. Die Mikropolitik personaler Beziehungen im politischen Handeln der Weimarer Republik, Göttingen 2018. 26 Vgl. bsph. James C. Scott: »Handling Historical Comparisons Cross-Nationally«, in: Arnold J. Heidenheimer/Michael Johnston (Hrsg.), Political Corruption. Concepts & Contexts, New Brunswick NJ3 2001, S. 123–138. Verschiedene Arbeiten der letzten Jahre haben den spezifischen Charakter der vormodernen Korruption beschrieben. Vgl. u. a. Thiessen, Korruption und Normenkonkurrenz, S. 91–120; Grüne, Niels: »«Gabenschlucker« und »verfreundte rät« – Zur patronagekritischen Dimension frühneuzeitlicher Korruptionskommunikation«, in: Asch/Emich/Engels: Integration, Legitimation, Korruption, S. 215–232; Robert Bernsee: Korruption und Bürokratisierung. Debatten, Praktiken und Reformen in Deutschland während der Sattelzeit (1720–1820), Darmstadt 2014 (Manuskript der Dissertationsschrift). 27 Vgl. Engels, Geschichte der Korruption, S. 186f. Für geschichtswissenschaftliche Einführungen zum Konzept der Moderne vgl. auch Hans-Ulrich Gumbrecht: »Modern, Modernität, Moderne«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch zur politisch-sozialen Sprache, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 93–131; Ute Schneider/Lutz Raphael: Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a. M. 2008. Grundlegend: Shmuel Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. 28 Vgl. Jens Ivo Engels: »Politische Korruption und Modernisierungsprozesse. Thesen zur Signifikanz der Korruptionskommunikation in der westlichen Mbspw.oderne«, in: Grüne/ Slanicka, Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, S. 35–54.

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wahrnahmen, Korruption somit entgegen aller Bemühungen also nie zu überwinden sei.29

1.1.3 Zum Verhältnis von Korruption, Staat und Gesellschaft Wenn Johnston postulierte, dass die Untersuchung von Korruption neue Erkenntnisse über Staat und Gesellschaft verspreche, dann ist dabei nicht nur an gesellschaftliche Normenaushandlungsprozesse zu denken. Der knappe Hinweis auf das Korruptionsverständnis Machiavellis hat bereits gezeigt, dass die Vorstellung einer Verbindung von Korruption, Gesellschaft und Staat schon lange Zeit existiert. Dabei spielte damals wie heute besonders die Frage eine Rolle, welche Auswirkungen Korruption auf die politische Ordnung habe. Im Verlauf der Geschichte haben unter anderem Philosophen, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler verschiedene Antworten auf diese Frage gefunden.30 2002 widmete sich der Politikwissenschaftler Ulrich von Alemann der Verbindung von Korruption und Staat. Aufbauend auf dem konstruktivistischen Korruptionsverständnis nach Johnston bezeichnete er Korruption als Wahrnehmungsdelikt. Alemann ging davon aus, dass die Thematisierung von Korruption in einer Gesellschaft entweder normenverstärkend oder -unterminierend wirke. Eine erfolgreiche Skandalierung von Korruption beispielsweise könne zu einer Delegitimierung korrupter Praktiken führen und damit eine Art Katharsis bewirken. Zugleich würden aber gescheiterte Skandalierungen dazu beitragen, das gesellschaftliche Normengefüge auszuhöhlen.31 Ähnliche Überlegungen stellte auch Oliver Marchart in einem Artikel von 2014 an.32 Der Philosoph näherte sich der Korruption aus einer ideengeschichtlichen Perspektive und konstatierte, dass Korruption nicht nur ein Realphänomen sei, sondern es sich auch um einen Schlüsselbegriff der Ontologie und Regierungslehre handele. Er begreift Korruption als konstituierenden Gegenbegriff politischer Ordnungen. Jedes politische System brauche Figuren der Nichtordnung, die durch ihre Existenz die Ordnung des Systems stabilisierten. Die Thematisierung von Korruption, so Marchart, setze daher immer auch implizit ein Ideal politischer Ordnung voraus,

29 Vgl. Engels, Politische Korruption und Modernisierungsprozesse, S. 36. 30 Vgl. Engels, Geschichte der Korruption, S. 165f. 31 Alemann, Dimensionen Politischer Korruption. S. 14f. Ähnliche Überlegungen wurden an verschiedenen Stellen auch im Kontext der historischen Skandalforschung formuliert. Dabei ging es nicht nur um Korruptionsskandale, sondern auch die Funktion von Skandalen im Allgemeinen; vgl. u.a. Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 2002. 32 Im Folgenden: Marchart, In Verteidigung der Korruption, S. 11–27.

Erste Annäherungen an den Begriff der Korruption

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dass, so die hier zu ergänzende Beobachtung von Jens Ivo Engels, zumeist deutlich unbestimmter und undefinierter bleibe als das der Korruption.33 Der Historiker Hillard von Thiessen hat in Bezug auf Korruptionsdebatten mögliche Untersuchungsfelder aufgezeigt, die vor allem vor dem Hintergrund der Überlegungen von Alemann und Marchart interessant sind. Thiessen legt seinen Überlegungen die bereits bekannte Annahme zu Grunde, dass Korruptionsdebatten gesellschaftliche Normensysteme offenlegen. Daran anknüpfend stellt er die These auf, dass Korruptionsdebatten zugleich auch darstellen, inwieweit in einer Gesellschaft Alternativen zu der bestehenden Ordnung gedacht und artikuliert werden können. Es gelte zu fragen, ob Korruptionskritik einzelne Individuen oder Gruppen zum Ziel habe oder ob sie die Reform oder vollständige Delegitimierung des politischen Systems als Ganzes verfolge.34 Den Wert dieses Forschungsansatzes belegen unter anderem die Arbeiten Jens Ivo Engels’, der »Korruptionsdebatten als Systemkritik« am Beispiel Frankreichs untersucht hat.35 Engels kommt zu dem Ergebnis, dass Korruptionsdebatten in Frankreich seit dem 18. Jahrhundert in unterschiedlicher Ausprägung und mit unterschiedlichen Zielsetzungen mit Debatten um Staatlichkeit verbunden worden sind. So sei der Vorwurf der Korruption in der Revolutionszeit beispielsweise genutzt worden, um eine Despotiekritik zu formulieren, welche die Veränderung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse gleichermaßen gefordert habe. In der Dritten Republik hingegen sei der Korruptionsvorwurf zum Instrument antiparlamentarischer Kritik von links und rechts geworden. Diese Ergebnisse fügen sich in Engels’ spätere Forschungen harmonisch ein; er kann zeigen, wie klassische Modernisierungsprozesse und Korruptionsdebatten einander beeinflussten und wie Korruptionsdebatten als Spiegel französischer Selbstwahrnehmung fungierten. Auch Annika Klein konnte in ihrer Untersuchung der deutschen Korruptionsdebatten der Zwischenkriegszeit diesen Forschungsansatz nutzbar machen. Sie hat überzeugend dargelegt, dass die Weimarer Republik auch durch Korruptionsdebatten maßgeblich destabilisiert worden ist und dass diese Debatten erfolgreiche Anknüpfungspunkte für die Rhetorik der Nationalsozialisten geboten haben.36 Ähnliche Untersuchungen für das Kaiserreich stehen bislang aus. Lediglich 33 Engels, Geschichte der Korruption, S. 15. 34 Thiessen, Korruption und Normenkonkurrenz, S. 99. 35 Im Folgenden: Jens Ivo Engels: »Revolution und Panama. Korruptionsdebatten als Systemkritik in Frankreich vom 18. Jahrhundert bis zur Dritten Republik«, in: Engels/Fahrmeir/Nützenadel, Geld, Geschenke, Politik, S. 143–174. Vgl. auch die Forschungen des französischen Historikers Fr8d8ric Monier zur Korruption in der Dritten Republik. Auswahl: Fr8d8ric Monier : »A ›Democratic Patronage‹ – Social Integration and Republican Legitimacy in France (1880s–1930s)«, in: Asch/Emich/Engels, Integration, Legitimation, Korruption, S. 97–112; Ders.: Corruption et Politique: Rien de Nouveau?, Paris 2011. 36 Vgl. Klein, Korruption und Korruptionsskandale, S. 472f.

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Werner Plumpe hat 2009 die These aufgestellt, dass das Deutsche Kaiserreich sich lange selber als ›sauber‹, eben als nicht korrupt, wahrgenommen habe. Plumpe spricht dabei von einem »Selbstbeschreibungsstereotyp«, das sich unter Bezug auf die bürokratischen Strukturen Preußens/Deutschlands und in Abgrenzung zu anderen politischen Kulturen und besonders Demokratien herausgebildet habe.37 Vor dem Hintergrund seiner Studien über den Kornwalzerskandal geht auch Frank Bösch von der Existenz eines solchen »Selbstbeschreibungsstereotyps« aus. Der Kornwalzerskandal, so seine These, habe gerade deswegen so große Empörung hervorgerufen, weil man die preußische Bürokratie bisher als ›sauber‹ betrachtet habe.38 Dieses Stereotyp einer ›unkorrumpierbaren preußischen Bürokratie‹ hilft, die mangelhafte historiographische Beschäftigung mit dem Kaiserreich zu erklären. So hat Andreas Fahrmeir hervorgehoben, dass Korruptionsdebatten in ihrer Bedeutung für politische Ordnungen bisher vor allem für Systeme untersucht worden seien, die als instabil gegolten hätten oder durch Krisenzeiten gekennzeichnet gewesen seien39 – Vorzeichen, unter denen bislang nur wenige Zeitgenossen und HistorikerInnen40 das Kaiserreich betrachtet haben.

1.2

Kommunikation und Korruption: Debatten und Skandale

Korruption und Kommunikation sind – das hat die Annäherung an das Phänomen der Korruption verdeutlicht – im Kontext dieses Forschungsvorhabens nicht getrennt voneinander zu denken, soll doch das Sprechen über Korruption in der politischen Sphäre des Kaiserreichs analysiert werden. Daher bedürfen die Begriffe der politischen Kommunikation einerseits und der Korruptionskommunikation andererseits definitorischer und methodischer Klärung: Was beschreibt politische Kommunikation und welche Formen umfasst das Sprechen über Korruption im Kontext dieser Untersuchung? 37 Werner Plumpe: »Korruption. Annäherung an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen«, in: Engels/Fahrmeir/Nützenadel, Geld, Geschenke, Politik, S. 44f. 38 Bösch, Krupps Kornwalzer, S. 341; Ders., Öffentliche Geheimnisse, u. a. S. 458f. Das »Selbstbeschreibungsstereotyp« des unbestechlichen preußischen Beamten findet in Quellen sowie wissenschaftlichen Studien vielfach Erwähnung; eine wissenschaftliche Annäherung an dessen Wurzeln und Wesen ist jedoch nicht vorhanden. 39 Andreas Fahrmeir: »Investitionen in politische Karrieren? Politische Karrieren als Investition? Tendenzen und Probleme historischer Korruptionsforschung«, in: Engels/Fahrmeir/Nützenadel, Geld, Geschenke, Politik, S. 67–88. 40 Die Autorin bittet an dieser Stelle um Nachsicht, nicht nach aktuellem Forschungsstand (LGBTQI*) zu gendern. Um einen möglichst barrierefreien Lesefluss zu ermöglichen, soll in folgender Arbeit die sprachliche Geschlechtergerechtigkeit durch Neutralisierung (Leserschaft) und Verkürzung durch das Binnen-I (LeserIn) erfolgen.

Kommunikation und Korruption: Debatten und Skandale

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Das Konzept der politischen Kommunikation ist in den letzten Dekaden in der Geschichtswissenschaft viel diskutiert worden. Ausschlaggebend hierfür waren vor allem die Versuche, im Zuge des Cultural Turn die klassische Politikgeschichte zu ›modernisieren‹.41 Dabei gingen wichtige Impulse von der Konzeption eines konstruktivistischen Politikverständnisses aus, das den Fokus über traditionell politische Institutionen (Staat/Parlament/Parteien/…) hinaus erweiterte. So erfuhren unter anderem Forschungsfragen aus dem Bereich der Sozialgeschichte, der Alltagsgeschichte oder den Gender Studies Berücksichtigung in der »Neuen Politikgeschichte«.42 Darüber hinaus fand eine intensive Beschäftigung mit der Beziehung von Kommunikation und Politik statt. Beispielhaft sind an dieser Stelle die Studien des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (SFB) 585 zu nennen, die für die Entwicklung des Konzepts der politischen Kommunikation maßgebend waren.43 Eine prominente Repräsentantin dieses Ansatzes ist die Historikerin Ute Frevert, die das Politische als »Raum« beschreibt, »der sich durch Kommunikation konstituiert«.44 Medien fungieren in dieser Konzeption als Träger der Kommunikation; sie erschaffen Politik durch Vergegenwärtigung und Vermittlung, wobei Themen und Formen historischem Wandel unterworfen sind. So sind die Inhalte der politischen Kommunikation nach Frevert geprägt von komplexen Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen und abhängig von spezifischen Umständen und Interessen. Angelehnt an diese Überlegungen wird das Konzept der Korruptionskommunikation als Spielart der politischen Kommunikation erschlossen, um das Sprechen über Korruption in der politischen Sphäre zu analysieren. In Anlehnung an den Innsbrucker Historiker Niels Grüne bezeichnet Korruptionskommunikation alle »Rede- und Handlungsformen […], die auf die definitorisch 41 Knapper Überblick über die Entwicklung der »Neuen Politikgeschichte« in: Ute Frevert: »Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen«, in: Dies./Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a. M. 2005, S. 7–26. Weitere Einführungen (Auswahl): Thomas Mergel: »Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606; Andreas Rödder: »Klios neue Kleider. Theoriedebatten um eine Kulturgeschichte der Politik in der Moderne«, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 657–688. 42 Vgl. bsph. Geoff Eley : »Wie denken wir über Politik? Alltagsgeschichte und die Kategorie des Politischen«, in: Berliner Geschichtswerkstatt, Alltagsgeschichte, Subjektivität und Geschichte, Münster 1994, S. 17–36; Joan W. Scott: Gender and the Politics of History, New York 1988. 43 Der SFB 585 »Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte« wurde 2001 von der DFG eingerichtet. Zugehörige Publikationen (Auswahl): Frevert/Haupt, Neue Politikgeschichte; Wolfgang Braungart/Ute Frevert (Hrsg.): Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004. 44 Vgl. im Folgenden Frevert, Ute: »Politische Kommunikation und ihre Medien«, in: Braungart/Frevert, Sprachen des Politischen, S. 7–19; Dies.: »Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen«, in: Frevert/Haupt, Neue Politikgeschichte, S. 7–26.

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Einführung

umrissene Dissoziation universalistischer und partikularistischer Normen rekurrierten, um politisch-soziale Praktiken der Einflussnahme und Verflechtungen als abweichendes Verhalten zu etikettieren«.45 Die Entscheidung, dieses Konzept zu adaptieren, fiel früh. Die Arbeiten von Annika Klein zu Korruptionsskandalen in der Weimarer Republik und Frank Bösch zu Skandalen im Deutschen Kaiserreich hatten zu Beginn der Recherche den Blick auf Skandale als Untersuchungsgegenstand gerichtet. Bereits nach kurzer Zeit wurde jedoch deutlich, dass im Vergleich zu anderen Epochen, wie etwa der Weimarer Republik, oder anderen Ländern, wie etwa Frankreich, im Kaiserreich deutlich weniger Korruptionsskandale auftraten. Bedeutete dies, dass im Kaiserreich nicht über Korruption gesprochen wurde? Davon war in Anbetracht der Rechercheergebnisse in den unterschiedlichsten Quellenformaten nicht auszugehen. Um nun die vergleichsweise geringe Anzahl von Korruptionsskandalen zu erklären und der Korruption in der politischen Kommunikation des Kaiserreichs nachzuspüren, musste der Untersuchungsrahmen über Skandale hinaus eine Erweiterung erfahren, die den Blick auf andere Kommunikationsformen eröffnen würde. So rückte das Konzept der Korruptionskommunikation in den Fokus. Es bot die Möglichkeit, das Sprechen über Korruption in Debatten und Korruptionsskandale gleichwertig zu untersuchen und Phänomene, wie beispielsweise gescheiterte Skandalierungsversuche, zu erschließen, die ansonsten unbeachtet geblieben wären. Die vorliegende Arbeit wird sich daher auf öffentliche Korruptionsdebatten konzentrieren. Sie folgt der Annahme, dass jedem Skandal eine Debatte innewohnt – wenn auch nicht jede Korruptionsdebatte in einen Skandal mündet. Korruptionsvorwürfe dienen dabei als Sonde. Sie markieren den Anfang von Korruptionsdebatten und -skandalen und setzen die Mechanismen der Korruptionskommunikation in Gang, die es zu analysieren gilt. Dabei können Korruptionsdebatten im Kaiserreich in verschiedenen Arenen nachgewiesen werden, von denen drei im Rahmen dieses Forschungsvorhabens genauer untersucht werden: Die Presse, das (reichsdeutsche wie auch preußische) Parlament sowie der Gerichtssaal. Der Charakter der Korruptionskommunikation war durch die Unterschiede der Arenen geprägt; jede war jeweils spezifischen Handlungsnormen unterworfen und bot den Akteuren verschiedene Möglichkeiten, zu agieren. Es gilt, diese Spezifika zu analysieren und zu untersuchen, wie Akteure in den unterschiedlichen Settings agierten. Hervorzuheben ist, dass die Debatten nicht auf eine der Arenen beschränkt waren, sondern diese tran45 Werner Plumpe nutzte den Begriff erstmals 2010, ohne ihn jedoch genauer zu umreißen. Niels Grüne legte 2011 dagegen eine erste Definition vor. Vgl. Plumpe, Korruption, S. 19–47; Grüne, Zur patronagekritischen Dimension frühneuzeitlicher Korruptionskommunikation, S. 220.

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szendieren und sich zeitgleich auf verschiedene Orte erstrecken konnten. Gerade für Skandale war es typisch, dass sich die Korruptionskommunikation in diesen Momenten der Verdichtung auf unterschiedliche Arenen erstreckte. Während nun also Korruptionsdebatten bewusst lose als das öffentliche Sprechen über Korruption in der politischen Sphäre – im Rahmen der Dissertation beschränkt auf Presse, Parlament oder Gerichtssaal – gefasst werden, ist der Skandal im Gegensatz dazu klar definiert. Die Arbeit orientiert sich an Forschungsansätzen der Geschichts- und Sozialwissenschaften46 und folgt der gängigen Definition, die Skandale als Normenverstöße beschreibt, welche in der politischen Öffentlichkeit breite Empörung hervorrufen.47 Die starke moralische Aufladung von Korruptionsdelikten – unabhängig davon, ob es sich um Adhoc- oder systematische Handlungen handelt – kann eine Skandalierung begünstigen. Wie das Beispiel der Korruptionsvorwürfe gegen Trump gezeigt hat, ist sie jedoch kein Garant für eine gelungene Skandalierung. Auch muss es sich bei den Vergehen nicht um Geheimnisse handeln, die plötzlich enthüllt worden sind.48 Die Vorwürfe gegen Clinton (und Trump) waren beispielsweise (mindestens in Teilen) der politischen Öffentlichkeit längst bekannt gewesen, doch erst im Kontext des Wahlkampfs wurden sie systematisch skandalisiert und zu einem Teil der politischen Kampagne gemacht. Der Wahlkampf änderte auch die Parameter, unter denen die politische Öffentlichkeit die Vorwürfe rezipierte. Somit wird deutlich, dass für eine gelungene Skandalierung das Timing unglaublich wichtig, das Zusammenspiel der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umstände ausschlaggebend ist. In dieser Hinsicht ist von Bedeutung, auch die Dynamik von Skandalen zu betonen. So gelang den Initiatoren von Korruptionsskandalen meist nicht, den Verlauf der Ereignisse längerfristig zu kontrollieren. Immer wieder kam es beispielsweise zu Versuchen der Ne46 Die hier verwendeten Werke stellen keine vollständige Bibliographie dar ; vgl. für nachfolgenden Abschnitt John B. Thompson: Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000; Hondrich, Enthüllung und Entrüstung; Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel (Hrsg.): Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a. M. 1989; Steffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006; Dirk Käsler : Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991; Damien de Blic/Cyril Lemieux: »Le Scandale Comme Ppreuve: Pl8ments de Sociologie Pragmatique«, in: Politix 3 (2005), Nr. 71, S. 9–38. 47 Vgl. u. a. Thompson, Political Scandal, S. 13f.; Hondrich, Enthüllung und Entrüstung, S. 12f. Vor allem in der Soziologie und Politikwissenschaft findet ein Modell Anwendung, das den Ablauf von Skandalen in Phasen einteilt. Dieses wird in der vorliegenden Arbeit nicht verwendet, da es sich vor allem an den (Medien-)Skandalen der BRD orientiert und selten auf historische Skandale übertragbar ist, wie bereits Annika Klein zeigen konnte: vgl. Klein, Korruption und Korruptionsskandale, S. 20f. Zum Modell ebenfalls Thompson, Political Scandal; Hondrich, Enthüllung und Entrüstung; Burkhardt, Medienskandale, S. 178–184. 48 Vgl. auch theoretisch: Hans Mathias Kepplinger : Die Mechanismen der Skandalierung. Die Macht der Medien und die Möglichkeiten der Betroffenen, München2 2005, S. 63f.

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benskandalierung durch (un-)beteiligte Dritte. Dabei beschreibt die Nebenskandalierung das Aufbringen thematisch verwandter oder neuer Korruptionsvorwürfe im Kontext eines bereits laufenden Skandals mit dem Ziel, die öffentliche Aufmerksamkeit zu steigern oder neu zu fokussieren. Möglich ist auch eine Gegenskandalierung, bei der der/die Initiator(en) des Skandals in den Fokus gerückt und seiner-/ihrerseits mit Vorwürfen adressiert werde(n). In den einzelnen Fallstudien wird zu untersuchen sein, wie die Mechanismen des Skandals einerseits und der Korruptionskommunikation andererseits ineinandergriffen und sich wechselseitig beeinflussten. Die historische Skandalforschung, die im Zuge der kulturgeschichtlichen Wende eine deutliche Konjunktur erfahren hat, liefert hier erste Denkanstöße und öffnet den Blick für Ähnlichkeiten mit dem theoretischen Grundgerüst der geschichtswissenschaftlichen Korruptionsforschung.49 So betonte Sighard Neckel bereits 1989 das kontextgebundene Wesen von Skandalen, »die nur vor dem sozialen Feld und dem normativen Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Sphäre, in der sie auftreten, verständlich werden können«50. Damit unterstreicht auch er die Bedeutung von gesellschaftlichen Normensystemen als Referenzrahmen, vor dem sich ein Normenverstoß erst konstituieren kann. Die Position Neckels bekräftigt: Korruptionsskandale eröffnen Raum für gesellschaftliche Normenaushandlungsprozesse. Sodann hat der Soziologe Otto Hondrich die Funktionsweisen von Skandalen in Demokratien am Beispiel der Bundesrepublik untersucht. Er kam zu dem Schluss, dass Skandale ein Instrument der Herrschaftskontrolle darstellen und gesellschaftliche Normen entweder bekräftigen oder deren Änderung initiieren. Damit, so seine These, übten Skandale eine integrative Funktion aus: In der Empörung über den Normenverstoß versichere sich eine Gesellschaft ihrer gemeinsamen Werte und erlange die Erkenntnis, auf politische und ökonomische Macht korrigierend einwirken zu können.51 Hondrich bezog seine Beobachtungen auf den Kontext westlicher Demokratien, da er davon ausging, dass diese über eine geeignete »Skandal49 So sind allein in Bezug auf das Kaiserreich in den letzten Jahren verschiedene neue Studien erschienen, vgl. bsph. (Auswahl): Bösch, Öffentliche Geheimnisse; Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005; Dieter Richter : »Friedrich Alfred Krupp auf Capri. Ein Skandal und seine Geschichte«, in: Michael Epkenhans/Ralf Stremmel (Hrsg.), Friedrich Alfred Krupp. Ein Unternehmer im Kaiserreich, München 2010, S. 157–177; Norman Domeier : Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 2010. Zu den drei Büchern, die sich jüngst dem Eulenburgskandal gewidmet haben, vgl. Lothar Machtan: Sammelrezension: 8. 12. 2010, Politische Moral und moralische Politik im Kaiserreich, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-15492 (22. 8. 2016). 50 Sighard Neckel: »Das Stellhölzchen der Macht. Zur Soziologie des politischen Skandals«, in: Ebbighausen/Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, S. 56f. Vgl. auch Thompson, Political Scandal, S. 14. 51 Vgl. Hondrich, Enthüllung und Entrüstung.

Kommunikation und Korruption: Debatten und Skandale

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kultur« verfügten. Darunter verstand er die Ausprägung moderner Gesellschaftsformen (wie beispielsweise die Etablierung von öffentlichen und privaten Lebenssphären und einer freien Presse), die er für die Entfaltung von Skandalen und deren gesellschaftlicher Funktionen voraussetzte.52 Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der historischen Korruptionsforschung stellt die Arbeit die Frage, ob Hondrichs These nicht bereits auf das Kaiserreich zu übertragen ist und ob nicht gerade die Existenz von Skandalen zu der Ausprägung moderner Gesellschaftsformen beitrug, wie dies etwa Engels bereits vermutet hat.53 Ergänzend sollen schließlich die Überlegungen des Anthropologen Max Gluckmann erwähnt werden. Dieser untersuchte die Funktion von »Klatsch und Skandalen« in kleinen sozialen Gruppen. Dabei kam er zu ähnlichen Ergebnissen wie Hondrich, betonte aber darüber hinaus vor allem auch die exkludierende Funktion von Skandalen. Durch Skandale, so seine These, grenzten sich soziale Gruppen voneinander ab, das ›Fremde‹ diene dabei als Kontrastfolie, an der die eigenen Werte und Normen geschärft würden.54 Diese Beobachtungen ergänzen Plumpes These eines ›Selbstbeschreibungsstereotyps‹, die besagt, dass im Kaiserreich über Abgrenzung nach außen die Vorstellung eines unkorrumpierbaren Landes aufrechterhalten worden sei. Die Arbeit wird im Vergleich mit der französischen Korruptionskommunikation klären, ob dies ein Spezifikum der deutschen Korruptionskommunikation oder auch in anderen Ländern gleichermaßen zu beobachten war. Das Konzept der Korruptionskommunikation mit ihren Unterkategorien Debatte und Skandal hilft, die Leitfrage dieser Arbeit – welche Rolle spielte Korruptionskommunikation in der politischen Kommunikation des Kaiserreichs? – mit Blick auf die Fallbeispiele zu schärfen. So lenkt die Analyse der Korruptionskommunikation den Blick einerseits auf die Interessen der politischen Akteure: Wer sprach wann mit welchem Ziel über Korruption und welche Motive inspirierten diese Art der Kommunikation? Andererseits steht die Funktionsweise von Debatten und Skandalen im Fokus, die in ihrem jeweiligen spezifischen Umfeld untersucht werden. Es wird gefragt, wie sich eine Skandalierung gestaltete und warum diese im Einzelfall scheiterte. Dabei geht es weniger um einzelne Akteure, sondern vielmehr um die Funktion von Skandalen in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext; so ist beispielsweise nach Normenaushandlungsdebatten oder nationalen Abgrenzungsmechanismen zu fragen. Durch den Vergleich der Korruptionskommunikation über Zeit und Ort treten darüber hinaus Wandel und Entwicklungen in den Vordergrund – sowohl 52 Vgl. ebd., S. 47f. 53 Engels, Politische Korruption und Modernisierungsprozesse, S. 36. 54 Max Gluckman: »Klatsch und Skandal«, in: Ebbighausen/Neckel (Hrsg.), Anatomie des politischen Skandals, S. 17–35.

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in Hinblick auf Inhalte und Umstände (wie beispielsweise das gesellschaftliche Normensystem) als auch auf Kommunikationsprozesse.

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1.3.1 Das Kaiserreich in der geschichtswissenschaftlichen Forschung Nachdem nun Korruption definiert und die Inhalte der Korruptionskommunikation für den Rahmen dieser Untersuchung festgelegt wurden, gilt es, sich dem Deutschen Kaiserreich zuzuwenden. Der letzte Abschnitt im Besonderen hat die Bedeutung des Kontextes für die Korruptionskommunikation hervorgehoben und so stellt sich die Frage, welche Vorbedingungen zwischen 1871 und 1914 in Deutschland herrschten. Inwiefern beeinflusste das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld die Korruptionskommunikation? Und schließlich: Welche Inspirationen und Hilfestellungen kann die moderne Kaiserreichsforschung der Untersuchung bieten und an welche Forschungsdiskurse wird angeschlossen? Nähert man sich dem Deutschen Kaiserreich aus historiographischer Sicht, so ist die These von dem deutschen Sonderweg auch heute noch, nach mehr als vierzig Jahren, ein guter Ausgangspunkt; denn noch immer liefert die Sonderwegsdebatte der 1970er und 1980er Jahre Impulse für die moderne Forschung.55 Stark verallgemeinert dargestellt, war diese Debatte von zwei gegensätzlichen Positionen geprägt. Die eine Seite betonte den vermeintlich eigentümlichen Charakter – den »Sonderweg« – der deutschen Entwicklung: Das Kaiserreich wurde im Vergleich zu anderen europäischen Staaten als rückständig und modernisierungsfeindlich beschrieben und Kontinuitätslinien konstatiert, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts hin zu der ›Katastrophe des 20. Jahrhunderts‹ reichten.56 Eine solche ›teleologische‹, am Nationalsozialismus orientierte Interpretation der deutschen Geschichte und die damit verbundene Vorstellung einer ›Normalentwicklung‹ lehnte die Gegenseite jedoch kategorisch ab.57 Auch 55 Einführend zur Geschichte und Historiographie des Kaiserreichs (Auswahl): Chris Lorenz: »Beyond Good and Evil? The German Empire of 1871 and Modern German Historiography«, in: Journal of Contemporary History 30 (1995), Nr. 4, S. 729–765; Matthew Jefferies: Contesting the German Empire, 1871–1918, Malden (Mass.) 2008; Roger Chickering: »Drei Gesichter des Kaiserreiches. Zu den großen Synthesen von Wolfgang J. Mommsen, Hans-Ulrich Wehler und Thomas Nipperdey«, in: Neue Politische Literatur 3 (1996), S. 364–375. 56 Beispielhaft für eine den Sonderweg befürwortende Darstellung: Hans-Ulrich Wehler : Das Deutsche Kaiserreich, 1871–1918, Göttingen7 1994. 57 Gegner der Sonderwegsthese (Auswahl): Thomas Nipperdey : Deutsche Geschichte 1800– 1918, München 1998 (dreibändige broschierte Sonderausgabe); David Blackbourn/Geoff Eley : The Peculiarities of German History. Bourgeois Society and Politics in Nineteenth-

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konnten Kritiker in verschiedenen Studien einige der Sonderwegsthesen relativieren und stattdessen ›moderne‹ Elemente des Kaiserreichs aufzeigen.58 Die Sonderwegsdebatte war ein Stimulus für die Kaiserreichsforschung, zugleich strukturierte sie die Forschungslandschaft jedoch auch über Jahre, indem sie spezifisch auf einzelne Forschungsfelder und -fragen verwies.59 Erst im Zuge des Cultural Turn brach die Ausrichtung auf die Sonderwegsfrage auf und die deutsche Geschichtswissenschaft erlebte eine Pluralisierung der Forschungsansätze und Methoden. So erschien vor allem in den letzten zwei Dekaden eine Vielzahl neuer Studien, welche die Epoche zwischen 1871 und 1918 aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive betrachteten.60 In der Folge stellt sich das Kaiserreich in der Forschung heute deutlich vielschichtiger und ambivalenter dar. In ihrem Sammelband »Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse« heben die Herausgeber Cornelius Torp und Sven Oliver Müller diesen Umstand positiv hervor. Beide weisen aber auch darauf hin, dass diese Vielfältigkeit zugleich die Gefahr berge, gemeinsame Fragestellungen und den Austausch zwischen den verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Disziplinen aus dem Blick zu verlieren – ein Punkt, auf den in ähnlicher Weise Volker Berghahn bereits 2002 verwiesen hat.61 Berghahn betonte, die Herausforderung der Geschichtswissenschaft bestehe nicht in der völligen Preisgabe der Sonderwegsforschung, sondern in der sinnvollen Integration älterer Forschungsergebnisse

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Century Germany, Oxford/New York 1984, S. 10f. u. S. 286f.; Geoff Eley : »Die ›Kehrites‹ und das Kaiserreich: Bemerkungen zu einer aktuellen Kontroverse«, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 91–107. Ein interessantes Beispiel sind an dieser Stelle die Studien des Bielefelder SFB 177 »Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums: Deutschland im internationalen Vergleich«. Das Projekt startete mit der von Sonderwegstheoretikern vertretenen Annahme, das Kaiserreich sei von einem Defizit an Bürgerlichkeit geprägt gewesen. Die Projektstudien des SFB revidierten diese These jedoch. Vgl. Peter Lundgreen: Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums, Göttingen 2000. Sven Oliver Müller/Cornelius Torp: »Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel«, in: Dies. (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, bes. S. 14; Helmut Walser Smith: »Jenseits der Sonderweg-Debatte«, in: Müller/Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, S. 31–50. Hinzu kam, dass das Konzept der Moderne, wie es in der Sonderwegsforschung grundlegend war, eine Neuinterpretation erfuhr. Nunmehr wurden auch die negativen Seiten der Moderne in den Vordergrund gerückt. Ausschlaggebend dafür waren u. a. die Arbeiten von Zygmunt Bauman, Michel Foucault oder Detlev Peukert; vgl. Müller/Torp, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, S. 15f. Historiographischer Überblick und Beispiele einer kulturgeschichtlichen Kaiserreichsforschung, in: Müller/Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse. Etwas konservativer : Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.): Das Deutsche Kaiserreich, 1890–1914, Paderborn 2011. Auch: Thomas Kühne: »Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918 und seine politische Kultur : Demokratisierung, Segmentierung, Militarisierung«, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), Nr. 2, S. 206–263. Müller/Torp, Das Bild des Deutschen Kaiserreichs im Wandel, S. 19f.

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in neue Untersuchungen.62 Eine Fragestellung, die eine solche Integration ermöglicht, hat in den letzten Jahren das Interesse der Geschichtswissenschaft in besonderem Maße fokussiert. Sie dient gleichermaßen als Hintergrund, vor dem sich die vorliegende Arbeit zwischen neuen und alten Forschungsfragen verortet. So wurde unter Bezug auf ältere Studien mit kulturgeschichtlichen Methoden und Perspektiven nach der Modernität des Kaiserreichs gefragt und evaluiert, ob die in der Forschung noch immer verbreitete Charakterisierung als Obrigkeitsstaat angemessen erscheint.63 Dabei rückten Prozesse der Demokratisierung und Parlamentarisierung in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Formen in den Fokus.64 Parlamentarisierung wird in Bezug auf das Kaiserreich zumeist als Wandel des konstitutionellen hin zu einem parlamentarischen Regierungssystem beschrieben, in dem sich die Regierungen aus dem Parlament rekrutieren und sich diesem gegenüber zu verantworten haben. Unter Demokratisierung werden hingegen die zunehmende politische Partizipation und Egalisierung breiter Gesellschaftsschichten verstanden.65 Die ältere wie auch die jüngere Forschung haben Ausprägungsgrad und Formen dieser Prozesse im Kaiserreich sehr unterschiedlich beurteilt. Wenngleich viele Studien heute von einem kategorischen Urteil Abstand nehmen und Ambivalenzen betonen, lassen sich doch zwei gegensätzliche Positionen identifizieren: So wird auf der einen Seite an dem Bild eines obrigkeitsstaatlichen, reformfeindlichen Kaiserreichs festgehalten, während die Gegenseite progressive Tendenzen betont. Tatsächlich hoben Historiker wie Ernst Deuerlein aus verfassungstheoretischer Sicht bereits vor Dekaden die eingeschränkten konstitutionellen Reformmöglichkeiten her-

62 Volker Berghahn: »The German Empire, 1871–1914: Reflections on the Direction of Recent Research«, in: Central European History 35 (2002), Nr. 1, S. 75–81; in Antwort: Margaret Lavinia Anderson: »Reply to Volker Berghahn«, in: Central European History 35 (2002), Nr. 1, S. 83–90. 63 Konrad H. Jarausch/Michael Geyer : Shattered Past: Reconstructing German Histories, Princeton 2003. Jarausch und Geyer vertreten die These, es handele sich beim »authoritarian Germany« um ein leeres, überholtes Klischee. Zu der Frage, warum es aus heuristischer Sicht dennoch Sinn macht, das Konzept des Obrigkeitsstaats beizubehalten, vgl. James Retallack: »Obrigkeitsstaat und politischer Massenmarkt«, in: Müller/Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 121–135. 64 Bibliographischer Überblick: Thomas Kühne: »Demokratisierung und Parlamentarisierung: Neue Forschungen zur politischen Entwicklungsfähigkeit Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg«, in: Geschichte und Gesellschaft 31 (2005), S. 293–316. 65 Definitionen nach Christoph Schönberger : »Die überholte Parlamentarisierung. Einflußgewinn und fehlende Herrschaftsfähigkeit des Reichstags im sich demokratisierenden Kaiserreich«, in: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 623–666. Ältere Studien gingen häufig von einer zwangsläufigen Parallelität dieser Prozesse aus und legten somit eine normative Modernisierungstheorie zugrunde. Zu der Böckenförde-Huber-Kontroverse, welche die gegenüberliegenden Pole dieser Annahme widerspiegelt, vgl. ebd., S. 650f.

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vor.66 Vor dem Hintergrund dieser Diagnose spürte die Forschung den Handlungsspielräumen politischer Akteure nach und begann, diese mit neuen kulturgeschichtlichen Zugängen zu untersuchen.67 Andreas Biefang beispielsweise erforschte politische Gebräuche und Zeremonien als Form der parlamentarischen Einflussnahme und konnte auf diese Weise einen Zuwachs an symbolischer und tatsächlicher Macht des Reichstages nachweisen.68 Aus einer anderen Blickrichtung überprüften Martin Kohlrausch und Frank Bösch die Charakterisierung des Kaiserreichs als Obrigkeitsstaat. Mit ihren Studien zu politischen Skandalen lenkten sie den Blick auf die Rolle, die Medien im Prozess der Parlamentarisierung und Demokratisierung im Kaiserreich spielten. So kam Bösch zu dem Ergebnis, dass es den Medien im Zusammenspiel mit dem Reichstag gelang, der Reichsleitung durch Skandale Grenzen aufzuzeigen und so die Stellung des Parlaments gegenüber der Exekutive zu stärken.69 Kohlrausch betont darüber hinaus die demokratisierenden Tendenzen politischer Skandale, indem er sie als Surrogat für die unzureichenden Handlungsmöglichkeiten des Parlaments einerseits und als Spiegel der politischen Wirkungsmächtigkeit der öffentlichen Meinung andererseits interpretiert.70 Alle drei exemplarisch genannten Studien zeigen zugleich aber auch die Grenzen parlamentarisierender und demokratisierender Tendenzen auf und verweisen zu Recht darauf, dass vor allem mit Blick auf die Frage nach dem Reformwillen politischer Akteure weitere Studien notwendig sind. Eine kritische Position vertraten jüngst vor allem Mark Hewitson und Christoph Schönberger, die sich explizit vor allem gegen die These der »stillen 66 Ernst Deuerlein: »Der Reichstag in Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit 1871– 1945«, in: Ders., Der Reichstag. Aufsätze, Protokolle und Darstellungen zur Geschichte der parlamentarischen Vertretung des deutschen Volkes 1871–1933, Bonn 1963, S. 13–32. Vgl. bes. ebd., S. 21f. 67 Prominente Beispiele, die hier nicht unerwähnt bleiben können, sind die Arbeiten von Brett Fairbairn und Margaret Lavinia Anderson, welche die demokratisierenden Effekte von Reichstagswahlen untersuchen. Besonders Anderson kann zeigen, dass die Wahlen zu einer gesellschaftlichen Adaption an rechtstaatliche Prinzipien führten und eine Möglichkeit darstellten, demokratische Verhaltensformen einzuüben – die aktiv genutzt wurde. Vgl. Brett Fairbairn: Democracy in the Undemocratic State: The German Reichstag Elections of 1898 and 1903, Toronto 1997; Margaret Lavinia Anderson: Practicing Democracy. Elections and Political Culture in Imperial Germany, Princeton 2000. 68 Andreas Biefang (Hrsg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich, 1871–1918, Düsseldorf 2008; Ders.: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im »System Bismarck« 1871–1890, Düsseldorf 2009. 69 Frank Bösch: »Grenzen des ›Obrigkeitsstaates‹. Medien, Politik und Skandale im Kaiserreich«, in: Müller/Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, S. 136–153. 70 Martin Kohlrausch: »Medienskandale und Monarchie. Die Entwicklung der Massenpresse und die ›große Politik‹ im Kaiserreich«, in: Jörg Requate (Hrsg.), Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München 2009, S. 116–132; vgl. auch Ders., Monarch im Skandal, S. 456f.

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Parlamentarisierung« (Rauh) aussprachen.71 Hewitson geht von der These aus, dass vor dem Ersten Weltkrieg zwar eine Krise des konstitutionellen Systems zu verzeichnen gewesen sei, dass über punktuelle Kritik hinaus das System als solches in der Wahrnehmung der Zeitgenossen jedoch als alternativlos gegolten habe. Einen Grund dafür sieht er vor allem in der als gescheitert wahrgenommenen Entwicklung der französischen und englischen Demokratien.72 Schönberger konzentriert sich in seiner Studie stärker auf innere Faktoren. Verknappt dargestellt geht er davon aus, dass die demokratischen Tendenzen des Kaiserreichs die Parlamentarisierung überholt und damit den Gegensatz von Reichsregierung und Parlament weiter verschärft hätten. Er attestiert dem Reichstag zwar das Verlangen nach einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle der monarchistischen Exekutive, spricht ihm aber wirkliches Bemühen um Parlamentarisierung ab.73 Das vorliegende Forschungsvorhaben möchte sich mit der Analyse der Korruptionskommunikation in der politischen Sphäre des Kaiserreichs zwischen diesen Polen verorten und versuchen, neue Erkenntnisse beizutragen. Zu diesem Zweck gilt es, verschiedene Thesen zu überprüfen, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden.

1.3.2 Korruption im Kaiserreich: Thesen Die Untersuchung geht von der grundlegenden Annahme aus, dass Korruptionskommunikation eine Spielart der politischen Kommunikation darstellt. Im Deutschen Kaiserreich, so die (1) These, konnten alle (partei-)politischen Akteure ungeachtet ihrer Stellung im politischen System an dieser Form der Kommunikation partizipieren. Diese Hypothese ist zu betonen, denn in der Vergangenheit haben Korruptionsdebatten und -vorwürfe vor allem als Instrument rechtsnationaler Akteure Beachtung erfahren, wie etwa in der Studie von Annika Klein zur Weimarer Republik und Jens Ivo Engels’ Deutung der politischen Situation in Spanien und Italien im 19./20. Jahrhundert.74 Die vorliegende Dissertation 71 Rauh ging u. a. davon aus, dass im Verlauf des Kaiserreichs eine Machtverlagerung von den Bundesstaaten auf die nationale Ebene und von der monarchistischen Reichsregierung auf das Parlament stattfand; vgl. Manfred Rauh: Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977. 72 Mark Hewitson: »The Wilhelmine Regime and the Problem of Reform. German Debates about Modern Nation-States«, in: Geoff Eley/James Retallack (Hrsg.), Wilhelminism and Its Legacies. German Modernities, Imperialism and the Meanings of Reform, 1890–1930, London/New York 2004, S. 73–90; Ders: »The Kaiserreich in Question: Constitutional Crisis in Germany before the First World War«, in: The Journal of Modern History 73 (2001), Nr. 4, S. 725–780. 73 Schönberger, Überholte Parlamentarisierung. 74 Klein, Korruption und Korruptionsskandale; Engels, Geschichte der Korruption, S. 337–345.

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untersucht Korruptionskommunikation daher nun explizit als demokratische Ausdrucksform politischen Partizipationsbegehrens und fragt nach deren Gestalt und Funktionsweisen. Mit Blick auf die Konstellationen zwischen Regierung und Parlament sowie den Parteien untereinander wird zudem analysiert, ob mittels Korruptionskommunikation Einfluss auf die deutschen Machtverhältnisse genommen werden konnte und ob bzw. wie sich die Partizipation der Akteure über die Jahre veränderte. So kann die These Schönbergers geprüft werden, der argumentiert, es habe keine gemeinsame Politik der Parteien gegenüber der Reichsregierung gegeben. Tatsächlich ist jedoch vorstellbar, dass gerade der Vorwurf der Korruption das Potenzial besaß, über Parteigrenzen hinaus gemeinschaftliche Forderungen zu inspirieren. Daher fragt die Arbeit, inwiefern Korruptionsdebatten die Kommunikation über politische Lager hinweg inspirierte oder ob diese – im Gegenteil – verstärkt zur Verfolgung parteipolitischer Ziele instrumentalisiert wurden. Grob verkürzt: Welche Interessen verfolgten politische Akteure mit der Korruptionskommunikation? Daran anschließend wird die (2) These geprüft, ob es politischen Akteuren mithilfe von Korruptionskommunikation gelang, ihre Handlungsoptionen zu erweitern – wie es Bösch für den Kornwalzerskandal andeutet – und sich dabei möglicherweise über konstitutionelle Bestimmungen hinwegzusetzen.75 Sofern die Quellenlage es im Einzelnen ermöglicht, soll zudem nach demokratisierenden Tendenzen der Korruptionsskandale gefragt werden: Inwieweit bildeten die Skandale neben den Interessen politischer Akteure auch die Interessen breiter Gesellschaftsschichten ab und inspirierten deren Partizipation? Kam es im Kontext von Skandalen beispielsweise zu Demonstrationen oder Kundgebungen? Thomas Lindenberger konnte im Kontext der Daily-Telegraph-Affäre beispielsweise Demonstrationen nachweisen und auch für Frankreich sind große Demonstrationen im Kontext politischer Skandale bekannt.76 Unklar ist, inwiefern auch Korruptionsskandale im Kaiserreich eine solche gesellschaftliche Partizipation inspirierten. An die Fragen nach Formen und Zielen der Korruptionskommunikation knüpft schließlich die (3) These an, die davon ausgeht, dass Korruptionsdebatten im Kaiserreich mit politischen Reformdebatten bzw. Debatten um Staatlichkeit verbunden wurden. Untersucht wird, ob im Kontext von Korruptionskritik politische Reformen verlangt oder gar die deutsche Staatsform selbst hinterfragt werden konnte. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei auch der Frage, ob die deutsche Eigenwahrnehmung von ausländischen Korruptionsdebatten geprägt war. Eine vergleichende Untersuchung zweier französischer Korruptionsde75 Vgl. Bösch, Grenzen des »Obrigkeitsstaates«, S. 152. 76 Thomas Lindenberger : Straßenpolitik. Zur Sozialgeschichte der Öffentlichen Ordnung in Berlin 1900 bis 1914, Bonn 1995, S. 324f.

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batten – des Skandals der Dekorationen (1887) und des Panamaskandals (1892/ 93) – in französischer und deutscher Rezeption wird hierauf Antworten liefern. Die Auswahl Frankreichs als Vergleichspartner erklärt sich dabei nicht zuletzt unter Bezug auf die These Werner Plumpes. So wird nicht nur die Betrachtung des ›Fremden‹ in den Blick genommen, sondern der konstitutionellen Monarchie auch ein republikanisch-demokratisches Staatsgefüge gegenübergestellt. Vergleiche dieser Art sind bisher nur in Ansätzen, in Detailstudien oder theoretischen Annäherungen durchgeführt worden.77 Der Vergleich zwischen dem Kaiserreich und der Dritten Republik kann daher auch Erkenntnisse über den Charakter der französischen Korruptionskommunikation beisteuern, wenngleich die französische Korruptionsforschung vor allem mit Blick auf die die Jahre nach 1870 bereits viele Studien vorlegen konnte.78 Abschließend kehrt die Arbeit zu der Beobachtung Engels’ zurück, Korruption sei gleichermaßen Spiegel und Agent von Modernisierungsprozessen gewesen. Diese dient als Ausgangspunkt, um die Korruptionsdebatten des Kaiserreichs auf Normenaushandlungsprozesse zu untersuchen.79 Das Forschungsvorhaben geht dabei (4) von der These aus, dass sich das gesellschaftliche Normengefüge, vor dessen Hintergrund korruptes Verhalten beschrieben wurde, im Verlauf des Kaiserreichs homogenisierte und dass Korruptionsdebatten nicht nur Resultat, sondern auch Ausgangspunkt von Normenaushandlungsdebatten waren. Die Arbeit wird untersuchen, wie sich das Verhältnis zu Korruption über die Jahre gestaltete und ob sich etwaige Entwicklungen empirisch belegen und nachverfolgen lassen. Nachdem nun der Rahmen des Untersuchungsvorhabens abgesteckt sowie Leitfragen und Thesen identifiziert worden sind, werden im Folgenden die Quellenbasis der Arbeit und der Gang der Untersuchung skizziert.

1.3.3 Das Quellenmaterial – Presse im Deutschen Kaiserreich In der Vergangenheit hat die Untersuchung von Korruption erschwert, dass ihr ein Element der Geheimhaltung innewohnt. Der Fokus auf Korruptionskom77 Vgl. Detailstudie: Anna Rothfuss/Christophe Portalez: »Panama and the Opposition: The Perception of French and German Socialists of the Panama Scandal«, in: Dard/Engels/ Fahrmeir/Monier, Corruption et Scandales, S. 175–193; Bösch, Öffentliche Geheimnisse, Kap. VII. Theoretisch: Jens Ivo Engels/Fr8d8ric Monier : »Pour une Histoire Compar8e des Faveurs et de la Corruption: France et Allemagne (XIXe–XXe SiHcles)«, in: Fr8d8ric Monier/Jens Ivo Engels/Natalie Petiteau (Hrsg.), La Politique Vue d’en Bas. Pratiques Priv8es et D8bats Publics 19e–20e siHcles, Paris 2011, S. 127–148. 78 Für eine detaillierte Bibliographie vgl. Kap. 4. 79 Wie Verweis 53.

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munikation und das bewusste Ausblenden von Fragen, welche auf die Funktionsweise und Existenz mikropolitischer Praktiken rekurrieren, mindern dieses Problem in erheblichem Maße. So hat sich die Zusammenstellung des Quellenkorpus vorrangig an zwei Faktoren orientiert: an den Erfordernissen, die sich aus den Thesen ergeben, einerseits sowie an den ›reellen Arbeitsbedingungen‹ andererseits, sprich der Disponibilität relevanten Materials und arbeitsökonomischen Überlegungen. Eine erste wichtige Einschränkung bezieht sich hierbei auf den räumlichen Fokus der Untersuchung, der mit wenigen Ausnahmen auf Berlin begrenzt ist. Wenngleich viele Studien besonders in den letzten Jahren die regionale Diversität und lokale Besonderheiten im Kaiserreich betont haben, beispielsweise mit Blick auf das Königreich Sachsen, so ist eine Darstellung unter Berücksichtigung der föderalen Vielfalt arbeitsökonomisch nicht zu bewerkstelligen.80 Eine Konzentration auf Berlin ist unter diesen Gesichtspunkten in mehrerlei Hinsicht naheliegend. Als Sitz der Reichsregierung, des deutschen Reichstags und des preußischen Abgeordnetenhauses stellte die Stadt das politische Zentrum des Kaiserreichs einerseits und des dominantesten Bundesstaates andererseits dar. Darüber hinaus waren die größten, reichsweit verfügbaren und rezipierten politischen Zeitungen mit wenigen Ausnahmen (wie beispielsweise der Frankfurter Zeitung) sämtlich in Berlin ansässig.81 Diese Melange trug maßgeblich dazu bei, dass auch die großen Korruptionsdebatten ihren Mittelpunkt in Berlin hatten. Schließlich illustriert ein Blick in die nicht in Berlin ansässige, regionale Presse die Vorbildfunktion der Hauptstadt: Die Korruptionsskandale der Metropole wurden auch in den Bundesstaaten rege debattiert, während lokale Korruptionsskandale nur selten auf der nationalen Ebene rezipiert wurden. Dieser Umstand ist auch heute noch zu beobachten. Berlin bleibt auch im 21. Jahrhundert der Mittelpunkt der deutschen Politik. So ist summa summarum festzuhalten, dass der Fokus auf Berlin zwar regionale Besonderheiten der Korruptionskommunikation aus dem Blick verliert, zugleich aber dennoch einen repräsentativen Anspruch verfolgen kann. Sodann bedingt die Definition des Untersuchungsgegenstandes – die Beschränkung der politischen Öffentlichkeit auf die drei Arenen des Parlaments, der Presse und des Gerichtssaals – die Auswahl der Quellen. An diesen Orten 80 Historiographische Hinweise u. a. bei Kühne: Das Deutsche Kaiserreich 1871–1918 und seine politische Kultur, S. 218. Vgl. beispielhaft die Forschungen von James Retallack: Sachsen in Deutschland. Politik, Kultur und Gesellschaft 1830–1918, Dresden 2000. 81 Vgl. u. a. Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1982; Jörg Requate: »Zwischen Profit und Politik. Deutsche Zeitungsverleger im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts«, in: Dieter Ziegler (Hrsg.), Großbürger und Unternehmer: die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 175f.; Frank Bösch: Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Fernsehen, Frankfurt a. M. 2011, S. 117.

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konnte und wurde öffentlich über Korruption kommuniziert und infolgedessen Quellenmaterial für die Analyse hinterlassen. Der Großteil des Quellenkorpus setzt sich aus politischen Tageszeitungen zusammen. Diese spielten im Kaiserreich eine bedeutende Rolle; sie waren zugleich Katalysatoren wie auch Kinder des politischen Massenmarktes.82 Mitte des 19. Jahrhunderts trugen verschiedene technologische Erfindungen dazu bei, den Druck von Zeitungen schneller und preiswerter zu gestalten. Etwa zeitgleich ermöglichte der Ausbau des Telegraphennetzwerkes den zeitnahen Austausch von Nachrichten nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern zunehmend auch europa- bzw. weltweit. Folgen dieser Entwicklungen waren ein sprunghaftes Anwachsen sowie eine Ausdifferenzierung des Pressemarktes. Die Anzahl verschiedener Zeitungen und Zeitungsgattungen, deren Auflagenstärke und Erscheinungsrhythmus erhöhten sich. Auf gesellschaftlicher Ebene trug zudem die steigende Alphabetisierung zu einer wachsenden Leserschaft bei. Kommunikationsverdichtung, die Kommerzialisierung der Presse, die Politisierung der Gesellschaft und die Professionalisierung der (Partei-)Politik: Diese Prozesse bedingten und beförderten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts wechselseitig. Darüber hinaus verfügte der deutsche Pressemarkt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern über einige Besonderheiten. So wurden mit dem Reichspressegesetz von 1874 und verschiedenen nachfolgenden Bestimmungen die Ausmaße politischer Zensur merkbar verringert und damit vor allem für kleinere und neue Tageszeitungen verbesserte Bedingungen geschaffen.83 Zugleich erlebten der politische Katholizismus und die Sozialdemokratie in der ersten Hälfte des Kaiserreichs Phasen extremer Kontrolle und Überwachung, die vor allem im Fall der Sozialdemokratie die Möglichkeiten der öffentlichen Kommunikation radikal einschränkten und fast ausschließlich auf das Auftreten 82 Das Konzept wurde von Hans Rosenberg bereits in den 1950er Jahren vorgestellt, vgl. Ders.: Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967, u. a. S. 18f. Vgl. auch Retallack, Obrigkeitsstaat und politischer Massenmarkt, S. 121–135. Für den folgenden Abschnitt vgl. Bösch, Mediengeschichte; Jörg Requate: Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München 2009; Andreas Schulz: »Der Aufstieg der ›vierten Gewalt‹. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation«, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), Nr. 1, S. 65–97; Rudolf Stöber : Deutsche Pressegeschiche. Einführung, Systematik, Glossar, Konstanz 2000; Heinz Pürer/Johannes Raabe: Presse in Deutschland, Konstanz3 2007. 83 Das Gesetz schaffte u. a. die Stempelsteuer und die Kautionspflicht ab. Dennoch war das Gesetz z. B. im Vergleich zum französischen Pressegesetz von 1881 relativ konservativ. Zu dem Gesetzestext vgl. Eberhard Naujoks: Die parlamentarische Entstehung des Reichspressegesetzes in der Bismarckzeit (1848/74), Düsseldorf 1975; R. Könighaus: Gesetz über die Presse vom 7. Mai 1874. Nach den amtlichen Motiven sowie den Kommissionsberichten und Verhandlungen des Reichstages, Berlin 1874. Zur Anwendung und den Folgen des Gesetzes vgl. Jörg Requate: Kritik, Propaganda, Information: Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1995, S. 254f.

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im Parlament reduzierten.84 Verschiedene Studien konnten zudem nachweisen, dass die Einstellung der politischen Exekutive und der mit Zeitungsangelegenheiten befassten Gerichte gegenüber der politischen Presse über die Jahre vergleichsweise konservativ blieb.85 Nichtsdestotrotz verfügte vor allem Berlin über einen regen politischen Pressemarkt. Ein besonderes Merkmal stellte die kontinuierliche Existenz einer parteilichen Presse dar, die Requate auf die lange Tradition politischer Zensur zurückführte.86 Gemeint sind (Tages-)Zeitungen, die sich einer politischen Partei zuordneten, auch wenn sie nicht fest mit der Parteiorganisation affiliiert waren, wie dies traditionell etwa bei sozialdemokratischen Zeitungen der Fall war.87 Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das Berliner Tageblatt, das sich klar zum politischen (Links-)Liberalismus bekannte und auch parteipolitische Interessen vertrat, dessen Redaktion im Zweifel aber die Unabhängigkeit von der Parteiorganisation betonte. In den USA nahm mit der stetigen Kommerzialisierung der Presse im Vergleich auch der Anspruch auf Unparteilichkeit ungleich stärker zu, wie Requate zeigen konnte.88 Eine weitere, relevante Besonderheit der deutschen Presse hob Frank Bösch hervor, indem er auf den hohen Interaktionsgrad der politischen Presse verwiesen hat. So bildeten Pressespiegel in vielen Zeitungen einen festen Bestandteil, der durch eine rege politische Kommentierung der gegnerischen Berichterstattung ergänzt wurde.89 Die vorliegende Arbeit hat die beständige und vergleichsweise ausgeprägte Parteilichkeit der politischen Tagespresse in Deutschland für die Analyse der Korruptionskommunikation nutzbar gemacht. Es wurde eine Auswahl politischer Tageszeitungen zusammengestellt, mit dem Ziel, die vier dominanten Richtungen des politischen Spektrums zwischen 1870 und 1914 abzubilden: Liberalismus, Konservatismus, Katholizismus und die Sozialdemokratie. Dabei 84 Vgl. u. a. Waltraud Sperlich: Journalist mit Mandat. Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und ihre Arbeit in der Parteipresse 1867 bis 1918, Düsseldorf 1983; Bösch, Mediengeschichte, S. 110. 85 Vgl. Jörg Requate: »Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft des 19. Jahrhunderts«, in: Ders., Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, S. 30–42. 86 Jörg Requate: »Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation«, in: Wolfgang Braungart/Ute Frevert (Hrsg.), Sprachen des Politischen. Medien und Medialität in der Geschichte, Göttingen 2004, S. 147f. Auch: Ders., Kennzeichen der deutschen Mediengesellschaft. Auf dem deutschen Pressemarkt existierte auch die sogenannte Generalanzeigerpresse, die den Anspruch verfolgte, neutral zu berichten. 87 Zu der organisierten Parteipresse bzw. der Wechselbeziehung zwischen Parteipresse und Parteiorganisation vgl. einführend Bösch, Mediengeschichte, S. 126f. 88 Ebd., S. 154. 89 Frank Bösch: »Volkstribune und Intellektuelle: W. T. Stead, Maximilian Harden und die Transformation des politischen Journalismus in Deutschland und Großbritannien«, in: Clemens Zimmermann (Hrsg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert, Ostfildern 2006, S. 99–120.

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wurde darauf geachtet, dass die ausgewählten Zeitungen entweder direkt mit einer Partei affiliiert waren oder sich öffentlich konstant zu einer der politischen Richtungen bekannten. Ein weiteres ausschlaggebendes Kriterium war das kontinuierliche Erscheinen über die Dauer des zeitlichen Untersuchungsrahmens hinweg. Eine Ausnahme wurde in diesem Punkt für die Sozialdemokratie gemacht, deren Parteipresse durch das Sozialistengesetz in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums stark eingeschränkt gewesen war. Die Auswahl der Blätter, die für jede der Fallstudien systematisch ausgewertet wurden, gestaltet sich somit wie folgt: Konservatismus: Ergänzend: Katholizismus: Ergänzend: Liberalismus: Ergänzend: Sozialdemokratie: Offiziös90 :

bis 1890: ab 1890:

Neue Preußische Zeitung (umgangssprachlich Kreuzzeitung) Post Germania Kölnische Volkszeitung Berliner Tageblatt Kölnische Zeitung Der Volksstaat Der Vorwärts Norddeutsche Allgemeine Zeitung/ Provincial Correspondez

Diese Auflistung wird durch weitere, für jede Einzelstudie spezifisch ausgewählte Zeitungen ergänzt, um die Dynamik der Korruptionskommunikation einerseits und die politischen Reaktionen andererseits möglichst vollständig abzubilden.91 Auf diese Weise werden auch politische Strömungen wie der Antisemitismus oder Gruppierungen wie der Bund deutscher Landwirte (BdL) berücksichtigt, die nicht durchweg eine wichtige Rolle spielten, in einzelnen Fallstudien aber prominent auftraten. Zusätzlich halfen Pressesammlungen, wie die des Reichslandbundarchives (ab der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums), einen möglichst vielfältigen Einblick in die heterogene Zeitungslandschaft zu erlan90 Die Charakterisierung als ›offiziös‹ beschreibt eine Zeitung, welche die Position der Regierung abbildete. Die Provinzial Correspondez tat dies ganz offiziell, die Norddeutsche Allgemeine Zeitung hingegen trat nach außen unabhängig auf. In beiden Fällen wussten die Zeitgenossen jedoch um die Verbindung zur Exekutive. Zur Pressepolitik der Reichsregierung unter Bismarck vgl. u. a. Hans-Wolfgang Wetzel: Presseinnenpolitik im Bismarckreich (1874–1890). Das Problem der Repression oppositioneller Zeitungen, Bern 1975; Irene Fischer-Frauendienst: Bismarcks Pressepolitik, Münster 1963. Zur Pressepolitik nachfolgender Reichskanzler vgl. das anschließende Kapitel. 91 Für einen Überblick über die Zeitungen des deutschen Kaiserreichs und deren Geschichte vgl. einführend Kurt Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Geschichte der deutschen Presse Teil II, Berlin 1966. Für die Analyse wichtige Besonderheiten sind in den einzelnen Kapiteln hervorgehoben.

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gen.92 Dennoch kann das Untersuchungssample nicht den Anspruch erheben, die politische Landschaft in all ihrer Diversität und mit all ihren Entwicklungen abzubilden, da die Parteienlandschaft des Kaiserreichs zwischen 1871 und 1914 eine ausgeprägte Phase der Entwicklung, Professionalisierung und Ausdifferenzierung durchlief und von viel Bewegung gekennzeichnet war. Es wäre beispielsweise allein aus arbeitsökonomischen Gründen unmöglich, alle Positionen des politischen Liberalismus dieser Zeit abzubilden.93 Das Forschungsvorhaben versucht darüber hinaus, den Zeitungen in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Motive, die eine Berichterstattung informierten, konnten vielfältiger Natur sein und über parteipolitisches Interesse hinausreichen. So spielten selbstverständlich auch ökonomische Gründe und das Selbstbild des Verfassers eine Rolle.94 In der Mehrzahl der Fälle weisen die Artikel die Autorenschaft jedoch nicht aus und eine systematische Recherche im Hinblick auf die jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umstände der Zeitungsredaktionen und ihrer Mitglieder wäre aufgrund des arbeitsökonomischen Aufwands wie auch der Verfügbarkeit notwendigen Quellenmaterials nicht zu bewältigen gewesen. Aus diesem Grund werden nur im relevanten Einzelfall die Entstehungsumstände eines Artikels genauer recherchiert. Über die politische Presseberichterstattung hinaus wird das Quellenkorpus um Parlaments- und Gerichtsprotokolle ergänzt. Diese Berichte waren fester Bestandteil der politischen Berichterstattung und damit der interessierten Öffentlichkeit leicht zugänglich. In der Regel kommentierten die Zeitungen die Parlamentssitzungen in ihrem Politteil (meist zwei bis drei Seiten umfassend), der sich am Anfang einer jeden Ausgabe befand.95 Die Protokolle wurden sodann vollständig oder in längeren Ausschnitten in ausgewiesenen Bereichen oder sogenannten Beiblättern bzw. Beilagen reproduziert. Etwaige Veränderungen oder Auslassungen wurden dabei – obwohl häufig vorhanden – normalerweise nicht angezeigt. Während großer Skandale kam es zudem vor, dass Parlamentsprotokolle oder Gerichtsprozesse gesammelt (und kommentiert) als Sonderausgaben veröffentlicht wurden. Die Analyse wird durch eine weitere Quellengattung abgerundet: Es handelt es sich um Quellen, die nur bestimmten Teilöffentlichkeiten oder begrenzten Personengruppen zugänglich waren und 92 Vgl. bsph. Bundesarchiv (im Folgenden: BUA) R8034-III/354 Reichslandbund Pressearchiv. 93 Vgl. bsph. (Auswahl): Dieter Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; Lothar Gall: Liberalismus, Königstein/Ts.3 1985; Ralph Raico: Die Partei der Freiheit: Studien zur Geschichte des deutschen Liberalismus Stuttgart 1999. 94 Vgl. hierzu bes.: Schulz, Aufstieg der »Vierten Gewalt«, u. a. S. 77. 95 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass das Layout einer Zeitung gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht mit dem heutigen Layout einer Zeitung zu vergleichen ist. Im Verlauf des Untersuchungsrahmens begannen viele der untersuchten Zeitungen, ihr Layout lesefreundlicher zu gestalten; so wurden bspw. wiederkehrende Seitenlayouts, feste thematische Kategorien, Über- und Unterüberschriften eingeführt.

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Einführung

damit einen Blick in das ›Innenleben‹ der Korruptionskommunikation eröffnen. Dabei handelt es sich beispielsweise um Regierungsakten, Briefwechsel oder Egodokumente beteiligter Akteure. Das Ziel ist, auf diese Weise mehr über die Motive und Interessen der Akteure zu erfahren.

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Von Debatte zu Debatte: Der Aufbau der Studie

Das Forschungsvorhaben folgt aus inhaltlichen Gründen einem chronologischen Aufbau: Verweise und Rekurse auf vergangene Debatten waren ein fester Bestandteil der deutschen Korruptionskommunikation, die je nach Kontext und Charakter der beteiligten Akteure unterschiedliche Formen annahmen oder Zwecke erfüllten. Eine fortlaufende Darstellung erlaubt es den LeserInnen, derartige Bezugnahmen ohne größere Kontextualisierungen zu verstehen, sodass auf wiederholte Erklärungen verzichtet werden kann.96 Wenn etwa im Kornwalzerskandal 1913 auf ›Panama‹ verwiesen wurde, so muss diese Referenz nicht detailliert erläutert werden, da der Panamaskandal bereits in einem vorangegangenen Kapitel Gegenstand der Analyse gewesen ist. Ähnliches gilt auch für die Akteure, die im Mittelpunkt dieser Untersuchung stehen, und die soziopolitischen Umstände, in denen sie sich bewegten: Sie waren Gegenstand konstanter Veränderungen, die sich in der Korruptionskommunikation widerspiegelten und diese zugleich prägten. Die chronologische Analyse erleichtert es, diesen Wandel nachzuverfolgen; sie reflektiert und kommentiert die Entwicklung der politischen Kommunikation und ihrer Akteure im Kaiserreich.

1.4.1 Die Struktur der Arbeit Orientiert man sich an den gängigen Periodisierungen des Kaiserreichs, so lässt sich die Arbeit grob in drei Abschnitte unterteilen: Die in Kap. 2 und 3 behandelten Korruptionsdebatten fanden während der umgangssprachlich oft als Bismarckzeit betitelten Phase zwischen 1871 und 1890 statt. Diese Periode war stark von der Figur des ›Eisernen Kanzlers‹ geprägt, der die Innen- und Außenpolitik des Deutschen Reiches maßgeblich bestimmte.97 So beeinflussten 96 Noch einmal gilt hervorzuheben, dass die vorliegende Arbeit nicht das Ziel verfolgt, den Korruptionskurs in seiner Gesamtheit darzustellen, sondern lediglich solche Bestandteile beleuchtet, die im Rahmen der ausgewählten Fallstudien relevant sind. 97 Noch zu Lebzeiten Bismarcks erreichte die Literatur, die sich mit seiner Person und seiner Politik beschäftigte, ein gewaltiges Ausmaß; vgl. Robert Gerwarth: Der Bismarck Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler, München 2007. Einen Überblick über die Historiographie und Forschungstendenzen der letzten Jahre sowie die erschienenen Bismarck-Biogra-

Von Debatte zu Debatte: Der Aufbau der Studie

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auch das Sozialistengesetz und der sogenannte Kulturkampf Themen und Gestalt der Korruptionskommunikation, wie im Folgenden gezeigt wird. In besonderem Maße prägten jedoch wirtschaftliche Faktoren und der beginnende politische Antisemitismus die Korruptionsdebatten dieser Periode. Das vierte Kapitel ist sodann in der direkten Übergangszeit nach Ende der Bismarck’schen Kanzlerschaft 1890 zu verorten. In der historischen Forschung wird diese Phase selten gesondert untersucht, stattdessen setzen viele Untersuchungen erst einige Jahre später ein. Das Kapitel wird anhand der Analyse der Korruptionskommunikation einige Besonderheiten dieser Zeit unter anderem mit Blick auf die Sozialdemokratie hervorheben. In der wilhelminischen Periode und der direkten Vorkriegszeit sind sodann Kapitel fünf und sechs zu verorten. Die Untersuchung der Korruptionsdebatten zeigt, wie sich die wandelnden Kräfteverhältnisse im Reichstag einerseits sowie die Veränderungen in der Machtkonstellation zwischen Kaiser, Regierung und Parlament andererseits in der Korruptionskommunikation widerspiegelten und zu deren Thema wurden. Somit wird die Untersuchung Besonderheiten in den jeweiligen Korruptionsdebatten reflektieren und versuchen, in der Analyse die Thesen dieser Arbeit zu prüfen. Darüber hinaus werden mithilfe individueller Fragestellungen Spezifika der einzelnen Debatten betont: Am Beispiel des Skandals um die preußischen Eisenbahnkonzessionen demonstriert das zweite Kapitel, wie der Vorwurf der Korruption in der politischen Auseinandersetzung als Waffe fungierte. Dabei wird untersucht, wie die Vorwürfe zwischen zwei unterschiedlichen Arenen – dem preußischen Abgeordnetenhaus und der Presse – transferierten, und es werden die Besonderheiten dieser beiden Kommunikationsorte dargestellt. Darüber hinaus dient der Skandal als Sonde, um das gesellschaftliche Normensystem zu Beginn des Kaiserreichs zu analysieren. Das dritte Kapitel widmet sich einer besonderen und vergleichsweise seltenen Form der Korruptionskommunikation: Es handelt sich hierbei um eine Korruptionsdebatte, die über Jahre fortbestand und dabei Flauten und Zuspitzungen erlebte. Im Mittelpunkt steht die Herausbildung eines Stereotyps, das Liberalismus, Judenfeindlichkeit und Korruption kausal verband und zu einer schlagkräftigen Waffe der politischen Kommunikation avancierte, die von unterschiedlichen Akteuren und auf verschiedenen Hierarchieebenen eingesetzt wurde. Das Kapitel endet mit einem kurzen Exkurs, der im Anschluss an die Untersuchungsergebnisse die Verbindung von Korruption und Antisemitismus in den 1890er Jahren beleuchtet. Das vierte Kapitel stellt in mehrerlei Hinsicht das Herzstück dieser Arbeit dar : Es steht nicht nur in deren Zentrum, sondern markiert auch in zeitlicher phien bietet Karina Urbach: »Between Saviour and Villain: 100 Years of Bismarck Biographies«, in: The Historical Journal 41 (1998), Nr. 4, S. 1141–1160.

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Hinsicht die Mitte des Kaiserreichs. Zudem nimmt es durch den punktuellen Vergleich mit der französischen Korruptionskommunikation eine Sonderstellung unter den Fallbeispielen der Arbeit ein: Der Skandal der Dekorationen und der Panamaskandal werden nacheinander aus französischer und deutscher Perspektive analysiert. Die Korruptionsdebatten werden dabei entlang der Forschungsthesen vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Normensystems und sodann als Instrumente der politischen Kommunikation untersucht. Dabei stehen sowohl die konkreten politischen Ziele der Akteure als auch die Bedeutung der Korruptionsdebatten für das Staatssystem im Fokus. Die deutsche Perspektive untersucht zudem, inwiefern die französischen Korruptionsdebatten den deutschen Akteuren als Spiegel dienten, um über das Kaiserreich zu reflektieren. Ein besonderer Fokus wird auf der Sozialdemokratie liegen, die nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes im September 1890 als neue selbstbewusste Akteurin auf die Bildfläche trat. Sie war in der öffentlichen Kommunikation nun nicht mehr auf die Auftritte vor dem Parlament beschränkt, sondern beteiligte sich zunehmend an medialen Debatten und Skandalen. An zwei konkreten Beispielen wird daher untersucht, ob die wachsende mediale Präsenz der Partei die deutsche Korruptionskommunikation veränderte und welche Methoden die Sozialdemokratie nutzte um (ausländische) Korruptionsdebatten zu instrumentalisieren. Mit einem Vergleich der Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger zwischen 1873 und 1906 beginnt das fünfte Kapitel dieser Arbeit. Die Gegenüberstellung bietet sich hier besonders an, da Parallelen zwischen den skandalierten Vergehen im Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen und dem sogenannten Tippelskirchskandal gezogen werden können. Am Beispiel von Matthias Erzberger werden sodann die Motive eines Skandalierers exemplarisch untersucht; der Skandal illustriert dabei beispielhaft den demokratischen Umgang mit dem Korruptionsvorwurf im Kaiserreich. Zu guter Letzt steht die Frage im Fokus, wie politische Akteure durch Korruptionskommunikation auf ihre konstitutionellen Handlungsspielräume einwirkten und welche Erfolge sie auf diese Weise erzielten. Im sechsten und abschließenden Kapitel der Arbeit werden drei Korruptionsdebatten unter einer übergeordneten Fragestellung analysiert: der Kornwalzerskandal, die Siemensskandalierung und der sogenannte Titel- und Ordensschacher. Sie alle wurden von dem prominenten Sozialdemokraten Karl Liebknecht angestoßen und sollen daher mit Blick auf die sozialdemokratischen Skandalierungsmethoden und deren (Miss-)Erfolg untersucht werden. Darüber hinaus stehen der Gerichtssaal als Ort der Korruptionskommunikation (Kornwalzerskandal), die Kontextgebundenheit von Normen (Siemensskandalierung) und die interne Korruptionskommunikation von Ministerial- und Regierungsbeamten (Titel- und Ordensschacher) im Fokus.

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Bevor die Analyse der einzelnen Korruptionsdebatten beginnt, müssen noch einige Worte zu der Methode des historischen Vergleichs gesagt werden, welche die Gegenüberstellung der deutschen und französischen Korruptionskommunikation im vierten Kapitel dieser Arbeit anleitet.

1.4.2 Der Vergleich In seinem vielzitierten Aufsatz »Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften« fasste Marc Bloch, der Pionier und Verfechter der historischen Komparatistik, den Zweck eines solchen Unternehmens pointiert zusammen. Die wichtigste Funktion eines Vergleichs, so Bloch, sei dessen Fähigkeit, das »Natürliche« in Frage zu stellen.98 Dieser These folgend, stellt der Vergleich mit der französischen Korruptionskommunikation im Rahmen dieser Arbeit ein wichtiges Korrektiv dar, an dem die Untersuchungsergebnisse geprüft werden können. Was aus deutscher Perspektive natürlich oder besonders erscheint, kann so in einem weiteren Kontext verortet werden. Dabei werden der Gegenüberstellung die Maßstäbe und Ziele eines individualisierenden, analytischen Vergleichs zugrunde gelegt, der spezifisch auf das Thema der Korruptionskommunikation beschränkt ist.99 Die Kategorisierung als individualisierend beschreibt das Ziel, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der deutschen und französischen Entwicklung hervorzuheben, ohne darüber hinaus universelle Ergebnisse zu formulieren. Analytisch meint dagegen den Versuch, alle Beobachtungen »aus ihren historischen Bedingungen und Voraussetzungen heraus [zu] erklären oder [zu] typisieren«100. Das Forschungsvorhaben verfolgt damit einen ›traditionellen‹ historischen Vergleich, der von neueren Ansätzen wie der transnationalen Geschichte, der Histoire crois8e oder dem Kulturtransfer bewusst Abstand nimmt. Die Gründe hierfür liegen sowohl in dem Quellenmaterial als auch in dem Untersuchungsgegenstand begründet. So deuten die Thesen der Untersuchung bereits an, dass die Nation und die nationale Identifikation einen wichtigen Referenzrahmen für die Akteure im Rahmen von Korruptionskommunikation darstellten. Den Ansatz einer wahrlich transnationalen Geschichte zu verfolgen, der die Kategorie der Nation wenn nicht aufhebt, so doch zumindest in Frage stellt, scheint in 98 Marc Bloch: »Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaft«, in: Matthias Middell/Steffen Sammler (Hrsg.), Alles Gewordene hat Geschichte. Die Schule der ANNALES in ihren Texten 1929–1992, Leipzig 1994, S. 149. 99 Für den folgenden Abschnitt vgl. Hartmut Kaelble: Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1999, S. 26 u. S. 49f. 100 Ebd., S. 49.

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diesem Kontext nicht naheliegend.101 Ansätze der Historire crois8e und des Kulturtransfers sind hingegen aufgrund der Quellenauswahl schwer zu realisieren, da diese beiden Konzepte idealerweise eine andere Quellengattung voraussetzen und eine solche Erweiterung aus arbeitsökonomischer Perspektive nicht möglich war.102 Zwar lässt sich aus den Quellen erschließen, in welchem Maße Deutschland und Frankreich die Korruptionskommunikation des jeweiligen Gegenübers rezipierten; und es lassen sich Vermutungen darüber anstellen, ob bestimmte Denkmuster oder Verhaltensweisen möglicherweise imitiert wurden. Doch um von einem Kulturtransfer sprechen zu können, fehlen Quellen, anhand derer sich die Übergangsprozesse von Sender- zu Empfängerkultur nachzeichnen ließen.103 Auf die Möglichkeiten einer am Kulturtransfer orientierten Analyse kann während der Untersuchung daher nur hingewiesen werden, um so neue Forschungsfelder zu markieren.

101 Vgl. Margrit Pernau: Transnationale Geschichte, Göttingen 2011, u. a. S. 18. 102 Vgl. Michael Werner/B8n8dicte Zimmermann: »Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire crois8e und die Herausforderung des Transnationalen«, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), Nr. 4, S. 607–636. Vgl. insbes. S. 617f. Dort werden die Ansprüche formuliert, welche die Histoir8e croisee an die Geschichtsschreibung stellt. 103 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: »Kulturtransfer-methodisches Modell und Anwendugsperspektiven«, in: Ingeborg Tömmel (Hrsg.), Europäische Integration als Prozess von Angleichung und Differenzierung, Opladen 2001, S. 211–224; Christiane Eisenberg: »Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik«, in: Hartmut Kaelble (Hrsg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003, S. 399–418.

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Der Fall der preußischen Eisenbahnkonzessionen 1873

»Sie haben sich zum Anwalt des sittlichen Bewußtseins Deutschlands gemacht, Sie haben die Luft gereinigt von den beginnenden Miasmen der Korruption, […] und haben hunderttausenden von ehrlichen Leuten wieder Mut gemacht, sich zu Ehrlichkeit zu bekennen und von den Spitzbuben sich zu scheiden.«104

Diese Zeilen richtete der Leipziger Vizebürgermeister Eduard Stephani im Februar 1873 an Eduard Lasker, Gründungsmitglied der Nationalliberalen Partei. In dem Anschreiben bedankte sich Stephani bei seinem Parteigenossen für dessen Kampf gegen Korruption, gegen den »Augiasstall der Eisenbahnkommissionen«, den Lasker im Namen der ehrlichen Bevölkerung geführt habe.105 Der Brief Stephanis ist nur ein Beispiel für die vielen und unterschiedlichen Reaktionen, die Lasker in der ersten Jahreshälfte 1873 provozierte: In einer aufsehenerregenden Serie von Redebeiträgen hatte der Abgeordnete vor dem preußischen Parlament Missstände im Handelsministerium und bei der Verwaltung der Eisenbahnkonzessionen enthüllt und damit den ersten Korruptionsskandal des Deutschen Kaiserreichs angestoßen.106 Auch der bekannte jüdische Eisenbahnunternehmer Bethel Henry Strousberg war von den Vorwürfen Laskers betroffen. In seinen Reden hatte der Politiker die Projekte des Geschäftsmannes wegen ihrer risikoreichen Finanzierungsmethode, des damals sogenannten »System Strousberg«, scharf kritisiert.107 Unter dem Eindruck des 104 Brief Eduard Stephani an Eduard Lasker vom 10. 2. 1873 abgedruckt in: Paul Wentzcke: Im Neuen Reich 1871–1890. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer, Bonn/ Leipzig 1926, S. 75. 105 Ebd. 106 Eduard Lasker war zwar Gründungsmitglied, jedoch nie Vorsitzender der Nationalliberalen Partei (Gründungsjahr 1867). Er gehörte aber zu den führenden Persönlichkeiten der Partei. 107 Lasker bezog sich auf das von Strousberg angewandte System der Generalentreprise; ausführlich erklärt bei Joachim Borchart: Der Europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg, München 1991, S. 50f., 142. Für Laskers Äußerungen über das System Strousberg vgl. 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 537 sowie 39. Sitzung des Preußi-

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Skandals beschleunigte sich der gesellschaftliche Abstieg Strousbergs, der mit schweren finanziellen Krisen in den 1860er Jahren begonnen hatte. Sein Prestige und öffentliches Ansehen konnte der Unternehmer in den folgenden Jahren nicht wiederherstellen. Noch über sein Lebensende hinaus wurde Strousberg mit den Korruptionsvorwürfen assoziiert.108 Ungeachtet der Auswirkungen, welche die Korruptionsvorwürfe auf die Biographie des Unternehmers entfalten sollten, standen während des Skandals 1873 zunächst andere Aspekte der Lasker’schen Vorwürfe im Zentrum des öffentlichen Interesses. Der nationalliberale Politiker kritisierte die Vergabepraktiken der preußischen Eisenbahnkonzessionen, die zugrundeliegende Gesetzeslage sowie die verantwortlichen und ausführenden Ministerialbeamten. Er erhob schwerwiegende Vorwürfe gegen hochrangige preußische Beamte, wie etwa Handelsminister Graf Heinrich Friedrich von Itzenplitz, und Mitglieder der konservativ-preußischen Aristokratie. Ihnen legte Lasker nicht nur mangelnde politische Weitsicht zur Last, sondern sprach in aller Direktheit von Amtsmissbrauch und Vetternwirtschaft.109 Im Angesicht dieser sensationellen Anschuldigungen trat die Kritik an Strousberg in den Hintergrund. Obgleich also Zeitgenossen, wie beispielsweise Stephani, den politischen Dimensionen der Ereignisse weitaus größere Beachtung schenkten, scheint der Skandal in der Retrospektive häufig mit Strousberg verbunden zu werden.110 Die geläufige Assoziation mit dem Eisenbahnunternehmer kann nicht zuletzt auf ein Ungleichgewicht in der Aufbereitung und Darstellung des Skandals in der Forschungsliteratur zurückgeführt werden. Zwar finden die Vorwürfe Laskers in unterschiedlichen Forschungsfeldern Erwähnung, wie beispielsweise in Studien zur Parteienentwicklung, der Antisemitismusforschung111 oder auch in ein-

108 109 110

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schen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 943f. Beispielhaft Gottfried Reitböck: »Des Eisenbahnkönigs Strousberg Gück und Ende«, in: Velhagen & Klasings Monatshefte 38 (1923/1924), S. 657–665. Vgl. bsph. Redebeitrag Lasker, 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 539. Als Zuspitzung dieser Beobachtung sei an dieser Stelle provokativ auf den WikipediaEintrag zu Eduard Lasker verwiesen. Darin liest man über die Ereignisse kurz und bündig: »In den Wirtschaftsskandal um den Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg und die Gründer der Eisenbahngesellschaft Fürst Putbus und Prinz Biron von Kurland waren auch mehrere Politiker verwickelt […]«; vgl. o. A., Eduard Lasker, in: Wikipedia, Die Freie Enzyklopädie, Bearbeitungsstand 10. November 2016. Einzusehen unter : https://de.wikipe dia.org/w/index.php?title=Eduard_Lasker& oldid=159547607 (5. 12. 2016.). Zur historischen Rezeption des Skandals vonseiten antisemitischer Agitatoren vgl. bsph. Otto Glagau: »Der Börsen und Gründungsschwindel in Berlin. 1. Zur Einleitung«, in: Gartenlaube 49 (1874); Rudolf Meyer : Politische Gründer und die Corruption in Deutschland, Leipzig 1877, Buch 2, S. 88f.; Herbert Michaelis: »Bethel Henry Strousberg«, in: Forschungen zur Judenfrage 8 (1936), S. 81–133. Für die aktuelle Rezeption aus Perspektive der historischen Antisemitismusforschung bsph. Ralf Roth: »Der Sturz des Eisenbahnkö-

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führenden Handbüchern, doch werden sie dort häufig nur oberflächlich behandelt.112 Eine detaillierte Analyse des Skandals, welche die politischen Facetten in den Vordergrund rückt, fehlt bislang.113 Dagegen wurde Strousbergs Involvierung im Kontext verschiedener Biographien wie auch der (populär-)wissenschaftlichen Forschung zu Eisenbahnbau und Infrastrukturgeschichte in Preußen recht prominent thematisiert.114 Diese Darstellungen haben die heute gängige Assoziation des Eisenbahnunternehmers mit dem Skandal sicherlich befördert. Dass die Untersuchung der Ereignisse aber gerade für die Korruptionsforschung durchaus interessante Ergebnisse verspricht, deutet ausgerechnet ein Zitat von Strousberg selbst an. In seinen Memoiren hob der Unternehmer die politische Dimension des Skandals hervor. Er unterstellte Lasker, mit seinen Vorwürfen vor allem politische Interessen verfolgt zu haben, denen er selbst nur kollateral zum Opfer gefallen sei.115 Der Unternehmer erklärte: »[…] Überall legt [Lasker] einen theoretischen und falsch verstandenen Maasstab[sic!] an und ist nur praktisch, wo Parteitaktik, Redaction[sic!] vom juristischen Standpunkt, oder die Nationalidee in Frage kommt.«116 Nicht nur beteuerte Strousberg seine

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nigs Bethel Henry Strousberg. Ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 86–111. Älter: Kurt Grundwald: »Europe’s Railways and Jewish Enterprise. German Jews as Pioneers of Railways Promotion«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 12 (1967), S. 163–209. Vgl. bsph. (Auswahl): Heinrich August Winkler : Der Lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 227f.; Frank Tipton: A History of Modern Germany since 1815, London/New York 2003, S. 136f.; Fritz Stern: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Reinbek bei Hamburg 1988; Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 426. Generell ist zu bemerken, dass die politischen Entwicklungen zwischen der Reichsgründung und der sogenannten Gründerkrise bzw. der zweiten Hälfte der 1870er Jahre vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erfahren. Unter anderer Schwerpunktsetzung sind Ausnahmen dazu u. a. Borchart, Der Europäische Eisenbahnkönig, S. 172f. und Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg, S. 97. Vgl. bsph. (Auswahl): Reitböck, Des Eisenbahnkönigs Strousberg Glück und Ende; Manfred Ohlsen: Der Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. Eine preußische Gründerkarriere, Berlin 1987; Joachim Borchart: »Zug um Zug. Aufstieg und Fall des genialen Unternehmers Bethel Henry Strousberg«, in: Kultur & Technik 1 (1992), S. 19–23; Dieter Ziegler : Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Die Eisenbahnpolitik der deutschen Staaten im Vergleich, Stuttgart 1996, S. 165f.; Populärwissenschaftlich: Rüdiger vom Bruch: »Das Finanzgenie und sein Industrieimperium. Der Fall des ›Eisenbahnkönigs‹ Bethel Henry Strousberg«, in: Uwe Schultz, Große Prozesse. Recht und Gerechtigkeit in der Geschichte, München 1996, S. 250–260. Bethel Henry Strousberg, Dr. Strousberg und sein Wirken von Ihm selbst geschildert, Berlin 1876, S. 97. Ebd., S. 100. Vollständige Auseinandersetzung mit den Vorwürfen Laskers: ebd., S. 96–101. Historische Schreibweisen werden im Folgenden nicht durch den Gebrauch von [sic!] markiert.

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Unschuld, er hinterfragte mit diesen Aussagen auch die Motive Laskers und betonte deren politischen Charakter. Interessanterweise sind die beiden Historiker Joachim Borchart und Ralf Roth angesichts dieses Umstands zu ähnlichen Schlussfolgerung wie der Unternehmer gekommen. Sie argumentierten, dass nicht die Kritik an dem jüdischen Unternehmer, sondern parteipolitische Konflikte die Korruptionsvorwürfe Laskers inspiriert hätten.117 Mittels Konzentration auf die politischen Komponenten des Skandals soll diese These im Folgenden geprüft werden. Die Ereignisse werden innerhalb der politischen Kommunikation verortet; es wird untersucht, wie politische Akteure die Vorwürfe bewerteten und wie sie sich in der öffentlichen Debatte positionierten. Zugrundeliegende Interessenkonflikte können auf diese Weise offengelegt und die Motive der partizipierenden Parteien erschlossen werden. Um ein möglichst vollständiges Bild der Korruptionsdebatte zu zeichnen, gilt es darüber hinaus, nach gesellschaftlichen Normenaushandlungsdebatten zu fragen, die sich an der normativen Bewertung der Vorgänge entzündeten. Das vorliegende Kapitel folgt dabei in besonderer Weise der Struktur des Skandals. So wird die Analyse Parlament und Presseberichterstattung als Schauplätze der Korruptionsdebatte separat voneinander untersuchen. Anders als bei der Mehrzahl der nachfolgenden Fälle spielte das Parlament beim Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen eine besonders große Rolle. Während in der Geschichte des Kaiserreichs die Medien – das heißt die politischen Tageszeitungen und Journale – zunehmend zu relevanten Arenen der Veröffentlichung und Verhandlung von Korruptionsvorwürfen avancierten, nahm der Skandal von 1873 seinen Ursprung im Preußischen Abgeordnetenhaus. Auch blieb das Parlament im weiteren Verlauf des Skandals durchgehend Hauptbühne der Ereignisse. Im ersten Teil der Analyse werden daher die Enthüllung der Vorwürfe im Abgeordnetenhaus und ihre Inhalte in Grundzügen dargestellt. Im Fokus der Untersuchung wird die unmittelbare Reaktion der Parlamentarier und der Regierungsvertreter stehen. Der zweite Teil beschäftigt sich sodann mit der Ausbreitung der Korruptionsdebatte über das Abgeordnetenhaus hinweg und der Rezeption der Vorwürfe in der politischen Presse. Die Tageszeitungen werden als Forum außerparlamentarischer Aktion und verlängerter Arm parteipolitischer Interessen analysiert. Diese Trennung hilft, die Dynamiken der Korruptionsdebatte und das Zusammenspiel der einzelnen Arenen zu verdeutlichen. Abschließend werden Normenkonflikte als spezifische Facette der Korruptionsdebatte dargestellt und ihre Relationen zu und Auswirkungen auf das Normensystem des Kaiserreichs untersucht. Um eine Grundlage für die weiteren Ausführungen zu schaffen, beginnt die Untersuchung mit einer knappen Darstellung der Entwicklung des Eisenbahnwesens in Preußen und der 117 Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg, S. 172ff.

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subsequenten staatlichen Regulierung – sie waren Gegenstand der politischen Kommunikation im Frühjahr 1873 und bildeten die Basis, auf der Lasker seine Korruptionsvorwürfe erhob.

2.1

Kalamität und Korruption: Die Vorwürfe Eduard Laskers im preußischen Abgeordnetenhaus

Das 19. Jahrhundert war das »Jahrhundert der Eisenbahnen«, wie Ralf Roth es im Titel seiner Habilitationsschrift pointiert formuliert.118 Diese Beobachtung trifft selbstverständlich auch auf Preußen zu, wo sich der Eisenbahnbau seit Beginn der Industriellen Revolution zügig entwickelte.119 Mitte der 1840er Jahre befand sich etwa die Hälfte des gesamtdeutschen Streckennetzes auf preußischem Gebiet.120 Erbaut wurden die Bahnen einerseits von privaten Unternehmen, Gesellschaften und regionalen Komitees, die Konzessionen beim preußischen Handelsministerium erwerben konnten. Andererseits erschloss der preußische Staat auch eigene Strecken oder unterstützte ausgewählte Unternehmungen finanziell. So entfielen um 1864 etwa 48 % des preußischen Bahnnetzes auf Strecken, die im Auftrag des Staats erbaut oder betrieben wurden. Private und staatliche Eisenbahnbetriebe operierten auf diese Weise neben- und in Konkurrenz zueinander.121 Die Haltung des preußischen Staats zu diesem dualen System änderte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts wiederholt. Ob zu einem spezifischen Zeitpunkt die Verstaatlichung oder aber die Privatisierung des Schienennetzes gefördert wurde, war von den wechselnden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der Politik des amtierenden Handelsministeriums abhängig. Auch Itzenplitz begann nach seinem Einzug ins Handelsministerium 1862, die preußische Eisenbahnpolitik zu modifizieren. Damit prägte er die Rahmenbedingungen, welche die Korruptionsdebatte 1873 maßgeblich bedingten und gestalteten. Während sein Vorgänger, Heinrich von Holtzbrinck, für die Verstaatlichung des Eisenbahnnetzes eingetreten war, begann Itzenplitz dessen Privatisierung zu fördern. Er vergab neue Konzessionen vorrangig an Unternehmer und verkaufte 118 Ralf Roth: Das Jahrhundert der Eisenbahn. Die Herrschaft über Raum und Zeit 1800–1914, Ostfildern 2005. 119 Einführende Literatur (Auswahl): Deutschlandweit: ebd.; Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung. Zur Entwicklung in Preußen im Speziellen: Wolfgang Klee: Preußische Eisenbahngeschichte, Stuttgart 1982. 120 Vgl. Lothar Gall: »Eisenbahn in Deutschland: Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg«, in: Ders./Manfred Pohl (Hrsg.), Die Eisenbahn in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999, S. 29. 121 Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 108.

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staatliche Strecken an private Investoren. Diese Politik hatte vor allem für die ländlichen Regionen Ostpreußens weitreichende Bedeutung. Bereits seit dem Vormärz konkurrierten ostpreußische Adelseliten mit Vertretern des rheinischen-westfälischen Wirtschaftsbürgertums um die staatliche Förderung von Eisenbahnprojekten.122 Die rheinischen Vertreter, unter ihnen erfolgreiche Unternehmer wie Ludolf Camphausen und David Hansemann, wollten mit dem Ausbau des Schienennetzes das Ruhrgebiet als Industriestandort stärken. Da Strecken dort Rentabilität versprachen, wurden sie häufig von privaten Unternehmern erbaut, sodass das Rheinland von der staatlichen Förderung privater Projekte profitierte. Die kleinen Bahnen, die in den ländlichen Regionen Ostpreußens nachgefragt wurden, waren hingegen meist nur beschränkt rentabel. Dennoch waren sie für einzelne Regionen existentiell, denn sie stellten eine Anbindung an das landes- und reichsweite Streckennetz, an soziale und Versorgungsnetzwerke dar.123 Die Privatisierungspolitik Itzenplitz’ in den 1860er Jahren rief daher gerade in Ostpreußen und speziell den Kommunen, die sich erfolglos um Konzessionen bewarben, wachsenden Unmut hervor. Dieser schwelende Interessenkonflikt prägte die Haushaltsdebatte um den alljährlichen Eisenbahnetat, die Lasker im Januar 1873 als Bühne für seine Korruptionsvorwürfe nutzte. Itzenplitz hatte die Kammer um die Zustimmung zu einer 120 Millionen Taler umfassenden Anleihe gebeten, die – entgegen vergangener Privatisierungstendenzen – dem Ausbau und der Erweiterung des Staatseisenbahnnetzes dienen sollte. Der Antrag rief kontroverse Reaktionen hervor; Fürsprecher einer Verstaatlichung standen Befürwortern eines privaten oder gemischten Eisenbahnnetzes gegenüber. Die Haltung der Abgeordneten war dabei von vielen Faktoren abhängig. Sie vertraten ihre Partei, im gleichen Maße aber auch die Belange ihres Wahlkreises und unter Umständen auch ihre privaten Interessen als Unternehmer oder Aktienbesitzer. Die Enthüllungen Laskers berührten den Kern dieser Interessenkonflikte, sie streiften alle Interessenlagen und erhielten daher die Aufmerksamkeit des Parlaments. So hatte der nationalliberale Politiker die Möglichkeit, polarisierend in die Haushaltsdebatte einzugreifen. Am 14. Januar 1873 ergriff Lasker vor dem Abgeordnetenhaus das Wort. Er eröffnete seinen Redebeitrag mit der Beobachtung, Informationen über das Eisenbahnwesen seien bislang einer kleinen Gruppe Eingeweihter vorbehalten gewesen. Vor der anstehenden Abstimmung sei es jedoch notwendig, die Abgeordneten und das Handelsministerium über die Beschwerden zu informieren, 122 Für den folgenden Abschnitt vgl. ebd., S. 71–89, 108–130. Für eine Neuinterpretation der Beziehung zwischen privaten Eisenbahnverwaltungen und Unternehmern und dem preußischen Staat vgl. James M. Brophy : Capitalism, Politics, and Railroads in Prussia, 1830–1870, Columbus 1998. 123 Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 76, 109, 114.

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die im Land gegen das preußische Eisenbahnsystem erhoben würden. An erster Stelle handele es sich hierbei um Klagen bezüglich der Vergabemodalitäten der Eisenbahnkonzessionen und dem dafür verantwortlichen Handelsministerium.124 Lasker führte aus: »Vor Allem aber hauptsächlich, und in erster Linie verlange ich von dem HandelsMinisterium, und das Gegentheil mach ich ihm zum Vorwurf, daß es eine so bedeutende Macht, wie sie in seine Hände gelegt ist, Koncessionen für Eisenbahnbauten zu ertheilen, dadurch den Wohlstand ganzer Gegenden entweder zu erschließen, oder unerschlossen zu lassen, dadurch Einzelnen Vortheile zuzuwenden, anders handhabte, als es gegenwärtig geschieht. Mit dieser weittragenden und verantwortlichen Macht darf nicht nach Gunst und Ungunst, nicht nach hinfälligen Wechsel der Systeme, nicht ungleichmäßig verfahren werden. […] es darf vor Allem nicht die Koncession an einzelne Personen ertheilt werden, bei denen sich der Verdacht regt, daß sie die Stellung ihres Amtes oder ihrer sonstige gesellschaftliche Stellung zu geschäftsmäßigen Vortheilen ausnutzen. Dies schädigt nicht nur die wirthschaftlichen Interessen, sondern auch das Ansehen des Staates.«125

Indem Lasker die Bedeutung der Eisenbahn als Element der modernen Infrastruktur für Preußen betonte, unterstrich er die Signifikanz seiner Vorwürfe. Er hob hervor, dass es sich bei den Vorwürfen nicht bloß um Vorgänge mit begrenzter Reichweite handelte. Die Verfehlungen, die er dem Handelsministerium zur Last legte, hätten die strukturelle Entwicklung Preußens nachhaltig geschädigt und damit wirtschaftliche und soziale Nachteile für Staat und die Bevölkerung nach sich gezogen.126 Dem amtierenden Handelsminister unterstelle Lasker, sein Amt in verantwortungsloser Weise ausgeübt und persönliche Interessen bei der Vergabe der Eisenbahnkonzessionen berücksichtigt zu haben. Unter Itzenplitz’ Ägide seien vielen Kommunen und Provinzen Konzessionen aus unersichtlichen Gründen verwehrt worden. Zugleich habe das Handelsministerium jedoch ausgewählte Unternehmer wie etwa Strousberg wiederholt mit Konzessionen bedacht. Aus diesem Grund machte Lasker Itzenplitz auch für die »Kalamität Strousberg« verantwortlich.127 Trotz der Warnung der Preußischen Bank vor der risikoreichen Finanzierungsmethode des Unternehmers habe Strousberg besonders lohnenswerte Konzessionen erhalten.128 Tatsächlich hät124 Redebeitrag Lasker, 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 537. 125 Ebd., S. 539. 126 Vgl bsph. 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 934–951. 127 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 537f. 128 Ebd., S. 537. Von verschiedenen Seiten war bereits vor Laskers Reden wiederholt öffentlich Kritik an Strousberg geübt worden. Vgl. bsph. Friedrich vom Rhein: Enthüllungen über Dr. Strousberg und sein Rumänisches Eisenbahn-Unternehmen, Berlin3 1871. Vom Rheins

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ten dessen finanzielle Wagnisse jedoch mehrere lukrative Strecken ruiniert, sodass die Inventionen vieler Bürger unrettbar verloren seien. Nicht zuletzt habe der Unternehmer auch den preußischen Staat um Teile der Steuereinnahmen geprellt.129 Lasker erklärte, dass das »Günstlingswesen« des Handelsministeriums mit den Misserfolgen Strousbergs jedoch kein Ende genommen habe. Verändert habe sich allein der Kreis der Nutznießer, zu dem der Abgeordnete nun die preußischen Adeligen Prinz Biron von Kurland und Fürst von Putbus, beide Mitglieder im preußischen Herrenhaus, sowie den Ersten Vortragenden Rat im preußischen Staatsministerium, Hermann Wagener, zählte.130 Der Verdacht liege nahe, so die Argumentation Laskers, dass diese weithin bekannten Herren ihre soziale Stellung bzw. ihr politisches Amt in unlauterer Weise genutzt hätten, um Konzessionen zu erhalten. Auch könne ihnen der unerlaubte Handel mit Konzessionen nachgewiesen werden.131 Die allgemeine Situation im preußischen Handelsministerium – so das Fazit Laskers – sei untragbar, sie berge Nachteile für das Land und sei eine Gefahr für das Ansehen des preußischen Staates im Ausland.132 Bereits die erste Rede Laskers erregte großes Aufsehen im preußischen Parlament. Während der darauffolgenden Sitzungstage gelang es dem nationalliberalen Abgeordneten, das Interesse weiter zu steigern, indem er mittels Wortmeldungen die Debatte der Parlamentarier kommentierte. In einer zweiten ausführlichen Rede am 7. Februar 1873 spitzte Lasker die Debatte schließlich nochmals zu.133 Der Skandal erreichte einen vorläufigen Höhepunkt: Nicht nur wiederholte er seine Anklage und ergänzte neue Details, er adressierte nun auch seine Parlamentskollegen direkt. Lasker betonte, dass es ihm um die unparteiische Aufklärung der Vorgänge im Landesinteresse gehe. Die Verantwortung, die ihm sein Mandat als Volksvertreter auferlege, wolle er in Zukunft mit den Ab-

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Darstellung wurde unter verschiedenen Titeln mindestens viermal beim Verlag Eugen Grosser aufgelegt. Im Gegensatz dazu erschien parallel noch immer sehr viel lobende Literatur über Strousberg, vgl. bsph. Ernst Korfi: Dr. Bethel Henry Strousberg. Biographische Karakteristik, Berlin 1870. Ausführliche Kritik Laskers an Strousberg: 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 943f. 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 537. Ebd., S. 537f.; 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 933f. Erörterungen zu Wagener ziehen sich sukzessive durch Laskers Rede. 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 537–539. Nach Aussagen der Kreuzzeitung dauerte die Rede Laskers etwa zweieinhalb Stunden, vgl. Neue Preußische Zeitung, Landtagsnachrichten, 9. 2. 1873.

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geordneten und der Regierung teilen – mit dieser Begründung beantragte Lasker die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission.134 Mit diesem Coup rief der nationalliberale Politiker sowohl im preußischen Abgeordnetenhaus wie auch in der politischen Öffentlichkeit große Aufregung hervor.135 Tatsächlich waren seine Vorwürfe nicht gänzlich neu. Bereits in den 1840er Jahren hatte beispielsweise Ludolf Camphausen beklagt, dass im preußischen Handelsministeriums Entscheidungen bezüglich der Eisenbahnen nicht »nach Gründen der Billigkeit, sondern nach Gunst und Fürsprache getroffen« würden.136 Neu war jedoch die Direktheit von Laskers Vorwürfen, mit denen er prominente Mitglieder der politischen Elite Preußens belastete, und die Detailfülle, mit der er seine Anklage belegte. Darüber hinaus war Lasker der erste, der die Missstände auf einer derart exponierten Bühne thematisierte. Seit 1851 garantierte die preußische Verfassung der Presse die Freiheit, über die Verhandlungen des Parlaments zu berichten.137 Bei Ausbruch des Skandals 1873 waren die Parlamentsdebatten bereits ein fester Bestandteil der politischen Presseberichterstattung. Lasker konnte daher davon ausgehen, dass seine Anklage von den Tageszeitungen zumindest im Kontext der Parlamentsberichterstattung wiedergegeben und damit der politischen Öffentlichkeit Preußens zugänglich gemacht werden würde. Sein Antrag auf Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission setzte das Abgeordnetenhaus somit öffentlich unter Druck, sich zu den Vorwürfen zu positionieren. Vor diesem Hintergrund ist das große Interesse der politischen Sphäre zu verstehen, das sogleich in eine lebhafte Diskussion mündete. Theoretisch lassen sich dabei verschiedene Facetten der Parlamentsdebatte unterscheiden. So fand (1) eine Auseinandersetzung mit den Vorwürfen im Kontext der Budgetverhandlungen statt. Darüber hinaus stand (2) eine kleine Gruppe von Akteuren im Zentrum der Debatte, deren Interessen und Handlungen den Verlauf des 134 Redebeitrag Eduard Lasker, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 950. 135 In den Zeitungen wurde mehrfach über den großen öffentlichen Andrang auf die Tribüne des Abgeordnetenhauses und das öffentliche Interesse berichtet, vgl. bsph. Kölnische Zeitung, 16. 2. 1873, Bl. 2. Auch: Richard W. Dill: Der Parlamentarier Eduard Lasker und die parlamentarische Stilentwicklung der Jahre 1867–1884, Erlangen/Nürnberg 1956 (Dissertation), S. 101. 136 Fritz Schliebusch, Die deutsche Eisenbahn im Spiegel der Zeit. Vornehmlich der Literatur und Presse. Aus Anlass der internationalen Presseausstellung in Köln 1928, Köln 1928, S. 90. U. a. auch bei Roth, Das Jahrhundert der Eisenbahn, S. 84. 137 Vgl. ergänzend Biefang, Andreas: Die andere Seite der Macht, S. 66–70, 76–78. Auf Reichsebene wurde das Recht der freien Parlamentsberichterstattung erst 1867 in die Verfassung des Norddeutschen Bundes aufgenommen. Es blieb sodann während des gesamten Kaiserreiches bestehen. Die Stenographischen Berichte – in den Worten Andreas Biefangs der »amtliche Ausdruck der parlamentarischen Öffentlichkeit« – waren der Öffentlichkeit zugänglich und konnten für wenige Pfennige erworben werden.

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Skandals maßgeblich beeinflussten. Schließlich spielte (3) die Frage nach der Untersuchungskommission eine prominente Rolle in der Debatte. In den einzelnen Redebeiträgen, welche die Parlamentsdebatte konstituierten, vermischten und überlagerten sich diese unterschiedlichen Fokusse zwar, doch lässt sich zeigen, dass unterschiedliche Argumentationen von unterschiedlichen Motiven und politischen Rahmenbedingungen beeinflusst waren. Am Ende des folgenden Abschnitts wird (4) die Entwicklung der Korruptionsdebatte aus der Perspektive Laskers analysiert und nach seinen Motiven gefragt. So lassen sich abschließend die unterschiedlichen Facetten wieder in ihrer Gesamtheit in den Blick nehmen. Untersucht man (1) den Zusammenhang zwischen Budgetdebatte und Korruptionsvorwürfen, so ist festzuhalten, dass die Vorwürfe ganz allgemein neue Anknüpfungspunkte und Argumente lieferten, um inhaltliche Positionen im Rahmen der Debatte zu stärken. Interessanterweise gelang es dabei den Vertretern unterschiedlichster Standpunkte – so etwa sowohl den Unterstützern eines staatlichen als auch jenen eines privatwirtschaftlichen Eisenbahnsystems –, die Vorwürfe in ihrem Interesse zu deuten. Vertreter des Zentrums beispielsweise sprachen sich gegen die Verstaatlichung des Eisenbahnsystems aus. Der katholische Abgeordnete August Reichensperger erklärte vor dem Parlament, die Verstaatlichung der Bahnen setzte die Beamten einer erhöhten Bestechungsgefahr aus. Korruption werde auf diese Weise nicht bekämpft, sondern lediglich in das »Herz des Staats-Organismus« verschoben.138 Aus gegensätzlicher Perspektive argumentierten hingegen Abgeordnete der Deutschen Fortschrittspartei. Erst das private Eisenbahnkonzessionswesen führe dazu, so ihre These, dass Staatsbeamte zur Zielscheibe von Bestechung würden. Versuchen unerlaubter Einflussnahme könne man nur durch eine Verstaatlichung begegnen.139 Die Abgeordneten nutzten die Korruptionsvorwürfe auf diese Weise als Argument in der Diskussion über die Eisenbahnanleihen, darüber hinaus aber auch für eine grundlegende Kritik an der preußischen Verwaltung. Der konservative Abgeordnete Albert von Wedell-Vehlingsdorf etwa interpretierte die Korruptionserscheinungen als Resultat eines ungerechten, aus den Fugen geratenen Eisenbahn- und Wirtschaftssystems. Die Missstände, so seine These, seien die Konsequenzen einer liberalen, freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die 138 Vgl bsph. Redebeitrag August Reichensperger, 44. Sitzung des Preußischen Landtags am 15. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1054f., http:// www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn :nbn:de :bvb :12-bsb11033733-1 (25. 1. 2015) oder Redebeitrag Reichensperger, 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 543f. 139 Redebeitrag Wilhelm Loewe, 44. Sitzung des Preußischen Landtags am 15. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1055f., http://www.mdz-nbn-resol ving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033733-1 (25. 1. 2015).

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nur durch legislative Änderungen zu bekämpfen sei.140 Ungeachtet ihrer inhaltlichen Bewertung erschienen die Reformforderungen des konservativen Abgeordneten vor dem Hintergrund der Korruptionsvorwürfe wie selbstverständlich legitimiert und in ihrer Dringlichkeit bestätigt. Darüber hinaus berührten die Vorwürfe bisweilen auch ganz unmittelbar die Interessensphäre einzelner Abgeordneter. So lässt sich beobachten, dass die jeweiligen Positionen, welche die Parlamentarier in der Budgetdebatte vertraten, vielfach an die spezifischen Interessen ihrer Wahlkreise gekoppelt waren. Exemplarisch hierfür steht der freikonservative Abgeordnete Franz Stuschke, Bürgermeister der Stadt Glatz in der Provinz Schlesien. Stuschke befürwortete die Anleihe Itzenplitz’ prinzipiell, doch kritisierte er, »daß das Füllhorn des Ministers lediglich und allein nur auf die westliche Seite des Reiches ausgeschüttet werden soll, während die östliche Seite des Staates, wo großer Mangel an Bahnen ist, vollständig leer ausgeht.«141 Stuschke forderte Itzenplitz energisch zur Revision seiner Pläne auf und knüpfte – wie viele andere – seine Zustimmung zu dem Budget an individuelle Forderungen; in diesem Fall an den Anschluss seines Wahlkreises an die Schlesische Gebirgsbahn.142 Laskers Ausführungen boten damit eine Erklärung für die – nicht nur von Stuschke – als einseitig empfundene Eisenbahnpolitik, vor deren Hintergrund die Forderungen des Abgeordneten mehr als nur begründet erschienen. Die Korruptionsvorwürfe stellten aber nicht nur eine Chance für die Parlamentarier dar, individuelle Interessen aufzuwerten. Lasker Enthüllungen initiierten auch eine Auseinandersetzung mit den persönlichen Interessen einzelner Abgeordneter. So wurde im Verlauf des Skandals und vor allem in dessen Nachgang wiederholt über Rudolf von Bennigsen spekuliert. Man mutmaßte, der prominente Mitbegründer der Nationalliberalen Partei habe sich für eine Änderung der Route der Hannover-Altenbeck-Bahn eingesetzt, um auf diese Weise die optimale Anbindung seiner Zuckerfabrik zu gewährleisten.143 Die angeführten Beispiele zeigen, dass die Korruptionsvorwürfe im Kontext der Haushaltsdebatte eine 140 Redebeitrag Albert von Wedell-Vehlingdorf, 44. Sitzung des Preußischen Landtags am 15. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1051f., http://www. mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033733-1 (25. 1. 2015); Redebeitrag Wilhelm von Rauchhaupt (ebenfalls konservativ), ebd., S. 1058f. Die Konservativen Abgeordneten waren gleichsam aber auch die Ersten, die den Vorstoß der Regierung, eine königliche Untersuchungskommission zu etablieren, begrüßten. 141 Redebeitrag Fritz Stuschke, 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 534f. Ähnlich: Johann Glaser (Konservativ), ebd., S. 533. 142 Eintrag zu Fritz Stuschke in: Bernhard Mann: Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1867–1918, Düsseldorf 1988. 143 Für eine Zusammenfassung der Vorwürfe und einzelne Verweise vgl. bsph. Otto von DiestDaber : Der sittliche Boden im Staatsleben. Eine Auseinandersetzung mit dem Abgeordneten Lasker, Berlin 1876 (Heft 1), S. 33.

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Möglichkeit boten, eigene Interessen zu artikulieren sowie über die Interessen anderer zu spekulieren und diese zu kritisieren. Die Abgeordneten konnte dabei stets davon ausgehen, dass die Verbindung mit den Korruptionsvorwürfen das öffentliche Interesse steigerte und die Sichtbarkeit der Debatte weit über das Parlament hinaus erhöhte. Die Enthüllungen Laskers hatten (2) über die Haushaltsdebatte hinaus einen Effekt auf die politische Kommunikation im preußischen Abgeordnetenhaus. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen im Besonderen drei Personen: Der Erste Vortragende Rat im Preußischen Staatsministerium Hermann Wagener, der preußische Handelsminister Itzenplitz – gegen beide hatte Lasker in seinen Reden Vorwürfe erhoben – sowie der preußische Ministerpräsident Albrecht von Roon, dem Wagener unterstellt war und der daher zwangsläufig in die Vorgänge involviert wurde. Mit Blick auf diese Akteure lässt sich nicht nur die Entwicklung des Skandals beispielhaft nachverfolgen. Ihr Verhalten im Rahmen der Korruptionsdebatte sowie die Reaktionen der Legislative und Exekutive auf ihr Involvement zeigen beispielhaft auch, dass sich die Politiker in der Kammer als Vertreter verschiedener Parteien und unterschiedlicher Politikverständnisse gegenüberstanden. So spielten nicht zuletzt auch (partei-)politische Überlegungen und persönliche Animositäten eine Rolle in der Korruptionsdebatte. Die Rezeption der Vorwürfe gegen Hermann Wagener veranschaulicht diesen Umstand. In seiner zweiten Rede hatte Lasker ausführlich Kritik an dem Beamten geübt und die Vorwürfe, die er erstmals im Januar erhoben hatte, detailreich erläutert.144 Die Anklage erregte prompt das Interesse des Abgeordnetenhauses, denn Wagener war in der politischen Öffentlichkeit über Preußen hinaus bekannt: Er war Mitbegründer der konservativen Kreuzzeitung und ein führender Vertreter des preußischen Sozialkonservatismus.145 In dieser Funktion hatte er in den 1860er Jahren den preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Bismarck beraten. Bismarcks Zuspruch verdankte Wagener auch seine Position im preußischen Staatsministerium, die er trotz Missfallen vonseiten Kaiser

144 Redebeitrag Lasker, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 936f. 145 Für Wageners Werdegang vgl. Wolfgang Saile: Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus, Tübingen 1958, bes. S. 116f.; Henning Albrecht: »Die ›Nebensonne‹ in der Pflicht: Hermann Wagener als Mitarbeiter Bismarcks«, in: Lothar Gall/Ulrich Lappenküper (Hrsg.), Bismarcks Mitarbeiter, Paderborn/München/Wien/Zürich 2009, S. 17–41; Florian Tennstedt: »Politikfähige Anstöße zu Sozialreform und Sozialstaat: Der Irvingianer Hermann Wagener und der Lutheraner Theodor Lohmann als Ratgeber und Gegenspieler Bismarcks«, in: JochenChristoph Kaiser/Wilfried Loth (Hrsg.), Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, S. 19–31.

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Wilhelms I. erhalten hatte.146 Die enge Beziehung zwischen den Politikern bewegte etwa Theodor Fontane dazu, Wagener als eine »Art Nebensonne zu Bismarck« zu bezeichnen.147 Lasker warf dem Beamten vor, die Stellung seines Amtes genutzt zu haben, um persönliche Interessen, namentlich den Erhalt von Eisenbahnkonzessionen, zu verfolgen und unerlaubterweise mit Konzessionen gehandelt zu haben. Er bezog sich dabei direkt auf das Projekt der Pommerschen Centralbahn, für das Wagener als Gesellschafter verantwortlich zeichnete und die dessen Wohnsitz Neustettin (heute Szczecinek in Polen) mit den beiden Städten Wangerin (We˛gorzyno) im Westen und Konitz (Chojnice) im Osten verbinden sollte. Während verschiedenste Facetten der Lasker’schen Reden zwischen Parlamentariern und Regierungsvertretern kontrovers diskutiert und hinterfragt wurden, fällt auf, dass die Abgeordneten die Vorwürfe gegen Wagener nicht in Frage stellten. Unter den Abgeordneten formierte sich keine Unterstützung für den preußischen Beamten. Auch vonseiten der preußischen Regierung erhielt Wagener nur wenig Rückendeckung. Zwar hatte Roon in einer vor dem Abgeordnetenhaus verlesenen Stellungnahme das Verhalten des Beamten als legitim dargestellt, dennoch sprach die preußische Staatsbehörde ihm einen disziplinarischen Verweis aus.148 Wagener zog daraufhin Konsequenzen aus den Ereignissen. Im März 1873 schied er aus dem Reichstag aus, wenig später, im Oktober 1873, legte er sein Amt als Erster Vortragender Rat nieder und ging auf eigenen Wunsch in Pension. Eine zeitgenössische Biographie Roons legt nahe, dass Wagener die gegen ihn gerichteten Vorwürfe intern nie vollständig entkräften konnte. Zwar habe der Ministerpräsident die Pensionierung des tatkräftigen Beamten bedauert, er habe aber »doch auch die im dienstlichen Interessen gewissenhaft begründete Ueberzeugung gewonnen, daß Wagener in seiner Beteiligung an finanziellen Operationen etwas weit gegangen war, als für einen so hochgestellten und einflußreichen Beamten angemesen erschien; und daß man ihn daher nicht halten dürfe.«149 Mangelnde Unterstützung erfuhr Wagener auch – um hier der weiteren 146 Vgl. Saile, Hermann Wagener, S. 63f., 116f.; Albrecht, Die »Nebensonne«, S. 17–41. 147 Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreissig, Berlin 1898, S. 469. 148 Schriftführer Lieber, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 933f.; Hermann Wagener : Erlebtes. Meine Memoiren aus der Zeit von 1848 bis 1866 und von 1873 bis jetzt, Berlin 1884, S. 57. In einem zivilgerichtlichen Prozess wurde Wagener einige Wochen später zur Zahlung einer hohen Geldstrafe verurteilt. Durch den zeitlichen Abstand hatte dieses Urteil jedoch keine Auswirkungen mehr auf den Skandal. Vgl. Wagener, Memoiren, S. 60; Hermann von Petersdorff, »Wagener, Hermann«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1986), S. 471– 476. 149 Waldemar von Roon: Denkwürdigkeiten aus dem Leben des General-Feldmarschalls Kriegsminister Grafen von Roon. Dritter Band, Breslau 1897, S. 349.

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Analyse vorzugreifen – in weiten Teilen der politischen Presse. Die Kreuzzeitung, das Sprachrohr der konservativen Parlamentarier, betonte in Antwort auf Laskers Vorwürfe am 15. Februar 1873, dass Wagener nicht mehr Mitglied der konservativen Partei oder der konservativen Reichstagsfraktion sei und distanzierte sich damit öffentlich von ihrem eigenen Mitbegründer.150 In seinen Memoiren zeigt sich Wagener von der Illoyalität der Kreuzzeitung während des Skandals schwer brüskiert und kritisiert den Umgang der politischen Öffentlichkeit mit seiner Person: »Was mich sonst noch einigermassen frappierte, war, dass es Niemand als einen Widerspruch empfand, gefürstete Personen, die höchsten Würdenträger der Krone, mit einem anderen Masse zu messen, als mich den kleinen bürgerlichen Beamten, und das Vorkommnisse, welche man mir gewissermassen als ein Verbrechen anrechnete, an der Stellung jener Herren spurlos vorübergingen.«151

Tatsächlich hatte Lasker in seinen Reden auch Fürst Putbus und Prinz Biron von Kurland, auf die Wagener hier anspielte, schwer belastet. Im Gegenteil zu Wagener hatte die Korruptionsdebatte für die beiden Adeligen jedoch keine langfristigen Konsequenzen. Möchte man die unterschiedlichen Reaktionen auf die Vorwürfe gegen Wagener verstehen, ist es notwendig, die Korruptionsdebatte in ihrem breiteren politischen Kontext zu betrachten. So ist einerseits festzuhalten, dass Lasker die Vorwürfe gegen Prinz Biron von Kurland zumindest teilweise entkräftete, während die Anklage gegen Wagener von einer Fülle an Beweisen getragen wurde.152 Andererseits ist zu vermuten, dass es auch an der Person Wageners selbst lag, dass die Vorwürfe gegen ihn ungleich stärkere Folgen hatten: Die Politik Wageners war seit jeher höchst umstritten. Bereits als Herausgeber der Kreuzzeitung, aber auch als konservativer Politiker und als Berater Bismarcks hatte er polarisiert. Mit Ausnahmen galt er den liberalen und sozialdemokratischen Politikern als Personifikation konservativer Politik. Viele Liberale beispielsweise schlossen eine Zusammenarbeit mit ihm grundsätzlich aus.153 Darüber hinaus waren auch Wageners enge Beziehungen zu Bismarck für viele Politiker ein Stein des Anstoßes. In seinen Reden war es Lasker durch einen klugen Schachzug gelungen, diese Verbindung hervorzuheben und so das Skandalpotenzial der Vorwürfe weiter zu steigern. Zwar konnte er den Reichskanzler nicht direkt in die Debatte involvieren, ohne sich dem Vorwurf der 150 Neue Preußische Zeitung, Ein national-liberales Manöver, 15. 2. 1873. 151 Wagener, Erlebtes, S. 58. 152 Schriftführer Lieber, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 933 sowie Redebeitrag Lasker, ebd., S. 935. 153 Saile, Hermann Wagener, S. 63f.

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Verleumdung auszusetzen, doch konnte er Bismarck indirekt in die Nähe der Vorwürfe rücken: In seiner Rede vom 7. Februar 1873 betonte Lasker, es sei ihm ein wichtiges Anliegen, dass man den langjährigen Mentor Wageners nicht für dessen Verfehlungen verantwortlich mache.154 Wenngleich Lasker scheinbar zur Fokussierung der Vorwürfe auf Wagener aufrief, brachte er auf diese Weise doch auch den Reichskanzler ins Gespräch und rief dessen Beziehung zu Wagener in Erinnerung. So wurde die Nähe zu Bismarck während des Skandals zur Stolperfalle für Wagener : Unter den Kritikern des Reichskanzlers brachte sie ihn zusätzlich in Verruf, etwa in altkonservativen Zirkeln, die sich zunehmend von Bismarck entfremdeten.155 Damit zeigt das Beispiel des preußischen Beamten, dass sowohl parteipolitische als auch persönliche Motive das Verhalten der Akteure in der Korruptionsdebatte 1873 beeinflussten. Der weitere Verlauf des Skandals legt nahe, dass Bismarck bewusst war, dass die Verbindung zu Wagener ihn in die Nähe der Korruptionsvorwürfe rückte. In einer symbolischen Geste stattete er dem erkrankten Wagener wenige Tage nach der zweiten Rede Laskers vor dem Abgeordnetenhaus einen persönlichen Besuch ab. Über diese ungewöhnliche Visite, die öffentlich als Vertrauensbekundung Bismarcks interpretiert werden musste, wurde in der Tagespresse selbstverständlich unmittelbar berichtet.156 Auch soll der Reichskanzler bei einem Zusammentreffen mit Lasker gesagt haben »[…] Sie haben so nahe an mir vorbeigeschossen, daß Sie mich um ein Haar getroffen hätten.«157 Wagener sprach Bismarck in seinen Memoiren tiefen Dank für dessen Unterstützung aus, tatsächlich aber gelang es dem Reichskanzler mit dieser Geste weder, den Skandal zu begrenzen, noch Schaden von Wagener abzuwenden.158 Hatte Wagener in Bismarck während des Skandals immerhin einen mächtigen Fürsprecher an seiner Seite, so sah sich Handelsminister Itzenplitz den Vorwürfen Laskers im Parlament mit weitaus weniger Rückendeckung gegenüber.159 Wie die Parlamentarier, so wurde auch er von der Rede Laskers am 154 Im gleichen Zug nannte Lasker auch den Vorgesetzten Wageners, Ministerpräsident Roon. Redebeitrag Eduard Lasker, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 940. 155 Wagener, Erlebtes, S. 58; Henning Albrecht: Antiliberalismus und Antisemitismus. Hermann Wagener und die preußischen Sozialkonservativen 1855–1873, Paderborn/München/ Wien/Zürich 2010, S. 514. Als konservative, sich von Wagener abwendende Zirkel beschreibt Albrecht vor allem jene Kreise, aus denen sich später die Deutschkonservative Partei rekrutieren sollte. 156 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, o. T., 21. 2. 1873. Wagener : Erlebtes, S. 57f.; Saile, Hermann Wagener, S. 116f. 157 Siegfried von Kardorff: Wilhelm von Kardorff. Ein Nationaler Parlamentarier im Zeitalter Bismarcks und Wilhelm II. 1828–1907, Berlin 1936, S. 96. 158 Wagener, Erlebtes, S. 57. 159 Itzenplitzs Eisenbahnpolitik erhielt zwar Fürsprache aus dem Kreis der ihm unterstellten Beamten und wird auch aus heutiger Sicht viel differenzierter beurteilt, doch 1873 gelang es

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14. Januar 1873 überrascht. Da Itzenplitz jedoch als Initiator der Eisenbahnanleihe im Zentrum der Budgetdebatte stand und von dem nationalliberalen Politiker unmittelbar beschuldigt worden war, sah er sich zu einer prompten Reaktion gezwungen: Er ergriff in Anschluss an die Rede Laskers das Wort. Sein Wunsch muss gewesen sein, die Vorwürfe gegen seine Person zu entkräften und die Deutungshoheit über die Debatte zu gewinnen, doch in beiden Belangen verfehlte der Handelsminister sein Ziel. Von der detaillierten Anklage Laskers überwältigt, konnte er die Vorwürfe nur grundsätzlich dementieren, nicht aber inhaltlich widerlegen. Itzenplitz wies den Vorwurf zurück, Konzessionen nach persönlicher Gunst vergeben zu haben, und betonte stattdessen die Schwierigkeit seines Amtes, zwischen den Interessen des Volkes einerseits und dem Gewinnstreben der Unternehmer andererseits zu vermitteln. Vor dem Hintergrund der Gemengelage unterschiedlicher Bedürfnisse sei es ihm unmöglich, umfassende Zufriedenheit zu erreichen.160 Diese dürftige Entgegnung rief Kritik und gar spöttische Bemerkungen vonseiten der Abgeordneten hervor.161 Den Memoiren Roons ist zu entnehmen, dass es in den darauffolgenden Tagen hinter den Kulissen zu einem Austausch zwischen König Wilhelm I., Bismarck und dem preußischen Ministerpräsidenten über das weitere Vorgehen kam. Um den Eindruck eines Geständnisses zu vermeiden, galt das Ausscheiden Itzenplitz’ aus dem Amt als ausgeschlossen, obgleich dieser ein erstes Rücktrittsgesuch einreichte. Der Handelsminister wurde stattdessen angehalten, bis zum Abklingen des Skandals im Amt auszuharren und – in Anlehnung an Laskers Forderung nach einer parlamentarischen Untersuchungskommission – gleichsam Interesse an der Aufklärung der Vorwürfe zu bekunden.162 Wie auch Wagener schied Itzenplitz schließlich einige Monate nach Abklingen des Skandals aus dem dem damals 74-Jährigen nicht, Motive und Ziele seiner Politik der Öffentlichkeit zu vermitteln. Vgl. Borchart, Der europäische Eisenbahnkönig, S. 174. 160 Redebeitrag Itzenplitz, 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 539; Redebeitrag Itzenplitz, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 951; Sowie Redebeitrag Itzenplitz, 40.Sitzung des Preußischen Landtags am 8. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 953. 161 Vgl. bsph. die Wortbeiträge von August Reichensperger, 25. Sitzung des Preußischen Landtags am 14. 1. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 238, S. 543; die Wortbeiträge von Louis Berger (Deutsche Freisinnige Partei), 40. Sitzung des Preußischen Landtags am 8. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 957f.; Hugo Schröder (Nationalliberal), 40. Sitzung des Preußischen Landtags am 8. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 958. Dill berichtet – ohne Nachweis –, dass die Rede Itzenplitz’ im Haus kaum Aufmerksamkeit erhielt und die anwesenden Minister aus Protest gar das Haus verließen. Dill, Der Parlamentarier Eduard Lasker, S. 101. 162 Waldemar von Roon: Denkwürdigkeiten aus dem Leben des General-Feldmarschalls Kriegsminister Grafen von Roon. Zweiter Band, Beslau 1892, S. 593.

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Staatsdienste aus, seine Entlassungsgesuch wurde im Mai 1873 von König Wilhelm I. genehmigt.163 Tatsächlich ist denkbar, dass die politische Führungsriege Preußens in der Causa Wagener in ähnlicher Weise verfuhr wie im Fall Itzenplitz. Auch wenn explizite Quellennachweise fehlen, ist zu vermuten, dass Wagener von seinem Vorgesetzten Roon oder von Bismarck angehalten wurde, im Amt zu verweilen.164 Sicherlich sollte auch in seinem Fall in der Öffentlichkeit der Eindruck vermieden werden, man beuge sich den Vorwürfen Laskers. Wendet man den Blick schließlich Ministerpräsident Roon zu, ist festzustellen, dass es auch ihm anfangs nicht gelang, die Korruptionsdebatte einzudämmen – ganz im Gegenteil. Mit seinem Auftreten vor dem Abgeordnetenhaus trug er sogar unfreiwillig zu einer kurzweiligen Verschärfung der Situation bei: Gleichsam überrascht von dem Ausmaß der Anklage, ließ er zu Beginn der Sitzung am 7. Februar 1873 einen Brief verlesen, indem er die Kritik an seinem Untergeben Wagener zurückwies und eigene Gegenvorwürfe erhob. Er beschuldigte Lasker, in seiner Position als Rechtsanwalt enge Beziehungen zu einem Berliner Unternehmen unterhalten zu haben, das seinerseits Interesse an einer der zur Debatte stehenden Bahnlinie geäußert hatte. Weiterhin spekulierte er, ob diese Verbindung Laskers Auftreten vor dem Parlament nicht zumindest teilweise inspiriert hätte.165 Diese Behauptungen konnte Lasker während seiner anschließenden Rede sofort widerlegen, sodass sich der Ministerpräsident gezwungen sah, seine Aussagen zurückzunehmen.166 Das Parlament reagierte auf diesen Versuch der Gegenskandalierung skeptisch, teils gar empört; die Korruptionsdebatte polarisierte sich weiter.167 Allgemeinhin wurde das Verhalten der beiden Regierungsvertreter, Roon und Itzenplitz, in dieser frühen Phase des Skandals höchst kritisch rezipiert und muss in der Rückschau wenigstens als ungeschickt bewertet werden. Vor diesem Hintergrund wurde (3) Laskers Antrag auf Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu einem entscheidenden Moment und damit zu einer bedeutenden Facette der Korruptionsdebatte. Für die preußische Regierung ging es hierbei nicht allein um die Erkenntnisse, die eine solche Kommission hätte gewinnen können; allein 163 Im gleichen Zeitraum wurde auch die Anleihe in Höhe von 120 Millionen Taler im Abgeordnetenhaus erneut verhandelt. Vgl. bsph. Neue Preußische Zeitung, Deutschland, 15. 5. 1873; Berliner Tageblatt, Das Entlassungsgesuch, 13. 5. 1873. 164 Der Wagener Biograph Saile bspw. vermutet, Bismarcks Handeln sei auf taktische Überlegungen zurückgegangen: Saile, Hermann Wagener, S. 117f. 165 Redebeitrag des Schriftführers Dr. Lieber, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 933. 166 Redebeitrag Lasker, ebd., S. 934f.; Redebeitrag Roon, ebd., S. 951. 167 Redebeitrag Lasker, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 934; Redebeitrag Louis Berger, 40. Sitzung des Preußischen Landtags am 8. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 956.

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ihre Existenz symbolisierte öffentlich das Misstrauen der Parlamentarier in die preußische Verwaltung und das Verlangen nach Aufklärung. Tatsächlich ging man in weiten Teilen der politischen Presse vor der Abstimmung des Abgeordnetenhauses davon aus, dass der Antrag Laskers mit großer Mehrheit angenommen werden würde.168 Dazu sollte es jedoch nicht kommen. Die Beratung des Antrages wurde auf Wunsch der Regierung wiederholt vertagt. Am 14. Februar 1873, dem angesetzten Termin, teilte Roon dem Haus den Entschluss des preußischen Königs Wilhelm I. mit, eine »Spezialkommission zur Untersuchung des Eisenbahnkonzessionswesen« einzusetzen.169 Auf diese Weise kam die preußische Regierung den parlamentarischen Bestrebungen zuvor und zwang das Parlament auf einen von ihr vorgegebenen Kurs mit abgesteckten Regeln: Die »königliche Kommission« bestand nicht wie von Lasker gewünscht aus Abgeordneten, sondern setzte sich aus je zwei von der Krone ernannten Justiz- und Verwaltungsbeamten sowie je zwei gewählten Vertretern des Abgeordneten- und des Herrenhauses zusammen.170 Der Vorsitz wurde William Barstow von Guenther, Präsident der Preußischen Seehandlung, übertragen.171 Roon betonte, dass die Staatsregierung mit der königlichen Kommission dasselbe Ziel verfolge wie das Abgeordnetenhaus mit der parlamentarischen Untersuchungskommission, nämlich die »ernst[e] und unparteilich[e]« Aufklärung der »Mißstände« im allgemeinen Interesse des Landes.172 Mit diesem Zusatz setzte der Ministerpräsident auch Lasker unter Druck. Hätte der Abgeordnete an der parlamentarischen Untersuchungskommission festgehalten, so hätte diese den Eindruck erweckt, er lehne die Zusammenarbeit mit 168 Vgl. bsbh. Kölnische Zeitung, Deutschland, 11. 2. 1873, Bl. 2, Beiblatt. Laskers persönliche Stellungnahme: 44. Sitzung des Preußischen Landtags am 15. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1044, http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/ resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033733-1 (19. 1. 2015). 169 Redebeitrag Roon, 43. Sitzung des Preußischen Landtags, 14. 2. 1873, Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1031f., http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resol ver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033733-1 (19. 1. 2015). 170 Besonders in der liberalen Presse bezeichnete man die Kommission wohl auch in Abgrenzung zu der von Lasker angestrebten parlamentarischen Untersuchungskommission im Folgenden als »königliche Untersuchungskommission«. Vgl. bsph. Berliner Tageblatt, Politische Tagesübersicht, 20. 2. 1873. 171 Ab 1881 William Barstow von Günther. Bei der preußischen Seehandlung handelt es sich um die preußische Staatsbank, deren Geschichte bin ins 18. Jahrhundert zurückreicht. 1918 wurde die Seehandlung offiziell in Preußische Staatsbank umbenannt. Vgl. bsph. Autorenkollektiv : Meyers Konversationslexikon, Leipzig/Wien4 1885–1892, Bd. 14, S. 804. 172 Redebeitrag Roon, 43. Sitzung des Preußischen Landtags, 14. 2. 1873, Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1031, http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver. pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033733-1 (19. 1. 2015); 44. Sitzung des Preußischen Landtags am 15. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1050f., http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb :12bsb11033733-1 (19. 1. 2015).

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der Regierung ab und verfolge eigene Interessen. Vor diesem Hintergrund zog Lasker am 15. 2. 1873 seinen Antrag im preußischen Abgeordnetenhaus offiziell zurück.173 Damit endete die Hochphase des Skandals. Zwar wurde in den folgenden Sitzungen über die personelle Besetzung der königlichen Kommission debattiert, ihre grundsätzliche Zusammenstellung und ihr Charakter jedoch nicht in Frage gestellt. Das Gremium nahm schließlich seine Arbeit auf und präsentierte im November 1873 Ergebnisse – das Interesse an dem Bericht war zu diesem Zeitpunkt bereits so gering geworden, dass die Veröffentlichungen in der Presse nur vereinzelt Erwähnung fanden. Der preußischen Regierung war es – nach einigen misslungenen Versuchen – auf diese Weise schließlich doch gelungen, die Korruptionsdebatte im Abgeordnetenhaus einzudämmen und ihr eine Richtung vorzugeben. Möchte man (4) die Entwicklung der Korruptionsdebatte aus der Sicht Laskers bewerten, so muss man nach den Motiven des Skandalierers fragen. Die Antwort fällt jedoch nicht leicht, da sich bislang kaum eine der existierenden Abhandlungen mit dieser Frage beschäftigt hat. Sogar Werke, die sich spezifisch dem nationalliberalen Politiker oder seiner Partei widmen, streifen den Skandal meist nur am Rande und orientieren sich vorrangig an der chronologischen Abfolge der Ereignisse.174 Auch in der zeitgenössischen Literatur, in den bekannten Briefwechseln und Biographien der involvierten Akteure, finden sich kaum Hinweise auf die Beweggründe Laskers.175 Hinweise liefern jedoch seine 173 Redebeitrag Lasker, 44. Sitzung des Preußischen Landtags am 15. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1060, http://www.mdz-nbn-resolving.de/ urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb11033733-1 (19. 1. 2015). 174 In der Literatur zur (Parteien-)Geschichte des Deutschen Liberalismus liegt der Schwerpunkt bis heute auf der Zeit zwischen Revolution und Reichsgründung und setzt dann mit der so genannten Krise des deutschen Liberalismus 1878 wieder ein. Die frühen 1870er Jahre bleiben hingegen blass. Für einen Überblick empfiehlt sich Thomas Nipperdey : Machtstaat vor der Demokratie, München31.–50.Tsd. 1998, S. 314–330, 521–536; Langewiesche: Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988; Heinrich August Winkler : Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979. Die bestehende Lücke zu schließen sucht Ansgar Lauterbach: Im Vorhof der Macht. Die nationalliberale Reichstagsfraktion in der Reichsgründungszeit (1866–1880), Frankfurt a. M. 2000. 175 Zu Lasker gibt es bis heute keine umfassende Biographie. Vorhanden sind zwei Einträge in der ADB/NDB und einige wenige Monographien, die sich Laskers politischem Engagement widmen: Karl Wippermann: »Lasker, Eduard«, in: Allgemeine Deutsche Biographie 19 (1884), S. 746–753, http://www.deutsche-biographie.de/ppn118569848.html?anchor=adb; Pollmann (28. 1. 2015), Klaus Erich Pollmann, »Lasker, Eduard« in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 656f., http://www.deutsche-biographie.de/ppn118569848.html (28. 1. 2015); James F. Harris: A Study in the Theory and Practice of German Liberalism. Eduard Lasker, 1829–1884, Lanham/New York/London 1984; Dill, Der Parlamentarier Eduard Lasker. Jüngst erschien jedoch das nicht an wissenschaftlichen Standards angelegte Werk von Rosemarie Schuder : Der »Fremdling aus dem Osten«. Eduard Lasker – Jude, Liberaler, Gegenspieler Bismarcks, Berlin 2008.

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Politik, die Orientierung seiner Partei sowie sein Verhältnis zu den ›Konservativen‹ und zu Bismarck. Als Mitbegründer der Nationalliberalen Partei und führendes Mitglied ihrer Reichs- und Landtagsfraktionen hatte Lasker bereits vor dem Skandal sowohl mit den konservativen Parteien als auch mit Bismarck politische Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Die Konflikte mit dem späteren Kanzler reichten dabei bis in die Reichsgründungszeit zurück. In der zweiten Hälfte der 1860er Jahre hatte die Nationalliberale Partei – wenngleich nicht ohne Auseinandersetzungen und Kompromisse – die Politik Bismarcks mitgetragen und so maßgeblich zu der Gründung des Norddeutschen Bundes 1866 und des Deutschen Reiches 1871 beigetragen. Im Zug der Verfassungsverhandlungen war den Nationalliberalen gelungen, wichtige Prinzipien nationalliberaler Politik durchzusetzen. Lasker etwa erreichte 1876, dass die Freiheit der Berichterstattung über die Parlamentsverhandlungen in der Verfassung des Norddeutschen Bundes (und später des Kaiserreiches) garantierte wurde. Diese gesetzliche Regelung war nicht zuletzt grundlegend für die Entwicklung politischer Skandale.176 Zugleich hatte die Nationalliberale Partei viele Forderungen – vor allem nach parlamentarischen Partizipationsrechten– preisgeben müssen.177 Darunter fällt beispielsweise ihr Bemühen, dem Parlament verantwortliche Bundesministerien zu etablieren und diese in einem nächsten Schritt mit nationalliberalen Politikern zu besetzen. 1867 scheiterte der sogenannte »Antrag Lasker«, mit dem die Nationalliberalen im norddeutschen Parlament vergeblich versuchten, Teile der Beamtenschaft in Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament zu stellen.178 Auch blieben im Kaiserreich und besonders in Preußen Verwaltung sowie Re176 Andreas Biefang: »Der Reichstag als Symbol der politischen Nation. Parlament und Öffentlichkeit 1867–1890«, in: Lothar Gall (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn 2003, S. 27f.; Dill, Der Parlamentarier Eduard Lasker, S. 44f. 177 Lauterbach, Im Vorhof der Macht, S. 87f.; Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 103f. In der Wissenschaft herrscht in der Bewertung nationalliberaler Politik der 1860er und 1870er Jahre noch immer Uneinigkeit. Aktuelles Beispiel ist die Arbeit Ansgar Lauterbachs, in welcher der Autor die parlamentarischen Handlungsspielräume der Nationalliberalen Partei auf Reichsebene untersucht und dafür plädiert, die durch nationalliberale Initiative entstandenen Reformen stärker als Erfolge der Partei anzuerkennen. Diese These wird u. a. von Lauterbachs Doktorvater, dem langjährigen Liberalismus-Experten Dieter Langewiesche gestützt. Andreas Biefang hingegen hat die These mit der Begründung zurückgewiesen, die Handlungsspielräume der Partei seien geringer gewesen. Vgl. Lauterbach, Vorhof der Macht; Dieter Langewiesche: »Bismarck und die Nationalliberalen«, in: Lothar Gall (Hrsg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 73–90; Biefang, Der Reichstag als Symbol der politischen Nation; Ders.: »Reichsgründungspartei. Die EinMann-Exekutive und die Nationalliberale Partei im Reichstag«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 14. 2. 2001, http ://www.faz.net/aktuell/feuilleton/politik/rezension-sachbuchreichsgruendungspartei-117411.html (10. 8. 2017). 178 Lauterbach, Vorhof der Macht, S. 102–107.

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gierung vornehmlich in konservativer Hand.179 Die Beziehung zu den konservativen Parteien war dabei ebenfalls spannungsreich: Zwar hatten die Nationalliberalen im Zuge der Verfassungsverhandlungen auf verschiedenen Ebenen mit der Freikonservativen Partei kooperiert, doch stießen ihre Versuche einer Ausweitung parlamentarischer Partizipationsrechte fortan bei allen konservativen Parteien auf prinzipielle Ablehnung.180 Darüber hinaus rief die liberale Wirtschaftspolitik der frühen 1870er Jahre Spannungen zwischen Nationalliberalen und (Alt)Konservativen hervor, die sich nach den Enthüllungen Laskers und dem Ausbruch der Gründerkrise im Herbst 1873 intensivierten. Auch die zunehmende Entfremdung der Altkonservativen von Bismarck stellte einen potenziellen Konfliktherd dar. In der Rückschau wird die Beziehung zwischen der Nationalliberalen Partei und dem Reichskanzler unterschiedlich gedeutet: Der Historiker Richard Dill beispielsweise spricht von einer offenen Feindschaft zwischen Eduard Lasker und Bismarck, die sich nach der Reichsgründung in inhaltlichen Auseinandersetzungen um Reformgesuche der Nationalliberalen Partei zugespitzt habe181 Sein Kollege Ansgar Lauterbach hingegen betont den kooperativen Charakter der Zusammenarbeit und die Handlungsspielräume, die sich der Nationalliberalen Partei aus der gegenseitigen Abhängigkeit mit Bismarck eröffneten. Auf diese Weise erklärt er die erfolgreiche Durchsetzung verschiedener Reformen.182 Beurteilt man die Handlungen Lasker vor dem Hintergrund dieser Akteurskonstellation, scheint sicher, dass diese von einem Reform- und Partizipationsbedürfnis inspiriert waren, welches sich in vielerlei Hinsicht mit den Interessen der Nationalliberalen Partei deckte. Lasker nutzte die belastenden Informationen über das Eisenbahnwesen für einen zielgerichteten Angriff gegen den Handelsminister. Nicht nur kompromittierte er Itzenplitz’ Politik der letzten Jahre, er stellte zudem in Frage, ob der Handelsminister den künftigen Anforderungen seines Amtes noch gewachsen sei. Zweifellos wollte Lasker auf diese Weise den Rücktritt des Beamten erwirken. Auch wenn der vakante Ministerposten nicht im Sinne der Nationalliberalen besetzt wurde, ist anzunehmen, dass man innerhalb der Partei die Hoffnung pflegte, dass der Misserfolg konservativer Politiker im Umkehrschluss langfristig nationalliberale Persönlichkeiten für Ämter in Position bringen würde.183 In diesem Sinne war auch die Denunziation Wageners für Lasker und die Nationalliberale Partei von Vorteil. Mit den Korruptionsvorwürfen hatte der Abgeordnete nicht nur den preußischen Be179 180 181 182 183

Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, S. 105. Ebd., S. 107. Dill, Der Parlamentarier Eduard Lasker, S. 41–49. Lauterbach, Vorhof der Macht, S. 113f. Nach Itzenplitz wurde Heinrich von Achenbach, Mitbegründer der Freikonservativen Partei, zum Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeit berufen.

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amten, sondern auch die politischen Zirkel getroffen, die dieser repräsentierte, da das Stigma der Korruption negative Assoziationen über den eigentlich Betroffenen hinaus entfalten konnte. Mit Blick auf die bestehenden Unstimmigkeiten zwischen den politischen Lagern liegt es daher nahe, dass sich Lasker eine Diskreditierung der konservativen Politik Wageners und damit verbunden eine Aufwertung und Umsetzung nationalliberaler Politik erhoffte.184 Nicht zuletzt ist hinter Laskers Bemühungen, eine parlamentarische Untersuchungskommission zu etablieren, das Motiv zu vermuten, die Partizipationsrechte des Parlaments zu stärken. Dafür stehen auch die Versuche Laskers, die Empörung über die Enthüllungen in zwei Gesetzesvorlagen zu überführen: Im April 1873 brachte er im Reichstag eine Interpellation ein, die sich auf die Ergebnisse der preußischen Untersuchungskommission bezog und sich kritisch mit dem Aktienwesen des Reiches auseinandersetzte. Im Preußischen Landtag beteiligte er sich rege an der Debatte um einen Gesetzentwurf, der Beamten verbieten sollte, ohne Genehmigung eines Vorgesetzten Mitglied eines privaten Unternehmens zu werden.185 Diese Interpretation der Lasker’schen Interessen wird von einzelnen regierungsnahen Quellen gestützt. So ist es kein Geheimnis, dass Laskers Bestrebungen, Abgeordnetenhaus und Reichstag in den Skandal zu involvieren, die preußische Staatsregierung empörte. Die Reaktion Roons ist in seinen Lebenserinnerungen festgehalten: »Dieser den radikalsten, auf Parlamentsherrschaft gerichteten Gelüsten entsprechende Antrag [auf Einsetzung einer Untersuchungskommission] hatte sogar die Unterschrift so gemäßigter Politiker wie Bennigsen, Miquel, u. a. gefunden!«186 Auch schildert der preußische Ministerpräsident die Reaktion König Wilhelms I. Dieser habe sich bei ihm erkundigt, ob man den Antrag Laskers zurückweisen könne, da er darin ein »Pr8z8denz« erkenne, »das weit führen kann – und zu des Hauses Entscheidung führen soll, Königliche Beamte wohl gar zu verurtheilen, was doch nur die Gerichte können.«187 Diese Zitate zeigen, dass die preußische Regierung das Verhalten Laskers als Versuch wertete, in ihre Machtbefugnisse einzugreifen und eine Änderung des bestehenden Status quo herbeizuführen. Ihr dringendes Interesse, den Skandal zu kontrollieren und mithilfe der königlichen Untersuchungskommis-

184 Eine ähnliche These vertritt auch Roth, Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg. 185 Redebeitrag Lasker, 15. Sitzung des Deutschen Reichstags, I. Legislaturperiode, 4. 4. 1873, S. 213f., http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k1_bsb00018362_00241.html (11. 8. 2017); vgl. 74. Sitzung des Preußischen Landtags, 10. Mai. 1873, Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1873f. Vgl. auch Harris, A Study in the Theory and Practice of German Liberalism, S. 93–95. 186 Roon, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, S. 592. 187 Ebd.

Die Rezeption der Korruptionsvorwürfe in der Presse

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sion Lasker die Deutungshoheit über die Ereignisse abzusprechen, ist vor diesem Hintergrund besser verständlich. Tatsächlich ist jedoch festzuhalten, dass Lasker mit seinen Angriffen zwar Personen und Gruppen direkt attackierte, er aber bei aller Verve nicht versuchte, mithilfe der Korruptionsdebatte die Ablösung der politischen Ordnung herbeizuführen. Wenngleich verschiedene Strömungen des politischen Liberalismus divergierende Vorstellungen über die Organisation des Staatsystems und die Ausgestaltung und Funktionsweisen des Parlamentarismus pflegten und in der Vergangenheit alternative Formen debattiert hatten, war das Ziel Laskers nicht die Aufhebung der bestehenden politischen Ordnung. Seine Bemühungen schlossen vielmehr an die Reformbemühungen der Nationalliberalen Partei aus den frühen 1870er Jahren an. Dass die Korruptionsvorwürfe zu realen Ergebnissen führten, dafür war nicht zuletzt auch die auf die Enthüllungen folgende, öffentliche Empörung verantwortlich, die Parlamentarier und Regierung gleichermaßen unter Druck setzte, auf die Ereignisse zu reagieren. Dabei gehört es zu Laskers Verdienst, dass er das Abgeordnetenhauses geschickt als Bühne nutzte. Ihm gelang es, die Mechanismen der politischen Kommunikation, die besonders in der Reichsgründungszeit einem steten Wandel unterworfen waren, zu testen und für sich zu nutzen. Als einer der ersten aktiven Skandalierer des Deutschen Reiches hatte Lasker verstanden, dass der medialen Öffentlichkeit eine zunehmende Bedeutung in der politischen Kommunikation zukam. Im nächsten Abschnitt soll daher die Reaktion der politischen Tagespresse auf die Korruptionsvorwürfe dargestellt und untersucht werden, welche Dynamiken sich daraus ergaben: Bestand ein Dialog zwischen Abgeordnetenhaus und medialer Öffentlichkeit oder beobachtete und kommentierte die Presse die Geschehnisse einseitig? Und welche Interessen verfolgte sie dabei?

2.2

»Ein national-liberales Manöver«188 : Die Rezeption der Korruptionsvorwürfe in der tagespolitischen Presse

Der Brief Eduard Stephanis vom Beginn dieses Kapitels steht repräsentativ für eine Vielzahl an Zuschriften, die Eduard Lasker im Frühjahr 1873 erhielt.189 Nicht nur aus Preußen kamen die Glückwunschschreiben, sondern aus dem gesamten Reichsgebiet. Sie sind ein Beispiel dafür, dass sich die Korruptionsdebatte über den Plenarsaal hinweg in die politische Öffentlichkeit ausbreitete. Tatsächlich sahen sich die Tribünen des preußischen Abgeordnetenhauses jener Tage einem ungewohnten Besucheransturm ausgesetzt, wenn zu erwarten war, 188 Neue Preußische Zeitung, Ein national-liberales Manöver, 15. 2. 1873. 189 Eine Auswahl bei Wentzcke, Im Neuen Reich 1871–1890, S. 74–77.

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dass Lasker das Wort ergreifen würde.190 Seine Reden wurden reichsweit von den politischen Blättern abgedruckt und in einer gesonderten Broschüre verlegt, die mehrere Auflagen erreichte.191 Der 43-jährige Abgeordnete stand im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und im Zenit seiner öffentlichen Bekanntheit.192 Auf dem Höhepunkt des Skandals, als Lasker im Februar 1873 die Einsetzung der parlamentarischen Untersuchungskommission beantragte, berichteten die Tageszeitungen täglich; danach nahm die Intensität der Debatte schrittweise ab. Was charakterisierte diese Berichterstattung? Viele der großen politischen Tageszeitungen orientierten sich in ihrer Beichterstattung an der Haltung der Landtagsabgeordneten und Fraktionen, mit denen sie sympathisierten oder affiliiert waren. Darüber hinaus veröffentlichten sie neue Erkenntnisse und nutzten die Möglichkeit, ihren LeserInnen Argumente losgelöst von dem vielstimmigen Kanon der Parlamentsdebatte pointiert vor Augen zu führen und eigene Schwerpunkte zu setzen. Anders als die Abgeordneten, die unter dem Druck standen, ihre Aussagen unmittelbar am Rednerpult rechtfertigen zu müssen, hatte die politische Presse – die politische Zensur ausgenommen – größere Freiräume. Entlang ihrer politischen Gesinnung und Interessen konnten die Zeitungen die Argumentationen der Abgeordneten unterstützen oder angreifen, Spekulationen und Vermutungen äußern. Die nationalliberale Presse beispielsweise setzte sich für Laskers Ziele ein. Durch die repetitive Wiedergabe der angeprangerten Vergehen und der daraus hervorgehenden Hypothesen suchte sie nicht nur die Empörung ihrer Leserschaft zu schüren und die Bedeutung der Vorgänge zu betonen, sondern auch eine gesteigerte Erwartungshaltung zu generieren. Die Kölnische Zeitung etwa äußerte wiederholt die Annahme, der Rücktritt des Handelsministers stehe unmittelbar bevor und es herrsche Einigkeit darüber, dass auch Wagener auf dem politischen Parkett nicht mehr haltbar sei. So sollte – verstärkt durch Berichte über Itzenplitz’ Versagen und seine weitreichende öffentliche Denunzierung – Druck auf die Regierung ausgeübt werden, die beiden Beamten zu entlassen.193 Darüber hinaus versuchte die Kölnische Zeitung auch auf die Abgeordneten Einfluss zu nehmen, indem sie die Bevölkerung als legitimierende und man190 Vgl. bsph. Kölnische Zeitung, Deutschland, 16. 2. 1873, Bl. 2; Berliner Tageblatt, Deutschland, 15. 2. 1873. 191 Nachweisbar sind mindestens neun Auflagen: Lasker, Eduard: Lasker’s Rede gegen Wagener und über das Eisenbahnkonzessionswesen in Preußen, gehalten im Abgeordneten-Hause am 7. Februar 1873, nebst dem Briefe des Ministerpräsidenten, den Antworten des Ministerpräsidenten Gr. von Roon und des Handelsministers Gr. von Itzenplitz: Nach dem amtlichen stenogr. Bericht, Berlin9 1873. 192 Lauterbach, Im Vorhof der Macht, S. 70f. 193 Vgl. bsph. Kölnische Zeitung, Berlin, 10. 2. 1873; Kölnische Zeitung, Berlin, 16. 2. 1873. Vgl. ebenfalls bsph. Berliner Tageblatt, Politische Tagesübersicht, 6. 3. 1873; Dass., Politische Tagesübersicht, 19. 3. 1873.

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datsstiftende Instanz inszenierte bzw. instrumentalisierte. Sie hob hervor, dass das Abstimmungsverhalten der Kammer über die Besetzung der Untersuchungskommission in den Wahlkreisen mit größtem Interessen aufgenommen und sich auf die nächsten Wahlen auswirken werde.194 Zugleich wurde Lasker als »Volksvertreter«, als »Stimme des Gewissens der Nation« stilisiert, der mit den Interessen des »Landes« vor Augen, gegen die »Missstände« zu Feld gezogen sei.195 Mit Blick auf das politische Tagesgeschäft proklamierte die Zeitung in gleicher Manier, dass mit der geschlossenen Ablehnung der Eisenbahnanleihe zu rechnen sei, sofern »die Verhandlung der letzten Woche ohne Resultat für das zustehende Ressort bleiben sollte.«196 Die konservative Kreuzzeitung hingegen setzte alles daran, der versuchten Einflussnahme der liberalen Presse entgegenzuwirken, und brandmarkte die Enthüllungen als »national-liberales Manöver«. Um die Parlamentarisierung in Preußen voranzutreiben, wolle Lasker Mitglieder der Bürokratie und Aristokratie als Repräsentanten und Sympathisanten des monarchischen Preußens öffentlich denunzieren und sich mittels der parlamentarischen Untersuchungskommission in die »Regierungsrechte« eimischen.197 Durch die Einsetzung der königlichen Untersuchungskommission habe die Regierung diese Versuche jedoch erfolgreich zum Scheitern gebracht.198 Weiterhin führte das konservative Blatt den Beweis, dass die von Lasker kritisierten Verordnungen über die Finanzierung von Eisenbahnen mithilfe einer Aktiengesellschaft von den Führern der Nationalliberalen Partei 1866 selbst beschlossen worden seien, die Partei sich daher selbst desavouiere.199 Damit nahm die Kreuzzeitung indirekt Bezug auf die Kritik der konservativen Abgeordneten, die in der Budgetdebatte die liberale Wirtschaftsordnung zur Ursache der Missstände erklärt hatten.200 Die Zustände, urteilte die Kreuzzeitung, seien »nur die traurigen Symptome eines noch viel traurigeren wirthschaftlichen Zustandes […], der durch die liberale Gesetzgebung des Abgeordnetenhauses, durch das ganze erdrückende Uebergewicht der fluctuirenden und dem Liberalismus zugeneigten wirthschaftlichen Potenz seit langen Jahren in Fluß gebracht worden ist.«201

Auf diese Weise instrumentalisierte die konservative Zeitung die Vorwürfe Laskers für einen Gegen- bzw. Generalangriff auf die liberale Wirtschaftspolitik der letzten Jahre. Diese Systemkritik verband das Blatt zudem mit antisemiti194 195 196 197 198 199 200 201

Kölnische Zeitung, Deutschland, 11. 2. 1873. Kölnische Zeitung, Lasker im Abgeordnetenhaus, 17. 2. 1873. Kölnische Zeitung, o. T., 12. 2. 1873. Neue Preußische Zeitung, Ein national-liberales Manöver, 15. 2. 1873. Neue Preußische Zeitung, Eine parlamentarische Sackgasse, 21. 2. 1873. Ebd. Vgl. bsph. Verweis 140. Neue Preußische Zeitung, Eine parlamentarische Sackgasse, 21. 2. 1873.

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schen Angriffen. Es sprach exemplarisch von den »Volksgenossen des Herrn Abg. Lasker«, von denen Versuche illegitimer Bereicherung ausgegangen seien. Obgleich Lasker selbst von den Vorwürfen ausgenommen wurde und die Kreuzzeitung erklärte, dass auch Christen an dem »Schwindel und Wucher« beteiligt seien, bildeten derartige Argumentationen eine Basis für das Erstarken und die Popularisierung antisemitischer Vorurteile in den nachfolgenden Monaten und Jahren.202 Die Konservativen waren jedoch nicht die einzigen, die im Kontext der Korruptionsdebatte die Politik der Nationalliberalen Partei kritisierten. Auch der Volksstaat, die Parteizeitung der Socialdemokratischen Arbeiterpartei, nutzte die Korruptionsvorwürfe für einen eigenen Angriff.203 Dabei bot der Skandal dem Volksstaat eine wichtige Chance, denn das Blatt vertrat eine Partei, die bis 1908 nicht im preußischen Abgeordnetenhaus vertreten war und daher die parlamentarische Bühne nicht nutzen konnte, um Publicity für sich zu erzeugen. Der Skandal diente dem Parteiblatt somit als Blickfang und Möglichkeit zugleich, sich politisch zu positionieren und scheinbar bezuglose Themen mit der Berichterstattung über die Enthüllungen zu verbinden.204 Der Volksstaat richtete seine Inhalte dabei an einem spezifischen Feindbild aus. Schon vor Beginn des Skandals attackierte das Blatt den »Finanzschwindel« der »Gründer« aus dem »Lager Israels« und positionierte sich gegen das liberale »Manchesterthum« – gegen den »Vampyr[sic!] am Blute des arbeitenden Volkes«.205 Nach den Ent-

202 Neue Preußische Zeitung, Ein national-liberales Manöver, 15. 2. 1873. Vgl. nachfolgendes Kapitel. 203 Die Sozial-Demokratische Arbeiterpartei wurde 1869 von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründeten und verband sich 1875 mit dem ADAV zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (ab 1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands). Liebknecht war von 1869 bis 1878 zeitweise in Zusammenarbeit mit Wilhelm Hasenclver Chefredakteur und Herausgeber des Volksstaat. Nach Ende des Sozialistengesetztes war Liebknecht ab 1891 bis zu seinem Tod 1900 auch Herausgeber und Chefredakteur des Vorwärts, Nachfolgeorgan des Volksstaat. Zum Zeitpunkt des Skandals saß Liebknecht in der Hubertusburg in Wermsdorf in Festungshaft. Unklar ist, wer zu diesem Zeitpunkt die Redaktion führte. Für mehr Informationen vgl. Volker Schulze: »Vorwärts (1876–1933)«, in: Heinz-Dietrich Fischer (Hrsg.), Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, Pullach bei München 1972, S. 329–347. 204 Leider existieren keine Quellen, die es möglich machen, die Auflagezahlen der einzelnen Periodika während der Skandale nachzuverfolgen. Darüber hinaus würden derartige Statistiken auch den damals gängigen Austausch von Zeitungen innerhalb von Personenkreisen, sowie den persönlichen Austausch von Argumentationen nicht berücksichtigen. Zu manchen Skandalen finden sich Hinweise in den Berichten der Berliner Polizei. Eine Vorauswahl u. a. bei: Dieter Fricke: Übersichten der Berliner Politischen Polizei über die Allgemeine Lage der Sozialdemokratischen und Anarchistischen Bewegung 1878–1913, Weimar 1983–2004 (3 Bände). 205 Volksstaat, Die Gründer und die Staatshilfe, 1. 1. 1873. Ähnlich wie in der Kreuzzeitung wurde die judenfeindliche Komponente auch hier höchst beiläufig bedient und ist in seiner

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hüllungen Laskers verknüpfte es den Vorwurf der Korruption offensiv mit seiner Kritik an der wirtschaftlichen und politischen Ordnung. Anders als die meisten Zeitungen sprach der Volksstaat dabei explizit von Korruption und etablierte eine konkrete Definition: »Unter Corruption hat man von jeher verstanden, daß die Beamten, anstatt ihre Amtsbefugnisse pflichtmäßig zu erfüllen, den Einfluß, welchen ihr Amt ihnen gibt, zu ihrem persönlichen Vortheil ausbeuten, theils indem sie durch fervde Liebedienerei gegen Vorgesetzte (durch Verurtheilung mißliebiger Personen c.) sich Avancement und sonstige Vortheile zu erschleichen suchen, theils indem sie ihren Einfluß direkt an Spekulanten, die Concessionen c. haben wollen, für Geld verkaufen, oder ihre Kenntniß politischer Geheimnisse auf der Börse verwerthen, oder Fabriken errichten, deren Erzeugnisse der Staat ihnen abnehmen muß u.s.w.«206

Außergewöhnlich an dieser Bestimmung ist, dass sie heutigen Definitionen gleicht. Man denke etwa an Michael Johnston, der Korruption Ende des 20. Jahrhunderts als »Missbrauch einer öffentlichen Rolle zum privaten Nutzen und zwar gemäß der rechtlichen oder sozialen Standards der jeweiligen Ordnung« definierte.207 Beide Definitionen führen die negative Bewertung der korrupten Handlung auf den Unterschied und die subsequent vernachlässigte Trennung zwischen dem privaten Interesse der Beamten einerseits und den Pflichten und Befugnissen ihres öffentlichen Amtes andererseits zurück. Der Volksstaat argumentierte sodann, dass auch Wagener diese Interessensphären auf illegitime Weise vermengt habe. Seine Interessen – die Interessen der sogenannten Gründer – seien private Interessen, die nicht dem Wohle des Volkes zuträglich seien, sondern das »Volksvermögen« aktiv schädigten.208 Die – in den Augen des Volksstaat stetig wachsenden – Korruptionserscheinungen interpretierte das Blatt jedoch lediglich als Symptom eines größeren Problems. Die wahre Ursache der Missstände sei in der zugrundeliegenden wirtschaftlichen und politischen Ordnung Preußens zu suchen. Die Enthüllungen Laskers müssten als ein erster Versuch verstanden werden, die Korruption öffentlich zu machen. Die Tatsache jedoch, dass Lasker ein Teil des Systems sei und daher der Motivation entbehre, dem »Krebsschaden fest auf den Leib zu rücken und unerbittlich das Messer anzusetzen«, stehe seinem Erfolg im Wege.209 Das Zögern Laskers, Bismarck direkt für die Vergehen seiner ».me damn8e« Wagener anzuklagen, belege seine Unfähigkeit, die Korruption zu

206 207 208 209

Zielstrebigkeit und Intensivität noch nicht mit dem ab Mitte der 1870er Jahre entstehenden Antisemitismus zu vergleichen. Volksstaat, Corruption, 22. 1. 1873. Johnston, The Search for Definitions, S. 322. Deutsche Übersetzung zitiert aus: Engels, Geschichte der Korruption, S. 29. Der Volksstaat, Zu den Lasker’schen Enthüllungen, 5. 2. 1873. Volksstaat, Corruption, 22. 1. 1873.

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beseitigen.210 Stattdessen übte nun der Volksstaat an Laskers Stelle harte Kritik: Wagener habe mit dem Einverständnis Bismarcks die Innenpolitik des neuen Reiches entworfen und sei daher unabdingbar mit dem System verbunden, er sei gleichermaßen dessen Architekt und Repräsentant. Bismarck seinerseits habe von den illegitimen wirtschaftlichen Unternehmungen seines »Alter Ego«211 gewusst und lasse sich im »praktischen Leben von ähnlichen Grundsätzen leiten.«212 Diese Argumentation und Auslegung scheinbarer Fakten nutzte der Volksstaat für einen eigenen Skandalisierungsversuch: In der preußischen Presse sei weithin bekannt, dass Bismarck in Varzin eine Papierfabrik besitze, die Staatsaufträge ausführe, »so daß also der Papier-Fabrikant Bismarck mit dem Staatskanzler Bismarck Geschäfte macht, wobei selbstverständlich der Papierfabrikant nicht schlecht wegkommt.«213 In Verbindung mit der Anklage gegen Wagener und vor dem Hintergrund der sozialdemokratischen Korruptionsdefinition musste dem/der zeitgenössischen LeserIn an dieser Stelle klar sein, dass der Volksstaat den Reichskanzler der Korruption bezichtigte: Das Blatt würdigte nicht nur die Privatperson Bismarck herab, sondern dehnte sein Urteil auf Bismarcks gesamte Politik sowie seine direkten Angestellten und die mit ihm verbundenen Politiker aus. Unter den großen politischen Zeitungen des Kaiserreichs fand der Generalangriff des Volksstaats keinen Widerhall, er wurde weder rezipiert noch kommentiert. Dennoch stellt er den Versuch dar, den Vorwurf der Korruption zu instrumentalisieren und geschickt mit einer politischen Debatte über die Innenpolitik Bismarcks zu verbinden. Dass das Vorhaben des Volksstaats nicht von Erfolg gekrönt war, lag vor allem auch an den politischen Kräfteverhältnissen der frühen 1870er Jahre. Die Sozialdemokraten waren zu diesem Zeitpunkt in zwei Fraktionen gespalten, das preußische Dreiklassenwahlrecht hinderte sie daran, in das Abgeordnetenhaus einzuziehen und auf dieser Bühne an der politischen Debatte zu partizipieren. Darüber hinaus waren die Galionsfiguren der Sozialdemokraten, Liebknecht und Bebel, in der politischen Landschaft des Kaiserreichs nach der Verurteilung im Leipziger Hochverratsprozess 1872 als Landesverräter gebrandmarkt worden. Vor diesem Hintergrund muss der Korruptionsvorwurf des Volksstaats als Reaktion auf die politische Isolation und Machtlosigkeit verstanden und mit Blick auf das sozialdemokratische Politikverständnis interpretiert werden. Er war Ausdruck einer Generalkritik an den Führungsgestalten des neuen Reichs und besonders des reaktionären Preußens, dessen Parlament in den Augen der Sozialdemokraten einem »Puppenspiel« 210 211 212 213

Volksstaat, o. T., 2. 4. 1873. Ebd. Volksstaat, Politische Uebersicht, 15. 2. 1873. Ebd.

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glich, das nur der Besänftigung des Volkes diente.214 Die Kritik der Sozialdemokratie war im Vergleich zu der Landtagsdebatte oder den Argumentationen anderer Presseorgane stellenweise wenig fundiert sowie von Detailmangel gekennzeichnet, dafür aber umso stärker ideologisch aufgeladen. Wenngleich der Volksstaat für sich in Anspruch nahm, von den Interessen des Landes oder einer Schädigung des Volkswohls zu sprechen, so etablierte er doch zugleich auch eine Trennung zwischen der ›sündenfreien‹ Arbeiterklasse – deren Interessen im Zentrum der Argumentation standen – und der für die Korruption verantwortlichen kapitalistischen Bourgeoisie.215 Hier lässt sich erkennen, warum die ausführliche Darstellung der sozialdemokratischen Position von 1873 von großer Bedeutung ist. Sie bildet die Basis des späteren systemischen Korruptionsverständnisses der Sozialdemokratie, das auf der organischen Verbindung von Kapitalismus, Korruption und Politik beruhte. Betrachtete man die politische Lage der Sozialdemokratie und ihre Motivation, die Korruptionsvorwürfe zu instrumentalisieren, so lassen sich Gemeinsamkeiten mit der katholischen Zentrumspartei entdecken. Auf den ersten Blick scheinen beide Parteien sehr unterschiedlich. Das Zentrum, eine traditionelle Honoratiorenpartei, die ihren Ursprung in den 1860er Jahren hatte, konnte bei der ersten Wahl zum deutschen Reichstag 1871 knapp 19 % aller Wählerstimmen auf sich vereinigen und damit die zweitgrößte Fraktion stellen.216 Im deutlich konservativeren preußischen Abgeordnetenhaus war das Zentrum 1873 immerhin mit 52 von 432 Abgeordneten vertreten. Anders als die Sozialdemokratie konnte das Zentrum so an den parlamentarischen Debatten beider Abgeordnetenhäuser teilnehmen. Gemeinsam war den beiden Parteien aber, dass sie sich im politischen Alltag im wachsenden Maße der Herabwürdigung und der beginnenden Verfolgung durch Bismarck ausgesetzt sahen. Besonders das Zentrum fand sich zunehmend in direktem Konflikt mit der Innenpolitik Bismarcks.217 Mit der Auflösung der katholischen Abteilung im preußischen Kultusministerium im Juli 1871 schlug sich der sogenannte »Kulturkampf« in ersten legislativen Maßnahmen nieder, die mit dem Kanzelparagraph (Dezember 1871), dem Jesuitengesetz (Juli 1872) und dem preußischen Schulaufsichtsgesetz (März 1872) erweitert und zugespitzt wurden.218 Fortan musste die katholische 214 Volksstaat, Zu den Lasker’schen Enthüllungen, 5. 2. 1873. 215 Beispielhaft Volksstaat, Corruption, 21. 1. 1873. 216 Zur Organisation der Zentrumspartei vor 1890 ein erster Überblick bei Ulrich von Hehl: »Vom Honoratioren- zum Berufspolitiker? Das Zentrum im Kaiserreich«, in: Lothar Gall (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn 2003, S. 151–184. 217 Ein erster Überblick über die Beziehung Bismarck-Zentrum bei Rudolf Morsey : »Bismarck und das Zentrum«, in: Lothar Gall (Hrsg.), Otto von Bismarck und die Parteien, Paderborn 2001, S. 43–72. 218 Kurze Zusammenfassung mit aktuellen Forschungstendenzen und Bibliographie: Olaf

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Presse in ihrer Berichterstattung Vorsicht walten lassen, um eine Verschärfung des Konflikts und weitere Repressionen zu vermeiden. Zugleich suchten die zentrumsnahen Zeitungen aber auch, Einfluss zu nehmen und ihrerseits das Vorgehen Bismarcks und der den Reichskanzler im Kulturkampf unterstützenden Nationalliberalen Partei zu kritisieren. Laskers Korruptionsvorwürfe boten dem Zentrum hierfür eine Chance. Die katholische Germania etwa verfolgte diverse Strategien: Um Kritik an dem Reichskanzler zu üben, ohne sich Zensur und Verfolgung auszusetzen, zitierte das Blatt wiederholt bismarckkritische Artikel anderer Presseorgane, beispielsweise aus der Vossischen Zeitung.219 Periodika, die sich der Verteidigung Bismarcks oder der Staatsregierung widmeten, wie beispielsweise die Post, brandmarkte die Germania als »officiöse«, »inhonette« Blätter und hob schließlich auch Streitigkeiten der verschieden »Preßbureaus« untereinander hervor, um diese in der öffentlichen Meinung herabzusetzen.220 Indem das katholische Blatt auf die (angebliche) Abhängigkeit einzelner Zeitungen von Staatsorganen anspielte, beteiligte es sich an einer Debatte über Pressefreiheit, die sich an der Berichterstattung über den Skandal entzündete, aber nur in sehr begrenzten Zirkeln rezipiert wurde.221 Weiterhin unternahm die Germania den Versuch, ihre beiden politischen Gegner, die Nationalliberale Partei und Reichskanzler Bismarck, gegeneinander auszuspielen. Wiederholt betonte die Zeitung, dass hinter dem Korruptionsvorwurf Laskers der nationalliberale Versuch stehe, eine Vakanz im preußischen Handelsministerium zu erzeugen und diese mit einem Politiker aus den eigenen Reihen zu füllen.222 Die Nationalliberale Partei habe durch ein ähnliches Vorgehen im Januar 1872 bereits Kultusminister Dr. Adalbert Falk in den Sattel gehoben.223 Die Germania wollte auf diese Weise das parlamentarische Machtstreben der Nationalliberalen betonen, das bei Bismarck selbstreden auf Missfallen stoßen musste. Im gleichen Zuge berichtete das katholische Blatt sodann, dass Bismarck die nationalliberale »Fusangel«, die »kecke Forderung nach einer selbstständigen Parlamentarischen Untersuchungscomission« entdeckt und mit

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Blaschke: »Das Deutsche Kaiserreich im Zeitalter der Kulturkämpfe«, in: Sven Oliver Müller/Cornelius Torp, Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 185–202. Beispielhaft Germania, Deutschland, 25. 2. 1873. Germania, o. T., 26. 2. 1873; Dies., Die Seeräuber, 26. 2. 1873. Zu Wort meldeten sich bspw. der Hannoversche Courier, die Nationalzeitung, die Vossische Zeitung. Vgl. bsph. Germania, Wochen Rundschau, 19. 1. 1873; Dies., Wochen Rundschau, 16. 2. 1873. Germania, Wochen Rundschau, 16. 2. 1873. Zu Adalbert Falk: Stephan Skalweit, »Falk, Paul Ludwig Adalbert« in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 6f. [Onlinefassung], URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118683020.html (2. 2. 2015).

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der königlichen Untersuchung erfolgreich abgewehrt habe.224 Auf diese Weise betonte die Germania die Stärke des Reichskanzlers; sie verwies auf die Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Bismarck und den Nationalliberalen und zeigte den begrenzten Spielraum nationalliberaler Politik auf. Neben dem Versuch, Bismarck und die Nationalliberale Partei zu schwächen, bemühte sich die Germania auch, die eigene Position zu stärken. Sie stellte die These auf, der Kulturkampf sei Teil der innenpolitischen Agenda, weil bestimmte soziale Gruppen überdurchschnittlich von ihm profitierten, und versuchte dies anhand von Laskers Korruptionsvorwürfen zu belegen. Nachdem die wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren 1871/72 langsam ins Stocken geraten sei, habe man mithilfe des Kulturkampfes das Vertrauen der Wirtschaftsorgane wiedergewinnen und für einen Aufschwung sorgen können. Funktioniert habe dieses Vorgehen, da die Nationalliberalen allesamt »Gründer, Verwalthungsräthe und Directoren von Banken und Actiengesellschaften« seien, die nach dem Triumph über die katholischen »Reichsfeinde« erneut Investitionen am Markt tätigten. So bestehe ein »enge[r] Zusammenhang zwischen Gründerthum, Loge, Börsenschwindel und Katholikenhetze«.225 Ähnlich wie einige Argumentationsstränge des Volksstaats stand diese Deduktion der Germania auf höchst wackeligen Beinen und wurde nicht durch konkrete Belege gestützt. Sie lässt sich nur vor dem Hintergrund der erläuterten soziopolitischen Hintergründe der Zeit erklären. Grundsätzlich gilt dies natürlich für die Argumentation aller an der Korruptionsdebatte beteiligten Akteure, doch sind die prekären Umstände des Zentrums und der Sozialdemokratie als Grund für ihr Auftreten besonders hervorzuheben. Bezieht man sie in die Analyse ein, so wird deutlich, warum die beiden politischen Richtungen den Korruptionsvorwurf nicht allein mit dem tagespolitischen Geschehen, namentlich der Budgetdebatte verbanden, sondern ihn als Erklärung für die scheinbaren Missstände des gesamten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Systems herangezogen. Was letztlich jedoch die Berichterstattung aller Zeitungen ungeachtet ihrer politischen Gesinnung verband, war, dass sie die Korruptionsvorwürfe als Mittel der politischen Kommunikation, als eine ihnen zur Verfügung stehende Ressource begriffen. Dafür sprechen die Versuche der Zeitungen, die Strategien des Gegners als solche zu enttarnen und damit ihrer Wirkungsmacht zu berauben. Hervorzuheben ist, dass alle Parteien – auch wenn sie nicht im Abgeordnetenhaus vertreten waren – mittels der ihnen nahestehenden Zeitungen Zugang zu dieser medialen Debatte hatten. Dabei bestand das Interesse der Akteure darin, im Abgeordnetenhaus wie in der Presse die Korruptionsvorwürfe möglichst gewinnbringend für sich zu nutzen. Einerseits ging es darum, Einfluss auf das 224 Germania, Wochen Rundschau, 16. 2. 1873. 225 Beispielhaft Germania, Gründer und Gesetzmacherei, 11. 2. 1873.

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politische Tagesgeschehen, namentlich die Budgetdebatte und Auseinandersetzung um das preußische Eisenbahnwesen, zu nehmen und die eigenen Positionen zu stärken. Andererseits unternahmen die Akteure aber auch den Versuch, tiefergehende politische Entwicklungen, wie etwa die politischen Partizipationsrechte, mit den Enthüllungen argumentativ in Verbindung zu bringen und auf diese Weise zu beeinflussen. Die mediale Berichterstattung griff dabei zusätzliche Themen auf, die im Parlament nicht behandelt wurden, etwa den Kulturkampf. Gerade dieses Beispiel zeigt vorbildlich, wie es den Akteuren gelang, den Korruptionsvorwurf mit externen Themen zu verknüpfen und in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. So illustriert die Debatte in beiden Arenen – in Parlament und Presse – nicht zuletzt, dass die Parteien die Korruptionsvorwürfe als Mittel der politischen Kommunikation aktiv nutzten, den Umgang mit ihnen regelrecht zu testen schienen. Beispielhaft hierfür ist nicht zuletzt der im Sande verlaufene, sozialdemokratische Versuch einer Nebenskandalierung. Er zeigt, dass es den Liberalen zwar bereits 1873 gelang, das Potenzial des Korruptionsvorwurfs für sich erfolgreich nutzbar zu machen, dass dies aber in deutlich geringerem Maße für die oppositionellen Parteien des Zentrums und der Sozialdemokratie galt. Die Erklärung hierfür liegt in der Mischung aus politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umständen, in den vorherrschenden Akteurskonstellationen und den angewandten Strategien – der Korruptionsvorwurf war eine unberechenbare Ressource, die einzelne Akteure bevorteilen oder benachteiligen konnte.

2.3

»Das Preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral«226 : Normenaushandlungsprozesse in der öffentlichen Debatte

Abschließend konzentriert sich die Untersuchung auf eine einzelne Facette der öffentlichen Debatte, die in der bisherigen Analyse bewusst ausgeklammert worden ist. Es handelt sich dabei um gesellschaftliche Normenaushandlungsprozesse, die im Rahmen des Skandals ausgetragen wurden. Ihre gesonderte Darstellung hat Gründe: So stellen Normenaushandlungsdebatten im weiteren Verlauf der Arbeit eine wichtige Facette des Vergleichs dar. Die Ergebnisse dieses Kapitels bilden die Grundlage, auf die es sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zu beziehen gilt. Ausschlaggebend für die Normenaushandlungsdebatte, die im Kontext des Skandals 1873 entstand, war ein Artikel der offiziösen Provinzial-Correspondenz 226 Provinzial-Correspondenz, Das preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral, 12. 2. 1873.

Normenaushandlungsprozesse in der öffentlichen Debatte

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mit dem Titel »Das preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral«227. Der Text widmete sich den Parlamentsreden von Lasker und Roon vom 7. Februar 1873 und stellte dabei den moralischen Charakter der Anklage zur Diskussion. Das Besondere daran war, dass dieser Aspekt in der parlamentarischen Debatte bis dato beinah gänzlich unbeachtet geblieben war. Die Provinzial-Correspondenz argumentierte, dass es sich bei der Rede Laskers um einen »Weck- und Mahnruf« gehandelt habe, der sich an alle jene richte, »welche zur Arbeit für das Wohl des Staates berufen sind, der Ausdehnung jener Gefahren durch Stärkung der öffentlichen Moral einen Damm entgegen zu setzen.« Unter ›Gefahren‹ verstand das Blatt die vielfältigen Formen der »Versuchung«, die durch den finanziellen und wirtschaftlichen Erfolg Preußens in den letzten Jahren zugenommen hätten. Die mediale Debatte, die auf den Artikel folgte, stützte sich zum einen auf den in den 1870er Jahren gesellschaftlich etablierten Konsens, dass sich Individuen zwischen zwei Teilsphären bewegten: der Sphäre des privaten und der Sphäre des öffentlichen Lebens. Die zitierte Korruptionsdefinition des Volksstaats beispielsweise beruhte genau auf eben jener Trennung. Zum anderen lässt sich aus den Argumentationen der Akteure und Zeitungen erkennen, dass ein Bewusstsein dafür herrschte, dass private Interessen allzu häufig den Bedürfnissen größerer Gruppen gegenüberstanden und dass sich aus dieser Divergenz das Potenzial für (Korruptions-)Kritik ergab. Besonders die Analyse der Presseberichterstattung hat gezeigt, dass verschiedene Akteure für sich in Anspruch nahmen, die Interessen einer wie auch immer umrissenen Allgemeinheit, des Volkes oder des Landes zu vertreten. Aus dieser Position heraus konnten sie den Vorwurf der Korruption gegen jene erheben, die gegen gesellschaftliche Normen und subjektive Deutungen des ›Allgemeinwohls‹ verstießen. An der Schnittstelle von öffentlich und privater Sphäre bewegte sich auch der Staatsbeamte. Genau wie der politische Mandatsträger wurde sein Verhalten im besonderen Maße an subjektiven Vorstellungen des Allgemeinwohls und moralischen Handelns gemessen. Subjektiv deshalb, weil der Skandal der Eisenbahnkonzessionen offenbart, dass um 1873 eine Trennung von öffentlich und privaten Handlungsbereichen zwar etabliert, über die leitenden Normen für diese Sphären aber gesellschaftlich noch kein Konsens vorhanden war. Die Korruptionsdebatte wurde zum Austragungsort dieser Normenaushandlungsprozesse. Die preußische Beamtenschaft verfügte über einen hohen sozialen Status und war in der allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung untrennbar mit dem 227 Vgl. im Folgenden: Provinzial-Correspondenz, Das preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral, 12. 2. 1873. In dem Zitat deutet sich die abwehrende Haltung des politischen Katholizismus zu Logen an, die – wie hier an der Argumentation des Zentrums zu erkennen – in den Glauben an Verschwörungstheorien abdriften konnte.

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preußischen Staat und dessen Gloria verbunden:228 »Die ruhmvolle Entwicklung des preußischen Staates beruht auf den zwei sicheren Säulen seines Heerwesens und seines Beamtenthum: keine derselben darf in ihrer Festigkeit erschüttert werden, wenn nicht die Zukunft des Staates preisgegeben werden soll.«229 Dieses Zitat der Provinzial-Correspondenz illustriert beispielhaft, welche Bedeutung dem preußischen Beamten zugeschrieben wurde. Eine öffentliche Herabsetzung war daher gänzlich undenkbar. Wie die Arbeit im Folgenden zeigen wird, scheute sogar die Opposition über Jahre davor zurück, das preußische Beamtentum in seiner Gesamtheit mit Korruptionsvorwürfen zu attackieren. Dies gilt auch für das Jahr 1873: Die grundlegende ›moralische Gesundheit‹ des Beamtentums wurde von keinem Akteur in Frage gestellt, der Artikel der ProvinzialCorrespondenz eröffnete jedoch eine Debatte über die Tragweite von Wageners Handlungen sowie deren gesellschaftliche Legitimität und, damit verbunden, auch über die Rolle der Untersuchungskommission. Die beiden Pole der Debatte bildeten die offiziösen Blätter – die Norddeutsche Allgemeine Zeitung und die Provinzial-Correspondenz – auf der einen und die liberalen Organe – das Berliner Tageblatt und die Kölnische Zeitung – auf der anderen Seite. Die Provinzial-Correspondenz legte ihrer Argumentation die Rede Laskers vor dem preußischen Abgeordnetenhaus zugrunde, in welcher der Abgeordnete das Beamtentum von einem Generalverdacht freigesprochen hatte. Das Verhalten Wageners, so Lasker, sei nicht repräsentativ für die preußische Beamtenschaft, die in ihrer Gesamtheit weder charakterschwach noch korrupt sei.230 Mit diesem Schachzug versuchte das Blatt in der Öffentlichkeit, die Vorwürfe Laskers abzuschwächen und stattdessen die Gleichheit der Interessen von Regierung und Abgeordneten zu betonen. So stellte die Provinzial-Correspondenz die Untersuchungskommission als das ehrliche Bedürfnis der Regierung um König Wilhelm I. nach gewissenhafter Aufklärung dar. Darüber hinaus sei die Untersuchung Antwort auf das Verlangen des Volkes, die »Bewahrung der sittlichen Grundlagen des Staatslebens« zu sichern.231 Schließlich beschrieb das offiziöse Blatt die Kommission als Ausdruck des »übereinstimmenden Strebens und des Vertrauens […], welche zwischen der Regierung und der Landesver-

228 Hinweise auf diese Symbiose und die Bedeutung der preußischen Bürokratie für den Staat und die Monarchie u. a. bei Christopher Clark: Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600–1947, London 2007. Leider steht eine umfassende Untersuchung, die sich eingehend mit dem ›Mythos des preußischen Beamtentums‹ beschäftigt, noch aus. 229 Provinzial-Correspondenz, Das preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral, 12. 2. 1873. 230 Vgl. Wortbeitrag Lasker, 39. Sitzung des Preußischen Landtags am 7. 2. 1873, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 239, S. 940, 948. 231 Provinzial-Correspondenz, Das preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral, 12. 2. 1873.

Normenaushandlungsprozesse in der öffentlichen Debatte

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tretung besteht.«232 Es ist davon auszugehen, dass auf diese Weise der Druck auf das Parlament im Allgemeinen und auf die Nationalliberale Fraktion im Besonderen, der königlichen Untersuchung zuzustimmen, erhöht werden sollte. Die Taktik war erfolgreich. Eine Ablehnung der Zusammenarbeit hätte bedeutet, die Motive des Staatsoberhauptes und der Staatsregierung in Frage zu stellen. Diesen Schritt wagten weder Abgeordnete noch politische Zeitungen. Stattdessen sahen sich die Nationalliberalen genötigt, ›gute Miene zu bösem Spiel zu machen‹ und die Königliche Kommission zu befürworten.233 In Bezug auf die Vorwürfe gegen Wagener argumentierte die Provinzial-Correspondenz sodann, dass sich die Anklage nicht auf dessen amtlichen Tätigkeitsbereich beziehe, sondern einzig seine Aktivitäten als Privatmann betreffe.234 Auch in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung wurde Wagener mithilfe dieser Argumentation, die unterschiedliche Normen an die Lebens- und Arbeitsbereiche von Beamten anlegte, entlastet,: »Die große öffentliche, durch die Macht genialer Beredsamkeit getragene Beurtheilung der Handlungsweise des Privatmannes hat die Wirkung einer Exekution ohne Urteil und Recht.«235 Gegen eine solche Interpretation protestierten die nationalliberalen Zeitungen vehement. Das Berliner Tageblatt argumentierte, dass »jeder Beamte zugleich Privatmann ist«, und dass die preußischen Beamten auch in ihrem Privatleben die »Unbescholtenheit ihres Charakters« zu wahren hätten.236 Der moralische Fehltritt eines einzelnen Beamten stelle bereits eine potenzielle Gefahr für das gesamte Beamtentum dar, bleibe er unaufgeklärt. Das Zögern, einen Beamten für seine Fehler zur Rechenschaft zu ziehen, komme gleich, »dem Rechtsgefühl des Volkes in’s Gesicht [zu]schlagen und ihr Hauptinteresse, die Reinheit und Ehrenhaftigkeit des Beamtenstandes aufrecht zu erhalten, auf ’s Allerschlimmste [zu]beeinträchtigen.«237 Die nationalliberale Presse wendete auf diese Weise einen ähnlichen Kniff an wie die offiziösen Blätter. Indem sie für sich in Anspruch nahm, die Interessen des Volks zu vertreten, suchte sie ihre Forderungen nach einer parlamentarischen Untersuchung zu legitimieren und durchzusetzen, Beamten an einer universalen Norm sowohl in privaten wie auch beruflichen Belangen zu messen. Die Ausgestaltung dieser Norm sollte dabei in

232 Provinzial-Correspondenz, Eine Königliche Untersuchungs-Kommission, 19. 2. 1873. 233 Beispielhaft Kölnische Zeitung, Die Woche, 21. 3. 1873, Bl. 1; Berliner Tageblatt, o. T., 19. 3. 1873. 234 Provinzial-Correspondenz, Das preußische Beamtenthum und die öffentliche Moral, 12. 2. 1873. 235 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Politischer Tagesbericht, 9. 2. 1873. 236 Berliner Tageblatt, Lasker’s Enthüllungen, 9. 2. 1873. 237 Berliner Tageblatt, Politische Tagesübersicht, 13. 2. 1873.

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Der Fall der preußischen Eisenbahnkonzessionen 1873

den Händen der deutschen Volksvertretung liegen, die, unabhängig und allein der Nation verpflichtet, die Aufgabe eines Gerichtshofes übernehmen sollte.238 Der Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen zeigt am Beispiel des preußischen Beamten, dass zu Beginn des deutschen Kaiserreichs in der politischen Debatte eine Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre allgemeinhin akzeptiert, die handlungsleitenden Normen, die über beide Sphären herrschten, aber noch nicht austariert waren. Die Korruptionsdebatte wurde zum Kulminationspunkt dieses Aushandlungsprozesses, der einen vorläufigen Abschluss in dem Antrag fand, die Beschäftigung von Staatsbeamten in privaten Unternehmen neuen Regularien zu unterziehen.239 Der späte Rücktritt der beiden (Ministerial-)Beamten Itzenplitz und Wagener lässt vermuten, dass die Position der Nationalliberalen, Beamte müssten jederzeit das Interesse des Volkes den privaten Interessen unterwerfen, mit dem Ende des Skandals an Stärke gewann. Es scheint nicht mehr möglich gewesen zu sein, eine Person langfristig im Amt zu halten, die öffentlich der »Korruption« überführt worden war. Die folgenden Kapitel werden untersuchen, wie die politische Öffentlichkeit des Kaiserreichs in den kommenden Jahren auf Korruptionsvorwürfe reagierte und ob – so die zu erforschende These – tatsächlich eine Homogenisierung der Normen in Bezug auf Korruption stattfand.

238 Kölnische Zeitung, Lasker im Abgeordnetenhaus, 17. 2. 1873. 239 Vgl. u. a. 74. Sitzung des Preußischen Landtags, 10. Mai. 1873, Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 1873f.

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit: Die lange Korruptionsdebatte der 1870er Jahre

Das vorangegangene Kapitel hat untersucht, wie es dem nationalliberalen Abgeordneten Eduard Lasker gelang, den ersten Korruptionsskandal des neuen deutschen Reichs, den Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen, zu entfachen. Die Ereignisse des Jahres 1873 folgten einem für das Kaiserreich typischen Skandalverlauf. Auf die Enthüllung des Normbruchs folgte eine sich stetig zuspitzende Korruptionsdebatte, die nach einem oder mehreren sich steigernden Höhepunkten zügig abflaute.240 Während der Fokus des Skandals im Jahre 1873 jedoch auf der Debatte im preußischen Abgeordnetenhaus lag, gewann in späteren Jahren die mediale Debatte zunehmend an Bedeutung. Das nachfolgende Kapitel wird eine weitere Form der Korruptionsdebatte untersuchen, die bislang noch nicht wissenschaftlich analysiert und als solche auch noch nicht explizit benannt worden ist. Der Einfachheit halber wird sie an dieser Stelle als die ›lange Korruptionsdebatte‹ bezeichnet. Diese Erscheinungsform der Korruptionsdebatte unterschied sich deutlich von einem Skandal – wenn man der grundlegenden Definition folgt, der zufolge Skandale zeitlich beschränkte, oft unerwartete Eruptionen von Korruptionsvorwürfen unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit darstellten, die in verschiedenen Teilöffentlichkeiten rezipiert wurden.241 Als lange Korruptionsdebatte hingegen soll eine Summe von über lange Zeiträume hinweg erhobener Korruptionsvorwürfe in kleinen, begrenzten Teilöffentlichkeiten bezeichnet werden, die eine inhaltliche Kohärenz aufwiesen und untereinander rezipiert und miteinander in Bezug gesetzt wurden. Dabei konnten sich die Vorwürfe zu 240 Dieser Ablauf ähnelt am ehesten dem, was die wissenschaftliche Skandalforschung in den letzten Jahren als Model für den modernen Medienskandal eruiert hat. Da im Kaiserreich die Gerichte und Parlamente während der Skandale jedoch noch eine deutlich bedeutendere Funktion einnahmen als heute, ist eine enge Orientierung an den modernen Schemata nicht zielführend, wie bereits Annika Klein am Beispiel der Weimarer Korruptionsskandale argumentiert hat. Vgl. bsph. Burkhardt, Medienskandale, Kap. 12, S. 178f.; Klein, Korruptionsskandale, S. 20f. 241 Wie Verweis 47.

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

bestimmten Zeitpunkten ›verdichten‹, ohne jedoch in einem veritablen Skandal zu kulminieren. Vielmehr handelte es sich um den Export bekannter Vorwürfe in neue Teilöffentlichkeiten oder um eine momentane Debatte über verschiedene Teilöffentlichkeiten hinweg. Gemein hatten beide Variationen der Korruptionskommunikation, dass der Vorwurf der Korruption von verschiedenen Akteuren in der politischen Kommunikation als Ressource genutzt und instrumentalisiert wurde. Die lange Korruptionsdebatte, welche im Folgenden dargestellt wird, schloss zeitlich an den Skandal um die Vorwürfe Eduard Laskers an und dauerte von 1874 bis etwa 1877. Dabei stellten die Enthüllungen des nationalliberalen Politikers einen wichtigen Referenzpunkt der Debatte dar, die sich in Form und Inhalt jedoch bald in eine eigenständige Richtung entwickelte. Vor allem änderte sich die Akteurskonstellation: Am Pranger stand nun die liberale Wirtschaftspolitik der frühen 1870er Jahre, die Bismarck mit Unterstützung nationalliberaler Politiker verfolgt hatte. So richteten sich Vorwürfe beispielsweise explizit gegen den Präsidenten des Reichskanzleramts Rudolph von Delbrück, Finanzminister Otto von Camphausen sowie gegen den Reichskanzler selbst. Wortführer der Kritik waren vorrangig Politiker der konservativen Parteien, konservative Adelige und Publizisten, doch auch Vertreter des politischen Katholizismus nahmen aktiv an der Debatte teil. Einen homogenen Vorwurf der Korruption oder eine gemeinsame Arena als Austragungsort der Debatte gab es nicht. Stattdessen partizipierten viele unabhängige Akteure in verschiedenen Arenen wie dem Parlament, der Tagespresse oder auch dem Gerichtssaal. In der nachfolgenden Darstellung geht es weniger um eine möglichst vollständige Erfassung der Korruptionskommunikation.242 Vielmehr stehen zwei Erkenntnisziele im Vordergrund. Inhaltlich soll erstens die Verknüpfung von Korruptionsvorwürfen, Antiliberalismus und Judenfeindlichkeit243 untersucht werden, welche die thematisch-argumentative Grundlage der Korruptionsde242 In seiner Magisterarbeit hat Jan Schubert große Teile der Ereignisse, welche die lange Korruptionsdebatte konstituieren, zusammengetragen und unter dem Aspekt der Judenfeindlichkeit untersucht. Sofern nicht anders angegeben, orientieren sich Verlaufsdarstellungen daher an: Jan Schubert: Korruptionsdebatten im Deutschen Kaiserreich. Bismarcks Bankier Gerson Bleichröder im Brennpunkt der Kritik (1875–1893), Freiburg i. Br. 2007, unveröffentlichte Magisterarbeit. 243 In der Forschung geht man bisher davon aus, dass der Begriff Antisemitismus 1879 erstmals Eingang in den zeitgenössischen Diskurs fand. Geprägt wurde der Ausdruck von Wilhelm Marr, der ihn nutzte, um sich von älteren, religiös motivierten Formen der Judenfeindlichkeit abzusetzen. Vgl. Thomas Nipperdey/Reinhard Rürup: »Antisemitismus – Entstehung, Funktion und Geschichte eines Begriffs«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland., Stuttgart 1972, Bd. 1, S. 129f. Aus diesem Grund wird in dem vorliegenden Kapitel, das sich mit den Jahren vor 1879 beschäftigt, vorrangig der Begriff der Judenfeindlichkeit benutzt.

Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

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batte konstituierte und sie maßgeblich prägte.244 Diese Verbindung erzeugte ein Argumentationsangebot, mit dem die politische und wirtschaftliche Ordnung des Kaiserreiches angegriffen werden konnte und das Eingang in die politische Kommunikation fand. Darüber hinaus illustriert die Verknüpfung dieser Themenfelder, dass eine Korruptionsdebatte keinesfalls ein isoliertes gesellschaftliches Phänomen darstellt, sondern viele Schnittpunkte mit anderen gesellschaftlichen Diskursen aufweist. Auf theoretischer Ebene geht es darum, die Funktionsweise einer über Jahre andauernden Korruptionsdebatte genauer zu untersuchen. Ziel ist es, zu zeigen, welche Verwendung der Korruptionsvorwurf erfuhr und auf welche Weise und mit welchen Motiven Akteure an der langen Korruptionsdebatte partizipierten. Die Untersuchung erfolgt in mehreren Schritten: Zu Anfang werden überblicksartig die Folgen der im Oktober 1873 einsetzenden wirtschaftlichen Depression erläutert, die Auslöser für sich verändernde bzw. neue wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen war. Anhand verschiedener Flugschriften werden sodann die Themen der Korruptionsdebatte identifiziert und untersucht, wie Akteure diese argumentativ miteinander verknüpften: Die Publikationen von Franz Perrot und Otto Glagau repräsentieren den Beginn der langen Korruptionsdebatte. Sie zeigen unter anderem, wie sich die Verbindung zwischen dem Vorwurf der Korruption und Judenfeindlichkeit verfestigte und damit das Entstehen eines politisch organisierten Antisemitismus in den 1880er Jahren begünstigte.245 An ihrem Beispiel wird die argumentative Grundlage dargestellt, die sich durch stetige Wiederholung mit der Zeit verfestigte und zuspitzte. Das Hauptwerk Rudolf Meyers markiert in der Debatte sodann den Moment radikalster argumentativer Zuspitzung. Obgleich die Themen und Argumentationsstrategien der einzelnen Werke in diesem Abschnitt im Vordergrund stehen, werden auch biographische Merkmale der drei Autoren betrachtet, die repräsentativ für eine Vielzahl der beteiligten Akteure waren und die Hinweise auf deren Motive zulassen. In einem letzten Untersuchungsschritt werden sodann zwei Momente der Verdichtung genauer in den Blick genommen: Die sogenannten »Ära-Artikel« (1875) und der Gerichtsprozess gegen die 244 Obwohl der politische Antisemitismus oder die Präsenz des antisemitischen Stereotyps in den folgenden Dekaden nicht abnahm, lässt sich diese aggressive und explizite Verbindung in späteren Korruptionsdebatten weniger häufig nachweisen (vgl. Kap. 3.5). Für Weimar hingegen konnte Annika Klein zeigen, dass die Verbindung von Korruption und Antisemitismus häufig bedient wurde und diese eine besondere Schlagkraft entwickelte: Klein: Korruption und Korruptionsskandale, S. 483. 245 Die Entstehung des politischen Antisemitismus in den 1880er Jahren ist gut erschlossen, seine frühe Genese in den 1870er Jahren hingegen ist in der Geschichtswissenschaft bislang vergleichsweise weniger beforscht worden, vgl. Thomas Gräfe: Antisemitismus in Deutschland 1815–1918. Rezensionen – Forschungsüberblick – Bibliopraphie, Norderstedt2 2010, S. 55.

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

Deutsche Reichsglocke (1877) illustrieren, dass die Korruptionsdebatte zeitlich begrenzte Phasen erhöhter Intensität erlebte, in denen sie über das Medium der Flugschriften hinaus eine Rezeption in der politischen Presse, dem Parlament und dem Gerichtssaal erfuhr. In diesem Kontext richtet sich der Fokus auf die Akteure und ihre möglichen Motive, um zu zeigen, wie sie den Vorwurf der Korruption im Rahmen der bestehenden Debatte verwendeten und welche Möglichkeiten der (Inter-)Aktion sich ihnen boten.

3.1

Die Gründerkrise 1873

Nach einer lang anhaltenden Periode wirtschaftlichen Wachstums und Prosperität im Deutschen Kaiserreich, die ab 1866 in einem ›Gründerboom‹ kulminierte, setzte Ende des Jahres 1873 eine Deflation ein, in deren Zuge sich das Wirtschaftswachstum vor allem bis zum Jahre 1879 stark verringerte. Erst ab 1895 kann von einer Erholung und einem langfristigen Aufschwung der deutschen Wirtschaft gesprochen werden.246 Ausgehend von dem ›Berliner Börsenkrach‹ setzte dieser wirtschaftliche Abschwung nur wenige Monate nach dem Skandal um die preußische Eisenbahnkonzession im Oktober 1873 mit einer derartigen Intensität ein, dass die Zeitgenossen ihn als »Große Depression« beschrieben.247 Doch nicht nur die langfristigen Auswirkungen auf die deutsche Gesamtwirtschaft und ihre dauerhaften Veränderungen zählten zu den Folgen der Großen Depression, die Krise erreichte auch in anderer Hinsicht schnell die Bevölkerung: Hans Rosenberg hat in seinem Werk »Große Depression und Bismarckzeit« vor allem die sozialpsychischen Folgen der wirtschaftlichen Entwicklung hervorgehoben und betont, dass sie unter den Zeitgenossen eine misstrauische, gar pessimistische Grundstimmung hervorgerufen habe. Die 246 In der Rückschau wurde die wirtschaftliche Krise in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts von verschiedenen Wirtschaftshistorikern relativiert und weniger als Depression, sondern vielmehr als Deflation bzw. Abbau eines angehäuften Produktionsüberschusses begriffen. Vgl. Volker Berghahn: Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (= Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte), Stuttgart10 2006, S. 54f. Zur »großen Depression« vgl. u. a. Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880, Berlin 1977; Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs (1867/71–1914), Stuttgart 1985, S. 107–119; Walter Achilles: Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993; Hans Pohl: Festigung und Ausdehnung des deutschen Bankwesens zwischen 1870 und 1914, in: Ders./Gunther Aschhoff (Hrsg.): Deutsche Bankengeschichte, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1982, bes. S. 233–231. 247 Die Bezeichnung ›Große Depression‹ wurde auch in der Wissenschaft durch das Buch von Hans Rosenberg bekannt. Aufgrund heutiger Forschungsergebnisse (siehe oben) nimmt man von dem Begriff heute Abstand. Vgl. Rosenberg, Große Depression.

Die Gründerkrise 1873

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Euphorie und der liberale Fortschrittsglaube der Gründerzeit sei schnell verflogen, stattdessen sahen Teile der Bevölkerung der Zukunft mit wachsender Besorgnis entgegen. Grund für die negative Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Zeitgenossen sah Rosenberg vor allem in deren fehlendem Weitblick. Sie hätten vornehmlich die kurzfristigen zyklischen Wirtschaftsschwankungen bewusst erlebt, während die teilweise positiven langfristigen Konjunkturen für sie kaum wahrnehmbar gewesen seien. In Konsequenz stellte Rosenberg fest, dass ein Krisenbewusstsein und die Angst vor dem Ungewissen auch nach dem Abflauen der imminenten Krise weiterhin bei Teilen der Bevölkerung vorherrschten und die Weltsicht vieler Menschen prägten.248 Unter Eindruck dieser »traumatischen Erfahrung«249 einer aus den Fugen geratenen Umwelt florierten Erklärungsansätze, die einen klaren Schuldigen identifizierten und einfache, scheinbar plausible Lösungen anboten. Besonders attraktiv waren solche Deutungsangebote für jene, die von dem wirtschaftlichen Aufschwung wenig profitiert, in der Krise aber dennoch viel verloren hatten. Dazu gehörten beispielsweise Angehörige des unteren Mittelstandes und Vertreter des Kleingewerbes.250 Einen ebenso großen Widerhall fanden diese Erklärungsmuster außerdem bei denjenigen, die sich von der neuen liberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht vertreten oder an den Rand des politischen Spektrums gedrängt fühlten – dies traf besonders auf traditionell konservativ eingestellte Bevölkerungsschichten und Vertreter des politischen Katholizismus zu. Auch ehemalige Liberale, die sich ob der realpolitischen und wirtschaftlichen Umstände desillusioniert von ihrer ehemaligen politischen Heimat abgewandt hatten, wie etwas Flugschriftenautor Otto Glagau, waren Teil dieser Gruppe. Diese Akteure unterschiedlicher Motivation und Herkunft teilten eine Überzeugung: Sie sahen im politischen wie auch im wirtschaftlichen Liberalismus die Ursache der Krise. Belege für diese Annahmen fanden sie unter anderem in den von Eduard Lasker aufgedeckten Missständen in der preußischen Eisenbahnverwaltung, die lange Jahre von einer liberalen Politik inspiriert worden war. So erfuhr der Liberalismus in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kreisen eine weitreichende Diskreditierung und es entstanden antiliberale Argumentationsmuster, die komplexe wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorgänge der 1870er Jahre in leicht verständlichen Formeln zusammenfassten.251 248 Für den vorangehenden Abschnitt vgl. Rosenberg, Große Depression, S. 51–59. Wenn gleich die wirtschaftliche Interpretation der Krise in der neuesten Forschung eine Neuauslegung erfahren hat (vgl. Verweis 246), so gilt Rosenbergs Interpretation der sozialpsychischen Folgen noch immer als wertvoll. 249 Hans-Ulrich Wehler : Bismarck und der Imperialismus, Frankfurt a. M. 1984, S. 65. 250 Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 28. 251 Rosenberg, Große Depression, S. 66; Peter Pulzer : Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Gütersloh 1966, S. 33–69.

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

Anklang fanden diese Erklärungsansätze bei Bevölkerungsgruppen, die ihren gesellschaftlichen sowie sozioökonomischen Status in einer sich fortwährend verändernden Welt bedroht sahen und einer fortschreitenden, wie auch immer gearteten Modernisierung kritisch gegenüberstanden.252 Dabei wurde nicht ausschließlich der wirtschaftliche und politische Liberalismus als Konsequenz einer fortlaufenden Modernisierung identifiziert und attackiert, sondern zugleich eine Vielzahl verschiedener Entwicklungen, wie beispielsweise die vermeintliche Egalisierung der Gesellschaft, die zunehmenden sozialen Spannungen sowie der Verlust traditioneller Werte und Normen.253 Diese Kritik gewann früh eine judenfeindliche Komponente hinzu.254 So entstand ein ›Dreigestirn‹ aus Korruption, Antiliberalismus, Judenfeindlichkeit – gewissermaßen eine Argumentationsmasse255 –, die zur Basis der Korruptionsdebatte der 1870er Jahre avancierte und von unterschiedlichen Akteuren verschiedentlich genutzt und ausgestaltet wurde. Das Zusammenwirken dieser Themen soll nun am Beispiel der Flugschriften von Franz Perrot und Otto Glagau illustriert werden.

3.2

Neue Themen: Korruption, Antiliberalismus, Judenfeindlichkeit

3.2.1 Der Tanz um das goldene Kalb: Franz Perrot und Otto Glagau 1875 zierte die abgebildete Karikatur das Deckblatt der jüngsten Flugschrift Franz Perrots. Zusammen mit dem eingängigen Titel des Werkes »Der große Schwindel und der große Krach« diente die Abbildung der Information und Werbung potenzieller Käufer. In ihr verdichteten sich aber auch verschiedenen Annahmen Perrots, die in den frühen 1870er Jahren das Weltbild des konservativen politischen Agitators prägten. Acht Personen umringen in einem schwungvollen Ringelreigen eine Säule, auf deren Spitze ein Kalb thront. Die Figuren symbolisieren stereotype Vertreter verschiedener sozialer und religiöser Gruppen. So tanzen ein orthodoxer Jude, erkennbar an seinen Schläfenlocken und dem langen schwarzen Mantel, ein hakennasiger jüdischer Händler, 252 Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 30. 253 Vgl. u. a. Shulamit Volkov : The Rise of Popular Antimodernism in Germany. The Urban Master Artisans, 1873–1896, Princeton 1978, S. 172f. 254 Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 293f. 255 Massimo Zumbini verwendet den Begriff in seinem Werk »Die Wurzeln des Bösen«. Er wurde hier aufgegriffen, um die Flexibilität des Gespanns Korruption, Antiliberalismus, Judenfeindlichkeit und die verschiedenen Interpretations- und Auslegungsmöglichkeiten zu betonen. Massimo Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen: Gründerjahre des Antisemitismus. Von der Bismarck-Zeit zu Hitler, Frankfurt a. M. 2003.

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Abb. 3: »Der große Schwindel und der große Krach«, zeitgenössisches Flugschriftencover

ein Richter in Robe, ein uniformierter Militärangehöriger und zwei Damen in bürgerlichen Kostümen um das Monument in ihrer Mitte.256 Die Karikatur symbolisiert die Parabel vom »Tanz um das Goldene Kalb«, die im 19. Jahrhundert in der politischen Publizistik sowohl in Wort- als auch in Bildform häufig gebraucht wurde. In Anlehnung an die Bibelpassage Exodus 32, auf die sich die Parabel bezieht, repräsentiert das goldene Kalb monetäre Werte, die von den Tänzern verehrt werden.257 Im 19. Jahrhundert fasste der Ausdruck im

256 Zur Darstellung und Lesart antijüdischer Stereotype und der antijüdischen Körperdarstellung in Karikaturen vgl. Regina Schleicher : Antisemitismus in der Karikatur. Zur Bildpublizistik in der französischen Dritten Republik und im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a. M. 2009, bes. S. 33–50; Michael Haibl: »›Antisemitische Bilder‹ – antijüdische Visiotype«, in: Werner Bergmann/Ulrich Sieg (Hrsg.): Antisemitische Geschichtsbilder (=Antisemitismus: Geschichte und Strukturen Bd. 5), Essen 2009, S. 231–256. 257 Das im 19. Jahrhundert in der politischen Öffentlichkeit geläufige Sprichwort vom »Tanz um das goldene Kalb« geht auf eine biblische Erzählung zurück (Ex. 32), in der das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten um ein von Menschenhand geschmiedetes Götterbild tanzt und damit den Zorn Moses auf sich zieht. Der Tanz um das goldene Kalb gilt als »Urbild des Sündenfalls«, vgl. Klaus Koenen: Goldenes Kalb, in: Michaela Bauks/Klaus

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

übertragenen Sinne ein als unmoralisch und allein eigennützig wahrgenommenes Gewinnstreben in Worte, das sich über Rechts- oder Gesellschaftsnormen hinwegsetzte. Franz Perrot seinerseits erblickte in dem gesellschaftlichen Tanz um das goldene Kalb die Ursache des »Gründungsschwindels« der letzten Dekaden, den er in seinen verschiedenen Flugschriften der Jahre 1873–1875 aufzuarbeiten suchte. Geboren wurde Perrot 1835 in Trier.258 Nach dem Besuch der Schule diente er im 8. Artillerie-Regiment in Koblenz und besuchte im Anschluss die Vereinigte Artillerie- und Ingenieurschule in Berlin. Es ist zu vermuten, dass Perrot bereits in dieser Zeit, spätestens aber während seiner nachfolgenden Tätigkeit als Kanzleichef der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft zwischen 1863 und 1870, ein ausgeprägtes Interesse am deutschen Eisenbahnwesen und weitreichende Kenntnisse darüber erlangte. Bereits zu Anfang der 1870er Jahre begann er mit der Veröffentlichung einschlägiger Studien, in denen er sich mit den Zuständen des Eisenbahnsystems auseinandersetzte und verschiedene Reformvorschläge unterbreitete.259 Seine Schriften zeichneten sich durch große Detail- und Sachkenntnis sowie augenscheinliche Objektivität aus, sodass er Artikel gleichermaßen in konservativen wie nationalliberalen Presseorganen platzieren konnte. Bereits vor den Enthüllungen Laskers hatte Perrot Probleme mit dem in Preußen und weiten Teilen Deutschlands herrschenden gemischten Eisenbahnsystem angeprangert und für die Etablierung eines Staatsbahnsystems plädiert.260 Die wirtschaftliche Macht, die von den Eisenbahnen ausgehe, so argumentierte Perrot, solle nicht in den Händen privater (Aktien-)Gesellschaften monopolisiert werden. Zur Unterstützung seiner Thesen nahm er Bezug auf andere Länder, wie beispielsweise Belgien, England und die Schweiz, in denen man bereits von einem Privatbahnsystem Abstand genommen habe – eine Aussage, die so sicherlich nicht ganz korrekt war.261 Besonders die Zustände in den Ver-

258

259

260 261

Koenen/Stefan Alkier (Hrsg.), Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (WiBiLex), Stuttgart 2006, http://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/19820/ (12. 2. 2015). Über Perrot sind wenig biographische Informationen erhalten, auch liegt bisher keine umfassende Biographie vor. Zu seinen Lebensdaten im folgenden Abschnitt vgl. o. A.: »Franz Perrot«, in: Georg Hirth, Deutscher Parlaments-Almanach, Leipzig/München14 1881, S. 194; James F. Harris: »Franz Perrot. A Study in the development of German lower middle class social and political thought in the 1870s«, in: Studies in modern European history and culture 2 (1976), S. 73–103. Vgl. bsph. Franz Perrot: Die Eisenbahnreform. Beiträge zur Kenntniß und zur Reform des deutschen Eisenbahnwesens, Rostock 1871; Ders.: Der Eisenbahn-Actienschwindel: Resultate des Actiensystems im Eisenbahnwesen, Rostock 1873; Ders.: Der Bank-, Börsen- und Actienschwindel. Eine Hauptursache der drohenden Gefahr. Beiträge zur Kritik der politischen Oeconomie. I. Abtheilung: Der Eisenbahn-Actienschwindel, Rostock 1873. Perrot, Eisenbahnreform, S. 3–94, bes. S. 81f. Ebd., S. 81f. Vgl. bsph. Christian Ebhardt: Interessenpolitik und Korruption, Personalenetzwerke und Korruptionsdebattenam Beispiel der Eisenbahnbranche in Großbritannien und Frankreich (1830–1870), Göttingen 2015.

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einigten Staaten, wo die Macht privater Eisenbahngesellschaften »die Parlamente, die Presse und das öffentliche Rechtsbewusstsein corrumpiert [hätten] und das Ende dieser Entwicklung […] allenthalb das moralische Chaos [sei]«,262 führte Perrot als Negativbeispiel ins Felde. Thematisierte Perrot in seinen frühen Schriften vorrangig die Korruption im Ausland, so verschärften der Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen und der kurz darauffolgende Berliner Börsenkrach seine Kritik an den Zuständen im Deutschen Reich. In seinen Flugschriften verband er seine Kritik am Eisenbahnwesen nun mit einer Kritik an der Finanzwirtschaft zu einem umfassenden Generalangriff auf die deutsche Wirtschaftspolitik.263 Perrot vermutete hinter der Wirtschaftspolitik des Reiches die private Interessenpolitik einzelner »Handelsfürsten« und Bankiers, die »von den näherndsten Säften der Allgemeinheit zehrt[en].«264 Unterstützung fänden sie in der »gekauften« Presse, die zum Instrument der Aktiengesellschaften verkommen sei.265 Perrot stellte die These auf, dass zwischen den wirtschaftlichen und politischen Körperschaften enge Verbindungen bestünden, mit deren Hilfe Vertreter der Finanzen Privilegien erlangt hätten, die gegen die Prinzipien der Gewerbefreiheit verstießen: »[D]ie Geschichte des Bank- Börsen- und Aktienwesens [sei] zugleich die Geschichte der Corruption moderner Parlamente«.266 Aus der ökonomischen Entwicklung des Kaiserreichs und der zugrundeliegenden Wirtschaftsordnung leitete Perrot auf diese Weise eine umfassende ›Korruption‹ der wirtschaftlichen und politischen Institutionen des Kaiserreiches ab. ›Korruption‹ existierte in seinen Darstellungen in vielerlei Variationen und Spielarten, konstituierte nicht alleine eine Facette größerer Missstände, sondern nahm stattdessen einen systemartigen Charakter an, der die Probleme der Gegenwart bedingte. Dabei richtete sich Perrots Kritik in seinen frühen Flugschriften weder ausdrücklich gegen den Liberalismus noch explizit gegen jüdische Vertreter in Politik und Wirtschaft. Dennoch legte er mit seinen detaillierten Darstellungen Grundsteine für argumentative Deutungen dieser Art. Perrots Werke blieben bis in die Mitte der 1870er Jahre relativ unbekannt und wurden lediglich von einer begrenzten Teilöffentlichkeit rezipiert. Darunter befanden sich Gesellschaftsgruppen, die aufgrund der politischen, sozialen oder 262 Perrot, Eisenbahn-Actienschwindel, S. 19. 263 Vgl. Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel; Ders.: Das Bankenwesen und die ZettelPrivilegien: Eine Untersuchung über die Principien der modernen Wirthschaftsführung und über das Verhältniß des Bankgewerbes zu denselben, Rostock 1874. 264 Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel, S. 199–201; Ders., Bankwesen und ZettelPrivilegien, S. 133f. 265 Perrot, Bank-, Börsen- und Actienschwindel, S. 209–210. 266 Zitat: Perrot, Bankwesen und Zettel-Privilegien, S. 136. Vgl. auch: ebd., S. 140f.; Ders., Bank-, Börsen- und Actienschwindel, S. 203–207.

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wirtschaftlichen Entwicklung ähnlich wie Perrot eine große Ernüchterung empfanden und aus denen sich eine Vielzahl weiterer Agitatoren speiste. In diesem Umfeld dienten Perrots Werke jenen als Denkanstoß und Materialquelle, die bewusst oder unbewusst einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Zustand des Reiches, Korruption, Liberalismus und/oder Judentum zu erkennen glaubten. Darin besteht die Bedeutung Perrots für die Korruptionsdebatte der späten 1870er Jahre: Er erschloss neue Themenfelder und kombinierte diese unter dem Banner der Korruptionsbekämpfung erstmals miteinander. So schuf er eine Basis, auf der sich die Korruptionsdebatte des Kaiserreichs weiterentwickelte. Perrot selber radikalisierte sich in den folgenden Jahren und seine Argumentation war fortan noch stärker von einem judenfeindlichen und liberalismuskritischen Einschlag gekennzeichnet. Exemplarisch für diesen Prozess sind seine 1875 anonym in der Kreuzzeitung publizierten »Ära-Artikel«, von denen im Folgenden noch zu sprechen sein wird. Das Bild vom Tanz um das Goldene Kalb findet jedoch nicht nur in den Flugschriften Perrots Anwendung, sondern auch bei Otto Glagau, einem der wohl bekanntesten politischen Agitatoren der frühen 1870er Jahre. Glagau widmete den zweiten Artikel seiner zwischen 1874 und 1875 erscheinenden Artikelserie »Der Börsen und Gründungsschwindel in Berlin« dem »Tanz um das goldene Kalb«.267 Die zwölfteilige Reihe wurde in der populären liberalen Familienzeitschrift Gartenlaube publiziert und erlangte große Bekanntheit.268 Sie markierte den Höhepunkt des publizistischen Wirkens Otto Glagaus. Geboren 1834 in Königsberg, arbeitete Glagau nach dem Studium der Philosophie und Philologie zunächst einige Zeit als Hauslehrer.269 1863 zog er nach Berlin und begann dort eine Karriere als Publizist. Mehrere Jahre schrieb er für verschiedene Journale und Zeitungen, darunter auch für die nationalliberale Nationalzeitung. Ähnlich wie Perrot, der seine berufliche Karriere in ebenjenem 267 Die Serie erschien von 1874 (49/1874) bis 1875 (50/1875) in der Gartenlaube. Artikel Nummer 2 erschien in Heft 4/1875. Die Serie wurde 1876 in Buchform veröffentlicht: Otto Glagau: Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. Gesammelte und stark vermehrte Artikel der »Gartenlaube«, Berlin 1876. Einzusehen sind die Faksimiles inzwischen auch online: http://www.archive.org/details/derbrsenundgr02glaguoft (19. 2. 2015, Buchformat), http://de.wikisource.org/wiki/Der_Börsen-_und_Gründungsschwindel_in_Berlin_(Über sicht) (19. 2. 2015). 268 Hermann Zang schätzt die Leserschaft der Gartenlaube auf etwa zwei Millionen bei einer Auflage von 382.000 Exemplaren im Jahre 1875. Hermann Zang: Die »Gartenlaube« als politisches Organ. Belletristik, Bilderwerke und literarische Kritik im Dienste der liberalen Politik 1860–1880, Würzbug 1935, S. 14. Die Zahlen Zangs werden auch heute in der Forschung weiterhin verwendet, vgl. Pulzer, Antisemitismus, S. 78; Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 49. 269 Auch zu Otto Glagau gibt es bisher wenig biographisches Material. In der Forschung positiv aufgenommen wurde in den letzten Jahren die Arbeit von Daniela Weiland, die auf Basis ihrer Magisterarbeit entstand: Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 55f.

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Bereich begann, den er später auf das schärfste kritisieren sollte, war Glagau zunächst ein Vertreter der liberalen Ideen, die er in späteren Jahren angreifen sollte. Auch bei ihm setzte noch vor 1873 ein Wandel des politischen Denkens ein, der durch den Börsenkrach und seine Folgen aber stark verschärft wurde. Ebenso wie Perrot arbeitete Glagau die Erlebnisse der Krise schriftlich auf. Seine persönlichen Erfahrungen – Glagau hatte bei Investitionen in den sogenannten Lindenbauverein große Summen verloren – flossen dabei maßgeblich in das Theaterstück »Aktien« von 1873 ein.270 Hier spitzte Glagau antiliberale und judenfeindliche Thesen, die er bereits in den 1860er Jahren artikuliert hatte, weiter zu.271 Das Stück vermittelt die Ansicht, dass allein die »Judenschaft« von der ökonomischen Blüte der Gründerzeit profitiert und durch Schwindel und Korruption den Zusammenbruch der Wirtschaft herbeigeführt habe. In der Ablehnung des Stückes durch mehrere große Schauspielbühnen vermutete Glagau gleichfalls die Kontrolle der »Judenschaft« über den deutschen Kulturbetrieb.272 Er lamentierte: »Ach ja, es ist für uns Christen eine sehr trübe Zeit geworden! Die Judenschaft behauptet in Deutschland eine Uebermacht und einen gewaltigen Einfluß, die an Terrorismus grenzen und nachgerade unleidlich werden.«273

So wenig Erfolg »Aktien« in der ersten Hälfte der 1870er Jahre gehabt hatte, umso erfolgreicher wurde Glagaus Artikelserie in der Gartenlaube, in der er seine Thesen erstmals einem breiten Publikum präsentieren konnte. Die Reihe war thematisch nach verschiedenen Aspekten des »Börsen- und Gründungsschwindels« gegliedert. Der Grundtenor der Artikel war immer gleich: Ursprung allen Übels seien die angebliche Unterwerfung der Politik unter die wirtschaftsliberalen Prinzipien der »Manchesterleute« und der Bestechung der Presse.274 Eine kleine Gruppe erfolgreicher »Gründer« wurde der Masse der in Mitleidenschaft gezogenen Bevölkerung gegenübergestellt. Detailliert zeichnete Glagau die Verbindungen der »Gründer« untereinander nach, so dass der Eindruck eines Netzwerkes entstand, in dem gesonderte Regeln galten, Loyalitäten 270 Zu Glagaus Theaterstück »Aktien« (1873), das einen weiteren Schritt der Radikalisierung Glagaus symbolisiert, in dieser Darstellung aber nur kurz vorgestellt wird, vgl. Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 46f.; Matthew Lange: Antisemitic Elements in the Critique of Capitalism in German Culture, 1850–1933, Oxford 2007, S. 108f.; Otto Glagau: Aktien. Historisches Schauspiel aus der allerjüngsten Vergangenheit in fünf Akten, Leipzig 1877. 271 Vgl. Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 44. 272 Glagau veröffentlichte »Aktien« 1877 in Buchform. Danach wurde das Stück von einigen kleinen Bühnen aufgeführt. Glagau, Aktien, Vorwort, S. III–XV; Weiland, Otto Glagau und »Der Kulturkämpfer«, S. 47f. 273 Glagau, Aktien, Vorwort, S. XV. 274 Vgl. bsph. Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 1. Zur Einleitung.

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nur intern gewahrt und unter dem Deckmantel des Gemeinwohls Partikularinteressen verfolgt wurden.275 So entwarf er das Bild eines »korrupten« Netzwerkes, das gegen das Interesse der Bevölkerung operierte. Obwohl Glagau zu Beginn der Serie betonte, dass »Leute jede[n] Standes und jeder Religion«276 sich an dem Tanz um das goldene Kalb beteiligten, hob er die Beteiligung jüdischer »Gründer« vergleichsweise oft hervor. Sein Vorgehen und seine Anschauungen verdichten sich in folgendem Zitat: »Hercules, der Hellene, reinigte bekanntlich die Ställe des Königs Augias; Strousberg, der Semite, aber füllte und hinterließ uns einen solchen Stall, einen Augias-Stall von Unrath und Verderbniß. Er corrumpierte die Presse; er corrumpierte die Beamtenwelt und den Adel; er umging und höhnte die Gesetze; er schlug der Moral öffentlich ins Gesicht!!«277

Deutlich zeigt sich hier die Dichotomie zwischen dem jüdischen »Gründer« Strousberg und der geschädigten Allgemeinheit. Seine Zugehörigkeit zu den Opfern der Korruption unterstrich Glagau mit der inkludierenden Anrede »uns«. Auch illustriert das Zitat am Beispiel Strousbergs hervorragend den doppelten Charakter der Korruption als Anklage gegen die als illegitim wahrgenommenen praktischen Vergehen des Eisenbahnunternehmers einerseits und die von ihm ausgehende moralische ›Sittenverderbnis‹ andererseits. Glagaus Texte enthielten ein Überangebot an Informationen, Beispielen und direkten persönlichen Anklagen. Ähnlich wie bei Perrot entstand so eine dichte Beschreibung, die den Anschein von Sachlichkeit und Faktizität erweckte. Im Gegensatz zu Perrot entwickelte Glagau jedoch schon von Beginn an eine Argumentation, die deutlich schärfere antijüdische und antiliberale Züge aufwies. Für die folgende Korruptionsdebatte waren die Artikel Glagaus daher von besonderem Wert, weil sie zum einen als Materialquelle dienten und zum anderen erstmals ein Argumentationsnetz woben, das die Komponenten Judenfeindschaft, Korruption und Antiliberalismus explizit untereinander in Beziehung setzte und eine weitreichende Kritik an politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen des Kaiserreiches erlaubte.

275 Vgl. bsph. Otto Glagau: »Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 3. Gründer und Gründerpraktiken«, in Gartenlaube 7 (1875); Ders: »Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 7. Baugeschichten«, in: Gartenlaube 26 (1875). Der Eindruck eines jüdisch dominierten Netzwerkes musste vor allem bei der Lektüre von Artikel Nummer 2 entstehen, der die Netzwerke der Bankiers nachzeichnete: Ders.: »Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 2. Der Tanz um das goldene Kalb«, in: Gartenlaube 49 (1874). 276 Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 2. Der Tanz um das goldene Kalb. 277 Glagau, Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin. 1. Zur Einleitung.

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3.2.2 Neue Ziele: Die Anti-Kanzler-Liga Perrot, Glagau und andere Publizisten hatten mit ihren Schriften in den frühen 1870er Jahren ein pseudowissenschaftliches Argumentationsangebot geschaffen, das Anknüpfungspunkte bereitstellte, um den Korruptionsvorwurf mit einer Kritik an der wirtschaftlich-liberalen Ordnung des neuen Reichs oder einer Kritik am Judentum zu verbinden. In der zweiten Hälfte der Dekade schlug die Korruptionsdebatte ausgehend von dieser Grundlage nun eine neue Richtung ein, die beide Kritikformen für ihre Zwecke instrumentalisierte und deren Ziel Bismarck war. Auch nach dem Erlass des Reichspressegesetzes von 1874, das die Anzahl der möglichen Zensurmaßnahmen verringert und die Publikation (politischer) Presseerzeugnisse vereinfacht hatte, war die explizite Kritik am Reichskanzler riskant und wurde häufig mithilfe einer Beleidigungs- oder Verleumdungsklage gerichtlich verfolgt.278 Nichtsdestotrotz wurde vor allem vonseiten altkonservativer Agitatoren die Kritik an Bismarck zunehmend lauter und der Vorwurf der Korruption wurde nun – in den von Perrot und Glagau popularisierten antiliberalen und judenfeindlichen Ausprägungen – gegen den Reichskanzler gewendet. Zentrum der Kritiker bildete die sogenannte Anti-Kanzler-Liga (AKL), in der sich (alt-)konservative Aristokraten und Publizisten im Kampf gegen die liberale Politik Bismarcks vereint hatten.279 Dazu gehörten unter anderen die judenfeindlichen Autoren Carl Wilmanns und Constantin Frantz, der ostpreußische Adelige Otto von Diest-Daber sowie der Herausgeber der 1874 gegründeten, bismarckkritischen Deutschen Eisenbahnzeitung Joachim Gehlsen.280 Personelle 278 Hans-Wolfgang Wetzel vermutet, dass Bismarck etwa 1.000 Beleidigungsprozesse anstreben ließ, vgl. Wetzel, Presseinnenpolitik im Bismarckreich, S. 71. Basierend auf Entscheidungen des Deutschen Reichsgerichts zeigte der zeitgenössische Jurist Karl Ulrich, dass Vertreter der Presse im Kaiserreich keinen besonderen Rechtsschutz genossen und die Wahrnehmung öffentlicher Interessen kein rechtlich anerkanntes Argument gegen eine Beleidigungsklage darstellte. Vgl. Karl Ulrich: Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei der Beleidigung in § 193 des Strafgesetzbuches, insbesondere in der Judikatur des Reichgerichtes, Elberfeld 1908, S. 35f. sowie S. 70–77. Zitat: ebd., S. 36. 279 Für den folgenden Abschnitt vgl. Schubert, Korruptionsdebatten, S. 43–51, 55–58. Bisher gibt es keine wissenschaftliche Publikation, die sich ausführlich mit der AKL befasst. Vereinzelt finden sich Hinweise in der einschlägigen Antisemitismusforschung, die vor allem in Bezug auf die Mitglieder auch konträre Informationen enthalten, vgl. bspw. Hans Engelmann: Kirche am Abgrund. Adolf Stoecker und seine antijüdische Bewegung, Berlin 1984, S. 45; Paul Massing: Vorgeschichte des Politischen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1959, S. 14f. 280 Die Deutsche Eisenbahnzeitung ist auch unter ihrem späteren Namen Deutsche Reichsglocke bekannt, vgl. Elke Kimmel: »Gehlsen, Heinrich Joachim«, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2/1, Personen A–K, Berlin 2009.

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Überschneidungen gab es sowohl mit der auf die Durchsetzung von Agrarzöllen fokussierten Vereinigung der Steuer- und Wirtschaftsreformer als auch mit dem rechten, antiliberalen und antikapitalistischen Flügel der im Juni 1876 gegründeten Deutschkonservativen Partei. Organisatorischer Mittelpunkt der AKL war das Verlagshaus von Martin Anton Niendorf in Berlin. Zwischen 1875 und 1878 wurde hier eine Vielzahl von Flugschriften verlegt. Nicht alle diese Schriften richteten sich dabei explizit gegen Bismarck. Carl Wilmanns beispielsweise, dessen Flugschrift »Die ›goldene‹ Internationale und die Nothwendigkeit einer socialen Reformpartei« große Popularität erlangte, gilt als Vorreiter eines rassisch motivierten Antisemitismus.281 Er deutete die Korruption und die nationalliberale Politik der Gründerjahre als Mittel der Herrschaft, die von einem international organisierten Judentum genutzt werde, um Wirtschaft, Politik und Presse ihrem Willen zu unterwerfen.282 Ende der 1870er Jahre war Wilmanns damit einer der extremsten Verfechter antijüdischer Politik. Er steht exemplarisch für eine Reihe von Publizisten, deren Fokus nicht auf Korruption lag, die sich aber dennoch der Schriften von Perrot und Glagau sowie populärer Beispiele vergangener Korruptionsdebatten bedienten.283 Auf diese Weise erfuhren die Korruptionsvorwürfe auch im Kontext anders gelagerter Debatten eine Rezeption und es bildeten sich Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Debattensträngen. Dass Korruption hingegen zentrales Thema in der Argumentation des sozialkonservativen Publizisten Rudolf Meyer war, konnten Zeitgenossen schon dem Titel seiner Flugschrift »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« entnehmen, die 1877 veröffentlicht wurde.284 Auf argumentativer Ebene stellt das Werk den Höhepunkt der langen Korruptionsdebatte und der in diesem Rahmen ausgetragenen Konfrontationen mit Reichskanzler Bismarck dar. Leider ist der Entstehungsprozess nicht mehr vollständig nachzuvollziehen. Es liegt jedoch nahe, dass Meyer »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« unter dem Eindruck einer im Winter 1876 beginnenden gerichtlichen Untersuchung 281 Wilmanns (Jahrgang 1835) Thesen waren von einem sowohl rassischen als auch religiösen Antisemitismus inspiriert. Er stützte die Argumentation des Publizisten August Rohlings, nach der das Judentum, den Geboten des Talmuds folgend, den Christen feindlich gesinnt sei und ein abweichendes Normen- und Rechtsempfinden pflege. Wilmanns argumentierte weitergehend, dass das Zusammenleben von Juden und Christen aufgrund rassisch begründeter Unterschiede unmöglich sei. Carl Wilmanns: Die »goldene« Internationale und die Nothwendigkeit einer socialen Reformpartei, Berlin2 1876; August Rohling: Der Talmudjude. Zur Beherzigung für Juden und Christen aller Stände, Münster 1871; Zumbini, Gründerjahre des Antisemitismus, S. 149f. 282 Wilmanns, Internationale, Kap. »Die Organisation und das Wesen der goldenen Internationale«, S. 58–90. 283 Vgl. bsph. Wilmanns Anmerkungen zu Perrots Bank-, Börsen- und Actienschwindel in: Wilmann, Internationale, S. 68. 284 Meyer, Politische Gründer und die Corruption in Deutschland.

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gegen ihn verfasste, die zu seiner gesteigerten Radikalität gegen Bismarck beitrug.285 Meyer, der Nationalökonomie, (Literatur-)Geschichte und Philosophie studiert hatte, begann seine publizistische Karriere 1867, als er von Hermann Wagener in die Redaktion der Berliner Revue berufen wurde.286 Seine Expertise auf dem Feld der Sozialpolitik, die er unter anderem durch einen regen Austausch mit verschiedenen sozialkonservativen Politikern der Zeit pflegte, verhalf Meyer sodann zu einem mehrjährigen Mitarbeiterposten im Büro Wageners. Im Mittelpunkt seiner politischen Agenda stand die Schaffung einer neuen, konservativen Sozialgesetzgebung, die sich an den Interessen der Arbeiterklasse orientieren und durch konkrete Maßnahmen sozialen Spannungen entgegenwirken sollte.287 Nachdem Meyers politische Arbeit mit dem Ausscheiden seines Vorgesetzten aus dem Dienst 1873 ein jähes Ende gefunden hatte, war er als Journalist für verschiedene Zeitungen und als Herausgeber der Socialpolitischen Flugblätter tätig. In dieser Phase fand eine Annäherung an verschiedene Mitglieder der AKL statt, die in der Mitarbeit Meyers bei der bismarckkritischen Deutschen Eisenbahnzeitung resultierte. Ebenso wie auch in den Biographien Perrots und Glagaus lässt sich auch im Leben Meyers eine Phase der Zusammenarbeit mit denjenigen politischen Kreisen ausmachen, gegen die er später umso radikaler vorgehen sollte. Motiv für Meyers Kurswechsel mag unter anderem die Enttäuschung über Bismarcks anhaltenden liberalen Kurs gewesen sein, dem Meyer ablehnend gegenüberstand und in dem er den Ursprung der angespannten sozialen Lage erblickte.288 Ferner mag die sich verschärfende Frontstellung zwischen Bismarck und verschiedenen konservativen Zirkeln, denen Meyer sich politisch zugehörig fühlte,

285 Die gerichtliche Untersuchung mündete in einen ›Sensationsprozess‹, in dem Meyer im Februar 1877 wegen Beleidigung des Reichskanzlers zu einer neunmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde. Schriftwechsel der verschiedenen Justizbehörden belegen, dass die Flugschrift Meyers bereits im Januar 1877 – vor seiner Verurteilung – öffentlich zirkulierte: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49673, Briefwechsel vom 5. 2. 1877, Staatsanwaltschaft Berlin an den Oberstaatsanwalt des Kammergerichts Berlin. 286 Auch zu Meyer (Jahrgang 1839) liegt keine umfassende, wissenschaftliche Biographie vor. Einige biographische Informationen bei Lothar Machtan: »Meyer, Rudolf« in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 371f., http://www.deutsche-biographie.de/ppn1293047 35.html (19. 2. 2015); Albrecht, Antiliberalismus, S. 473f. Es besteht Ungewissheit über die Schreibweise von Meyers Vornamen (Rudolf/Rudolph), hier wird die Schreibweise aus Meyers Publikation Corruption verwendet. 287 Vgl. Meyers Hauptwerk: Ders., Der Emancipationskampf des Vierten Standes, Berlin 1874. 288 Seine Kritik an der liberalen Politik der Regierung sowie Reformvorschläge artikulierte Meyer bereits 1873 in einer Flugschrift: Meyer, Rudolf: Was heißt Conservativ sein? Reform oder Restauration?, Berlin 1873, bes. S. 3f.

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zu seiner Radikalisierung beigetragen haben.289 So schlug Meyer einen zunehmend konfrontativen Kurs gegen Bismarck ein, der mit der Publikation von »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland« 1877 seinen Höhepunkt erreichte. In seinen Ausführungen verfolgte Meyer mehrere Thesen, die auf dem Grundgedanken beruhten, dass das Kaiserreich von zwei jüdischen »Finanzmächten« beherrscht sei, die sich konkurrierend gegenüberstünden und in ihrem Kampf um Vorherrschaft, Einfluss und Gewinn das Reich ruinierten.290 Dabei handele es sich einerseits um das Bankhaus Bleichröder, das von Bismarcks langjährigem Vertrauten, dem Privatbankier Gerson von Bleichröder geführt wurde.291 Dessen Konkurrent, so Meyer, sei die 1851 ins Leben gerufene Disconto-Gesellschaft unter Leitung von Adolph von Hansemann.292 Beide Banken hätten mithilfe von »Corruptionsmitteln« wie Sinekuren und Tantiemen wichtige politische und wirtschaftliche Akteure sowie Presseorgane hinter sich versammelt.293 Auf der Seite Bleichröders beispielsweise agierten laut Meyer der konservative Reichstagsabgeordnete Wilhelm von Kardorff und die liberalen Abgeordneten Eduard Lasker und Eugen Richter. Die Disconto-Gesellschaft hingegen habe die Unterstützung des ehemaligen Disconto-Direktors Johannes Miquel, des preußischen Finanzministers Otto von Camphausen und des Präsidenten des Reichkanzleramtes, Rudolf von Delbrück, erworben.294 Vordergründiges Interesse beider »Konsortien« sei der Erwerb von Kapital durch (Gründungs-)Schwindel und Korruption auf dem Rücken eines zunehmend verarmenden und niedergehenden Volkes. Während »[…] die Corruption der höheren Schichten der Gesellschaft weit genug vorgeschritten ist, um diese Gesellschaft zur leichten Beute der Socialdemokratie zu machen«295, sei auch die Hoffnung auf Rettung durch die Politik vergebens, da die politischen Parteien ihre Prinzipien längst zugunsten eigener Interessen verraten hätten.296 So zeichnete Meyer das Bild eines Staates, der von Korruption zersetzt und dem Willen einer jüdischen Finanzelite unterworfen war. Der alleinig Schuldige an 289 Meyer kandidierte 1875 vergeblich als Vertreter der Konservativen Partei für den preußischen Landtag. 290 Meyer, Corruption, S. 110f. 291 Zu der Beziehung zwischen Bismarck und Bleichröder vgl. Stern, Gold und Eisen. Bleichröder wurde in der fortschreitenden Korruptionsdebatte immer häufiger zur Zielscheibe von Korruptionsvorwürfen. Detailliert dazu: Schubert, Korruptionsdebatten. 292 Vgl. Autorenkollektiv : Brockhaus’ Konversationslexikon, Leipzig/Berlin/Wien14 1894–1896, Bd. 5, S. 347; Pohl, Festigung und Ausdehnung des deutschen Bankenwesens, S. 178f., 189f. 293 Meyer, Corruption, bes. S. 147f., 176f. 294 Ebd., S. 110f., 113f. Auch : Schubert, Korruptionsdebatten, S. 57. Miquel wurde 1897 in den preußischen Adelsstand erhoben, sodann: Johannes von Miquel. 295 Meyer, Corruption, S. 196. 296 Ebd., S. 186.

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der miserablen Situation des Landes sei Reichskanzler Bismarck, der die Korruption nicht nur geduldet, sondern durch seine Untätigkeit indirekt gefördert habe.297 Meyer schloss mit den polemischen Worten: »Solange der Fürst Bismarck das allein mächtige Idol bleibt, wird die deutsche Nation dem Reich, das Reich dem Kanzler geopfert werden, und der Kanzler – gehört den Juden und Gründern. Daher giebt es für unsere Politik nur eine gebundene Marschroute: Beseitigung des jetzigen Systems und seines Trägers.«298

In seinem Generalangriff gegen den Reichskanzler bezog sich Meyer vielfach auf das reichhaltige Angebot an Schriften, das in den vorherigen Jahren im Rahmen der Korruptionsdebatte entstanden war. Er bewertete eine Vielzahl verschiedener Publikationen und unterschied einerseits zwischen Werken, die er als trügerische Auswüchse der Interessenpolitik und des internen Konkurrenzkampfes des »Disconto-Bleichröder-Rings«299 brandmarkte, wie beispielsweise die »Ära-Artikel« der Kreuzzeitung.300 Andererseits hob er in seinen Augen exzellente Publikationen, wie die Artikelserie Otto Glagaus, besonders hervor und verwies wiederholt auf sie.301 Meyer nutzte aber nicht nur die detaillierten Materialsammlungen verschiedener Autoren, um Beispiele für seine eigene Studie zusammenzustellen. Bei ihm fand auch die bereits erprobte Verknüpfung des Korruptionsvorwurfs mit antiliberalen und antijüdischen Ressentiments zu einem Angriff auf die gesamte politische und wirtschaftliche Ordnung des Kaiserreiches ihren bis dato aggressivsten Ausdruck. Er vereinte eine Vielzahl bekannter Themen, Ressentiments und Argumentationen aus dem Kontext der Korruptionsdebatte und schuf so das Bild eines vollkommen korrumpierten Reiches, in dem (jüdische) Akteure mittels korrupter Praktiken Politik, Wirtschaft und Presse dominierten. Meyer spitzte seine Vorwürfe zu und richtete sie explizit gegen einzelne Personen, nicht zuletzt gegen Reichskanzler Bismarck persönlich. Meyers Flugschrift erregte in der politischen Sphäre des Kaiserreichs großes Aufsehen und wurde von der Staatsanwaltschaft des Kreisgerichts Berlin mit einer Beleidigungsklage beantwortet.302 In dem darauffolgenden Prozess wurde Meyer zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er nie antrat, da er bereits im 297 298 299 300

Ebd., S. 110f., 201–204. Ebd., S. 204. Ebd., S. 55. Zu den »Ära-Artikeln« vgl. ebd., S. 155f. Meyer spekulierte, dass der Herausgeber der Kreuzzeitung, Nathusius, der Disconto-Gesellschaft nahestehe. Die Veröffentlichung der »Ära-Artikel« sei ein Versuch gewesen, von den Vorwürfen gegen die Disconto-Gesellschaft abzulenken und zugleich Bleichröder anzugreifen. 301 Vgl. bsph. ebd., S. 97f., 123, 148f. 302 Vgl. Briefwechsel vom 4. 3. 1877, Oberstaatsanwaltschaft Berlin an den preußischen Justizminister Gerhard A. W. Leonhardt in: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49673.

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Februar 1877 in die Schweiz geflüchtet und anschließend nach Kanada emigriert war.303

3.2.3 Zwischenfazit In der Forschung wird die Gründerkrise mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen allgemein als eine wichtige Ursache für die zunehmende Kritik an Liberalismus und Moderne, die Rückbesinnung auf alte Traditionen und konservative Werte und auch für die zunehmende Judenfeindlichkeit begriffen.304 Die Analyse der Flugschriften von Perrot, Glagau und Meyer stützt diese Beobachtung. Hinweise finden sich in den Biographien der Autoren: Allesamt geboren in den 1830er Jahren, waren sie zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn aktive Vertreter prominenter politischer und/oder wirtschaftlicher Strömungen, die später zum Kristallisationspunkt ihrer Kritik werden sollten. In den frühen 1870er Jahren leiteten externe sowie interne Faktoren einen Bruch mit den bekannten Strukturen und eine Veränderung der Weltbilder der Protagonisten ein. Bei allen Autoren ist dieser Wandel in ihren Schriften mehr oder minder prominent bereits vor Beginn der Großen Depression nachweisbar. Im Zuge der wirtschaftlichen Krise erfuhr die Kritik aller Autoren jedoch eine deutliche Verschärfung und gewann eine polemische, oft personalisierende Komponente hinzu. Die Biographien legen nahe, dass die Radikalisierung nicht nur, wie im Falle Glagaus, durch den Wandel äußerer Einflussfaktoren bedingt war, sondern auch einer Aufarbeitung der persönlichen Krisenerfahrung entsprach. Zunehmende Veränderung erfuhr auch der Umgang mit dem Vorwurf der Korruption. Während des Skandals von 1873 standen im preußischen Abge303 Mit seiner Flucht hatte Meyer sich der Verbüßung einer ersten, im Februar 1877 angeordneten Gefängnisstrafe entzogen. Seine Gesamthaftzeit belief sich nun auf 18 Monate. Vgl. Briefwechsel vom 7. 12. 1877, Oberstaatsanwaltschaft Berlin an den preußischen Justizminister Gerhard A. W. Leonhardt in: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49673; sowie Briefwechsel vom 15. 7. 1896, Ministerium des Inneren an den preußischen Justizminister Karl Heinrich Schönstedt, in: ebd. 304 Vgl. die Arbeiten von Massing, Vorgeschichte des Politischen Antisemitismus; Pulzer, Antisemitismus; Zumbini, Gründerjahre des Antisemitismus, S. 128f.; Rosenberg, Große Depression, bes. S. 59f.; Reinhard Rürup: »Emanzipation und Krise – Zur Geschichte der »Judenfrage« in Deutschland vor 1890«, in: Werner E. Mosse (Hrsg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Tübingen 1976, S. 1–56; Lange, Antisemitic Elements, vgl. Kap. 3. Einen Überblick über kritische Stimmen, die den Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung und Antisemitismus relativieren: Till von Rahden: Ideologie und Gewalt. Neuerscheinungen über den Antisemitismus in der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Neue Politische Literatur 41 (1996), S. 11–29. Auch: Uffa Jensen: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 165.

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ordnetenhaus nicht allein, aber doch maßgebend die als korrupt wahrgenommenen Vergehen im Vordergrund. Auch in den frühen Werken Perrots und Glagaus nahm die Beschreibung der ›Korruption‹, des ›korrupten‹ Vorgangs, großen Raum ein. In der weiteren Entwicklung der Korruptionsdebatte blieb die Schilderung ›korrupter‹ Vergehen existent, doch wurde die moralische Komponente des Korruptionsvorwurfs zunehmend stärker hervorgehoben. Immer häufiger wurden vordergründig nicht einzelne Vergehen, sondern Personen als ›korrupt‹ bezeichnet. So ließen sich komplexe Vorgänge personalisieren und eindeutige Feindbilder schaffen. Parallel wandelte sich ›Korruption‹ aber auch zu einer Zustandsbeschreibung, die sich in der Korruptionsdebatte der zweiten Hälfte der 1870er Jahre vor allem gegen die Folgen zunehmender Modernisierung richtete.305 Besonders ›Liberale‹ und ›Juden‹ – in eben einer solch verallgemeinernden Form – waren in den Augen vieler Zeitgenossen die Schuldigen an der Krise und wurden mit dem Vorwurf der Korruption attackiert. So entwickelten sich komplexitätsreduzierende Argumentationsmuster, die Krise, Korruption, Liberalismus und Judentum in einen ursächlichen Zusammenhang stellten. Die Argumentationsmuster waren wandelbar und keinesfalls frei von Widersprüchen, sie konnten in viele Narrative eingefasst werden, in deren Kern jedoch die kausalen Beziehungen der Themen untereinander erhalten blieben. Die Wiederholung verschiedener Thematiken und die stetige Verwendung dieser Argumentationsmuster suggerierte dabei Kontinuität und Stringenz in einer Debatte, die über mehrere Jahre anhielt und an der sich viele Akteure unterschiedlicher Gesinnungen in zahlreichen verschiedenen Arenen beteiligten. So wurden neue thematische Verbindungen kreiert, die Eingang in die Korruptionskommunikation und die politische Debatte fanden und in den kommenden Jahren wiederholt bedient werden konnten. Im nachfolgenden Abschnitt soll nun verdeutlicht werden, wie die Argumentationsmuster von verschiedenen Akteuren für die eigene politische Agenda instrumentalisiert wurden und welche Motive ihre Handlungen inspirierten. Auch soll untersucht werden, wie die lange Korruptionsdebatte durch Momente der Verdichtung an Intensität gewann, sich über einzelne Teilöffentlichkeiten hinweg ausbreitete und in verschiedenen Arenen rezipiert wurde.

305 Diese These findet sich bereits 2010 bei Engels, Politische Korruption und Modernisierungsprozesse.

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3.3

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3.3.1 Die konservativen »Ära-Artikel« in der Presse – Exkurs: Die Verbindung von Judenfeindlichkeit und Korruption am Beispiel der katholischen Germania Die lange Korruptionsdebatte erlebte einen ersten Moment der Verdichtung im Sommer 1875, als die altkonservative Kreuzzeitung eine fünfteilige Artikelserie unter dem Titel »Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik«, kurz die »Ära-Artikel«, veröffentlichte.306 Die Leitartikel waren von Franz Perrot verfasst und von dem Herausgeber der Kreuzzeitung, Philipp von Nathusius, überarbeitet worden.307 Veröffentlicht wurde die Artikelfolge anonym. Die Autorenschaft Perrots sollte in der politischen Öffentlichkeit erst Jahre später bekannt werden. Die »Ära-Artikel« vertraten die These, dass die liberale Finanz- und Wirtschaftspolitik des Kaiserreiches »Judenpolitik« sei, von der besonders der »semitische« Bankier Gerson von Bleichröder profitiere.308 Gemeinsam mit Finanzminister Otto von Camphausen, dem Präsident des Reichskanzleramts Rudolf von Delbrück sowie verschiedenen nationalliberalen, jüdischen Abgeordneten dominiere Bleichröder auf diese Weise Parlament, Presse und die gesamtdeutsche Gesetzgebung.309 »Bank-, Aktien- und Börsenprivilegien sind, wie die Sachen faktisch liegen, Judenprivilegien. Sie werden daher von der jüdischen Presse, den jüdischen Gelehrten und den jüdischen Volksvertretern mit allen Kräften geschützt und gefördert.«310

Das deutsche Volk, so die Schlussfolgerung, sei von Juden regiert.311 Schließlich thematisierten die Artikel auch die engen Beziehungen zwischen Reichkanzler 306 Neue Preußische Zeitung, Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik, 29. 6. 1875–3. 7. 1875. 307 Über die Überarbeitung durch Nathusius bestehen Zweifel. Harris fasst Befürworter und Zweifler zusammen: Harris, Perrot, S. 103. Nathusius wird in der zeitgenössischen Presse und der aktuellen Forschung auch Philipp von Nathusius-Ludom genannt. Ludom bezeichnet jedoch nur den Herkunftsort des Publizisten. Zu der Person Nathusius’: Dagmar Bussiek: Mit Gott für König und Vaterland. Die Neue Preußische Zeitung 1842–1892, Münster 2002, S. 217f. 308 Neue Preußische Zeitung, Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik I., 29. 6. 1875. 309 Ebd. Für die Beziehungen der »jüdischen Hochfinanz« untereinander und in die Politik auch: Neue Preußische Zeitung, Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik III., 1. 7. 1875. 310 Neue Preußische Zeitung, Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik IV., 2. 7. 1875. 311 Neue Preußische Zeitung, Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik I., 29. 6. 1875.

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Bismarck und seinem Privatbankier Bleichröder. Sie legten dar, dass der Reichskanzler von den Geschäften seines Bankiers maßgeblich profitiert habe, und unterstellten ihm, aus diesem Grund ähnliche wirtschaftspolitische Interessen wie Bleichröder verfolgt, also, so der implizite Hinweis, »Judenpolitik« betrieben zu haben.312 Dieser Vorwurf der Korruption gegen Bismarck konstituierte einen Markstein der langen Korruptionsdebatte. Zugleich war er aber auch vorläufiger Höhepunkt eines spätestens seit Mitte der 1860er Jahre voranschreitenden Prozesses wachsender Entfremdung zwischen Reichskanzler Bismarck und altkonservativen Zirkeln, die durch die Kreuzzeitung vertreten wurden. Bismarck selbst führte in seinen »Gedanken und Erinnerungen« drei Gründe für die zunehmende Animosität zwischen ihm und der »conservativen Partei« an: Dazu gehöre erstens seine ihm missgönnte Erhebung in den Fürstenstand; zweitens das 1872 verabschiedete Schulaufsichtsgesetz sowie drittens die generelle, »exclusivere Fühlung« mit den Nationalliberalen.313 Rückblickend messen Historiker heute vor allem der preußischen Kreisordnungsreform von 1872 große Bedeutung bei, welche die feudal anmutenden, ortsobrigkeitlichen Rechte des zumeist altkonservativen Landadels und der Großgrundbesitzer einzuschränken begann.314 Auch die Niederlagen bei den Wahlen zum Preußischen Landtag 1873 und zum Reichstag 1874 führten zu zunehmender Verbitterung vonseiten der Konservativen. Im Lichte der beginnenden (Agrar-)Krise und der beständigen Zusammenarbeit der konkurrierenden Freikonservativen Partei mit den Nationalliberalen musste vor allem in altkonservativen Zirkeln das Gefühl entstehen, dass nicht nur ihr gesellschaftlich-wirtschaftlicher Status in Gefahr sei, sondern dass sie auch zunehmend an den Rand des politischen Spektrums gedrängt würden. So verschärften sich die Gräben sowohl zwischen Altkonservativen und Bismarck als auch zwischen Alt- und Freikonservativen. Erstere sahen sich infolgedessen zunehmend unter Druck, auf die als bedrohlich empfundene Situation zu reagieren. Unter diesem Blickwinkel können die »ÄraArtikel« als altkonservative Reaktion gedeutet werden. In der Einleitung der Buchausgabe der »Ära-Artikel« 1931 wurde von Karl Perrot, dem Bruder Franz Perrots, der Entstehungsprozess der Artikelserie erläutert. Dort schrieb er, die Entscheidung für den »scharfen Angriff« sei von führenden konservativen Kreisen gemeinsam getroffen worden, um einen Bruch 312 Neue Preußische Zeitung, Die Aera Bleichröder-Delbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik II., 30. 6. 1875. 313 Otto von Bismarck: Gedanken und Erinnerungen. Bd. 2, Stuttgart 1898, S. 148–151. 314 Vgl. Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 332f.; Volker Stalmann: Die Partei Bismarcks. Die Deutsche Reichs- und Freikonservative Partei 1866–1890, Düsseldorf 2000, S. 142, 147, 151; Robert M. Berdahl: »Conservative Politics and Aristocratic Landholders in Bismarckian Germany«, in: The Journal of Modern History 44 (1972), Nr. 1, S. 6f.

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Bismarcks mit der liberalen Politik und deren Vertretern herbeizuführen.315 Ob es sich bei den »Ära-Artikeln« tatsächlich um eine im gegenseitigen Einvernehmen beschlossene Strategie der Konfrontation handelte, kann aus den Quellen nicht sicher nachvollzogen werden.316 Es lässt sich jedoch nachweisen, dass die Kreuzzeitung in den Kreisen der Altkonservativen breite Unterstützung für die Artikelserie mobilisieren konnte. »In Tausenden und abermals Tausenden Sonderabdrucken durchfliegen sie das Land, werden auf dem flachen Lande, in den Märkten, Flecken, Städten, selbst in der Hauptstadt vorgelesen, glossirt und kommentirt […].«317 Dieses Zitat des Berliner Tageblatts vom 6. Juli 1875 illustriert, welche Aufregung die Publikation der »Ära-Artikel« erregte. Noch bevor die fünfteilige Artikelserie abgeschlossen war, setzte ein breites mediales Echo ein. Auch Bismarck war über die Angriffe auf seine Person verärgert.318 Doch obwohl in der Presse alsbald über eine Beleidigungsklage des Kanzlers spekuliert wurde,319 ließ man von Regierungsseite nur verlauten, dass die Artikel jeglicher sachlichen Grundlagen entbehrten und Ausdruck von »Geistesverirrung« seien.320 Eine Rechtfertigung sei daher nicht vonnöten. Die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung betonte zudem, dass sich weite Teile der »Konservativen Partei« bereits von der Kreuzzeitung emanzipiert hätten, da sie ihre Ziele durch »positive Mitwirkung an der Gesetzgebung« besser verwirklicht sähen als durch die »pessimistische Politik« der Kreuzzeitung, die zu Isolation führe.321 In ähnlicher Form suchte die liberale und freikonservative Presse zu argumentieren. Vertreter beider Richtungen hatten an der Ausgestaltung der (Finanz-)Wirtschaft und der Gesetzgebung der letzten Jahre mitgewirkt und sahen sich durch die Artikel in die Defensive gedrängt. Ihr Ziel war es, eine öffentliche Rechtfertigung zu umgehen, die vonseiten der Ankläger als Schuldeingeständnis gedeutet werden würde. Sowohl die freikonservative Post als auch die liberale Vossische Zeitung stützten daher die Position der offiziösen Zeitungen; die Artikelfolge sei polemisch und uninformiert und stelle einen Verstoß gegen die

315 Franz Perrot: Bismarck und die Juden. »Papierpest« und »Ära-Artikel von 1875«, Berlin 1931, S. 270. 316 Ein Brief Nathusius’ zeugt von dessen Hoffnung, die Artikel mögen Furore machen, vgl. Bussiek, Für König und Vaterland, S. 241. Bussiek hebt zudem hervor, dass Verleumdung als Instrument unter der Herausgeberschaft Nathusius’ zum Repertoire der Kreuzzeitung gehörte und dass dieser die »Ära-Artikel« maßgeblich unterstützt hatte, vgl. ebd., S. 217f. 317 Zitiert nach Berliner Tageblatt, o. T., 6. 7. 1875. 318 Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1980, S. 628. 319 Vgl. bsph. Volksstaat, ER, 11. 7. 1875; Ders., ER klagt nicht, 23. 7. 1875; Ders., ER hat noch nicht geklagt, 28. 7. 1875; Frankfurter Zeitung, o. T., 5. 7. 1875; Dies., o. T., 7. 7. 1875. 320 Provinzial-Correzpondenz, o. T., 7. 7. 1875. 321 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Politischer Tagesbericht, 16. 7. 1875.

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Sitten dar, den man nicht beantworten müsse.322 Post und Berliner Tageblatt hoben zudem hervor, dass die Kreuzzeitung mit ihren Angriffen das gesamte konservative Lager und damit im weitesten Sinne die eigene Partei schädige.323 In der Debatte meldeten sich aber vor allem auch die sozialdemokratischen und katholischen Zeitungen zu Wort. Ihre oppositionelle Stellung erlaubte ihnen, die Korruptionsvorwürfe in der Berichterstattung aufzugreifen. Der sozialistische Volksstaat beispielsweise nutzte die Artikelserie, um die Stigmatisierung Bismarcks voranzutreiben, mit der er 1873 begonnenen hatte. Zu diesem Zweck gab das Blatt die Korruptionsvorwürfe gegen den Reichskanzler detailliert wieder und suchte diese zu bestätigen, ohne seinerseits in den Fokus der Zensur zu geraten.324 Hervorzuheben ist, dass der Volksstaat Korruption zu keinem Zeitpunkt als ein allein jüdisches Phänomen charakterisierte. Anfällig für Korruption oder bereits korrumpiert seien nicht Angehörige von Ethnien oder Glaubensrichtungen, sondern soziale Klassen. Dieser Linie folgte die sozialdemokratische Presse auch in späteren Jahren.325 Die »Ära-Artikel« dienten dem Volksstaat zudem als Ausgangspunkt, um Zensurpraktiken anzuprangern. Er kontrastierte die ausbleibende Beleidigungsklage gegen die Kreuzzeitung mit der Vielzahl von Bismarck angestrengter Beleidigungsverfahren. Dabei stellte der Volksstaat besonders die Schwere der Insinuationen der Kreuzzeitung dem »flüchtig hingeworfenen Wort« einer Näherin oder eines Dienstmädchens entgegen, das in der Vergangenheit zu einer Strafverfolgung geführt habe.326 Auf diese Weise verspottete das Blatt nicht nur Bismarcks erhöhte Klagebereitschaft, sondern hob auch die Unverhältnismäßigkeit dieser Praxis und im Besonderen der erteilten Strafen hervor.327 Die Reaktion der Germania auf die »Ära-Artikel« war im Vergleich zur ka322 Vgl. Die Post, o. T., 30. 6. 1875; Dies., o. T., 1. 7. 1875; Vossische Zeitung, o. T., 3. 7. 1875; Dies., o. T., 4. 7. 1875; Dies., o. T., 8. 7. 1875. 323 Berliner Tageblatt, Deutschland, 11. 7. 1875; Post, o. T., 3. 7. 1875. 324 Volksstaat, o. T., 4. 7. 1875. 325 In der Vergangenheit wurde oft vertreten, dass es in der Sozialdemokratie keinen politischen Antisemitismus gegeben habe, vgl. Reinhard Rürup: »Sozialismus und ›Judenfrage‹ in Deutschland«, in: Juden und jüdische Aspekte in der deutschen Arbeiterbewegung 1848–1918 (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Bd. 2), Tel Aviv 1977, S. 203– 227. Inzwischen äußert sich auch Rürup kritischer, vgl. Ders.: »Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich«, in: Micha Brumlik/Doron Kiesel/Linda Reisch (Hrsg.), Der Antisemitismus und die Linke, Frankfurt 1991, S. 17–31. Lars Fischer setzt sich in seiner aktuellen Studie kritisch mit der sozialdemokratischen Haltung zum Antisemitismus auseinander. Er betont, dass die Ablehnung des Antisemitismus in den wenigsten Fällen eine wirkliche Auseinandersetzung mit antijüdischer Politik und antijüdischen Ressentiments bedeutete: Lars Fischer: The Socialist Response to Antisemitism in Imperial Germany, New York 2007, vgl. bes. Kap. 1.1. 326 Volkssstaat, Ist Bismarck Philosoph geworden?, 9. 7. 1875; Ders., o. T., 18. 8. 1875. 327 Vgl. bsph. Volksstaat, Er klagt nicht, 23. 7. 1875; Ders., ER scheint wirklich Philosoph geworden zu sein, 11. 7. 1875.

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tholischen Berichterstattung 1873 anfänglich eher zurückhaltend. Das Blatt beschränkte sich darauf, die der Artikelserie zugrundeliegende Sachkenntnis hervorzuheben. Die Strategie der liberalen Blätter, diese Expertise zu bestreiten, sei naiv und tauge nur dazu, sich an einer inhaltlichen Auseinandersetzung »vorbeizudrücken«.328 In der generellen Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Kulturkampfes und dem liberalen ›Feindbild‹, welche die Spalten der Germania zu dieser Zeit füllte, spielten die »Ära-Artikel« zunächst keine hervorgehobene Rolle. Erst etwa einen Monat später setzte das Blatt in Anlehnung an die konservative Artikelserie zu einem eigenen Angriff an und veröffentlichte die zehnteilige Artikelserie »Die Judenfrage«. Auch jetzt ging es der Germania – wie bereits 1873 – vor allem darum, die Korruptionsvorwürfe für eine Delegitimierung des fortlaufenden Kulturkampfes zu nutzen. Ihre Argumentation änderte die Zeitung zu diesem Zweck kaum, erweiterte sie aber um eine eindeutig antijüdische Komponente. In einem einleitenden Artikel zitierte sie die in den »Ära-Artikeln« enthaltenen Korruptionsvorwürfe detailliert, nicht aber ohne den Verweis, dass die Kreuzzeitung die Verantwortung für die Textstellen zu tragen habe. Aufbauend auf der Deutung der konservativen Zeitung erklärte das katholische Blatt, »ohne die Juden wäre der »Culturkampf« gar nicht möglich gewesen, eine Baisse an der Börse hätte die ganze Hetzerei weggeblasen. Die Juden aber kühlen in ihm nicht nur ihre Rachsucht, sondern sie decken auch mit der Katholikenhetze ihre Börsenoperationen vor den Augen des Publicums zu.«329

So wurde der vormals als Konsequenz nationalliberaler Interessenpolitik beschriebene Kulturkampf zu einer jüdisch-liberalen Unternehmung stilisiert. In den folgenden Artikeln detaillierte die Germania die Auswüchse der »Judenwirthschaft«330 und verschiedenste Facetten jüdischen Einflusses.331 Natürlich verstand die Zeitung die »jüdische Dominanz« nicht als legitim, sondern charakterisierte sie unter dem Schlagwort »Corruption«.332 So wurde in der Deutung der Germania der Kulturkampf unauflöslich mit Antiliberalismus und Judenfeindlichkeit verknüpft.333 Vermeintliche Belege für diese Argumentation fand 328 329 330 331

Germania, o. T., 3. 7. 1875. Germania, Die »Kreuzzeitung« und die Judencamarilla in Preußen, 4. 8. 1875. Vgl. Germania, Die Judenfrage I., 17. 8. 1875. Vgl. bsph. die Darstellung des jüdischen Einflusses auf die Presse: Germania, Die Judenfrage IV., 20. 8. 1875. 332 Germania, Die Judenfrage III., 19. 8. 1875. 333 Vgl. Olaf Blaschke: Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1999. Blaschke vertritt in seiner Dissertation die These, dass sich vor allem im Kontext des Kulturkampfes ein spezifisch katholischer Antisemitismus herausgebildet habe, der Juden als Feinde der Kirche zeichnete, die für unterschiedliche Modernisierungsprozesse verantwortlich seien. Damit wendet er sich spezifisch gegen Untersuchungen, die Antisemi-

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die Zeitung vielfach in den Schriften des Agitators Constantin Frantz, die ausgiebig zitiert wurden.334 Zudem berief sich das katholische Blatt in seiner Argumentation auf bekannte Philosophen wie Herder, Kant oder Schopenhauer, deren Positionen sie – oft aus dem Kontext gerissen – zur Unterstützung der eigenen Thesen heranzog.335 Vielfach hat sich die geschichtswissenschaftliche Forschung bereits der Beziehung von Katholizismus und Judenfeindlichkeit gewidmet und in diesem Kontext auch die Verbindung mit Antimodernismus und Antiliberalismus untersucht. Obwohl zu diesem Zweck häufig auch auf für die Korruptionskommunikation bedeutende einschlägige Flugschriften und Artikel(-serien) verwiesen wird, blieb die Rolle des Korruptionsvorwurfs bis heute weitestgehend unbedacht.336 Die Analyse der Berichterstattung der Germania – und generell verschiedener politischer Tageszeitungen im Rahmen der langen Korruptionsdebatte – verweist jedoch auf einige bemerkenswerte Beobachtungen: Die Verbindung von Judenfeindlichkeit, Antiliberalismus, Antimodernismus und Korruption in der politisch-medialen Sphäre illustriert Schnittstellen zwischen der Korruptionsdebatte der 1870er Jahre und dem entstehenden politischen Antisemitismus. Wo die Verbindung von Antiliberalismus, Antimodernismus und Judenfeindlichkeit bemüht wurde, war der Vorwurf der Korruption ein tismus als rein kulturprotestantisches Phänomen begreifen. Vgl. auch Gräfe, Antisemitismus, S. 25. 334 Vgl. bsph. Germania, Die Judenfrage IV., 20. 8.1875; Dies., Die Judenfrage VII., 25. 8.1875. Besonders häufig wurde Frantz’ Hauptwerk »Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft« zitiert, in dem der Autor eine umfassende Darstellung der ›Fehlentwicklungen‹ des Kaiserreichs seit der Reichsgründung vornimmt. Die Ursache sieht Frantz in dem Liberalismus, der die christlichen Werte abgeschafft und damit die »Judenherrschaft« ermöglicht habe. Vgl. Constantin Frantz: Der Nationalliberalismus und die Judenherrschaft, München 1874, u.a. S. 66. Für eine umfassende Auseinandersetzung mit Frantz, der zu den Vorreitern des rassischen Antisemitismus gehört, vgl. Michael Dreyer: »Constantin Franz: Der Außenseiter des Antisemitismus«, in: Werner Bergmann/Ulrich Sieg (Hrsg.): Antisemitische Geschichtsbilder (= Antisemitismus: Geschichte und Strukturen, Bd. 5), Essen 2009, S. 39–60; Ders.: »Judenhaß und Antisemitismus bei Constantin Franz«, in: Historisches Jahrbuch, 111 (1991), S. 155–172. 335 Zu Kant und Herder: Germania, Die Judenfrage I., 17. 8. 1875; zu Schopenhauer : Dies., Die Judenfrage II., 19. 8. 1875. 336 Zu den aktuellsten Untersuchungen, welche die katholische Verantwortung an der Herausbildung und Verfestigung des gesellschaftlichen Antisemitismus betonen, gehört u. a. Blaschke, Katholizismus. Dagegen betont Uwe Mazura die Ablehnung des Antisemitismus durch den politischen Katholizismus: Uwe Mazura: Zentrumspartei und Judenfrage 1870/ 71–1933: Verfassungsstaat und Minderheitenschutz, Mainz 1994. Klassisch, mit Betonung des Modernisierungspotenzials des Katholizismus, die Arbeiten Blackbourns, vgl. u. a. David Blackbourn: »Roman Catholics, the Centre Party and Anti-Semitism in Imperial Germany« in: Paul Kennedy/Anthony Nicholls (Hrsg.): Nationalist and Racialist Movements in Britain and Germany Before 1914, Oxford 1981, S. 106–129. Untersuchungen des katholischen Antisemitismus anhand von Flugschriften u. a. bei Blaschke, Katholizismus, S. 51f., 107f.; Zumbini, Gründerjahre des Antisemitismus, S. 128–140.

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gängiges Motiv, das die Funktion eines Bindemittels erfüllte. Gleichsam garantierte der Vorwurf der Korruption eine grundlegende, negative Moralisierung und zumindest kurzzeitige öffentliche Aufmerksamkeit, was im Zeitalter zunehmender Medialität zunehmend relevant wurde. Mithilfe des Korruptionsvorwurfs konnten verschiedene Ressentiments und Feindbilder in einer Argumentation zu einer schlagkräftigen Waffe verbunden werden.

3.3.2 »Eine ehrenlose Verleumdung, gegen die wir alle Front machen sollten«: Die »Ära-Artikel« im Deutschen Reichstag337 In breiten Teilen der politischen Öffentlichkeit ging man selbstverständlich davon aus, dass die Führungsschicht des Reiches die »Ära-Artikel« als direkten Angriff aufgefasst haben musste. So wurde – wie bereits erwähnt – in der Presse wiederholt über eine mögliche Beleidigungsklage gegen die Kreuzzeitung spekuliert. Auch kursierte das Gerücht, die Staatsanwaltschaft habe ein Verfahren eröffnen wollen, das jedoch vom Staatsministerium unterbunden worden sei.338 Tatsächlich weist ein Privatbrief Bismarcks an den Staatssekretär des Reichsjustizamts, Heinrich von Friedberg, im Juli 1875 auf die Motive des Reichskanzlers hin, die Klage zu stoppen. Er schrieb, er wolle die wirtschaftliche Politik des Reiches nicht von einem einfachen Stadtgericht beurteilen lassen.339 Stattdessen artikulierte Bismarck seine Verärgerung über die Vorwürfe im Deutschen Reichstag. Der Zeitpunkt seines Auftretens war in verschiedener Hinsicht wohl gewählt: In den vorangegangenen Sitzungen war im Reichstag eine lebhafte Debatte entbrannt, in deren Mittelpunkt der nationalliberale Abgeordnete und ehemalige Direktor der Disconto-Gesellschaft Johannes von Miquel und der altkonservative, aber dem Zentrum angeschlossene Abgeordnete Robert von Ludwig standen.340 Miquel hatte im Reichstag Stellung zu verschiedenen in der Presse kursierenden Anschuldigungen genommen und sich im besonderen Maße gegen die Vorwürfe der Deutschen Eisenbahnzeitung341 verteidigt, die ihm

337 Zitiert nach: Redebeitrag Reichskanzler Bismarck, 49. Sitzung des Deutschen Reichstags, II. Legislaturperiode, 9. 2. 1876, S. 1332. 338 Vgl. bsph. Germania, Die »Kreuzzeitung« und die Judencamarilla in Preußen, 4. 8. 1875. 339 Gall, Bismarck, S. 628. 340 Vgl. 44.–46. Sitzung des Deutschen Reichstages, II. Legislaturperiode, 3.–5. 2. 1876, http:// www.reichstagsprotokolle.de/Band3_k2_bsb00018381.html (26. 2. 2015). Details und Vorgeschichte der Auseinandersetzung Ludwig/Miquel bei: Schubert, Korruptionsdebatten, S. 37–40. 341 Deutsche Eisenbahnzeitung, Artikelserie ohne gemeinsamen Titel, 26. 12. 1875/2. 1. 1876/ 9. 1. 1876. Die Deutsche Eisenbahnzeitung (ab Mitte 1876: Die Reichsglocke) wurde von Joachim Gehlsen herausgegeben, einem passionierten Anhänger der AKL. Die Eisen-

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– in Bezug auf die lange Korruptionsdebatte – Beihilfe zur »Korruption« der Disconto-Gesellschaft unterstellte. Die Erklärung Miquels löste eine kontroverse Debatte aus, die ihren Höhepunkt erreichte, als Ludwig mit Verweisen auf die Presse und auf die Veröffentlichungen Otto Glagaus den Korruptionsvorwurf gegen Miquel wiederholte: »[…] Wenn also gegen das Gesetz ein Geschäft entrirt wird, welchem Mitglieder dieser Majorität maßgebend angehören, und welches ihnen einen absoluten Vortheil gebracht hat, so wiederhole ich, daß dies das Mißtrauen im Volke rege macht […]. Jawohl, ich nenne Herrn Abgeordneten Miquel als das jenige Mitglied […].«342

Rückblickend schrieb die Frankfurter Zeitung, dass sich im Anschluss an die Rede »tumultartige Szenen«343 im Abgeordnetenhause abgespielt hätten. Die Reaktionen der Abgeordneten fielen allesamt abweisend aus und Ludwig wurde für seine »Klatschverleumdungen«344 vom Vizepräsidenten des Reichstages offiziell zurechtgewiesen. Er hatte mit seiner Anklage, die jeder sachlichen Grundlage entbehrte und sich lediglich auf Mitteilungen der Presse berief, eine Grenze überschritten. Diese Episode zeigt, dass der Gebrauch von Korruptionsvorwürfen im Reichstag einer moralischen Zensur und verschiedenen Verhaltensnormen unterworfen war, die von den Abgeordneten unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit bestätigt und bekräftigt wurden. So wurde der Vorwurf der Korruption – besonders in Verbindung mit persönlichen Angriffen – nur dann als Mittel der politischen Kommunikation geduldet und rezipiert, wenn er, wie im Falle Laskers, gründlich recherchiert worden war und sachlichdetailliert vorgetragen wurde.345 Auch durfte das Interesse der persönlichen Insinuation nicht vordergründig erkennbar sein. Auf diesen Konsens des Hauses suchte Bismarck möglicherweise zu rekurrieren, als er am 9. Februar 1876 das Wort ergriff.346 Er begann damit, über den schädlichen Einfluss der Presse auf das »leichtgläubige« Volk sowie auf die Innen- und Außenpolitik des Reiches zu referieren. Erst gegen Ende seiner Rede adressierte er die Artikel der Kreuzzeitung. Bismarck argumentierte, die Presse

342 343 344 345

346

bahnzeitung avancierte innerhalb kürzester Zeit zum Sprachrohr der AKL und erhob eine Vielzahl verschiedener Korruptionsvorwürfe. Vgl. Kimmel, Gehlsen. Sprachbeitrag Robert von Ludwig, 46. Sitzung des Deutschen Reichstags, II. Legislaturperiode, 5. 2. 1876, S. 1192. Frankfurter Zeitung, o. T., 7. 2. 1976, zitiert nach: Schubert, Korruptionsdebatten, S. 37. Sprachbeitrag Vizepräsident Dr. Hänel, 46. Sitzung des Deutschen Reichstags, II. Legislaturperiode, 5. 2. 1876, S. 1196. Vgl. Schubert, Korruptionsdebatte, S. 38. Ähnliche konsensuelle (sich wandelnde) Verhaltensnormen hat Hans-Peter Goldberg in Bezug auf andere Themen nachweisen können, vgl. Hans-Peter Goldberg: Bismarck und seine Gegner. Die politische Rhetorik im kaiserlichen Reichstag, Düsseldorf 1998, S. 92f. Für den folgenden Absatz vgl. 49. Sitzung des Deutschen Reichstags, II. Legislaturperiode, 9. 2. 1876, S. 1326–1332.

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diskutiere nicht mehr inhaltlich, sondern greife auf persönliche Angriffe und Verleumdung zurück. Sie unterstelle Mitgliedern der Regierung unredliches Verhalten, das einzig der Verfolgung privater Interessen diene. Vielmals seien solche »schändlichsten und lügenhaftesten« Verleumdungen, wie auch im Fall der »Ära-Artikel«, juristisch nicht zu fassen. Der Kanzler appellierte daher an das »sittliche Gefühl« seiner Zuhörer und forderte einen Boykott derartiger Zeitungen im Allgemeinen und der Kreuzzeitung im Besonderen. Die Kreuzzeitung reagierte mit Empörung auf den Aufruf Bismarcks und veröffentlichte eine zweiteilige Erklärung unter dem Titel »Die Kreuzzeitung im Reichstage«, in der sie sich mit der Rede Bismarcks auseinandersetzte und die »Ära-Artikel« konsequent verteidigte.347 Es folgten Erklärungen Perrots, der nicht namentlich, sondern nur als Verfasser der »Ära-Artikel« genannt wurde, des Herausgebers Nathusius und schließlich am 26. Februar 1876 die sogenannte Deklaration.348 In einer an fünf aufeinanderfolgenden Tagen veröffentlichten Serie beteuerten verschiedene Abonnenten der Kreuzzeitung ihre Solidarität mit der Krone, wiesen aber zugleich die Aufforderung Bismarcks entschieden zurück: »Wenn aber der Herr Reichskanzler im Anschluß an den oben angeführten Ausspruch [›Mit Gott für König und Vaterland‹, A. R.] die Aufrichtigkeit unserer christlichen Gesinnung in Zweifel zieht, so verschmähen wir es ebenso, mit ihm darüber zu rechten, wie wir es zurückweisen, die gegebenen Belehrungen über Ehre und Anstand anzunehmen.«349

Die Rede Bismarcks kann als Reaktion auf den zunehmenden Druck und die steigende Präsenz der Korruptionsdebatte, die mit der Stellungnahme Miquels wenige Tage zuvor den Reichstag erreicht hatte, gedeutet werden. Lothar Gall sieht in ihr aber auch ein Signal an die altkonservativen Zirkel. Bereits das Ausscheiden des liberalen Kanzleramtsministers Delbrück, der als »Symbolfigur des wirtschaftlichen und darüber hinaus gouvernementalen Liberalismus« galt, habe, so Gall, bei Mitgliedern der konservativen Parteien den Eindruck eines politischen Kurswechsels hervorgerufen.350 Der Angriff gegen die »Ära-Artikel« sei eine wohlverstandene Ermahnung gewesen, dass »ein etwaiges Entgegenkommen in der Wirtschaftspolitik unbedingte Gefolgschaftstreue« verlange.351 347 Neue Preußische Zeitung, Die Kreuzzeitung im Reichstage I., 13. 2. 1876; Dies., Die Kreuzzeitung im Reichstage II., 15. 2. 1876. 348 Stellungnahme Perrot: Neue Preußische Zeitung, Erklärung in Sache der Ära-Artikel, 19. 2. 1876; Stellungnahme Nathusius: Dies., Erklärung des Herausgebers Philipp v. NathusiusLudom, 24. 2. 1876; Deklaration: Dies., Erklärung, 26. 2. 1876. Setzt sich fort: Dies., Erklärung, 1. 3. 1876/2. 3. 1876/3. 3. 1876/4. 3. 1876. 349 Kreuzzeitung, Erklärung, 26. 2. 1876. 350 Gall, Bismarck, S. 631. 351 Ebd., S. 629. Diese Argumentation auch bei Ernst Engelbert: Bismarck. Bd. 2: Das Reich in

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Unabhängig von den Motiven, die Reichskanzler Bismarck zu seiner Rede vor den Abgeordneten des Deutschen Reichstags inspirierten, lässt sich festhalten, dass das mächtigste Regierungsmitglied mit diesem Akt publikumswirksam in die Korruptionsdebatte der 1870er Jahre eingetreten war. Die Analyse hat gezeigt, dass Bismarck schon vorher wiederholt zum Thema der Debatte geworden war, er aber bis zum 9. Februar 1876 nicht an ihr partizipiert hatte – nicht einmal über den Weg einer Beleidigungsklage. Die These Galls lässt weiterhin den Schluss zu, dass Bismarcks Eintreten wohlüberlegt war und er seinerseits die Korruptionsdebatte als Mittel der politischen Kommunikation instrumentalisierte.

3.3.3 Der Korruptionsvorwurf vor Gericht Die lange Korruptionsdebatte hatte im Februar 1876 eine Ausdehnung über die Sphäre der Flugschriften und politischen Presseerzeugnisse hinweg erfahren und das Parlament erreicht. Hier bezog nun erstmals auch Reichskanzler Bismarck Stellung in der Debatte und löste mit seinem Boykottaufruf gegen die Kreuzzeitung einen großen Aufruhr in der reichsweiten Presse aus, der in der sogenannten »Deklaration« gipfelte. Bismarcks Einschreiten in die Debatte wirkte dabei vor allem auf Anhänger der AKL katalytisch und so wurde in den darauffolgenden Monaten eine Vielzahl verschiedener Flugschriften und Zeitungsartikel publiziert. Besonders aktiv zeichnete dabei die ehemalige Deutsche Eisenbahnzeitung. Für das Organ Joachim Gehlsens, das im Juni 1876 in Deutsche Reichsglocke umbenannt worden war, schrieben verschiedene bekannte Bismarckkritiker. Obwohl die Auflagenstärke des Blattes generell als gering eingeschätzt wird,352 zirkulierte es in verschiedenen prominenten konservativen Zirkeln und am Preußischen Hof.353 Die Reichsglocke richtete sich, wie viele der vorgestellten Flugschriften auch, an eine kleine begrenzte Teilöffentlichkeit, über die hinaus sie kaum bekannt war oder Rezeption erfuhr. Dies änderte sich jedoch im Herbst 1876, als die Zeitung unter dem Titel »Der industriöse Staatsmann« eine aufsehenerregende Artikelserie veröffentlichte.354 der Mitte Europas, Berlin 1990, S. 252f. Vgl. auch James Retallack: The German Right, 1860–1920. Political Limits of the Authoritarian Imagination, Toronto 2006, S. 328. 352 Koszyk, Presse, S. 237. 353 Massing bezieht sich auf eine Aussage Bismarcks, die besagt, dass sogar der Kaiser die Reichsglocke gelesen habe. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, S. 15. Hinweise aus der Presse auf die Leserschaft des Blattes u. a. in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Vom Prozeß der »Reichsglocke«, 19. 1. 1877. 354 Vgl. u. a. Deutsche Reichsglocke, Ein industriöser Staatsmann, 1. 10. 1876; Dies., Ein industriöser Staatsmann, 22. 10. 1876; Dies., Ein industriöser Staatsmann, 29. 10. 1876; Dies.,

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

In den Artikeln berief sich die Reichsglocke auf die kontroversen Thesen Diest-Dabers über die preußische Central-Boden-Credit AG (CBCAG).355 DiestDaber hatte in seiner prominenten Flugschrift »Der sittliche Boden im Staatsleben« die Behauptung aufgestellt, dass zahlreiche Abgeordnete bestochen worden seien, um im Parlament für die Gewährung verschiedener Privilegien an die CBCAG zu stimmen. Drahtzieher der Aktion sei Herr »N.« gewesen, der für seine Dienste von dem Hauptaktionär Bleichröder mit Aktien der Gesellschaft entlohnt worden sei.356 Diese Spekulationen spitzte die Reichsglocke ihrerseits zu: »Es ist in eingeweihten Kreisen bekannt, […] daß Herr v. Diest-Daber den Fürsten Bismarck der Protektion der unerhörten Gründung der Preußischen Central-BodenCredit-Aktien-Gesellschaft beschuldigt, sowie ihm eine Consortial-Betheiligung in gewinnsüchtiger Absicht bei dieser Gründung unterschiebt.«357

Damit hatte die Reichsglocke als erste Zeitung im Laufe der langen Korruptionsdebatte den Vorwurf der Korruption gegen Bismarck direkt ausgesprochen und das zweite Einschreiten des Reichskanzlers in die Auseinandersetzung initiiert. Kurz nach ihrem Erscheinen wurden die Artikel in der von Rudolf Meyer herausgegebenen Sozial-Politischen Korrespondenz ausführlich zitiert und auch von verschiedenen katholischen und sozialdemokratischen Tageszeitungen vorsichtig rezipiert.358 Die Artikelfolge bedingte zudem eine Vielzahl von Stellungnahmen und Erklärungen, die deren Inhalt indirekt weiterverbreiteten.359 Wie schon am Beispiel der »Ära-Artikel« gesehen, stilisierte die politische Tagespresse die einseitig erhobenen Vorwürfe zu einer direkten und persönlichen Auseinandersetzung zwischen der Reichsglocke auf der einen und dem Reichskanzler auf der anderen Seite, in der das Verhalten Bismarcks aufmerksam

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Was sich Fürst Bismarck erlauben darf, 29. 10. 1876; Dies., Ein industriöser Staatsmann, 5.11,1876; Dies., Ein industriöser Staatsmann, 12. 11. 1876; Dies., Die Preußische CentralBoden-Credit-Gesellschaft, 12. 11. 1876. Bei der CBCAG handelt es sich um eine Bank, die im März 1870 konzessioniert worden war. Als Konzessionäre fungierten die Bankhäuser Rothschild, Bleichröder, Oppenheim und die Disconto-Gesellschaft. Vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Vom Prozeß der »Reichsglocke«, 19. 1. 1877. Diest-Daber, Der Sittliche Boden im Staatsleben, u. a. S. 4, 52. Auch: Ders.: Entgegnungen auf die Angriffe der Herren Lasker, von Bennigsen u. A. nebst Aufklärung über die Privilegien der Central-Boden-Credit-Gesellschaft, 1876. Bismarck verklagte Diest-Daber wegen Beleidigung. In dem Prozess im Mai 1877 wurde der Publizist zu einer Haftstrafe von drei Monaten verurteilt. Die Reichsglocke, Ein industriöser Staatsmann, 1. 10. 1876. Sozial-Politische-Correspondenz, o. T., 5. 10. 1886; u. a. Germania, Berlin, 10. 10. 1886; Dies., o. T., 13. 10. 1886; Vorwärts, o. T., 11. 10. 1886. Vgl. bsph. Germania, o. T., 9. 10. 1876; Dies., o. T., 22. 12. 1876; Die Post, Revue der Tagespresse, 08. 10. 1876.

Presse, Reichstag, Gerichtssaal: Momente der Verdichtung

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eruiert wurde. An dem Ausbleiben oder Eintreten der gerichtlichen Verfolgung bemaßen die Blätter in den folgenden Wochen die Stärke des Reichskanzlers und auch die Wirkkraft des Angriffes.360 Dieser Manier folgend, wurde die von der Staatsanwaltschaft des Kreisgerichts Berlin erhobene Anklage sodann als Eingreifen Bismarcks gedeutet. Tatsächlich wurde zwischen Dezember 1876 und Mai 1877 dreifach wegen Beleidigung und Verleumdung des Reichskanzlers prozessiert: gegen zwei »Sitzredakteure«361 der Reichsglocke, gegen Rudolf Meyer und gegen DiestDaber.362 Die Prozesse, bei denen unter anderen Bleichröder, Hansemann und Bethmann-Hollweg in den Zeugenstand traten, riefen großes öffentliches Interesse hervor. Die Tageszeitungen berichteten von überfüllten Sitzungssälen und prominentem Publikum.363 So avancierten die Gerichtsverhandlungen zu »causes c8lHbres«364, in denen verschiedene Zeugen öffentlich zu den Korruptionsvorwürfen gegen Reichskanzler Bismarck, zu seinen wirtschaftlichen und persönlichen Verbindungen befragt wurden. Dabei wurde von allen Zeugen einhellig zurückgewiesen, dass Bismarck »seinen großen amtlichen Einfluß gemißbraucht habe, […] und dass er für diese seine Dienstleistung durch eine Betheiligung an den Aktien belohnt worden sei.«365 Alle drei Prozesse endeten mit einer Verurteilung der Angeklagten. Mit dem Schuldspruch galt die öffentlich-staatliche Moral als gewahrt und die Staatsanwaltschaft sprach der

360 Vgl. bsph. Vorwärts, ER klagt nicht, 25. 10. 1886. Mehrere offiziöse Zeitungen hoben erklärend hervor, dass Bismarck ein Organ wie die Reichsglocke nicht lese, sondern nur von den Behörden auf verleumderische Artikel hingewiesen werde. Vgl. bsph. ProvincialCorrespondenz, Die Verleumder des Fürsten Bismarck und ihre Freunde, 24. 01. 1877. 361 Sogenannte ›Sitzredakteure‹ wurden von verschiedenen Zeitungen benannt, um eventuelle Haftstrafen anstelle der Redaktionsmitglieder zu verbüßen, vgl. Wetzel, Presseinnenpolitik, S. 50f. 362 In der Literatur herrscht an verschiedenen Stellen Unklarheit über die Daten der Prozesse. Die Auswertung der Pressequellen indiziert folgende Chronologie: 1. Prozess gegen die Redakteure der Reichsglocke Schellenberg und Talchau wegen Beleidigung und Verleumdung des Reichskanzlers vor dem Stadtgericht Berlin, 23. 12. 1876/15. 1. 1877. Zeugenaussagen u. a. von Bleichröder, Hansemann, Philipsborn. 2. Prozess gegen Rudolf Meyer wegen Verleumdung des Reichskanzlers vor dem Kreisgericht Berlin, 14. 2. 1877, Zeugenaussagen von Bleichröder, Blankenburg, Bethmann-Hollweg, Kardorff. Angeklagter verurteilt zu neun Monaten Haft, entzog sich der Strafe durch Flucht in die Schweiz. 3. Prozess gegen Otto von Diest-Daber vor dem Stadtgericht Berlin wegen Beleidigung, 25. 5. 1877, Angeklagter verurteilt zu drei Monaten Haft (bestätigt in der zweiten Instanz vor dem Kammergericht Berlin am 22. 11. 1877). Vgl. auch GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49673. 363 Vgl. bsph. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, o. T., 15. 2. 1877; Vossische Zeitung 21. 1. 1877. Die Prozessprotokolle wurden in fast allen namhaften Zeitungen abgedruckt, bspw. in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, Kreuzzeitung, Vossischen Zeitung, Germania. 364 Vossische Zeitung, o. T., 15. 2. 1877. 365 Prozessprotokoll, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Vom Prozeß der »Reichsglocke«, 19. 1. 1877.

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publizistischen Verleumdungspraxis und insbesondere der »ultramontanen« und sozialdemokratischen Presse eine zusätzliche Rüge aus.366 So endete die lange Korruptionsdebatte im Frühjahr 1877 nach einer letzten Episode gesteigerter Intensität und öffentlichen Interesses. Die in der Presse intensiv verfolgte Adressierung der Korruptionsvorwürfe vor Gericht hatte zum einen als Informationsmultiplikator gewirkt und die Debatte über ihren gewöhnlichen Rezipientenkreis hinaus bekannt gemacht. Andererseits hatte sie die Korruptionsdebatte, die sich zunehmend auf die polemischen Vorwürfe gegen Bismarck verengt hatte, delegitimiert und ihren Partizipierenden konkrete strafrechtliche Verfolgung in Aussicht gestellt. Verschiedene Agitatoren, wie etwa Diest-Daber und Glagau, setzten ihre Publikationen dennoch weiter fort, wurden jedoch in der politischen Sphäre des Kaiserreichs nicht erneut rezipiert.367 Auch auf Seiten der Presse ebbte mit den Gerichtsprozessen die Berichterstattung stark ab und es wurden keine weiteren eigenen publizistischen Vorstöße von Zeitungen unternommen. Zu den wenigen Periodika, welche die Prozesse über die Prozessberichterstattung hinaus kommentierten, gehörte die liberale Vossische Zeitung. Das Blatt nutzte die Verurteilungen, um mit der häufig antiliberalen »Gründerhetze« der letzten Jahre abzurechnen. Dabei fasste sie auch die inhaltliche Entwicklung der langen Korruptionsdebatte pointiert zusammen: »[…] und so ist es durch eine wunderbare mutatio rerum dahin gekommen, daß die ursprünglich auf die modernen Gründer gerichtete Hetze ein Werkzeug der feudalen, ultramontanen und persönlichen Reaction geworden ist, denn seit Monaten hört man viel weniger von Bauvereinen, Banken, Eisenbahnen, desto mehr aber von Trink-geldEmpfängern der Central-Bodencredit-Gesellschaft, von Vertheidigung so beschuldigter und von einem Reinigungsprozeß Bismarck’s […]. So machten sich die ultramontanen mit den conservativen und socialdemokratischen Führern um die Wette die Verleumdungspresse zu nutz und eroberten sich Kreise und Stimmen, welche ihre Tendenzen nicht theilten, aber dieselben Kreise und Personen wie sie haßten. »368

3.4

Zwischenfazit

Die lange Korruptionsdebatte der 1870er Jahre zeigt, dass im politischen Diskurs des Kaiserreichs hohe Beamte und Regierungsmitglieder nicht von der Kritik durch Korruptionsvorwürfe ausgenommen waren und sie den Korruptionsvorwurf mitunter selber geschickt einsetzen konnten. Der Skandal um die 366 Vgl. Prozessprotokoll, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Vom Prozeß der »Reichsglocke«, 19. 1. 1877. 367 Vgl. Schubert, Korruptionsdebatten, S. 59–61. 368 Vossische Zeitung, Die Ziele der Gründerhetze, 20. 1. 1877.

Zwischenfazit

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preußischen Eisenbahnkonzessionen, die »Ära-Artikel« und verschiedene Flugschriften demonstrieren, dass in den frühen Jahren des Kaiserreiches der Vorwurf der Korruption, sofern er sachlich und detailliert begründet war, straffrei geäußert und diskutiert werden konnte. Erst als sich die Kritik über die Jahre stetig verschärfte, gleichzeitig personalisierte und abstrahierte, setzte mit dem Eintritt Bismarcks in die Korruptionsdebatte 1876 eine zunehmende Delegitimierung des Korruptionsvorwurfs ein. Die bloße Stigmatisierung als »korrupt« ohne Verweis auf tatsächlich belegbare Geschehnisse zum Zweck der persönlichen Diskreditierung wurde in der politisch-medialen Sphäre verstärkt als Verleumdung gebrandmarkt und mit Zensurmaßnahmen und gerichtlicher Verfolgung geahndet. Die »Ära-Artikel« sowie die Prozesse gegen die Reichsglocke und Rudolf Meyer stellen wichtige Momente der Verdichtung dar, in denen die Korruptionsdebatte einerseits eine bisher unerreichte Ausweitung auf neue Teilöffentlichkeiten erfuhr. Andererseits markieren diese Episoden auch vorläufige Höhepunkte der Debatte – bzw. im Fall des Prozesses um Meyer deren Ende. Dass die Korruptionsdebatte trotz ihrer Länge und ihres bisweilen episodenhaften Charakters auch von Zeitgenossen als zusammenhängend wahrgenommen wurde, ist auf ihre inhaltliche Kohärenz zurückzuführen. Schon zu Beginn der 1870er Jahre, noch vor dem Skandal um die Eisenbahnkonzessionen, begannen Publizisten Argumentationsmuster zu entwickeln, die Erklärungen für die kontinuierlichen ökonomischen und politischen Veränderungen des Kaiserreiches boten. Der Korruptionsvorwurf erhielt die Funktion eines Bindemittels, mit dem die Autoren verschiedene Argumentationslinien kausal verknüpfen konnten. Das Beispiel der »Ära-Artikel« konnte dies besonders deutlich illustrieren. In den folgenden Jahren wurden diese Argumentationsmuster zunehmend radikalisiert. Der Vorwurf der Korruption blieb erhalten und trug zum einen zur Moralisierung, zum anderen zur Abstrahierung der entstehenden Debatte bei. So konnten über den Vorwurf der Korruption komplexe Zusammenhänge personalisiert und verurteilt, gleichsam aber auch allgemeine Zustände unter dem Stigma der Korruption in einer abstrakten Generalkritik abgewertet werden. Schlussendlich illustrieren die vorgestellten Momente der Verdichtung auch die verschiedenen Verwendungsformen des Korruptionsvorwurfs in der langen Korruptionsdebatte. Dabei inspirierten oft persönliche Motive die Handlungen bzw. Schriften der Akteure. Nicht immer ging es dabei um die zeitnahe Verwirklichung konkreter politischer Ziele. Vielmehr übten die Autoren Systemkritik und brachten ein generelles Unbehagen zum Ausdruck – ohne jedoch reale alternative Vorstellungen anzubieten. Auch im Kontext tagespolitischer Geschehnisse wurden Korruptionsvorwürfe erhoben. Beispielhaft hierfür sind die Versuche der Germania, den Kulturkampf zu delegitimieren, aber auch

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Korruption, Liberalismus und Judenfeindlichkeit

Bismarcks Adressierung der »Ära-Artikel« vor dem Deutschen Reichstag. Oft standen konkrete politische Ziele im Vordergrund der Instrumentalisierung oder Instrumentalisierungsbemühungen fungierten als Mittel, mit dem man dringlichen äußeren Umständen (kämpferisch) begegnen wollte. Wieder findet sich bestätigt, dass sowohl die Anwendung als auch die Rezeption abhängig vom tagespolitischen Klima war und nicht isoliert untersucht werden kann.

3.5

Ausblick: Korruption und Antisemitismus in den 1890er Jahren

Das vorangegangene Kapitel hat die Entwicklung einer argumentativen Verbindung von antisemitischen Ressentiments und Korruption im Rahmen der Korruptionskommunikation der 1870er und 1880er Jahre untersucht. Im Folgenden wird am Beispiel der Ahlwardt’schen »Judenflinten« bündig aufgezeigt, dass diese Argumentationsmuster in den darauffolgenden Jahren als gängiges Stereotyp in antisemitischen Diskursen fortbestanden. Die 1890er Jahr markierten einen vorläufigen Höhepunkt des parteipolitisch organisierten Antisemitismus, der durch verschiedene Parteigründungen und -aktivitäten gekennzeichnet war. So hatte der bekannte Antisemit Adolf Stoecker bereits 1878 die Christlich-Soziale Arbeiterpartei gegründet, die sich zwischen 1881 und 1896 der Fraktion der Freikonservativen anschloss.369 1879 gewann Stoecker ein Mandat für das preußische Abgeordnetenhaus und gehörte damit zu den ersten dezidiert antisemitischen Mandatsträgern des Deutschen Kaiserreichs. Ihm folgte der promovierte Bibliothekar Otto Böckel, der 1887 als erster prominenter Antisemit fraktionslos in den Deutschen Reichstag einzog.370 Böckel gründete drei Jahre später die antisemitische Deutsche Volkspartei371, die als Partei der Arbeiter und Bauern auftrat und unter dem Wahlmotto ›Gegen Junker und Juden‹ für Reformen im Sinne der ländlichen Bevölkerung eintrat. Die dritte in diesen Jahren gegründete antisemitische Partei, die Deutschsoziale Partei, verfolgte einen sozialkonservativen Kurs.372 Charakteristisch für diesen Zeitraum ist, dass die antisemitischen Parteien keinen flächendeckenden Erfolg erzielten – bei den Reichstagswahlen 1893 erhielten alle antisemitischen Parteien gemeinsam 3,4 % der Wählerstimmen, das heißt 16 Reichstagsmandate. Stattdessen war der Einfluss der Parteien häufig stark auf spezifische Regionen 369 1881 benannte sich die Partei in Christlich-Soziale Partei um und verfolgte fortan einen deutlich konservativeren Kurs. 370 Adolf Stoecker hatte bereits 1879 ein Mandat für das Preußische Abgeordnetenhaus erhalten. 371 Die Partei benannte sich 1893 in Deutsche Reformpartei um. 372 Die Partei ging aus der Deutschen Antisemitischen Vereinigung (*1886) hervor.

Ausblick: Korruption und Antisemitismus in den 1890er Jahren

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beschränkt; nur einzelnen Personen gelang es, nationale Bekanntheit zu erreichen. Zu diesen Agitatoren gehörte Hermann Ahlwardt. Er wurde zwischen 1890 und 1892 als antisemitischer Publizist und Flugschriftenautor bekannt und kandidierte 1892 erfolgreich für den Deutschen Reichstag. In späteren Jahren betätigte er sich in der antisemitischen Deutschsozialen Reformpartei. Seine Schrift »Neue Enthüllungen. Judenflinten« aus dem Jahre 1892 steht exemplarisch für den Fortbestand des Korruptionsmotives in der Publizistik des politischen Antisemitismus einerseits sowie für dessen veränderte Funktion andererseits. Bereits 1890 hatte Ahlwardt mit seinem dreibändigen Werk »Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum« auf sich aufmerksam gemacht, indem er unter anderem Gerson von Bleichröder des Meineides bezichtigte.373 Zwei Jahre später trat er dann mit den »Enthüllungen« als Skandalierer in Erscheinung. Sie lösten 1892 die sogenannte Judenflintenaffäre aus und wurden innerhalb weniger Monate über 15 mal neu aufgelegt.374 In der Flugschrift erhob Ahlwardt den Vorwurf, die Berliner Munitionsfabrik Ludwig Loewe & Co. habe fehlerhafte Waffen an das preußische Heer geliefert, um die Wehrhaftigkeit der Nation herabzusetzen und »auf den Trümmern des deutschen Vaterlandes […] die jüdische Weltherrschaft auf[zu]richten.«375 Detailliert beschrieb Ahlwardt den Herstellungsprozess der Gewehre und die verschiedenen Formen des Betrugs, die dabei angewendet worden seien. Er konstatierte, dass sich aus dem »dargestellten Verhältnisse auf ein tiefbetrübendes Sinken der allgemeinen Volksmoral schließen [lasse], die sich hier in der Bestechlichkeit der Beamtenschaft dokumentirt[sic!]. Das Judenthum geht zweifellos von der Erwägung aus, daß jeder Beamte käuflich sei, und leider irrt es sich gar häufig nicht.«376

Ausgehend von seinen Beobachtungen argumentierte Ahlwardt, dass sich jüdische Unternehmer die Mehrheit aller staatlichen und kommunalen Aufträge 373 Hermann Ahlwardt: Der Verzweiflungskampf der arischen Völker mit dem Judentum. II Theil. Der Eid eines Juden, Berlin 1891. 374 Ahlwardt: Neue Enthüllungen. Judenflinten, Dresden15 1892. 375 Ebd., S. 14. Die Anschuldigen Ahlwardts lösten eine Untersuchung der preußischen Regierung in dem Rüstungsbetrieb aus, bei der sich die Vorwürfe nicht bestätigten. Die Akten sind im GStA PK einzusehen: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 55741/55742; GStA PK, I. HA Rep. 90a, Nr. 4520/a. Zu dem Prozess und seiner Rezeption vgl. (Auswahl zeitgenössisch): Otto Bähr : »Der Prozeß gegen Ahlwardt«, in: Die Grenzboten 51 (1892), S. 609–620; Rudolf Plack-Podgorski: Ahlwardt vor Gericht. Eine kritische Beleuchtung des Judenflinten-Prozesses, Dresden2 1892. Wissenschaftlich (Auswahl): Christoph Jahr : »Ahlwardt on Trial: Reactions to the Antisemitic Agitation of the 1890s in Germany«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 48 (2003), S. 67–85; Barnet Hartston: Sensationalizing the Jewish Question. AntiSemitic Trials and the Press in the Early German Empire, Leiden 2005, S. 219–261. 376 Ahlwardt, Judenflinten, S. 32.

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durch Bestechung sichern und diese sodann nur mangelhaft erfüllen würden – ein Vorgehen, das durch erneute Bestechung verschleiert werde. Ahlwardt beschrieb am Beispiel der Munitionsfabrik Loewe einerseits Praktiken, die, wie Bestechung, mit Korruption assoziiert wurden. Andererseits leitete er aus seinen Beobachtungen auch ein allgemeingültiges Urteil ab. Wie in verschiedenen anderen seiner Schriften, etwa dem »Eid eines Juden«, beschrieb er den wachsenden Einfluss der Juden auf die deutsche Gesellschaft, Politik und Wirtschaft als »corrumpierend« und bezeichnete den Charakter einzelner jüdischer Akteure allgemein als »corrumpiert«.377 In diesem Zusammenhang verwies Korruption nicht auf eine konkrete Praktik oder einen spezifischen Vorwurf, sondern beschrieb einen Zustand – sie war eine gesamtgesellschaftliche Diagnose, die auf den Einfluss der Juden innerhalb des deutschen Staates und der Gesellschaft zurückgeführt wurde. Mit seinem negativen gesellschaftspolitischen Urteil war Ahlwardt nicht allein, und auch seine Argumentationsweise, die jüdische Korruption als Ursache allen Übels identifizierte, fand Zustimmung. Ähnliche Beschreibungen finden sich in einer Vielzahl zeitgenössischer antisemitischer Flugschriften und Pamphlete. Der antisemitische Autor Erwin Bauer beispielsweise sprach von »der Herrschaft der semitischen Corruption«, der bekannte Publizist Carl Paasch von der »jüdischen Nebenregierung« und ihrem korrumpierenden Einfluss auf das deutsche Staatswesen.378 Die Beispiele lassen erkennen: Wurde Korruption auf diese Weise referenziert, so stand die Aufdeckung, Beschreibung oder Verurteilung mikropolitischer Praktiken nicht im Vordergrund. Vielmehr ging es um einen Angriff auf moralischer Ebene. Die Beschreibung als korrupt diente einer generalisierenden, moralischen Stigmatisierung eines Zustandes oder einer Person und ihrer Handlungen.379 An dieser Stelle zeigt sich ein Unterschied zwischen den Korruptionsdebatten der 1870er/1880er Jahre und den antisemitischen Debatten der 1890er Jahre. Autoren wie Otto Glagau, Frantz Perrot oder Rudolf Meyer entfachten politische 377 Ahlwardt, Eid eines Judens, S. 18, 44. In »Eid eines Judens« bezichtigt Ahlwardt Bleichröder der moralischen Korruption, er habe ein außereheliches Verhältnis gehabt und im Anschluss Einfluss auf die Beamtenschaft genommen, um die Ereignisse zu vertuschen. Ereignisse hier sehr stark verknappt dargestellt, eine Beschreibung u. a. bei Hartston, Sensationalizing the Jewish Question, S. 232. 378 Erwin Bauer : Der Fall Bleichröder. Vortrag gehalten am 17. September 1891 im Concerthaus »Battenberg« zu Leipzig, Leipzig 1891, S. 22; Carl Paasch: Eine jüdisch-deutsche Gesandtschaft und ihre Helfer. Geheimes Judenthum, Nebenregierungen und jüdische Weltherrschaft. Teil I Mein Freund von Brandt, Leipzig 1891. 379 Ein prominentes Beispiel ist die wiederholte Stigmatisierung des Charakters und der Handlungen des prominenten jüdischen Bankiers Gerson von Bleichröders als korrupt, z. B. bei Hermann Ahlwardt: Der Gipfel jüdischer Frechheit. Das Gesetz ist todt – Es lebe Bleichröder!, Berlin9 1891.

Ausblick: Korruption und Antisemitismus in den 1890er Jahren

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Debatten, in denen der Vorwurf der Korruption ein zentrales Element darstellte. Ankläger und Rezipienten setzten sich ernsthaft mit den Vorwürfen und der Natur der korrupten Praktiken auseinander. Im Verlauf der Zeit wurde die argumentative Verbindung der Korruptionsvorwürfe mit antisemitischen Ressentiments zu einem wichtigen Bestandteil dieser Korruptionsdebatten. In späteren Jahren wandelte sich jedoch der Kontext, in dem diese Verbindung Verwendung fand. Sie wurde zu einem inhärenten, aber nicht zentralen Element der antisemitischen Rhetorik. Die Debatten, die populäre Antisemiten wie beispielsweise Ahlwardt, Bauer oder Paasch initiierten, beschäftigten sich im Kern nicht zwangsläufig mit Korruption – dennoch war der Vorwurf der Korruption ein fester Bestandteil ihrer Argumentation. Die argumentative Verknüpfung von Juden mit Korruption hatte sich als assoziatives Stereotyp etabliert, das keiner Begründung mehr bedurfte. Es erfüllte eine moralisierende Funktion, in deren Zentrum weniger einzelne Individuen standen, sondern vielmehr eine Verurteilung des gesamtgesellschaftlichen (politischen) Zustandes.

4

Französische Korruptionsdebatten und ihre Bedeutung für die politische Kommunikation des Kaiserreichs

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Dritte französische Republik innerhalb weniger Jahre von zwei großen Korruptionsskandalen erschüttert: 1887 wurde Louis Caffarel, General der französischen Armee, des Verkaufs von Ordenstiteln der Ehrenlegion überführt. Im Zuge der Ermittlungen wurde bekannt, dass auch Daniel Wilson, Schwiegersohn des amtierenden Staatspräsidenten Jules Gr8vy, in den Handel involviert war. Gr8vy musste abdanken. Fünf Jahre später, zur Jahreswende 1892/93, wurde auf dem Höhepunkt des Panamaskandals die systematische Bestechung von Staatsministern, Parlamentariern und Pressevertretern durch ein Wirtschaftsunternehmen enthüllt. Es kam zu öffentlichen Kundgebungen und Protesten, mehrere Regierungskabinette stürzten über die Korruptionsvorwürfe. Die Korruptionsskandale sorgten nicht nur in Frankreich für Furore, sondern wurden über die Landesgrenzen hinaus in ganz Europa rezipiert – so auch im Deutschen Kaiserreich.380 Wie ein Blick in die politische Tagespresse zeigt, war das Interesse an den Ereignissen in Deutschland besonders hoch. Alle führenden Periodika verfolgten die Entwicklung der Skandale über Wochen hinweg minutiös und bewerteten sie gemäß ihrer politischen Ausrichtung. Beinahe täglich erschienen Depeschenmeldungen, Korrespondentenberichte oder Leitartikel. Die Skandale fanden Einzug in die großen Lexika der Zeit und wurden in eigenständigen Broschüren aufgearbeitet.381 Kein anderer ausländischer Korruptionsskandal erhielt im Kaiserreich in diesem Zeitraum ein vergleichbares Maß an Beachtung.382 Insbesondere der Pa380 Vgl. bsph. die Berichterstattung der britischen Times. Der Skandal der Dekorationen wurde im englischsprachigen Raum als War Office Scandal betitelt. Die Times ist online einzusehen unter : http://www.britishnewspaperarchive.co.uk (3. 11. 2016). 381 Vgl. bsph. Wilhelm Issleib/Gustav Schuhr : Der Skandal Caffarel-Boulanger und die Corruption in Frankreich, Berlin 1887; Skandal der Dekorationen und Panamaskandal in: Autorenkollektiv (Hrsg.): »Geschichte Frankreichs«, in Brockhaus’ Konversationslexikon, Leipzig/Berlin/Wien14 1894–1896, Bd. 7, S. 122–125. 382 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden in der deutschen Presse wiederholt Korruptionsdebatten aus Großbritannien, Amerika oder Italien rezipiert, doch über keine dieser

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namaskandal diente den deutschen Zeitgenossen noch bis ins 20. Jahrhundert hinein als Maßstab für Korruptionsskandale; er avancierte zu einem geflügelten Begriff und wurde als Metapher vielseitig in Korruptionsdebatten eingesetzt. Untersucht man die beiden Korruptionsskandale, so stellen sie ein eindrucksvolles Beispiel dafür bereit, wie Interessenkonflikte in der politischen Sphäre der Dritten französischen Republik gegen Ende des 19. Jahrhunderts ausgefochten wurden und unterschiedliche Zukunftsvisionen, Politikvorstellungen und -erwartungen miteinander kollidierten. Aus diesem Grund hat sich die französische Geschichtswissenschaft bereits sehr früh mit diesen Skandalen auseinandergesetzt. Während sich ältere Werke sehr stark auf die Rekapitulation und Darstellung der Ereignisse konzentrierten, wurden die Skandale in den letzten Jahren auch vor dem Hintergrund neuerer politik- und kulturgeschichtlicher Forschungsansätze untersucht.383 So ist sich die französische Geschichtswissenschaft heute weitgehend einig, dass beide Affären nicht nur die Korruptionskommunikation Frankreichs nachhaltig veränderten, sondern auch Einfluss auf die politische Entwicklung der Dritten Republik nahmen.384 Auch in der englischsprachigen Forschungslandschaft wurden die Skandale rezipiert.385 Daher verwundert die geringe Rezeption der Skandale unter deutschen HistorikerInnen, für welche die Bedeutung der Ereignisse ob der vielfältigen deutschen Korruptionskommunikation augenscheinlich auf der Hand liegen müsste. Zu den Desideraten der historischen Korruptionsforschung zählt zudem die länderübergreifende Analyse beider Skandale, mithin also der Vergleich der deutsch-französischen Korruptionskommunikation.386 Dabei kann gerade der

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Debatten wurde mit der gleichen Intensität berichtet; vgl. u. a. die deutsche Berichterstattung über den italienischen Banca-Romana-Skandal (Winter 1892). Beispielhaft Adrien Dansette: L’Affaire Wilson et la Chute du Pr8sident Gr8vy, Paris 1936; Ders., Les Affaires de Panama, Paris 1934; Jean Bouvier : Les Deux Scandales de Panama, Paris 1964 (durch Quellenauszüge unterstützte Analyse); Gilbert Guilleminault/Yvonne Singer-Lecocq: La France des Gogos. Trois SiHcles de Scandales Financiers, Paris 1975; JeanYves Mollier : Le Scandale de Panama, Paris 1991. Die kulturgeschichtlichen Wende begründete eine neue Auseinandersetzung mit (Korruptions)Skandalen, bsph.: Blic/Lemieux, Le Scandale comme Ppreuve; Dard/Engels/ Fahrmeir/Monier, Scandales et Corruption; Jean Garrigues: La R8publique des Hommes d’Affaires 1870–1900, Paris 1997. Spezifisch zu den Skandalen von 1887, 1892/93 bsph.: Damien de Blic: »Moraliser l’Argent. Ce que Panama a Chang8 dans la Soci8t8 FranÅaise (1889–1897)«, in: Politix 71 (2005), Nr. 3, S. 61–82. Bsph. Paul Jankowski: Shades of Indignation. Political Scandals in France, Past and Present, New York/Oxford 2008, Kap. 2; W. H. Chaloner : »The Birth of the Panama Canal«, in: History Today 9 (1959), Nr. 7, S. 482–492. Beide Skandale wurden in der deutschen Geschichtsschreibung generell kaum bedacht; dies steht in einer Tradition allgemeinhin spärlicher Forschung zur Dritten Republik. Erste, neuere Untersuchungen im Kontext moderner Korruptionsforschung und in vergleichender Perspektive: Engels, Revolution und Panama; Ders., Panama in Deutschland; Ders./ Rothfuss, Les Usages de la Politique du Scandale; G8rald Sawicki: »Une Corruption / la

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Panamaskandal vor dem Hintergrund bisheriger Forschungsergebnisse als ein transnationales Phänomen verstanden werden. Der Historiker Norman Domeier hat die Entstehung dieses neuen Skandaltyps an der Wende zum 20. Jahrhundert in seiner Forschung zu dem Eulenburgskandal (1907–1908) dargestellt. Als »transnationales Medienereignis« charakterisiert er einen Skandal, der bereits von den Zeitgenossen als einschneidendes Erlebnis wahrgenommen und aufgrund wechselseitiger Rezeption durch die in- und ausländische Presse in einem erhöhten »Skandalbewusstsein« erlebt wurde.387 Domeier argumentiert, dass es sich bei diesen Skandalen um zutiefst politische Ereignisse handele, in denen sich politische und moralische Konflikte verdichten. Diese Beobachtungen lassen sich auf die beiden französischen Korruptionsskandale übertragen: Wie wurden diese Skandale im Kaiserreich bewertet und was bedeutete das deutsche Interesse an den Geschehnissen in Frankreich für die Korruptionskommunikation der Dritten Republik? Im Folgenden wird der französischen Presseberichterstattung über den Panamaskandal und den Skandal der Dekorationen die deutsche mediale Rezeption der Ereignisse gegenübergestellt und ein Vergleich der Korruptionskommunikation beider Länder vorgenommen. Diese Herangehensweise eröffnet einen außergewöhnlichen Blickwinkel, der neue Erkenntnisse über die Korruptionskommunikation des Kaiserreichs verspricht. Vor dem Hintergrund verschiedener Staatssysteme und einer divergierenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung wird verglichen, wie in der politischen Sphäre der beiden Untersuchungsländer im Kontext der Korruptionsskandale über Korruption und Politik gesprochen wurde. Auf diese Weise werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten sichtbar und es offenbaren sich Besonderheiten der deutschen Korruptionskommunikation. Schließlich spiegelt die deutsche Perspektive auf die Dritte Republik auch die deutsche Eigenwahrnehmung wider, die es zu untersuchen gilt. Der Vergleich wird von zwei Fragestellungen strukturiert, die auch die Gliederung der Kapitel maßgeblich bestimmen. So stehen zu Anfang die normative Bewertung der Ereignisse innerhalb der politischen Öffentlichkeit und mögliche Normenaushandlungsprozesse im Fokus. In einem zweiten Schritt gilt es, den politischen Umgang mit den Korruptionsskandalen zu untersuchen. Es wird geprüft, ob die Enthüllungen in Frankreich instrumentalisiert wurden und wie das Verhalten der Akteure im Kaiserreich wahrgenommen und bewertete wurde. Abschließend wird untersucht, ob die Berichterstattung über die französischen Skandale in Deutschland selbst zum Gegenstand von Interessenpolitik wurde. Der Analyse wird ein kurzer Überblick FranÅaise. Le Scandale des D8corations vu de l’Empire Allemande (1887)«, in: Dard/Engels/ Fahrmeir/Monier, Scandales et Corruption, S. 51–65. 387 Vgl. Domeier, Der Eulenburg-Skandal, S. 19f.

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über die politische Landschaft der Dritten Republik sowie eine skizzenhafte Ereignisgeschichte beider Skandale vorangestellt, die zur Kontextualisierung der Korruptionskommunikation dienen.

4.1

»Jamais on ne vit situation pareille.«388 Korruptionsdebatten in Frankreich 1887–1893

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen sich in Deutschland und Frankreich unterschiedliche politische Entwicklungen: Während nach dem Sieg über Frankreich 1871 der erste deutsche Nationalstaat unter preußischer Vorherrschaft gegründet wurde, besiegelte die Niederlage Napoleons III. 1870 das Ende des Zweiten französischen Kaiserreichs. Im Vergleich zu den Systemwechseln der vorangegangenen hundert Jahre wurde die Dritte Republik vergleichsweise friedlich aus der Taufe gehoben und 1875 durch verschiedene Gesetze als Staatsform konstitutionell verankert.389 Anders als in Deutschland, wo die konstitutionelle Monarchie bis zum Ersten Weltkrieg quasi alternativlos bestand, besaß die französische Republik anfangs keinen breiten gesellschaftspolitischen Rückhalt. Besonders während des ersten Jahrzehnts ihrer Existenz kämpften verschiedene politische Strömungen verbissen um die Zukunft und Ausgestaltung des neuen Staates.390 Die wechselhafte Geschichte und der konfliktreiche Diskurs über das politische System spiegelten sich in der breiten Auffächerung des politischen Spektrums in Frankreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts wider.391 Von der sozia388 Le Figaro, Toujours le Gachis, 13. 11. 1887. 389 Geschichte der Dritten Republik im Überblick (Auswahl): Jens Ivo Engels: Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik (1870–1940), Köln 2007; Jean-Yves Mollier/ Jocelyne George: La plus Longue des R8publiques 1870–1914, Paris 1994; Jean-Marie Mayeur: Les D8buts de la TroisiHme R8publique 1871–1898 (= Nouvelle histoire de la France Contemporaine, Vol. 10), Paris 1973; Charles Sowerwine: France since 1870. Culture, Politics and Society, Houndmills 2001; Robert Gildea: Children of the Revolution. The French 1799–1914, Cambridge (MA) 2008, S. 229–437; Jeremy Popkin: A History of Modern France, Upper Saddle River3 2006, Kap. 17f.; Robert Tombs: France 1814–1914, Harlow 1996. Knappe Darstellung über die wichtigsten Unterschiede zwischen der deutschen und der französischen Verfassung: Aurore Gaillet: »Verfassungsgeschichtliche Grundlagen«, in: Nikolaus Marsch/Yoan Vilain/Mattias Wendel (Hrsg.), Französisches und Deutsches Verfassungsrecht. Ein Rechtsvergleich, Berlin, Heidelberg 2015, S. 7–44. 390 Der Fortbestand der Republik gilt in der Forschung mit der Wahl Jules Gr8vy zum Staatspräsidenten im Jahre 1879 vielfach als gesichert. Abweichend argumentierte in den letzten Jahren bspw. Daniel Mollenhauer, der diesen Punkt erst mit dem Niedergang der boulangstischen Bewegung erreicht sieht. Vgl. Daniel Mollenhauer : Auf der Suche nach der »Wahren Republik«. Die Französischen »Radicaux« in der frühen Dritten Republik (1870–1890), Bonn 1998. 391 Wie Verweis 389. Weiterhin: Jean-Marie Mayeur : La Vie Politique sous la TroisiHme

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listischen Linken bis hin zur konservativ-monarchistischen Rechten waren verschiedenste lose organisierte Gruppierungen vertreten. Die Bindung der Politiker an derartige Gruppen oder an ein politisches Programm war oft vage und erst um die Jahrhundertwende begannen sich politische Parteien im modernen Sinne herauszubilden.392 Ebenso heterogen war auch die politische Presse Frankreichs, die ähnlich wie ihr deutsches Pendant gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen von technischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen getragenen Aufstieg erlebte.393 Zeitungen stiegen und sanken in ihrer Bedeutung oder wechselten ihre politische Affiliation. Auch waren viele bedeutende Politiker zeitweise persönlich in Zeitungsunternehmen involviert oder veröffentlichten in ausgewählten Journalen. Dieses Zusammenspiel aus einer fragmentierten politischen Landschaft und eines bewegten Pressemarktes erschwert die klare politische Klassifikation der Periodika. Stärker noch als auf deutscher Seite muss die französische Korruptionskommunikation daher über Stichproben erschlossen werden. Die Presseanalyse orientiert sich an drei politischen Richtungen, die – stark generalisiert – wie folgt charakterisiert werden können: Der moderate Republikanismus, dessen Vertreter auch als ›Opportunisten‹ bezeichnet wurden, trug in den 1880er Jahren mehrheitlich die Regierungsverantwortung und wird als erste Großgruppe am Beispiel des Paris und des antiklerikalen und zunehmend radikalen Rappel untersucht. Die Kabinette wechselten in dieser Phase häufig; zwischen dem Skandal der Dekorationen 1887 und dem Panamaskandal 1892/93 beispielsweise gab es neun unterschiedliche Regierungen. Trotz dieser zahlreichen Wechsel wurde ein gemäßigtrepublikanischer Reformkurs fortgesetzt. Auch verblieben viele Minister und Verwaltungsbeamte in ihren Positionen oder wechselten in ähnliche Ämter.394 Dieser personellen Kontinuität steht eine wichtige politische Veränderung gegenüber : Mit der Wahl im Jahre 1885 verloren die moderaten Republikaner die alleinige Parlamentsmehrheit und waren seitdem darauf angewiesen, mit der R8publique, Paris 1984; Gilles Candar : Histoire Politique de la TroisiHme R8publique, Paris 1999; William D. Irvine: »Beyond Left and Right, and the Politics of the Third Republic: A Conversation«, in: Historical Reflections 34 (2008), Nr. 2, S. 134–146. 392 Wenn im Folgenden also von Parteien die Rede ist, so sind diese nicht mit den Parteien des Kaiserreichs zu vergleichen. Der Begriff parti findet sich jedoch ausdrücklich in den französischen Quellen und soll der Einfachheit halber auch hier geführt werden. 393 Einführend u. a. Claude Bellanger/Jacques Godechot/Pierre Guiral/Fernand Terrou (Hrsg.): Histoire G8n8rale de la Presse Francaise. Tome III: De 1871 / 1940, Paris 1972; Christian Delporte: »La soci8t8 m8diatique du XIXe siHcle vue du XXe siHcle«, in: Jörg Requate, Das 19. Jahrhundert als Mediengesellschaft, München 2009, S. 43–55. Hervorgehoben werden soll, dass die französischen Zeitungen während des Untersuchungszeitraums einmal pro Tag erschienen, während viele deutsche Zeitungen zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Ausgaben pro Tag veröffentlichten. 394 Vgl. Engels, Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik, S. 36f.

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radikalen Linken (gauche radical) oder den Monarchisten zusammenzuarbeiten. In der Frühphase der Dritten Republik existierten rechts der Republikaner drei monarchistische Strömungen, die in unterschiedlicher Ausprägung als konservativ bezeichnet werden können: Die Legitimisten, welche die Restauration der Bourbonendynastie unter dem Comte de Chambord und eine zumindest partielle Aufhebung der Errungenschaften der Revolution – insbesondere der Volkssouveränität – forderten, die Orl8anisten, die sich auf den Comte de Paris beriefen und in Politik und Wirtschaft eine vergleichsweise liberale Position vertraten – sie akzeptierten unter anderem das Prinzip der Volkssouveränität; und schlussendlich die Bonapartisten, die mit Abstand progressivste Gruppe der Monarchisten, die für den Thronanspruch des Prince Imp8rial Louis-Napol8on Bonaparte eintraten. Die vorliegende Arbeit fokussiert sich auf die Gruppe der Orl8anisten, die nach dem Tod des Comte de Chambord 1883 Zuwachs aus dem Lager der Legitimisten erhielten und über eine starke Presse verfügten. Beispielhaft wird der Figaro untersucht, der zu den auflagenstärksten konservativen französischen Zeitungen des späten 19. Jahrhunderts zählte.395 Abschließend wird zudem die Berichterstattung des Intransigeant als Vertreter des politischen Boulangismus analysiert.396 Wenngleich die Bedeutung des Boulangismus zeitlich stark begrenzt war und andere politische Gruppierungen von vergleichbarer oder größerer politischer Bedeutung simultan existierten, so war für die Auswahl als Untersuchungsgegenstand das große Interesse der deutschen Akteure an der nationalistisch-revanchistischen Bewegung ausschlaggebend. Der Boulangismus, benannt nach seiner zentralen Figur General Georges Boulanger und in der Literatur bisweilen als Krisenphänomen des moderaten Republikanismus bezeichnet, wurde anfangs von der radikalen Linken unterstützt, bevor eine Annäherung an die Konservativen stattfand.397 395 Vgl. bsph. Selbstdeklaration des Figaro: A nos lecteurs, 28. 7. 1874. 396 Chefredakteur und Meinungsmacher des Intransigeant war Henri Rochefort. Das Periodikum/Rochefort war erst der Gauche Radicaux zuzuordnen. In den 1880er Jahren orientierte sich das Blatt zunehmend an den Sozialisten, war dann (auch zur Zeit der Skandale) Befürworter des Boulangismus, bevor es schließlich einen radikalen Nationalismus vertrat. Noch immer fehlt eine moderne wissenschaftliche Biographie Rocheforts, veraltet: Roger L. Williams: Henri Rochefort, le Prince des Pol8mistes, Paris 1970. Eine interessante kommentierte Zusammenstellung der Leitartikel Rocheforts findet sich bei Jean-Claude Girard: Un Pol8miste / Paris: Henri Rochefort, Paris 2003. 397 Der politische Charakter des Boulangismus wird noch immer kontrovers debattiert. Überblick über die verschiedenen Positionen: Kevin Passmore: The Right in France from the Third Republic to Vichy, Oxford/New York 2013, S. 46f.; Mollenhauer, Auf der Suche nach der »Wahren Republik«, S. 308f. Gegensätzliche Positionen: William D. Irvine: The Boulanger Affair Reconsidered, Oxford 1989 – er hebt die Unterstützung des Boulangismus von konservativer Seite hervor; J. N8r8: La Crise Industrielle de 1882 et le Mouvement

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Die Hochphase der politischen Bewegung zwischen 1887 und 1892 liegt nach dem Skandal der Dekorationen, aber noch vor dem Panamaskandal, sodass sich in der Korruptionskommunikation unterschiedliche Entwicklungsphasen widerspiegeln. Die Presse der Gruppierungen links der Mitte, der sogenannten radikalen Linken (gauche radicale) und des (radikalen) Sozialismus (radicaux-socialiste), wird nur anhand einzelner Beispiele in der Analyse berücksichtigt. Beide Richtungen begannen sich gegen Ende der 1870er Jahre (neu) zu formieren. Die Sozialisten hatten nach der Niederwerfung der Kommune vorrübergehend an Einfluss verloren, während die radikale Linke aus der Distanzierung vom gemäßigten Republikanismus entstand und über Jahre von internen Konflikten zwischen unterschiedlichen Flügeln und Gruppierungen geprägt war.398 Die Analyse der Korruptionskommunikation konzentriert sich auf prominente Konfliktachsen zwischen den politischen Richtungen, die in den Skandalen deutlich sichtbar waren und nach denen die Parteien und Zeitungen selektiv ausgewählt wurden. Der Blick ruht dabei im Besonderen auf den Leitartikeln der zwei prominenten Chefredakteure Auguste Vacquerie (Rappel) und Henri Rochefort (Intransigeant).399 Bei der Auswertung des Figaro gewährte neben Leitartikeln vor allem die tägliche Kolumne »Pchos – La Politique«, in der die aktuellen politischen Entwicklungen aus wechselnder Feder rezipiert und kommentiert wurden, interessante Einblicke. Zu ihren prominenten Autoren gehörten neben dem langjährigen Chefredakteur Francis Magnard auch bekannte konservative Journalisten wie beispielsweise Arthur-Marie Bucheron,

Boulangiste, Paris 1958 und Zeev Sternhell: La Droit R8volutionnaire. Les Origines du Fascisme FranÅais, 1885–1914, Paris 1978 – beide Autoren betonen hingegen die Attraktion boulangisitischer Ideen auf die Radikalen. Einführend über den politischen Boulangismus (Auswahl): Mathieu Providence: »Boulanger avant le Boulangisme«, in: Politix 72 (2005), Nr. 4, S. 155–179 (spezifisch zu den Anfängen der Bewegung); Jean Garrigues: Le Boulangisme, Paris 1992; Ders.: Le G8n8ral Boulanger, Paris 1991; Bruce Fulton: »The Boulanger Affair Revisited: The Preservation of the Third Republic, 1889«, in: French Historical Studies 17 (1889), Nr. 5, S. 310–329; Patrick H. Hutton: »Popular Boulangsim and the Advent of Mass Politics in France, 1886–1890«, in: Journal of Contemporary History 11 (1976), S. 85–106. Älter : F. H. Seager : The Boulanger Affair. Political Crossroad of France 1886–1889, Ithaca 1969; Adrien Dansette, Le Boulangisme, Paris 1938. 398 Einführend: Mollenhauer, Auf der Suche nach der »Wahren Republik«; Serge Berstein: Histoire du Parti Radical (Vol. 2), Paris 1880–1892. Überblickhafte Darstellungen des französischen Sozialismus: Jacques Droz: Histoire G8n8rale du Socialisme. Vol. 2: De 1875 / 1918., Paris 1997; Gilles Candar: »La Gauche en R8publique«, in: Jean-Jacques Becker/ Gilles Candar (Hrsg.), Histoire des Gauches en France. Vol. 1: L’H8ritage du XIXe SiHcle, Paris 2004, S. 113–134. 399 Die Leitartikel des Rappel und des Intransigeant wurden bis auf wenige Ausnahmen durchgehend von Rochefort und Vacquerie verfasst. Ein Pendant hierzu existierte im Figaro nicht.

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der unter dem Pseudonym Saint-Genest veröffentlichte.400 Mit Blick auf das Ausmaß der Skandale konzentriert sich die Untersuchung des Weiteren auf besonders intensive Phasen der Kommunikation. Für den kurzen Skandal der Dekorationen bedeutet diese Herangehensweise nur den Verzicht auf die 1888 ausgetragenen juristischen Verfahren. Für den Panamaskandal zielt die Analyse hingegen vor allem auf die entscheidenden Monate von November bis Dezember 1892.

4.1.1 Der Skandal der Dekorationen 1887401 »Le Trafic des D8corations au MinistHre de la guerre«402 – unter dieser Überschrift erhob die Tageszeitung Le XIXe SiHcle am 8. Oktober 1887 den Vorwurf, ein diensthabender General des französischen Kriegsministeriums betreibe Handel mit Titeln der Ehrenlegion. Die brisante Anklage konkretisierte sich umgehend, als bekannt wurde, dass die Pariser Polizei bereits Ermittlungen eingeleitet und erste Festnahmen vorgenommen hatte.403 Im Mittelpunkt der Untersuchung stand der stellvertretende Generalstabschef Louis Caffarel, der auf begründeten Verdacht hin am 7. Oktober 1887 verhaftet worden war. In der politischen Tagespresse wurden die Umstände und polizeilichen Maßnahmen, 400 Magnard war seit 1876 Chefredakteur des Figaro, er starb 1894. Nachruf: Le Figaro, Francis Magnard, 19. 11. 1894. Bucheron schrieb bereits seit 1869 für den Figaro, vgl. Gustave Vapereau, Dictionnaire Universel des Contemporains. Contenant tous les Personnes Notables de la France et des Payes Ptrangers, Paris 1893, S. 250f., http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/ bpt6k299202d/f257.item.r=bucheron.zoom (5. 11. 2016). 401 Der Skandal der Dekorationen wurde vor allem in Deutschland verhältnismäßig wenig beforscht. Die Darstellung der Ereignisse stützt sich auf: Dansette, L’Affaire Wilson; Jean Garrigues: Les scandales de la R8publique. De Panama / Clearstream, Paris2 2010, S. 13–24; Thomas Mießeler : Korruption in der Dritten Republik Frankreichs am Beispiel des Skandals der Dekorationen, Freiburg i. Br. 2009, unveröffentlichte Magisterarbeit; Michael Palmer : »Daniel Wilson and the Decorations Scandal of 1887«, in: Modern & Contemporary France 1 (1993), Nr. 2, S. 139–150; Fr8d8ric Audren/Pierre Lascoumes: »La Justice, le Gendre et le Scandale des D8corations. Aux Origines du Trafic d’Influence«, in: Bruno Dumons/Gilles Pollet (Hrsg.), La Fabrique de l’Honneur. Les M8dailles et les D8corations en France, XIXe–XXe SiHcles, Rennes 2009, S. 119–142. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich in der Darstellung von Audren/Lascoumes einige Fehler in Bezug auf Zeit- und Datumsangaben eingeschlichen haben. 402 Le XIXe SiHcle, Le Trafic des D8corations au MinistHre de la Guerre, 8. 10. 1887. In einigen Forschungsarbeiten wird dieser Artikel fälschlicherweise auf den 7. 10. 1887 datiert. Der Fehler ist wahrscheinlich auf die irreführende Darstellung in der historischen Arbeit Dansettes zurückzuführen: Dansette: L’affaire Wilson, S. 50, 55–56. 403 Vgl. Le XIXe, Le Scandale du MinistHre de la Guerre, 9. 10. 1887. Die Polizei war von einem Zeugen, M. Bouillon, über den Titelhandel informiert worden. Die Gründe für die Aussage Bouillons können nicht abschließend geklärt werden: Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 63.

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die zu der Festnahme geführt hatten, rekonstruiert und der weitere Verlauf der Untersuchung aufmerksam verfolgt.404 Innerhalb weniger Tage drang so an die Öffentlichkeit, dass neben General Caffarel und den Damen Limouzin und Rattazzi405 unter anderen auch Daniel Wilson, der Schwiegersohn des Staatspräsidenten, inkriminiert war. Die Angeklagte Madame Rattazzi hatte gegenüber einem Redakteur des Temps direkt auf die Beteiligung Wilsons hingewiesen.406 Diese Neuigkeiten verbreiteten sich in der Tagespresse rasant, denn es war nicht das erste Mal, dass die Familie Gr8vy öffentlich mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert wurde.407 In monarchistischen Kreisen hatte man dem Präsidenten mit Blick auf die ›blühende‹ Karriere seines Bruders Albert unterstellt, Nepotismus zu betreiben, und auch Wilson war verschiedentlich zum Ziel von Korruptionsvorwürfen geworden, die den Missbrauch seiner sozialen und politischen Position zum Thema hatten.408 Wenngleich derartige Vorhaltungen in der Vergangenheit bereits medial aufbereitet worden waren, so gelang es doch erst im Rahmen der Enthüllungen des XIXe SiHcle im Oktober 1887, die Präsidentenfamilie in eine Affäre von skandalösem Ausmaß zu involvieren. Ausschlaggebend dafür war, dass erstmals konkrete Beweise vorlagen, die das Einschreiten der Polizei provozierten. In einem Versuch, die Affäre einzuschränken, versendete Wilson wenige Tage nach Ausbruch des Skandals eine Erklärung an die Redaktionen der großen Pariser Tageszeitungen, in denen er die Vorwürfe dementierte.409 Tatsächlich dauerte es einige Zeit, bis Wilson und sein Schwiegervater vollständig in den Mittelpunkt des Skandals rückten. Grund dafür war nicht zuletzt, dass in den ersten Tagen nach der Veröffentlichung des XIXe SiHcle eine Vielzahl von Details an die Öffentlichkeit drang, welche die Presse in Atem hielten. Auch waren von Beginn an verschiedene Institutionen wie Justiz, Militär und Parlament mit dem Skandal beschäftigt, sodass sich die Berichterstattung auf verschiedene Schauplätze erstreckte. Die Zeitungen berichteten über die militärgerichtliche Verurteilung von Caffarel, das Fortschreiten der polizeilichen und gerichtlichen Ermittlungen und rekapitulierten Verhalten und Aussagen der inkriminierten Personen. Darüber hinaus rückte Mitte Oktober auch die ›Episode Boulanger‹410 in die öffentliche Aufmerksamkeit: eine Auseinandersetzung 404 Beispielhaft Le Figaro, L’Arrestation du G8n8ral Caffarel, 9. 10. 1887. 405 Die Schreibweise der beiden Damen variiert je nach Periodikum und Veröffentlichung. Gängige Alternativen sind Limousin und Rattazi. 406 Le Temps, o. T., 9. 10. 1887. 407 Vgl. Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 54–59. 408 Ebd., S. 56f. 409 Abdruck bspw. in L’Intransigeant, Le Cas de M. Wilson, 12. 10. 1887. 410 Die Ereignisse, die im Folgenden noch detailliert dargstellt werden, werden im Rahmen dieser Arbeit kurz als ›Episode Boulanger‹ bezeichnet.

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zwischen dem ehemaligen Kriegsminister Georges Boulanger, der im Mai 1887 unfreiwillig aus dem Amt gedrängt worden war, und dem amtierenden Kriegsminister Th8ophile Ferron. Beide Akteure versuchten, die Ereignisse des Skandals in ihrem Sinne bestmöglich zu nutzen und den Opponenten zu delegitimieren. Anfang November 1887 erfuhr der Skandal der Dekorationen sodann eine deutliche Zuspitzung. Erstmals sprachen die Paris Blätter von einer doppelten Krise, einer »crise minist8rielle« und einer »crise pr8sidentielle«.411 Zum ersten wurde das Gerichtsverfahren gegen General Caffarel, Limouzin und Komplizen am 7. November 1887 eröffnet. Während des Verfahrens stellte sich heraus, dass es Wilson entweder durch Unaufmerksamkeit oder Nachsichtigkeit der Polizeibeamten gelungen war, verschiedene Beweisstücke zu fälschen (»incident du filigrane«). Diese Enthüllung erregte in der politischen Sphäre große Empörung und fokussierte das öffentliche Interesse auf die Präsidentenfamilie. Die Situation spitzte sich zu, als die Deputiertenkammer am 17. November zudem die strafgerichtliche Verfolgung Wilsons – Abgeordneter des D8partement Tours – genehmigte. In der politischen Öffentlichkeit erregte es großen Missmut, dass sich Gr8vy ungeachtet der parlamentarischen Entscheidung und der medialen Empörung fortwährend weigerte, die Handlungen seines Schwiegersohns öffentlich zu verurteilen.412 Zu Beginn der Affäre hatten nur wenige Periodika den Präsidenten in einer Art Kollektivhaft aufgefordert, als Konsequenz aus den Handlungen Wilsons selber von seinem Amt zurücktreten.413 Nun jedoch erschallten Rücktrittsforderungen in aller Deutlichkeit und aus allen Ecken des politischen Spektrums.414 Zum zweiten eskalierten etwa zeitglich die Ereignisse in der Deputiertenkammer. Bereits in der ersten Verhandlung nach der Sommerpause, am 25. Oktober 1887, beantragte der konservative Abgeordnete Cuneo D’Ornano eine Untersuchungskommission »sur les faits de trafics des fonctions publiques et des d8corations qui ont 8t8 signales par la presse«, die mit großer Mehrheit angenommen wurde.415 Diese Entscheidung kam einer Spitze gegen das Kabinett von Maurice Rouvier gleich, da der Regierungsführer die Sinnhaftigkeit einer solchen Kommission zuvor in Frage gestellt hatte. Die simultane Existenz einer parlamentarischen und einer juristischen Untersuchung bereite ihm Bedenken,

411 412 413 414

Vgl. u. a. Le Rappel, L’Interpellation, 20. 11. 1887. Der Prozess gegen Wilson fand erst nach Ende des Skandals im Februar 1887 statt. Beispielhaft L’Intransigeant, Le Trafic des D8corations. Le March8 aux Croix, 10. 10. 1887. Vgl. bsph. Le Paris, o. T., 16. 11. 1887; Le Figaro, Le Grand Gachis, 17. 11. 1887; verschärft: Ders., La D8ch8ance, 18. 11. 1887. 415 Redebeitrag Cuneo D’Ornano, 21e S8ance de la Chambre des D8put8s, 25. 10. 1887, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1857f., http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k648183 8w/f7.item.zoom (11. 12. 2015).

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so die Erklärung Rouviers.416 Die Spannungen, die auf diese Weise zwischen Kammer und Regierung entstanden, spitzten sich im weiteren Verlauf des Skandals stark zu. Am 19. November stellte der prominente linksradikale Abgeordnete Georges Clemenceau die Kompetenzen des Kabinetts öffentlich in Frage: Er richtete eine Interpellation »sur la Situation Politique« an die Regierung, in der er die Existenz einer politischen Krise konstatierte, die das amtierende Kabinett nicht bewältigen könne.417 Die Interpellation Clemenceaus entsprach einem Misstrauensvotum und so trat das Kabinett Rouvier geschlossen zurück, nachdem die Kammer mit überwiegender Mehrheit für deren Annahme votiert hatte. Zu diesem Zeitpunkt überlagerten sich die beiden in der Öffentlichkeit proklamierten Krisen: Der öffentliche Druck auf Gr8vy, sein Amt niederzulegen, wuchs, es kam zu Demonstrationen und Protesten auf den Straßen von Paris und auch unter den Deputierten wurden immer mehr Stimmen laut, die sich für die Demission des Präsidenten aussprachen (crise pr8sidentielle). Gleichzeitig stand – ohne amtierende Regierung – der politische Alltag still und es oblag dem Präsidenten der Republik, ein neues Kabinett einzusetzen (crise minist8rielle). Aus Sicht des Präsidenten musste die erfolgreiche Zusammenstellung einer neuen Regierung in mehrerlei Hinsicht positive Folgen mit sich bringen: Sie markierte nicht nur die Wiederaufnahme des politischen Tagesgeschäftes, sie bot auch die Chance, von der eigenen Person abzulenken und so möglicherweise den Skandal zu überdauern. Doch die Versuche Gr8vys, in diese Richtung zu wirken, scheiterten. Zwar berief er führende Politiker verschiedener Lager in den Elys8e-Palast, doch niemand erklärte sich zur Neubildung eines Kabinetts bereit. Stattdessen erhielt der Präsident wiederholt den Ratschlag, sein Amt niederzulegen. Nach einer Phase mehrtägiger Verzögerung, die von Spekulationen und Aufständen geprägt war, lenkte Gr8vy am 2. Dezember 1887 ein und trat von seinem Amt zurück. Mit seiner Entscheidung fand der Skandal ein abruptes Ende. Einen Tag später wurde Sadi Carnot mit den Stimmen der im entferntesten Sinne republikanischen Gruppierungen zum fünften Präsidenten der Republik gewählt, der Ministerstreik (grHve des ministres) wurde beigelegt, und wenige Tage später nahm ein neues Kabinett unter der Leitung von Pierre Tirard die Arbeit auf. Eine Zugabe erlebte der Skandal im Frühjahr 1888, als Daniel Wilson unter großem medialen Echo vor Gericht zu zwei Jahren Ge416 Rouvier legte seine Motive in der Verhandlung um die Agenda der Untersuchungskommission noch einmal dar: Redebeitrag Maurice Rouvier, 5e S8ance de la Chambre des D8put8s, 5. 11. 1887, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1941f., http://gallica.bnf. fr/ark:/12148/bpt6k6481842s/f5.item.r=ministerielle.zoom (11. 12. 2015). 417 14e S8ance de la Chambre des D8put8s, 21. 11. 1887, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 2066f., http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6481850b/f2.item.r=garde%20le %20silence.zoom (14. 12. 2015).

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fängnis verurteilt wurde. Der Schuldspruch wurde nur wenige Wochen später in Berufung aufgehoben, womit der Skandal sein endgültig zum Abschluss kam.418 Der Skandal der Dekorationen war ein Korruptionsskandal, der in der Dritten Republik – wie auch im Deutschen Kaiserreich – in solchen Ausmaßen bis dato nicht vorgekommen war. Er hatte weitreichende politische Folgen und mobilisierte die politische Öffentlichkeit. In den Straßen von Paris wurde demonstriert, die Ereignisse wurden in Liedern und Karikaturen persifliert und die Presse berichtete tagtäglich von den neuesten Entwicklungen.419 Erschien der Skandal den Zeitgenossen 1887 noch wie eine Krise unvergleichbaren Ausmaßes, so sollte diese nur vier Jahre später noch übertroffen werden.420 Zur Jahreswende 1892/93 flammte der Panamaskandal auf, der die politische Öffentlichkeit Frankreichs nachhaltig erschüttern und die Dimensionen des Skandals der Dekorationen noch überstieg.

4.1.2 Der Panamaskandal 1892/93421 Die Wurzeln des bekanntesten französischen Korruptionsskandals reichen weit hinter sein eigentliches Datum zurück: Am 1. Februar 1881 meldet der französische Ingenieur Armand R8clus per Telegramm aus Panama nach Paris: »Travail commenc8!«. In der französischen Erinnerung markiert dieses Datum den offiziellen Baubeginn des Panamakanals, der quer durch den Isthmus von Panama verlaufen und den Atlantischen Ozean mit dem Pazifischen Ozean verbinden sollte. Das Gesicht dieses gewaltigen Projekts war der über siebzigjährige Ferdinand de Lesseps, gefeierter Architekt des Suez-Kanals. Le Grand FranÅais, wie Lesseps im Volksmund genannt wurde, hatte für diesen Zweck eine eigene Gesellschaft, die Compagnie Internationale du Canal Interoc8anique du Panama – kurz Panama Compagnie – gegründet.422 Große Teile ihres Kapitals akquirierte die Panama Compagnie anfangs durch den Verkauf von Aktien an französische 418 Die Urteile in historischer Darstellung: Albert Bataille, Causes Criminelles et Mondaines de 1887–1888. L’Affaire des D8corations, Paris 1888. Auch: Audren/Lascoumes, La Justice, le Gendre et le Scandale des D8corations, S. 124; Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 41–44. 419 Zusammenstellung von sichergestelltem Material: APP, BA 874 Jules Gr8vy. Die Archivmaterialien aus dem APP und den AN wurden mir freundlicherweise von Herrn Thomas Mießeler zur Verfügung gestellt. Einzelne Quellen auch in: Christophe Prochasson/Olivier Wieviorka: La France du XXe SiHcle: Documents d’Histoire, Paris 1994. 420 »Jamais on ne vit situation pareille.«, in: Le Figaro, Toujours le Gachis, 13. 11. 1887, Nr. 317. 421 Die Darstellung des Panamaskandals stützt sich, sofern nicht anders vermerkt, auf die historischen Grundlagenwerke: Bouvier, Les Deux scandales de Panama; Mollier, Le Scandale de Panama. 422 Zur Biographie Lesseps’ vgl.: Ghislain de Diesbach: Ferdinand de Lesseps, Paris 1998.

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Kleinanleger, die Lesseps für die Vision des interozeanischen Kanals begeisterte. Unter großem medialen Aufsehen reiste er nach Panama und tourte quer durch Frankreich, um das Projekt zu bewerben und Anleger zu gewinnen. Diese Form der Kapitalakkumulation machte die Gesellschaft jedoch früh abhängig von der Unterstützung der Presse, da das Projekt kontinuierlich öffentliche Fürsprecher benötigte. Vor diesem Hintergrund vermuten mehrere Historiker, dass bereits zu Beginn des Projekts Bestechungsgelder eingesetzt wurden, um Pressevertreter und damit auch die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Die Beziehungen zwischen Lesseps und Pmile de Girardin, dem Herausgeber des Petit Journal, etwa lassen sich bis in die frühen 1880er Jahre zurückverfolgen.423 Das Bauvorhaben war aufgrund der geographischen, geologischen und klimatischen Voraussetzungen vor Ort jedoch extrem anspruchsvoll, sodass zeitliche und finanzielle Vorgaben bald um ein Vielfaches übertroffen wurden und die Finanzierung des Projekts bedroht war.424 Im Frühjahr 1885, als das Unternehmen bereits mit großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, präsentierte Lesseps der französischen Deputiertenkammer erstmals Pläne für eine sogenannte Lotterie. Dabei handelte es sich um den Verkauf neuer Anleihen, deren Attraktivität durch Zugabe eines Lotterietickets gesteigert werden sollte.425 Die Zustimmung der Kammer zu dieser Lotterie ließ jedoch mehrere Jahre auf sich warten, da Lesseps sich weigerte, auf die Ratschläge einer eigens zusammengestellten Expertenkommission einzugehen.426 Derweil gelang es der Gesellschaft, den finanziellen Zusammenbruch weiter hinauszuzögern. In einem letzten propagandistischen Coup im November 1887 erklärte Lesseps seine Zustimmung zu den geforderten Veränderungen und verpflichtete den bekannten Ingenieur Gustave Eiffel, an dem Projekt mitzuwirken. Kammer und Senat genehmigten daraufhin im April 1888 die Lotterie. Ihre Zustimmung war, wie sich später herausstellen sollte, erkauft worden.427 Nun ruhte alle Hoffnung des Unternehmens auf der Ausgabe der Lotterieaktien, die sich jedoch als 423 Vgl. David McCullough, The Path Between the Seas, The Creation of the Panama Canal 1870–1914, New York/London/Toronto/Sydney 1977, S. 126. Eine unvollständige Liste der über die Jahre an die französischen Zeitungen gezahlten Summen: Bellanger/Godechot/ Guiral/Terrou, Histoire G8n8rale de la Presse, S. 268. 424 Zu den Problemen, die den Bau des Kanals behinderten, vgl. die ältere, teils populärwissenschaftliche, jedoch ausführliche und fachlich weitgehend korrekte Darstellung von McCullough, The Path Between the Seas, bes. Kap. 5–6. Populärwissenschaftlich: Matthew Parker : Panama Fever. The Epic Story of One of the Greatest Human Achievements of All Time – The Building of the Panama Canal, New York/London/Toronto/Sydney/Auckland 2007, insbes. Kap. 6–9. 425 Die Pläne sahen vor, in den darauffolgenden Jahren hohe Summen unter den Besitzern der Lotterietickets zu verlosen. 426 Lesseps beharrte auf einem Kanal auf Meeresniveau, der ohne Schleusen auskommen sollte und unter Experten von Beginn an umstritten war. 427 McCullough, Path Between the Seas, S. 217, 227.

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Fehlschlag herausstellte. Nicht einmal die Hälfte der benötigen Summe konnte akquiriert werden. Damit war die Panama Compagnie im Februar 1889 endgültig bankrott und ein amtlicher Konkursverwalter wurde eingesetzt. Als Achillesferse des gewaltigen Projekts hatte sich der eklatante Gegensatz zwischen zeitlichen und finanziellen Vorgaben und realen Erfordernissen erwiesen. Erschwerend wirkten sich zudem die unsicheren und aufwändigen Finanzierungsmethoden der Panama Compagnie aus. Sie bedingten eine vielschichtige Verflechtung der Gesellschaft mit Organen der Wirtschaft und Politik, die ab 1892 skandaliert wurde. Anfangs verlief die Auflösung der Panama Compagnie ohne großes Aufsehen – ein Skandal schien sich nicht anzukündigen. Bei vielen Anlegern herrschte Hoffnung, die Regierung werde sich des Unternehmens annehmen und das Projekt retten. Doch im Verlauf der folgenden Monate reichten immer mehr Anleger Klage gegen die Gesellschaft ein, sodass das Pariser Berufungsgericht 1891 entschied, eine Prüfung der Geschäftsbücher zu veranlassen. Die wachsende Unruhe in der politischen Öffentlichkeit bewegte die Deputiertenkammer im Sommer 1892, eine offizielle Untersuchung einzuleiten. Den Ausbruch des Skandals führte jedoch erst Pdouard Drumont herbei. Der antisemitische Publizist hatte bereits 1890 eine erste inkriminierende Darstellung über die Panama Compagnie veröffentlicht, die jedoch kaum Aufsehen erregt hatte.428 Vor dem Hintergrund der neuesten Entwicklungen veröffentlichte Drumont im September 1892 in seiner neugegründeten Tageszeitung Libre Parole eine anonyme Artikelserie unter dem Titel »Les dessous de Panama«. Darin erhob er den Vorwurf, die Panama Compagnie habe mehrere Dutzend Deputierte und Senatoren bestochen, die Lotterie wider besseren Wissens zu genehmigen. Drahtzieher der Bestechungen sei Baron Jacques de Reinach gewesen, der das Geld über den Mittelsmann L8opold Pmile Arton an die Empfänger verteilt habe.429 Die Vorwürfe der bis dato unbekannten Libre Parole wurden von anderen Pariser Blättern wie dem monarchistischen Gaulois oder der konservativen Cocarde kommentiert und verbreiteten sich so mit enormer Geschwindigkeit in der politischen Öffentlichkeit. In den Tagen und Wochen nach den Enthüllungen wuchs die mediale Kampagne stetig weiter und täglich drangen neue Details an die Öffentlichkeit. Der plötzliche Tod de Reinachs am 19. November 1892 markierte einen ersten Höhepunkt des Skandals und rief eine Vielzahl von Gerüchten und Spekulationen hervor. 428 Pdouard Drumont: La DerniHre Bataille. Nouvelle Ptude Psychologique et Sociale, Paris 1890. Drumont ist auch der Verfasser des in der Forschung bekannten antisemitischen Werks »La France Juive«, das 1886 erschien. In deutscher Übersetzung: Ders.: Das verjudete Frankreich. Versuch einer Tagesgeschichte, Berlin4 1886. 429 Vgl bsph. La Libre Parole, o. T., 10. 9. 1892. Ausschnitte auch bei Bouvier, Les Deux Scandales, S. 142–147.

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Vor allem zwei Entwicklungen fokussierten das öffentliche Interesse gegen Ende des Jahres 1892 in besonderer Weise. Sie gingen einerseits von der französischen Regierung, andererseits von der Deputiertenkammer aus: Basierend auf den Erkenntnissen einer von Justizminister Louis Ricard angeordneten juristischen Voruntersuchung entschied das moderat-republikanische Kabinett des Regierungsführers Pmile Loubet Mitte November, die strafgerichtliche Verfolgung der Direktoren der Panama Compagnie einzuleiten. Diese Entscheidung legte den Grundstein für drei Gerichtsprozesse, die in der ersten Jahreshälfte 1893 stattfinden sollten. Parallel reagierte das Parlament auf die Rede des boulangistischen Abgeordneten Jules Delahaye, der am 21. November 1892 vor der Kammer behauptete, mehr als 150 Parlamentarier seien von der Kanalbaugesellschaft bestochen worden.430 Die Chambre des D8putes entschied noch am selben Tag, eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen. Als Resultat dieser Entscheidungen arbeiteten in den darauffolgenden Wochen eine parlamentarische und eine juristische Untersuchungskommission simultan. Über die Kompetenzen des parlamentarischen Gremiums wurde zwischen Kammer und Regierung jedoch erhitzt gestritten, da das Kabinett die Kommission mit der Begründung ablehnte, sie trage zu einer Vermischung der Gewalten bei. In der Presse wurden diese Prozesse eifrig verfolgt und die öffentliche Aufmerksamkeit durch neue Enthüllungen und Ereignisse weiter gesteigert. Nachdem das Kabinett Loubet sich mehrfach mit dem Vorwurf konfrontiert sah, die Aufklärung des Skandals behindern zu wollen, trat es am 28. 11. 1892 auf dem vorläufigen Höhepunkt des Skandals zurück. Der darauffolgende Monat war geprägt von einer Vielzahl an Gerüchten und Spekulationen über die mögliche Beteiligung verschiedener prominenter PolitPersonen wie Georges Clemenceau oder Maurice Rouvier an den Bestechungen der Panama Compagnie. Auch die Zusammensetzung der neuen Regierung und die Arbeit der Untersuchungskommission inspirierten politische Auseinandersetzungen. Weitere Höhepunkte des Skandals stellten die Verhaftung der Direktoren der Panama Compagnie und die Aufhebung der Immunität von je fünf inkriminierten Senatoren und Deputierten durch die Deputiertenkammer dar. Die Verdächtigen mussten sich unter großer medialer Aufmerksamkeit zu Beginn des Jahres 1893 in zwei Prozessen vor Gericht verantworten. Wie zu Anfang dargelegt, liegen diese Ereignisse außerhalb des Untersuchungszeitraumes, der Vollständigkeit halber sei jedoch hinzugefügt, dass die Direktoren der Panama Compagnie im Februar 1893 wegen Veruntreuung und Missbrauch von finanziellen Mitteln der Gesellschaft sowie wegen Vertrauensbruch und 430 Redebeitrag Jules Delahaye, 21e S8ance de la Chambre des D8put8s, 21. 11. 1892, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1647f., http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb328020951/ date1892.item (16. 11. 2015).

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Täuschung der Aktionäre vom Pariser Berufungsgericht verurteilt wurden. Der Schuldspruch wurde allerdings in zweiter Instanz im Juni 1893 aufgrund rechtlicher Belange aufgehoben.431 Die der Annahme von Bestechungsgeldern verdächtigen Senatoren und Deputierten wurden im März 1893 vor dem Pariser Schwurgericht freigesprochen. Allein der ehemalige Minister für öffentliche Arbeit, Charles Ba"haut, wurde verurteilt, da er als einziger die Annahme von Geldern im Austausch gegen ein positives Bekenntnis zu der Gesellschaft eingestanden hatte. Die Gerichtsprozesse trugen dazu bei, dass der Panamaskandal auch im Jahr 1893 immer wieder aufflammte. Erst nach den Parlamentswahlen im August/ September 1893 ebbte das Interesse an den Vorgängen vollständig ab. Die Korruptionsaffäre hatte eine immense Bedeutung für die politische Öffentlichkeit entwickelt und einen maßgebenden Einfluss auf die Innenpolitik des Landes entfaltet, der sich unter anderem auch in den Wahlergebnissen von 1893 widerspiegelte: So konnten beispielsweise die französischen Sozialisten, die einzige politische Strömung, die nicht in den Skandal verwickelt gewesen war, von den Ereignissen profitieren und mit etwa fünfzig Sitzen ihr bisher stärkstes Wahlergebnis erlangen. Die Radikalen traf der Skandal hingegen stark. Noch 1887 hatte ihr prominenter Vertreter Georges Clemenceau den Skandal der Dekorationen nutzen können, um den Rücktritt des Kabinetts Rouvier zu erzwingen. Im Panamaskandal hingegen wurde ihm seine Verbindung zu den Drahtziehern Arton und Reinach zum Verhängnis. Bei den Wahlen 1893 verlor er sein Abgeordnetenmandat.432

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Politik und Korruption: Die Rezeption der französischen Korruptionsskandale 1887–1893

»Ce sera alors un joli procHs, auprHs duquel celui de la mHre Limouzin et du g8n8ral Caffarel ne sera plus que de la toute petite biHre.«433 Mit diesen Worten kommentierte der Chefredakteur des Intransigeant, Henri Rochefort, am 18. November 1892 die fortschreitende Entwicklung des Panamaskandals. Im Vergleich sei der vier Jahre zurückliegende Skandal der Dekorationen nur ein 431 Vgl. McCullough, Path Between the Seas, S. 234. 432 Die Kampagne gegen Clemenceau fand Unterstützung sowohl unter der politischen Rechten als auch unter der extremen Linken sowie unter Antisemiten und Boulangisten. Kurzzeitig erschien sogar ein Journal mit dem Titel L’Anti-Clemenciste. Nachzulesen im Detail bei Michel Winock: Clemenceau, Paris 2011; Jean-No[l Jeanneney : Clemenceau: Portrait d’un Homme Libre, Paris 2005. 433 L’Intransigeant, Corrupteurs et Corrompus, 18. 11. 1892. Auch: Ders., C ¸ a se Corse, 3. 12. 1892.

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›kleiner Fisch‹ gewesen. Noch 1887 hatte man von Ereignissen gesprochen, die man so bisher noch nie erlebt hatte, »jamais on ne vit situation pareille«; nun übertrafen die Ausmaße des Panamaskandals alles bisher Gekannte.434 Tatsächlich gab es bedeutende Unterschiede zwischen den Dimensionen der beiden Skandale, die im großen Maße auf die Verfügbarkeit und den Charakter der Informationen zurückzuführen sind, die der Öffentlichkeit zugänglich waren: Im Skandal der Dekorationen war der Hauptverdächtige, General Caffarel, bereits verhaftet, bevor die Enthüllung des XIXe SiHcle erfolgte. Noch während sich die Korruptionsvorwürfe in der Presse verbreiteten, fanden weitere Festnahmen statt und die Polizei gab erste Ermittlungsergebnisse bekannt. Somit waren bereits nach wenigen Tagen die Ausmaße des Titelhandels öffentlich bekannt. Die Verfügbarkeit offizieller Informationen schränkte zwar weder das öffentliche Interesse noch das Publikationsaufkommen ein, doch stellte es die Vorwürfe auf eine solide Grundlage. Die Verbreitung von Gerüchten und Spekulationen wurde damit stark eingeschränkt. Nachdem beispielsweise eine Hypothese des XIXe SiHcle, Caffarel habe Staatsgeheimnisse an das Ausland verkauft, keine Bestätigung fand, wurde sie von der Presse frühzeitig fallengelassen.435 Im Skandal der Dekorationen gab es eine aktive Skandalphase, die sich leicht identifizieren und datieren lässt. Sie reichte vom Datum der Enthüllungen am 8. Oktober 1887 bis zum Rücktritt Gr8vys am 2. Dezember und der Wahl Sadi Carnots zum neuen Staatspräsidenten am 3. Dezember 1887. Während des Gerichtsprozesses gegen Wilson im Februar 1888 flammte die Affäre in einem ›Epilog‹ noch einmal kurzfristig auf, bevor sie endgültig endete. Der Panamaskandal ist hingegen nur schwer auf einen genauen Zeitrahmen festzulegen, und bereits die Enthüllungsphase gestalte sich grundlegend anders: Vor Beginn des Skandals war die Panama Compagnie in der Presse bereits monatelang regelmäßig thematisiert worden. Es hatte Spekulationen über einen Zusammenbruch und vereinzelt Gerüchte über mögliches Fehlverhalten auf Seiten der Gesellschaft gegeben. Mit ihrer Artikelserie »Les Dessous de Panama« läutete die Libre Parole im November 1892 schließlich den Skandal ein. Das Blatt veröffentlichte sukzessive Informationen, die durch andere Journale aufgegriffen und ergänzt wurden. Dabei war von Anfang an von einem Konglomerat verschiedener Praktiken die Rede, das von Bestechung und Amtsmissbrauch bis hin zur Veruntreuung reichte. Auch der Kreis der Angeklagten war – anders als im Skandal der Dekorationen – nicht fest umrissen. Stattdessen schien eine schier unbegrenzte Anzahl an Personen potenziell verdächtig, zu denen neben prominenten Figuren der Wirtschaft und Presse auch Regierungsmitglieder, 434 Le Figaro, Toujours le Gachis, 13. 11. 1887. 435 Le XIXe SiHcle, La France # l’Encan, 9. 10. 1887; Ders., Le Trafic des D8corations au MinistHre de la Guerre, 8. 10. 1887.

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Abgeordnete und Senatoren zählten. Im Gegensatz zu 1887 konnten die Korruptionsvorwürfe nicht zeitnah von offizieller Seite validiert werden, da die genaueren Umstände der Ereignisse erst im Laufe verschiedener Untersuchungen rekonstruiert wurden. Die Ungewissheit dieser Situation ließ Raum für eine Fülle an Gerüchten und Spekulationen, die in der Presse unter Berufung auf die Wissbegierde, aber auch auf das Anrecht der Öffentlichkeit auf Auskünfte verbreitet wurden.436 Diese Melange an Informationen begünstigte eine Mystifizierung der mikropolitischen Praktiken und ihrer Akteure und trug dazu bei, den Zeitgenossen die Dimensionen des Skandals potenziell unbegrenzt erscheinen zu lassen.437 Der Skandal zog sich über mehrere Monate hin und durchlebte verschiedene Hochphasen, wie etwa in dem hier untersuchten Zeitraum zwischen November und Dezember 1892, in dem die Rekonstruktion der Ereignisse eine bedeutende Rolle spielte. Darauf folgten noch die Phase der Gerichtsprozesse in der ersten Jahreshälfte 1893 und schließlich der Zeitraum der Parlamentswahlen im Spätsommer 1893. Die unterschiedlichen Voraussetzungen, vor deren Hintergrund die Ereignisse ihren Anfang nahmen, prägten die Entwicklung und Dimensionen der beiden Skandale maßgeblich. Dabei bestanden zwischen Skandalverlauf und der Korruptionskommunikation Wechselwirkungen, für die vor allem die politische Instrumentalisierung der Skandale verantwortlich war, wie unter anderem am Beispiel der Episode Boulanger gezeigt wird. Übergeordnete politische Interessen der Akteure inspirierten ihre Haltung zu den Enthüllungen und ihr Bedürfnis, den Skandal entweder zu beenden oder weiter zu befeuern. Zugleich mussten die Akteure auf unvorhergesehene oder unbeeinflussbare Entwicklungen reagieren und ihre Kommunikation dementsprechend anpassen. Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten prägende Unterschiede vor allem in der Frühphase beider Skandale jeweils separat hervorgehoben worden sind, werden die Affären im Folgenden gemeinsam untersucht.

4.2.1 Meistbietend verkauft438 : Das moralische Urteil der französischen Presse Vergleicht man die Berichterstattung der politischen Presse in Hinblick auf die Bewertung der mikropolitischen Praktiken und deren Beschreibung, fällt eine 436 Beispielhaft Le Figaro, L’Affair de Panama, 20. 11. 1892; Le Rappel, Les Pouvoirs de la Commission, 2. 12. 1892. 437 Die mediale Debatte, die sich an der Person des Verdächtigen Jacques de Reinach (und besonders nach dessen Tod am 19. 11. 1892) entspannte, illustriert bsph. die Fülle der Spekulationen und deren breite thematisch Ausdehnung. 438 Am 8. 10. 1887 provozierte das Le XIXe SiHcle mit der Unterüberschrift: »La L8gion d’Honneur # l’Encan«. Ders., Le Trafic des D8corations au MinistHre de la Guerre, 8. 10. 1887.

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wichtige Gemeinsamkeit ins Auge: In beiden Skandalen riefen die Korruptionsvorwürfe eine unmittelbare und einstimmige Reaktion in der politischen Presse hervor. Quer durch das politische Spektrum wurden die Handlungen, die den Vorwürfen zu Grunde lagen, negativ beurteilt und als korrupt, als Zeugnis moralischer Unzulänglichkeit beschrieben.439 Keine der untersuchten Zeitungen hinterfragte das kollektive Urteil oder versuchte die Handlungen – sei es als Ganzes oder in Facetten – zu verteidigen. Der Intransigeant formulierte treffend: »On est ferme [sic!, hier : unwillig Bestechungen anzunehmen] ou on ne l’est pas.«440 Weder 1887 noch 1892 sind widersprüchliche Positionen zu erkennen; die negative Bewertung der mikropolitischen Praktiken erfolgte selbstverständlich und alternativlos. So ist festzuhalten, dass die gesellschaftlichen Normen im Rahmen der Korruptionsskandale eine deutliche Bestätigung erfuhren und nicht in Frage gestellt wurden. Im Skandal der Dekorationen führte diese Bekräftigung zudem zu einer Justierung der juristischen Grundlagen. Im Juni 1888 beschlossen die französischen Kammern eine Erweiterung der §§ 177 und 179 des Code P8nal. Die Entscheidung zu diesem Zusatz war von den Gerichtsprozessen inspiriert, die im Rahmen des Skandals geführt worden waren. Sie hatten offenbart, dass es unter der bestehenden Gesetzeslage sehr schwer war, den Missbrauch eines öffentlichen Amtes juristisch einwandfrei nachzuweisen und damit als »corruption« zu verurteilen.441 Aus diesem Grund musste in den Prozessen unter anderem auf den § 405 des Code P8nal ausgewichen und die Angeklagten stattdessen des Betruges verurteilt werden. Die Erweiterung der bestehenden Artikel sollte ermöglichen, »trafic d’influence« zukünftig erfolgreich als »d8lit de corruption« verfolgen zu können.442 Die Korruptionsdebatte hatte damit eine Evaluation und Anpassung der juristischen Normen an die Anforderungen der Praxis herbeigeführt und zu einer Präzision der juristischen Definition von

439 Beispielhaft Le Rappel, Le Bon Cot8, 14. 10. 1887; Ders., Les Deux Culpabilit8s, 20. 12. 1892; Le Figaro, L’Arrestation du General Caffarel, 9. 10. 1887; Ders., La Question du Panama, 15. 11. 1892. 440 L’Intransigeant, La R8publique, c’est Eux!, 17. 12. 1892. 441 Anders als im Kaiserreich herrschte in Frankreich partielle Deckungsgleichheit zwischen dem umgangssprachlichen und dem juristischen Vokabular, das zur Beschreibung mikropolitischer Praktiken diente. Der »Code P8nal« verwendete in den einschlägigen §§ 177–178 bspw. explizit das Wort corrompre, zu deutsch korrumpieren. Vgl. die historische Erörterung von Achille Morin: Dictionnaire du Droit Criminel. R8pertoire Raisonn8 de Legislation et de Jurisprudence en matiHre Criminelle, Correctionnelle et de Police, Paris 1842, S. 362–367. Die besagten Artikel bestanden in der Dritten Republik weitgehend unverändert weiter. Auch heute wird im französischen Gesetzbuch corruption unter Strafe gestellt, einzusehen unter : http://www.legifrance.gouv.fr/affichCode.do?cidTexte=LEGI TEXT000006070719 (30. 1. 2016), vgl. u. a. § 131. 442 Vgl. Lascoumes/Audren, La Justice, le Gendre et le Scandale des D8corations, S. 134f., 140f.

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Korruption beigetragen, die dem im Skandal geäußerten öffentlichen Unrechtsbefinden Rechnung trug. Tatsächlich umfasste die rechtliche Definition von Korruption jedoch nicht alle Praktiken und Verhaltensformen, die in den Skandalen von 1887 und 1892/ 93 öffentlich als korrupt stigmatisiert wurden. Im Angesicht der Diversität der verurteilten Handlungen gilt es daher, nach der öffentlichen Definition von Korruption zu fragen. Welche Gemeinsamkeit bestand zwischen den verschiedenen Vergehen, die es ermöglichte, sie trotz ihrer Unterschiede gleichsam als korrupt zu bewerten? Auch in dieser Frage argumentierte die französische Presse mit auffallender Einigkeit. »Les combinaisons de politique et d’affaires, les influences mises au service d’entreprise difficiles« – so beschrieb beispielsweise der Figaro den Anstoß allen Ärgers.443 Das monarchistische Periodikum argumentierte, die zunehmende Verquickung zwischen Wirtschaft und Politik generiere neue Anreize für Amts- und Mandatsträger, ihre politische Stellung im persönlichen Interesse zu nutzen. Auf diese Weise, so die Schlussfolgerung des Blattes, werde das Vertrauen in die Parlamentarier als ehrliche Interessenvertreter untergraben.444 Auch der Intransigeant hob die Beteiligung von Politikern an ›korruptem‹ Verhalten als besonders verwerflich hervor. So sah das Blatt 1892/93 vor allem die bestochenen Deputierten in der Schuld, da diese ihr Mandat missachtet und die Interessen ihrer Wähler verkauft hätten.445 Die Definition von Korruption, die in der französischen Presse während der Skandale dominierte, war demnach stark politisch geprägt und ähnelt damit heutigen Korruptionsdefinitionen, wie etwa der von Transparency International.446 Doch das Stigma der Korruption wurde über politische Amts- und Mandatsträger auch auf weitere Personengruppen ausgedehnt, so etwa auf Personen der Wirtschaft (Lesseps, Jacques de Reinach), der Presse (im Panamaskandal bestochene Pressevertreter) oder aus dem weiteren Umfeld der Politik (Pmile Arton). Dabei wurden nicht allein die Handlugen als korrupt verurteilt, in welche die Akteure verstrickt waren, sondern auch ihr Charakter als moralisch ungenügend gebrandmarkt. Für die Akteure galt zudem, dass nicht nur ihr Verhalten in der Vergangenheit bewertet wurde, sondern auch ihr Auftreten im Rahmen der Skandale. Dies traf nicht nur auf die inkriminierten Individuen zu, sondern auch auf exponierte Personen der politischen Sphäre, die während der Affären von der politischen 443 Le Figaro, Pchos – La Politique, 7. 12. 1892. Auch: Ders., La Politique et les Affaires, 10. 10. 1887. 444 Beispielhaft Le Figaro, Pchos – La Politique, 22. 11. 1892; Ders., Les Politciens et la Patrie, 13. 12. 1892. 445 L’Intransigeant, Corrupteurs et Corrompus, 18. 11. 1892. 446 Beispielhaft o. A./Transparency International: Was ist Korruption?, https://www.transparen cy.de/was-ist-korruption.2176.0.html (8. 11. 2016).

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Presse aufmerksam beobachtet wurden. Beispielhaft hierfür ist die Haltung der Presse gegenüber Jules Gr8vy. Die untersuchten Zeitungen argumentierten unisono, dass der Präsident die Stellung und das Prestige seines Amtes nicht nutzen dürfe, um seinen Schwiegersohn gegen die Korruptionsvorwürfe in Schutz zu nehmen – dieser Meinung wurde Ausdruck verliehen, noch bevor Gr8vy selbst in den Skandal involviert und zum Rücktritt aufgefordert wurde.447 Als weiteres Exempel kann auch die Auseinandersetzung des Intransigeant mit Maurice Rouvier im Dezember 1892 herangezogen werden. Den Intransigeant empörte nicht nur, dass Rouvier Bestechungsgelder angenommen hatte, sondern auch, dass dieser versuchte, den Vorgang mit dem Argument zu nivellieren, er habe in Verteidigung der Republik gehandelt. Das boulangistische Blatt wies darauf hin, dass Rouvier in den letzten Jahren auffällig viele Immobilien erworben habe, und sah darin den Beweis, dass der Politiker die Gelder für private Zwecke verwendet und der Öffentlichkeit ins Gesicht gelogen habe.448 Abschließend soll das negative Urteil der französischen Presse über die mikropolitischen Praktiken und ihre Charakterisierung als korrupt, die nun aus verschiedenen Perspektiven analysiert wurde, auch in den Quellen sichtbar gemacht werden. Wichtig ist dieser Nachweis, gerade weil das Urteil der Presse so selbstverständlich und scheinbar alternativlos ausfiel. Da das Stigma der Korruption nicht in Frage gestellt wurde und die Zeitungen ihr Urteil nicht begründeten, lässt sich die unterschwellig stets präsente moralische Wertung vor allem in der Gesamtheit der Berichterstattung nachvollziehen, während sie in einzelnen Quellen hingegen schwerer zu belegen ist. Einen Zugang stellt die Sprache und Wortwahl der Periodika dar, mittels derer die negative Wertung Ausdruck fand. Besonders im Skandal der Dekorationen fällt auf, dass viele Zeitungen juristische Begriffe nutzten oder auf Paragraphen des Code P8nal verwiesen.449 Zu diesem Verhalten mag das schnelle Eingreifen der Justiz beigetragen haben, das die Rechtswidrigkeit der enthüllten Praktiken sofort öffentlich bestätigte und Fakten schuf, auf die sich alle Akteure beziehen konnten. Darüber hinaus verwendete die Presse ein einschlägiges, dabei vielfältiges Vokabular, um die Skandale und Handlungen zu beschreiben. So charakterisierten die Periodika die Ereignisse umgehend als Affären oder Skandale, 1887 beispielsweise wurde von einer »Affaire Caffarel« oder auch einem »Scandale Wilson« gesprochen.450 Vier Jahre später dominierte in der Presse der Begriff der 447 Beispielhaft Le Figaro, Les Miettes de la Politique, 25. 10. 1887; Le Rappel, A L’Plys8e, 15. 11. 1887; Le Paris, o. T., 18. 10. 1887; Ders., o. T., 30. 10. 1887. 448 L’Intransigeant, D8fenseurs de la R8publique, 24. 12. 1892. 449 Beispielhaft Le Rappel, L’Affaire Caffarel Limouzin, 8. 11. 1887; Ders., Les Nouvelles Poursuites, 22. 12. 1892; Le Figaro, L’Affaire Caffarel, 12. 10. 1887. 450 Le Rappel, L’Affair du G8n8ral Caffarel, 9. 10. 1887; La France, L’Affair Caffarel, 10. 10. 1887; Le Paris, Nouveau Scandale Wilson, 10. 10. 1887.

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»Affaire de Panama«.451 Durch diese Betitelung wurden die Vorgänge sofort als bedeutsam charakterisiert und in eine Tradition vorangegangener Ereignisse gestellt, die in der politischen Sphäre Aufregung und Empörung generiert hatten. Zusätzliche Attribute wie »grave« oder »myst8rieuse« verstärkten diesen Eindruck weiter.452 Um die mikropolitischen Handlungen zu beschreiben, verwendeten die Periodika einschlägiges Vokabular, beispielsweise die Begriffe »corrompre«453, »v8nalit8«454 oder »pot-de-vin«455. Das Begriffspaar »corrupteurs et corrompus« wurde genutzt, um auf die involvierten Akteure zu verweisen.456 Darüber hinaus verwendete die Mehrzahl der Zeitungen eine stark metaphorische und polarisierende Sprache, die das moralische Stigma der Korruption transportierte. So wurden die mikropolitischen Handlungen beispielsweise abstrakt als »[les] tripotages les plus ignobles« beschrieben, die Korruption mit einem »effondrement moral du rÞve« verglichen und der Kampf gegen sie bildhaft als »balayage« bezeichnet.457 Ähnlich wie in der deutschen Berichterstattung fanden sich häufig Begrifflichkeiten aus den Wortfeldern der Natur und Medizin. Die Situation während des Panamaskandals wurde in der Presse oftmals als »g.chis« beschrieben.458 Der Rappel sprach explizit von der notwendigen »amputation des gangrHnes«459, und auch der Figaro griff auf medizinische Metaphern wie »moribond«, »malades« und »remHdes« zurück.460 Aber auch aus anderen Bereichen wurden Sprachbilder und Metaphern entliehen, so zum Beispiel aus der Welt des Theaters und der Literatur. Während mehrere Periodika die Skandale mit einer Theateraufführung461 verglichen, referenzierte der Rappel in seiner Auseinandersetzung mit den Geschehnissen die bekannten Zeilen aus Hamlet: »[Il y a] quelque chose de pourri en [sic!] [au royaume du] Danemark.«462 Auch Henri Rochefort, der Chefredakteur des In451 Le Figaro, La Question du Panama, 15. 11. 1892. 452 Le Paris, Le Wilsonisme, 17. 10. 1887; Le Figaro, Le Panama, 26. 11. 1892. 453 Beispielhaft Le Figaro, L’Arrestation de MM. Ch. de Lesseps, Fontane et Sans-Leroy, 17. 12. 1892. 454 Beispielhaft Le Rappel, L’EnquÞte, 25. 11. 1892; Redebeitrag Delahaye, 21 S8ance de la Chambre des D8put8s, 21. 11. 1892, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1647, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6453903t/f1.item.r=v8nalit8.zoom (15. 8. 2017). 455 Le Rappel, Les Journalistes devant la Commission d’Enquete, 16. 11. 1887; Le Figaro, L’HonnÞtet8 FranÅaise, 31. 10. 1887. 456 L’Intransigeant, Corrupteurs et Corrompus, 18. 11. 1892. 457 Le Figaro, L’Arrestation du G8n8ral Caffarel, 9. 10. 1887; Ders., La Question du Panama, 15. 11. 1892; L’Intransigeant, Balayage, 2. 12. 1892. 458 Beispielhaft Le Figaro, Le Gachis, 11. 11. 1887. 459 Le Rappel, La Calomni8e, 11. 12. 1892; bsph. auch: Ders., Les lettres de M. Wilson, 12. 11. 1887. 460 Le Figaro, RemHdes necessaire, 17. 12. 1892. 461 Theateraufführung bsph. La Lanterne, L’Affair Caffarel, 22. 10. 1887. 462 Le Rappel, Ceux qui sont dupe, 23. 12. 1892.

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transigeant, nutzte vielfach literarische Referenzen; so verglich er wiederholt inkriminierte Politiker mit der literarischen Figur des urbildlichen Ganoven Robert Macaire.463 Wie die Beispiele zeigen, war das verwendete Vokabular vielfältig und durchaus kreativ, immer aber vermittelte es eine negative Wertung der mikropolitischen Praktiken. Die Analyse der deutschen Berichterstattung wird nicht nur die moralische Wertung vergleichen, sondern auch nach Ähnlichkeiten in dem Vokabular fragen und diese gegebenenfalls aufzeigen. Auf diese Weise können neue Erkenntnisse über die Korruptionskommunikation der beiden Länder und mögliche internationale Tendenzen erschlossen werden. Das homogene Urteil der französischen Öffentlichkeit in beiden Skandalen ist besonders hervorzuheben. Die einstimmige moralische Verurteilung der mikropolitischen Praktiken zeigt, dass in der Gesellschaft der Dritten Republik vor der Jahrhundertwende ein Konsens bestand, die Wahrnehmung persönlicher Interessen in der politischen Sphäre als korrupt zu brandmarken, wenn sie den Aufgaben und Pflichten eines öffentlichen Amtes/Mandats zuwiderliefen. Die Wertung der französischen Öffentlichkeit muss vor dem Hintergrund einer Entwicklung gesehen werden, die bereits im späten 18. Jahrhundert begonnen hatte. War im 17. und 18. Jahrhundert der Begriff der Korruption größtenteils negativ konnotiert, wurden doch Praktiken wie Patronage oder der Gebrauch eines Amtes zu persönlichem Nutzen nicht zwangsläufig mit diesem Stigma belegt, sondern fallweise anhand verschiedener Faktoren bewertet.464 Dies begann sich an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zu ändern. Die beiden Korruptionsskandale zeigen, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Beschreibung als korrupt ein nicht mehr anfechtbares/nicht mehr kasuistisch abwägbares, negatives Urteil darstellte, das fest mit spezifischen Praktiken wie Bestechung oder Amtsmissbrauch assoziiert war. Im Übergang zur Moderne hatte sich in westlichen Gesellschaften eine Verfestigung der respektiven Normengefüge bei gleichzeitiger Abnahme normativer Ambivalenz vollzogen.465

463 Beispielhaft L’Intransigeant, C ¸ a se Corse, 3. 12. 1892; Ders., D8fenseur de la R8publique, 24. 12. 1892. Robert Macaire ist eine fiktionale Figur, die erstmals in dem Theaterstück »L’Auberge des Adrets« (1823) von Benjamin Antier in Erscheinung trat und in den folgenden Dekaden den kulturellen Archetypen des Ganoven repräsentierte. Vgl. Benjamin Antier/Alexandre Chaponnier/Saint-Amand: L’Auberge des adrets: Drame en Trois Actes / Spectacle, Paris 1832; No8mi Carrique: »Le SuccHs du crime sur scHne avec Robert Macaire: Modernit8 Th8.trale et Protestation Sociale au XIXe SiHcle«, in: Criminocorpus 2012, http://criminocorpus.revues.org/2218 (11. 3. 2016). 464 Vgl. bsph. Engels, Geschichte der Korruption, S. 67f.; Robert Bernsee: Moralische Erneuerung. Korruption und bürokratische Reformen in Bayern und Preußen, 1780–1820 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 241), Göttingen 2017. 465 Engels, Politische Korruption und Modernisierungsprozesse, u. a. S. 39f.; Thiessen: Korruption und Normenkonkurrenz, S. 91–120; Niels Grüne/Tom Tölle: »Corruption in the

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Der französische Politikwissenschaftler Damien de Blic konnte zudem überzeugend darlegen, dass neben der Bedeutung des Panamaskandals für diesen Prozess der Skandal auch mit Blick auf journalistische Praktiken und Wirtschaftsnormen deutliche Veränderungen hervorrief bzw. anstieß.466 Durch die enge Begrenzung der französischen Vergleichsstudie auf einen Zeitraum von circa fünf Jahren können diese Veränderungen leider nicht empirisch dargestellt und weiterverfolgt werden.

4.2.2 Die politische Instrumentalisierung der Korruptionsskandale Ungeachtet der einstimmigen moralischen Verurteilung, die in beiden Fällen auch von juristischen Konsequenzen für die inkriminierten Akteure begleitet wurde, folgten auf die Enthüllungen langwierige Skandale. Dieser Umstand weist auf die politische Dimension von Korruptionsdebatten hin, die von Beginn an auch zutiefst politische Ereignisse waren. Die politische Instrumentalisierung der Ereignisse prägte die ›Dramaturgie‹ der Korruptionsskandale, ihren Verlauf und Charakter, und entwickelte häufig eine eigene Dynamik. Exemplarisch hierfür ist die politische Kampagne gegen Jules Gr8vy im Skandal der Dekorationen. Während der Korruptionsdebatte forderten Boulangisten und Konservative, die aus unterschiedlichen Gründen schon seit längerer Zeit Unmut gegen den Staatspräsidenten hegten, er möge sein Amt niederlegen.467 Gr8vy war von den Korruptionsvorwürfen jedoch eigentlich nicht betroffen und auch juristisch nicht belangbar. Beide Parteien suchten daher das moralische Urteil, das die französische Gesellschaft über Wilson gesprochen hatte, auf Gr8vy auszudehnen. Der republikanische Rappel beschrieb diesen Vorgang wie folgt: »On vise le beau-pHre / travers le gendre.«468 Gr8vy, so die implizite Argumentation der Boulangisten und Konservativen, war allein durch seine Nähe zu Wilson kompromittiert. Darüber hinaus wurde Gr8vy das Bekenntnis zu seinem Schwiegersohn als moralische Schwäche ausgelegt; ihm wurde vorgeworfen, im Anblick der Enthüllungen die Familie den Interessen des Landes vorzuziehen und die Taten Wilsons toleriert zu haben.469

466 467 468 469

Ancien R8gime: Systemstheoretical Considerations on Normative Plurality«, in: Journal of Modern European History 11 (2013) Nr. 1, S. 31–51. De Blic, Moraliser l’Argent, S. 61–82. Zu der Beziehung zwischen Gr8vy und den verschiedenen politischen Richtungen: Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, bes. S. 54f., 70f. Le Rappel, L’Enquete, 31. 10. 1887. Der Rappel kritisierte an dieser Stelle das Vorgehen anderer Skandalteilnehmer, sprach jedoch nach zunehmendem öffentlichen Druck einige Wochen später auch ein moralisches Urteil über G8vy. Beispielhaft Le Figaro, A L’Elys8e, 11. 11. 1887; L’Intransigeant, Les Grands Moyens, 18. 11. 1187.

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In der nachfolgenden Analyse steht die politische Instrumentalisierung der Korruptionsdebatten im Fokus. Die Skandale werden in ihrer ganzen Komplexität betrachtet, um sie als Ereignisse zu erfassen, in denen politische Akteure mit den unterschiedlichsten Motiven aufeinandertrafen. Es ist die Melange unterschiedlichster Interessen, die den vielfältigen und unvorhersehbaren Charakter der Korruptionsskandale bedingte. Grob abstrahiert, lassen sich bei den französischen Skandalen idealtypisch zwei Ebenen der ›Politisierung‹ unterscheiden: So wurde in der politischen Sphäre einerseits auf einer abstrakten Ebene über die Korruptionsvorwürfe debattiert. Die unterschiedlichen politischen Strömungen stritten über die Deutungshoheit der Ereignisse, darüber, was die Vorgänge über den gegenwärtigen Zustand der Politik, des Staatssystems und der Nation aussagten und welche Bedeutung sie für die Zukunft haben würden. Die Skandale fungierten als Projektionsfläche, die den Akteuren die Möglichkeit bot, die eigenen politischen Überzeugungen und Grundsätze aneinander zu messen. Die skandalösen Enthüllungen waren dabei Ausgangspunkt und Argument zugleich, um politische (Welt-)Anschauungen zu kritisieren oder zu untermauern. Andererseits wurden die Skandale von den Parteien genutzt, um Interessenpolitik zu betreiben und auf realpolitische Entscheidungsprozesse einzuwirken. Zu diesem Zweck verknüpften die Akteure die Korruptionsskandale argumentativ mit bereits bestehenden politischen Debatten – beispielsweise mit anstehenden Wahlen. Sie spannten ein Narrativ, das ihren Standpunkt stützen und bewerben sollte. Aber auch um den Verlauf der Skandale wurde gestritten. Je nach Ausgangslage wurde versucht, die Ereignisse entweder zu befeuern oder zu unterdrücken. So wurden auch Untersuchungskommissionen und Regierungskabinette während der Skandale zum Gegenstand politischer Konfrontation. Im Folgenden werden diese unterschiedlichen Facetten der Politisierung in drei Schritten aufgezeigt: Die französischen Korruptionsskandale werden (1) als Projektionsfläche politischer Grundsatzdiskurse und der (abstrakten) Kritikäußerung untersucht. Im Anschluss wird (2) an zwei Beispielen dargestellt, wie Interessenpolitik im Rahmen der Skandale betrieben wurde. Dazu werden die Episode Boulanger und die Debatten um die parlamentarischen Untersuchungskommissionen näher untersucht. Besonders hervorgehoben wird die Berichterstattung des Intransigeant, die sich stark von der Korruptionskommunikation des Rappel und des Figaro abhob. Die Analyse schließt (3) mit einem Blick auf das das transnationale Moment der französischen Berichterstattung und untersucht, wie politische Akteure auf das Interesse des Auslands an den Skandalen reagierten und welche Bedeutung die internationale Berichterstattung für die französischen Korruptionsdebatten hatte.

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4.2.2.1 Die Republik im Fokus: Die Auseinandersetzung zwischen Republikanern und Konservativen Gegen Ende des 19. Jahrhunderts markierten Republikaner und Konservative zwei bedeutende Machtzentren in der französischen Parteienlandschaft, die traditionell unterschiedlichen Staatsmodellen verhaftet waren. Seit der Gründung der Republik führten diese politischen Strömungen wiederholt Debatten über die neue Staatsform, über deren Charakter, ihre Stärken, ihr angebliches Versagen – und auch über die Frage, ob es nicht eine plausible Alternative zu der republikanischen Staatsform gäbe. Diese Auseinandersetzung wurde im Rahmen der Korruptionsskandale besonderer lebhaft und unter breiter medialer Aufmerksamkeit fortgesetzt. Der moralische Kern des Korruptionsvorwurfs wurde dabei zu einer Waffe in den Händen der Republikgegner, die das Stigma der Korruption auf das Staatssystem übertrugen. Der konservative Figaro beispielsweise argumentierte 1887, der Ursprung der Korruption liege in der Verquickung von Politik und Wirtschaft. Die Voraussetzungen für diese unmoralische Verbindung habe die parlamentarische Republik geschaffen, die nicht nur Nährboden, sondern auch Instrument der Korruption sei: »Le r8gime parlementaire […] est un admirable instrument pour cette corruption des esprits et des caractHres.«470 Vier Jahre später wiederholte das Blatt diese These. Die Existenz der Korruption sei in dem herrschenden System angelegt. Das politische Personal betreibe Nepotismus, es habe sich zu Unternehmern (»[les] industriels«) gewandelt und die Politik zu einem Gegenstand des wirtschaftlichen Handels (»perp8tuel march8«) herabgesetzt.471 Während der Republik, so die provokante Schlussfolgerung, habe sich Frankreich von sich selbst entfremdet und sei daher der Korruption zum Opfer gefallen.472 Mit diesen Thesen stellte das monarchistische Periodikum die Korruptionsskandale als Teil eines größeren Phänomens dar und evozierte das Bild eines Staates, der aufgrund seines schwachen politischen Systems der Korruption zum Opfer gefallen war. Die korrupte Republik und ihre Politiker (»le parti r8publicain«) kontrastierte der Figaro sodann mit dem ›moralisch gesunden Frankreich‹, das als urteilende Öffentlichkeit angerufen wurde.473 Doch die monarchistische Zeitung formulierte nicht nur eine absolute Kritik an dem politischen System, sondern setzte sich auch mit einzelnen Facetten im Detail auseinander. Einen immer wiederkehrenden Kritikpunkt stellte bei470 Le Figaro, La Politique et les Affaires, 10. 10. 1887. 471 Le Figaro, Le Mal d’Argent, 3. 12. 1892; Ders., Fin de RHgne, 22. 12. 1892. 472 Beispielhaft Le Figaro, M. Rouvier D8missionnaire, 14. 12. 1892; Ders., Fin de RHgne, 22. 12. 1892; Ders., Le Mal d’Argent, 3. 12. 1892. 473 Beispielhaft Le Figaro, Les Politiciens et la Patrie, 13. 12. 1892 ; Ders., Ayons confiance, 5. 12. 1887.

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spielsweise das allgemeine Wahlrecht dar. 1887 argumentierte der Figaro, dass die Charakteristika der französischen Republik – im Besondern das allgemeine Wahlrecht und die Freiheit der Presse – nicht vereinbar mit der Staatsraison seien; sie würden es unmöglich machen, die nationale Größe zu erhalten.474 Während des Panamaskandals fiel das Urteil des Figaro noch drastischer aus: Das Periodikum erklärte das allgemeine Wahlrecht zum »grand erreur de ce siHcle.«475 Mit der Demokratie seien neue Sitten und ein neues politisches Personal eingezogen, das sich bislang weder als geeignet noch der alten politischen Klasse gegenüber als überlegen habe beweisen können. Im Gegenteil: Das allgemeine Wahlrecht habe das Parlament für Männer geöffnet, die auf Grund ihrer Herkunft und ihres Standes leicht zu beeinflussen seien.476 Der Figaro argumentierte, die Republikaner der ersten Stunde seien von ehrlichen Motiven geleitet gewesen. Ihre Nachfolger hätten die Republik jedoch in eine Markthalle verwandelt, in der die Politik nur noch Gegenstand wirtschaftlicher Interessenpolitik sei und man die Prinzipien einer unvoreingenommenen und abwägenden Justiz preisgegeben habe.477 Diese Beispiele zeigen: In den Augen des konservativen Figaros waren die Korruptionsskandale Ausdruck republikanischer Unzulänglichkeit. Darüber hinaus kritisierte das Periodikum auch die republikanischen Politiker. Die Parti R8publicain, so die Schlussfolgerung aus den Ereignissen, befinde sich in einer schweren innenpolitischen Krise, die das Vertrauen der Arbeiter in die »Religion de la R8publique« zunehmend zersetze.478 Trotz dieses vernichtenden Urteiles räumte der Figaro in beiden Skandalen ein, dass ein Umsturz des bestehenden Systems nicht realistisch sei: »[…] il n’y a rien de possible en France que la R8publique.«479 In ausführlichen Artikeln setzten sich bekannte Autoren wie beispielsweise Jules Delafosse im Figaro mit der Situation der konservativen Partei und den Chancen eines Staatsstreiches auseinander.480 Delafosse kam zu dem Ergebnis, dass »on ne saurait distinguer nulle par un mouvement ou seulement une aspiration un peu large vers une restauration. […]. [La] solution [par un empereur ou par un roi] n’a guHre plus de consistance qu’un rÞve, et le public ne s’y arrÞte pas.«481 474 475 476 477 478 479 480 481

Le Figaro, La Raison d’Etat, 17. 10. 1887. Le Figaro, Pchos – La Politique, 22. 11. 1892. Ebd. Le Figaro, Le Mal d’Argent, 3. 12. 1892. Vgl. auch Ders., Pchos – La Politique, 7. 12. 1892. Le Figaro, RHmedes Necessaire, 17. 12. 1892. Ebd.; Ders., L’Exil du Dauphine, 15. 11. 1887. Jules Delafosse, konservativer Deputierter des Departement Vire/Calvados. Le Figaro, Fin de R8gne, 22. 12. 1892. Vgl. Kommentar des Rappel zu diesem Artikel: Le Rappel, Les Elections Prochaines, 25. 12. 1892. Auch: Le Figaro, RHmedes Necessaire, 17. 12. 1892, Artikel von Georges Thi8baud, einem bekannten konservativ-bonapartistischen Journalisten, der zeitweise auch Boulanger unterstützte.

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Auch die Vorwürfe von boulangistischer Seite, in den monarchistischen Kreisen um den Comte de Paris werde ein Umsturz vorbereitet, wies das Blatt 1892 ausdrücklich zurück.482 Zumindest nach außen wurde die Existenz der Republik demnach widerwillig anerkannt; an ihren Mechanismen und ihrem ›Personal‹ wurde jedoch ausführlich Kritik geübt. So sprach sich das Periodikum in beiden Skandalen entschieden dafür aus, die Parti R8publicain zu ersetzen und die Führung der Republik den Konservativen zu übertragen.483 Im Jahre 1887 setzte sich das Blatt zudem für eine Wiedereinführung der Gesetzte und Gebräuche der Monarchie ein.484 Auf dem Höhepunkt des Panamaskandal plädierte Georges Thi8baudt schließlich sogar für eine Übergangszeit von etwa 15 Jahren, während der eine ›plebiszitäre Republik‹ zu installieren sei, welche die Fehler der parlamentarischen Republik korrigiere.485 Auf diese Weise leitete der Figaro aus der abstrakten Kritik an der Republik konkrete politische Handlungsempfehlungen ab. Vor allem republikfreundliche Zeitungen oder Periodika, die Regierungsvertretern nahestanden, schwangen sich zur Verteidigung des Staatssystems auf und schrieben gegen die Kritik der »Ennemis de la R8publique« an.486 Der Rappel beispielsweise warnte bereits wenige Tage nach dem den Skandal auslösenden Artikel des XIXe SiHcle vor einer Instrumentalisierung der Ereignisse durch die Feinde der Republik: »Les Journaux hostiles / la R8publique voudraient bien exploiter contre elle le Scandale des Croix vendues.«487 Interessanterweise adressierte das republikanische Blatt diese »feindlichen« Zeitungen, wie zum Beispiel den Figaro, selten direkt und nahm kaum explizit Bezug auf deren Texte.488 Dennoch begegnete der Rappel der monarchistischen Staatskritik auf einem abstrakten Level. Vor allem die täglichen Artikel von Auguste Vacquerie, Chefredakteur des Rappel und bekennender Republikaner, lassen sich als Antwort auf die republikfeindliche Presse lesen. In Leitartikeln und Kolumnen nahm Vacquerie nicht nur zur Entwicklung der Skandale Stellung, er untersuchte auch die Beziehung von Korruption und Staat. Die Korruptionsskandale, so der defensive Tenor seiner Argumentation, würden die Ehre der 482 Le Figaro, La Conspiration, 11. 12. 1892. 483 Le Figaro, RHmedes necessaire, 17. 12. 1892; Ders., Pchos – La Politique, 13. 11. 1187. Auch: Ders., Pchos – La Politique, 23. 11. 1892. 484 Le Figaro, L’Exil du Dauphine, 15. 11. 1887. 485 Le Figaro, Le Prochaine Regime, 28. 12. 1892. 486 Le Rappel, Fausses Joies, 16. 11. 1887. Die Bezeichnung »Die Feinde der Republik« wurde sehr häufig verwendet, vgl. bsph. Ders., M’Exigerons Rien, 14. 11. 1887; Ders., Mauvaise Semaine, 5. 12. 1892; Ders., Les Elections Prochaine, 25. 12. 1892. 487 Le Rappel, Caffarel et Cie, 11. 10. 1887. 488 Eine Ausnahme bildet u. a. die Auseinandersetzung von Auguste Vacquerie, Chefredakteur des Rappel, mit Herv8 de Kerohant, Journalist des Soleil. Beispielhaft Le Rappel, D8fense de la Monarchie, 9. 12. 1892.

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Republik weder in Frage stellen noch schädigen. Vielmehr beweise die große öffentliche Empörung über die Ereignisse, dass die französische Nation nicht an Korruption gewöhnt sei, da diese in der Dritten Republik nur selten auftrete. Die Skandale seien Ausdruck des öffentlichen Begehrens nach rücksichtsloser Aufklärung und damit Beleg für die moralische Gesundheit und Tugendhaftigkeit Frankreichs.489 Ausdrücklich positionierte sich der Rappel auch gegen die Praxis monarchistischer Periodika, die Skandale als Symptome einer spezifisch republikanischen Korruption zu inszenieren. Zynisch bemerkte das Blatt, in den Augen der Gegner seien »les vices de quelques individus deviennent les vices de la R8publique.«490 Während also der Figaro die Korruption in der Immoralität der Republik begründet sah, stellte der Rappel die Schuld des Individuums der moralischen Überlegenheit der Republik gegenüber. Anhand verschiedenster Beispiele illustrierte das republikanische Blatt darüber hinaus, dass Korruption eine Erscheinung sei, die bereits unter der Herrschaft der französischen Kaiser und Könige491 existiert habe und heute nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland492 wiederholt zu Tage trete. Von allen Staatssystemen pflege jedoch einzige die Republik einen beispiellosen, an Aufklärung orientierten Umgang mit dem Übel, was ihre beständige Ehrenhaftigkeit und Stärke bestätige.493 Mit dieser Argumentation bettete der Rappel die französischen Korruptionsskandale in einen größeren geographischen und historischen Kontext ein. Das Blatt zeichnete die Geschichte der Korruption in Frankreich nach und hob hervor, dass die Republik Korruption zwar noch nicht vollständig beseitigt habe, aber einen herausragenden Umgang mit ihr pflege. Als Gründe für die moralische Überlegenheit der Republik führte der Rappel unter anderem genau jene Errungenschaften ins Feld, die der Figaro beständig kritisierte: das allgemeine Wahlrecht und die Pressefreiheit. Die Zeitung argumentierte, dass unter den französischen Kaisern und Königen mindestens ebenso viel Korruption vorhanden gewesen sei wie in der Republik. Damals habe man diese Erscheinungen jedoch entweder als selbstverständlich, bzw. unumgänglich betrachtet oder sie vertuscht.494 Erst das allgemeine Wahlrecht habe ermöglicht, die unmoralischen Elemente aus dem Parlament auszusortieren, 489 Beispielhaft Le Rappel, Le bon Cot8, 14. 10. 1887; Ders., Fausses Joies, 16. 11. 1887; Ders., La Calomni8e, 11. 12. 1892. 490 Le Rappel, Fausses Joies,16. 11. 1887. Ähnlich: Ders., D8fense de la Monarchie, 9. 12. 1892; Ders., Les Arrestations, 19. 12. 1892. 491 Beispielhaft Le Rappel, Le Bon Cot8, 14. 10. 1887; Ders., M’Exigerons Rien, 14. 11. 1887; Ders., Puret8 Monarchique!, 7. 12. 1892. 492 Beispielhaft Le Rappel, Le Fausses Joies, 16. 11. 1887; Ders., Le Panama Italien, 24. 12. 1892; Ders., Injure Niaise, 3. 12. 1892. 493 Beispielhaft Le Rappel, L’Enquete Vot8e, 7. 11. 1887; Ders., Les Poursuites et la R8action, 18. 11. 1882; Ders., Les Nouvelles Poursuites, 22. 12. 1892. 494 Beispielhaft Le Rappel, M’Exigerons Rien, 14. 11. 1887; Ders., L’Enquete, 25. 11. 1892.

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und erst nach Erlangen der Pressefreiheit habe man öffentlich über Korruption debattieren können. So signalisiere bereits die Existenz der Skandale Fortschritt – sie seien ein Zeichen dafür, dass Korruption nicht verborgen, sondern öffentlich thematisiert und verurteilt werde.495 Auch in dem von der Deputiertenkammer erzwungenen Rücktritt Gr8vys im Jahre 1887 erblickte der Rappel einen Beweis für die Wehrhaftigkeit der Republik: Im Gegensatz zur Monarchie verfüge sie über diejenigen Instrumente, die notwendig seien, um sich erfolgreich gegen Korruptionserscheinungen zur Wehr zu setzen.496 Pointiert schlussfolgerte das republikanische Blatt: »OF la monarchie faisait silence, la R8publique fait justice.«497 Darüber hinaus versuchte der Rappel nicht nur die Republik zu verteidigen, sondern auch den konkreten Forderungen der Opposition mit eigenen Handlungsempfehlungen zu begegnen. Dem monarchistischen Regierungsanspruch des Figaro beispielsweise begegnete das Blatt 1887 mit dem Hinweis, dass der Hauptschuldige General Caffarel ein bekennender Bonapartist sei. Der Korruptionsskandal beweise daher einmal mehr, dass man hohe politische und militärische Ämter ausschließlich mit Republikanern besetzen solle, um moralische und politische Exzellenz zu garantieren.498 Die Berichterstattungen des Figaro und des Rappel markieren zwei Pole der Diskussion über den Charakter des republikanischen Staatssystems. Auffallend ist, dass sich das dritte Periodikum des vorliegenden Untersuchungssamples, der Intransigeant, nicht an dieser Debatte beteiligte. Die boulangistische Zeitung positionierte sich nicht zur Republik oder beurteilte deren Qualität als Staatssystem. Der politische Boulangismus war eine auf eine mehrere Jahre begrenzte Erscheinung und verfügte daher über keine lange Geschichte oder Tradition, in der er sich verwurzelt sah. Vor diesem Hintergrund war die boulangistische Berichterstattung sehr stark an der gegebenen politischen Situation – an Ereignissen und Personen – orientiert und weniger auf abstrakte Debatten über die Republik fokussiert. Nichtsdestotrotz argumentierte der Intransigeant in einer Weise, die zwar nicht spezifisch auf das republikanische Staatswesen bezogen war, die die konservativ-republikanischen Auseinandersetzung um die Republik jedoch um eine interessante Perspektive ergänzt. So kritisierte das boulangistische Blatt beispielsweise, dass die Republikaner die moralische Anklage, die den Korruptionsvorwürfen zu Grunde liege, in ihrem Interesse verdrehen würden: Die republikanische Presse betitele die Denunzianten, jene, welche die Korruption an den Pranger stellten, als Verleumder.499 Es sei nicht möglich, die 495 Über das allgemeine Wahlrecht: Le Rappel, L’Enquete, 25. 11. 1892. Über die Pressefreiheit: bsph. Ders., M’Exigerons Rien, 14. 11. 1887; Ders., Le Panama Italiene, 24. 12. 1892. 496 Le Rappel, C’est Aujourd’hui, 3. 12. 1887. 497 Le Rappel, M’Exigerons Rien, 14. 11. 1887. 498 Le Rappel, L’Epuration, 13. 10. 1887. 499 L’Intransigeant, Les Calomni8s, 26. 12. 1892; Ders., Les Vrais Coupables, 31. 12. 1892.

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aktuelle Politik zu kritisieren, argumentierte Henri Rochefort, Chefredakteur des Intransigeant, ohne als Feind der Republik gebrandmarkt zu werden.500 Darüber hinaus echauffierte sich das Blatt mehrfach über die Argumentation, die sowohl von republikanischen als auch von monarchistischen Akteuren und Periodika ins Feld geführt wurde, ihre Handlungen seien am Wohle der Republik orientiert. Der Intransigeant kritisierte in diesem Zusammenhang vor allem Charles Floquet. Der ehemalige Regierungschef stand unter dem Verdacht, von der Panama Compagnie 300.000 Franc erhalten und für den eigenen Wahlkampf eingesetzt zu haben. Das boulangistische Blatt betonte mehrfach, dass Floquet entgegen seiner Aussage nicht im Interesse der Republik, sondern im eigenen Interesse gehandelt habe.501 Die Beispiele zeigen, dass der Intransigeant in seiner Berichterstattung auch tiefergehende Fragen berührte, etwa, was moralisches Verhalten im Kontext der Skandale auszeichnete oder was öffentliches Interesse konstatiere. Die Korruptionsskandale eröffnen nur einen kleinen Einblick in den Diskurs um die französische Staatlichkeit, der einen festen Bestandteil der politischen Kultur der Dritten Republik darstellte. Die Untersuchung dieses Aspekts verdeutlicht jedoch, welch unterschiedliche Facetten die Korruptionskommunikation prägten und wie stark die Deutung der Skandale in den jeweiligen politischen Überzeugungen, Grundsätzen und Traditionen der Akteure verortet war. Besonders deutlich zeigte sich, wie die moralische Facette der Korruptionsskandale von den Konservativen für den Angriff auf die Republik instrumentalisiert wurde. In beiden Skandalen wurde das republikanische System von seinen Unterstützern jedoch mit Entschlossenheit verteidigt. Als wichtiges Ergebnis ist zudem hervorzuheben, dass auch die größten Kritiker der Republik die Existenz der Staatsform selbst nicht in Frage stellten. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Staatssystem wurde stattdessen genutzt, um konkrete Handlungsaufforderungen abzuleiten, wie verschiedene Beispiele aus dem Figaro illustriert haben. Die Überlegungen, die sich der Beziehung von Korruption und Republik widmeten, fanden also nicht losgelöst von den interessenpolitischen Auseinandersetzungen statt, die in den Korruptionsskandalen kulminierten. Im nachfolgenden Abschnitt sollen die realpolitischen Interessen und Motive, die unterschiedlichste Akteure zur Beteiligung an den Korruptionsdebatten bewegten, im Fokus stehen.

500 L’Intransigeant, La R8publique, c’est eux!, 17. 12. 1892. 501 L’Intransigeant, Le Cent Cinquantes, 24. 11. 1892; Ders., Le R8partiteur Floquet, 25. 12. 1892. Ähnliche Vorwürfe erhob das Blatt auch gegen (Ex-)Finanzminister Maurice Rouvier : Ders., D8fenseur de la R8publique, 24. 12. 1892.

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4.2.2.2 Die Episode Boulanger Skandale stellten eine Verdichtung vieler unterschiedlicher Ereignisse und Prozesse dar, die in den verschiedenen Skandalphasen in wechselnder Intensität im Fokus des öffentlichen Interesses standen. Die Fallgeschichte des Skandals der Dekorationen hat gezeigt, wie sich »L’Affaire du G8n8ral Caffarel«502 innerhalb weniger Wochen zu »L’Affaire Wilson«503 wandelte, wie sich die Ereignisse zu »La Crise«504 zuspitzten und schließlich am 3. Dezember 1887 in »La Demission de M. Gr8vy«505 kulminierten. Bei diesen Zitaten handelt es sich um Schlagzeilen großer Pariser Periodika, die den Verlauf des Skandals symbolisch illustrieren. Was diese Titel jedoch nicht abbilden, ist die Vielzahl großer und kleiner Entwicklungen, die in ihrer Summe den Skandal als Austragungsort von Interessenkonflikten charakterisierten. Dazu gehörte auch die Episode Boulanger, die exemplarisch zeigt, dass Skandale insbesondere aufstrebenden Akteuren die Möglichkeit der politischen Artikulation und Interessenpolitik boten. Der politische Boulangismus, der 1889 eine »Legitimitätskrise der […] Republik« provozieren sollte, war im Skandaljahr 1887 noch im Entstehen begriffen.506 Im Zentrum der Bewegung stand General Georges Boulanger, dessen Karriere in der nationalen Politik 1886 ihren Anfang nahm: Boulanger, der zu dieser Zeit Verbindungen in das Lager der radikalen Linken pflegte, wurde von dem ebenfalls radikalen Politiker Georges Clemenceau für das Amt des Kriegsministers vorgeschlagen. Die Parlamentswahlen im Herbst 1885 hatten die moderat-republikanische Kammermehrheit beendet, sodass die Opportunisten von nun an auf die Unterstützung der Radikalen angewiesen waren – eine Zusammenarbeit mit den Konservativen war zu diesem Zeitpunkt (noch) inakzeptabel. Boulanger gehörte zu den ersten Ministern, die auf Vorschlag der radikalen Linken berufen wurden und somit zugleich deren wachsende Bedeutung für die Bildung eines republikanischen Kabinetts verkörperten.507 Er

502 La Libert8, L’Affaire du G8n8ral Caffarel, 10. 10. 1887. Ähnlich: Le Rappel, L’Affaire Caffarel Limouzin, 8. 11. 1887; La France, L’Affaire Caffarel, 10. 10. 1887; Le Matin, L’Affaire Caffarel, 10. 10. 1887. 503 Le Temps, L’Affair Wilson, 27. 10. 1887. Beispielhaft auch: Le Paris, L’Affaire Wilson, 21. 11. 1887. 504 Le Rappel, La Crise, 2. 12. 1887; Le Figaro, La Crise, 29. 11. 1887. 505 Le Figaro, La Demission de M. Gr8vy, 1. 12. 1887. Ähnlich: Le Gaulois, Adieu, 3. 12. 1887; Le Matin, Le D8part de M. Gr8vy, 3. 12. 1887. 506 Elfi Bendikat: Wahlkämpfe in Europa 1884 bis 1889. Parteiensysteme und Politikstile in Deutschland, Frankreich und Großbritannien, Wiesbaden 1988, S. 355f. Für einführende Literatur siehe Verweis 397. 507 Die wachsende Bedeutung der Radikalen Linken und die Frage der Regierungsbeteiligung war innerhalb der Partei selbst höchst umstritten, vgl. Mollenhauer, Auf der Suche nach der »Wahren Republik«, S. 317f. Mollenhauer kann zudem darlegen, dass die Wahlerfolge der

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verblieb zwei Regierungsperioden (Januar 1886 bis Mai 1887) im Kriegsministerium und gehörte den linksrepublikanischen Kabinetten von Charles de Freycinet und Ren8 Goblet an.508 Während seiner Amtszeit betrieb der überzeugte Revanchist Boulanger sowohl eine reformorientierte als auch populäre provokative, aggressiv-nationalistische Außenpolitik, die in einer diplomatischen Auseinandersetzung mit dem Deutschen Kaiserreich, der sogenannten Affaire Schnaebel8, gipfelte und Boulanger den ›Spitznamen‹ G8n8ral Revanche einbrachte.509 Während die Popularität Boulangers in der Bevölkerung wuchs, stieß sein politischer Kurs zunehmend auf den Widerstand von Opportunisten, Konservativen und auch von Teilen der Radikalen. In der Folge stürzte eine Koalition aus moderaten Republikanern, Konservativen und Radikalen das Kabinett Goblet und der neue Regierungsführer, Maurice Rouvier, erzwang den personellen Wechsel im Kriegsministerium. Boulanger wurde vorerst aus Paris ›verbannt‹, man übertrug ihm die Führung eins Armeekorpses in Clermont-Ferrand.510 Der Ausschluss des Generals aus der Regierung erregte große Empörung unter seinen Anhängern, die in den darauffolgenden Monaten die Rückkehr Boulangers in die nationale Politik zu ihrem Ziel erklärten. Wiederholt propagierte man in der boulangistischen und linksradikalen Presse, die »Intrigues des Opportunistes« seien für das entschiedene Vorgehen Rouviers gegen Boulanger verantwortlich.511 Gegen verschiedene bekannte Republikaner und auch gegen Gr8vy wurden mediale Angriffswellen gestartet, man warf dem Präsidenten beispielsweise vor, er habe zum Nachteil boulangistischer und linksradikaler Interessen auf die Regierungsbildung einzuwirken versucht.512 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung ist das Verhalten Boulangers und seiner Anhänger im Skandal der Dekorationen zu interpretieren. Als die Korruptionsvorwürfe im Oktober 1887 an die Öffentlichkeit drangen, schuf dies anfangs eine sehr ungünstige Situation für Boulanger. Mehrere große Zeitungen rekapitulieren, dass er den Hauptverdächtigen General Caffarel während seiner Amtszeit in das Kriegsministerium berufen hatte. Wie Berichte der Pariser Polizei zeigen, wurde dieser Umstand alsbald auch in der Bevölkerung negativ

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Radikalen sich mitnichten in wirklichen politischen Einfluss transferieren ließen, vgl. ebd., S. 328. Vgl. u. a. Irvine, The Boulanger Affair Reconsidered, S. 34f. Zur Affair Schnaebel8 vgl. Dansette, Le Boulangsime, S. 72–77; Tombs, France 1814–1914, S. 447f.; zeitgenössisch: L8on Goulette: Avant, Pendant, et AprHs l’Affaire Schnaebele, Paris 1887. Vgl. Mollenhauer, Auf der Suche nach der »Wahren Republik«, S. 341f. Boulangers Abreise nach Clemont-Ferrand provozierte Demonstration am Gare de Lyon in Paris, vgl. ebd., S. 342. L’Intransigeant, La Crise Minist8rielle, 27. 5. 1887. Beispielhaft La Lanterne, M. Gr8vy, 1. 6. 1887.

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kommentiert.513 Boulanger reagierte auf diese Situation proaktiv : Am 11. Oktober 1887 führte er ein ungenehmigtes Interview mit einem Journalisten, das in verschiedenen Pariser Zeitungen besprochen wurde.514 In dem Gespräch erklärte Boulanger, über den Titelhandel seines ehemaligen Untergebenen nicht informiert gewesen zu sein. Darüber hinaus stellte er die Vermutung auf, es handele sich bei der Verfolgung Caffarels um eine politische Intrige des amtierenden Kriegsministers Ferron, deren eigentliches Ziel er selbst sei. Der Vorwurf Boulangers wurde umgehend von radikalen und boulangistischen Periodika aufgegriffen, die nun ihrerseits Angriffe, unter anderem gegen Ferron und Wilson, lancierten.515 Das provokative Vorgehen des Generals – seines Untergebenen – konnte Ferron nicht ignorieren. Er ließ sich die Authentizität des Interviews durch Boulanger bestätigen und reagierte – zum Ärger der Gauche Radicale – auf dessen Bekenntnis mit einer dreißigtägigen Haftstrafe. Mit Beginn des Arrests am 14. Oktober 1887 nahm das Interesse an Boulanger ab und wendete sich anderen Facetten des Skandals zu. Die Episode Boulanger illustriert exemplarisch, wie unterschiedliche Akteure mit dem Vorwurf der Korruption verfuhren und welche Möglichkeiten sich ihnen im Rahmen der Skandale boten: Boulanger wurde unfreiwillig in den Skandal der Dekorationen involviert, als die Presse begann, seine Verbindung zu dem Hauptangeklagten Caffarel öffentlich zu thematisieren. Doch dem General gelang es trotz dieser negativen Ausgangslage, das öffentliche Interesse in seinem Sinne zu nutzen. Der Vorwurf, Kriegsminister Ferron konspiriere gegen ihn, lenkte den medialen Fokus auf die politische Auseinandersetzung um seine Person und mobilisierte Boulangers Anhänger. Diese nutzten den Skandal als Plattform, um etablierte Feindbilder wie Ferron, Gr8vy oder Wilson anzugreifen. Darüber hinaus thematisierten sie im Kontext der Korruptionsdebatte auch die Rolle des Generals in der nationalen Politik, wobei die Aussagen Boulangers den Mythos einer opportunistischen Verschwörung weiter förderten. Alles in allem erhöhte der Skandal die Sichtbarkeit der um Boulanger entstehenden politischen Bewegung und eröffnete ihr neue Handlungsoptionen. Gleichzeitig schlussfolgerten zeitgenössische Veröffentlichungen (wie auch Historiker heute) aus dem resoluten Vorgehen des Kriegsministers gegen Boulanger, dass die Schwächung des populären Generals das Ziel Ferrons und der 513 Stimmungsbericht der Polizei, AN F7 12549, Bericht vom 08. 10. 1887. 514 Beispielhaft La Lanterne, A Clermont-Ferrand, 12. 10. 1887; Le Matin, D8claration du G8n8ral Boulanger, 12. 10. 1887. Eine ungenaue deutsche Übersetzung des Interviews sowie eine Schilderung der Ereignisse bei: Issleib/Schuhr, Der Skandal Caffarel-Boulanger und die Corruption in Frankreich, S. 40f. 515 Vgl. bsph.: La Justice, L’Affaire du G8n8ral Caffarel, 11. 10. 1887; L’Intransigeant, Rappel a la V8rit8, 12. 10. 1887; La Lanterne, Les Tripotages. La Campagne Contre Le G8n8ral Boulanger, 11. 10. 1887. Auch: Andr8 Daniel: L’Ann8e Politique 1887, Paris 1888, S. 257f.

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republikanischen Regierung gewesen sei.516 Vonseiten des Kabinetts Rouvier erfolgte keine offizielle Stellungnahme, die Boulanger von den Korruptionsvorwürfen freigesprochen hätte. So wurde die Möglichkeit, je nach Interpretation, in Kauf genommen oder sogar gezielt herbeigeführt, dass der Skandal den ehemaligen Kriegsminister unter den Abgeordneten im Palais Bourbon und der Öffentlichkeit kompromittieren könne. Trotz allem ist festzuhalten, dass die öffentliche Assoziation Boulangers mit Caffarel nicht von Regierungskreisen ausging, sondern von der Presse initiiert wurde. Ferron agierte erst, nachdem das Interview Boulangers veröffentlicht worden war. Den Kriegsminister und seinen General verband somit eine Gemeinsamkeit: Beide reagierten aktiv auf die Entwicklung der Korruptionsdebatte, um die Geschehnisse in ihrem Sinne zu nutzen. Gleiches gilt auch für einen weiteren Teilnehmer der Korruptionsdebatte, nur war dieser Boulanger und Ferron einen Schritt voraus: die Zeitung XIXe SiHcle, die mit ihren Enthüllungsartikeln den Skandal eröffnete. Ihr Beispiel zeigt, dass gerade im Kontext von Skandalen auch ökonomische Interessen ernst genommen werden müssen, sie politische Motive bisweilen gar in den Hintergrund drängten. Der XIXe SiHcle, ursprünglich ein republikanisch ausgerichtetes Blatt, war 1871 gegründet worden. In Folge sinkender Absatzzahlen erlebte die Zeitung in den frühen 1880er Jahren jedoch wiederholt existentielle Krisen. Ende März 1886 übernahm Pdouard Portalis als neuer Herausgeber den XIXe SiHcle und versuchte, das Blatt mit einem neuen Konzept attraktiver zu gestalten. So senkte er beispielsweise im September 1887 den Verkaufspreis von 15 auf 5 Centimes, um neue Leserschichten zu gewinnen.517 Vor diesem Hintergrund muss die Veröffentlichung der Korruptionsvorwürfe im Oktober 1887 beurteilt werden. Sie boten dem XIXe SiHcle eine Möglichkeit, seine Sichtbarkeit auf dem Pressemarkt zu verstärken und seine Absatzzahlen zumindest kurzfristig drastisch zu steigern.518 Die Redaktion um Portalis ergriff diese Chance ungeachtet politischer Überlegungen: Das ehemals regierungstreue Blatt nahm sowohl eine mögliche Herabsetzung der Regierung durch die Enthüllungen in Kauf als auch eine Kompromittierung Boulangers, den das Blatt ab Mitte Oktober öffentlich unterstützte.519 Mehr noch als die moralische Empörung über den Normenverstoß bewegten 516 Dansette, L’Affair Wilson, S. 59; Daniel, L’Ann8e Politique 1887, S. 257; Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 61. 517 Vgl. Le XIXe SiHcle vom 16. 9. 1887; vgl. auch: Bellanger/Godechot/Guiral/Terrou, Histoire G8n8rale de la Presse, S. 362f. 518 Es gibt mehrere Theorien darüber, wer die Informationen über den Titelhandel an Portalis weitergegeben hat. Die ältere Darstellung von Dansette vermutet, dass der Hinweis aus dem Kriegsministerium kam, während neuere Darstellungen auf andere Quellen tippen: Dansette, L’Affair Wilson, S. 61; Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 64. 519 Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 62.

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individuelle politische Interessen die Akteure, wie die Beispiele Boulanger, Ferron und XIXe SiHcle zeigen. In Politik und Presse wurde über diesen Umstand öffentlich debattiert und über die Pläne und Strategien der jeweiligen Gegenseite spekuliert. So wurde die Episode Boulanger vom Rappel beispielsweise als (gescheiterter) boulangistischer Coup verurteilt.520 Häufig waren die Spekulationen über die Intentionen der beteiligten Akteure auch selbst Teil einer Argumentationsstrategie. So versuchte der Figaro im November 1892, Justizminister Louis Ricard zu denunzieren. Das Blatt behauptete, der Minister setze sich für die Aufklärung der ›Panamakorruption‹ nur ein, um sich für das Amt des Staatspräsidenten zu positionieren.521 Das Ziel von Ricards Nachfolger, L8on Bourgeois, hingegen war es, die Instrumentalisierung des Korruptionsskandals einzudämmen. Er argumentierte im Dezember 1892 vor der Deputiertenkammer wie folgt: »En ce moment, nous assistons / une campagne savante et calcul8e, oF, sous pr8texte de rechercher des coupables […] on laisse tomber tous les jours goutte / goutte, soit une injure, soit une diffamation, soit une calomnie dans l’opinion publique. On poursuit la campagne, non contre certains r8publicains, mais contre la R8publique ellemÞme.«522

In seiner Rede versuchte Bourgeois, die Deputierten auf den Kurs der Regierung einzuschwören, und charakterisierte abweichendes Verhalten als persönliche Interessenpolitik, als verwerflich und unpatriotisch. Ähnliche Beispiele finden sich viele in der Korruptionskommunikation beider Fälle. Besonders im Panamaskandal, der in der Öffentlichkeit über einen langen Zeitraum präsent blieb und seinen Höhepunkt nur wenige Monate vor den Parlamentswahlen erlebte, vermengten sich eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen. 4.2.2.3 Die Interessenkonflikte der Parteien am Beispiel der parlamentarischen Untersuchungskommissionen Skandalspezifische Einzelereignisse wie die Episode Boulanger lassen sich erst durch eine systematische Analyse der politischen Berichterstattung ausfindig machen. Versucht man, Interessenkonflikten im Rahmen von Korruptionsskandalen prinzipiell nachzuspüren, so stellen parlamentarische Untersuchungskommissionen eine verlässliche Quelle dar. Diese von der Deputiertenkammer in öffentlichen Sitzungen gewählten Gremien wurden meist in der Hochphase der Korruptionsskandale eingesetzt und waren mit dem Auftrag versehen, die korrupten Handlungen zu untersuchen. Noch bevor es dazu kam, wurde in der Deputiertenkammer in beiden Skandalen rege über die Gestaltung, 520 Beispielhaft Le Rappel, L’Enquete, 31. 10. 1887. 521 Le Figaro, Pchos – La Politique, 19. 11. 1892. 522 Zitiert nach: Le Rappel, Leur Patriotisme, 18. 12. 1892.

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Aufgaben und Kompetenzen der Kommissionen debattiert. Grund für diese Auseinandersetzungen war, dass die Untersuchungskommissionen einerseits eine realpolitische Bedeutung bzw. konkrete Folgen für den Verlauf der Skandale und die inkriminierten Akteure entfalteten konnten. Andererseits prägten sie in der medialen Öffentlichkeit vor allem die Wahrnehmung und Deutung der Ereignisse und entwickelten eine eigene Symbolkraft. Die EnquÞtes – wie sie im Französischen genannt wurden – standen daher nicht allein wegen der ihnen zugetragenen Aufgaben im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, sondern auch infolge der Debatten, die sich an ihnen entzündeten.523 Aufgrund der hohen Sichtbarkeit dieser Debatten stellten sie für die beteiligten Akteure eine wichtige Möglichkeit dar, sich öffentlichkeitswirksam zu den Korruptionsvorwürfen zu positionieren und zugleich mit konkreten Maßnahmen auf die Entwicklung der Ereignisse einzuwirken. Je nach Interessen- und Ausgangslage der Akteure wurden die Gremien daher auch höchst ambivalent wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund stellen die Kommissionen einen aussichtsreichen Zugang zu den in den Korruptionsskandalen ausgetragenen Interessenkonflikten dar. Bei der Analyse der Debatten um die französischen EnquÞtes fällt auf, dass zwei Zeitungen des ausgewählten Samples besonders rege berichteten und dabei größtenteils gegenteilige Positionen einnahmen. Hierbei handelte es sich zum einen um den konservativen Figaro und zum anderen um den republikanischen Rappel, jene Zeitungen, die sich auch an der Diskussion über das französische Staatswesen von unterschiedlichen Standpunkten aus aktiv beteiligten. Auch der Intransigeant, die dritte Zeitung des Untersuchungssamples, bezog Stellung zu den Untersuchungskommissionen. Vergleicht man die Berichterstattungen der Zeitungen, fällt auf, dass die drei Blätter die Untersuchungskommissionen sowohl 1887 als auch 1892/93 argumentativ analog beurteilten und in beiden Skandalen in ähnlicher Weise mit verschiedenen Facetten der Korruptionskommunikation verwoben. So gelang es beispielsweise dem Figaro wie auch dem Rappel, die Untersuchungskommissionen für ihre unterschiedlichen Positionen im Diskurs um das französische Staatswesen zu instrumentalisieren: In seiner Darstellung argumentierte der Figaro, die Untersuchungskommissionen seien aus dem öffentlichen Misstrauen gegenüber der Justiz geboren worden und markierten die Konsequenz aus dem bestehenden parlamentari-

523 Tatsächlich konzentrierte sich das öffentliche Interesse in den meisten Fällen auf die Debatten um die Einsetzung und Ausgestaltung der Kommissionen; die spätere Arbeit der Kommissionen trat häufig in den Hintergrund. Die Ergebnisse der Untersuchungskommissionen von 1873 (Fall der preußischen Eisenbahnkonzessionen) und von 1887 (Skandal der Dekorationen) bspw. wurden erst nach Ende des Skandals veröffentlicht und kaum rezipiert, vgl. Kap. 2; Mießler, Korruption in der Dritten Republik, S. 77.

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schen Chaos.524 In beiden Skandalen hob das Periodikum hervor, dass mit der Einsetzung einer solchen EnquÞte die Grenzen zwischen Legislative, Exekutive und Judikative verwischt würden, und warnte eindrücklich vor einem »lutte entre les pouvoirs«.525 Mittels vager, negativ konnotierter Anspielungen auf die französische Geschichte erklärte das konservative Periodikum weiterhin, das republikanische Parlament versuche sich mithilfe der EnquÞte Kompetenzen der Justiz anzueignen, so wie es früher schon einmal geschehen sei.526 Zugleich karikierte der Figaro kritische Kommentare von republikanischer Seite, auch unter Kaiserreich und Königtum sei es zu Korruption gekommen, und wertete diese ironisch ab.527 Beispielhaft dafür ist der von dem bekannten Journalisten Albert Millaud verfasste fiktive Bericht über die »Titelhandel-Untersuchungskommission«: »La Commission d’enquÞte d8cide: Que la R8publique franÅaise est la plus pur et le meilleur des gouvernements; […] que tous les r8publicains sont honnÞtes et que, par contre, tous les monarchistes sont des sc8l8rats ; […]. Que s’il y a eu des d8corations donn8es par faveur ou pour de l’argent[…]. Il convient d’en faire remonter la responsabilit8 / Philippe-Auguste et / ses successeurs m.les par ordre de primog8niture.«528

Dieser Artikel, der am 7. November 1887 im Figaro erschien, ist repräsentativ für eine Serie ironischer Artikel, die im Verlauf beider Skandale unterschiedliche Themen und Ereignisse der Korruptionsdebatten adressierte. Dabei zeigt dieser Text exemplarisch, wie eng die verschiedenen Facetten der Korruptionskommunikation miteinander verwoben waren: Die ironischen Darstellungen – aber auch die sachlichen Artikel des Figaro – warfen implizit immer wieder die Fragen auf, wie Korruption und Staatswesen zusammenhingen, was die Existenz der Untersuchungskommissionen über die Funktionsfähigkeit des bestehenden Staatssystems aussage und welche Auswirkungen sie auf die Republik haben würden. So gelang es dem konservativen Blatt, die Kritik an den Gremien in subtiler Weise mit einer Kritik an der republikanischen Staatsform zu verbinden. Die konservative Deutung der Untersuchungskommissionen rief in republikanischen Kreisen erwartungsgemäß Widerspruch hervor. Indem der Rappel erklärte, der konservative Standpunkt sei unbeständig und immer am eigenen 524 Vgl. bsph. Le Figaro, Le Gachis, 12. 11. 1887; Ders., Pchos – La Politique, 1. 12. 1892; Ders., Le Mal d’Argent, 3. 12. 1892. 525 Le Figaro, Le Gachis, 12. 11. 1887. Beispielhaft auch: Ders., La Commission d’EnquÞte – Graves d8cisions de la Commission, 26. 11. 1892. Aus dem gleichen Grund verurteilte bspw. auch L’Autorit8 1892 die EnquÞte als »monstruosit8«, zitiert in: Le Rappel, L’EnquÞte, 25. 11. 1892. 526 Le Figaro, Pchos – La Politique, 01. 12. 1892. 527 Vgl. bsph. Kritik des Le Rappel: Ders., Le Plus Etendus, 27. 11. 1892. 528 Le Figaro, L’EnquÞte, 7. 11. 1887.

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Nutzen orientiert, versuchte die republikanische Zeitung, die Kritik des Figaro als opportunistisch abzuwerten und ihr jegliche Bedeutung abzusprechen. Die konservative Kritik, so die Aussage, sei nicht an Grundsätzen und Prinzipien, sondern allein an dem Ziel ausgerichtet, die Untersuchungskommissionen gegen Regierung und Republik auszuspielen.529 Tatsächlich gab es jedoch einige Gemeinsamkeiten in der Deutung der Untersuchungskommissionen durch den Figaro und den Rappel. Lediglich die Schlussfolgerungen, die die beiden Periodika daraus über die Verfassung von Staat und Politik zogen, waren grundlegend andere. Analog zur Einschätzung des Figaro erklärte der Kolumnist des Rappel, Auguste Vacquerie, die Einsetzung einer Untersuchungskommission zu einer »bl.me«, einer Rüge, für die Justiz.530 Auch legte der Rappel seinen LeserInnen dar, dass die Einsetzung einer EnquÞte mit der Übertragung juristischer Befugnisse an die Legislative verbunden sei.531 In den Augen der republikanischen Zeitung war dieser Umstand jedoch nicht annähernd so problematisch, wie es von dem Figaro dargestellt wurde. Der Rappel wies darauf hin, dass es in anderen Ländern durchaus üblich sei, der Legislative, so beispielsweise der Zweiten Kammer in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten von Amerika, zeitweise Kompetenzen der Judikative zu übertragen.532 Zudem verfüge auch der französische Senat über juristische Befugnisse, obgleich er nicht auf dem allgemeinen Wahlrecht basiere. Sollte also die konservative Sorge um die Gewaltenteilung anhalten, konstatierte der Rappel, sei es an der Zeit, über eine Revision der Verfassung nachzudenken und die Kompetenzen des Senats in Frage zu stellen.533 Dieser Angriff auf den Senat, das langjährige Bollwerk der Konservativen, stellte ohne Frage einen Seitenhieb in Richtung der konservativen Kritiker dar. Anders als der Figaro bewertete das republikanische Periodikum die Kommissionen darüber hinaus auch nicht grundsätzlich negativ. In seiner Kolumne hob Vacquerie hervor, dass die französische Öffentlichkeit Aufklärung fordere. Die Einsetzung einer EnquÞte entspreche der Aufgabe der Kammer, den Volkswillen zu vertreten, und sei ein Zeichen von Moral und Aufrichtigkeit; die Untersuchung illustriere, dass die Republik »le r8gime de la justice et de la lumiHre« sei.534 Auf diese Weise instrumentalisierte der Rappel die Untersuchungskommissionen für seinen Versuch, die Republik gegen das Stigma der Korruptionsskandale zu verteidigen. Die EnquÞtes lieferten somit sowohl der republikanischen wie auch der kon-

529 530 531 532 533 534

Vgl. u. a. Le Rappel, L’EnquÞte, 25. 11. 1892; Ders., la Commission d’EnquÞte, 18. 11. 1887. Le Rappel, L’Enquete, 31. 10. 1887; Le Figaro, Pchos – La Politique, 1. 12. 1892. Le Rappel, L’EnquÞte, 31. 10. 1887. Auch: Ders., Le Plus Etendus, 27. 11. 1892. Le Rappel, Le Plus Etendus, 27. 11. 1892. Le Rappel, Les Pouvoirs de la Commission, 2. 12. 1892. Zitat: Le Rappel, EnquÞte Vot8e, 23. 11. 1892. Vgl. auch: Ders., L’EnquÞte Vot8e, 7. 11. 1887.

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servativen Seite Argumente, die während der Korruptionsskandale in dem Diskurs um das französische Staatssystem instrumentalisiert wurden. Darüber hinaus wurden die Untersuchungskommissionen von den Parteien auch genutzt, um realpolitische Ziele zu verfolgen. Während der Skandale teilten alle Akteure das Interesse, Möglichkeiten der Selbstdarstellung effektiv zu nutzen, um die eigene Attraktivität zu erhöhen, potenzielle Wählerschichten zu binden oder zu werben. Im Panamaskandal beispielsweise war dieser Aspekt von besonderer Bedeutung, da sich die Ereignisse im unmittelbaren Vorfeld der Parlamentswahlen des Jahres 1893 ereigneten. Die Debatten, die sich an den Untersuchungskommissionen entzündeten, boten damit eine Möglichkeit, sich öffentlichkeitswirksam zu positionieren. So symbolisierte die Befürwortung einer EnquÞte in der Öffentlichkeit ein Interesse an Aufklärung, die Ablehnung dergleichen konnte hingegen als Versuch der Verschleierung oder als Angst vor Entdeckung gedeutet werden. Für die Konservativen, welche die parlamentarische Opposition konstituierten, stellten die Gremien zudem eine wichtige Möglichkeit dar, politischen Einfluss geltend zu machen und sich im Parlament aktiv einzubringen. Die negative Interpretation der Untersuchungskommissionen durch den Figaro bedeutete daher nicht, dass das konservative Periodikum oder die konservativen Abgeordneten die Gremien kategorisch ablehnten oder gegen sie votierten. Es gab im Gegenteil sogar viele gute Gründe für konservative Akteure, die Kommissionen zu befürworten. So war es im Skandal der Dekorationen ein konservativer (bonapartistischer) Abgeordneter, Cuneo d’Ornano, der die Deputiertenkammer aufforderte, eine Untersuchungskommission einzusetzen, um die Vorwürfe des Titel- und Ämterhandels innerhalb der Verwaltung zu prüfen.535 D’Ornano begründete seine Forderung öffentlich mit dem Verlangen nach Aufklärung, einem Wunsch, der sicherlich von allen Deputierten geteilt werde: »Vous avez d8sir8 certainement, come nous, que la lumiHre se fil sur ce point, et se f%t le plus tit possible.«536 Die inkludierende Argumentation und direkte Ansprache des konservativen Abgeordneten implizierte, dass die Ablehnung der Kommission mit dem Bestreben verbunden sein müsse, Aufklärung zu verhindern. So versuchte D’Ornano, die Kammer unter Druck zu setzen, die EnquÞte gegen den Willen der Regierung einzusetzen. Mit der Begründung, die Kommission greife in die Gewaltenteilung ein, hatte sich Regie-

535 Cuneo d’Ornano forderte eine »enquete sur les faits de trafic des fonctions publiques et des d8corations qui ont 8t8 signal8s par la presse«. Vgl. Redebeitrag Cuneo D’Ornano, 21e S8ance de la Chambre des D8put8s, 25. 10. 1887, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1860, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6481838w/f7.item.r=ornano.zoom (22. 05. 2016). 536 Ebd.

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rungsführer Rouvier zuvor nämlich gegen eine Untersuchungskommission ausgesprochen.537 In beiden Skandalen zogen konservative Akteure noch weitere Argumente heran, um die Untersuchungskommissionen gegen die jeweilige Regierung zu instrumentalisieren. So deutete der Figaro die parlamentarische Entscheidung für die Untersuchungskommissionen beispielsweise als Misstrauensvotum gegen Regierung und Justiz.538 Indem die Zeitung diese Interpretation hervorhob und sich zu den Gremien bekannte, setzte sie das Kabinett in der öffentlichen Wahrnehmung herab und trug zu dessen Schwächung bei. Dabei ging es nicht nur um ein öffentliches Kräftemessen mit den republikanischen Akteuren. Sowohl in der medialen Berichterstattung als auch im Parlament wurden die Debatten um die Untersuchungskommissionen von konservativer Seite mit dem Anspruch auf politische Partizipation verknüpft. Der Figaro verlangte als Konsequenz aus den Korruptionsskandalen beispielsweise unverhohlen eine Auswechslung des politischen Personals.539 Der Abgeordnete D’Ornano argumentierte vor der Kammer vorsichtiger, wenn auch nicht weniger deutlich, wie ein Zitat aus seiner Parlamentsrede vom 5. November 1887 zeigt: »Quant[sic!] / moi, je n’ai pas mis en cause la R8publique actuelle plutit autre forme de gouvernement […]. Seulement, comme la R8publique existe, c’est 8videmment son gouvernement et son administration qui sont en cause.«540

Der defensive Ton dieser Passage lässt erahnen, dass die konservativen Ansprüche auf parlamentarische Einflussnahme vonseiten der Republikaner nicht begrüßt wurden. Wie bereits erwähnt, warfen sie den Konservativen vor, keine klare argumentative Linie zu verfolgen, sondern sich je nach Situation zu positionieren, um maximale Außenwirkung zu erzielen und Republik und Regierung zu schädigen.541 Schließlich illustriert das Beispiel der EnquÞtes die Heterogenität des republikanischen Lagers. Sowohl zwischen den republikanischen Parlamentsgruppen untereinander als auch zwischen den republikanischen Repräsentanten in 537 Ebd. Vgl. auch: 5e S8ance de la Chambre des D8put8s, 5. 11. 1887, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1941f., http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6481842s/f5.item.r= ministerielle.zoom (11. 12. 2015). 538 Vgl. bsph. Le Figaro, Le Gachis, 12. 11. 1887; Ders., Pchos – La Politique, 12. 11. 1887; Ders., Pchos – La Politique, 1. 12. 1892; Ders., Pchos – La Politique, 3. 12. 1892. 539 Le Figaro, Pchos – La Politique, 23. 11. 1892. 540 Redebeitrag D’Ornano, 5e S8ance de la Chambre des D8put8s, 5. 11. 1887, Journal officiel de la R8publique, S. 1937, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6481842s/f2.item.r=mis%20 en%20cause.zoom 1938 (16. 5. 2016). 541 Vgl. Verweis 529. 1892 bspw. sprach sich der Figaro anfangs für eine Untersuchungskommission aus, änderte im Verlauf des Skandals jedoch seine Position, als von linker Seite gefordert wurde, den Gegenstand der Untersuchung zunehmend auszuweiten: Le Figaro, Pchos – La Politique, 12. 12. 1892.

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Parlament und Presse bestanden oft nur lose Verbindungen. Daher existierte keine homogene Interessenpolitik, die nach außen vertreten und kommuniziert wurde. Beispielhaft dafür ist die Berichterstattung des Rappel über die Untersuchungskommissionen, die eine interessante, bisher unbeachtete Facette der Zeitung hervorhebt. In den vorangegangenen Abschnitten wurde deutlich, dass das Periodikum in seiner Berichterstattung und besonders in der Kolumne von Auguste Vacquerie die republikanische Staatsordnung kontinuierlich und lebhaft verteidigte. Doch ging mit dieser Position nicht zwangsläufig ein Bekenntnis zu den regierenden, republikanischen Kabinetten einher. Gerade in Bezug auf die EnquÞtes wich das Periodikum im Gegenteil sogar wiederholt vom Kurs der Regierungen ab: In beiden Skandalen befürwortete Vacquerie die Einsetzung der Kommissionen nachdrücklich, obgleich diese vonseiten der Kabinette (anfangs) abgelehnt wurden. Im Skandal der Dekorationen begründete er die Notwendigkeit der EnquÞte mit dem Zögern der Justiz, gegen Wilson zu ermitteln.542 Vacquerie betonte, dass die Kommission der vollkommenen Kontrolle des Parlaments unterliege. Sollte die Arbeit des Gremiums die Kammer nicht zufriedenstellen, so könne diese jederzeit korrigierend eingreifen.543 Darüber hinaus kommentierte der Rappel Personalentscheidungen der Regierung kritisch. Im Dezember 1892 trat das Blatt wiederholt für den ehemaligen Finanzminister Louis Ricard ein. Damit bezog der Rappel Stellung gegen die Entscheidung der neuen Regierung Ribot: Nach dem Rücktritt des alten Kabinetts Ende November 1892 waren fast alle Minister erneut aufgestellt worden. Nur Ricard, der sich während seiner Amtszeit mehrfach für die Aufklärung der Korruptionsvorwürfe und die Verfolgung der Schuldigen ausgesprochen hatte, war ebenso wie ein weiterer Kollege nicht noch einmal berufen worden. In der Interpretation des Rappel war er einer der wenigen Minister gewesen, die proaktiv gegen die Korruption vorgegangen waren, und hatte daher einem unauffälligeren Kandidaten weichen müssen. Diese Entscheidung, so die Schlussfolgerung Vacqueries, müsse in der Öffentlichkeit verständlicherweise auf Unverständnis stoßen.544 Festzuhalten ist, dass die Untersuchungskommissionen in der Darstellung des Rappel positiv konnotiert waren. Vor allem Chefredakteur Vacquerie zeichnete sie als Symbol parlamentarischer Macht und Ausdruck des Volkswillens.545 So verkörperten die Gremien die positiven Errungenschaften der Dritten Republik und dienten als Argument gegen konservative Angriffe auf das republikanische Staatswesen. Zudem illustrieren das kontinuierliche Bekenntnis 542 Le Rappel, L’EnquÞte Vot8e, 7. 11. 1887. 543 Le Rappel, La Commission d’EnquÞt, 13. 11. 1887. 544 Beispielhaft Le Rappel, Le Cabinet des Revenants, 8. 12. 1892; Ders., Communication Totale, 12. 12. 1892. 545 Beispielhaft Le Rappel, L’Enquete Vot8e, 7. 11. 1887.

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zu den Untersuchungskommissionen wie auch das Beispiel Ricards, dass der Rappel an den republikanischen Prinzipien und eigenen politischen Überzeugungen festhielt und diese im Zweifel auch gegen den Kurs der republikanischen Parlamentsfraktionen und Regierung zum Ausdruck brachte. 4.2.2.4 Interessenpolitik neuer politischer Akteure am Beispiel der Berichterstattung des boulangistischen Intransigeant Im Vergleich zum Rappel und dem Figaro war der Intransigeant ein recht junges Periodikum. Es war 1880 von EugHne Mayer als radikale, anti-gambettistische Zeitung gegründet worden und konnte unter der Redaktion von Henri Rochefort über die Jahre eine verhältnismäßig große Leserschaft akquirieren.546 In den 1880er Jahren begann sich die Ausrichtung des Intransigeant langsam zu ändern. Ausschlaggebend hierfür waren verschiedene Faktoren, maßgeblich jedoch die zunehmende Entfremdung Rocheforts von der Gauche Radical. Ab Mitte des Jahres 1887 verfolgte der Intransigeant schließlich eine boulangistische Linie.547 Damit gehörte das Blatt zu den frühen und aktiven Unterstützern der neuen politischen Bewegung, die sich um General Boulanger formierte und der ein stark nationalistisches und populistisches Element innewohnte. Tatsächlich war es für Boulanger charakteristisch, dass er wiederholt breite Unterstützung ›auf der Straße‹ mobilisieren konnte, die ungleich größer war als der Rückhalt seiner Bewegung in der Deputiertenkammer.548 Der Wahlerfolg Boulangers im Januar 1889 markierte bereits den Höhepunkt seiner politischen Karriere.549 Mit der sich ankündigenden strafgerichtlichen Verfolgung des Generals, seiner anschließenden Flucht nach Belgien 1889 und seinem Selbstmord im Jahre 1891 verlor die Bewegung an Rückhalt.550 Der Intransigeant bestand nach dem Tod Boulangers mit einer zunehmend konservativen Ausrichtung bis in die 1940er Jahre fort und erlebte so die beiden Korruptionsskandale in sehr unterschiedlichen Entwicklungsstadien: Während der politische Boulangismus 1887 gerade an Momentum gewann, hatte er 1892/93 seinen Zenit bereits überschritten. 546 Leider liegen genaue Auflagenzahlen nur für das Jahr 1910 (70.000) vor, vgl. Bellanger/ Godechot/Guiral/Terrou, Histoire G8n8rale de la Presse, S. 296. EugHne Mayer war ebenfalls Gründer und langjähriger Herausgeber der radikalen Zeitung La Lanterne. 547 Zu den radikalen Wurzeln des Intransiegant: Mollenhauer, Auf der Suche nach der »wahren« Republik, S. 131f. 548 Beispielhaft ebd., S. 342; Passmore, The Right in France, S. 46. 549 Boulangistische Abgeordnete konnten bei den Kammerwahlen 1889 etwa fünfzig Sitze gewinnen, bei den Wahlen 1893 wurde diese Zahl bereits nicht mehr erreicht. Die genaue Anzahl gewählter boulangistischer Deputierter variiert je nach Quelle und ist aufgrund der schnell wechselnden politischen Allianzen schwer festzulegen. 550 Fulton, The Boulanger Affair Revisited, S. 317f.

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Die vorliegende Untersuchung hat bereits gezeigt, wie stark die Berichterstattung des Intransigeant während der Skandale an der Entwicklung des politischen Boulangismus orientiert war und wie diese zu einem zentralen Thema der Korruptionskommunikation wurde. In der Episode Boulanger versuchten Boulanger und der Intransigeant den Skandal der Dekorationen als Sprungbrett zu nutzen, um die Rückkehr des Generals in die nationale Politik vorzubereiten und zugleich politische Gegner anzugreifen. Während des Panamaskandals spielte nun die Vergangenheit eine große Rolle in der Berichterstattung des Intransigeant. Im Rahmen der Korruptionsdebatte nahm das Periodikum immer wieder positiv Bezug auf Ereignisse oder Personen, welche die Geschichte des Boulangismus geprägt hatten, und korrigierte kritische Darstellungen anderer Periodika. Darüber hinaus diffamierte das Blatt auf aggressive Weise Personen, die in der Vergangenheit gegen den Boulangismus vorgegangen waren. Zugespitzt lässt sich sagen, der Intransigeant versuchte sich an einer ›Richtigstellung‹ der eigenen Geschichte. Einige Beispiele sollen das Vorgehen des Intransigeant im Jahre 1892/93 verdeutlichen: Auf dem Höhepunkt des Panamaskandals gab es kaum eine politische Partei, deren Akteure nicht mit dem Vorwurf der Korruption konfrontiert wurden – so auch der politische Boulangismus. Ende des Jahres 1892 deuteten mehrere Periodika an, boulangistische Abgeordnete hätten ebenfalls Bestechungsgelder der Panama Compagnie erhalten. Rochefort adressierte diese Vorwürfe in seiner täglichen Kolumne persönlich und kritisierte dabei besonders die Darstellung der radikalen Lanterne.551 Die Vorwürfe des Periodikums wies er als haltlos zurück und ging seinerseits zum Angriff über. Das Bekenntnis der Lanterne zu der Gauche Radical sei von radikalen Politikern erkauft worden. Erst finanzielle Zuwendungen hätten den Gesinnungswandel des ehemals boulangistischen Periodikums herbeigeführt, so der Vorwurf Rocheforts.552 Nicht zufällig mutet diese Retourkutsche des Intransigeant stellenweise wie eine persönliche Abrechnung an: Der Herausgeber der Lanterne, EugHne Meyer, war zugleich auch der Begründer des Intransigeant. Meyer hatte sich inhaltlich jedoch vom Boulangismus und damit auch von Rochefort abgewendet. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der radikale Angriff auf die Lanterne und auf ihren Herausgeber. Ihm warf Rochefort vor, den Boulangismus aus finanziellen Beweggründen im Stich gelassen zu haben – eine Aussage, die im Kontext des Korruptionsskandals eine unzweifelhaft unmoralische Konnotation trug.553 Eine weitere Person, die der Intransigeant im Kontext des Panamaskandals zu 551 Beispielhaft La Lanterne, Les ChHques des Boulangistes, 23. 12. 1892; Dies., Le Panama et les Boulangistes, 24. 12. 1892. 552 L’Intransigeant, La Calomni8s, 26. 12. 1892. 553 »[Meyer] a abandonn8 le parti Boulanger« in: L’Intransigeant, La Calomni8s, 26. 12. 1892.

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kompromittieren suchte, war Generalstaatsanwalt Jules Quesnay de Beaurepaire. In dem Strafverfahren gegen Boulanger 1889 hatte Beaurepaire eine entscheidende Rolle gespielt und damit maßgeblich zur Schwächung der Bewegung beigetragen. Drei Jahre später war er im Kontext des Panamaskandals ebenfalls in verschiedenen Funktionen in die Strafverfolgung involviert. Der Intransigeant attackierte ihn zu dieser Zeit wiederholt; unter anderem warf das Blatt dem Generalstaatsanwalt vor, selbst in die ›Panamakorruption‹ involviert zu sein.554 Zudem beschuldigte Rochefort Beaurepaire, 1889 parteilich gehandelt und den Prozess gegen Boulanger rechtswidrig beeinflusst zu haben.555 Auf diese Weise machte der Intransigeant Beaurepaire für die Verurteilung Boulangers und damit implizit auch für den Niedergang des Boulangismus verantwortlich. In beiden Beispielen nutzte der Intransigeant die Gegebenheiten und öffentliche Sichtbarkeit der Korruptionsdebatte geschickt für einen Angriff gegen seine politischen Gegner und für eine Revision der boulangistischen Vergangenheit. Das Blatt stellte den Boulangismus als eine Bewegung dar, die von rechtmäßigen Motiven geleitet, in ihrer Entwicklung aber auf unmoralische Weise torpediert worden war – sei es durch die Beeinflussung der Presse oder durch unrechtmäßige Einflussnahme auf das Rechtsverfahren.556 Darüber hinaus illustrieren beide Beispiele noch eine weitere Besonderheit des Intransigeant: Das boulangistische Periodikum argumentierte häufig sehr stark personenbezogen und tat dies im Vergleich zu den anderen Zeitungen in einer auffallend radikalen Weise.557 Vor allem Rocheforts Kolumne polarisierte und kreierte klare Feindbilder, die oft über mehrere Jahre bestätigt und zu einem festen Bestandteil der Berichterstattung wurden. In den Korruptionsskandalen führte die Zeitung diese kategorische Trennung zwischen ›gut‹ und ›böse‹ weiter und belastete ihre Gegner zusätzlich mit dem moralischen Stigma der Korruption. Beispielhaft dafür ist der Umgang des Intransigeant mit Charles Floquet und Jean Antoine Ernest Constans. Während des Panamaskandals sah der Intransigeant die Möglichkeit gegeben, die beiden prominenten Gegner des Boulangismus zu kompromittieren und ihr Engagement gegen die Bewegung in einem ungünstigen Licht zu zeichnen. Floquet, Regierungsführer zwischen 1888 und 1889, bekämpfte während seiner Amtszeit mehrere boulangistische Parlamentsinitiativen. Die Streitigkeiten zwischen ihm und Boulanger eskalierten im 554 Vgl. bsph. L’Intransigeant, C ¸ a ce corse, 3. 12. 1892. 555 L’Intransigeant, La Conscience de Quesnay, 12. 12. 1892. 556 In der Berichterstattung des Intransigeant finden sich viele weitere Beispiele dieser Art. Besonders häufig referenziert war der Prozess gegen Boulanger, der in der Darstellung Rocheforts ein Scheinprozess gewesen war. Vgl. u. a. L’Intransigeant, Corrupteure et corrompus, 18. 11. 1892. 557 Mollenhauer stellt heraus, dass dies bereits kurz nach Gründung zu einem Merkmal des L’Intransigeant wurde, vgl. Mollenhauer, Auf der Suche nach der »wahren« Republik, S. 359.

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Juli 1888 in einem Duell. Gleich zu Beginn des Skandals warf das boulangistische Periodikum Floquet vor, Bestechungsgelder in Höhe von 300.000 Francs von der Panama Compagnie erhalten zu haben.558 Obgleich Floquet diese Vorwürfe in einer Rede vor der Deputiertenkammer dementierte, hielt der Intransigeant an ihnen fest und versuchte sie um immer neue Details zu ergänzen.559 Um den ehemaligen Regierungsführer weiter zu kompromittieren, kontrastierte ihn das Periodikum zudem wiederholt mit den Opfern der Panamakorruption und stellte einen direkten Bezug zwischen deren Verlusten und Floquets angeblich opportunistischem und egoistischem Handeln her.560 Auch der bei Boulangisten im gleichen Maße unbeliebte republikanische Politiker Constans wurde in der Berichterstattung des Intransigeant im Laufe des Skandals kontinuierlich angegriffen. In seiner Funktion als Innenminister im Kabinett Tirad 1889 hatte er die Ligue des Patriotes561 aufgelöst und war maßgeblich daran beteiligt gewesen, die Strafverfolgung Boulangers zu initiieren. Ihm unterstelle der Intransigeant, den Skandal instrumentalisieren zu wollen, um von seinem eigenen korrupten Verhalten, seinen »Verbrechen«562, abzulenken und den Rückweg an die politische Spitze anzutreten.563 Auch stellte Rochefort in seiner Kolumne eine direkte Beziehung zwischen seinen beiden ›Erzfeinden‹ her. Nachdem bekannt geworden war, dass Floquet Gelder der Panama Compagnie zur politischen Einflussnahme genutzt hatte, vermerkte der Intransigeant sarkastisch, Constans verurteile die Handlungen des ehemaligen Regierungsführers, obgleich er selbst ähnliche illegitime Methoden im Kampf gegen Boulanger eingesetzt habe. Auf diese Weise stigmatisierte Rochefort nicht nur das Vorgehen Constans gegen Boulanger, sondern prangerte zugleich dessen angebliche Doppelmoral öffentlich an.564 558 L’Intransigeant, Le 300.000 Francs de M. Floquet, 21. 11. 1892. Die Vorwürfe wurden als erstes von dem boulangistischen Periodikum La Cocarde erhoben. 559 Vgl. Redebeitrag Charles Floquet, 20e S8ance de la Chambre des D8put8s, 29. 11. 1892, Journal officiel de la R8publique franÅaise, S. 1638, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k64 53902d/f1.item.r=bref.zoom (30. 5. 2016). Floquet räumte später ein, Gelder erhalten zu haben, diese jedoch uneigennützig für den Kampf gegen Boulanger genutzt zu haben, vgl. L’Intransigeant, Le Minister Philippe VII, 9. 12. 1892; Ders., Le R8partiteur Floquet, 25. 12. 1892. 560 L’Intransigeant, Le R8partiteur Floquet, 25. 12. 1892. 561 Die revanchistische, nationalistische und antiparlmaentarische Ligue des Patriotes wurde 1882 von Paul D8roulHde gegründet und gehörte zu den aktivsten Unterstützern des politischen Boulangismus. Weiterführend: Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen 1997. 562 Rochefort nutzt spezifisch das Wort »crimes«, vgl. L’Intransigeant, Le 300.000 Francs de M. Floquet, 21. 11. 1892. 563 Ebd. 564 L’Intransigeant, Fr8res Ennemis, 23. 11. 1892. Ähnlich: Ders., Syndicats de Concussionnaires, 7. 12. 1892. Ähnlich argumentierte das Blatt auch gegen Floquet: Ders., S8vHre mais injuste, 20. 12. 1892.

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Die Auswahl unterschiedlicher Beispiele illustriert exemplarisch die Vorgehensweisen des Intransigeant. Das boulangistische Periodikum unter Chefredakteur Rochefort argumentierte sehr stark kontextabhängig und wusste die Gegebenheiten der Korruptionsdebatten geschickt für sich zu nutzen. Im Skandal der Dekorationen gelang es dem Periodikum, aus der Defensive die Dynamik der Situation zumindest kurzfristig zu beherrschen und ins Positive zu wenden. Mithilfe der medialen Unterstützung konnte Boulanger einen Gegenangriff starten, der ihn zeitweise in den Fokus des öffentlichen Interesses rückte. Auf diese Weise konnte er seine Theorie einer opportunistisch-republikanischen Intrige über boulangistische Kreise hinaus verbreiten. Drei Jahre später nutzte der Intransigeant den Panamaskandal, um politische Gegner zu kompromittieren und die Geschichte des Boulangismus unter neuen Vorzeichen zu betrachten. Auffallend dabei ist, dass sich das Blatt wiederholt als Opfer des politischen Establishments stilisierte: Der Intransigeant negierte die Außenseiterrolle des Boulangismus nicht. Er führte sie stattdessen auf den Widerstand der etablierten Parteien zurück, die sich den Reformforderungen der Boulangisten entgegengestellt hatten. Die Ablehnung des Boulangismus sah Rochefort unter anderem in dem korrupten Arrangement der Parteien mit dem Establishment begründet, das sich in den Skandalen offenbart habe.565 Seine Interpretation unterstrich er mit pointierten Berichten über das korrupte Fehlverhalten prominenter Politiker und Gegner des Boulangismus, wie anhand der Beispiele von Constans und Floquet dargelegt wurde. Schließlich ist hervorzuheben, dass der Intransigeant im Vergleich zum Figaro und zum Rappel nur selten direkte realpolitische Forderungen als Konsequenzen aus den Skandalen formulierte. Auch an den Debatten über das politische Staatssystem, die im Kontext der Korruptionsskandale zwischen republikanischen und konservativen Blättern geführt wurde, beteiligte sich die Zeitung selten. Die Gründe für diese Zurückhaltung müssen in der Nähe des Intransigeant zum politischen Boulangismus und zur Geschichte dieser neuen politischen Bewegung gesucht werden. Die Berichterstattung des Figaro und des Rappel war stark von der Allianz der Periodika mit den jeweiligen politischen Parteien geprägt, auch dann, wenn keine feste Affiliation bestand. Daher fanden Argumente und Forderungen der beiden Zeitungen im Vergleich zu jenen des Intransigeant eine größere Repräsentanz und Entsprechung auf der Parlamentsebene – auch wenn das Beispiel des Rappel gezeigt hat, dass die Blätter nicht immer mit der Politik ›ihrer‹ Parlamentarier übereinstimmten. Darüber hinaus bedingte die Nähe zu und personelle Überschneidung mit den etablierten politischen Richtungen eine Verwurzelung in politischen Traditionen, Ideologien und nicht zuletzt eine Verortung in der ei565 Vgl. bsph. L’Intransigeant, Corrupteure et corrompus, 18. 11. 1892; Ders., S8vHre mais injuste, 20. 12. 1892.

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genen historischen Entwicklung. Der Boulangismus als junge politische Bewegung hingegen hatte erst wenige eigene Erfahrungswerte, keine lang zurückreichende, symbolträchtige Geschichte und auch keine politischen Richtlinien oder ein politisches Programm vorzuweisen. Wie die vorangehende Analyse gezeigt hat, waren diese Faktoren prägend für die Ausgestaltung der Korruptionskommunikation und trugen damit wesentlich zum besonderen Charakter der boulangistischen Berichterstattung bei.

4.2.3 Frankreich vor der Welt: Die französische Rezeption der ausländischen Presse Bevor sich die Analyse im Folgenden der deutschen Berichterstattung über die französischen Korruptionsskandale zuwendet, gilt es in einem letzten Abschnitt noch einmal auf die anfangs formulierte These zurückzukommen, bei den Skandalen handele es sich um sogenannte transnationale Medienereignisse – das heißt um Skandale, die sowohl im In- und Ausland rezipiert und daher in einem erhöhten Skandalbewusstsein erlebt wurden. Zu fragen ist, ob und in welcher Form die französischen Periodika 1887 und 1892/93 auf die ausländische Berichterstattung reagierten und wie sie im Besonderen das deutsche Interesse an den Ereignissen bewerteten. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Beobachtung, dass die politische Presse gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Rheins bereits ausführlich über das Ausland berichtete. Grundlegend für diese zunehmende Internationalität waren verschiedene technische Entwicklungen, beispielsweise der weltweite Ausbau der Telegraphennetzwerke sowie die Etablierung großer Nachrichtendienste wie Wolffs Telegraphisches Bureau oder Reuter’s Telegram Company. Sie ermöglichten den schnellen und kostengünstigen Transfer von Neuigkeiten in Form von Depeschenmeldungen.566 So konnten auch kleinere Blätter mit vergleichsweise niedrigerer Auflage und geringerem Budget Informationen über das Ausland beziehen und verbreiten. Diese Entwicklungen spiegelten sich in der politischen Presse deutlich wider ; neben Depeschenmeldungen etablierten sich auch Auslandskolumnen als regelmäßiger Bestandteil der Berichterstattung. Während der beiden hier behandelten Korruptionsskandale wurde die Auslandsberichterstattung ohne Einschränkung fortgeführt, zudem lässt sich be566 Zu dem Ausbau des Wolff ’schen Telegrafennetzwerks vgl. Dieter Basse: Wolff ’s Telegraphisches Bureau 1848 bis 1933. Agenturpublizistik zwischen Politik und Wirtschaft, München 1991. Zur Entstehung von Nachrichten im Spannungsfeld von Internationalisierung, Infrastrukturen und Individuen an der Schwelle zur Moderne: Heidi Tworek: »Magic Connection: German News Agencies and Global Networks, 1905–1945«, in: Enterprise & Society 15 (2014) Nr. 4, S. 672–686.

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obachten, dass die französischen Periodika nun auch im Kontext der Korruptionsdebatten das Ausland thematisierten. Dabei reagierten die Zeitungen in unterschiedlicher Weise und in ungleichem Ausmaß auf die Rezeption der Skandale in der ausländischen Presse. Die Bandbreite reichte von kommentierenden Stellungnahmen bis zu randständigen Verweisen auf das (europäische) Publikum. So erklärte beispielsweise der Figaro in einem Nebensatz: »[…] il [Wilson] humile la France / l’8tranger […].«567 Derartige Hinweise hatten das Potenzial, das Skandalbewusstsein der LeserInnen zu verstärken und eine gesteigerte Signifikanz und Dringlichkeit der Ereignisse zu suggerieren. Obgleich die Bedeutung von Verweisen als rhetorisches Mittel damit auf der Hand zu liegen scheint, zeigt die Quellenauswertung, dass diese Art der losen Referenzialisierung nur spärlich Gebrauch fand. Untersucht man exemplarisch die Leitartikel der drei ausgewählten Periodika genauer – die Kolumnen von Auguste Vacquerie (Rappel) und Henri Rochefort (Intransigeant) sowie die Leitartikel des Figaro – so fallen weitere interessante Unterschiede auf: Wie bereits dargelegt, konzentrierte sich der Intransigeant fast ausschließlich auf einzelne Facetten und Akteure des Skandals, die er argumentativ geschickt mit dem Boulangismus und seiner Geschichte verknüpfte. Auf internationale Pressestimmen nahm Rochefort in seiner Kolumne hingegen äußerst selten Bezug; das Urteil des Auslands schien für den Chefredakteur des Intransigeant weder inhaltlich noch als argumentative Stütze von Interesse gewesen zu sein. Ausnahmen stellten einzelne Berichte dar, die den Intransigeant diskreditierten oder die in den Augen Rocheforts eine Stellungnahme erforderten. So etwa ein Artikel der britischen Tageszeitung Morning Post. Nachdem der Intransigeant am 8. Dezember 1892 eindringlich vor der Möglichkeit einer orl8anistischen Verschwörung gewarnt hatte, veröffentlichte die konservative Morning Post am Tag darauf einen Artikel, der Rocheforts These als haltlos zurückwies.568 Am 13. Dezember reagierte der Intransigeant mit einer detaillierten Stellungnahme, in der Rochefort die Argumente der Morning Post widerlegte und aufzuzeigen suchte, warum ein konservativer Komplott durchaus eine reale Bedrohung darstelle.569 Auffallend ist an dieser Stelle, dass weder der Rappel noch der Figaro den Artikel der Morning Post (oder die Stellungnahme des Intransigeant) rezipierten. Sie berichteten lediglich anonymisiert über Rocheforts These eines konservativen Komplotts. In Anbetracht dieses Desinteresses bleibt unklar, warum sich Rochefort von dem Artikel des britischen Journals überhaupt zu einer Stellungnahme gedrängt sah. Im Vergleich zum Intransigeant schenkte der Figaro internationalen Presse567 Le Figaro, L’Exil du Dauphin, 15. 11. 1887. 568 L’Intransigeant, La R8publique en Danger, 8. 12. 1892; The Morning Post, o. T., 9. 12. 1892. 569 L’Intransigeant, Confirmation, 13. 12. 1892.

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stimmen deutlich mehr Beachtung. Das konservative Blatt nutzte wiederholt abstrakte Verweise auf ›das Ausland‹, ohne dabei aber zwangsläufig von spezifischen Ländern oder den Inhalten einer bestimmten Zeitung zu sprechen. Anzuführen ist beispielsweise die unbestimmte Aussage des Figaro, Korruption sei ein Laster, das bislang allein im Ausland zu Tage getreten sei.570 Gelegentlich nahm der Figaro jedoch auch direkten Bezug auf das Echo der internationalen Presse, zitierte und diskutierte einzelne Artikel. Zu Beginn des Panamaskandals etwa paraphrasierte er den New York Herald, der erklärte, Frankreich sei im Begriff, der Öffentlichkeit ein »spectacle« zu bieten, einen »scandale auprHs duquel l’affaire Wilson ne serait que de l’eau de rose.«571 Über die ausländische Bewertung der Ereignisse schlussfolgerte der Figaro sodann: »C’est la conviction, c’est mÞme l’espoir des journaux 8trangers qui s’apprÞtent d8j/ / faire des gorges chaudes de ›cette grande corrompue‹ qu’ils appellent la France.«572 Diese Beispiele illustrieren, wie das konservative Periodikum ›das Ausland‹ als beobachtende und wertende Instanz heraufbeschwor und so die Dringlichkeit der gegenwärtigen Situation unterstrich. Mit Verweisen dieser Art steigerte der Figaro nicht allein das Skandalbewusstsein seiner LeserInnen, das Periodikum nutzte sie auch, um die eigene Argumentation zu stützen. So konstatierte der Figaro auf dem Höhepunkt des Panamaskandals beispielsweise, die französische Politik sei so sehr auf den Korruptionsskandal fokussiert, dass alle anderen Themen darüber vernachlässigt würden, oder, wie man in Monaco sage: »Rien ne va plus.«573 Der Figaro verlangte aus diesem Grund, das politische Tagesgeschäft wiederaufzunehmen, und warnte: »Ah! en v8rit8, l’occasion est belle pour nos ennemis de tramer quelque chose: les Prussiens seraient / Nancy et les Italiens / Toulon, avant que nous ne les ayons vus venir.«574 Der Hinweis auf eine mögliche von den europäischen Nachbarn ausgehende Gefahr diente dazu, der eigenen Interpretation der Ereignisse und den daraus entstehenden Forderungen Nachdruck zu verleihen. Ein weiteres Beispiel aus dem Jahre 1887 illustriert das Vorgehen des konservativen Periodikums anschaulich: Um den Druck auf Gr8vy zu erhöhen und die Entlassung Wilsons herbeizuführen, konstruierte der Figaro einen Vergleich mit den benachbarten Monarchien. In seiner Funktion als Staatspräsident sei Gr8vy eine Art »roi constitutionnel« erklärte das Periodikum, doch verhalte er sich der Position nicht angemessen. In Großbritannien, Belgien und Italien hätten die Könige, als Oberhaupt von Staat und Familie, 570 571 572 573 574

Le Figaro, Le Mal d’Argent, 3. 12. 1892. Le Figaro, La Question du Panama. Le Pour et le Contre, 15. 11. 1892. Ebd. Le Figaro, Les Politiciens et la Patrie, 13. 12. 1892. Ebd. Ähnlich auch: Ders., Pchos – La Politique, 28. 11. 1892. Der Figaro argumentierte an dieser Stelle, die nationale Aufmerksamkeit solle sich lieber dem Konflikt in Dahomey zuwenden anstatt allein dem Panamaskandal.

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den renitenten Schwiegersohn längst ins Exil verbannt! »Voil/ ce qu’on ferait en monarchie: pourquoi ne le ferait-on pas en R8publique?«, schloss das konservative Blatt seine Ausführungen.575 Die Beispiele dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auseinandersetzung mit der ausländischen Presse oder ausländischen Problemstellungen im Figaro – wenn überhaupt – in anonymen Artikeln stattfand, die sich ausführlich dem Skandalverlauf widmeten und in den hinteren Teilen der Zeitung abgedruckt waren. Inhaltlich konzentrierten sich Leitartikel und exponierten Kolumnen, die sich den Korruptionsskandalen widmeten, fast ausschließlich auf Fragen der Innenpolitik. Der Chefredakteur des Rappel, Auguste Vacquerie, nahm hingegen in seinen täglichen Leitartikeln wiederholt Bezug auf das Ausland. Tatsächlich verwies die republikanische Zeitung im Vergleich zu den anderen Periodika des Untersuchungssamples am häufigsten auf die internationale Presse. Diese Feststellung mutet im ersten Augenblick überraschend an: Warum sollte der Rappel, der während der Korruptionsdebatten die Republik stets gegen alle Angriffe verteidigte, auf ausländische Beobachter verweisen und somit die Dramatik der Skandale weiter steigern? Warum den Stimmen Auftrieb verleihen, die in den Korruptionsaffären eine Blamage Frankreichs erblickten?576 Vacquerie erkannte durchaus, dass Frankreich von dem Interesse des Auslands nicht profitierte: »Des journaux 8trangers essayent d’exploiter contre l’arm8e franÅaise et contre la France la vilenie de quelques FranÅais indignes.«577 Der Chefredakteur beließ es jedoch nicht bei dieser Feststellung. Er argumentierte, Frankreich werde durch die Affären gar nicht kompromittiert. Im Gegenteil: Die Skandale seien ein Beweis für die Rechtschaffenheit des Landes, das Korruption nicht gewohnt sei und diese daher öffentlich verfolge.578 Auf diese Weise begegnete das republikanische Periodikum der Behauptung, die Nation werde vor dem Ausland herabgesetzt, und bereitete den Boden für einen eigenen Angriff: Der Rappel verwies seinerseits auf die Korruption anderer Länder, um so zum einen die Scheinheiligkeit der internationalen Presse zu entblößen und zum anderen in der Gegenüberstellung die Vorzüge der Republik hervorzuheben. Im Skandal der Dekorationen verwies das republikanische Blatt beispielsweise auf die benachbarten Monarchien Großbritannien und Deutschland – dort habe man »noch viel Schlimmeres gesehen«.579 Der Rappel zog sich jedoch nicht auf vage 575 Le Figaro, L’Exil du Dauphin, 15. 11. 1887. Ähnlich auch: Ders., Argent et D8mocratie, 20. 10. 1887. Der Figaro nahm hier Bezug auf die britischen rotten boroughs bzw. die bourgs pourris, um seine im Kontext der Korruptionsskandale mehrfacht wiederholten Argumente gegen das Allgemeine Wahlrecht zu unterstützen. 576 Vgl. bsph. Le Figaro, Pchos – La Politique, 25. 11. 1892. 577 Le Rappel, Le Bon Cot8, 14. 10. 1887. Ähnlich: Ders., Fausses Joies, 16. 11. 1887. 578 Ebd. Ähnlich im Panamaskandal: Ders., La Calomni8e, 11. 12. 1892. 579 Le Rappel, L’Epuration, 13. 10. 1887.

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Andeutungen zurück. Er legte seine Vorwürfe explizit dar und berichtete, in Großbritannien habe man erst vor kurzem drei Admiräle wegen der Annahme von Bestechungsgeldern entlassen und in Deutschland seien siebzig Finanzbeamte wegen Betrugs entlassen worden.580 Im Panamaskandal diente Großbritannien dem Periodikum vier Jahre später erneut als Negativbeispiel. Diesmal verwies der Rappel auf den Royal Baccarat Scandal, in dessen Zentrum das illegale Glücksspiel Baccarat sowie ein falschspielender General Leutnant der Britischen Armee und der Prince of Wales, der spätere König Edward VII., standen.581 Der Vorwurf der Korruption war in diesem Falle vor allem moralischer Natur. Darüber hinaus thematisierte der Rappel auch eine Korruptionsaffäre in Österreich sowie nach Ausbruch des Banca-Romana-Skandals das »Panamino«, das italienische Panama.582 Doch nicht nur die italienische Affäre bot Vacquerie eine willkommene Vorlage; 1892 lieferten auch deutsche Ereignisse dem Redakteure neue Munition: Mitte Dezember erklärte Vacquerie den Judenflintenskandal in seiner Leitkolumne auf dem Titelblatt zu einem deutschen Panama.583 Er erklärte den deutschen Agitator Ahlwardt zum Pendant des französischen Deputierten Delahaye, der die französischen Deputierten der Bestechlichkeit beschuldigt hatte. Die Korruption, die in Deutschland offenbar wurde, sei jedoch ungleich schwerer, schlussfolgerte der Rappel. Die französischen Deputierten hätten ihr Amt verkauft, um ein nationales Unternehmen zu retten. Das deutsche Kriegsministerium hingegen habe sich bestechen lassen, fehlerhafte Gewehre zu erwerben, und damit die nationale Sicherheit aufs Spiel gesetzt. Auch unterzog Vacquerie den deutschen Skandal einer außenpolitischen Interpretation. Er argumentierte, die deutsche Regierung um Reichskanzler Caprivi dementiere die Aussagen Ahlwardts zwar, doch das deutsche Volk sei von der Wahrheit der Vorwürfe überzeugt, wie der hohe Ansturm auf das Gerichtsverfahren gegen den Antisemiten zeige. Nun bestehe die Gefahr, dass diese Demütigung des deutschen Souveräns und die innenpolitischen Spannungen nach außen abgelenkt würden. Der Rappel warnte, Frankreich möge seine Grenzen im Blick behalten.584 Das republikanische Periodikum zog aus all diesen Vergleichen stets den gleichen Schluss: Korruption sei kein spezifisch französisches oder gar repu580 Le Rappel, Le Bon Cot8, 14. 10. 1887. Erneute Anspielung auf die beiden Fälle sowie auf die Vereinigten Staaten von Amerika: Ders., Fausses Joies, 16. 11. 1887. 581 Le Rappel, La Calomni8e, 11. 12. 1892; Ders., Leur Patritisme, 18. 12. 1892. Im Deutschen wird der Skandal zumeist als Tranby-Croft-Skandal bezeichnet. 582 Le Rappel, Le Panama Italien, 24. 12. 1892. Auch: Ders., L’Opinion de M. Crispi, 27. 12. 1892. 583 Im Folgenden: Le Rappel, L’Affair Ahlwardt, 16. 12. 1892. Für die Judenflintenaffäre vgl. Kap. 3. 584 Auch der Figaro berichtete im Dezember ›schadenfroh‹ über die Affäre Ahlwardt, ohne jedoch einen ähnlich prominent platzierten Vergleich. Vgl. Le Figaro, A l’Ptranger, 10. 12. 1892; Ders., A l’Ptranger, 4. 12. 1892.

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blikanisches, sondern ein internationales Problem. Im Gegensatz zu anderen Ländern und Staatsformen werde in der Dritten Republik jedoch gegen Korruption vorgegangen – und dies sei ein Zeichen für die Überlegenheit der Republik.585 Mit dieser Argumentation knüpfte der Rappel zugleich an die Debatte um das französische Staatswesen an. So fügte das Blatt seiner Beobachtung, die ausländische Presse versuche, den Skandal gegen Frankreich zu verwenden, beispielsweise hinzu: »Et nous d8fierons les journaux 8trangers de rendre la nation franÅaise solidaire des criminels quand elle les aura frapp8s, et nous d8fierons les journaux monarchistes de dire que le r8gime r8publicain est l’auteur du crime quand il en aura 8t8 le justicier.«586

Auf diese Weise setzte das Blatt die Bedrohung Frankreichs durch das Ausland mit der konservativen Bedrohung für die Republik gleich und kanzelte damit das Verhalten der »monarchistes« implizit als unpatriotisch und opportunistisch ab. Während des Panamaskandals verstärkte der Rappel diesen Eindruck weiter, indem er hervorhob, die Republik sei bislang nicht angreifbar gewesen. Nun jedoch hätten Boulangisten und Konservative die Chance genutzt, gegen die Republik zu hetzen.587 Wie die vorangegangene Analyse bereits gezeigt hat, versuchte Vacquerie die konservativen Angriffe auf die Republik nicht nur mit Verweisen auf das Ausland, sondern auch auf die französische Vergangenheit zu entkräften. Zu diesem Zweck bediente sich das Periodikum der an Korruptionsdebatten reichen französischen Geschichte: Der Rappel verwies wiederholt auf historische Korruptionsaffären, die aufzeigen sollten, dass Korruption schon immer ein Bestandteil der französischen Geschichte gewesen sei. Das Blatt verlor sich dabei nicht in längeren Ausführungen, sondern verwendete bisweilen sogar nur einzelne Stichworte, welche die Erinnerung der Zeitgenossen an die vergangenen Skandale wecken sollten. Beispielhaft hierfür waren Referenzen auf den Fall »Teste-CubiHres« oder die ›Korruption am Hofe von Louis XV.‹.588 Im Panamaskandal kam schließlich auch der Skandal der Dekorationen als Referenz hinzu: Der Kampf gegen die Korruption, den man 1887 so erfolgreich begonnen habe, werde nun fortgeführt und der Republik zu Ehre gereichen.589 Die Beispiele zeigen zweierlei: Die französische Presse war sich der Auf585 Beispielhaft Le Rappel, Fausses Joies, 16. 11. 1887; Ders., Injure Niaise, 3. 12. 1892; Ders., Le Panama Italien, 24. 12. 1892. 586 Le Rappel, Le Bon Cot8, 14. 10. 1887. 587 Le Rappel, Leur Patriotisme, 18. 12. 1892. 588 Vgl. bsph. Le Rappel, L’Ppuration, 13. 10. 1887; Ders. Defense de la Monarchie, 9. 12. 1892. 589 Beispielhaft Le Rappel, Les Poursuites et la R8action, 18. 11. 1892. Auch der L’Intransigeant nutzte 1892 den Skandal der Dekorationen als Vergleich, jedoch im gegenteiligen Sinne: Die Korruption Wilsons bot einen Kontrast, um die Ausmaße des Panamaskandals stärker hervorzuheben, vgl. L’Intransigeant, Corrupteurs et Corrompus, 18. 11. 1892. Auch: Ders., C ¸ a se Corse, 3. 12. 1892.

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Französische Korruptionsdebatten

merksamkeit, die das Ausland den Korruptionsskandalen schenkte, wohl bewusst. Im Besonderen der republikanische Rappel, mit Abstrichen aber auch der konservative Figaro, reflektierten und kommentierten das mediale Echo, welches das Skandalgeschehen erzeugte. Sie erlebten die Ereignisse als transnationale Ereignisse und waren Teil einer länderumspannenden Korruptionsdebatte. Diese Beobachtung trifft vor allem für das Jahr 1892 zu, als in verschiedenen Ländern beinahe zeitgleich (Korruptions-)Skandale ausbrachen. Wenngleich nicht von einem klassischen Dialog zu sprechen ist, so doch von gegenseitiger Beobachtung und wechselseitiger Rezeption – wie auch die nachfolgende Analyse unterstreichen wird. Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass die Referenz auf ›das Ausland‹ und die ›ausländische Presse‹ selbst zu einem Instrument der Korruptionskommunikation wurden. Der Figaro etwa nutzte Hinweise auf die ausländische Presse als rhetorisches Mittel, um eigene Argumentationen zu stützen und die Dringlichkeit und Bedeutsamkeit des Skandals hervorzuheben. Es ist zu vermuten, dass das Skandalbewusstsein der Zeitgenossen auf diese Weise weiter gesteigert wurde. Der Rappel hingegen nutzte das Ausland ebenso wie vergangene Korruptionsaffären als Referenz, um die Bedeutung der jeweils aktuellen Skandale herabzusetzen und sie als Argumente zur Verteidigung der Republik zu instrumentalisieren. Wie die deutsche Presse auf dieses Vorgehen reagierte, wird im Folgenden zu untersuchen sein.

4.3

Zwischenfazit

Bevor im nächsten Schritt die deutsche Wahrnehmung der französischen Korruptionsskandale im Fokus der Untersuchung stehen wird, werden an dieser Stelle die Ergebnisse der französischen Presseanalyse kurz zusammengefasst und daraus entstehende Fragen an das deutsche Quellenkorpus herausgearbeitet. So ist (1) festzuhalten, dass die mikropolitischen Praktiken, welche die Grundlage der Korruptionsvorwürfe bildeten, in der französischen Öffentlichkeit unisono verurteilt wurden. Die gesellschaftlichen Normen, nach denen der Missbrauch eines politischen Amtes/Mandats für den privaten Nutzen als korrupt galt, wurden in den Skandalen bestätigt. Inspiriert von den Ereignissen kam es 1888 zudem zu einer Revision verschiedener Gesetze, welche die Verurteilung der ›korrupten‹ mikropolitischen Praktiken künftig erleichtern sollte.590 Mit

590 Diese Beobachtung widerspricht auf den ersten Blick den Ergebnissen der – in dieser Studie nicht behandelten – Gerichtsprozesse. 1888 und 1893 erhielten alle Angeklagten mit wenigen Ausnahmen einen Freispruch. Diese Urteile wurden jedoch alle in zweiter Instanz und oft auch unter Hinweis auf gerichtliche Belange erzielt und spiegeln nicht das Urteil der politischen Öffentlichkeit zur Zeit der Skandale wider. Zu den gerichtlichen Verurteilungen vgl.

Zwischenfazit

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Blick auf das deutsche Kaiserreich ist zu fragen, wie die deutsche Presse die Handlungen der französischen Akteure beurteilte. Noch 1873 konnte dort eine Normenambivalenz nachgewiesen werden: Die politische Öffentlichkeit hatte im Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen darüber debattiert, wo die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre zu ziehen sei und welche Normen für diese Bereiche gelten sollten. Sodann konnte (2) am Beispiel der republikanischen und konservativen Berichterstattung gezeigt werden, dass die Korruptionsdebatten zur Bühne eines staatstheoretischen Disputs wurden, der bereits seit Gründung der Republik in unterschiedlich starker Ausprägung existierte: Die beiden Lager stritten über die Qualitäten und konkrete Ausgestaltung des Staatswesens und instrumentalisierten die Korruptionsskandale entlang ihrer Gesinnung entweder zur Delegitimierung oder zur Verteidigung der Republik. Wenngleich dieser Diskurs mit inhaltlicher und rhetorischer Härte geführt wurde, so ist als wichtiges Ergebnis festzuhalten, dass die Alternativlosigkeit der Republik als Staatsform nicht nur von den Republikanern beschworen, sondern auch von den Konservativen anerkannt und bestätigt wurde. Statt den Umsturz der Republik zu fordern, nutzten die Konservativen die Skandale als Chance, praktische Kritik an den republikanischen Mechanismen und dem politischen Personal zu formulieren, während die Republikaner die Skandale – aus einer defensiven Position heraus – als Ausdruck politischer Überlegenheit interpretierten. Die Korruptionsskandale wurden damit (3) zum Gegenstand der politischen Interessenpolitik. Neben Auslegung und Deutung der Ereignisse gehörte ebenso die Beeinflussung des Skandalverlaufs zu den wesentlichen Zielen der Akteure. Die Episode Boulanger zeigt anschaulich, wie es den verschiedenen Parteien gelang, auf die Entwicklung der Ereignisse zu reagieren und sie in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Auch die Betrachtung der Untersuchungskommissionen illustrieren exemplarisch, welche Überlegungen und parteipolitischen Interessen die Entscheidungen der Akteure im Verlauf der Skandale beeinflussten. Allen Akteuren gelang es, aus den Korruptionsdebatten ihren eigenen Partizipationsanspruch abzuleiten und mehr oder minder erfolgreich politische Forderungen zu formulieren. Für die Analyse der deutschen Berichterstattung wird die Fragestellung leitend sein, ob die deutschen Zeitungen das Vorgehen der französischen Parteien als Interessenpolitik identifizierten und wie sie die einzelnen Facetten der Korruptionsdebatten beurteilten. Nahmen sie Stellung zu der Auseinandersetzung um das französische Staatswesen und wie bewerteten sie die Konsequenzen der Skandale für das eigene wie auch für das Nachbarland? Auch wird zu fragen sein, ob

Mießeler, Korruption in der Dritten Republik, S. 42f.; McCullough, Path Between the Seas, S. 226–234.

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Französische Korruptionsdebatten

die deutschen Parteien die Skandale ihrerseits für die politische Kommunikation des Kaiserreichs instrumentalisierten. (4) Vor dem Hintergrund der transnationalen Wahrnehmung der Skandale ist abschließend zu untersuchen, ob die deutsche Presse auf die Berichterstattung Frankreichs über das Kaiserreich reagierte und ob sie die Korruptionsdebatten in einem internationalen Kontext verortete.

4.4

Die französischen Korruptionsskandale im Spiegel der deutschen Presseberichterstattung

In den 1890er Jahren berichteten die großen politischen Tageszeitungen des Kaiserreichs mit großer Regelmäßigkeit und hoher Aktualität über politische Ereignisse und Entwicklungen im Ausland. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen dabei die benachbarten europäischen Großmächte, aber auch über die Vereinigten Staaten von Amerika wurde regelmäßig geschrieben und, in geringerem Umfang, ebenfalls über (ehemalige) Kolonialstaaten oder ferne Handelsdestinationen, wie beispielsweise Deutsch-Ostafrika oder Japan. Neben diesem breiten Fokus lässt sich in vielen Zeitungen ein besonderes Interesse an den Geschicken des linksrheinischen Nachbarn feststellen. Verantwortlich zeichnete dafür einerseits die spannungsreiche außenpolitische Geschichte beider Länder, andererseits wurde Frankreich mit besonderem Augenmerk auf die republikanische Entwicklung beobachtet, die je nach politischem Standpunkt höchst unterschiedliche beurteilt wurde. Für die Sozialdemokratie beispielsweise war ab den 1890er Jahren besonders die Herausbildung und parlamentarische Einbindung der sozialistische Bewegung Frankreichs von Interesse. Dass die wachsende Internationalität der Presseberichterstattung in hohem Maße auch auf technische Entwicklung und Neuerungen zurückzuführen ist, wurde bereits im vorangegangenen Abschnitt thematisiert. Hierbei ist im Besonderen an den Ausbau der Telegraphennetzwerke und die Etablierung internationaler Nachrichtendienste zu erinnern. Neben Depeschenmeldungen bezogen viele Blätter – beispielsweise der sozialdemokratische Vorwärts – bei Bedarf einzelne Artikel und Berichte von ausländischen Kollegen und rezipierten den internationalen Pressemarkt. Große etablierte und kapitalstarke Organe wie das Berliner Tageblatt oder die Vossische Zeitung verfügten darüber hinaus über eigene Auslandskorrespondenten an verschiedenen Standorten, die eine exklusive Berichterstattung über die Geschehnisse vor Ort ermöglichten. Die deutsche Berichterstattung über große Ereignisse, wie in diesem Fall über den Skandal der Dekorationen und den Panamaskandal, zeichnete sich daher durch eine große zeitliche Nähe aus – zumal die großen nationalen Tageszeitungen in

Im Spiegel der deutschen Presseberichterstattung

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den 1890er Jahren bereits in zwei Auflagen pro Tag erschienen. Von den Zeitungen des Untersuchungssample erschien lediglich die Kreuzzeitung im Jahre 1887 und der Vorwärts (1892/93) nur einmal pro Tag.591 Die Leserschaft erlebte die Ereignisse quasi unmittelbar, sodass ein Gefühl von Gegenwärtigkeit und Dringlichkeit entstehen musste. Die technischen Weiterentwicklungen eröffneten darüber hinaus auch die Möglichkeit zunehmender Formalisierung. Die Zeitungen begannen, ihr Erscheinungsbild maßgeblich zu verändern und ihre Inhalte stärker zu strukturieren und zu kategorisieren, was nicht zuletzt ihre Lesbarkeit (auch für die Historiker) stark vereinfacht hat. Zugleich wurden die Textgattungen deutlich vielfältiger. Kurze Depeschenmeldungen dienten der möglichst aktuellen Wiedergabe neuester Entwicklungen in knapper Form. Sie standen meist isoliert und wurden nur sehr selten mit Anmerkungen versehen. Der Kern der Berichterstattung bestand aus Artikeln, die Ereignisse rekapitulierten und kommentierten. Ergänzend kamen »Drahtberichte« von lokalen Korrespondenten hinzu sowie die Rezeption ausländischer Quellen. Brisante und einschneidende Meldungen wurden schließlich als eigenständige Leitartikel aufgemacht. Ein besonderes Merkmal der deutschen Presse war dabei ihre hohe Interkonnektivität. Die Mehrzahl der großen Tageszeitung rezipierte die deutsche Zeitungslandschaft regelmäßig. Es gehörte zur alltäglichen Praxis, kommentierte Pressespiegel zu veröffentlichen oder im Kontext einzelner Artikel auf andere Zeitungen zu verweisen oder diese zu zitieren. Gerade weil dieses Vorgehen derart gängig war, ist die Germania als Ausnahme hervorzuheben. Während des Panamaskandals interagierte das Blatt nicht mit anderen Teilnehmern des medialen Diskurses und ignorierte die Rezeption des Skandals in französischen und deutschen Zeitungen vollkommen. Die katholische Zeitung verzichtete auf Verweise, Zitate oder Rezensionen und hob sich damit nicht nur von anderen Periodika der Zeit ab, sondern unterschied sich auch grundlegend von der eigenen Berichterstattung vergangener Jahre. Mögliche Motive der Germania sollen in der folgenden Analyse genauer untersucht werden. Richtet man den Blick nun spezifisch auf die Presseberichterstattung über die beiden französischen Korruptionsskandale, so fällt auf, dass die deutschen Zeitungen in beiden Fällen davon ausgingen, dass ihre Leserschaft bereits Kenntnis über die politischen Prozesse der letzten Jahre sowie den Status quo in Frankreich hatte. Nur selten wurden die aktuellen Entwicklungen durch zusätzliche Erklärungen oder historische Kontextualisierungen ergänzt. Im 591 Die Kreuzzeitung erschien ab dem 1. 4. 1888 mit zwei Ausgaben pro Tag, der Vorwärts erschien während des gesamten Untersuchungszeitraums mit nur einer Ausgabe pro Tag. Eine Ausnahme stellte die sozialdemokratische Exilzeitung Der Sozialdemokrat dar, die in dem Skandaljahr 1887 in unregelmäßigen Abständen erschien.

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Skandal der Dekorationen wandten alle Zeitungen vergleichsweise viel Zeit für die Rekapitulation der Ereignisse auf, da diese unmittelbar und ohne Vorzeichen eingetreten waren. Das mediale Interesse blieb dabei bis zum Ende des Skandals gleichbleibend hoch und die Berichterstattung erfolgte kontinuierlich. Von den Enthüllungen über die Panama Compagnie hingegen wurde die deutsche Leserschaft nicht in gleichem Maße überrascht. Schon vor Einsetzen der Affäre im September 1892 war über die prekäre finanzielle Situation der Gesellschaft und ihr zweifelhaftes Gebaren in Frankreich und Deutschland berichtet worden. Die Mehrzahl der deutschen Zeitungen setzte daher eine Art Grundwissen bei ihrer Leserschaft voraus und verzichtete in ihrer Berichterstattung auf Hintergrundinformationen über die Ereignisse oder die beteiligten Akteure. Da sich der Panamaskandal über mehrere Monate hinzog, war das Interesse der Presse im Kaiserreich zudem nicht konstant hoch. Es konzentrierte sich vor allem auf die ereignisreichen Wintermonate des Jahres 1892/93, die von einer prägnanten und ausdrucksstarken Berichterstattung über die Begebenheiten geprägt waren. Jede Zeitung präsentierte und kommentierte die Skandale dabei entlang ihrer politischen Ausrichtung und setzte unterschiedliche Schwerpunkte. Der Vorwärts beispielsweise konzentrierte sich in seiner Berichterstattung über den Panamaskandal auf einen kleinen Kreis wohlbekannter Personen, an deren Handlungen er die Geschehnisse vereinfacht darstellte. So zeichnete das Blatt ein klares Täter-Opfer-Bild, hinter dem die Komplexität des Falles zurücktrat und das dem/der LeserIn bereits eine eindeutige Positionierung empfahl.592 Eine ähnliche Form der Parteinahme fand sich auch in der Germania, die sich sehr deutlich gegen die Panama Compagnie, Regierung und Parteien und für die geschädigten Anleger aussprach. Diese stilistischen Formen der Aufbereitung waren immer auch von der politischen Positionierung der Zeitungen und deren Motiven beeinflusst, wie im Folgenden dargestellt werden soll. Das Kapitel orientiert sich dabei lose an der Gliederung seines französischen Pendants: In einem ersten Schritt (1) wird das normative Urteil der deutschen Presse untersucht. Darauf folgt (2) die Bewertung der Ereignisse als Gegenstand der französischen Interessenpolitik. Sodann wird (3) die mediale Verortung der Skandale in einem europäischen Kontext untersucht und gezeigt, welche Bezüge zum Deutschen Kaiserreich hergestellt wurden. Das Kapitel schließt (4) mit der Darstellung und Analyse des sozialdemokratischen Versuchs einer Nebenskandalierung im Kontext des Panamaskandals.

592 Vorwärts, Der Panama-Komödie zweiter Teil, 10. 11. 1892.

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4.4.1 Die normative Bewertung der deutschen Presse Untersucht man, wie die deutsche Presse die mikropolitischen Praktiken im Kontext der französischen Skandale bewertete, so fällt vor allem die Homogenität des medialen Urteils auf. Noch zu Beginn der 1870er Jahre wurden im Kaiserreich Normenaushandlungsprozesse geführt, um die Grenzen ›korrupten‹ Handelns auszuloten, wie das Beispiel des Skandals um die preußischen Eisenbahnkonzessionen (Kap. 2) gezeigt hat. Zwanzig Jahre später wurden Bestechung und Amtsmissbrauch, wie auch andere Formen mikropolitischen Handelns, eindeutig als korrupt gebrandmarkt. So stellte beispielsweise die Germania nach Ausbruch des Skandals der Dekorationen im Oktober 1887 in wenigen Worten fest: »Im französischen Kriegsministerium sitzen Leute, welche wegen der schamlosen Ausnutzung ihrer hohen Stellungen zu ihrem eigenen Nutzen verdienen, öffentlich an den Pranger gestellt und der öffentlichen Verachtung anheim gegeben zu werden.«593

Keines der untersuchten Periodika unternahm im Rahmen der französischen Skandale den Versuch, das korrupte Wesen der mikropolitischen Handlungen in Frage zu stellen oder zu rechtfertigen. Ihre negative Bewertung erscheint derart selbstverständlich gewesen zu sein, dass sie weder elaboriert werden musste noch diskutiert werden konnte. Dabei wies die deutsche Presse auch auf die Divergenz zwischen Normen und Gesetzestexten hin, wie dieses Zitat der Kreuzzeitung beispielhaft illustriert: »Die Beschönigung eines Treibens nach Wilsonscher Art muß an der eigenen Lauterkeit derjenigen Zweifel erwecken, die, komme, was da wolle, in ihrem Beschönigungs-Prinzip verharren, selbst dann noch, wenn in den Augen der Oeffentlichkeit der Angeschuldigte längst verurtheilt ist, ganz unabhängig davon, ob die Justiz ihm schließlich doch eine Hinterthür zum Durchschlüpfen öffnet.«594

Diese Passage verdeutlicht, dass die Presse des Kaiserreichs der französischen Gesellschaft eine entscheidende Bedeutung als Bewertungsinstanz zugestand. Das gesellschaftliche Urteil erachtete sie als maßgebend für die Beurteilung der Praktiken, ungeachtet der juristischen Bemessung. Als bemerkenswert ist in diesem Kontext hervorzuheben, dass sich die öffentliche Meinung, der ›Volkswille‹, als Teil der Korruptionskommunikation der Dritten Republik tatsächlich sichtbar manifestierte, so etwa in Form von Demonstrationen. Sowohl vom Skandal der Dekorationen als auch im Panamaskandal ist überliefert, dass es zu Versammlungen und organisierten sowie spontanen Menschenaufläufen kam (vgl. Kap. 4.2.2) Vor diesem Hintergrund erscheint die viel verwendete Aussage 593 Germania, Im französischen Kriegsministerium, 09. 10. 1887, Bl. 1. 594 Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 25. 11. 1887.

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der Politiker, im öffentlichen Interesse handeln zu wollen, als Prämisse glaubhaft. Um den Ergebnissen der nachfolgenden Kapitel ein wenig vorzugreifen, sei hier angemerkt, dass Ähnliches für das Deutsche Kaiserreich im Kontext der Korruptionsskandale nicht festgestellt werden konnte. Zwar ist ein ›geordnetes Interesse‹, wie beispielsweise der Andrang bei einer öffentlichen Gerichtsversammlung (vgl. Kap. 6), zu verzeichnen, nicht jedoch spontane Demonstrationen oder größere Versammlungen. Diese Beobachtung führt zu der weiterreichenden Frage, ob die politische Presse im Kontext deutscher Skandale der Öffentlichkeit im Kaiserreich die gleiche Bedeutung als Bewertungsinstanz zumaß, wie sie es im Fall des französischen Pendants tat. Mehr dazu in den folgenden Kapiteln. Mit der Eindeutigkeit des normativen Urteils ging einher, dass in der Berichterstattung vergleichsweise wenig Raum in Anspruch genommen wurde, um die Vergehen zu beschreiben oder ausführlich zu thematisieren. Bisweilen rekapitulierten die Zeitungen zwar den Hergang der Ereignisse oder konkrete Details, doch waren diese Erläuterungen meist in den Kontext einer weiterführenden Argumentation eingebunden. Mit wenigen Ausnahmen standen die Vergehen selbst nie prominent im Vordergrund der Berichterstattung. Nichtsdestotrotz war ihre Bewertung zu jeder Zeit offensichtlich: Zum einen war sie direkt mit der Benennung der mikropolitischen Praktiken als »Corruption« oder beispielsweise als »Bestechung« assoziiert. Dabei betonten alle politischen Richtungen wiederholt, dass sich diese Handlungen nicht mit dem Interesse der (französischen) Allgemeinheit deckten.595 Zum anderen spiegelte sich die Wertung auch in dem Vokabular der Presse wider. Wie auch in der Berichterstattung über deutsche Korruptionsfälle wurden häufig Metaphern aus Umwelt oder Medizin genutzt, um auf den korrupten Zustand in seiner Gesamtheit zu verweisen. Die Vossische Zeitung beispielsweise bezeichnete den Panamaskandal als eine »Schlammwelle« und als ein »drohendes Gewitter« und die Kreuzzeitung sprach von einem »Uebel«, das jeden »chirurgischen Eingriff unmöglich macht«.596 Auch war die Rede von einem »wahren Pfuhl der Corruption« und dem »französische[n] Staatskarren«, der »tief in den Sumpf gerathen« sei.597 Stilistisch und rhetorisch fallen an dieser Stelle große Ähnlichkeiten mit der französischen Korruptionskommunikation auf. Auch in der Dritten Republik waren Sprachbilder und Vergleiche mit Phänomenen aus Natur oder Wissen595 Vgl. bsph. Germania, Die Panama-Angelegenheit, 29. 11. 1892, Bl. 1; Vorwärts, Fäulniß, 7. 12. 1892; Neue Preußische Zeitung, Politscher Tagesbericht, 5. 12. 1892AA; Dies., Aus Frankreich, 30. 11. 1892MA; Vossische Zeitung, Die Panama-Untersuchung, 10. 12. 1892AA. 596 Vossische Zeitung, Der Panama-Skandal, 24. 11.1892AA; Dies., Frankreich, 22. 11. 1892MA; Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 30.11. 1892MA. 597 Berliner Tageblatt, Skandal im französischen Kriegsministerium, 10. 10. 1887AA; Germania, Die Panamaangelegenheit, 23. 11. 1887, Bl. 1.

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schaft weit verbreitet. So schrieb beispielsweise der Figaro am 15. November 1887, man lebe »comme dans les marais, hant8s de l8gendes corruptrices, cherchant 8perdument / nous raccrocher / une branche qui ne soit pas pourrie et ne la trouvant peut-Þtre pas!«598 Diese Ähnlichkeiten sind bemerkenswert. Sie scheinen – auch mit Blick auf die Trump-Karikaturen aus der Einleitung – anzudeuten, dass es einen mit Korruption assoziierten Wortschatz gibt, der über Länder- und Epochengrenzen hinweg Konstanten beinhaltet.

4.4.2 Korruptionsskandale als Intrige? Französische Interessenpolitik in deutscher Beurteilung Die negative Bewertung der mikropolitischen Praktiken spiegelte sich nicht zuletzt in den Konsequenzen wider, welche die deutschen Zeitungen der Republik nach Ausbruch der Skandale prognostizierten. Alle Periodika waren überzeugt, dass die ›Korruptionserscheinungen‹ ungünstige Auswirkungen auf die Politik Frankreichs haben würden. Damit hob die deutsche Presse die politische Komponente der Korruptionsskandale hervor und charakterisierte sie als politische Ereignisse. Über diese grundlegende Feststellung hinaus analysierten und beurteilten die Zeitungen die Begebenheiten sodann entlang ihrer jeweiligen politischen Gesinnung und setzten in der Berichterstattung entsprechende Schwerpunkte. Die Episode Boulanger illustriert beispielhaft die unterschiedliche Akzentuierung der Ereignisse durch die Presse. Kurz nach Ausbruch des Skandals der Dekorationen schrieb die konservative Kreuzzeitung am 16. Oktober 1887: »In Paris wird unendlich viel vertuscht, was vielleicht nicht minder schlimm ist, als die Caffarel vorgeworfenen Dinge, es kommt aber nur darauf an, ob das Interesse der herrschenden Partei es verlangt oder nicht.«599 Diese Passage fasst zusammen, wovon die Mehrzahl der deutschen Periodika bereits wenige Tage nach den Enthüllungen des XIXH SiHcle überzeugt war : Bei dem Skandal handele sich nicht nur um die Preisgabe eins moralischen und juristischen Vergehens, sondern vor allem um eine politische Angelegenheit. So berichtete beispielsweise auch das Berliner Tageblatt seiner Leserschaft: »Die schmutzige Ordensgeschichte hat sich urploetzlich zu einem politischen Ereigniß umgewandelt, in welchem der ehemalige Kriegsminister General Boulanger die Hauptrolle spielt.«600 Alle Zeitungen des Untersuchungssamples vertraten die Auffassung, dass die Enthüllungen über den Titelhandel politisch instrumentalisiert würden. Dabei 598 Le Figaro, L’Exil, 15. 11. 1887. 599 Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 16. 10. 1887. 600 Berliner Tageblatt, Ferron contra Boulanger, 15. 10. 1887MA.

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präsentierte allerdings jedes Blatt eine unterschiedliche Lesart der Ereignisse. Die Kreuzzeitung etwa räumte in ihrer Berichterstattung der boulangistischen Darstellung, der zufolge es sich bei dem Skandal um eine »Intrigue« des amtierenden Kriegsministers Ferron handle, der Boulanger nachhaltig kompromittieren wolle, viel Raum ein. In der Öffentlichkeit, so die Feststellung des Periodikums, sei die Unterstützung für Boulanger jedoch derart groß, dass Ferron sich mit seinem Vorgehen selber schädige.601 Die Auffassung der Kreuzzeitung teilte auch Der Sozialdemokrat. Da das Exilblatt in unregelmäßigen Abständen erschien, widmete sich nur ein Artikel im Dezember 1887 dem Skandal der Dekorationen. Obgleich die Episode Boulanger darin eine untergeordnete Rolle spielte, vergaß das sozialdemokratische Blatt nicht zu erwähnen, dass man zu Recht gemunkelt habe, dass es sich um ein Komplott gegen Boulanger handele.602 Nicht alle Zeitungen folgten dieser boulangistischen Perspektive; die Germania und das Berliner Tageblatt interpretierten die Ereignisse in Frankreich gegensätzlich. Das katholische Blatt zweifelte die Darstellung der Boulangisten geradeheraus an und bezeichnete sie in Übereinstimmung mit der Berichterstattung der Agence Havas als »aus der Luft gegriffene Behauptung«.603 Ferron verdiene Anerkennung dafür, dass er das Verhalten Boulangers mit Arrest beantwortet habe. Die Abdankung des Generals, so das abschließende Urteil der Germania, sei zu empfehlen.604 Auch das Berliner Tageblatt erklärte den freiwilligen Rücktritt Boulangers zur angemessenen Konsequenz aus der Affäre, doch fehle es dem General dafür an »Gehorsam« und »Mut«. Im Kaiserreich müsse man Boulanger daher wohl als »Maulhelden, nicht aber als einen Mann der That würdigen.«605 Nur knapp äußerte sich schließlich die Norddeutsche Allgemeine Zeitung zu der Episode Boulanger. Das Blatt erklärte, die Affäre sei weder für Boulanger noch für Ferron profitabel gewesen, und kritisierte, dass beide Akteure in ihrer Zeit im Kriegsministerium »die Politik in die Reihen des Heeres ein[ge]fuehrt« und damit »der Parteilichkeit und der Korruption die Wege« geöffnet hätten.606 Dieser kurze Überblick zeigt, dass die deutsche Presse von einer gemeinsamen Grundannahme, der Politisierung der Korruptionsskandale, ausging, 601 602 603 604

Ebd.; Dass., Paris, 19. 10. 1887. Der Sozialdemokrat, Aus Frankreich, 16. 12. 1887. Germania, Der Scandal Caffarel, 14. 10. 1887, Bl. 1. Vgl. Germania, Politische Uebersicht, 15. 10. 1887, Bl. 1; Dies., Politische Uebersicht, 16. 10. 1887, Bl. 1. 605 Berliner Tageblatt, o. T., 16. 10. 1887MA. Auch: Dass., Ueber Ursachen und Wirkung des »Caffarelismus«, 15. 10. 1887AA. 606 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Frankreich, 11. 10. 1887AA. Bei dem Artikel handelt es sich um ein Zitat aus dem Berliner Tageblatt.

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darauf aufbauend jedoch unterschiedliche Interpretationen der Ereignisse vornahm. Generell erregte die Episode Boulanger in der deutschen Presse geringere Aufmerksamkeit als vormals in Frankreich. Grund hierfür war zum einen, dass die Episode durch den Arrest Boulangers zeitnah aufgelöst und darüber hinaus durch das Involvement von Daniel Wilson in das Skandalgeschehen in den Hintergrund gedrängt wurde. Zum anderen maßen die deutschen Zeitungen der Episode geringe Relevanz für die europäische Politik oder das Kaiserreich bei. Einzig das Berliner Tageblatt veröffentlichte einen Artikel ihres Pariser Korrespondenten, der in der Episode einen Rückfall in die »Boulangerkrisis« erblickte, der die Grundfesten der Republik bedrohe.607 Diese schwerwiegende Beurteilung blieb jedoch eine Randerscheinung in der deutschen Berichterstattung über die Auseinandersetzung zwischen Boulanger und Ferron im Oktober 1887.608 Betrachtet man jedoch den kompletten Zeitraum des Skandals bis hin zum Rücktritt Gr8vys Anfang Dezember 1887, so fällt auf, dass sich das Urteil der deutschen Presse über die Skandalereignisse im weiteren Verlauf zunehmend verschärfte. So stellte beispielsweise das Berliner Tageblatt im Zuge der parlamentarischen Interpellation Clemeceaus und des anschließenden Rücktritts des Ministeriums Rouvier mehrere überaus kritische Überlegungen an. In einem Artikel ihres französischen Korrespondenten warf die liberale Zeitung die Frage auf, ob die Kammer mit dem negativen Vertrauensvotum gegen die Regierung nicht eigentlich den französischen Präsidenten habe rügen wollen. Der Präsident, so der kritische Hinweis, sei jedoch Repräsentant der Republik, ein Urteil über ihn stehe der Kammer verfassungsgemäß nicht zu, auch würde der Angriff gegen ihn zugleich der Republik schaden. Die Republikaner, so das Urteil der liberalen Zeitung, seien zu sehr auf interne Interessenkonflikte fokussiert und spielten dabei ein gefährliches Spiel um die Zukunft der Republik: »[…] und während gleichzeitig die monarchistischen und anarchistischen Feinde der Republik lauernd vor den Thoren stehen, vergnügen die Republikaner sich daran, einander gegenseitig zu zerfleischen und den Ast, auf dem sie sitzen, abzusägen.«609 Auch die Kreuzzeitung und die Germania verwiesen im Verlauf der Ereignisse auf die Möglichkeit, dass Gegner der Republik den Skandal nutzen könnten, um sich der Kontrolle über das französische Staatswesen zu bemächtigen.610 Die katholische Zeitung kam Ende November jedoch zu dem 607 Berliner Tageblatt, Der Czar und der Boulanger-Skandal. Paris, 17. 10. 1887AA. 608 Ein ähnlich dramatisches Urteil fällten die Flugschriftenautoren Wilhelm Issleib und Gustav Schuhr in ihrer zeitgenössischen Darstellung der Ereignisse, vgl. Issleib/Schuhr, Der Skandal Caffarel-Boulanger und die Corruption in Frankreich. 609 Berliner Tageblatt, Der Sturz des Ministeriums Rouvier, 21. 11. 1887AA. 610 Vgl. bsph. Germania, Wilson’s angebliche Briefunterschlagung, 12. 11. 1887, Bl. 1; Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 22. 10. 1887 sowie Dies., Aus Frankreich, 13. 11. 1887.

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Schluss, derartige Befürchtungen seien übertrieben; ein Komplott gegen die Republik habe wenig Aussicht auf Erfolg.611 Über deutlich negativere Zukunftsaussichten spekulierte hingegen die Kreuzzeitung kurz vor dem Rücktritt Gr8vys in der Hochphase des Skandals. Schon zu Beginn der Affäre hatte die Zeitung argumentiert, dass die schnellen Regierungswechsel der Dritten Republik eine Schwäche und zugleich einen inhärenten Fehler der politischen Ordnung darstellten. Ein republikanisches System, so die These, sei nur dort möglich, wo ehrliche Menschen regierten.612 Diese Aussage ergänzte das Blatt Anfang Dezember : Sollte Gr8vy gestürzt und damit eine Phase eingeleitet werden, in der auch die Präsidentschaft der Republik stetig wechsele, so sei die Wiederkehr der Diktatur lediglich eine Frage der Zeit.613 »Paris ist und bleibt eben am Vorabend von Katastrophen, der Ausbruch derselben läßt sich vielleicht etwas hinausschieben, die zum Schluß drängenden Kräfte sind aber nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Der Orleanismus und der Radikalismus laufen von rechts und links Sturm gegen das Bestehen der Republik, sowie der gegebenen Ordnung der Dinge.«614

Die Kritik der Kreuzzeitung an der Republik blieb in den Wintermonaten 1887 phrasenhaft und unbestimmt. Zwar zeichnete sie die Republik in einigen Artikel für die Korruption verantwortlich, doch handelte es sich um karge, abstrakte Aussagen. Etwas ausführlicher äußerte sich das Blatt lediglich zu den möglichen Konsequenzen des Skandals.615 Die Republik werde von Radikalen sowie von Monarchisten bedroht, doch fehle gerade letzteren die Entschlossenheit für einen Coup d’Ptat. Im Panamaskandal vier Jahre später fand hingegen nicht nur das konservative Periodikum deutlich schärfere Worte. Auch die anderen Zeitungen des Untersuchungssamples unterzogen die Beziehung von Korruption und Republik einer intensiven Beurteilung.

4.4.3 Das deutsche Urteil verschärft sich: Der Panamaskandal Wie bereits im Skandal der Dekorationen argumentierten alle Zeitungen bereits kurz nach Ausbruch des Panamaskandals im September 1892, es handele sich hierbei um ein politisches Ereignis mit weitreichenden Konsequenzen für den politischen Alltag Frankreichs einerseits und für das politische System ande611 612 613 614 615

Beispielhaft Neue Preußische Zeitung, Politische Uebersicht, 30. 11. 1887, Bl. 1. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 22. 10. 1887. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 4. 12. 1887. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 6. 12. 1887. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 24. 11. 1887; Dies., Aus Frankreich, 25. 11. 1887; Dies., Aus Frankreich, 26. 11. 1887; Dies., Aus Frankreich, 29. 11. 1887, Dies., Von der Entscheidung, 1. 12. 1887.

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rerseits. Eine Ausnahme bildete die katholische Germania. Noch in den 1870er und 1880er Jahren hatte die Zeitung politisch über die Korruptionsskandale in Deutschland und Frankreich berichtet. Beim Blick auf das Jahr 1892 hingegen fällt auf, dass das Blatt zu keinem Zeitpunkt argumentierte, dass es sich bei dem Skandal um ein Ereignis handele, das im politischen Interesse manipuliert werde. Bis auf wenige Ausnahmen unterließ es die Germania, den Skandal in einem größeren politischen Kontext zu verorten oder zu hinterfragen. Auch stellte die Zeitung keine Überlegungen über die Beziehung zwischen der Korruption und dem politischen System an.616 Stattdessen wurde der Panamaskandal in der Berichterstattung der Germania bisweilen wie ein Naturereignis dargestellt, das sich unkontrollierbar über Frankreich ausbreitete. Das Blatt beschrieb den Skandal nicht als ein Instrument der politischen Kommunikation, sondern als ein gesellschaftliches Ereignis. Als solches hatte es zwar Folgen für das französische Volk – insbesondere für die geprellten Anleger – und auch für die französische Politik, es war aber in der Darstellung der Germania nicht von Akteuren der Politik hervorgerufen oder beeinflusst worden.617 Das katholische Periodikum pflegte eine anhaltende Solidarität mit den im Korruptionsskandal betrogenen Bürgern, die sich in einem beinahe universell anmutenden Misstrauen gegenüber der politischen Elite Frankreichs und deren Willen, das Wohl des Volkes zu repräsentieren, widerspiegelte. So argumentierte das Blatt an einer der wenigen politisch motivierten Passagen der Berichterstattung, dass die parlamentarische Untersuchungskommission für den Ausgang des Skandals irrelevant sei und nach kurzer Zeit in der Versenkung verschwinden werde.618 Auch sah sie das Vertrauen in das politische System Frankreichs derart erschüttert, dass »alle Bande des politischen Zusammenhalts gelöst«619 schienen und die Scheu der ehrlichen Leute zu begreifen sei, einem derart korrupten System nicht dienen zu wollen.620 Während des gesamten Skandals interagierte die Germania nicht mit anderen Akteuren der politischen Kommunikation und ignorierte augenscheinlich die Rezeption der Ereignisse in der französischen und deutschen Presse. Sie veröffentlichte weder Pressespiegel, noch griff sie auf Zitate aus anderen Zeitungen zurück. Das Vorgehen der Germania erschließt sich in der Rückschau nur schwer, vor allem, da es im Widerspruch zu ihrer vorangegangenen Berichterstattung steht. Möglicherweise sind interne Gründe heranzuführen – wechselnde Verantwortlichkeiten in der Parteiführung oder der Redaktion der Germania – oder die Reflexion über die Zeit des Kulturkampfs

616 617 618 619 620

Germania, Der Panama Scandal, 29. 11. 1892, Bl. 1. Beispielhaft Germania, Die Panamaangelegenheit, 18. 11. 1892. Germania, Der Panama Scandal und die Ministerkrisis, 6. 12. 1892, Bl. 1. Germania, Frankreich hat immer noch kein Ministerium, 7. 12. 1892, Bl. 1. Germania, o. T., 3. 12. 1892, Bl. 2.

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nach dem Rücktritt Bismarcks, die in Teilen der Partei ein Misstrauen gegenüber den Exekutivorganen hinterlassen haben mag. Die Position der Germania war jedoch unter den Zeitungen des Untersuchungssamples randständig. Die liberalen und konservativen Blätter äußerten sich ausführlich zu der politischen Lage in Frankreich und kommentierten das Skandalgeschehen in den Wintermonaten der Jahre 1892/93 rege und hoch reflektiert. Sie waren der Überzeugung, der Panamaskandal werde von verschiedenen Akteuren instrumentalisiert und stelle eine Bedrohung für das politische Fundament Frankreichs dar.621 Das durch den Korruptionsskandal emotionalisierte, von Enttäuschung und Rachsucht geprägte politische Klima Frankreichs, so die Überlegung der unterschiedlichen Zeitungen, schüre die Möglichkeit eines Umsturzes. Konservative und liberale Periodika waren sich sogar einig, wer für die Intrige verantwortlich sei: der politische Boulangismus. So spekulierte beispielsweise die Norddeutsche Allgemeine Zeitung ausführlich über die Strategien und Motive der Instrumentalisierung und vermutete hinter der kontinuierlichen Befeuerung des Skandals boulangistische, aber auch royalistische Gruppierungen. Deren Ziel sei es, so die Zeitung, durch geschicktes Wenden der Anklage und Zurückhalten von Beweisen die republikanischen Parteien unwiderruflich zu kompromittieren.622 Die Vossische Zeitung und das Berliner Tageblatt gingen ebenfalls davon aus, dass die Boulangisten mit ihren Instrumentalisierungsbemühungen die Republik zu Fall bringen wollten. Die Vossische Zeitung etwa schrieb, es handele sich nun nicht mehr nur um eine »Ministerkrise«, sondern um eine »Parlamentskrise«, die in ihrer Bedeutsamkeit sowohl den Aufstand der Kommune als auch die politischen Krisen um den ehemaligen Präsidenten Mac-Mahon und General Boulanger übertreffe.623 Interessanterweise nahmen aber gerade die beiden liberalen Blätter in ihrer Berichterstattung Abstand davon, sich spezifisch mit den Vertretern des Boulangismus auseinanderzusetzen, wie etwa dem Abgeordneten Delahaye. Stattdessen blieben die Strippenzieher der angeblichen Intrige, die »Boulangisten«, in der Berichterstattung der Zeitungen eine generalisierte, abstrakte Gefahr. Ausgehend von dieser Prämisse entwickelten sowohl Liberale als auch Konservative eine kritische, aber dennoch unterschiedlich gelagerte Interpretation der Ereignisse. Die beiden liberalen Zeitungen kritisierten die französische Regierung von Anfang an scharf und charakterisierten das Verhalten des Ka-

621 Vgl. bsph. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich/Die auswärtige Politik der Woche, 13. 12. 1892MA; Dies., Aus Frankreich, 14. 12. 1892MA; Berliner Tageblatt, Boulanger Redivivus, 28. 11. 1892AA. 622 Beispielhaft Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Rundschau im Auslande, 26. 11. 1892AA; Dies., Rundschau im Auslande, 16. 12. 1892AA. 623 Vossische Zeitung, o. T., 30. 11. 1892MA; Dies., Die Panama-Untersuchung, 10. 12. 1892AA.

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binetts während des Skandals als schwach und energielos.624 In den Augen des Berliner Tageblatts war das größte Versagen der Regierung ihr Umgang mit der parlamentarischen Untersuchungskommission, die Mitte November 1892 von der Deputiertenkammer eingesetzt worden war. Der Auffassung des Berliner Tageblatts zufolge war die EnquÞte aus dem unreflektierten Willen der Parlamentarier geboren, ihre Unschuld und den Willen zur Aufklärung vor der Öffentlichkeit zu demonstrieren.625 Problematisch sei jedoch, dass die Existenz der Kommission das Vertrauen in die parallel stattfindende juristische Untersuchung erschüttere und dass sie einen Übergriff der Legislative auf die Rechte von Judikative und Exekutive darstelle, so das Berliner Tageblatt.626 Hintergrund dieser Einschätzung war der Streit um die Kompetenzen der EnquÞte, der zwischen der französischen Regierung, der Deputiertenkammer und den Mitgliedern der Kommission entbrannt war. Henri Brisson, Vorsitzender der Untersuchungskommission, hatte verlangt, dass man dem Gremium die Kompetenzen eines Untersuchungsrichters und Staatsanwaltes verleihe. Darüber hinaus hatte er Regierungsführer Loubet aufgefordert, sich über bestehende Gesetze hinwegzusetzen und die Exhumierung der Leiche Reinachs anzuordnen, um dessen ungeklärten Tod zu ergründen. Loubet, der sich weigerte, auf die Forderungen Brissons einzugehen, wurde von verschiedenen Seiten mit dem Vorwurf konfrontiert, die Untersuchung torpedieren zu wollen. Daraufhin trat der Regierungschef nach einem gescheiterten Misstrauensvotum am 28. November 1892 zurück. Das Berliner Tageblatt urteilte, dass das Kabinett Loubet nicht in der Lage gewesen sei, die Unabhängigkeit der staatlichen Gewalten zu gewährleisten, und sich in die Abhängigkeit des irrational agierenden Parlaments begeben habe.627 Das kraftlose Vorgehen der Regierung habe damit zur Eskalation des Skandals und einer bleibenden Schädigung der konstitutionellen Grundlagen der Republik beigetragen.628 Auch die Vossische Zeitung kritisierte die französische Regierung scharf. Sie kontrastierte das Schicksal der geprellten Anleger, der »Hunderttausenden, die ihr Vermögen im Panama-Zusammenbruch ganz oder theilweise eingebüßt« hätten, mit der Schwäche und dem Unwillen der Regierung, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.629 Die Mitglieder des Kabinetts, so das Urteil der Vossischen Zeitung, seien nicht gewillt, die An624 Vgl. bsph. Berliner Tageblatt, Die Stellung des Kabinets Loubet, 21. 11. 1892AA; Vossische Zeitung, Der Rücktritt Loubets, 29. 11. 1892AA. 625 Berliner Tageblatt, Boulanger Redivivus, 28. 11. 1892AA. 626 Ebd. Vgl. bsph. auch: Dass., Politische Wochenschau, 5. 12. 1892MA. 627 Vgl. bsph. Berliner Tageblatt, Boulanger Redivivus, 28. 11. 1892AA; Dass., Zur Krisis in Frankreich, 1. 12. 1892AA; Dass., Politische Wochenschau, 5. 12. 1892MA; Dass., Das Kabinet Ribot, 11. 12. 1892MA. 628 Beispielhaft Berliner Tageblatt, Die Enquete über die Panama-Skandale, 23. 11. 1892AA. 629 Vossische Zeitung, Paris, 15. 11. 1892MA. Vgl. auch: Dies., Die Panama-Untersuchung, 10. 12. 1892AA.

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gelegenheit aufzuarbeiten, sondern suchten im Gegenteil die Wahrheit zu verschleiern.630 Das aufklärerische Engagement einzelner politischer Akteure führte die Zeitung dabei abwertend auf deren Willen zurück, »Volksthümlichkeit« – sprich die Gunst potenzieller Wähler – »zu erwerben«.631 Auch das Berliner Tageblatt verwies in seiner Berichterstattung wiederholt auf die anstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen: Die Zeitung interpretierte beispielsweise das Verhalten von Justizminister Ricard, der sich persönlich für eine strafrechtliche Verfolgung der Vorstandsdirektoren der Panama Compagnie eingesetzt hatte, als Versuch, sich als Präsidentschaftskandidat in Stellung zu bringen.632 Die beiden liberalen Blätter sahen also nicht nur den Fortbestand der Republik gefährdet, sie verurteilten auch das Vorgehen der Exekutivorgane als schwach und kontraproduktiv. Im Angesicht dieser misslichen Situation setzten sich beide Blätter vehement für den Fortbestand der Republik ein. Die Vossische Zeitung unterschied in ihrer Berichterstattung zwischen den Angehörigen der regierenden Klasse und dem eigentlichen politischen System. Das Blatt schrieb am 11. Januar 1893, dass »nicht […] die republikanische Staatsform, als vielmehr die gesellschaftliche Unterlage bedroht sei.«633 Wenige Wochen später fügte die Zeitung hinzu: »Als wenn die Republik heutzutage noch irgendwie in Frage stände.«634 Ähnlich argumentierte auch das Berliner Tageblatt. Dort schrieb der ehemalige Auslandskorrespondent und amtierende Chefredakteur Arthur Levysohn, dass es sich um »bürgerliche Vergehen« handele, die nicht symptomatisch für die Republik seien. In Frankreich, so seine Diagnose, gäbe es durchaus noch »unantastbar[e], ehrenfest[e] und streng[e] Charaktere«, die das Land über den Skandal hinwegretten würden.635 Interessanterweise sprachen sich auch die Konservativen – nicht zuletzt vor dem Hintergrund außenpolitischer Überlegungen – für den Fortbestand der Republik aus. So argumentierte die Kreuzzeitung beispielsweise, dass von einer Diktatur – als Alternative zur Republik – nur eine »Ablenkung der inneren Schwierigkeiten nach außen« zu erwarten sei, was zu einer Verschärfung der europäischen Spannungen führen müsse.636 Dieses diplomatische Votum für den Fortbestand der Republik begründete jedoch keineswegs eine ideologische Unterstützung des Staatssystems oder auch nur eine abwägende Berichterstattung über den Korruptionsskandal. Im Gegenteil: Für die gewaltigen Ausmaße und Konsequenzen, welche die Affäre 630 631 632 633 634 635 636

Beispielhaft Vossische Zeitung, Paris, 18. 11. 1892MA. Vossische Zeitung, o. T., 15. 11. 1892MA. Berliner Tageblatt, Die Stellung des Kabinets Loubet, 21. 11. 1892AA. Vossische Zeitung, o. T., 11. 1. 1893, Nr. 17. Vossische Zeitung, o. T. 14. 2. 1893, Nr. 75. Berliner Tageblatt, Politische Wochenschau, 5. 12. 1892MA. Neue Preußische Zeitung, Die äußere Politik der Woche, 19. 12. 1892AA.

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zum Jahresende 1892 annahm, präsentierten die zwei konservativen Periodika Erklärungen, die sich von der Haltung der liberalen Blätter grundlegend unterschieden und ihre Haltung gegenüber der Republik deutlich widerspiegelten. In der Betrachtung der Kreuzzeitung etwa war der Panamaskandal lediglich ein Symptom des Gesamtzustands der französischen Gesellschaft, nach dessen Abklingen »ein neuer Schwindel beginnen [könne].«637 In Frankreich – so die Zeitung – habe das Korruptions»uebel« die gesamte Gesellschaft unwiderruflich infiziert: »Freilich sind es nicht die Deputierten allein, die sich hier als Parasiten erwiesen haben; […]. Aber die erschreckende, für die Zukunft Frankreichs Böses kündende Thatsache, besteht darin, daß an diesem Riesenschwindel alle oberen Klassen der Gesellschaft und vor allem der Beamtenstand betheiligt sind […].«638

Mit Zitaten dieser Art hob die Kreuzzeitung im Besondern die moralische Unzulänglichkeit der französischen Bürokratie hervor. Doch das konservative Blatt kritisierte nicht nur die Parlamentarier und die Verwaltung, sondern auch den französischen Parlamentarismus per se. Die Kreuzzeitung argumentierte, man könne den Palais Bourbon theoretisch durch Neuwahlen reinigen. Das eigentliche Problem berühre man mit dieser Maßnahme jedoch nicht, denn die Wahlen seien ein ungenügendes Mittel, um den ehrlichen Charakter der französischen Gesellschaft in das Parlament zu tragen.639 Das Parlament sei ein Ort, an dem Worte »doch nichts [seien] als schamlose, eigennützige Lüge, berechnet darauf, in klingende Münze umgesetzt zu werden, um einen Platz zu erkaufen im Tempel, wo hochaufgerichtet das goldene Kalb steht, um das sie tanzen in wildem Reigen, alle, alle […].«640 Mit dieser offensiven Kritik an dem französischen Parlamentarismus war die Kreuzzeitung nicht allein. Auch die Norddeutsche Allgemeine Zeitung fand drastische Worte: Das Blatt leitete den aktuellen politischen und gesellschaftlichen Zustand Frankreichs aus der vermeintlichen Schwäche seines politischen Systems und des Parlamentarismus ab. Es kritisierte die schnellen Regierungswechsel der Dritten Republik und die ständig wechselnden Mehrheitsverhältnisse, die eine instabile Exekutive zur Folge hätten. »Das Schwache und Unsichere, das seinem Wesen anzukleben pflegt«, argumentierte die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, übertrage der Parlamentarismus »auf die gesamte Staatsleitung.«641 Eine kraftlose Regierung erwecke im Parlament außerdem das Bedürfnis, in die Aufgaben der Exekutive einzugreifen. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 30. 11. 1892MA. Ebd. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 1. 12. 1892MA. Neue Preußische Zeitung, Die äußere Politik der Woche, 19. 12. 1892AA. Kritik am Parlamentarismus ähnlich bereits: Dies., Aus Frankreich, 16. 10. 1887. 641 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Politischer Tagesbericht, 15. 12. 1892AA.

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Beispielhaft dafür sei die parlamentarische Untersuchungskommission, die eine Übertragung exekutiver Macht auf Mitglieder der Legislative vorsehe und damit gegen das in der französischen Verfassung verankerte Prinzip der Gewaltentrennung verstoße.642 Darüber hinaus ermutige die Schwäche der Regierung die Parlamentarier, eigene (wirtschaftliche) Partikularinteressen zu verfolgen.643 Die Disposition für ein solches Verhalten sei unter vielen Abgeordneten vorhanden, da die Auswahl geeigneter Kandidaten durch das bestehende Wahlrecht nicht garantiert werde. Stattdessen würden viele Abgeordnete in die Parlamente gewählt, die sich nicht allein an den Interessen des Landes und seiner Bevölkerung orientierten. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung schlussfolgerte: »Eine gründliche Abhilfe gegen parlamentarische Korruption kann keine Kommission gewähren […] sondern nur eine starke Regierung welche die Ausschreitungen des Parlamentarismus, wo immer sie für das Wohl des Ganzen bedrohlich erscheinen mögen, einzudämmen versteht.«644

Die beiden konservativen Periodika untermauerten ihre Parlamentarismuskritik häufig mit Verweisen auf die konservative französische Presse, die – wie im vorangehenden Abschnitt gezeigt – im Rahmen der Korruptionsskandale den Charakter der Republik offen in Frage stellte. Die Kreuzzeitung beispielsweise verwies wiederholt auf die Ausführungen des Figaro und versuchte auf diese Weise, den negativen Eindruck ihrer LeserInnen über die parlamentarische Republik weiter zu schüren.645 Bezogen Kreuzzeitung und Norddeutsche Allgemeine Zeitung eine antiparlamentarische Position im Panamaskandal, so markierte die sozialdemokratische Berichterstattung des Vorwärts deren inhaltlichen Gegenpol. Wie die folgenden Ausführungen (auch im Rahmen des nächsten Abschnitts) zeigen werden, hob sich die sozialdemokratische Parteizeitung in der Berichterstattung über den Panamaskandal dabei gleich in mehrerlei Weise von den anderen Periodika des Untersuchungssamples ab. Das Blatt, das 1892, also erst im zweiten Jahr nach seiner Neugründung, bereits täglich mit einer Auflage von 37.000 Exemplaren verlegt wurde, nutzte die Korruptionsskandale, um eine allgemeingültige Korruptionskritik zu formulieren. Dabei griff das Periodikum Elemente der Korruptionsdefinition auf, die der sozialdemokratische Volksstaat im Skandal der Eisenbahnkonzessionen 1873 verwendet hatte, und erweiterte diese. So entstand eine systemische Definition von Korruption, die eine universelle Kritik an Wirtschaft, Politik und Gesellschaft übte. Der Vorwärts argumentierte, dass Korruption in ihren verschiedenen Erscheinungsformen ein 642 643 644 645

Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Rundschau aus dem Ausland, 15. 11. 1892AA. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Politischer Tagesbericht, 15. 12. 1892AA. Ebd. Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 1. 12. 1892MA.

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unausweichliches Symptom der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sei. Über die wirtschaftliche Komponente hinaus erklärte das Blatt, dass die »Finanzkorruption«, die im Panamaskandal aufgedeckt worden war, zwangsläufig zu einer politischen Korruption geführt habe.646 Der Skandal demonstriere, dass die gesamte politische Führungsriege der Republik, die Parteien und die politische Presse kompromittiert seien. Da allein die Sozialisten der Korruption widerstanden hätten, bildeten sie die einzige Gruppe, die den Kampf gegen die vorhandenen Missstände erfolgreich bestreiten könne.647 Auf diese Weise leitete die Parteizeitung aus den Geschehnissen des Panamaskandals einen politischen Partizipationsanspruch der französischen Sozialisten ab und, mehr noch, die Notwendigkeit einer sozialistisch geprägten Politik. Der Vorwärts forderte die verschiedenen sozialistischen Gruppierungen Frankreichs auf, sich schnellstmöglich unter einem Banner zu vereinen und die Situation in ihrem Sinne zu nutzen. Ziel müsse es sein, sich für die Wahlen im Sommer 1893 in Stellung zu bringen, um zukünftig Einfluss auf die Politik Frankreichs zu nehmen.648 Wie ernst es der Verlagsanstalt mit diesem Appell war, illustriert eine Meldung vom 30. Juli 1893: Der Vorwärts kündigte an, dem sozialistischen Wahlfonds eine Spende von 2.500 Francs zukommen zu lassen.649 Schließlich mahnte das Parteiorgan die französischen Genossen, von Straßenkämpfen und Gewalt Abstand zu nehmen, da ein solches Vorgehen den Widerstand gegen die sozialistische Bewegung schüren würde.650 Aus deutscher Sicht war nicht ein revolutionärer Umsturz das Ziel, sondern die Ausweitung politischer Partizipation und die Veränderung des Systems im Rahmen der bestehenden parlamentarischen Möglichkeiten: »Nicht rückwärts geht es in Frankreich! Nein vorwärts! Vorwärts in die soziale Republik.«651 Hervorzuheben ist, dass die moderaten Ziele des Vorwärts dabei in Kontrast zu einer teils radikalen und sozialistisch aufgeladenen Sprache standen. Diese spezifisch sozialistische Rhetorik muss unter anderem als ein Überbleibsel aus der Exilzeit betrachtet werden, in der sie dazu gedient hatte, die politische Ohnmacht der Bewegung zu kompensieren.652

646 Vorwärts, Der Panamaskandal, 2. 2. 1893. 647 Beispielhaft Vorwärts, Die allgemeine Prostitution, 20. 12. 1892; Ders. Der Anfang vom Ende, 23. 12. 1892. 648 Vgl. bsph.: Vorwärts, Frankreich, 22. 12. 1892, Ders., Frankreich, 30. 12. 1892, Ders., Die Lage in Frankreich II, 29. 1. 1893. 649 Vorwärts, Internationale Solidarität des Proletariats, 30. 7. 1893. 650 Vorwärts, Die französische Krise, 29. 12. 1892. 651 Vorwärts, Der Anfang vom Ende, 23. 12. 1892. 652 Vgl. Stefan Berger: »Marxismusrezeption als Generationserfahrung im Kaiserreich«, in: Klaus Schönhoven (Hrsg.), Generationen in der Arbeiterbewegung, München 2005, S. 200f.; Alex Hall: Scandal, Sensation and Social Democracy. The SPD Press and Wilhelmine Germany 1890–1914, Cambridge/London 1977, S. 20.

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4.4.4 Grenzübergreifende Kontextualisierung der Skandale: Korruptionskommunikation und Kritik am Kaiserreich Die deutsche Presse setzte sich, wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, sehr intensiv mit dem Skandal der Dekorationen und dem Panamaskandal auseinander. Die Interpretation der Ereignisse blieb jedoch in der Mehrzahl der Periodika nicht auf den französischen Kontext beschränkt. Die deutsche Korruptionskommunikation zeichnete sich einerseits durch eine hohe gegenseitige Rezeption der Zeitungen untereinander und andererseits durch eine reflektierte Verortung der Ereignisse in einem europäischen Kontext sowie im Rahmen der politischen Kommunikation des Kaiserreichs aus. Als Ausnahme ist auch an dieser Stelle wieder die Germania ins Feld zu führen, die nur vereinzelt eine solche Kontextualisierung vornahm. Das ganze Ausland sei sich darüber einig, schrieb das katholische Blatt in einer dieser wenigen Passagen im Dezember 1892, »daß der Panamacanal das großartigste Schwindelunternehmen ist, das wir in unserer, hierin so reichen Zeit zu verzeichnen haben.«653 Alle Augen seien auf Frankreich gerichtet. Man erwarte die Blamage einer Republik, die von vielen Staaten mit Neid betrachtete worden sei und eine Vorbildfunktion habe einnehmen wollen. Die Dritte Republik als Ideal, diese Vorstellung habe sich mit dem Panamaskandal zerschlagen.654 Andere Zeitungen hingegen kontextualisierten die Ereignisse deutlich öfter und stärker. Die Vossische Zeitung beispielsweise historisierte den Panamaskandal wiederholt und verortete ihn in einer Abfolge französischer Skandale und politischer Krisen.655 Dabei blieben die Verweise auf zurückliegende Affären oft vage, obgleich das Periodikum nicht davon ausgehen konnte, dass seine Leserschaft all diese Referenzen verorten konnte. Gerade diese Unbestimmtheit verstärkte den Eindruck einer bewegten, episodenhaften Vergangenheit Frankreichs. Über diesen nationalen Vergleich hinaus hob die Zeitung auch Analogien zwischen dem Panamaskandal und verschiedenen europäischen Korruptionsskandalen hervor. So berichtete die Vossische Zeitung im Dezember 1892 beispielsweise wiederholt von dem Zusammenbruch der italienischen Banca Romana, dem sogenannten »Panamino«.656 In ihrer Auffassung stellte der Skandal das »Uebergreifen der Verleumdungsseuche, die gegenwärtig den französischen Volkskörper durchfiebert, auf die italienische Nation« dar.657 Die 653 Germania, Die Panama-Angelegenheit, 18. 11. 1892, Bl. 1; Ähnlich: Dies., Der PanamaScandal in Frankreich, 30. 11. 1892, Bl. 1. 654 Germania, Panama-Skandal und Ministerkrise, 6. 12. 1892, Bl. 1. 655 Beispielhaft Vossische Zeitung, Die Panama Untersuchung, 10. 12. 1892; Dies., Der Panama Skandal, 24. 12. 1892AA. 656 Vossische Zeitung, o. T., 21. 12. 1892. 657 Ebd.

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liberale Zeitung spekulierte verschiedentlich, welche Auswirkungen die französischen Skandale auf das europäische Bündnissystem haben würden. Im Fall des Panamaskandals ging sie beispielsweise davon aus, dass der erzwungene Kabinettswechsel zu einer Annäherung Frankreichs an Russland führen werde.658 Die beiden Beispiele demonstrieren, dass die Vossische Zeitung den Skandal in einen weiteren europäischen Kontext einordnete. Gleichzeitig ist jedoch zu beobachten, dass das Periodikum keinen kritischen Vergleich zwischen der Dritten Republik und dem Kaiserreich vornahm. Stattdessen konzentrierte sich die Vossische Zeitung – besonders nach dem Jahreswechsel 1892/ 93 – darauf, den deutschlandfeindlichen Spekulationen, die auf linksrheinischer Seite im Laufe des Skandals grassierten, entgegenzutreten. So wies sie den antisemitischen Vorwurf vehement zurück, der Panamaskandal sei von deutschstämmigen Juden ausgebeutet worden.659 Die Zukunft der »Alliance franco-russe« beschäftigte auch die Kreuzzeitung.660 Das Blatt berichtete, dass der französische Skandal auch in Russland aufmerksam verfolgt und das russische Interesse im linksrheinischen Nachbarland mit Sorge betrachtet werde. In Frankreich fürchte man, der Bündnispartner möge sich aufgrund der Ereignisse von der Republik distanzieren. Zumindest die russische Presse stehe jedoch auf der Seite Frankreichs und habe »die ganze Angelegenheit jüdischer Korruption in die Schuhe [ge]schob[en] [um] die eigentlichen Franzosen, unverfälscht gallischen Blutes, von aller Schuld reinzuwaschen«.661 In Gatschina, der Residenz des Zaren Alexander III., teile man hingegen die deutsche Sorge um den Ausgang des Panamaskandals, schließlich stehe nicht weniger als der Weltfrieden auf dem Spiel. Im Fortbestand der Republik erblickte die Kreuzzeitung den größten Garanten für den europäischen Frieden, da diese »der zweifelos friedlichen Stimmung der ungeheuren Majorität des französischen Volkes Ausdruck gäbe. Weder die Orleans, noch die Napoleons, noch endlich eine Diktatur können wir wünschen; denn alle diese Kombinationen müßten zu einer Ablenkung der inneren Schwierigkeiten nach außen führen.« Das konservative Periodikum ging daher davon aus, dass auch der Zar den Fortbestand der Republik begrüßen und nicht etwa die Hinwendung Frankreichs zu einer Diktatur unterstützen werde.662 Neben diesen diplomati658 659 660 661

Vossische Zeitung, Das Ministerium Ribot, 6. 12. 1892AA. Vgl. bsph. Vossische Zeitung, o. T., 27. 1. 1893. Neue Preußische Zeitung, Die äußere Politik der Woche, 19. 12. 1892AA. Neue Preußische Zeitung, Auswärtige Politik, 13. 12. 1892MA. Tatsächlich beschäftigte sich von den untersuchten französischen Zeitungen vor allem der Rappel mit den Auswirkungen des Skandals auf die Beziehungen zu Russland. Das republikanische Periodikum argumentierte, die Ereignisse würden das Verhältnis zu Russland nicht stören, vgl. Le Rappel, L’opinion de la Russie, 28. 12. 1892. 662 Neue Preußische Zeitung, Die äußere Politik der Woche, 19. 12. 1892AA.

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schen Überlegungen nahm die Kreuzzeitung – wie auch die Vossische Zeitung – das Deutsche Kaiserreich gegen Gerüchte aus dem Ausland in Schutz, die im Kontext des Panamaskandals kursierten. In Frankreich und Russland bezeichne man die Judenflintenaffäre als deutsches Panama, stellte das Blatt unumwunden fest, doch werde die französische Beamtenschaft keinesfalls so makellos aus dem Skandal hervorgehen, wie dies in Deutschland der Fall gewesen sei. Der Vergleich entstamme allein dem französischen Bedürfnis, die eigene Schwäche auf das Kaiserreich zu projizieren.663 Nicht nur verteidigte die Kreuzzeitung das Kaiserreich gegen offensive Provokationen, verschiedentlich hob sie auch die Überlegenheit der deutschen Monarchie gegenüber Frankreich hervor.664 Für die defensive Positionierung der Kreuzzeitung war nicht nur ihre Haltung zum französischen Parlamentarismus und der Dritten Republik verantwortlich, sie muss auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Entwicklungen im Kaiserreich verortet werden. Mit dem Rücktritt Bismarcks 1890 begann eine Zeit innen- und außenpolitischer Veränderungen. Die von Reichskanzler Caprivi forcierte Politik der Aussöhnung galt vielen Konservativen als Stein des Anstoßes.665 Ihr Widerstand entzündete sich sowohl an der prinzipiellen Bereitschaft Caprivis, nicht mehr nur mit Unterstützung der ›Kartellparteien‹, den Konservativen und Nationalliberalen, zu regieren, als auch an verschiedenen sozialen und wirtschaftlichen Reformvorhaben auf Reichs- und Landesebene.666 Beispielhaft zu nennen sind die industriefreundlichen Handelsverträge Caprivis, welche die Gründung des BdL provozierten, oder die Pläne einer weitreichenden Steuer- und Wahlrechtsreform, die der preußische Finanzminister Johannes von Miquel zwischen 1891 und 1895 sukzessive umzusetzen suchte. In den Augen der konservativen Parteien markierten diese Vorhaben einen Bedeutungsverlust traditionell konservativer Interessen, der zeitlich mit herben Mandatsverlusten bei den Reichstagswahlen von 1890 zusammenfiel. Das starke Wahlergebnis der SPD verdeutlichte darüber hinaus die Notwendigkeit, sich gegenüber der erstarkenden Sozialdemokratie zu 663 Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 13. 12. 1892MA. 664 Beispielhaft ebd.; Ähnlich bereits: Dies., Aus Frankreich, 16. 10. 1897. 665 Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871–1918, Frankfurt a. M.2 2010, S. 154f. Überblick über die Politik Caprivis und seine Beziehung zu den Parteien: John C. G. Röhl.: Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise um Zweiten Kaiserreich 1890–1900, Tübingen 1969, S. 64f. Ebenfalls überblickshaft: Karl Erich Born: »Preußen im deutschen Kaiserreich 1871–1918. Führungsmacht des Reiches und Aufgehen im Reich«, in: Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Handbuch der preußischen Geschichte: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und große Themen der Geschichte Preußens, Berlin 1992, S. 115–122, Kap. 4.I. 666 Beispielhaft die Auseinandersetzung um das neue Volksschulgesetz, vgl. John C. G. Röhl: Wilhelm II. Bd. 2: Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, München 2001, S. 492–508.

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positionieren.667 Diese Phase der Neuorientierung und programmatischen Verunsicherung, die ihren Ausdruck auch in dem sogenannten Tivoli-Programm der Deutschkonservativen Partei fand, prägte die Rezeption des Panamaskandals. Der französische Skandal bot die Möglichkeit, die angeblich korrumpierenden Folgen eines gefürchteten parlamentarischen Machtzuwachses anzuprangern, und stellt damit eine Erklärung für die aggressive Verteidigung konservativer Werte und die vehement antiparlamentarische Haltung der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung und der Kreuzzeitung im Skandal dar. Die beiden konservativen Periodika sowie die liberale Vossische Zeitung pflegten also eine internationale Berichterstattung, die den Panamaskandal in unterschiedlich starker Ausprägung in der Innen- wie auch Außenpolitik verortete. Trotz unterschiedlicher Schwerpunktlegung und Interpretation war den Periodika gemein, dass sie im Rahmen der Skandalberichterstattung nicht kritisch über das Kaiserreich reflektierten, sondern es gegen Spekulationen und Gerüchte verteidigten. Vor allem die konservativen Periodika nutzten die französischen Korruptionsskandale, um ein positives Bild des Kaiserreichs zu zeichnen und konservative Werte zu beschwören. Das Vorgehen des Berliner Tageblatts und des Vorwärts schließlich hob sich noch einmal deutlich von dieser Art der Berichterstattung ab. Beiden Blättern gelang es, den Panamaskandal zu nutzen, um kritisch über die deutsche Innenpolitik zu reflektieren, wenngleich die zwei Zeitungen dabei unterschiedliche Thematiken adressierten. Die Berichterstattung des Berliner Tageblatts war stark von der Judenflintenaffäre und der Wahl Hermann Ahlwardts in den Deutschen Reichstag im Winter 1892 beeinflusst. In einem langen Artikel skizzierte Chefredakteur Levysohn die Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen Antisemitismus, den er durch Ahlwardt repräsentiert sah, und den im Panamaskandal engagierten Boulangisten. Er vertrat die Meinung, dass beide Gruppierungen nicht nur das Interesse der gesamten »civilisirten Welt« auf sich gezogen hätten, sondern auch auf verwandte Ursachen zurückzuführen seien.668 Laut Levysohn rekrutierten sich die zwei »Strömungen« aus den unzufriedenen Elementen der Bevölkerung, die sich unter einem Banner zusammengeschlossen hätten und von einer gemeinsamen Idee getragen seien: dem Umsturz des bestehenden politischen Systems. So erhielten die Boulangisten angeblich Unterstützung aus den Reihen der Orl8anisten, aber auch von enttäuschten Republikanern und Katholiken. Ahlwardts Anhänger hingegen speisten sich nach Levysohns Auffassung vor allem aus dem Lager der Konservativen, die in dem Antisemitismus eine Möglichkeit erblickten, ihre Popularität zu steigern – ein Umstand, den Levysohn in den vorange-

667 Vgl. Stalmann, Die Partei Bismarcks, S. 454f. 668 Vgl. im Folgenden: Berliner Tageblatt, Politische Wochenschau, 12. 12. 1892MA.

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gangenen Wochen wiederholt kritisiert hatte.669 Die beiden heterogenen Gruppierungen seien in ihren Umsturzideen geeint, deren Gelingen sie bewusst forcierten: Ahlwardt durch seine Agitation gegen das angeblich korrumpierte Heer und den Beamtenstand, die französischen Boulangisten durch ihre »künstliche Vergrößerung« des Panamaskandals. Dabei, so Levysohn, seien »für beide […] die Logik der Thatsachen nicht mehr maßgebend«. Er schlussfolgerte: »Fast gewann es den Anschein, als ob die Auflösung des festen Staatsgebäudes, auf das wir in Preußen-Deutschland von jeher so stolz gewesen, erschreckende Fortschritte gemacht habe.«670 Die Analyse Levysohns zeugt von einer differenzierten und intensiven Auseinandersetzung der Redaktion mit den Ereignissen in Frankreich und dem Kaiserreich. Der Chefredakteur des Berliner Tageblatts setzte auf schlüssige Weise die politischen Situationen auf beiden Seiten des Rheines miteinander in Verbindung. Die Schwäche der Republik, die sich im Panamaskandal offenbarte und die in der deutschen Presse so breit diskutiert wurde, verglich er unmittelbar mit dem Zustand des Kaiserreichs. Er argumentierte, dass beide Länder und ihre jeweilige politische Ordnung von einer ähnlich konstituierten Gefahr bedroht seien. Damit stellte er die Republik auf eine Stufe mit der konstitutionellen Monarchie und demonstrierte die Verletzbarkeit beider Staatsformen. Levysohn leitete aus seinem Vergleich aber nicht nur Erkenntnisse über den Zustand des Kaiserreichs ab, sondern formulierte auch einen Handlungsauftrag: Er plädierte für ein entschlossenes Vorgehen gegen den Antisemitismus, der »selbst vor den Stufen des Thrones nicht Halt« mache und »die bestehende Gesellschaftsordnung […] von der rechten Seite aus zu unterwühlen« suche.671 Stärker noch als das Berliner Tageblatt nutzte schließlich der sozialdemokratische Vorwärts den Panamaskandal als Spiegel, um über die Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich zu reflektieren. Dabei unternahm das Parteiblatt einerseits den Versuch, die Republik gegen antiparlamentarische Angriffe zu verteidigen, und versuchte andererseits, im Gegenzug aus dem Korruptionsskandal auch eine Kritik am Kaiserreich abzuleiten. Von Anfang an rezipierte der Vorwärts die deutsche sowie die französische Skandalberichterstattung aktiv und setzte sich regelmäßig mit ›gegnerischen‹ Positionen auseinander. Besonders aufmerksam widmete sich der Vorwärts dabei der Kritik, die von konservativer Seite an Republik und Parlamentarismus geübt wurde. Ausschlaggebend dafür war sicherlich nicht allein die inhaltliche Differenz, die zwischen derartigen Äußerungen und der Position des Vorwärts 669 Vgl bsph. Berliner Tageblatt, o. T., 25. 11. 1892A; Dass., Die Wahl in Friedberg-Arnswalde, 26. 11. 1892AA. 670 Berliner Tageblatt, Politische Wochenschau, 12. 12. 1892MA. 671 Ebd.

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bestand. Vor dem Hintergrund jahrelanger politischer Unterdrückung musste allein die öffentliche Propagierung antiparlamentarischer Werte, die im Gegensatz zu den eigenen Idealen standen, bei den Sozialdemokraten für Missfallen sorgen. Mit der Verteidigung der Republik gegen ihre Kritiker stand der Vorwärts für ein politisches System ein, welches die Sozialdemokratie der konstitutionellen Monarchie vorzog und das sozialdemokratische Theoretiker wie Karl Kautsky zu einem notwendigen Entwicklungsschritt in Richtung Sozialismus erklärt hatten.672 Aus diesem Grund karikierte der Vorwärts die Position von Periodika wie der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung wiederholt und versuchte, diese zu widerlegen. Dazu verwies das Parteiorgan beispielhaft auf die Geschichte Frankreichs. Diese illustriere, dass Korruption nicht allein in der Republik, sondern auch unter der Führung von Monarchen wie Napoleon I. oder Louis Philippe vorhanden gewesen sei: »Allein das [die Ausbreitung der Korruption] liegt nicht an der Staatsform, sondern an der Entwicklung des Kapitalismus, der seitdem ins Riesenhafte gewachsen ist.«673 Doch trotz der Expansion des Kapitalismus sei die Republik nicht dem Untergang geweiht. Der Vorwärts argumentierte, dass das politische System Frankreichs nicht mit seinen korrumpierten politischen Anführern gleichzusetzen sei. Wie das Beispiel der Sozialisten zeige, seien in Frankreich noch immer ausreichend »gesunde Elemente« vorhanden, um den Fortbestand der Republik auch gegen eventuelle Umsturzversuche zu sichern.674 Die Zeitung schlussfolgerte: »Der Parlamentarismus, obwohl wir ihn nicht für die beste Regierungsform halten, [zieht] wenigstens die Schandthaten an’s Tageslicht über welche die Monarchie, ob legitime oder bonapartistische, ein so dichten Schleier zu ziehen wußte.«675 Wie auch im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, sprach sich der Vorwärts für den Fortbestand der französischen Republik und damit gegen den revolutionären Umsturz aus. So befand sich das Parteiblatt in einem ständigen Spagat zwischen pragmatischer Notwendigkeit und realpolitischen Forderungen – also der Verteidigung der Republik gegen antiparlamentarische Kräfte – einerseits und theoretischer Radikalität andererseits. Auch in späteren Jahren sollte der Vorwärts ein Mittelmedium zwischen diesen Positionen darstellen, die sich in der Partei in Richtungs- und Flügelstreits niederschlugen.676 672 Mark Hewitson, National Identity and Political Thought in Germany. Wilhelmine Depictions of the French Third Republic, 1899–1914, Oxford 2000, S. 190. 673 Vorwärts, Die allgemeine Prostitution, 20. 12. 1892. 674 Beispielhaft Vorwärts, Der Panama-Skandal, 27. 11. 1892; Ders., Der Panama-Skandal, 11. 12. 1892. 675 Vorwärts, Der wahre Schuldige …, 10. 12. 1892. 676 Zu den Richtungsstreitigkeiten zwischen Radikalismus, Attentismus und Reformismus in der SPD vgl. einführend: Dieter K. Buse: »Party Leadership and Mechanisms of Unity : The crisis of German Social Democracy reconsidered, 1910–1914«, in: The Journal of Modern History 62 (1990), Nr. 3, S. 477–502; Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer

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Doch der Vorwärts verteidigte nicht allein die Republik, er kritisierte auch den Status quo in Deutschland. Die Basis hierfür bildete bereits die sozialdemokratische Korruptionsdefinition, die Korruption als Folgeerscheinung des Kapitalismus interpretierte. Der Vorwärts argumentierte: »Der Kapitalismus ist international und seine Korruption desgleichen.«677 Somit konnte es sich bei Korruption nicht allein um ein französisches Phänomen handeln, sondern um eine Erscheinung, die alle Länder mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung betraf. Als Beleg hierfür verwies das Blatt beispielhaft auf prominente Korruptionsskandale in anderen Ländern, etwa in Italien oder in den USA.678 Doch auch das Kaiserreich war gemäß dieser Definition zwangsläufig von Korruption betroffen. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung Deutschlands stellte stets ein vieldiskutiertes Thema des Vorwärts dar und so implizierte das Parteiorgan allein durch die Wiederholung seiner Korruptionsdefinition die Korruptionsanfälligkeit des Landes – ohne Kritik überhaupt direkt formulieren zu müssen.

4.4.5 Korruptionskommunikation als Instrument der sozialdemokratischen Skandalberichterstattung am Beispiel der »Bochumerei« (1892) Direkte Kritik an der deutschen Politik zu üben, stellte sich als ein delikates Unterfangen für den sozialdemokratischen Vorwärts dar. Den Redakteuren waren die Beschränkungen der Zensur jederzeit gewahr. Die Redaktion beschäftigte zu diesem Zweck eigens einen Mitarbeiter, der die Artikel des Blattes auf ihre Verträglichkeit mit den rechtlichen Bestimmungen prüfte.679 Um nicht mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, versuchte das Parteiblatt, Vorgehensweisen zu entwickeln, die Kritik implizierten, den Zensoren jedoch keine Anhaltspunkte boten. Zu diesem Zweck bediente sich der Vorwärts vielfältiger Verweise auf historische und zeitgenössische, nationale wie internationale Korruptionsdebatten, welche seine Darstellung und Argumentation durchzogen. Das Blatt suggerierte eine kausale Verbindung zwischen vergangenen oder fremden Korruptionsdebatten und aktuellen Geschehnissen und leitete auf diese Weise Kritik an der Gegenwart aus der Geschichte ab. Die Art der Verweise, die der Vorwärts nutzte, war dabei sehr unterschiedlich: Mal waren sie explizit, mal Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a. M. 1973; Carl E. Schorske: Die große Spaltung. Die Deutsche Sozialdemokratie 1905–1917, Berlin 1981. 677 Zitat: Vorwärts, Ein kleines Panama – In Italien, 21. 12. 1892. Auch: Ders., Die »Staatserhaltenden Kräfte«, 31. 12. 1892; Ders., Fäulniß, 7. 12. 1892. 678 Beispielhaft: ebd.; Ders., Die Korruption in Amerika, 21. Oktober 1892; Ders., Vom italienischen Panama I., 1. 2. 1893; Ders., Ein englisches Panama, 5. 2. 1893. 679 Hermann Schueler : Trotz alledem: Der Vorwärts-Chronist des anderen Deutschland, Berlin 2006, S. 245. Vgl. auch: Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy, S. 64f.

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vage formuliert, an prominenter Stelle platziert oder eher im Hintergrund angebracht. Um sie analytisch verorten und der Argumentation des Vorwärts folgen zu können, ist daher eine grundlegende Kenntnis der geschichtlichen Umstände der frühen 1890er Jahre sowie damals bereits vergangener Korruptionsdebatten notwendig. Der Gebrauch historischer Verweise in der Korruptionskommunikation war keine Erfindung des Vorwärts. Schon der Volksstaat hatte auf zurückliegende Korruptionsdebatten Bezug genommen (vgl. Kap. 2), und auch Periodika anderer politischer Gesinnungsrichtungen verwiesen auf vergangene Skandale, um ihre Argumentation zu stützen. Was den Gebrauch derartiger Referenzen in der Berichterstattung des Vorwärts 1892 besonders machte, war ihre wiederholte und systematische Verwendung: Der Vorwärts nutzte die Tatsache, dass verschiedene Korruptionsfälle Teil des nationalen Gedächtnisses geworden waren, an die er mittels Verweisen erinnern konnte. Er verwob die Fälle in ein Narrativ, das Zusammenhänge zwischen den einzelnen Korruptionsdebatten suggerierte. Diese Verbindungen konstruierte er mittels Argumentations- und Interpretationsstrukturen, die sodann in fremde Kontexte transferiert werden konnten. Wie verschiedene Beispiele zeigen, schlug das Parteiblatt so eine argumentative Brücke von Frankreich der Vergangenheit bis ins Kaiserreich/die Gegenwart und wendete seine Korruptionskritik auf deutsche Verhältnisse an. Als erstes Exempel sei der Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen genannt, der einen beliebten historischen Referenzpunkt des Vorwärts darstellte. Mit Blick auf die Entwicklung des Panamaskandals argumentierte die Zeitung, die französische Untersuchungskommission werde aus den gleichen Gründen an der Aufklärung der Korruption scheitern wie ihr deutsches Pendant 1873: »Wer selbst Schmutz am Stecken hat, hütet sich, schmutzige Dinge aufzurühren.«680 Mit dieser Argumentation indizierte der Vorwärts, dass sich die Korruption in Frankreich ihren Weg bis in die Politik gebahnt habe und von dieser gedeckt werde. Durch den Vergleich mit der deutschen Korruptionsdebatte übte das Parteiblatt zugleich aber auch Kritik am deutschen Kaiserreich. Der Vorwärts nutzte den Verweis auf den »Lasker’schen Tugendfall«, um einerseits einen Bezug nach Deutschland herzustellen und zu demonstrieren, dass nicht nur im Ausland, sondern auch im Kaiserreich Korruption vorhanden war.681 Eingebettet in die Berichterstattung um den Panamaskandal wurde der/ die LeserIn implizit angehalten, die Korruptionserscheinungen in Deutschland in analoger Strenge und entlang der sozialdemokratischen Korruptionsdefinition zu beurteilen. Sie sollten als Folge der wirtschaftlichen Fehlentwicklung hin 680 Zitat: Vorwärts, Nichts Neues unter der Sonne, 23. 11. 1892.Vgl. bsph. auch: Ders., Der Panama-Skandal, 26. 11. 1892; Ders., Fäulniß, 7. 12. 1892. 681 Vorwärts, Nichts Neues unter der Sonne, 23. 11. 1892.

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zum Kapitalismus verstanden werden, die zwangsläufig zu politischer Korruption führe und daher einen sozialdemokratischen Handlungsauftrag impliziere. Andererseits diente der Verweis auf die Korruptionsdebatten von 1873 dem Vorwärts dazu, Parallelen zwischen den Fällen hervorzuheben bzw. zu konstruieren und daraus allgemeine Schlussfolgerungen abzuleiten. So fungierte die Erinnerung an den Misserfolg der Lasker’schen Untersuchungskommission als Rüge; der Vorwärts beanstandete auf diese Weise den ungenügenden Umgang mit den Korruptionserscheinungen des Kaiserreichs. Aus dem Vergleich mit dem Panamaskandal schlussfolgerte das Blatt sodann, dass die Korruption in Frankreich bekämpft werde, während man sie in Deutschland zu verdecken suche.682 Hier zeigt sich, dass die Argumentation des Vorwärts inhaltlich nicht immer kongruent war und sich stark an der Entwicklung des Skandalgeschehens orientierte: Zum einen nutzte die sozialdemokratische Zeitung den Vergleich zwischen dem französischen Korruptionsskandal und den historischen Korruptionsdebatten des Kaiserreichs, um den Misserfolg der französischen Untersuchungskommission zu prognostizieren, zum anderen betonte sie auch die moralische Überlegenheit Frankreichs im Kampf gegen die Korruption. Ein weiterer beliebter Referenzpunkt des Vorwärts war die sogenannte Bochumerei.683 Dabei handelte es sich anfangs um eine kommunale Auseinandersetzung, die bald jedoch reichsweit rezipiert wurde. Das sozialdemokratische Parteiorgan hatte den Fall seit dem Jahre 1891 verfolgt, nutzte ihn aber erst im Kontext des Panamaskandals systematisch im Rahmen seiner Korruptionskommunikation. Das Beispiel der Bochumerei illustriert exemplarisch, wie der Vorwärts inhaltlich unterschiedliche Debatten miteinander verknüpfte, Argumentationen transferierte und auf diese Weise eine Kritik am Kaiserreich formulierte, die explizit und zugleich doch so vage war, dass sie unangreifbar blieb. Im Mittelpunkt des Geschehens stand Johannes Fusangel, ein Bochumer Zentrumspolitiker und Journalist, der aufgrund seines politischen Engagements als »roter Johannes« auch über die Grenzen des Ruhrgebietes hinaus Bekanntheit erlangt hatte.684 Zwischen Juli und Dezember 1890 veröffentlichte Fusangel eine aufsehenerregende Artikelserie, in der er Mitglieder verschiedener Kommunalbehörden sowie prominente Bürger der Stadt bezichtigte, die Praktik der Einkommenssteuereinschätzung missbraucht und »Vetternwirtschaft« und 682 Beispielhaft Vorwärts, Patriotisches Pharisäerthum, 6. 12. 1892. 683 Beispielhaft Vorwärts, Der Prozeß Baare-Fusangel, 6. 10. 1892. Der Vorwärts verwendete verschiedene Begriffe, um unterschiedliche, angeblich korrupte Vorgänge in Bochum zu bezeichnen, so bspw. »Schienenflickerei«, »Stempelfälschungen« oder »Steuerprozeß«. Unter dem Begriff der »Bochumerei« fasste die Zeitung alle Ereignisse zusammen. 684 Zu Fusangel sind wenige biographische Daten bekannt. Vgl. Bernd Haunfelder : Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei, 1871–1933. Biographisches Handbuch und Historische Photographien, Düsseldorf 1999, S. 159f.

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Bevorteilung betrieben zu haben.685 Im Zentrum seiner Kritik stand Louis Baare, Direktor des Stahl- und Bergwerkes Bochumer Verein. Ihm warf der Zentrumspolitiker vor, das Interesse seines Betriebes »systematisch und erfolgreich auf Kosten der Bochumer Bürgerschaft vertreten und […] sich bestrebt [zu haben], einen möglichst großen Theil der […] Lasten auf die Bürgerschaft abzuwälzen.«686 Baare sei es mittels seiner hervorgehobenen gesellschaftlichen Stellungen gelungen, verschiedene kommunale Gremien mit seinem Personal oder ihm verbundenen Personen zu besetzten und auf diese Weise die Interessen seines Unternehmens zu protegieren.687 Gegen Fusangel wurde Klage erhoben, und im Juni 1891 wurde der Zentrumspolitiker vom Essener Landgericht wegen Beleidigung verurteilt.688 Das Verfahren erfuhr reichsweite Beachtung, da Fusangel vor Gericht aussagte, der Bochumer Verein vertreibe wissentlich mangelhafte, sogenannte »geflickte Schienen«.689 Diese neuen Vorwürfe hatten mehrerlei Konsequenzen: Sie resultierten in einem Verfahren gegen Mitarbeiter des Bochumer Vereins, mehreren Untersuchungen des preußischen Handelsund Justizministeriums sowie einer zweiten Beleidigungsklage gegen Fusangel.690 Insgesamt beschäftigte die Bochumerei, die mit der Artikelserie Fusangels 685 Rheinisch Westfälische Volkszeitung, Artikelserie, 5.7.–17. 12. 1890. Fusangels Artikel müssen vor dem Hintergrund einer landesweiten Reformbewegung zur Modernisierung der preußischen Einkommenssteuergesetzte sowie kommunaler Parteistreitigkeiten betrachtet werden. Für einen Überblick über die Reformationsbestrebungen vgl. Andreas Thier : Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie. Staatssteuerreformen in Preußen 1871–1893, Frankfurt a. M. 1999; Walter Mathiak: Das preußische Einkommensteuergesetz von 1891 im Rahmen der Miquelschen Steuerreform 1891/93. Vorgeschichte, Entstehung, Begleitgesetze, Durchführung, Berlin 2011. Einen zeitgenössischen Einblick in die verschiedenen kommunalpolitischen Motive sowie ein Zeugnis derselben bietet Frantz Perrot: »Die Schienenflickerei und ihre juristische Behandlung im ›Rechtsstaate‹ Preußen. Zum Fall Baare in Bochum«, in: Dr. Perrots Monatsschrift 6 (1891), S. 169–182; o. A.: Ultramontane Vorspanndienste für die Sozialdemokratie. Eine sachgemäße Beleuchtung der Motive für die von Herrn Fusangel erhobenen Beschuldigungen in der Steuer- und Stempelangelegenheit (9 Leitartikel des Rheinisch-Westfälischen Tageblatts), Bochum 1891. 686 Rheinisch Westfälische Volkszeitung, Gleiches Recht für Alle III., 7. 8. 1890. 687 Vgl. bsph. ebd.; Dies., Die Bochumer Stadtverordneten-Wahlen I., 14. 11. 1890. Vgl. auch Marco Rudzinski: Ein Unternehmen und »seine« Stadt: Der Bochumer Verein und Bochum vor dem Ersten Weltkrieg, Essen 2012, S. 304f. 688 Politisch gefärbter Prozessbericht: o. A.: Der Bochumer Steuerprozeß 1891. Verhandlungen der Strafkammer des königlichen Landgerichts zu Essen am 1. bis 6., 8., 9., 11., 12. und 19. Juni gegen die Redakteure der »Westfälischen Volkszeitung« in Bochum. Chefredakteur Fusangel und verantwortlicher Redakteur Lunemann, Hagen 1891. 689 Vgl. bsph. Die Prozessberichterstattung des Berliner Tageblatts, 1.–13. 6. 1891. Die Vorwürfe erregten vor dem Hintergrund verschiedener Eisenbahnunglücke und einem aufgrund ähnlicher Vorwürfe angestrengtem, reichsweit rezipierten Prozess gegen die Marienhütte zu Osnabrück (1887) große Aufmerksamkeit. 690 Das Verfahren gegen Mitarbeiter des Bochumer Vereins fand im Juli 1892 vor dem Landgericht Essen statt und wurde von allen großen Zeitungen verfolgt. Die Unterlagen der

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1890 begonnen hatte, die Öffentlichkeit des Kaiserreichs episodenhaft bis in den Herbst 1892 hinein. Nach der Enthüllung der sogenannten Schienenflickerei änderte sich der Tenor der medialen Debatte: Die Korruptionsvorwürfe, die Fusangel gegen die kommunale Verwaltung erhoben hatte, traten in den Hintergrund. Das öffentliche Interesse konzentrierte sich stattdessen auf die Betrugsfälle in den Werken des Bochumer Vereins und auf die praktischen Auswirkungen, die diese auf die Wirtschaft und ihr internationales Renommee haben würden. Obgleich der Aspekt der Korruption nicht mehr im Fokus der öffentlichen Rezeption stand, thematisierte der Vorwärts die Bochumerei dennoch im Rahmen der deutschen Berichterstattung über den Panamaskandal. Im Kontext der Korruptionsdebatte betrachtet, war dieses Vorgehen nicht abwegig: Als der Panamaskandal im Winter 1892 einen ersten Höhepunkt erlebte, lag die letzte Episode der Bochumerei, der zweite Beleidigungsprozess gegen Fusangel, erst wenige Wochen zurück. Die Geschehnisse in der Ruhrstadt, die im Verlauf der letzten zwei Jahre reichsweite Bekanntheit erlangt hatten, waren der Leserschaft somit noch einmal frisch in Erinnerung gerufen worden. Auch hatte der Vorwärts in seiner Berichterstattung Signalworte wie »Bochumerei« oder »Schienenflickerei« geprägt, durch die er besonders leicht auf den Fall verweisen konnte. Diese Umstände machte die Bochumerei im Kontext der sozialdemokratischen Korruptionskritik zu einem idealen Beispiel für einen aktuellen, deutschen Korruptionsfall. Dabei war es für das Parteiblatt nicht von Relevanz, dass die Korruptionsvorwürfe Fusangels gegen Ende der öffentlichen Debatte nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatten. Der Vorwärts interpretierte die Ereignisse in Bochum geschlossen als Ausdruck moralischer Korruption, die das Blatt entlang seiner Korruptionsdefinition als Konsequenzen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs beschrieb.691 In den Augen des Vorwärts illustrierte die »Schienenflickerei« exemplarisch, dass die Großindustrie ihren kapitalistischen Interessen Vorrang vor menschlichen Bedürfnissen einräume und sich dabei allerlei korrupter Praktiken bediene.692 Die sozialdemokratische Kritik am Kapitalismus bildete damit die Klammer, welche die verschiedenen Vorgänge in Bochum zusammenhielt und es ermöglichte, sie allesamt als korrupt zu charakterisieren. Argumentativ verknüpfte der Vorwärts die Bochumerei in unterschiedlicher Weise mit der Berichterstattung über den Panamaskandal. Wie auch der Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen dienten die Ereignisse in Bochum internen Untersuchungen sind im GStA PK einzusehen: Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49799; GStA PK, I. HA Rep. 84a, ML Nr. 17126; GStA PK, I. HA Rep. 120, C IX 1, Nr. 39. 691 Beispielhaft Vorwärts, Baare und Fusangel, 7. 10. 1892; Ders., Fäulniß, 7. 12. 1892. 692 Beispielhaft Vorwärts, Der Bochumer Prozeß, 12. 6. 1891; Ders., In der Baare’schen Stempelfälschungs-Angelegenheit, 25. 6. 1891; Ders., Der Ast auf dem wir sitzen, 20. 6. 1891.

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dem Vorwärts als Beispiel, das der Leserschaft die Existenz und Ausmaße deutscher Korruption vor Augen führen sollte. Das Parteiblatt nutzte die Bochumerei jedoch nicht nur, um korrupte Zustände nachzuweisen, sondern auch, um die Bigotterie der deutschen Gesellschaft während des Panamaskandals zu kritisieren. Während die nationale Presse über die Zustände in Frankreich spotte, werde in Deutschland Korruption nicht nur verleugnet, sondern auch verdeckt: »›[…] Der Panama-Skandal – welcher Schmutz! So etwas hätte bei uns nicht vorkommen können!‹ Ei! Ei! Ist das Gedächtnis so kurz? Hat Bruder Pharisäer die Schienenflickerei vergessen? Freilich – die Schienenflickerei ist hübsch moralisch vertuscht worden, wohingegen die unmoralischen Franzosen die Giftblase des Panama-Skandals aufgestochen haben […] und mit dem Schuldigen ins Gericht gehen.«693

Mit solchen Aussagen prangerte der Vorwärts den Umgang mit Korruption in Deutschland an und zeichnete ein negatives Bild des Kaiserreichs im Vergleich zu Frankreich. Damit trat das Parteiblatt konservativen Zeitungen entgegen, die den Panamaskandal nutzten, um die moralische Überlegenheit des Reiches zu deklarieren. Die Argumentation des Vorwärts richtete sich aber nicht nur gegen die Aussagen der gegnerischen Presse. In der Interpretation der Parteizeitung war Korruption eine Zerfallserscheinung und unbedingte Konsequenz des Kapitalismus. Sie innerhalb deutscher Grenzen nachzuweisen, bestätigte die sozialdemokratische Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der deutschen Gesellschaft. Wie das obige Zitat zeigt, artikulierte das Blatt diese Argumentationskette jedoch nicht immer explizit. Es ist anzunehmen, dass die Redaktion darauf hoffte, dass der/die Vorwärts-LeserIn durch die regelmäßige Lektüre der Zeitung die sozialdemokratische Korruptionsdefinition und Kapitalismuskritik kannte und diese Zusammenhänge selbst evozieren würde. Bestenfalls sollte allein der Verweis auf die deutschen Korruptionsdebatten diese Assoziationskette anstoßen. Auf diese Weise artikulierte der Vorwärts eine Kritik an den deutschen Zuständen, die authentisch erschien, da sie sich auf Beispiele stützte, gleichzeitig aber höchst vage und unangreifbar blieb, da kein direkter Vorwurf formuliert wurde. Grundlegend für eine derartige implizite Art der Kritikäußerung war auch, dass verschiedene Argumentationsmuster über Jahre wiederholt und zwischen oder innerhalb von Korruptionsdebatten transferiert wurden, wie an einem Beispiel verdeutlicht werden soll. Eines der Argumentationsmuster, das während des gesamten Untersuchungszeitraums fester Bestandteil der Vorwärts’schen Korruptionskommunikation war, besagte, dass Korruption einzig von einem sozialdemokratischen

693 Vorwärts, Patriotisches Pharisäerthum, 6. 12. 1892.

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bzw. sozialistischen Standpunkt aus erfolgreich bekämpft werden könne.694 Entlang dieser Prämisse konnten die Aussagen und Forderungen des Vorwärts nur als legitim und korrekt interpretiert werden, während abweichende Ansichten automatisch delegitimiert wurden. Im Kontext des Skandals um die preußischen Eisenbahnkonzessionen beispielsweise erklärte der sozialistische Volksstaat, dass Lasker ein Mann des »Systems« sei und daher »seiner Natur nach überhaupt nicht das Zeug [habe], einem Krebsschaden fest auf den Leib zu rücken.«695 Zwei Dekaden später argumentierte der Vorwärts während des zweiten Beleidigungsprozesses gegen Johannes Fusangel in gleicher Weise. Der Zentrumspolitiker hatte sich im Oktober 1892 mit dem Kläger Louis Baare auf einen Vergleich geeinigt, woraufhin das Verfahren niedergelegt worden war und das öffentliche Interesse an der Bochumerei abgenommen hatte.696 Zwar würdigte der Vorwärts die Initiative Fusangels im Kampf gegen die Korruption, doch verurteilte er den Vergleich als Niederlage, die auf die Klassenzugehörigkeit des Zentrumspolitikers zurückzuführen sei. Dieser sei »selbst Bourgeoisie, selbst verbunden durch unlösliche Bande mit der angefaulten Gesellschaft, als welcher er einzelne Vertreter zu bekämpfen begann […].«697 Somit sei es Fusangel unmöglich gewesen, gegen die Korruption zu bestehen, da man diese nur von »proletarisch […], sozialistische[r]« Warte aus erfolgreich bekämpfen könne.698 Diese grundlegende These untermauerte zugleich den Anspruch der Sozialdemokratie auf politische Partizipation: Als einzige Partei, die imstande sei, den korrupten Verfall der Gesellschaft zu stoppen, musste es ihre Aufgabe sein, die Gesellschaft nach sozialistischen Vorstellungen umzugestalten. Genau diese Interpretation wandte der Vorwärts an, um aus dem Panamaskandal einen konkreten Handlungsauftrag für die französischen Sozialisten abzuleiten. Als einzige unkorrumpierte Partei sei nur sie zu politischem Handeln legitimiert. Die Sozialisten seien der Garant für den Fortbestand der Republik; ihnen komme die Aufgabe zu, den Panamaskandal zu nutzen, um zukünftig die französische Politik zu gestalten.699 Dass der Vorwärts den französischen Korruptionsskandal deutlich kritisierte und sich mit klaren Worten an die französischen Sozialisten wandte, wenngleich er seine Kritik am Deutschen Kaiserreich möglichst implizit formulierte, ist wenig überraschend. Die Unterschiede in Staatsgefüge und -aufbau sowie die 694 Vgl. bsph. Vorwärts, Baare und Fusangel, 7. 10. 1892. 695 Volksstaat, Corruption, 22. 1. 1873. 696 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49799, Bericht des Oberstaatsanwalts des kngl. Oberlandesgericht an den kngl. Staats- und Justizminister Scheeling vom 7. 10. 1892. Beispielhaft auch die Berichterstattung des Vorwärts, 4.–7. 10. 1892. 697 Ebd.; Zitat: Ders., Baare und Fusangel, 7. 10. 1892. 698 Ebd. 699 Vgl. bsph. Ders., Der Anfang vom Ende, 23. 12. 1892.

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politisch und ideologisch divergierenden Entwicklungen erzeugten eine Distanz, die es ermöglichte, Kritik zu äußern, ohne dass diese automatisch übertragbar oder mehrdeutig erschien. Diesen Freiraum nutzte der Vorwärts in seiner Berichterstattung, um seine Korruptionsdefinition zu schärfen und seine Korruptionskritik klar zu formulieren. Gleichzeitig zeigte die Analyse aber auch, dass das Parteiblatt die Reflexion über das Kaiserreich bewusst anstrebte. Zu diesem Zweck verknüpfte der Vorwärts Korruptionsdebatten unterschiedlicher lokaler oder zeitlicher Kontexte durch Argumentationen, die gleichsam auf den deutschen Kontext übertragbar waren. So implizierte er Kritik, ohne diese explizit formulieren zu müssen. Damit unterschied sich der Vorwärts von anderen Periodika, die in Korruptionsdebatten zwar historische Referenzen verwendeten, jedoch selten ein Narrativ aus historischen Bezügen und Argumentationsmustern knüpften. Stattdessen hat die Analyse gezeigt, dass liberale und konservative Zeitungen im Vergleich oftmals eine sehr viel direktere Kritik an den politischen Entwicklungen des Kaiserreichs übten. Nie stellten sie jedoch den Kern der Staatlichkeit – die konstitutionelle Monarchie als solche – in Frage. Auch der Vorwärts nahm von einer derart grundlegenden Kritik des staatlichen Gefüges Abstand und forderte zum Beispiel im Fall der französischen Sozialisten sogar zur Mitarbeit innerhalb des politischen Systems auf. Auffällig an der Kritik, die der Vorwärts in den 1890er Jahren im Kontext der Korruptionsdebatten formulierte, ist schließlich auch, dass sie selten die aktuelle Politik des Reiches adressierte. Stattdessen richtete der Vorwärts den Blick wiederholt in die Vergangenheit und fasste dabei besonders die Politik des ehemaligen Reichskanzlers Bismarck ins Auge, wie das abschließend zu untersuchende Beispiel der Welfenfond-Skandalierung zeigt.

4.4.6 Nachspiel: Der Welfenfondsskandal. Sozialdemokratische Versuche der Nebenskandalierung Im Rahmen der deutschen Debatte um den Panamaskandal verknüpften liberale und konservative Blätter ihre Berichterstattung über den französischen Korruptionsfall wiederholt mit Hinweisen auf tagespolitische Ereignisse des Kaiserreichs. So thematisierte Arthur Levysohn, Chefredakteur des Berliner Tageblatts, die wachsende Popularität des politischen Antisemitismus am Beispiel Hermann Ahlwardts, und konservative Zeitungen reagierten mit deutlicher Parlamentarismuskritik auf eine Phase empfundener politischer Unsicherheit. Der sozialdemokratische Vorwärts hingegen vermied – wohl nicht zuletzt aufgrund möglicher Zensur – die allzu direkte Kritik an der aktuellen Politik des Reichs. Wie am Beispiel der Bochumerei aufgezeigt werden konnte, konzentrierte sich das Parteiblatt vorzugsweise auf Ereignisse der Vergangenheit, um

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auf diese Weise implizite Aussagen über die Gegenwart zu treffen. Auf dem Höhepunkt des Panamaskandals nutzte der Vorwärts vergangene Ereignisse, um in der Gegenwart eine neue politische Affäre zu initiieren: Das Parteiorgan attackierte den ehemaligen Reichskanzler Bismarck mit Vorwürfen der Korruption und stellte Vertreter der Politik und Presse unter den Generalverdacht der Bestechlichkeit. Obgleich dieser Versuch der Nebenskandalierung in seinen Ausmaßen nicht mit der (deutschen) Debatte um den Panamaskandal vergleichbar war, fand er sowohl in Deutschland wie auch im Ausland Beachtung und wurde rege diskutiert. Nicht weniger stand auf dem Spiel als der Nachweis eines deutschen Panamas. In Berlin, dem politischen Zentrum des Deutschen Kaiserreiches, kursierten zwischen 1870 und 1892 wiederholt Gerüchte und Spekulationen über die Verwendung des sogenannten Welfenfonds. Von der oppositionellen Presse spöttisch als »Reptilienfonds« betitelt, bezeichnete dieser das Privatvermögen des Königshauses der Welfen, das bei der preußischen Annexion Hannovers 1866 durch das Staatsministerium beschlagnahmt worden war. Das Haus Hannover sollte die Kontrolle über sein Kapital erst 26 Jahre später zurückerhalten.700 In der Zwischenzeit dienten die Einnahmen aus dem Fonds jedoch nicht allein der Verwaltung des annektierten Besitzes, sondern darüber hinaus auch einer Vielzahl weiterer Zwecke. Dem preußischen Außen- und Innenministerium beispielsweise wurden jährlich Gelder aus dem Fonds zur Verfügung gestellt, um politische Opposition zu unterdrücken und den Ausbau der assoziierten Pressebüros voranzutreiben.701 Unter der Ägide Bismarcks wurden die zusätzlichen Mittel außerdem genutzt, um auf die Berichterstattung verschiedener Periodika im In- und Ausland einzuwirken und Landes- sowie Reichspolitiker zu beeinflussen.702 Generell war die Verwendung der Welfenfondsgelder jedoch mit viel Geheimhaltung verbunden und wurde daher in der politischen Sphäre des Kaiserreichs wiederholt zum Gegenstand von Spekulationen und Kritik. So beispielsweise im Winter 1877, als Eugen Richter, führender Politiker der Fortschrittspartei, vor dem preußischen Abgeordnetenhaus forderte, die preußische Regierung möge Auskunft über den Gebrauch des Welfenfonds erteilen, und ihr unterstellte, die Gelder »zur Bestechung, zum Kauf der Presse und der 700 Zur Geschichte des Welfenfonds vgl. Robert Nöll von der Nahmer : Bismarcks Reptilienfonds. Aus den Geheimakten Preußens und des Deutschen Reiches, Mainz 1968. Es existieren einige ältere Abhandlungen, die aufgrund unzureichender Quellenbasis hier vernachlässigt werden sollen. Eine neuere, eigenständige und auf detaillierter Quellenakquise begründete Forschungsarbeit über den Welfenfond bleibt ein Desiderat der Forschung. 701 Hierbei handelt es sich um das Literarische Büro des preußischen Staatsministeriums sowie das Pressebüro des Auswärtigen Amts. Zu beiden Organisationen vgl u. a. Fischer-Frauendienst, Bismarcks Pressepolitik, im Besonderen S. 27–37. 702 Zur Verwendung des Welfenfonds vgl. Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds, S. 71f.

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Telegrafenbüros« zu nutzen.703 Doch nicht nur im Parlament, auch in der politischen Presse wurde im Laufe der Jahre mehrfach über den Welfenfonds spekuliert, und es kursierten Gerüchte, denen zufolge der ehemalige Reichskanzler Gelder aus dem Fonds privat genutzt habe, um Einfluss auf Politiker und Verlagshäuser zu nehmen.704 Auf dieses passive Wissen, das sich in der politischen Öffentlichkeit über die Jahre aus Spekulationen und Gerüchten akkumuliert hatte, konnte sich der Vorwärts beziehen, als er während des Panamaskandals selbst als Kolporteur in Erscheinung trat. Bereits im Herbst 1892, als Bismarck mit seinen Enthüllungen über die Emser Depesche705 an die Öffentlichkeit getreten war, hatte das sozialdemokratische Parteiorgan begonnen, den ehemaligen Kanzler und seine Politik zu kritisieren.706 Die wiederkehrende Beschäftigung des Vorwärts mit der politischen Vergangenheit und der Rolle Bismarcks ist dabei nicht nur auf die Attraktivität der dargebotenen Gelegenheit, sondern darüber hinaus noch auf verschiedene weitere Gründe zurückzuführen. Einerseits war die Redaktion um Wilhelm Liebknecht stets darauf bedacht, die Zensur der Zeitung zu verhindern. Aus diesem Grund war Kritik an bestehenden Verhältnissen und amtierenden Politgrößen risikoreich, die natürliche Folge war der Fokus auf das Zurückliegende.707 Da innerhalb der Sozialdemokratie zudem noch immer starke Antipathie gegenüber dem ehemaligen Kanzler herrschte, der die Partei über Jahre als Reichsfeinde stigmatisiert und politisch verfolgt hatte, ist andererseits anzunehmen, dass die Kritik an dem einstigen Widersacher breite Zustimmung fand. Auch hatte die Entlassung Bismarcks innerhalb der politischen Sphäre zunächst verhaltene Reaktionen, an einigen Stellen sogar Erleichterung hervorgerufen – erst der Widerstand gegen die Politik seines Nachfolgers Caprivi führte in den folgenden Jahren zu einer einsetzenden Verehrung des »Eisernen Kanzlers« in konservativen und nationalistischen Kreisen.708 Möglicherweise 703 Eugen Richter, zitiert nach: Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds, S. 135. Zu dem Ereignis vgl. ebd., S. 132–135 sowie Sitzung des Preußischen Landtags vom 21. 11. 1877; Sitzungen des Preußischen Landtags vom 5.–6. 12. 1877. 704 Vgl. Engels, »Panama in Deutschland«, S. 119. Verschiedentlich: Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds. 705 In einem Interview mit Maximilian Harden, dem Herausgeber der Zukunft, hatte Bismarck am 29. 10. 1892 die Möglichkeit einer Manipulation der Emser Depesche in den Raum gestellt. Reichskanzler Caprivi griff diese Aussagen im Deutschen Reichstag am 23. 11. 1892 auf und löste damit ein großes Echo in der Presse aus. Vgl. Die Zukunft, In Varzin, 29. 10. 1892, https:// archive.org/details/diezukunft21hardgoog (5.11. 2015, 14:41 Uhr); Redebeitrag Leo von Caprivi, 2. Sitzung des Deutschen Reichstags, VIII. Legislaturperiode, 23. 11. 1892, S. 7–20. 706 Bsph. Vorwärts, Bismarck’s Geständniß, 2. 11. 1892; Ders., Chamade – Fanfare, 9. 11. 1892. 707 Zur Zensur der SPD-Presse nach 1890 vgl. Alex Hall: »The War of Words: Anti-socialist Offensives and Counter-propaganda in Wilhelmine Germany 1890–1914«, in: Journal of Contemporary History 11 (1976), Nr. 2/3, S. 11–42. 708 Vgl. Gerwarth, Der Bismarck Mythos, S. 21–24.

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hoffte man in der Redaktion des Vorwärts, an Bismarck-kritische Strömungen anschließen oder diese neu befeuern zu können, als die Zeitung zum Jahreswechsel 1892/93 mit der Skandalierung des Welfenfonds begann. Der Zeitpunkt war günstig; die Debatte um den Panamaskandal hatte politische Korruption in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt und im Kontext der Debatte um die Emser Depesche war die Politik Bismarcks in der politischen Öffentlichkeit vielstimmig diskutiert worden. Im Dezember 1892 begann der Vorwärts, einige unspezifische Hinweise auf den möglichen Missbrauch des Welfenfonds in seine Berichterstattung über den Panamaskandal einfließen zu lassen. In Frankreich, so argumentierte das Parteiblatt beispielsweise am 12. Dezember 1892, wäre wegen »ungesetzlicher Entnahme von Hunderttausenden aus dem Welfenfonds die strafrechtliche Verfolgung« Bismarcks längst eingeleitet worden.709 Wenige Tage darauf, am Silvestermorgen, veröffentlichte das sozialdemokratische Parteiorgan den Initialartikel seiner Skandalierungskampagne. Darin behauptete der Vorwärts, er verfüge über Quittungen, die Benefizianten des Welfenfonds identifizieren und die Höhe und Daten ihrer Transaktionen belegen würden. Die Auswertung dieser Informationen, so das Urteil der Parteizeitung, erzwinge eine Neuinterpretation wichtiger Ereignisse der deutschen Geschichte.710 Zur Beweisführung fügte der Vorwärts seinen Ausführungen eine Liste bei, welche die Empfänger anonymisiert nach Berufsgruppen aufgliederte und darlegen sollte, dass Zuwendungen unter anderem an Staatsminister, Richter und Zeitungsredaktionen geflossen waren.711 Der Artikel war in mehrerlei Hinsicht eine Sensation: Allein die angebliche Existenz der Quittungen, die der Vorwärts als Beweismittel anführte, war beachtenswert, da Reichskanzler Caprivi 1891 vor dem Reichstag erklärt hatte, »es ist unmöglich, festzustellen, wie der Welfenfonds in den letzten zwanzig Jahren verwaltet worden ist: denn sämtliche Rechnungen und Quittungen sind alljährlich verbrannt worden.«712 Sollte sich das Beweismaterial der sozialdemokratischen Parteizeitung vor dem Hintergrund dieser Aussage als authentisch herausstellen, so belegte es die staatliche Einflussnahme, über die in der politischen Öffentlichkeit jahrelang gemunkelt worden war. Vorwegzunehmen ist, dass der Sachverhalt auch rückblickend nicht sicher geklärt werden 709 Vorwärts, Die Republik hat ihre Lebenskraft erschöpft, 18. 12. 1892. Darüber hinaus auch: Ders., Fäulniß, 7. 12. 1892. 710 An dieser Stelle spielte der Vorwärts u. a. auf die Reichsgründung an, da bereits seit einiger Zeit öffentlich spekuliert wurde, ob die Zustimmung zu der Kaiserproklamation Wilhelms I. durch den bayrischen König Ludwig II. durch Zuwendung aus dem Welfenfonds erkauft worden war. Vgl. Dieter Albrecht: König Ludwig II. von Bayern und Bismarck; in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 39–64. 711 Vorwärts, Hundert Quittungen des Welfenfonds, 31. 12. 1892. 712 Rudolf Arndt (Hrsg): Die Reden des Grafen von Caprivi (= Deutsches Reich – Schriften und Diskurse. Reichskanzler, Bd. II/I), Hamburg 2011, S. 364.

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kann. Der Verfasser der maßgeblichen Studie zur Historie des Welfenfonds, Robert Nöll von der Nahmer, argumentiert, der Redaktion des Vorwärts sei eine unveröffentlichte Broschüre zugespielt worden, die besagte Quellen enthielt.713 In seinem Buch spürt Nöll von der Nahmer der verworrenen Geschichte dieser Schrift nach, die jedoch in Abschnitten undurchsichtig bleibt. Dennoch kommt er basierend auf den Erkenntnissen seiner Quellenrecherche zu dem Schluss, dass die Informationen des Vorwärts authentisch gewesen seien.714 Unter anderem führt er dafür eine »offensichtlich große Nervosität« der Regierung im Angesicht der Vorwärts’schen Vorwürfe und der drohenden Veröffentlichung besagter Beweise ins Feld.715 Problematisch gestaltet sich jedoch, dass Nöll von der Nahmer an relevanter Stelle mehrfach versäumt, genaue Belegstellen anzuführen. Tatsächlich bewegte die Frage nach der Authentizität der Quittungen nicht nur Historiker, sondern auch die Zeitgenossen. Sie gestaltete den Ausgang des Skandalierungsversuchs maßgeblich mit. Im Gegensatz zu Nöll von der Nahmer, der retrospektiv über Einblick in die interne Kommunikation der politischen Exekutive verfügte und diese als Argument heranführt, konnte die politische Öffentlichkeit sich ihr Urteil über die Authentizität der Quittungen im Jahr 1893 nur anhand des öffentlichen Verhaltens der Exekutivorgane und der Presseberichterstattung bilden: Das preußische Staatsministerium reagierte zunächst überhaupt nicht auf die Enthüllungen des Vorwärts, und auch offiziöse Zeitungen wie die Norddeutsche Allgemeine Zeitung oder der Reichsanzeiger blieben stumm. Verschiedene konservative Periodika, wie etwa die Kreuzzeitung, nahmen zwar randständig Notiz von den Vorwürfen, verweigerten jedoch eine ausführliche Thematisierung mit der Begründung, es handele sich bei den Quittungen ohnehin um Fälschungen.716 Deutlich mehr Worte fanden hingegen die Liberalen, die den Artikel des Vorwärts nach seiner Veröffentlichung rege besprachen. Noch am Erscheinungstag der Anschuldigungen im Vorwärts veröffentlichten das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung detaillierte Wiedergaben des inkriminierenden Artikels und ergänzten diese durch eigenständige Kommentare.717 Das Berliner Tageblatt beispielsweise stellte sogleich die Authentizität der Quittungen in Frage und hob hervor, dass deren prinzipielle Existenz in der 713 Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds, S. 166f. 714 Ebd., S. 170, 172, 179. 715 Nöll von der Nahmer beschreibt bspw. den internen Austausch zwischen der bayrischen und der preußischen Landesregierung, die darüber verhandelten, wer besagte Broschüre nach dem Erscheinen aufkaufen könne, um die Verbreitung zu verhindern, vgl. ebd., S. 170, 175f. 716 Beispielhaft Neue Preußische Zeitung, o. T., 2. 1. 1893. 717 Vossische Zeitung, o. T., 31. 12. 1892AA; Berliner Tageblatt, »Hundert Quittungen des Welfenfonds«, 31. 12. 1892AA.

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Vergangenheit durch offizielle Stellen negiert worden war. Auch unterstellte das Tageblatt dem Vorwärts, selbst Zweifel an seinen Quellen zu hegen, da die sozialdemokratische Zeitung ansonsten nicht versäumt hätte, die Namen der Empfänger zu veröffentlichen.718 Die ausführliche Behandlung und ernsthafte Auseinandersetzung mit den Vorwürfen demonstriert dennoch die Bedeutung, die ihnen von liberaler Seite beigemessen wurde. Gleichfalls zeigt das Beispiel des Berliner Tageblatts auch, dass die Rezeption von Korruptionsvorwürfen keinesfalls unkritisch geschah. Ein besonderes Merkmal der Debatte um die Welfenfonds-Vorwürfe war, dass sie sehr früh in einem hohen Skandalbewusstsein erlebt wurde, was auf ihre zeitliche Nähe zu und Überlappung mit dem Panamaskandal zurückgeführt werden kann. Die beiden liberalen Zeitungen strengten beispielsweise gleich in ihren ersten Artikeln einen Vergleich mit dem französischen Korruptionsskandal an und hoben hervor, dass die Nachricht eines deutschen »Panamas« im linksrheinischen Nachbarland sicherlich erfreut zur Kenntnis genommen werde.719 Auch die Satirezeitschrift Kladderadatsch zog Parallelen: »Schlagt alle, die nicht ehrlich, – die allzu begehrlich! – Denkt nicht an Panama und den Canal, – denkt an den Welfenfonds-Skandal!«720 Der Vorwärts hatte in seinem Initialartikel selbst Abstand von einer solchen Gegenüberstellung genommen, vermutlich, um den Vorwurf der propagandistischen Hetze oder Zensur zu vermeiden. Nachdem der Vergleich mit der französischen Korruptionsaffäre jedoch von verschiedenen Seiten in die öffentliche Debatte hineingetragen worden war, wurde er auch vom Vorwärts aufgegriffen. Das sozialdemokratische Parteiblatt nutzte seinerseits die Gegenüberstellung, um die beiden Fälle in ihrem Ausmaß und ihrer Bedeutung als einander ebenbürtig zu kennzeichnen: »Wie drüben im wilden Frankreich, ist hüben im zahmen Deutschland die kapitalistische Korruption bis in den innersten Nerv des politischen Lebens gedrungen.«721 Indem der Vorwärts die Parallelen zwischen den beiden Fällen akzentuierte, suggerierte er Vergleichbarkeit und suchte seine Vorwürfe auf eine gleiche Bedeutungsebene zu heben. Das Parteiblatt konnte so die Enthüllungen über den Welfenfonds auch in das sozialdemokratische Narrativ der internationalen Korruption eingliedern, deren Ursache in dem sich stetig ausbreiteten Kapitalismus liege und die durch Korruptionsdebatten weltweit belegt werde.722 718 719 720 721 722

Berliner Tageblatt, »Hundert Quittungen des Welfenfonds«, 31. 12. 1892AA. Vossische Zeitung, o. T., 31. 12. 1892AA. Kladderadatsch, An die Zeitgenossen, 8. 1. 1893. Vorwärts, Politische Uebersicht, 1. 1. 1893. Auch 1893 berichtete der Vorwärts regelmäßig über Korruptionsdebatten in anderen Ländern. So bspw. über den Scandalo della Banca Romana, das »italienischen Panama«, das im Januar 1893 seinen Anfang nahm. Vgl. Vorwärts-Berichterstattung, ab Mitte Januar 1893. Beispielhaft Ders., Das italienische Panama, 24. 1. 1893.

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Der Vorwärts verwies jedoch nicht nur auf die Vergleichbarkeit der beiden Fälle, er spielte darüber hinaus auch wiederholt auf die Außenwahrnehmung der Korruptionsvorwürfe an, indem er neben der nationalen Presse auch die Reaktionen in Frankreich selektiv rezipierte.723 Es ist zu vermuten, dass der Vorwärts hoffte, auf diese Weise die Bedeutung der Vorwürfe und in Folge das öffentliche Interesse zu erhöhen. Tatsächlich wurden die Reaktionen des Auslands im Kaiserreich quer durch das politische Spektrum hindurch rezipiert, was einmal mehr auf ein vorherrschendes Skandalbewusstsein verweist. Für alle Seiten, für die Presse im In- wie auch im Ausland, war der Panamaskandal dabei als Referenz- und Vergleichspunkt von großer Bedeutung. Einerseits hatte er dazu beigetragen, dass politische Korruption in der öffentlichen Wahrnehmung vieler europäischer Länder zumindest temporär gesteigerte Aufmerksamkeit erfuhr. Andererseits konnte die vorangegangene Analyse zeigen, dass der Korruptionsskandal vor allem in der politischen Öffentlichkeit des Kaiserreichs als Mittel der Reflexion und der Abgrenzung eine besondere Rolle eigenommen hatte. Er diente, um mit den Worten Jens Ivo Engels’ zu argumentieren, der »Differenz- bzw. Alteritätszuschreibung«.724 Mit dem Bekanntwerden der Vorwärts’schen Vorwürfe erfüllte nun auch die Debatte um den Welfenfonds eine solche Funktion für Akteure im In- und Ausland: Die oft suggerierte Differenzen zwischen den Nationen ließ sich je nach Perspektive akzentuieren oder in Frage stellen. Zwei Beispiele verdeutlichen diesen Sachverhalt: Wenige Tage vor Ausbruch des Scandalo della Banca Romana725 wurde auch in Italien über die Vorwürfe des Vorwärts debattiert. Die Zeitung Voce della Verita berichtete, der französische Korruptionsskandal werde alsbald durch ein deutsches ›Panama‹ überflügelt, während der Moniteur de Rome erklärte, die Enthüllungen seien Beweis dafür, dass auch in starken Monarchien Korruption vorhanden sei.726 Anders als in der französischen Republik sei es dort jedoch gängig, das Verdorbene »im Blute [zu]behalte[n]« und nicht aufzuarbeiten.727 Diese Reaktionen aus Italien illustrieren zwei unterschiedliche Perspektiven: Einerseits zeigen sie, dass auch in Italien die Welfenfonds-Vorwürfe mit dem Panamaskandal verglichen und Korruptionskritik mit Gedanken über Staatlichkeit verbunden wurde. Andererseits spiegeln die vom Berliner Tageblatt veröffentlichten Zitate die deutsche Reaktion auf die Rezeption der ausländischen Presse wider. Die italienischen Wortmeldungen, so der Kommentar des Tageblatts, seien Beleg dafür, dass die Enthüllungen des Vorwärts »Wasser auf die Mühle aller Deut-

723 724 725 726 727

Vgl. bsph. Vorwärts, Tu Quouque, 3. 1. 1893; Vossische Zeitung, o. T., 31. 12. 1892AA. Engels, Panama in Deutschland, u. a. S. 114. Mit weiterführenden Literaturverweisen: Engels, Geschichte der Korruption, S. 306f. Artikel wiedergegeben in: Berliner Tageblatt, o. T., 5. 1. 1893AA. Zitiert nach: ebd.

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schenfeinde« seien.728 Wie ein weiteres Beispiel illustriert, versammelten sich Periodika unterschiedlichster Gesinnung hinter dieser Position, so auch die konservative Kreuzzeitung. Das Blatt argumentierte, der alleinige Grund, warum man die Welfenfonds-Vorwürfe in Frankreich rezipiere, sei der Versuch, »von den eigenen Pestbeulen ab[zu]lenke[n]«; ein deutsches ›Panama‹ zu kreieren, werde jedoch nur schwerlich gelingen.729 An dieser Stelle sind zwei Beobachtungen hervorzuheben: Generell lässt sich anhand der Beispiele festhalten, dass die Welfenfonds-Vorwürfe und ihre Rezeption in der ausländischen Presse dazu beitrugen, die Unkorrumpierbarkeit des Kaiserreichs, die während des Panamaskandals vor allem von konservativen Periodika proklamiert worden war, in Frage zu stellen. Die Existenz dieser Vorwürfe bekräftigte die generelle Vergleichbarkeit der beiden Länder und half Kritikern, angebliche Unterschiede in Bezug auf die Anfälligkeit für Korruption zu nivellieren. Somit war die Prüfung eines deutschen Panamas mehr als nur die Frage nach der Existenz von Korruption im Kaiserreich; vielmehr ging es auch um die Frage nach der prinzipiellen Korrumpierbarkeit des monarchischen Staatsgebildes. Doch gerade die Kritik von außen ließ mit Ausnahme des Vorwärts die Mehrzahl der deutschen Periodika ungeachtet ihrer unterschiedlichen Gesinnungen in der Verteidigung des Kaiserreichs zusammenstehen. Die Außenseiterposition der Sozialdemokratie in der deutschen Parteienlandschaft wurde damit unterstrichen. Nicht zuletzt aus diesem Grund stellte die Skandalierung des Welfenfonds für den Vorwärts auch eine risikoreiche Unternehmung dar. Insbesondere der unsichere Charakter seines Beweismaterials konstituierte eine Schwachstelle der Skandalierungskampagne, die es den Gegnern des Parteiblattes schließlich ermöglichte, den Wahrheitsgehalt der Vorwürfe öffentlich anzuzweifeln und die Korruptionsdebatte zeitnah auszubremsen. Der Verlauf der Ereignisse offenbart, dass die Enthüllungen in der ersten Woche zwar von verschiedenen Seiten rege rezipiert wurden, dass Interesse an den Vorwürfen dann jedoch beachtlich schnell abnahm. Grund hierfür war die zu Anfang thematisierte Authentizitätsproblematik der Vorwärts’schen Quellen sowie die staatliche Reaktion auf die Vorwürfe: Genau eine Woche nach der Veröffentlichung des Initialartikels verkündete der Deutsche Reichsanzeiger, dass es sich bei den Quittungen des sozialdemokratischen Parteiorgans um eine Fälschung handele. Um diese Aussage zu belegen und dabei den Eindruck größtmöglicher Authentizität zu erwecken, veröffentlichte das Blatt beiliegend Auszüge regierungsinterner Briefwechsel, aus denen hervorging, dass die Vorgänge der Regierung bekannt gewesen und in-

728 Ebd. 729 Neue Preußische Zeitung, Aus Frankreich, 5. 1. 1893MA.

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tensiv untersucht worden seien.730 Die Stellungnahme des Reichsanzeigers wurde von der Mehrheit der großen Berliner Tageszeitungen rezipiert und auch von offiziösen Blättern weiterverbreitet.731 So beispielsweise auch von den Neuesten Mittheilungen, die als inoffizielle Nachfolger der Provinzial Correspondenz unter der Ägide Bismarcks ins Leben gerufen worden waren.732 Nur wenige Tage darauf positionierte sich auch der ehemalige Reichskanzler zu den Vorwürfen des Vorwärts und verurteilte in einem Artikel der Hamburger Nachrichten die »Revolver-Jounalistik« des Vorwärts scharf.733 Die Stellungnahme Bismarcks ist ausdrücklich hervorzuheben, da sie illustriert, wie stark der ehemalige Reichskanzler in der öffentlichen Wahrnehmung mit dem Welfenfonds verknüpft war. Nur wenige Zeitungen, wie die Germania oder der Vorwärts, hatten die Verbindung zwischen Bismarck und dem Welfenfonds ausdrücklich betont. Auch waren die Vorwürfe zum Zeitpunkt von Bismarcks Stellungnahme bereits vonseiten der Regierung dementiert worden. Ein Dementi Bismarcks wäre demnach nicht zwingend notwendig gewesen. Dennoch scheint es, als habe der Staatsmann die Notwendigkeit zu einer persönlichen Stellungnahme gesehen; er muss davon ausgegangen sein, von der politische Öffentlichkeit mit den Vorwürfen unbedingt assoziiert zu werden.734 Tatsächlich schufen die Spekulationen und Gerüchte, die seit langen Jahren in der politischen Sphäre des Kaiserreichs über den Welfenfonds kursierten, den Hintergrund, vor dem die Vorwärts’schen Quittungen auch fern jeder direkten Aussage bei den Zeitgenossen eine Vielzahl verschiedener Szenarien evozierten, die Bismarck mit der ›Welfenfondskorruption‹ verbanden. Diese Assoziation des ehemaligen Reichskanzlers mit Korruption war es, die das Skandalierungspotenzial der Vorwürfe konstituierte. Sie trug zugleich aber auch zum Scheitern des Skandalierungsversuches bei. Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, wurden die Enthüllungen des Vorwärts quer durch das politische Spektrum von Beginn an zwar partiell mit Interesse, immer aber mit vorsichtigem Misstrauen oder offenem Zweifel aufgenommen. Nach der offiziellen Verlautbarung des Reichsanzeigers, es handele sich bei den Quellen des Vorwärts um Fälschungen, wurde der Widerstand gegen 730 Deutscher Reichsanzeiger, o. T., 7. 1. 1893; Preußischer Staatsanzeiger, o. T., 7. 1. 1893. 731 Berliner Tageblatt, Die Quittungen zum Welfenfonds, 8. 1. 1893MA; Neue Preußische Zeitung, Zu den »Quittungen des Welfenfonds«, 8. 1. 1893MA. 732 Neueste Mittheilungen, Eine Fälschung, 9. 1. 1893; http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ list/title/zdb/11614109/ (11. 11. 2015). Die Neuesten Mittheilungen wurde u. a. aus den Geldern des Welfenfonds finanziert – der Ironie sei diese kurze Anmerkung geschuldet. 733 Zitiert nach: Vorwärts, Der Ex-Welfenfonds-Chef, 10. 1. 1893. 734 Am 8. 3. 1893 wiederholte Bismarck seine Aussagen in einem weiteren Artikel der Hamburger Nachrichten und hob hervor, dass ihn auch der Prospekt weiterer Enthüllungen nicht besorge. Vgl. Nöll von der Nahmer, Bismarcks Reptilienfonds, S. 176. Die öffentliche Assoziation Bismarcks mit dem Welfenfonds kann an zahlreichen Artikeln und Karikaturen belegt werden, pointiert: Wahrer Jacob, Schmale Zeiten, 10. 4. 1890, Nr. 97.

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die Skandalierungskampagne schließlich beherrschend. Er ging von den konservativen Periodika aus und fand Zuspruch in Friedrichsruh, wo Bismarck seine Position in die Feder der Hamburger Nachrichten diktierte. Zwar versuchte der Vorwärts, der Verlautbarung Bismarcks und den Belegen des Reichsanzeigers mit ausführlichen Retourkutschen zu begegnen, doch veröffentlichte das Blatt trotz mehrfacher Ankündigung kein neues Quellenmaterial, welches seine Vorwürfe gestützt hätte.735 In der politischen Öffentlichkeit bezeichnete man das Parteiblatt daraufhin alsbald als »bewußten Verleumder«.736 Das Vorenthalten neuen Beweismaterials – ob nun aufgrund vorsichtiger juristischer Abwägung oder schlicht aus Mangel an weiteren Belegen – musste in der Öffentlichkeit wie ein Schuldeingeständnis wirken. Mit der Stille des Vorwärts war der Versuch der sozialdemokratischen Nebenskandalierung nach nur etwa einer Woche bereits gescheitert.

4.5

Zwischenfazit

Die sozialdemokratische Skandalierung des Welfenfonds endete ohne wesentliche Erfolge. Es wurden keine Untersuchungen – weder parlamentarischer noch juristischer Natur – oder gar Strafverfahren eingeleitet. Auch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Episode das Renommee Bismarcks nachhaltig geschädigt hatte; sie mag lediglich zu der Fülle an Gerüchten und Spekulationen beigetragen haben, die sich bereits um den Reichskanzler rankten. Aus wissenschaftlicher Perspektive trägt der Skandalierungsversuch als Abschluss einer intensiven Korruptionsdebatte jedoch zu reichhaltigen Erkenntnissen über die deutsche Korruptionskommunikation bei. Generell zeigt die deutsche Rezeption der französischen Korruptionsskandale (1), dass sich deutsche Korruptionsdebatten nicht allein an nationalen Korruptionsvorwürfen entzündeten. Sie dokumentiert (2), dass im Kaiserreich ein großes Interesse am Status quo und an der politischen Entwicklung Frankreichs bestand. Dies war sowohl auf die große räumliche Nähe und die diplomatischen Beziehungen der beiden Länder als auch auf ihre ereignisreiche gemeinsame Vergangenheit zurückzuführen. Betrachtet man sodann die Inhalte der Korruptionskommunikation in den Jahren 1887 und 1892/93, so ist (3) die einstimmige und durchgehend negative Bewertung von Praktiken wie der Bestechung von Politikern und Presse sowie des Missbrauchs des politischen Amtes hervorzuheben. In ihr spiegelt sich ein gesellschaftlicher Normenkonsens wider, der zu Beginn der 1890 Jahre im Deutschen Kaiserreich – wie auch in der Dritten Republik – nicht mehr ver735 Vgl. Vorwärts, Der Ex-Welfenfonds-Chef, 10. 1. 1893. 736 Neue Preußische Zeitung, o. T., 9. 1. 1893AA.

Zwischenfazit

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handelbar war. Diese Beobachtung weist auf eine Entwicklung zwischen den frühen 1870er und den frühen 1890er Jahre hin. Während im Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen in der politischen Kommunikation noch darüber debattiert wurde, welches Verhalten als korrupt gelten musste, war im Skandal der Dekorationen und im Panamaskandal eine normative Eindeutigkeit vorherrschend. Hier ist von einem Prozess der Normenhomogenisierung zu sprechen, der im Kaiserreich parallel zu verschiedenen Modernisierungsprozessen wirtschaftlicher, sozialer und politischer Natur verlief. Des Weiteren ist (4) zu beobachten, dass die deutsche Presse die französischen Korruptionsskandale unisono als politische Ereignisse auffasste und darüber reflektierte, wie diese als Instrument der politischen Kommunikation von verschiedenen Akteuren instrumentalisiert wurden. Die Beurteilung der Skandalentwicklung im Detail fiel dann jedoch je nach politischer Position der Zeitung unterschiedlich aus. Vor allem die Folgen der Skandale für die Politik und das politische System Frankreichs sowie die Verortung der Skandale im Kontext der europäischen Außenpolitik wurden von den Periodika verschiedenartig gedeutet und bewertet. Hervorzuheben ist (5), dass die deutsche Presse nicht im gleichen Maße über den Charakter der politischen Ordnung debattierte wie ihr französisches Pendant. Auch fand eine perspektivische Erweiterung dieser Debatte auf die konstitutionelle Monarchie des Kaiserreichs nur sehr selektiv und vornehmlich mit positivem Ergebnis statt. So formulierten beispielsweise die konservativen Periodika eine Kritik am französischen Parlamentarismus, in deren Kontext die konstitutionelle Monarchie bekräftigt wurde. Keine Zeitung des Untersuchungssamples stellte im Kontext der Berichterstattung über die französischen Korruptionsskandale die deutsche konstitutionelle Monarchie in Frage oder übte radikale Kritik an ihr. Es ist jedoch (6) festzuhalten, dass die Zeitungen die Skandalberichterstattung entlang ihrer politischen Ausrichtungen gestalteten und im Hinblick auf ihre politischen Interessen ausrichteten. Hierbei sei beispielsweise an das Berliner Tageblatt gedacht, das den Panamaskandal nutzte, um auf die Gefahren des politischen Antisemitismus auch im Kaiserreich aufmerksam zu machen. Die Skandalberichterstattung stellte somit auch einen Ausgangspunkt dar, um kritisch über (tages-)politische Themen zu reflektiert. Auch leiteten die Periodika aus der Korruptionskommunikation spezifische Handlungsaufträge ab. Das Berliner Tageblatt beispielsweise pochte auf die Bekämpfung des politischen Antisemitismus. Im besonderen Maße ist letztlich (7) die Berichterstattung des Vorwärts hervorzuheben. Der Panamaskandal markierte für die Sozialdemokratie den Wiedereintritt in und die aktive Teilnahme an der deutschen Korruptionskommunikation. Nur zwei Jahre nach einer Periode langwieriger politischer Unterdrückung und Zensur und nach Neugründung ihres Parteiorgans nutzte die Partei die Korruptionskommunikation stärker als alle anderen Zeitungen,

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um über die Politik des Kaiserreichs zu reflektieren und diese (implizit) zu kritisieren. Dabei verwendete der Vorwärts eine systemische Korruptionsdefinition, die Korruption als internationales Phänomen charakterisierte, das zwangsläufig aus dem wirtschaftlichen Kapitalismus geboren wurde. Entlang dieser Definition war Korruption auch im Kaiserreich unausweichlich vorhanden und musste durch den Vorwärts lediglich benannt werden. Zusätzlich nutzte das Parteiblatt in seiner Berichterstattung eine Vielzahl historischer Verweise. Der Vorwärts verband diese Referenzen argumentativ, um so einen Bezug zu den aktuellen Korruptionsskandalen der Zeit herzustellen und Kritik an der Vergangenheit subtil in die Gegenwart zu transferieren. Aus dem Versagen der Untersuchungskommission im Jahre 1873 leitete er beispielsweise das Scheitern der Panamauntersuchungskommission ab, und das Vorgehen der Franzosen kontrastierte er mit dem deutschen Versuch, die eigene Korruption zu verleugnen. Im Rahmen der Panamaberichterstattung gelang es dem Vorwärts, Methoden der Berichterstattung zu erproben, die er später auf deutsche Verhältnisse anwenden sollte. Einen ersten Versuch in diese Richtung stellte der Versuch der Welfenfondsskandalierung im Januar 1893 dar.

5

Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«737: Der Fall Tippelskirch 1906

Am 29. Juli 1906 erschien in der Sonntagsausgabe des Berliner Tageblatts eine kleine, zunächst unscheinbar anmutende Meldung. Darin hieß es: »Kolonialskandale und kein Ende! […] Wegen Verdachts der Bestechung ist gegen den Major Fischer […], das amtliche Verfahren eingeleitet und der Beschuldigte in Untersuchungshaft genommen worden. […] Die Anschuldigungen gegen Fischer dürften sich in erster Linie auf seine Tätigkeit mit einer großen Berliner Lieferungsfirma beziehen.«738

Diese Meldung, die im Laufe der nächsten Tage in ähnlicher Form von verschiedenen Zeitungen abgedruckt wurde, markierte den Beginn eines Korruptionsskandals, der prägend für die Geschichte der Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich sein sollte.739 Der sogenannte Tippelskirchskandal illustriert beispielhaft die Kernthese dieser Arbeit. Er zeigt zum einen, dass politische Akteure den Vorwurf der Kommunikation als Mittel der politischen Kommunikation in wachsendem Maße instrumentalisierten, und zum anderen, wie sich im Rahmen der Korruptionsdebatten unterschiedliche politische Themen miteinander verknüpfen ließen. So wurden im Kontext des Tippelskirchskandals gleichsam wirtschafts- und kolonialpolitische Konflikte, innenpolitische Auseinandersetzungen und gesellschaftliche Normendebatten verhandelt, an denen sich verschiedenste Akteure mit unterschiedlichsten Motivationen beteiligten. Als die Meldung über die Verhaftung Major Fischers im Sommer 1906 erstmals die politische Öffentlichkeit erreichte, waren die Ausmaße der bevorstehenden Debatte nicht absehbar, der Sensationsgehalt der Nachricht ursprüng737 Neue Preußische Zeitung, Innere Politik der Woche, 26. 8. 1906MA. 738 Berliner Tageblatt, Kolonialskandale, 29. 7. 1906. Die Verhaftung vollzog sich bereits am 20. 7. 1906, BUA R43, Nr. 943, Blatt 4. Telegramm des Oberkommandos der Schutztruppe an Reichskanzler Bülow vom 20. 7. 1906. 739 Vgl. bsph. Kölnische Volkszeitung, Die Verhaftung des Majors Fischer, 31. 7. 1906AA; Neue Preußische Zeitung, o. T., 31. 7. 1906AA; Deutsche Tageszeitung; Ueber die Verhaftung des Majors Fischer, 30. 7. 1906AA.

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lich gering. Bereits in den 1890er Jahren hatte eine Reihe von Kolonialskandalen das Reich erschüttert. Mit Beginn der Kolonialkriege 1904 drangen erneut, quasi kontinuierlich, skandalöse Informationen über die Zustände der reichsdeutschen Kolonien an die Öffentlichkeit, die im Reichstag debattiert und medienwirksam in der Presse aufgearbeitet wurden.740 Neben der Wirtschaftlichkeit der Kolonien wurde auch das Ausmaß und die Legitimität sexuellen Missbrauchs und kolonialer Gewalt öffentlich in Frage gestellt. Prominente Kolonialisten wie Carl Peters und Jesco von Puttkamer wurden an den Pranger gestellt und diskreditiert.741 Im Vergleich mit diesen prominenten Fällen barg die Meldung über einen bestochenen, doch bis dato unbekannten Major in einem vergleichsweise tristen Verwaltungsamt – Vorstand der Bekleidungsabteilung beim Oberkommando der Schutztruppe für Ostafrika – wenig Skandalpotenzial. Dies sollte sich jedoch bereits am nächsten Tag ändern, als das Berliner Tageblatt zusätzliche Details veröffentlichte. Die Zeitung enthüllte, dass es sich bei der Lieferfirma, die im Verdacht stand, Major Fischer bestochen zu haben, um das Unternehmen Tippelskirch handelte.742 Die Nennung Tippelskirchs war der Funke, der das Interesse der Öffentlichkeit weckte, denn der Betrieb war in den vorangegangenen Jahren wiederholt in die Schlagzeilen geraten: So hatte das Berliner Tageblatt bereits 1905 angeprangert, dass zwischen Tippelskirch und dem Reich ein Monopolvertrag bestehe, der dem Unternehmen über fast ein Jahrzehnt die alleinige Ausstattung der Kolonialtruppen garantiere, obgleich konkurrierende Unternehmen billiger anboten. Auch die Beteiligung des amtierenden preußischen Landwirtschaftsministers Victor von Podbielski an dem Unternehmen hatte die Zeitung kritisiert.743 Im März 1906 hatte sodann der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger die Vorwürfe des Tageblatts in einer Reichstagsrede aufgegriffen. Er hatte nicht nur die Aufhebung des Monopolvertrags gefordert, sondern auch das Involve740 Die Geschichte der deutschen Kolonien wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend beforscht. Einen ersten Überblick gibt Horst Gründer : Geschichte der deutschen Kolonien, Paderborn6 2012. Ein älterer Forschungsüberblick bei Ulrich van der Heyden: »Kolonialgeschichtsschreibung in Deutschland. Eine Bilanz ost- und westdeutscher Kolonialhistographie«, in: Neue Politische Literatur 3 (2003), S. 401–429. Zu den Kolonialskandalen hingegen ist bisher vergleichsweise wenig geforscht worden. Herausragend und im Folgenden zu konsultieren: Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 225–233, 264–310. Bösch behandelt die Skandale Wehlan, Leist und Puttkamer sehr ausführlich, der Korruptionsskandal um Tippelskirch nimmt jedoch vergleichsweise geringen Raum ein, vgl. ebd, S. 299–303. 741 Zum Fall Peters: ebd., S. 275f. Zum Fall Puttkamer : ebd., S. 293f. 742 Berliner Tageblatt, Ein Panama, 31. 7. 1906MA. 743 Berliner Tageblatt, Podbielski und Tippelskirch, 19. 10. 1905AA; Dass., Ein untaugliches Mittel, 23. 10. 1905AA; Dass., Konto »P.« und Konto »St.«, 24. 10. 1905AA. 1906 berichtete das Tageblatt rückblickend über die eigene Artikelserie: Berliner Tageblatt, Zum neuesten Kolonialskandal, 30. 7. 1906MA.

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ment Podbielskis thematisiert. Er rügte, »dass an dieser Kompagnie und dadurch indirekt an dem Gewinne auch ein aktiver preußischer Minister beteiligt [sei].«744 Doch auch Erzbergers Vorstoß hatte keinen Skandal angestoßen. Die politische Öffentlichkeit des Kaiserreichs beschäftigte sich zeitgleich einmal mehr mit dem prominenten Kolonialisten Carl Peters, sodass die Causa Tippelskirch vorerst in Vergessenheit geriet.745 Lediglich hinter den Kulissen wurde eine Untersuchung beauftragt, die ergab, dass unter den Kolonialtruppen seit einiger Zeit große Unzufriedenheit mit den Produkten der Firma herrschte. Konsequenzen vonseiten der Verwaltung blieben gleichwohl aus.746 Vor dem Hintergrund dieser vorangegangenen Skandalierungsversuche konnte das Berliner Tageblatt im Sommer 1906 mit einem Wiedererkennungseffekt rechnen, als es nach der Verhaftung Fischers auf das Involvement Tippelskirchs in der Bestechungsaffäre hinwies. Tatsächlich steigerte sich das Interesse der politischen Öffentlichkeit nach dieser Meldung zunehmend. Immer mehr Zeitungen begannen zu berichten und es wurden neue Details der Anklage bekannt.747 So etwa, dass mehrere Mitglieder der Geschäftsführung Tippelskirchs unter dem Verdacht standen, Fischer in den letzten Jahren »bedeutende ›Darlehen‹ in der Höhe von 2000, auch 8000M., auf deren Rückerstattung von den Spendern von vornherein gar nicht gerechnet wurde« gewährt zu haben.748 Mehrere Blätter wussten zudem von einer »Dutz744 Redebeitrag Matthias Erzberger, 73. Sitzung des Deutschen Reichstags, XI. Legislaturperiode, 23. 3. 1906, S. 2236f. Zu den Inhalten des Monopolvertrags vgl. ebd., S. 2235–2237. Aus dem Briefverkehr zwischen Reichskanzler Bülow und dem Stellvertretenden Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, Erbprinz Hohenlohe-Langenburg, geht hervor, dass den Abgeordneten zur Information Kopien der Tippelskirch-Verträge vorgelegt worden waren, wodurch die Authentizität der Informationen Erzbergers bestätigt wird, vgl. BUA R43, Nr. 944, Blatt 5. Beschreibung der Verträge auch in: BUA R43, Nr. 944, Beilage zu Blatt 45 »Entwicklungen der Geschäftsverbindungen der Kolonialverwaltung mit der Firma v. Tippelskirch & Co.« 745 Zur Rezeption des Peters-Skandals in Parlament und Presse: Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 275–288; Zu den unter Anklage stehenden Vergehen: Martin Reuss: »The Disgrace and Fall of Carl Peters. Morality, Politics, and Staatsräson in the Time of Wilhelm II«, in: Central European History 14 (1981), bes. S. 214–230. 746 Vgl u. a. BUA R43, Nr. 944, Blatt 16–18, Bericht aus Windhuk 29. 11. 1905 vom Stellvertretenden Kommando der Schutztruppe für Deutschostafrika an das Kaiserliche Oberkommando der Schutztruppe, Berlin: »Schließlich möchte die Kommission nicht verfehlen, ihre warnende Stimme gegen die Minderwertigkeit fast aller Lieferungen der Firma von Tippelskirch zu erheben.«. Auch: ebd., Blatt 19. Brief vom 21. 1. 1906 vom Kommando der Schutztruppen aus Keetmanshoop. 747 Gegen Fischer wurde durch das Gericht der Gardekavallerie Division das Verfahren wegen Verdacht auf Bestechung eingeleitet, vgl. BUA R43, Nr. 943, Telegramm des Oberkommandos der Schutztruppe an Reichskanzler Bülow vom 20. 7. 1906. Fischer wurde im Oktober 1906 aus der Untersuchungshaft entlassen und das Verfahren gegen ihn eingestellt. Vgl. BUA R43, Nr. 943.Verfahren c/Major Fischer. 748 Berliner Lokal-Anzeiger, Zum Untersuchungsverfahren gegen Major Fischer, 31. 7. 1906AA.

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bruderschaft« zwischen dem Major und Mitgliedern der Geschäftsleitung zu berichten.749 Wie in der Presse hervorgehoben wurde, war das Brisante an der Situation, dass Fischer in seiner Funktion als Vorstand der Bekleidungsabteilung der Schutztruppe geschäftliche Beziehungen zu Tippelskirch unterhielt und sowohl mit der Vorbereitung der Lieferungsverträge als auch mit deren Kontrolle betraut war.750 Aus dieser Konstellation schlussfolgerte das Berliner Tageblatt, dass »der Darlehensempfänger nicht mehr unparteilich« seinem Amt nachgehen könne.751 Andere Blätter, wie die Vossische Zeitung, die Germania oder der Vorwärts, sprachen unumwunden von »Korruption« und betonten, dass Fischer im Verdacht stehe, »sich von der Firma Tippelskirch schmieren [zu] lassen.«752 Zusätzlich angeheizt wurde die Berichterstattung durch eine Vielzahl von Gerüchten, wie beispielsweise der Meldung, Fischer habe das größte seiner Darlehen im selben Jahr erhalten, in dem der Monopolvertrag mit Tippelskirch geschlossen worden sei.753 Darüber hinaus wurden nun die Vorwürfe, die das Berliner Tageblatt und der Zentrumsabgeordnete Erzberger in der Vergangenheit gegen Tippelskirch erhoben hatten, von den Zeitungen neu rezipiert. Auf diese Weise wurde auch Podbielski in die Korruptionsdebatte involviert, obgleich er mit der Anklage gegen Fischer nicht direkt in Verbindung stand. So erhöhte sich das Skandalpotenzial der Vorwürfe immens, denn der preußische Landwirtschaftsminister war in der politischen Sphäre des Kaiserreichs weithin bekannt: Victor von Podbielski entstammte dem preußischen Landadel. Zwischen 1862 und 1891 diente er im Rang des Generalmajors als Kommandeur der 34. Kavallerie-Brigade in Metz. Nach Beendigung seiner aktiven Militärlaufbahn führte er verschiedene landwirtschaftliche Unternehmen, die in der Nähe seiner Güter im Landkreis Prignitz in der Provinz Brandenburg angesiedelt waren. Podbielski war von 1893–1897 Reichstagsabgeordneter der Deutschkonservativen Partei und aktives Mitglied im BdL. Seine rege politische Arbeit machte ihn auch mit Kaiser Wilhelm II. bekannt, der den konservativen Agrarier schätzte und zu

749 Vgl u. a. Berliner Tageblatt, Die neue Tippelskirch-Affäre, 30. 7. 1906AA. Der Vorwärts berichtete, dass Fischer ein »Tippelskirchsches Automobil zur Verfügung stand«, vgl. Ders., Ein neuer Kolonialskandal, 31. 7. 1906. 750 Vgl. Berliner Tageblatt, Die neue Tippelskirch-Affäre, 30. 7. 1906AA; Vorwärts, Koloniale Korruption, 1. 1. 1906, Neue Preußische Zeitung, Major Fischer, 31. 7. 1906AA. Die Vossische Zeitung stellt die erstaunliche Machtfülle Fischers in Frage: Vossische Zeitung, Tippelskirch u. Co., 7. 8. 1906MA. 751 Berliner Tageblatt, Ein Panama?, 31. 7. 1906MA. 752 Vorwärts, Koloniale Korruption, 1. 8. 1906; Germania, Die Darlehen der Firma v. Tippelskirch, 2. 8. 1906, Bl. 1; Zitat: Vossische Zeitung, Die Verhaftung des Majors Fischer, 1. 8. 1906AA. 753 Vorwärts, Zurück, du rettest den Freund nicht mehr!, 4. 8. 1906.

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verschiedenen privaten Anlässen willkommen hieß.754 1897 wurde Podbielski als Staatssekretär in das Reichspostamt berufen, seit 1901 bekleidete er das Amt des preußischen Landwirtschaftsministers. Besonders seine Agrar- und Zollpolitik polarisierte stark und wurde in der Presse kontrovers und hitzig diskutiert, was zu seiner Bekanntheit in der politischen Öffentlichkeit beigetragen hatte.755 Die Vorwürfe, die das Berliner Tageblatt und Matthias Erzberger Monate zuvor gegen Podbielski erhoben hatten, wurden in dem Skandal im August 1906 nun präzisiert. Von der Presse erfuhr die Öffentlichkeit, dass Podbielski bereits seit Gründung des Unternehmens Tippelskirch 1887 dessen Teilhaber und maßgeblich in den Aufbau des Betriebes involviert gewesen war. Das Berliner Tageblatt wusste zu berichten, dass die Familie des Ministers noch immer mit vierzig Prozent des Gesamtkapitals an dem Unternehmen beteiligt sei.756 Je mehr Details über die Verbindung zwischen Podbielski und Tippelskirch bekannt wurden, umso mehr verschob sich das Interesse der Öffentlichkeit von einem »Fall Tippelskirch«/»Fall Fischer« hin zu einem »Fall Podbielski«.757 Zwei Fragen standen dabei besonders im Fokus: Zum einen spekulierte die politische Öffentlichkeit, ob auch Podbielski Darlehen an Major Fischer vergeben hatte.758 Zum andern diskutierte sie, in welcher Form der preußische Minister von dem Unternehmen und dessen Monopolverträgen profitiert hatte oder noch immer profitierte. Zentral für die Debatte war damit die Doppelrolle Podbielskis als Politiker und Unternehmer ; die Frage nach der Legitimität und den Auswirkungen seiner Handlungen charakterisierten den Skandal maßgeblich. Prägend war in diesem Kontext das Auftreten Matthias Erzbergers als Enthüllter politischer Missstände. Darüber hinaus verfügte die Korruptionsdebatte noch über eine weitere wichtige Facette, die ebenfalls durch die Verknüpfung Podbielskis mit den Korruptionsvorwürfen konstituiert und im Verlauf des Skandals immer dominanter wurde, bis sie die Presseberichterstattung dominierte: Reichs754 Zu Victor von Podbielski liegt keine detaillierte, wissenschaftliche Biographie vor. Vgl für biographische Daten: Reinhold Zilch: »Podbielski, Victor Adolf Theophil von« in: Neue Deutsche Biographie 20 (2001), S. 555, http://www.deutsche-biographie.de/ppn116247479. html (20. 3. 2015). Hinweise auch in: GStA PK, I. HA. Rep. 87, ZB Nr. 368, Personalakte Podbielski; GStA PK IV. HA. Rep. 7, Nr. 4890, Victor von Podbielski. Zur Verbindung Podbielski–Wilhelm II. u. a. Peter Winzen: Im Schatten Wilhelms II. Bülows und Eulenburgs Poker um die Macht im Kaiserreich, Göttingen 2011, S. 342. 755 Über Podbielskis Politik wird später noch zu sprechen sein. Im GStA PK und in den Akten des Reichslandbundarchivs (BUA) sind ausführliche Pressesammlungen vorhanden, die das Interesse der Öffentlichkeit an Podbielski belegen, vgl.: GStA PK, I. HA. Rep. 87, ZB Nr. 373; GStA PK, I. HA Rep. 87, ZB Nr. 374; BUA R8034-III/354 Reichslandbund Pressearchiv. 756 Berliner Tageblatt, o. T., 3. 8. 1906. 757 Vgl. bsph. Post, Zum Fall Tippelskirch, 18. 8. 1906MA; Dies., Zur Podbielski-Krisis, 21. 8. 1906MA. Ähnliche Umdeutungen sind in der Majorität der Zeitungen zu finden. 758 Beispielhaft Berliner Tageblatt, Eine Erklärung des Herrn v. Tippelskirch, 3. 8. 1906AA.

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kanzler Bernhard von Bülow instrumentalisierte den Vorwurf der Korruption, um einen innenpolitischen Konflikt zu adressieren, der sich in der Frage nach dem Rücktritt des Landwirtschaftsministers verdichtete. Die Debatte um den sogenannten Fall Podbielski beschäftigte die politische Öffentlichkeit kontinuierlich über mehrere Monate – sie erstreckte sich über die intensivste Phase der Skandalberichterstattung im Juli 1906 bis in den November desselben Jahres. Anstatt den Skandal im Folgenden in seinen Einzelheiten chronologisch aufzubereiten, wird sich die Analyse drei Aspekten widmen, welche die Besonderheiten des Skandals veranschaulichen. So werden zu Anfang die medial vermittelten Vorstellungen von ›korruptem‹ Verhalten und legitimem Handeln politischer Amtsträger untersucht, die in der vielstimmigen Beurteilung von Fischer und Podbielski zum Ausdruck gebracht wurden. Das auf diese Weise identifizierte gesellschaftliche Normengefüge soll den Normenaushandlungsprozessen, die sich in dem Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen 1873 widerspiegelten, gegenübergestellt werden. Auf diese Weise wird untersucht, ob Handlungsnormen, die das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft maßgeblich prägten, im Lauf der Jahre bestätigt oder verändert wurden. Im Anschluss wird die politische Dimension des Korruptionsskandals im Vordergrund stehen. Am Beispiel von Matthias Erzberger wird die Rolle eines einzelnen Skandalierers, seine Motive und seine Einbettung in das politische Feld, analysiert. In den vorangegangenen Kapiteln wurden politische Lager und ihnen nahestehende Presseorgane aus pragmatischen Gründen vielfach zu einer Akteursgruppe mit annähernd homogenen Interessen komprimiert. Am Beispiel des Zentrumspolitikers werden nun exemplarisch die Motive eines einzelnen Akteurs aufgefächert und analysiert. Während eine solche Untersuchung in der Mehrzahl der hier vorgestellten Korruptionsdebatten aufgrund unzureichender Quellenmaterialien nicht realisierbar ist, bietet sich der Tippelskirchskandal aus zwei Gründen besonders für eine solche Analyse an. So existiert einerseits eine Vielzahl von Quellen, die zweifelsohne aus der Feder Matthias Erzbergers stammen und die sich in einem bereits gut erforschten historischen Umfeld verorten lassen. Andererseits wurde bereits in der zeitgenössischen Berichterstattung zwischen den Motiven Erzbergers und den Motiven der Zentrumspartei unterschieden. Dieser Umstand begünstigt die Analyse und unterstreicht zugleich ihre Signifikanz. Erstmals kann die Untersuchung darlegen, dass einzelne Skandalierer wie Erzberger häufig von einer Gemengelage unterschiedlicher Motive inspiriert wurden und sich gegen eine Vielzahl abweichender Interessen – auch aus den Reihen der eigenen Partei – durchsetzen mussten. Abschließend wird untersucht, wie Reichskanzler Bülow den Korruptionsskandal als Austragungsort eines innenpolitischen Konflikts um den zukünftigen Kurs des Kaiserreichs instrumentalisierte. Das Vorgehen Bülows illustriert

Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger 1873–1906

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exemplarisch die Bedeutung des Korruptionsvorwurfs für die politische Kommunikation im Kaiserreich. Es verdeutlicht, dass nicht nur Angehörige politischer Parteien und der Presse, sondern auch Regierungsvertreter den Vorwurf der Korruption einzusetzen wussten und dass die Bedeutung modernen Medien für derartige Instrumentalisierungen stetig zunahm. Die Analyse geht in diesem Kapitel aber noch einen Schritt weiter und versucht, von den Motiven der Akteure auch auf deren Handlungsspielräume zu schließen. Sie nimmt die Frage in den Blick, ob der Vorwurf der Korruption in der politischen Kommunikation konstitutionelle Rahmenbedingungen erweiterte und Akteuren neue Freiräume eröffnete.

5.1

Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger 1873–1906

Die Analyse der beiden französischen Korruptionsskandale im vorherigen Kapitel hat gezeigt, dass sich die Bewertung verschiedener mikropolitischer Praktiken als korrupt in den Jahren vor der Jahrhundertwende in Frankreich und Deutschland zunehmend homogenisierte. Praktiken wie Bestechung oder der Missbrauch eines politischen Amts wurden, wie an den Beispielen der Panama Compagnie und Daniel Wilsons gezeigt, einheitlich als korrupt gebrandmarkt. Die Normen, nach denen das Handeln von Amts- und Mandatsträgern bewertet wurde, wurden immer seltener öffentlich in Frage gestellt. Der Tippelskirchskandal bietet nun die Möglichkeit, diese Entwicklung weiter zu verfolgen und im Vergleich mit den vorherigen Korruptionsdebatten noch einmal zu prüfen. So wird untersucht, ob die politische Öffentlichkeit des Kaiserreichs mit gleicher Strenge über Bestechung und Amtsmissbrauch in Deutschland urteilte, wie sie es im Skandal der Dekorationen und im Panamaskandal getan hatte. Tatsächlich offenbart die Analyse der Korruptionsdebatte von 1906, dass die politische Hauptstadtpresse die im Skandal enthüllten Vorgänge einheitlich als korrupt bewertete, dabei aber sehr wohl zwischen dem Vorwurf der Bestechung gegen Fischer einerseits und den Handlungen Podbielskis andererseits unterschied. In ihrem Urteil über Fischer waren sich Zeitungen verschiedenster Gesinnungen einig: Mit der freundschaftlichen Darlehensvergabe an den Verwaltungsbeamten war die Grenze zwischen privater und öffentlicher bzw. dienstlicher Sphäre verwischt und die Unparteilichkeit Fischers gefährdet worden.759 759 Vgl. bsph. Berliner Tageblatt, Ein Panama?, 31. 7. 1906MA; Vossische Zeitung, Tippelskirch und Fischer, 31. 7. 1906AA; Kölnische Volkszeitung, Die Verhaftung des Majors Fischer, 30. 7. 1906AA; Germania, Die Verhaftung des Majors Fischer und der Tippelskirch-Vertrag,

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Der Verdacht der Bestechlichkeit, der zu der Verhaftung des Majors geführt hatte, wurde von der Presse von Beginn an als plausibel bewertet. Die Zeitungen hielten es für wahrscheinlich, dass sich hinter der Beziehung zwischen Fischer und Tippelskirch mehr als nur die Vertretung staatlicher Interessen verbarg. Selbst Zeitungen, die proklamierten, sich in ihrer abschließenden Bewertung der Vorgänge bis zum Ende des Verfahrens zurückzuhalten, hinterfragten nicht die grundsätzliche Notwendigkeit einer solchen Untersuchung. Stattdessen wurde wiederholt die Überzeugung geäußert, dass die gründliche Aufklärung der Vorwürfe auch aus Rücksicht auf das ›Ansehen der Nation im Auslande‹ wünschenswert sei.760 Der ›korrupte‹ Charakter des potenziellen Bestechungsvorgangs und das damit einhergehende negative moralische Urteil über Fischer wurde von keinem Medium in Frage gestellt. Uneinigkeit herrschte unter den politischen Zeitungen hingegen über die Bedeutung des »Falles Fischer« für das deutsche Verwaltungs- und Kolonialsystem und über angemessene Formen medialer Aufarbeitung. Vertreter der Sozialdemokratie, der Linksliberalen und des Zentrums deuteten die Vorgänge wiederholt als Beleg für größere Missstände in der Verwaltung. Der Vorwärts beispielsweise argumentierte, dass die »koloniale Korruption« in der »Natur der Dinge« liege, da sie der Auswuchs einer »kolonialen Ausbeutungspolitik des internationalen Kapitalismus« sei.761 Das Blatt forderte als Konsequenz aus »dem völlig korrupten Kolonialsystem« daher nicht die Verbesserung, sondern den resoluten Bruch mit der Kolonialpolitik.762 Nur geringfügig milder urteilte das Berliner Tageblatt, das von »unpreußisch[en]« Verwaltungsgrundsätzen in der Kolonialverwaltung sprach, die eine potenzielle Gefährdung darstellten. Die Zeitung argumentierte, dass die Stärke Preußens vor allem auf der herausragenden Leistungsfähigkeit seiner Bürokratie beruhe, man diese aber nach den verschiedenen skandalösen Enthüllungen in Frage stellen müsse.763 Dem ent-

760

761 762 763

31. 7. 1906, Bl. 1; Neue Preußische Zeitung, Die innere Politik der Woche, 5. 8. 1906 Sonntagsausgabe. Die Post, Die Verhaftung des Majors Fischer, 4. 8. 1906MA; Deutsche Tageszeitung, Opfer des Mammons, 4. 8. 1906AA; Neue Preußische Zeitung, Die innere Politik der Woche, 12. 8. 1906MA: »Man sollte dem Auslande doch nicht vorreden, als glaubten Deutsche an die Korruption deutscher Regierung und Gerichte!« Das Argument des Ansehensverlusts wurde von verschiedenen Zeitungen genutzt, um die Dringlichkeit der Situation hervorzuheben und den eigenen Forderungen Druck zu verleihen, vgl. u. a. Artikel des Reichsboten, zitiert in: Germania, Die Affäre Fischer-Tippelskirch, 5. 8. 1906, Bl. 2. Vorwärts, Koloniale Korruption, 1. 8. 1906. Vgl. auch: Ders., Herr Spahn über die Kolonialskandale, 30. 8. 1906: »Die Kolonialkorruption steckt so sehr im Wesen des Kapitalismus selbst […].« Zitat: Vorwärts, Fürst Bülow Mitschuldiger der Kolonialkorruption?, 2. 8. 1906. Vgl. auch: Ders., Koloniale Korruption, 1. 8. 1906; Ders., Das ganze System ist korrupt!, 2. 8. 1906; Ders., Kolonialpolitik, 14. 9. 1906. Berliner Tageblatt, »Unpreußisch!«, 31. 7. 1906AA; Dass., Das Grundübel, 17. 8. 1906MA. Vgl. auch: Berliner Lokal-Anzeiger, Umschau, 12. 8. 1906.

Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger 1873–1906

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gegengesetzt hob die konservative Kreuzzeitung hervor, dass es sich bei den Kolonialskandalen um »bedauerliche Einzelfälle« handele. Diese Argumentation vertrat auch die Deutsche Tageszeitung, die darüber hinaus betonte, dass die Missstände in der Kolonialverwaltung nicht repräsentativ für den gesamtdeutschen Beamtenkörper seien.764 Beide Blätter erblickten in der Sommerpause des Reichstages (Juni–November 1906) und dem anhaltenden »sommerlichen Stoffmangel« Gründe für die mediale Ausschlachtung der Vorwürfe und kritisieren deren Instrumentalisierung durch verschiedene politische Richtungen.765 Zwar gab die Kreuzzeitung zu, dass die Auswahl der Beamten in den letzten Jahren unglücklich gewesen sei und man sich »nicht gegen die Seuche der Korruption immun erwiesen habe«, doch unterstrich sie auch, dass das Reich über genug Kraft verfüge, die »Krankheitsherde radikal auszurotten«.766 Diese Passagen sind beispielhaft für die Presseberichterstattung während des Tippelskirchskandals. Sie bestätigen die Ergebnisse des vorangegangenen Kapitels und zeigen, dass in der politischen Öffentlichkeit des Kaiserreichs verschiedene mikropolitische Praktiken wie Bestechung oder Amtsmissbrauch eindeutig als Korruption identifiziert wurden. Dass dieser Normenkonsens dabei nicht nur auf andere Länder, sondern auch für das Kaiserreich angewendet wurde, zeigt die Verurteilung Fischers, die so eindeutig ausfiel, dass der Verlauf und die Ergebnisse der Untersuchung gegen den Major im öffentlichen Interesse schnell hinter den weitaus prominenteren Fall Podbielski zurücktraten. Betrachtet man in einem nächsten Schritt sodann, wie die politische Öffentlichkeit über Landwirtschaftsminister Podbielski urteilte, offenbart sich ein ähnliches Bild. Auch über ihn sprach die Majorität der politischen Tagespresse ein einstimmiges Urteil: Sie lehnte die Teilhaberschaft Podbielskis an der Lieferfirma Tippelskirch entschieden ab. Die Frankfurter Zeitung beispielsweise erklärte, dass sich Podbielskis »Verquickung mit der Tippelskirchgesellschaft und damit das hohe finanzielle Interesse an den Lieferungen für das Reich […] nicht mit der Stellung eines einflußreichen Staatsbeamten« vertrage.767 In ähnlicher Form argumentierten Zeitungen unterschiedlichster politischer Couleur.768 Es sei nur natürlich, Bedenken zu hegen, wenn »ein hoher Beamter 764 Deutsche Tageszeitung, Opfer des Mammons, 5. 8. 1906 Sonntagsausgabe. Vgl. auch Post, o. T., 4. 8. 1906AA: »Von einem Panama unserer Kolonialverwaltung zu reden, aber ist Nonsens.« 765 Beispielhaft Neue Preußische Zeitung, Deutschland, 14. 8. 1906MA; Dies., Innere Politik der Woche, 26. 8. 1906MA; Deutsche Tageszeitung, Zeitfragen. An ihren Früchten …, 12. 8. 1906 Sonntagsbeilage. 766 Neue Preußische Zeitung, Die innere Politik der Woche, 12. 8. 1906MA; Dies., Die innere Politik der Woche, 5. 8. 1906 Sonntagsausgabe. 767 Frankfurter Zeitung, o. T., 17. 8. 1906AA. 768 Beispielhaft Reichsbote, Staatsbeamte und Unternehmertum, 19. 8. 1906, Nr. 51; Breslauer Zeitung, o. T., 17. 8. 1906AA; Kölnische Zeitung, o. T., 14. 9. 1906MA; Hannoverscher

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Privatinteressen vertritt, die vielleicht mit den Staatsinteressen kollidieren«, fasste das Berliner Tageblatt die Gründe für ihr Unbehagen pointiert zusammen.769 Auch hoben verschieden Zeitungen hervor, dass es preußischen Traditionen entspreche, private wirtschaftliche Unternehmungen mit dem Eintritt in ein Ministerium zu beenden.770 Allein unter den Befürwortern Podbielskis gab es einige wenige Zeitungen, welche die Vorwürfe gegen den Landwirtschaftsminister einer anderen Bewertung unterzogen. Allen voran suchte die Deutsche Tageszeitung, offensiv dem Vorwurf entgegenzutreten, Podbielski habe Interessenpolitik betrieben und mit seiner Teilhaberschaft gegen herrschende Konventionen verstoßen. Das Sprachrohr des BdL, dem Podbielski als aktives Mitglied angehörte, argumentierte, »es ist doch von jedem Staatsminister unbedingt zu erwarten, daß sein Privatbesitz seine Unparteilichkeit nicht gefährdet und seine Tätigkeit nicht in unrichtiger Weise beeinflußt.«771 Auch hob die Zeitung hervor, dass schon Reichskanzler Bismarck vorgeschlagen habe, Staatsminister für ihren Dienst mit landwirtschaftlichen Gütern zu entlohnen, um so ihre Unterstützung der deutschen Landwirtschaft zu fördern.772 Bei den Vorwürfen, so das Blatt, handele es sich einzig um ein politisches Manöver gegen den Agrarier und Royalisten Podbielski.773 Trotz aller Beteuerung, dass das Verhalten

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772 773

Courier, o. T., 19. 8. 1906MA; Staatsbürger-Zeitung, v. Podbielski, 19. 8. 1906MA; Welt am Montag, Schmierfinken, 13. 8. 1906, Nr. 33; Vossische Zeitung, Die Genesung des Reichskanzlers, 15. 8. 1906MA; Frankfurter Zeitung, Zum Fall Podbielski, 6. 9. 1906MA; Berliner Abendpost, Die Podbielski-Krisis, 21. 8. 1906; Münchner Allgemeine Zeitung, Die Krisis im preußischen Landwirtschaftsministerium, 2. 9. 1906, darin zitiert: Artikel der Neuen Gesellschaftskorrespondenz und der Militärisch-Politischen Korrespondenz. Berliner Tageblatt, Das Grundübel, 17. 8. 1906MA. Beispielhaft Vossische Zeitung, o. T., 5. 9. 1906AA; Berliner Tageblatt, »Unpreussisch!«, 31. 7. 1906AA; Dass., Podbielski der Schweiger, 7. 8. 1906AA. Als Vorbilder nannte das Berliner Tageblatt die ehemaligen Minister Möller (preußisches Handelsministerium, 1901–1905) und Friedenthal (Preußisches Staats- und Landwirtschaftsministerium, 1874–1879). Um Kritik vorzubeugen, unterschied die Zeitung genau zwischen der legitimen Verwaltung landwirtschaftlicher Betriebe und damit verbundener Industrie (wie z. B. Landgüter und darin enthaltene Tierzuchtbetriebe Podbielskis) und der »unpreußischen« Beteiligung an kaufmännischen Unternehmen, die Geschäfte mit dem Staat unterhielten. Deutsche Tageszeitung, Der Landwirtschaftsminister und die Firma von Tippelskirch, 2. 8. 1906AA. Vgl. auch: Dies., Von der Hetze gegen den Landwirtschaftsminister, 13. 8. 1906AA. Die Deutsche Tageszeitung argumentierte, dass Podbielski seine geschäftlichen Beziehungen nicht aufzugeben habe, außer »wenn er diese Beziehungen in irgend welcher unlauteren Weise für sich oder sein Amt zu einer sachlichen unbegründeten Förderung der Firma ausgenutzt hätte.« Zudem hob das Blatt hervor, dass Podbielski nicht in der Kolonialverwaltung tätig gewesen sei und daher von jedem Vorwurf enthoben werden müsse, vgl. Dies., o. T., 15. 9. 1906AA. Deutsche Tageszeitung, Der Landwirtschaftsminister und die Firma von Tippelskirch, 2. 8. 1906AA. Deutsche Tageszeitung, Die sogenannte Krisis, 3. 9. 1906AA.

Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger 1873–1906

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des Ministers »einwandfrei«774 sei, musste aber auch die Deutsche Tageszeitung eingestehen, dass es politisch »bequemer« gewesen wäre, wenn Podbielski auf die Teilhaberschaft verzichtet hätte.775 Dass sein Ministerposten mit der Teilhabe an Tippelskirch nicht den Normen der Zeit entsprach, darüber – so legen verschiedene Entwicklungen nahe – war sich auch Podbielski bewusst: Nicht nur ließ er seine Frau als stille Teilhaberin die Firmenanteile verwalten, drei Jahre nach seiner Berufung in das Reichspostministerium führte Podbielski im Jahre 1909 zudem eine Gütertrennung durch. Zu Beginn des Skandals beriefen sich die Verfechter Podbielskis wohlwollend auf diesen juristischen Kniff, doch die Majorität der politischen Presse interpretierte die Gütertrennung als Bestätigung dafür, dass sich der Minister seines illegitimen Handelns bewusst gewesen sei.776 In vielen Zeitungen wurde das Ehepaar Podbielski damit zur Zielscheibe von Kritik und Spott, wie die folgende Karikatur zeigt. In der Rückschau weist der Fall Podbielski einige Ähnlichkeiten mit dem Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen auf. 1873 wurde der Vortragende Rat des preußischen Staatsministeriums, Hermann Wagener, beschuldigt, sein Amt genutzt zu haben, um sich gewinnbringend an verschiedenen Eisenbahnunternehmungen zu beteiligen. Die Analyse der politischen Tagespresse (vgl. Kap. 2) hat gezeigt, dass die Vorstellung von getrennten privaten und öffentlichen Sphären, zwischen denen sich Staatsbeamte bewegten, zu Beginn der 1870er Jahre bereits existierte, dass deren respektive Handlungsnormen jedoch noch nicht gesellschaftlich austariert waren. So stritten die verschiedenen Zeitungen, ob Wagener zu jeder Zeit den Normen eines Beamten unterworfen sei, oder ob er gleichzeitig als Privatmann den Normen der privaten Sphäre folgen könne.

774 Beispielhaft Deutsche Tageszeitung, Zur Angelegenheit des Landwirtschaftsministers, 29. 8. 1906MA. 775 Deutsche Tageszeitung, Der Landwirtschaftsminister und die Firma von Tippelskirch, 2. 8. 1906AA. 776 Verteidigend: Berliner Lokal Anzeiger, Meldung aus Bad Neundorf, 7. 8. 1906AA. Frankfurter Zeitung, o. T., 17. 8. 1906AA; bsph. auch: Breslauer Zeitung, o. T., 20. 8. 1906AA; Germania, Minister v. Podbielski über den Fall Fischer-Tippelskirch, 9. 8. 1906, Bl. 1.

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Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906

Abb. 4 »Podbielski, Tippelskirch & Co.«, Karikatur 1906777

777 Ähnliche Karikatur in Simplicissus, Nr. 22, 1906, S. 356. Die Karikatur zeigt das Ehepaar Podbielski bei der Jagd. Sophie Podbielski hält den erlegten (Reichs-)Adler in den Händen, ihr Mann (mit der Jagdwaffe in der Hand) fordert sie auf: »Sophie, du musst ihn rupfen.«

Normendebatten über legitimes Handeln politischer Amtsträger 1873–1906

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Dieser Normenaushandlungsprozess gleicht auf den ersten Blick der 1906 geführten Debatte um die Teilhaberschaft Podbielskis an der Firma Tippelskirch. Die Deutsche Tageszeitung bemühte die verwandte Argumentation, dass Podbielski die Pflichten, die ihm sein politisches Amt auferlege, ungeachtet seiner privaten Interessen objektiv erfüllen könne. Die Gegenseite hingegen vertrat – ähnlich wie die nationalliberale Presse 1873 – den Standpunkt, dass Beamte und Mandatsträger immer den Konventionen der öffentlichen Sphäre verpflichtet seien und eine Trennung zwischen privater und öffentlicher Person unmöglich sei.778 Trotz dieser Analogien in den Argumentationen gibt es Unterschiede zwischen 1873 und 1906: Während im Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen öffentlich und mehrstimmig über gesellschaftliche Normen diskutiert wurde, lässt sich in der Presseberichterstattung über den Fall Podbielski ein eindeutiger Kanon erkennen. Die Majorität der Presse sprach sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen die Teilhaberschaft des Ministers an einem privaten Unternehmen aus, das Geschäfte mit dem Reich unterhielt. Diese Position wurde mit Verweisen auf prominente Amtsträger untermauert, die in der Vergangenheit diesem gesellschaftlichen Konsens gefolgt waren.779 Auch Bernhard Dernburg, der Nachfolger des Kolonialdirektors Hohenlohe-Langenburg, der im Zug des Skandals im Spätsommer 1906 zurücktrat, beugte sich den im Skandal bestätigten Normen und beendete vor Amtsantritt sämtliche seiner geschäftlichen Unternehmungen.780 So muss am Beispiel des Tippelskirchskandals festgehalten werden, dass Korruptionsdebatten auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Orte gesellschaftlicher Reflexionsprozesse waren. Nicht immer wurden in ihnen Normen neu verhandelt, wie es 1873 im Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen nachgewiesen werden konnte. Stattdessen zeigt der Tippelskirchskandal, dass Korruptionsdebatten dazu dienten, bereits vorhandene Normen zu testen, sich ihrer zu versichern und sie gegebenenfalls zu bestätigen. Darüber hinaus legt die Analyse des Skandals nahe, dass mit dem Korruptionsvorwurf zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar keine Generalkritik des Kaiserreichs einherging, wie sie beispielsweise im Panamaskandal 1892/93 von französischen Zeitungen propagiert worden war, man aber doch zunehmend Kritik an Teilaspekten, wie in 778 Besonders pointiert in der Satire der Welt am Montag, Schmierfinken, 13. 8. 1906, Nr. 33: »Denn, wie S. M. so außerordentlich impulsiv, ritterlich und hochherzig sagte, die Herren von der Presse haben kein Verantwortlichkeitsgefühl, während bei Ihnen [Podbielski] doch gerade diese Qualität so sehr stark ausgebildet ist. Sie unterscheiden genau zwischen: a) dem Menschen Podbielski b) Dem Minister Podbielski c) Dem Vertreter seiner Frau.« Die Welt am Montag spielt hier auf die Tatsache an, dass Podbielski seine Anteile an der Firma Tippelskirch in einer zwielichtigen Aktion seiner Frau überschrieb und sich damit öffentlich rechtfertigte. 779 Vgl. Verweis 770. 780 Vgl. Vossische Zeitung, o. T., 28. 9. 1906AA.

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Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906

diesem Falle dem Kolonialsystem, übte. Diese These wird in den kommenden Abschnitten weiter geprüft.

5.2

Motive eines Skandalierers: Matthias Erzberger und die Zentrumspartei

Was die moralische Beurteilung von Major Fischer und Victor von Podbielski anging, herrschte in der politischen Sphäre des Kaiserreichs somit große Eindeutigkeit. Lediglich die Verteidiger des Landwirtschaftsministers versuchten, die moralischen Standards im Sinne Podbielskis auszulegen, um dessen Verhalten von jeglichem Vorwurf freizusprechen. Dass hinter diesem Vorgehen politisches Kalkül stand, ist anzunehmen. Damit ist auf die politische Komponente der Korruptionsdebatte verwiesen: Politische Interessen inspirierten und leiteten das Vorgehen der Akteure während des Skandals. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der als einer der ersten Abgeordneten im deutschen Kaiserreich die Rolle des Skandalierers für sich in Anspruch nahm und versuchte, diese positiv zu besetzten. In den Kolonialdebatten und -skandalen, die das Reich über mehrere Jahre hinweg erschütterten und die im ›Skandaljahr‹ 1906 gipfelten, engagierten sich verschiedene Reichstagsabgeordnete und Zeitungen besonders regelmäßig. Durch kritische und kenntnisreiche Redebeiträge im Reichstag, hartnäckiges Nachfragen oder kontinuierliche Berichterstattung hatten sie sich in der Öffentlichkeit einen Namen als Kolonialexperten erarbeitet. Zu dieser heterogenen Gruppe gehörte unter anderem das Berliner Tageblatt, der linksliberale Abgeordnete Bruno Ablaß sowie Vertreter der Sozialdemokratie wie August Bebel und Georg Ledebour. Auch in den Reihen des Zentrums hatten sich einzelne Parlamentarier hervorgetan, die über die Verbindung ihrer Partei zu Missionarsgruppen in den Schutzgebieten exklusive Informationen beziehen konnten.781 Der engagierteste und bekannteste unter den katholischen Abgeordneten war Matthias Erzberger, der es wie kein anderer schaffte, in der Presse und dem Reichstag durch informierte Artikel und Wortmeldungen auf sich aufmerksam zu machen und sich über den Verlauf mehrerer Jahre öffentlichkeitswirksam als Enthüller zu inszenieren. Die Karikatur »Pod und Co.«, die im April 1906 in der Satirezeitung Kladderadatsch abgedruckt wurde, illustriert dieses von Erzberger bewusst geförderte Rollenklischee: Sie zeigt Podbielski, der beobachtet, wie der Zentrumsabgeordnete sein Mastschwein »Tippelskirch« entschlossen zur Schlachtung 781 Siehe: Bösch, Öffentliche Geheimnisse, u. a. S. 290f. Hervorzuheben ist etwa das Engagement von Hermann Roeren.

Motive eines Skandalierers: Matthias Erzberger und die Zentrumspartei

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Abb. 5: »Pod und Co.«, Karikatur des Kladderadatsch 1906

vorbereitet.782 Die Karikatur entstand wenige Monate vor Beginn des Tippelskirchskandals in Anlehnung an die Reichstagsrede Matthias Erzbergers vom 23. März 1906. Der Abgeordnete hatte vor dem Plenum die Auflösung des Monopolvertrags zwischen Tippelskirch und dem Reich gefordert und die Beteiligung eines preußischen Ministers an dem Unternehmen kritisiert.783 Nicht nur scheint der Kladderadatsch die Ereignisse des wenig später einsetzenden Skandals prognostiziert zu haben. Die Karikatur ist darüber hinaus auch ein Beleg für die gelungene mediale Inszenierung Erzbergers, der mit Beginn der Kolonialdebatte begann, das Rollenbild eines Enthüllers für sich zu beanspruchen – wie bereits verschiedene Forschungsarbeiten feststellen konnten.784 Im Folgenden wird untersucht, wie Erzberger die Mechanismen der Korruptionskommunikation für sich zu nutzen wusste. Im Fokus stehen seine Motive, die, sofern möglich, aus seinem Handeln und seiner Biographie erschlossen werden. Nicht zuletzt wird dargestellt, auf welche Widerstände der Abgeordnete bei seinem Vorgehen stieß. 782 Podbielski betrieb auf seinen Gütern eine eigene Schweinezucht; so verkörpert die Schlachtsau gleichsam Podbielskis Teilhaberschaft an Tippelskirch wie auch den durch das Unternehmen gewonnenen Profit. 783 73. Sitzung des Deutschen Reichstags, XI. Legislaturperiode, 23. 3. 1906. 784 Vgl. bes. Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 294–297. Auch: Christine Leitzbach: Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches 1895–1914, Frankfurt a. M. 1998.

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Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906

Die politische Karriere Matthias Erzbergers befand sich 1906 noch in ihren Kinderschuhen. Erst drei Jahre zuvor war der 28-jährige württembergische Journalist und Zentrumspolitiker in den Reichstag gewählt worden.785 Er beschloss, sich ganz der Reichspolitik zu widmen und zog mit seiner Familie nach Berlin, eine Entscheidung, die bis dato für Mitglieder des Reichstags recht ungewöhnlich war. Auch in der Wilhelminischen Ära gab es noch eine Vielzahl Abgeordneter, die nicht von ihrem Mandat lebten, sondern ihre parlamentarische Arbeit quasi nebenberuflich ausübten und nur zeitweise in Berlin verkehrten. Dazu trug vor allem der Umstand bei, dass erst ab 1906 geregelte Abgeordnetendiäten durch den Staat gezahlt wurden.786 Auch entwickelten sich viele Parteien erst um die Jahrhundertwende unter Eindruck der zunehmenden Professionalisierung und Medialisierung der Politik von Honoratiorenschrittweise zu modernen ›Massenparteien‹, deren Fraktionsmitglieder Politik als Profession betrieben.787 Erzberger verkörperte diesen neuen Typus des Berufspolitikers. Um den Lebensunterhalt seiner Familie zu bestreiten, wusste er die Vorzüge seines politischen Amtes geschickt zu nutzen: In Berlin angekommen, gründete er eine politische Pressekorrespondenz, die vor allem katholische Regional- und Lokalzeitungen belieferte. Außerdem schrieb Erzberger neben seiner Abgeordneten- und Korrespondententätigkeit wiederholt für verschiedene Zeitungen wie etwa das Deutsche Volksblatt (Württemberg), die Allgemeine Rundschau (München) und die reichsweit rezipierte Kölnische Volkszeitung.788 Er nutzte den direkten und unmittelbaren Zugang zu Informationen, über den er als Abgeordneter verfügte, um seine Nachrichtenkorrespondenz zuverlässig und schnell mit Neuigkeiten zu beliefern. Auf diese Weise transferierte Erzberger die Pri785 Zu Matthias Erzberger sind wenige umfassende biographische Darstellungen vorhanden, als Standardwerk gilt: Klaus Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1959. Seitdem erschienen sind u. a. Christoph E. Palmer/Thomas Schnabel (Hrsg.): Matthias Erzberger 1875–1921. Patriot und Visionär, Stuttgart/Leipzig 2007; Leitzbach, Matthias Erzberger ; Christopher Dowe: Matthias Erzberger. Ein Leben für die Demokratie, Stuttgart 2011. 786 Die Abgeordnetendiäten waren bereits 1901 im Reichstag beschlossen worden, wurden aber durch den Bundesrat mehrere Jahre blockiert. Auch bei Kaiser Wilhelm II. stießen sie auf große Ablehnung. 787 Vgl. bsph. Sperlich, Journalist mit Mandat; Hehl, Vom Honoratioren- zum Berufspolitiker ; Stalmann, Volker : »Vom Honoratioren-zum Berufspolitiker : Die konservativen Parteien (1867–1918)«, in: Lothar Gall (Hrsg.), Regierung, Parlament und Öffentlichkeit im Zeitalter Bismarcks. Politikstile im Wandel, Paderborn 2003, S. 91–126. 788 Vgl. Christoph E. Palmer : »Matthias Erzberger-Ein Politiker neuen Typs«, in: Ders./Thomas Schnabel (Hrsg.), Matthias Erzberger 1875–1921. Patriot und Visionär, Stuttgart/ Leipzig 2007, S. 140–162; Wulf Reimer : »Erzberger als Journalist«, in: Christoph E. Palmer/ Thomas Schnabel (Hrsg.), Matthias Erzberger 1875–1921. Patriot und Visionär, Stuttgart/ Leipzig 2007, S. 35–52.

Motive eines Skandalierers: Matthias Erzberger und die Zentrumspartei

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vilegien seines Mandats gewinnbringend in ökonomisches, aber auch in soziales Kapital. Seine unternehmerischen und journalistischen Tätigkeiten ließen ihm darüber hinaus genügend Spielraum, um auch seine politischen Ambitionen gezielt zu verfolgen. So gelang es ihm vor allem durch seine Arbeit in der renommierten Budgetkommission des Reichstags, sich nicht nur innerhalb der Zentrumsfraktion, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit des Kaiserreichs einen Namen zu machen.789 Bereits früh begann sich Erzberger neben seiner Arbeit in den Gremien auch mit kolonialpolitischen Problemen zu befassen und diese im Reichstag zu thematisieren. Dabei weckten nicht nur Korruptionsvorwürfe sein Interesse; Erzberger beschäftigt sich beispielsweise auch mit der Organisation der Kolonialabteilung und bezog Stellung zu den verschiedenen Kolonialskandalen der Zeit.790 So begann sein Aufstieg als Kolonialexperte des Zentrums. Die Rolle des Kritikers und Enthüllers wusste Erzberger geschickt zu seinem Vorteil auszugestalten. Besonders im Kontext der Korruptionsvorwürfe gegen Tippelskirch gelang es ihm, sein Engagement als verantwortungsvoll und fürsorgend zu charakterisieren und sich als volksnah und Verteidiger nationaler Interessen darzustellen: »Denn dem deutschen Volke kann nicht zugemutet werden, nach den großen Opfern, die es für Südwestafrika bringt, auch noch solche Opfer für eine potente Firma in Deutschland zu bringen. Fürst Bismarck sagte einmal, die Kolonialpolitik sei dazu da, um Millionäre zu züchten […]. Jedenfalls hat aber Fürst Bismarck seinen Ausspruch nicht so gemeint, daß auf Kosten des Deutschen Reiches diese Millionäre gezüchtet werden sollen.«791

Erzberger zeichnete auf diese Weise das Bild eines Landes, das den Interessen Einzelner zum Opfer fiel, und stilisierte sich als Verteidiger des Volkswohls. Dieses positive Rollenbild, das der Abgeordnete für sich in Anspruch nahm, ist von der Forschung bislang nur bedingt benannt oder beschrieben worden. Der Begriff des Skandalierers ist nur eingeschränkt zutreffend, da er assoziativ vor allem mit dem Einleiten von Korruptionsdebatten und -skandalen in Verbindung gebracht wird und – ähnlich dem Begriff des Whistleblowers heute – in der Vergangenheit sehr kontrovers besetzt war, wie im Folgenden noch gezeigt wird. Im Rahmen des DFG-/ANR-Projekts »Korruption in der Moderne« gab es daher erste Überlegungen, in einem solchen Fall von einem sogenannten Chevalier Blanc zu sprechen. Da der Begriff in der Forschung jedoch noch nicht etabliert 789 Epstein, Erzberger, S. 64f. 790 Ein detaillierter Überblick über die Auseinandersetzung Erzbergers mit kolonialpolitischen Fragen findet sich bei Leitzbach, Matthias Erzberger, Kap. 5, S. 293–398. 791 Redebeitrag Matthias Erzberger, 74. Sitzung, des Deutschen Reichstag, XI. Legislaturperiode, 24. 3. 1906, S. 2258.

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ist, wird an dieser Stelle auf (bisweilen sperrige) Umschreibungen zurückgegriffen. Forscht man nach den Gründen, die Erzberger dazu bewogen, sich ausgerechnet dem Thema der Kolonien zu widmen, so ist diese Frage auch unter seinen Biographen umstritten.792 Es sind keine Quellen bekannt, die seine persönlichen Motive dokumentieren. Sicher ist, dass die Beschäftigung mit der Thematik zwar einerseits ein Einfallstor für Kritik war, andererseits aber auch öffentliche Aufmerksamkeit garantierte, die sich Erzberger nachweislich zunutze machte. Er bediente sich des öffentlichen Forums, das ihm der Reichstag bot, um über das Thema zu referieren, und profitierte von dem Umstand, dass die Parlamentsreden in großen Teilen von der Presse abgedruckt und häufig auch besprochen wurden. Daraus ergab sich eine Wechselwirkung: Nicht nur förderte Erzberger mit seinen Reden die Sichtbarkeit der Kolonialproblematik, das bestehende gesellschaftliche Interesse garantierte ihm zugleich auch die Rezeption seiner Beiträge.793 Ferner nutzte der Abgeordnete die Kanäle seiner Pressekorrespondenz und publizierte regelmäßig selbst in verschiedenen Zeitungen. Er schreckte dabei nicht davor zurück, Werbung in eigener Sache zu betreiben. In einem anonymen Artikel in den Historisch-politischen Blättern für das katholische Deutschland pries er beispielsweise sein eigenes Vorgehen mit folgenden Worten an: »Bekannt ist der scharfe Kampf, den diesen Sommer über der Zentrumsabgeordnete Erzberger gegen die Kolonialpolitik in der K.Vztg. führte […].«794 Auch auf Veranstaltungen trat Erzberger auf und gab zudem eine Abhandlung zu den Kolonialaffären heraus.795 In diesem Kanon wirkten selbst negative Berichte, die hinter Erzbergers Auftreten eigennützige Motive erblickten – »Erzberger hat bei seinem Vorgehen im wesentlichen wohl immer nur die Gloriole des Cato gesucht.« –, bis zu einem gewissen Grad positiv, da sie die mediale Präsenz des Abgeordneten weiter verstärkten.796 792 Vgl. Epstein, Erzberger, S. 70. Im Widerspruch: Leitzbach, Matthias Erzberger, S. 296. 793 Vgl bsph. Redebeitrag Matthias Erzberger, 12. Sitzung des Deutschen Reichstag, XI. Legislaturperiode, 14. 12. 1905, S. 320–331. 794 Zitiert nach Leitzbach, Matthias Erzberger, S. 304f. Der Artikel bezieht sich auf eine Artikelserie in der Kölnischen Volkszeitung, in der Erzberger die Zustände der Kolonialverwaltung anprangerte und u. a. den Vortragenden Rat im Kolonialamt, Karl Helfferich, direkt angriff. Vgl. auch: Kölnische Volkszeitung, Serie unter verschiedenen Titeln, 6. 9. 1905f.; Epstein, Erzberger, S. 72. 795 Vgl. bsph. Bericht über Erzbergers Ansprach in Düsseldorf: Kölnische Volkszeitung, Die kolonialpolitische Eroerterung,13. 8. 1906AA; Matthias Erzberger : Die Kolonial-Bilanz. Bilder aus der deutschen Kolonialpolitik auf Grund der Verhandlungen des Reichstags im Sessionsabschnitt 1905/06, Berlin 1906. 796 Vgl. bsph. die Rezeption von Erzbergers Rede in Düsseldorf: Berliner Tageblatt, o. T., 11. 8. 1906AA: »Der Abgeordnete Erzberger hält seinen Feldzug gegen die Kolonialpolitik der Regierung noch nicht für beendet.« Auch: Berliner Lokal-Anzeiger, Die neuen Enthüllungen des Abg. Erzberger, 15. 8. 1906.

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Erzberger steigerte jedoch nicht nur seine öffentliche Bekanntheit, er erarbeitete sich auch einen hohen Status innerhalb der Zentrumspartei. Mit seinem Vorgehen stieß er gleichwohl nicht nur auf Unterstützung, sondern auch auf Protest: Seit dem Ende der Kartellmehrheit, der Koalition aus Konservativen und Nationalliberalen, im Jahre 1890 war es dem Zentrum gelungen, seine Position im politischen Gefüge des Kaiserreichs langsam zu stärken. So hatte die katholische Partei beispielsweise während der Kanzlerschaft Leo von Caprivis (1890–1894) die Kolonialpolitik des Reiches wiederholt unterstützt. Indem sie ihre Zustimmung zu den Kolonialetats an Forderungen knüpfte, hatte sie eigene Interessen geltend machen können.797 Nach den Wahlen von 1903 war das Zentrum sodann zur stärksten Partei des Reichstags aufgestiegen und damit zu einem notwendigen Koalitionspartner Bülows geworden. Der Reichskanzler, der persönliche Beziehungen zu prominenten Zentrumspolitikern wie Prinz Franz von Arenberg798 unterhielt und gewinnbringend einsetzte, regierte in den Jahren zwischen 1903 und 1906 fortan mit einer relativ stabilen Mehrheit aus Zentrum, Nationalliberalen und Konservativen. Das Zentrum befand sich somit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer günstigen Position. Intern jedoch sah sich die Partei mit Schwierigkeiten konfrontiert. Unter der energischen Führung von Ludwig Windthorst († 1891) und dessen Nachfolger Ernst Lieber († 1902) war sie zu einer Regierungspartei aufgestiegen. Mit dem Ausscheiden dieser dominanten Führungspersonen war in der von Flügelspannungen geprägten Partei jedoch ein Machtvakuum entstanden, das der 1902 eingesetzte mehrköpfige Parteiausschuss nicht vollständig zu füllen vermochte. Seine Mitglieder waren nicht kontinuierlich in Berlin anwesend und standen allzu ambitionierten Neulingen äußerst kritisch gegenüber.799 In diesem von Rivalitäten geprägten Klima musste Erzberger sich behaupten. Es steht außer Frage, dass sein kolonialpolitisches Engagement in den Jahren 1905/06 einen Markstein in seiner politischen Laufbahn darstellte, der ihn reichsweit bekannt machte und in die Riege prominenter Zentrumspolitiker aufsteigen ließ. Erzberger erregte auf diese Weise aber auch Missgunst und Unwillen, denn besonders in den Reihen der älteren Abgeordneten fürchtete man, Erzbergers Agitationen würden die Zusammenarbeit mit Bülow torpedieren.800 Damit sah man die Erfolge des Zentrums und die Position im politischen Parteiengefüge bedroht. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, waren derartige Befürchtungen nicht völlig unbegründet. Kritik und Unmut schlugen Erzberger aber nicht nur in der eigenen Partei 797 Vgl. Hans Pehl: Die deutsche Kolonialpolitik und das Zentrum (1884–1914), Limburg a. d. Lahn 1934, S. 50f. 798 Winzen, Im Schatten Wilhelms II., S. 364. 799 Epstein, Erzberger, S. 55–64. 800 Ebd., S. 72.

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entgegen. Seine Enthüllungen wurden auch in der Presse kritisch begleitet. So etwa vom Vorwärts, der die katholische Partei als »verlogen« und »volksverräterisch« abkanzelte.801 Das Zentrum, so die These der sozialdemokratischen Zeitung, verberge, dass es Mitschuld an den Ausmaßen der Korruption trage, da die Partei die Kolonialpolitik über Jahre mitgetragen und das Kolonialbudget wiederholt bewilligt habe. Doch jetzt, im Angesicht aktueller Missstände, sei das Zentrum nicht bereit, völlige Aufdeckung und Aufklärung zu fordern.802 Stattdessen seien die Enthüllungen Erzbergers nur ein Instrument der Zentrumspresse, sich öffentlich als »strenge Hüter der politischen Moral aufzuspielen«, während man eigentlich nur »fraktionelle Interessen« pflege und versuche, den Frieden mit der Regierung aufrechtzuerhalten.803 Der Vorwärts spottete, dass Erzberger »nicht einmal die uneingeschränkte Unterstützung seiner eigenen engeren Freunde [finde]«, da das Zentrum »sich durch Brüskierung leitender Personen nicht um die Hof- und Ministergunst bringen [wolle], man [wolle] Regierungspartei bleiben.«804 Indem die sozialdemokratische Zeitung die angebliche Mitschuld des Zentrums an der Kolonialpolitik des Reiches hervorhob und der Partei eine unehrliche Interessenpolitik vorwarf, versuchte sie auch der positiven Eigeninszenierung Erzbergers entgegenzutreten. Die Reaktion des Vorwärts zeigt beispielhaft, dass Erzbergers Auftreten nicht nur in seiner Partei, sondern auch in der politischen Öffentlichkeit des Kaiserreichs beobachtet und mitunter kritisch beurteilt wurde. Daraus ist nicht zuletzt zu schließen, dass seine Strategie erfolgreich gewesen war ; Erzberger war es gelungen, mithilfe von Korruptionskritik in der politischen Öffentlichkeit Aufmerksamkeit zu generieren. Die entstehende Debatte kreiste dann jedoch nicht nur um Missstände, um ›korrupte‹ Akteure und ihre Opfer. Sie beschäftigte sich auch mit der Rolle Erzbergers, die je nach Standpunkt positiv wie negativ gedeutet werden konnte und in Verbindung mit seiner parteilichen Einbettung ein Einfallstor für Kritik an der Politik des Zentrums bot. Das Beispiel Erzbergers hat verdeutlicht, dass Korruptionsdebatten ein Spannungsfeld heterogener Interessen darstellten, in dem sich Partizipienten nicht 801 Vorwärts, Ein Zentrumsurteil über die Kolonialpolitik, 9. 8. 1906. 802 Vgl. bsph. ebd.; Ders., Das ganze System ist korrupt!, 2. 8. 1906; Ders., Gegen die Hehler der Kolonialkorruption, 5. 8. 1906, Ders., Herr Spahn ueber die Kolonialskandale, 30. 8. 1906. 803 Vorwärts, Freisinnige Kolonialillusionen, 26. 8. 1906; Ders., Gegen die Hehler der Kolonialkorruption, 5. 8. 1906; Ders., Herr Spahn ueber die Kolonialskandale, 30. 8. 1906; Ders., Der gezähmte Herr Erzberger, 6. 9. 1906. 804 Vorwärts, Gegen die Hehler der Kolonialkorruption, 5. 8. 1906. Auch: Ders., Soll vertuscht werden?, 5. 7. 1906: »Herr Erzberger begegnet mit seinen Kolonialenthüllungen nicht nur bei den um die Gunst der Regierung ängstlich besorgten großen Zentrumsblättern starker Reserve, sondern er wird sogar bereits von einem kleineren Zentrumsblatt in aller Form abgeschüttelt.« Der Artikel vermutet weiterhin, Erzberger wäre von seiner Partei aufgefordert worden, von weiteren Enthüllungen abzusehen.

Der Korruptionsvorwurf als Ressource der Innenpolitik

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allein entlang von Parteilinien positionierten, sondern auch individuelle Interessen eine Rolle spielten. Als Berufspolitiker war Erzberger darauf angewiesen, die Vorteile seines politischen Mandates in – um bei Bourdieu zu bleiben – ökonomisches Kapital zu transferieren. Zugleich suchte der Abgeordnete, auch soziales Kapital zu akkumulieren, um seine politische Karriere voranzutreiben.805 Im Kontext der prominenten Kolonialdebatte erwies sich ihm Korruptionskritik dabei als taugliches Mittel. Sie bot ihm die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit zu gewinnen, sich als Kolonialexperte einen Namen zu machen und sich als Kämpfer gegen Korruption zu stilisieren. Erzberger verstand es, Korruption als Thema der politischen Kommunikation zu instrumentalisieren und zu diesem Zweck die ihm zur Verfügung stehenden kommunikativen Foren des Reichstags und der Presse zu nutzen. So wurde er zu einer Galionsfigur des Zentrums und konnte seine Position innerhalb der Partei stärken. Zugleich ist anzunehmen, dass die Prominenz der ›Kolonialkorruption‹ sowie sein politischer Aufstieg als Journalist und Autor Erzberger auch ökonomisch zugutekamen. Die Kritik am Vorgehen Erzbergers zeigt schließlich, dass die Partikularinteressen des Abgeordneten in der politischen Sphäre nicht verborgen blieben, sondern ebenfalls debattiert wurden. Seine Enthüllungen und sein Vorgehen musste der Politiker nicht nur gegen Regierungsvertreter, Kolonialenthusiasten und konservative Zirkel verteidigen, sondern auch gegen Kritik aus den eigenen Reihen.806 Erzbergers Beispiel zeigt, dass auch innerhalb eines Lagers Korruptionsvorwürfe, Formen der Instrumentalisierung oder Nebenskandalierung, zu Uneinigkeiten führen konnten. So ist nicht zuletzt davon auszugehen, dass auch zwischen den parteinahen Presseorganen und den aktiven Politikern des Reichs- oder der Landtage Interessenunterschiede bestanden, die den Verlauf einer Korruptionsdebatte beeinflussen konnten.

5.3

»Das Duell Bülow-Podbielski«807: Der Korruptionsvorwurf als Ressource der Innenpolitik

Sich gegen divergierende Interessen durchzusetzen, das gelang auch Bernhard von Bülow, der mit seinem Vorgehen den Tippelskirchskandal maßgeblich prägte: An die Verhaftung Fischers im August 1906 schlossen mehrere Tage 805 Pierre Bourdieu: »Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital«, in: Ders. (Hrsg.): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992, S. 49–80. Auch: Ders.: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz 2001. 806 Vgl. dazu auch den Fall Sklarz von 1919/22, dargestellt in Klein, Korruption und Korruptionsskandale, S. 108–157. Klein kann überzeugend darlegen, dass mithilfe von Korruptionsdebatten auch parteiinterne Konflikte ausgetragen wurden. 807 Berliner Tageblatt, Das Duell Bülow-Podbielski, 21. 8. 1906MA.

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intensiver Berichterstattung an; dann jedoch begann das Interesse an Tippelskirch und den ›korrupten‹ Vorgängen im Umfeld des Unternehmens langsam abzuklingen. Auch die von einzelnen Akteuren beschworene kolonialpolitische Komponente der Vorwürfe trat zunehmend in den Hintergrund.808 Stattdessen gewann eine andere Facette des Skandals an Gewicht: Das Interesse der politischen Öffentlichkeit begann sich auf den Fall Podbielski zu konzentrieren. Der Reichskanzler unterstützte diese Entwicklung und nutzte sie, um einen innenpolitischen Coup gegen Landwirtschaftsminister Podbielski zu wagen. Zu diesem Zweck bediente er sich der politischen Presse, doch in Analogie zu Goethes Zauberlehrling hatte auch Bülow Probleme, diese seinem Willen zu unterwerfen. Er unterschätzte die Eigendynamik der Medien, der er im »Duell Bülow-Podbielski« schließlich selbst zum Opfer fallen sollte. Bevor am Beispiel der Instrumentalisierungsbemühungen Bülows die Handlungsspielräume politischer Akteure untersucht werden, gilt es in wenigen Worten die linksliberale Pressekampagne zu skizzieren, welche die Grundlage für Bülows Vorgehen bildete.

5.3.1 Die linksliberale Pressekampagne gegen Landwirtschaftsminister Podbielski Drei Vertreter der linksliberalen Tagespresse, namentlich das Berliner Tageblatt, die Frankfurter Zeitung und mit Abstrichen auch die Vossische Zeitung, machten im Verlauf des Tippelskirchskandals mit einer eigenständigen meinungsstarken politischen Berichterstattung auf sich aufmerksam. Insbesondere das Berliner Tageblatt inszenierte sich zu Anfang als Vorreiter des Skandals, indem es an seine frühen Enthüllungen aus dem Jahre 1905 erinnerte.809 Mit neuen Details, eingängigen Überschriften und brisanten Vergleichen – »Ein Panama?« – befeuerte das Periodikum die Skandalierung der Vorgänge.810 Wie die linksliberale Berichterstattung im Allgemeinen, so rückte auch das Berliner Tageblatt dabei früh Landwirtschaftsminister Podbielski in den Fokus. Die Kritik an dem amtierenden Minister wurde in den Zeitungen mit der Pflicht begründet, als 808 Vor allem die Sozialdemokratie nutzte die Enthüllungen, um unter dem Stichwort der Korruption ihre Kolonialkritik auf das Reich zu übertragen und diese auf wirtschafts- und innenpolitische Zustände in der Heimat anzuwenden. Vgl. bsph. Vorwärts, Koloniale Korruption, 1. 8. 1906; Ders., Das ganze System ist korrupt!, 2. 8. 1906; Ders., Kolonialpolitik, 14. 9. 1906. 809 Vgl. bsph. Berliner Tageblatt, Die neue Tippelskirch-Affäre, 30. 7. 1906AA; Dass., »Konto St.«, 9. 8. 1906MA. 810 Berliner Tageblatt, Ein Panama?, 31. 7. 1906MA. Bericht über das »Preußische Panama« in: Dass., Politische Wochenschau, 5. 8. 1906. Interessanterweise findet sich im sozialdemokratischen Vorwärts, der über den Panamaskandal besonders intensiv berichtet hatte, kein Verweis auf den französischen Skandal.

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»Vertreter der Volksmeinung« gegen »verderbliche« Erscheinungen in der Politik vorzugehen.811 Tatsächlich lassen sich hinter dem homogenen Vorgehen der liberalen Presse jedoch einige sehr konkrete politische Motive vermuten: Besonders in den Reihen des linksliberalen Freisinns, der unter der Kanzlerschaft Bülows nicht an der Regierung beteiligt war, hatte der Unmut über den politischen Kurs des Reiches in den letzten Jahren stetig zugenommen. Einen kontinuierlichen Konfliktpunkt stellte vor allem die Ausgestaltung der Wirtschafts- und Zollpolitik dar.812 Wiederholt hatte sich in diesem Kontext Kritik an Landwirtschaftsminister Podbielski, Galionsfigur agrarisch-konservativer Interessen, entzündet. Im Besonderen seit Einsetzen der sogenannten ›Fleischnot‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Beziehung des Freisinns zu dem preußischen Minister von Spannungen und Konflikten geprägt. Trotz eines anhaltenden Mangels an Schlachtvieh und kontinuierlich steigender Fleischpreise widersetzte sich Podbielski der linksliberalen Forderung, die Einfuhrbestimmungen für ausländisches Vieh und die betreffenden Zollvorschriften zu lockern. Vor allem das Berliner Tageblatt hatte aus diesem Grund wiederholt Kampagnen gegen Podbielski gestartet und ihm vorgeworfen, die Interessen der Großgrundbesitzer zu schützen und »mit der Not Tausender und Abertausender [deutscher Bürger] zu scherzen.«813 Vor diesem Hintergrund stellte der Korruptionsskandal von 1906 für die linksliberale Presse eine einmalige Gelegenheit dar, den unbeliebten Minister zu attackieren – was sie auch sehr rege tat. Da die Vorwürfe, die im Rahmen des Skandals gegen Podbielski erhoben wurden, in einem gesellschaftlichen Normenkonsens wurzelten, konnte die Kritik der Liberalen an dem Minister nicht einfach als parteiisch oder interessenpolitisch motiviert von der Hand gewiesen werden. Die liberalen Periodika, die in ihrer Berichterstattung den Rücktritt des Ministers forcierten, nutzten diesen Umstand. Sie führten ihre Kritik an Podbielski immer wieder bewusst auf den Normenverstoß des Ministers zurück, um damit den Eindruck zu erwecken, im Interesse des deutschen Volkes zu sprechen, und ihre Rücktrittsforderung zu legitimieren: »Man muß immer wieder klarstellen, daß, wenn die Ministertage Podbielskis infolge der Tippelskirch-Affäre zu Ende sind, dies nichts zu tun hat mit der politischen Haltung des Ministers, sondern lediglich der Grund darin liegt, daß er seine Beamten-

811 Berliner Tageblatt, Kaiser Wilhelm und die Presse, 1. 8. 1906MA. 812 Einführend Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 521f., 725f.; John C. G. Röhl: Wilhelm II. Bd. 3: Der Weg in den Abgrund 1900–1914, München 2008, S. 181f. 813 Berliner Tageblatt, o. T., 21.101905MA. Vgl. auch Dass., Ein untaugliches Mittel, 23. 10. 1905AA.

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stellung nicht mit den Anforderungen in Einklang gehalten hat, die nun einmal der Autorität des Amtes willen erhoben werden müssen.«814

So argumentierte etwa die Frankfurter Zeitung am 17. September 1906. Darüber hinaus unternahm das bekannte liberale Periodikum im Fahrwasser parteiübergreifender Kritik an Podbielski im Alleingang den Versuch einer Nebenskandalierung: In einem Artikel unter der Überschrift »Herr von Podbielski und die Fahrradindustrie« erhob das Blatt den Vorwurf, Podbielski habe in seiner Stellung als Staatssekretär des Reichspostamts (1897–1901) der Firma eines engen Freundes ein gut bezahltes Monopol über die Lieferung der Postfahrräder gewährt.815 Mit diesen Vorwürfen verband die Zeitung zwei Argumente. Zum einen dienten sie als Beispiel für die negativen Folgen einer manipulierten, nicht auf freiem Wettbewerb basierenden Wirtschaft. Zum anderen versuchte das Blatt eine implizite Kontinuitätslinie zu den Ereignissen von 1906 zu ziehen. Dass Podbielski bereits in der Vergangenheit ›Vetternwirtschaft‹ betrieben habe, ließ umso glaubhafter erscheinen, dass sich auch die Korruptionsvorwürfe im Tippelskirchskandal bewahrheiten sollten, so die Schlussfolgerung, welche die Frankfurter Zeitung unter den Zeitgenossen evozieren wollte und welche die Politik des Ministers delegitimieren sollte.816 In der politischen Tagespresse wurden die Vorwürfe der Frankfurter Zeitung gegen Podbielski gleichwohl nur geringfügig rezipiert. Die Nebenskandalierung scheiterte nicht zuletzt, weil das liberale Blatt zeitnah die Haltlosigkeit seiner Anschuldigungen einräumen musste.817 Die Frankfurter Zeitung ließ sich von der missglückten Skandalierung jedoch nicht ausbremsen. Sie räumte ein, dass sich Podbielski während seiner Zeit im Reichspostamt korrekt verhalten habe, erklärte jedoch, dass sich der Politiker mit Eintritt in das Landwirtschaftsministerium als »Sachwalter« agrarischer Partikularinteressen habe instrumentalisieren lassen.818 In dieser Argumentation schwang implizit der Vorwurf mit, Podbielski habe die Aufgaben seines Amts, die Wahrung der Interessen des 814 Frankfurter Zeitung, o. T., 17. 9. 1906AA. Ähnlich bspw. Vossische Zeitung, Verfrüht?, 17. 8. 1906AA. 815 Frankfurter Zeitung, Herr von Podbielski und die Fahrradindustrie, 12. 8. 1906MA. Intern hatte man schon einmal ähnliche Vorwürfe gegen Podbielski untersucht, bei denen es sich um die Vergebung von Postkantinen gehandelt hatte, vgl. GStA PK, I. HA. Rep. 87, ZB Nr. 375, Die Vergebung der Postkantinen in Berlin. Vgl. dazu bsph. Berliner Tageblatt, o. T., 25. 10. 1904. 816 Die Vorwürfe wurden innerhalb der Frankfurter Zeitung im Umfeld von Artikeln über die aktuellen Vorwürfe platziert. Vgl. bsph. Frankfurter Zeitung, o. T., 12. 8. 1906AA. Auch nahmen andere Zeitungen die Vorwürfe auf und gaben sie wieder, vgl. Vossische Zeitung, o. T., 13. 8. 1906AA; Germania, Reichspostverwaltung und Fahrräder, 16. 8. 1906, Bl. 2. 817 Vgl. Vossische Zeitung, o. T., 13. 8. 1906AA; Germania, Reichspostverwaltung und Fahrräder, 16. 8. 1906, Bl. 2. 818 Frankfurter Zeitung, o. T., 20. 8. 1906AA; Dies., o. T., 21. 8. 1906AA.

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deutschen Volkes, missachtet. Dieser Vorwurf war sowohl auf Podbielskis Reaktion auf die »Fleischnot« als auch auf die aktuelle Debatte um seine Teilhaberschaft an der Firma Tippelskirch übertragbar, da in beiden Fällen augenscheinlich die privaten Interessen des Ministers ausschlaggebende Motive für sein Verhalten gewesen waren.819 Mit dieser Darstellung gelang es der Frankfurter Zeitung, wieder an die Positionen anderer Periodika anzuknüpfen, die ihrerseits die Beteiligung des Ministers an dem Unternehmen anprangerten oder die Podbielski aufgrund seiner Wirtschaftspolitik kritisierten. Dazu gehörte nicht nur das liberale Flaggschiff Berliner Tageblatt, sondern auch Zeitungen anderer politischer Couleur.820 Im Tippelskirchskandal, so lässt sich also festhalten, erfanden die liberalen Zeitungen das Rad nicht neu: Wie bereits in anderen Skandalen und ebenso von verschiedenen Akteuren praktiziert, instrumentalisierten die drei großen liberalen Periodika, das Berliner Tageblatt, die Vossische und die Frankfurter Zeitung, die Korruptionsdebatte im Sinne ihrer politischen Interessen. Mit dem Ziel, ihren politischen Gegner des Amtes zu entheben, unternahmen sie den Versuch, Landwirtschaftsminister Podbielski mithilfe der Korruptionsvorwürfe öffentlich zu delegitimieren. Dabei konnten sich die Periodika auf die normative Verurteilung Podbielskis berufen, die von der gesamten politischen Presse getragen wurde. Die Berichterstattung legt darüber hinaus nahe, dass die liberalen Periodika versuchten, in der politischen Öffentlichkeit eine Erwartungshaltung zu wecken, die den Druck auf Regierung und vor allem Krone erhöhen sollte, gegen Podbielski zu agieren. Hintergrund dieses Vorgehens war der Umstand, dass es gemäß der Reichsverfassung einzig Kaiser Wilhelm II. oblag, preußische Minister zu entlassen oder ihren Rücktritt zu gewähren. Die Befürworter Podbielskis und Gegner der liberalen Presse benannten diese Instrumentalisierungsbemühungen und verurteilten den Versuch, die Entscheidung des Monarchen durch »ungehörige Preßtreibereien« zu beeinflussen.821 Auch wenn die Agitation der linksliberalen Presse Kritik auf sich zog, sie trug maßgeblich dazu 819 Ebd. Pointiert: Dies., o. T., 6. 11. 1906, Nr. 307: »Die Oeffentlichkeit denkt merkwürdiger Weise in erster Linie an die Fleischnot; sie erblickt in Herrn v. Podbielski die Marionette der Agrarier […]. Aber nicht wegen der Fleischnot hat der Reichskanzler das […] Abschiedsgesuch des Ministers dem Kaiser unterbreitet, sondern wegen seines Verhältnisses zu Tippelskirch u. Co. Hier lag eine Frage der Integrität des preußischen Beamtentums vor, hier war eine gute altpreußische Tradition zu verteidigen.« Ähnliche Argumentation auch in der Kölner Volkszeitung, o. T., 9. 11. 1906, Nr. 959. 820 Die liberalen Versuche, die Korruptionsvorwürfe zu instrumentalisieren, wurden von der konservativen Presse schwer verurteilt, vgl. bsph. Post, Ein Racheakt?, 3. 9. 1906AA; Staatsbürger-Zeitung, Des Pudels Kern, 4. 9. 1904MA. 821 Zitat: Hannoverscher Courier, o. T., 18. 8. 1906MA. Kritik an der Instrumentalisierung bsph.: Post, Ein Racheakt?, 3. 9. 1906AA; Staatsbürger-Zeitung, Des Pudels Kern, 4. 9. 1906MA.

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bei, Landwirtschaftsminister Podbielski in den Fokus öffentlichen Interesses zu rücken und seine moralische Integrität in Frage zu stellen. Damit bereiteten sie eine günstige Ausgangsbasis für die Instrumentalisierung Bülows, der in diesem Fall ein konkretes Ziel mit den Liberalen zu teilen schien.

5.3.2 »Wird Pod gegangen werden?« Das Vorgehen Bernhard von Bülows822 Als der Tippelskirchskandal im Juli 1906 seinen Anfang nahm, befand sich der Reichstag in der Sommerpause und Bülow im Erholungsurlaub auf Norderney. Der Reichskanzler hatte im April 1906 einen Schwächeanfall im Reichstag erlitten, woraufhin er sich auf unbestimmte Zeit auf die Nordseeinsel zurückgezogen hatte.823 Den Beginn des Tippelskirchskandals verfolgte Bülow daher nur von Ferne, doch begann er, interne Erkundigungen einzuziehen. Er schrieb sowohl an das Oberkommando der Schutztruppe als auch an Kolonialdirektor Hohenlohe-Langenburg und verlangte Auskünfte über den Verfahrensstand sowie eine Beurteilung der Tippelskirch’schen Monopolverträge.824 Nachdem die Presse die Teilhaberschaft des Landwirtschaftsministers an Tippelskirch immer intensiver debattierte, richtete der Reichskanzler zudem einen Brief an Podbielski, in dem er um eine persönliche Stellungnahme zu den Vorwürfen bat. Zeitgleich erhielt Bülow von Philipp zu Eulenburg, einem engen Vertrauten des Kaisers, die Information, dass sich der Monarch über die Vorwürfe gegen Podbielski »sehr erschrocken« gezeigt habe.825 Mit einer ausführlichen Antwort des Landwirtschaftsministers im Gepäck unterbrach Bülow seinen Aufenthalt in Norderney, um Wilhelm II. am 17. 8. 1906 in Kassel-Wilhelmshöhe, der Sommerresidenz des Monarchen, detailliert über die Vorgänge zu unterrichten.826 Zu diesem Zeitpunkt hatte die öffentliche Berichterstattung über die Vorgänge ein signifikantes Ausmaß angenommen und füllte täglich die Spalten der Berliner Hauptstadtpresse. Die Ergebnisse des Zusammentreffens zwischen dem Reichskanzler und dem Monarchen wurden ungeduldig erwartet und Spekulationen über eine mögliche Entlassung Podbielskis von allen Seiten kontrovers diskutiert.827 Zunächst drangen jedoch keine Details der Unterredung an die 822 Vorwärts, Wird Pod gegangen werden?!, 18. 8. 1906. 823 Vgl. Bernhard von Bülow : Denkwürdigkeiten. Bd. 2 Von der Marokko-Krise bis zum Abschied, Berlin 1930, S. 212–214; 85. Sitzung des Deutschen Reichstags, XI. Legislaturperiode, 5. 4. 1906, S. 2633. 824 Verschiedene Schriftwechsel in BUA R 43 Nr. 943; BUA R 43, Nr. 944. 825 Bülow, Denkwürdigkeiten, S. 253f. 826 Vgl. Antwortschreiben Podbielski an Bülow, 13. 8. 1906, BUA R 43, Nr. 944, Blatt 6–10. 827 Beispielhaft Vossische Zeitung, Verfrüht?, 17. 8. 1906AA; Vorwärts, Wird Pod gegangen werden?!, 18. 8. 1906; Staatsbürger-Zeitung, Zum Abschied von Minister v. Podbielski, 17. 8. 1906.

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Öffentlichkeit. Doch dann, zwei Tage nach dem Treffen, berichtete die offiziöse Norddeutsche Allgemeine Zeitung, man »habe gehört«, Podbielski habe den Reichskanzler gebeten, dem Kaiser sein Entlassungsgesuch vorzulegen.828 Diese Meldung dementierte der Berliner Lokal-Anzeiger noch am selben Tag. Im Namen des Landwirtschaftsministers bestritt die Zeitung die Existenz eines solchen Rücktrittsgesuches und hob hervor, dass Podbielski keinerlei Intentionen habe, aus dem Amt zu scheiden.829 Diese widersprüchlichen Aussagen verbreiteten sich in der Presse wie ein Lauffeuer und wurden zum Gegenstand intensiver Diskussion. Da es die – aufgrund ihrer engen Beziehung ins Reichskanzleramt auch als »Kanzlerblatt«830 bekannte – Norddeutsche Allgemeine Zeitung gewesen war, die über Podbielskis (angebliches) Rücktrittsgesuchs berichtete hatte, vermuteten große Teile der politischen Öffentlichkeit hinter der Meldung Reichskanzler Bülow.831 Wenngleich bislang keine Quellen vorliegen, die einwandfrei belegen können, dass Bülow selbst die Meldung lanciert hatte, so deutete doch vieles darauf hin: Oberflächlich betrachtet drängt sich zunächst die Überlegung auf, der Reichskanzler habe mit der Erklärung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung auf den wachsenden Druck der politischen Öffentlichkeit und die zunehmend kritische Beurteilung Podbielskis in der Presse reagierte, die in der ausufernden Berichterstattung des Skandals ihren Ausdruck fanden. Zieht man sodann die oben dargestellte linksliberale Pressekampagne einerseits sowie die allgemeine innenpolitische Situation und die komplexe Interessenkonstellation der politischen Akteure andererseits in die Analyse mit ein, geraten weitere mögliche Motive in das Blickfeld: Bernhard von Bülow entstammte einer Hamburger Adelsfamilie, die enge Verbindungen in die Politik pflegte.832 Nach verschiedenen Stationen im diplo828 In der Meldung heißt es: »Wie wir hören, …«, vgl. Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Hofund Personalnachrichten, 19. 8. 1906. 829 Berliner Lokal-Anzeiger, Die Podbielski-Krisis, 19. 8. 1906. 830 Zeitgenössischer Artikel über die Norddeutsche Allgemeine Zeitung mit Bezeichnung als »Kanzlerblatt«: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Leipzig 1908, Bd. 14, S. 752. Zur Beziehung der Nordeutschen Allgemeinen Zeitung zur Regierung vgl. u. a. Gunda Stöber : Pressepolitik als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit im wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Stuttgart 2000, S. 55f. 831 Beispielhaft Hamburger Nachrichten, Podbielskis Rücktrittsgesuch, 20. 8. 1906AA; Berliner Morgenpost, o. T., 21. 8. 1906; Freie Deutsche Presse, Zur Affäre Podbielski, 21. 8. 1906; Münchner Allgemeine Zeitung, o. T., 21. 8. 1906; Kölnische Zeitung, Um die Verabscheidung des Landwirtschaftsministers, 20. 8. 1906. 832 Die Person und Politik Bülows hat in der Geschichtswissenschaft kontinuierlich Aufmerksamkeit erfahren. Klassisch ist noch immer die Biographie von Gerd Fesser : Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow. Eine Biographie, Berlin 1991 (neu aufgelegt 2003). Jüngst erschien: Peter Winzen: Reichskanzler Bernhard von Bülow: Mit Weltmachtphantasien in den Ersten Weltkrieg – Eine politische Biographie, Regensburg 2013. Bülows Kanzlerschaft wurde wiederholt im Kontext der Frage nach der Existenz eines »persönlichen Regiments« Kaiser Wilhelms II. untersucht. Mommsen, Clark und Winzen vertreten

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matischen Dienst wurde Bülow 1897 zum Staatssekretär des Äußeren benannt. Drei Jahre später wurde der 51-Jährige zum dritten und jüngsten Reichskanzler des Deutschen Kaiserreiches berufen. Seine Kanzlerschaft begann positiv : Bülow stand in regem Austausch mit verschiedenen Vertrauten des Monarchen, die ihn in seiner Kanzlerkandidatur unterstützt hatten.833 Auch zu Wilhelm II. unterhielt Bülow anfangs eine gute Beziehung. Im Laufe seiner Kanzlerschaft kam es jedoch wiederholt zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Männern, die ihr Verhältnis nachhaltig störten.834 Zwei bedeutende Momente der Konfrontation ereigneten sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem Tippelskirchskandal: das Zusammentreffen Kaiser Wilhelms II. mit Zar Nikolaus II. im Juli 1905 und die Ereignisse der ersten Marokkokrise in den Jahren 1905 und 1906.835 Insbesondere die Konferenz von Algeciras im April 1906, bei der die europäischen Mächte über die Kontrolle Marokkos verhandelten und die für das Kaiserreich einen enttäuschenden Ausgang genommen hatte, wurde dem Reichskanzler in der politischen Öffentlichkeit angelastet. Diese Begebenheiten trugen dazu bei, dass es Bülow zunehmend schwerer fiel, erfolgreich um die Unterstützung seiner Politik bei Kaiser Wilhelm II. zu werben. Private Dokumente des Kaisers spiegeln diesen Stimmungswechsel wider und belegen, dass der Monarch der Politik Bülows zunehmend kritisch gegenüberstand, möglicherweise bereits erste Pläne hegte, den Kanzler zu ersetzen.836 Vor allem die Zusammenarbeit Bülows mit der katholischen Zentrumspartei, die der Reichskanzler seit den Reichstagswahlen von 1903 beständig ausgebaut hatte, war Wilhelm II. ein Dorn im Auge. Zu dieser Koalition hatten Bülow nicht zuletzt die Mehrheitsverhältnisse des Reichstags gezwungen. Zwar musste er in dem konstitutionellen System des Kaiserreichs seine Politik allein vor dem Monarchen verantworten, zur Durchsetzung seines politischen Kurses war er jedoch sowohl auf Mehrheiten im Herrenhaus als auch im Reichstag angewiesen. So

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die Position, Bülow habe die Politik des Kaiserreichs maßgeblich geprägt, während besonders Röhl in ihm nur eine ›Marionette‹ des dominanten Monarchen erblickt. Vgl. u. a. Röhl, Wilhelm II. Bd. 3; Ders., Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie; Peter Winzen: Reichskanzler Bernhard Fürst von Bülow: Weltmachtsstratege ohne Fortune – Wegbereiter der großen Katastrophe, Göttingen 2003; Christopher Clark: Kaiser Wilhelm II. Profiles in Power, London 2000; Wolfgang J. Mommsen: War der Kaiser an allem schuld? Wilhelm II. und die preußisch-deutschen Machteliten, Berlin 2002. Zu der Beziehung zwischen Bülow und Philipp von Eulenburg jüngst: Winzen, Im Schatten Wilhelms II. Mit einem Schwerpunkt auf den Ereignissen von 1907 auch: Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Vgl. Mommsen, War der Kaiser an allem Schuld?, S. 93f., 116f.; Fesser, Reichskanzler Bülow, u. a. S. 64f., 93f. Zur Politik Bülows in den frühen Jahren seiner Kanzlerschaft: Fesser, Reichskanzler Bülow, S. 42–97; Röhl; Wilhelm II. Bd. 3, Kap. 5f.; Nipperdey, Machtstaat vor der Demokratie, S. 723f. Clark, Kaiser Wilhelm II., S. 138f.; Röhl, Wilhelm II. Bd. 3, Kap. 16f., S. 546. Auch in seinen Memoiren schreibt Bülow, dem Kaiser spätestens seit 1905 bisweilen »unbequem« zu werden und in seiner Gunst zu sinken, vgl. Bülow, Denkwürdigkeiten, u. a. S. 88f.

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konnte Bülow im Sinne Wilhelms II. nur dann langfristig auf die Zusammenarbeit mit der Zentrumsfraktion verzichten, wenn es ihm gelang, die Linksliberalen für eine Koalition mit den Konservativen und Nationalliberalen zu gewinnen.837 Im Sommer 1906 sah sich Bülow also aus unterschiedlichsten Gründen unter Druck gesetzt: Nicht nur hatte er eine außenpolitische Niederlage zu verantworten, die seine Beziehung zu dem Kaiser belastete, auch sah er sich innenpolitisch mit einer Vielzahl verschiedener Krisenherde konfrontiert. Dazu gehörte nicht zuletzt das Wiederaufleben verschiedenster Kolonialskandale sowie die Eruption des Tippelskirchskandals. Vor diesem Hintergrund kann die obige Meldung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung als Bülows Versuch gedeutet werden, den Skandal zu instrumentalisieren, das heißt, den Verlauf der Ereignisse entlang seiner Interessen zu lenken und damit die Demission Podbielskis zu erzwingen. Bülows Animosität gegenüber dem Landwirtschaftsminister mag dabei in verschiedenen Ursachen gewurzelt haben. Bereits seit Jahren stand Podbielski in der Gunst des Kaisers. Verschiedene Quellen berichten sogar, Wilhelm II. habe ihn 1900 kurzzeitig für das Amt des Reichskanzlers in Betracht gezogen.838 Es kann daher nicht überraschen, dass Bülow, der nach seinem Amtsantritt den Kontakt des Monarchen zu verschiedenen einflussreichen Günstlingen zu beschränken versuchte, Podbielskis Berufung in das Reichspostamt nur widerwillig hinnahm.839 Im Verlauf seiner ministeriellen Karriere stieg Podbielski sodann zu einer wichtigen Galionsfigur konservativagrarischer Interessen auf und wurde zum Kristallisationspunkt linksliberaler und sozialdemokratischer Kritik. Zudem kam es zwischen Podbielski und Bülow wiederholt zu Unstimmigkeiten über den innenpolitischen Kurs, was in der politischen Presse aufmerksam verfolgt wurde.840 In Anbetracht dieser Faktoren musste die Demission des Landwirtschaftsministers in den Augen Bülows gleich aus mehreren Gründen günstig erscheinen. Nicht nur begrenzte sie den Einfluss Podbielskis; sie bot dem Reichskanzler auch die Chance, auf die veränderte (innen)politische Situation zu reagieren und Grundlagen für einen politischen Richtungswechsel zu schaffen. Sein Vorgehen gegen Podbielski war gleichsam eine Geste in Richtung der linksliberalen Parteien, die der Reichs837 Zu einer solchen Koalition, dem sogenannte Bülow-Block, kam es erst nach den von antikatholischer Agitation gekennzeichneten Reichstagswahlen von 1907. 838 Privates Schreiben Ladislaus Szögy8nyis, österreichisch-ungarischer Botschafter in Berlin, an Agenor von Gołuchowski, österreichisch-ungarischer Minister des Äußeren, vom 6. 5. 1901, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, P. A. III 156, BL. 74f. Auch zitiert in: Winzen, Im Schatten Wilhelms II., S. 346. Zu den Überlegungen des Kaisers, Podbielski als Kanzler in Betracht zu ziehen: Bernhard von Bülow : Denkwürdigkeiten. Erster Band: Vom Staatssekretariat bis zur Marokko-Krise, Berlin 1930, S. 372f. 839 Winzen, Im Schatten Wilhelms II., S. 346. 840 Beispielhaft Posner Neuste Nachrichten, Das Duell Bülow-Podbielski, 21. 8. 1906.

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kanzler für sich zu gewinnen suchte. Gestützt wird diese Interpretation auch durch Bülows Ernennung des nationalliberalen Politikers und erfolgreichen Geschäftsmanns Bernhard von Dernburg zum neuen Kolonialdirektor im September 1906. Diese Entscheidung galt bereits unter den Zeitgenossen aber auch in der Geschichtswissenschaft als Konzession Bülows an die liberalen Parteien.841 Langfristig konnte es ihm mit diesem Kurs nur darum gehen, die Linksliberalen für eine Koalition mit den Nationalliberalen und Konservativen zu gewinnen, um auf diese Weise das Zentrum aus der Regierung auszuschließen und Kaiser Wilhelm II. für seine Politik zu gewinnen. Diese längerfristigen Motive Bülows standen jedoch im Kontrast zu den Auswirkungen, die sein Eingreifen unmittelbar hervorrief. So ist anzunehmen, dass zunächst eine Verschärfung der Spannungen zwischen ihm und dem Kaiser eintrat.842 Dafür spricht, dass Wilhelm II. sich gegen Bülows Ersuchen mehrere Monate Zeit ließ, bevor er eine Entscheidung in der Causa Podbielski traf. Die von Bülow inspirierte Meldung in der Norddeutschen Allgemeine Zeitung war nicht allein für Podbielski, sondern auch für Kaiser Wilhelm II. eine Provokation. Sie verstieß gegen offizielles Protokoll und musste wie eine Einflussnahme auf die konstitutionelle Entscheidungsgewalt des Monarchen erscheinen – als solche wurde sie in der politischen Presse auch interpretiert.843 Nichtsdestotrotz ist anzunehmen, dass Bülow sich zu diesem Schritt entschloss, da er davon ausgehen musste, dass Wilhelm II. seinen »Günstling« Podbielski nicht allein auf sein Anraten und ohne dessen Rücktrittsgesuch entlassen würde.844 So nutzte er die Dynamiken des Skandals, um seine Interessen zu verfolgen: Der Vorwurf der Korruption, mit dem die Affäre begonnen hatte, belegte Podbielski mit einem Stigma, das in der Presse deutlich kommuniziert wurde. Die moralische Integrität des Landwirtschaftsministers und die Legitimität seiner Politik waren damit angegriffen. Hinzu kam, dass die politische Öffentlichkeit über die realpolitischen Folgen des Skandals spekulierte. So äußerten einige Presseorgane 841 Beispielhaft Gerhard A. Ritter : »Dernburg, Bernhard Jakob Ludwig« in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 607f., http://www.deutsche-biographie.de/ppn118677861.html (4. 5. 2015); Röhl; Wilhelm II. Bd. 3, S. 550f. Tatsächlich brach Bülow im Dezember 1906 vollständig mit dem Zentrum und ließ den Reichstag auflösen. Nach der Reichstagswahl im Januar/Februar 1907 bildet er eine Koalition mit den Konservativen, National- und Linksliberalen; das Zentrum blieb außen vor, vgl. Röhl; Wilhelm II. Bd. 3, S. 550f. 842 Vgl. bsph. Röhl; Wilhelm II. Bd. 3, S. 546f. 843 In der Presse wurde häufig von einem »Formbruch« gesprochen, denn der Rücktritt eines Ministers/Staatssekretärs wäre normalerweise zu erst im Reichsanzeiger (Deutscher ReichsAnzeiger und Königlich Preußischer Staats-Anzeiger) publiziert worden, vgl. bsph. Kölnische Zeitung, o. T., 20. 8. 1906MI; Berliner Lokal-Anzeiger, Zur Podbielski Krisis, 21. 8. 1906MA. 844 Privates Schreiben Ladislaus Szögy8nyis an Agenor von Goluchowski vom 6. 5. 1901, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, P. A. III 156, BL. 74ff. Zitiert nach Winzen, Im Schatten Wilhelms II., S. 346.

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Bedenken, der Skandal könne das Ansehen der Beamtenschaft oder des Reiches vor dem Ausland kompromittieren.845 Die politische Berichterstattung suggerierte somit in hohem Maße Dringlichkeit und die Notwendigkeit entschiedenen politischen Eingreifens. Gesteigert wurde dieses Empfinden durch die linksliberale Pressekampagne gegen Podbielski, die Unterstützung aus den Reihen der Sozialdemokratie erhielt und die – wie Bülow – den Rücktritt des Ministers zum Ziel hatte. Mit der Meldung in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung reagierte der Reichskanzler auf diese Atmosphäre, indem er den Rücktritt Podbielskis zu einem Thema der politischen Öffentlichkeit machte. Er nahm die Dynamiken der Korruptionsdebatte auf, steigerte die öffentliche Erwartungshaltung und unterstützte die Kampagne gegen Podbielski zu einem Zeitpunkt, als das mediale Interesse an Tippelskirch abzuebben begann. Mit seinem Vorgehen inkludierte Bülow Kaiser Wilhelm II. aktiv in den Skandal und provozierte Podbielski, unter dem wachsenden Druck öffentlichen Interesses zu taktieren. Tatsächlich nutzte Podbielski, der in der politischen Presse eigentlich für seine ablehnende Haltung den Zeitungen gegenüber bekannt war, die gleichen Kanäle wie Bülow, um den Reichskanzler seinerseits zu desavouieren, unter Druck zu setzten und Unterstützung aus dem agrarisch-konservativen Lager zu mobilisieren.846 Die politische Presse ihrerseits nahm nach anfänglicher Verwirrung über die unkonventionelle Form der Ereignisse die von Bülow und Podbielski gegebenen Impulse auf. Es wurde detailliert über die Konfrontation der beiden Politiker berichtet und quer durch das politische Spektrum Stellung bezogen. Wie die Karikatur des Simplicissimus (Abb. 6) beispielhaft zeigt, thematisierte dabei eine Vielzahl von Zeitungen die in ihren Augen offensichtlichen Intentionen des Reichskanzlers, Podbielski seines Amtes zu entheben.847 Was mit zwei Zeitungsmeldungen – dem Vorstoß Bülows und Podbielskis Antwort – begonnen hatte, entwickelt in den darauffolgenden Wochen in der politischen Öffentlichkeit eine eigene Dynamik. Das öffentliche Interesse erreichte ein Ausmaß, das von beiden Politikern nicht mehr zu kontrollieren war.

845 Vgl. bsph. Germania, Zum Fall Tippelskirch, 12. 8. 1906MA; Volks-Zeitung, Lucanus bei Podbielski, 1. 9. 1906AA. Der volle Name der Zeitung ist nicht übermittelt, es besteht Unklarheiten darüber, ob es sich um die Kölnische oder die Leipziger Volkszeitung oder ein unbekanntes Organ handelt, vgl. Artikel in: GStA PK, I. HA Rep. 87, ZB Nr. 374, Blatt 148. 846 Vgl. bsph. Berliner Lokal-Anzeiger, Die Podbielski-Krisis, 19. 8. 1906AA; Ders., Zur Podbielski-Krisis, 21. 8. 1906MA. 847 Verschiedene Zeitungen hoben hervor, dass Bülow die Vorgänge instrumentalisiert habe, um die Entlassung Podbielskis herbeizuführen, vgl. bsph. Die Nation, o. T., 25. 8. 1896; Berliner Morgenpost, Zwischen Himmel und Erde. Das Ministerduell, 22. 8. 1906; Berliner Abendpost, o. T., 22. 8. 1906; Münchner Post, Der Kampf um die Leiche, 23. 8. 1906.

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Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906

Abb. 6: »Bitte lassen Sie sich nicht aufhalten, wenn Sie gehen wollen«, Simplicissimus 1906

So verkündete das Berliner Tageblatt das »Duell Bülow-Podbielski«848, und die Berliner Morgenpost erklärte: »Aus dem Kolonialskandal ist über Nacht ein Staatsskandal geworden.«849 Die Korruptionsdebatte war zum Austragungsort einer innenpolitischen Auseinandersetzung avanciert, die in der öffentlichen Berichterstattung geführt und gleichsam von ihr inszeniert wurde. Die Berichterstattung entwickelte eine Intensivität, welche die Frontstellung der Akteure verschärfte und den öffentlichen Druck erhöhte, sodass es den Politikern unmöglich wurde, von ihren Positionen ohne Gesichtsverlust zurückzutreten. 848 Berliner Tageblatt, Das Duell Bülow-Podbielski, 21. 8. 1906MA. Ähnlich: Vossische Zeitung, Pod contra Bülow, 20. 8. 1906AA. 849 Berliner Morgenpost, Zwischen Himmel und Erde. Das Ministerduell, 22. 8. 1906.

Der Korruptionsvorwurf als Ressource der Innenpolitik

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Die dominierende Frage der täglichen Berichterstattung lautete in den nächsten Wochen: Wer muss seinen Abschied nehmen, Bülow oder Podbielski?850 Hinter den beiden Kontrahenten versammelten sich quer durch das politische Spektrum die Akteure der politisch-medialen Sphäre, die den Ausgang der Auseinandersetzung zu beeinflussen und ihre eigenen Interessen in dem Konflikt geltend zu machen versuchten. In den wenigen verbleibenden agrarischen und konservativen Zeitungen, die Podbielskis noch unterstützten, wie beispielsweise der Berliner Lokal-Anzeiger oder (mit Abstrichen) die Kreuzzeitung, wurde argumentiert, dass es sich bei der Hetze gegen den Minister eigentlich um einen Kampf gegen seine Agrarpolitik handele, die durch den Skandal jedoch nicht in Frage gestellt werde.851 Die Kreuzzeitung betonte, dass »alle solche ›Ministerstürzereien‹ […] bei uns glücklicherweise von vornherein zur Erfolglosigkeit verdammt [sind]; bei uns entscheidet der Monarch, nicht aber ein liberal-demokratischer Klüngel.«852 Auf diese Weise hoben die Podbielskifreundlichen Zeitungen hervor, dass die Forderung nach dem Rücktritt des Ministers in politischen Motiven begründet und nicht auf die Korruptionsvorwürfe zurückzuführen sei. Sie erklärten, die Kampagne weise selbst korrupte Züge auf, und betonten die entscheidungsgebende Autorität des Kaisers. Gegen derartige Angriffe setzte sich vor allem die linksliberale Presse aktiv zur Wehr, die Bülows Vorstoß gegen Podbielski in ihre eigene Kampagne gegen den Minister inkorporierte. Die Frankfurter Zeitung beispielsweise betonte, die Argumentation der Konservativen habe nur das Ziel, den Monarchen davon zu überzeugen, von der Entlassung Podbielskis abzusehen, da diese wie »eine Konzession an die öffentliche Meinung erscheinen könnte.«853 Podbielski, so ihre Kritik, »genieß[e] zur Zeit die Wohltat der Uebung, daß in Preußen kein Minister Angriffen zum Opfer fällt, die in der Presse oder im Parlament gegen ihn erhoben werden«.854 Dieser Praktik hielt man die wachsende Bedeutung der öffentlichen Meinung entgegen, der in letzter Instanz auch der Kaiser Rechnung zu tragen habe.855 Die öffentliche Meinung, so der linksliberale Appel an die 850 Das Ausmaß der Berichterstattung ist in mehreren Pressesammlungen festgehalten, vgl. u. a.: GStA PK, I. HA Rep. 87, ZB Nr. 373; GStA PK, I.HA Rep. 87, ZB Nr. 374; BUA R 8034III, Nr. 354. Die Zeitungen reflektierten in hohem Maße über die Instrumentalisierungsbemühungen der einzelnen Akteure und deren Motive. 851 Vgl bsph. Berliner Neueste Nachrichten, Der Fall Podbielski, 2. 9. 1906MA; Deutsche Tageszeitung, Die sogenannte Krisis, 3. 9. 1906AA; Die Post, Ein Racheakt?, 3. 9. 1906AA. 852 Neue Preußische Zeitung, Innere Politik der Woche, 26. 8. 1906. Ähnlich: Hannoverscher Courier, Zur Krise im Landwirtschaftsministerium, 6. 9. 1906AA. 853 Frankfurter Zeitung, o. T., 7. 10. 1906MA. Die Katholische Presse argumentierte ihrerseits, die Linksliberalen Agitationen gegen Podbielski würden den Minister vor der Entlassung bewahren, da sie die Krone provozierten, auf ihr alleiniges Recht zu beharren, Minister zu berufen und zu entlassen. Vgl. Kölnische Volkszeitung, o. T., 6. 10. 1906AA. 854 Frankfurter Zeitung, o. T., 30. 9. 1906. 855 Volks-Zeitung, o. T., 22. 8. 1906AA, wie Verweis 845.

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Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906

Krone, verlange den Rücktritt des kompromittierten Ministers. Um ihre Forderung zu stärken, wurden in der Berichterstattung wiederholt die moralischen Implikationen des Falls Podbielskis betont. Man legte dem Minister die im Jahre 1900 durchgeführte Gütertrennung zu Last und die Tatsache, dass er seine Anteile an Tippelskirch seiner Frau überschrieben hatte. Dieses Verhalten belege einwandfrei Podbielskis Kenntnis davon, dass die Teilhaberschaft an dem Unternehmen moralisch höchst zweifelhaft gewesen sei. Ein Minister der auf diese Weise handele, widerspreche den herrschenden preußischen Traditionen.856 So prangerten die verschiedenen Pole die Argumentationsstrategien der jeweiligen Gegenseite an und versuchten diese vor der Leserschaft zu desavouieren. Die konservativen Berliner Neusten Nachrichten fassten die Situation pointiert zusammen, in allen Lagern, so die Zeitung, werde der Fall Podbielski allein nach parteipolitischem Kalkül beurteilt.857 Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Politikern zog sich bis in die erste Novemberwoche 1906 hin, in der Podbielski auf eigenen Wunsch und mit vollen Ehren aus dem Staatsdienst entlassen wurde.858 Obwohl Bülow scheinbar siegreich aus der Konfrontation hervorgegangen war, erklärte ihn ein Großteil der Presse zum Verlierer des ›Duells‹. Längst hatte man in der Affäre mehr als nur das Kräftemessen zweier Minister erkannt; sie wurde vielmehr als Gradmesser der politischen Stärke des Reichskanzlers und der Beziehung zwischen ihm und dem Monarchen begriffen. Dieser Umstand spiegelt sich in dem Zitat der Münchner Allgemeinen Zeitung: »Aber für die Position des Reichskanzlers ist Podbielskis Schicksal entscheidend. Wir haben dieser Tage gemeldet, daß der Kaiser zum Fürsten Bülow mit voller Gunst und vollem Vertrauen stehe. Bleibt Herr v. Podbielski trotzdem im Amt, weil ihn der Kaiser nicht gehen läßt, so ist das für den Reichskanzler trotz aller Gunst und allen Vertrauens eine capitis diminutio, die wir ihm und dem Deutschen Reich erspart sehen wollen.«859

Der ehrenvolle und späte Abschied Podbielskis wurde in weiten Kreisen der Öffentlichkeit in der Form gedeutet, dass Bülow mit der Instrumentalisierung der Korruptionsdebatte sein Ziel zwar erreicht, er aber die Kontrolle über die 856 Frankfurter Zeitung, o. T., 17. 8. 1906AA; bsph. auch: Breslauer Zeitung, o. T., 20. 8. 1906AA; Germania, Minister v. Podbielski über den Fall Fischer-Tippelskirch, 9. 8. 1906, Bl. 1. Vgl. auch Abschnitt 2.4.3. 857 Berliner Neueste Nachrichten, Der Fall Podbielski, 19. 8. 1906MA. 858 Podbielski erhielt ein Handschreiben des Kaisers und wurde »unter Belassung des Titels und Ranges eines Staatsministers, unter Bewilligung der gesetzlichen Pension und unter Verleihung der Brillianten zum Großkreuz des Roten Adlerordens mit Eichenlaub und Schwertern am Ringe« entlassen. GStA PK, I. HA Rep. 87, ZB Nr. 368. Der Berliner LokalAnzeiger betonte, Podbielski sei nur aus gesunheitlichen Gründen aus dem Amt geschieden: Berliner Lokal-Anzeiger, o. T., 9. 11. 1906. 859 Münchner Neuste Nachrichten, Bülow und Podbielski, 4. 11. 1906.

Der Korruptionsvorwurf als Ressource der Innenpolitik

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Vorgänge in andere Hände hatte abgeben müssen und sich letztlich nicht gegen die Wünsche des Monarchen und die agrarischen Interessenvertreter durchsetzen konnte.860 Entlang dieser Deutung ›verloren‹ auch die Zeitungen, die noch am Schluss versucht hatten, die Notwendigkeit des Rücktritts mit den Korruptionsvorwürfen gegen Tippelskirch oder der Fleischteuerung zu begründen. Rückblickend lassen sich verschiedene Erkenntnisse aus dem »Duell BülowPodbielski« ziehen, allem voran, dass die Entlassung Podbielskis maßgeblich auf die Instrumentalisierung der Korruptionsdebatte durch Bülow zurückzuführen ist.861 Das Vorgehen Bülows war dabei von verschiedenen innenpolitischen Motiven inspiriert, vor deren Hintergrund eine Interpretation der Korruptionsdebatte erst möglich ist. Die Auseinandersetzung zwischen Reichskanzler und Minister zeigt, dass der Vorwurf der Korruption zu einem wichtigen Instrument der modernen politischen Kommunikation herangereift war, das in Verbindung mit der fortschreitenden Medialisierung der politischen Öffentlichkeit eine schlagkräftige Waffe darstellte. So illustrieren die Beispiele von Bülow, Podbielski und Erzberger, dass sich die politischen Führungskräfte des Reichs zunehmend der Presse als Mittel der Kommunikation bedienten und die Logiken der politischen Öffentlichkeit für sich zu nutzen suchten. Doch nicht nur die mediale Kommunikation politischer Akteure nahm zu, darüber hinaus gewann auch die Presse in ihrer Rolle als vierte Gewalt an Bedeutung und spielte als eigenständiger Akteur der politischen Landschaft eine immer größere Rolle. Die Analyse des Tippelskirchskandals macht darüber hinaus sichtbar, dass es den politischen Akteure des Wilhelminischen Kaiserreichs gelang, ihre Handlungsspielräume punktuell über verfassungsgegebene Grenzen hinweg zu erweitern. Damit kann die Arbeit die Ergebnisse verschiedener geschichtswissenschaftlicher Studien der letzten Jahre bestätigen und um die Beobachtung ergänzen, dass der Vorwurf der Korruption ein wichtiges Instrument in diesem Prozess darstellte.862 So zeigt das Beispiel Bülows, wie der Reichskanzler unter Zuhilfenahme des Korruptionsvorwurfs den Rücktritt Podbielskis gegen die Sympathien Kaiser Wilhelms II. durchsetzte. Er übte auf diese Weise Einfluss über die konstitutionellen Vorgaben hinaus aus, die dem Kaiser das alleinige Recht zusprachen, Staatsminister und -sekretäre zu berufen. Die Entlassung 860 Beispielhaft ebd.; Hannoverscher Courier, Epilog, 13. 11. 1906AA; Kladderadatsch, Husarenfieber, 25. 11. 1906, Nr. 47. Vgl. auch: GStA PK, I. HA Rep. 87, ZB Nr. 374. Auch hinter den Kulissen wurde diese Meinung vielfach geteilt, vgl. Röhl; Wilhelm II. Bd. 3, S. 546. 861 In seinen Memoiren stellt der Reichskanzler den Rücktritt des »wackeren Podbielskis« konsequenterweise als eine freiwillige Entscheidung in Folge des Tippelskirchskandals dar. Bülow, Denkwürdigkeiten, S. 254. 862 Vgl. u. a. Bösch, Grenzen des »Obrigkeitsstaates«, S. 136–153; Kohlrausch, Medienskandale und Monarchie, S. 116–132; Ders., Monarch im Skandal, S. 456f.; Anderson, Practicing Democracy.

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Victor von Podbielski und die »Ministerstürzerei«: Der Fall Tippelskirch 1906

Podbielskis stellt damit einen Erfolg des Reichskanzlers dar, der – und das muss betont werden – zugleich aber auch ein Erfolg der parteipolitischen Presse und ihrer Akteure war. Bülows Handeln war nur vor dem Hintergrund einer politischen, medial vermittelten Öffentlichkeit möglich, deren Bedeutung als wertende und legitimitätstiftende Instanz stetig zunahm und die sich durch eine gewisse Pluralität auszeichnete. Sie erzeugte nicht nur politischen Druck, sondern ermöglichte auch ›Interessenbündnisse‹ wie etwa zwischen Bülows und den Linksliberalen, die abseits und unabhängig von politischen Koalitionen bestehen konnten. Nicht zuletzt demonstriert das Beispiel Bülows, die Grenzen der Instrumentalisierbarkeit von Korruptionsvorwürfen. Zwar gelang es dem Reichskanzler, Podbielski unter Druck zu setzten, doch wurde die Auseinandersetzung für ihn bald ähnlich existentiell wie für den Landwirtschaftsminister. Die Gegenbewegung, die Bülow nach dem Rücktritt Podbielskis erlebte, demonstriert einmal mehr, dass Korruptionsdebatten und -skandale eine Eigendynamik entwickeln konnten, die sich auch gegen den Skandalierer zu richten vermochte.

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs: Die Skandalierungsinitiativen der Sozialdemokratie

Abb. 7: Kaiserinsel-Karikatur des Wahren Jakobs 1903

Eine Festung zum Schutz gegen die Gefahren der anarchistischen Revolution: Auf der Berliner Havelinsel Pichelswerder sei ein solcher Rückzugsort für die Kaiserfamilie geplant – das berichtete der Vorwärts in einer Serie von Artikeln im August 1903.863 Die Meldung über die sogenannte Kaiserinsel wurde jedoch schnell von offizieller Seite dementiert, die verantwortlichen Redakteure, Karl Leid und Julius Kaliski, verklagt und vom Berliner Landgericht I wegen (Majestäts-)Beleidigung und grobem Unfug zu Haftstrafen verurteilt.864 Der Vor863 Beispielhaft Vorwärts, Die Kaiserinsel, 16. 8. 1903; Ders., Die Kaiserinsel, 18. 8. 1903. 864 Beispielhaft Ders., Kaiserinsel-Razzia, 22. 8. 1903; Ders., Unser verantwortlicher Redakteur

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

wärts wurde zum Gespött der Hauptstadtpresse, wie die Karikatur des Wahren Jakobs beispielhaft zeigt. Tatsächlich war das Parteiblatt falschen Informationen zum Opfer gefallen, die man der Redaktion mutwillig zugespielt hatte. Der Skandalierungsversuch der Sozialdemokraten war von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Die Episode um die Kaiserinsel muss in einer größeren Entwicklung verortet werden: So zeigt die Recherche (vgl. Anhang), dass der sozialdemokratische Vorwärts nach dem Ende des Sozialistengesetzes 1890 und seiner Neugründung im Jahre 1891 wiederholt den Versuch unternahm, Skandale und Skandalierungskampagnen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten als Teil der politischen Kommunikation für sich zu instrumentalisieren. Die Affäre um die Kaiserinsel ist hierfür nur ein Exempel. Bereits in der Homosexualitätsaffäre um Alfred Krupp im Jahr 1902 war die Parteizeitung mit Enthüllungen an die Öffentlichkeit getreten.865 Die mediale Auseinandersetzung mit dem Welfenfonds im Zuge der Panamaberichterstattung 1892 (vgl. Kap. 4) zeigt zudem, dass der Vorwärts auch das Potenzial von Korruptionsvorwürfen für sich erschließen wollte. So versuchte das Blatt verschiedentlich, kleinere oder größere Korruptionsdebatten im Kaiserreich anzustoßen, indem es entweder eigenständig Vorwürfe erhob oder sich bemühte, bestehende Debatten mit dem Vorwurf der Korruption zu skandalieren bzw. aufzuladen. Im Jahre 1896 etwa versuchte das Parteiorgan erfolglos, die Affäre um Eugen von Tausch, einen Agenten der Politischen Polizei, und den Staatssekretär des Äußeren, Adolf Marschall von Bieberstein, mit dem Vorwurf der politischen Korruption zu assoziieren. Das Unterfangen misslang. Da der Sachverhalt hochkompliziert und die damalige politisch-mediale Debatte von anderen Vorwürfen und Problemstellungen dominiert war, traten die Korruptionsvorwürfe in der öffentlichen Wahrnehmung nicht prominent in den Vordergrund.866 In Anlehnung an die Berichterstattung verhaftet!, 23. 8. 1903. Eine detaillierte Schilderung der Ereignisse mit weiterführenden Quellenangaben bei: Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 330f. Auch: Hugo Friedländer : Interessante Kriminal-Prozesse von Kulturhistorischer Bedeutung. Darstellung Merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Jüngstvergangenheit. Bd. 6, Berlin 1912, S. 86–102. 865 Einleitend: Frank Bösch: »Das Private wird politisch: Die Sexualität des Politikers und die Massenmedien des ausgehenden 19. Jahrhunderts«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 796; Richter, Krupp auf Capri. Die Rolle der Sozialdemokratie in den korruptionsfremden Affären des Kaiserreichs, wie etwa der Caligula-Affäre, dem Homosexualitätsskandal um Alfred Krupp, der Daily-Telegraph-Affäre oder dem Eulenburgskandal, ist bislang leider nur in Ansätzen untersucht. Im Fall von Alfred Krupp gibt es jedoch Hinweise, dass der Vorwärts meinungsstark berichtete und eigene Informationen veröffentlichte: Barbara Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert, München 2000, Kap. 5, S. 307; Kohlrausch, Monarch im Skandal, S. 125 f; Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy, S. 176f. 866 Eine kurze Beschreibung sowie Verweise auf Literatur und Quellenmaterial in der Fallsammlung, Anhang.

Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

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der Berliner Neuesten Nachrichten über den Zusammenbruch der Dresdner Creditanstalt erhob der Vorwärts 1901 sodann den Vorwurf der »Preßkorruption« gegenüber ortsansässigen Journalisten und Führungskräften der Bank.867 Doch auch mit dieser Meldung gelang es der Zeitung nicht, eine Korruptionsdebatte auf nationaler Ebene zu entfachen. Schließlich ist in diesem Kontext auch auf das regelmäßige Engagement des Vorwärts in den Kolonialskandalen sowie im Tippelskirchskandal 1906 (vgl. Kap. 5) hinzuweisen. Warum nun sind das Engagement der Sozialdemokratie in der Affäre um Alfred Krupp, die Meldungen über die Kaiserinsel und die gescheiterten Skandalierungsversuche von (lokalbegrenzten) Korruptionsvorwürfen wie im Fall der Dresdner Creditanstalt und der Affäre Tausch für diese Untersuchung von Bedeutung? Im Zusammenspiel mit den bereits untersuchen Korruptionsskandalen der Wilhelminischen Periode legen diese unterschiedlichen Beispiele in ihrer Diversität und Häufigkeit dar, dass die Sozialdemokratie nach 1890 darum bemüht war, an den politischen Skandalen des Kaiserreichs zu partizipieren. Sie unternahm den Versuch, Korruption in der politischen Öffentlichkeit zu thematisieren und Korruptionsvorwürfe für sich als Instrument der politischen Kommunikation zu nutzen. Darüber hinaus zeigen die Beispiele, dass diese Versuche vor 1913 nur bedingt erfolgreich waren. Wenngleich die Anzahl politischer (Korruptions-)Skandale nach der Jahrhundertwende zunahm, so hat die bisherige Skandalforschung in Übereinstimmung mit den Ergebnissen dieser Untersuchung gezeigt, dass gerade in den prominenten Affären nach 1890 nicht sozialdemokratische, sondern unabhängige Journalisten sowie Politiker und Presseorgane anderer Parteien im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit standen. Der Vorwärts hingegen trat selten mit eigenen Enthüllungen in Erscheinung und es gelang ihm nicht, einen großen nationalen Skandal zu initiieren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg sollte sich dies ändern: Mit dem sogenannten Kornwalzerskandal läutete die Sozialdemokratie im April 1913 eine Phase verdichteter Korruptionskommunikation ein. Vor dem Deutschen Reichstag enthüllte Karl Liebknecht die langjährige, systematische Bestechung preußischer Verwaltungsbeamter durch das Rüstungsunternehmen Krupp und löste damit den größten Korruptionsskandal in der Geschichte des Deutschen Kaiserreichs aus.868 Noch während sich die politische Öffentlichkeit mit den Vorwürfen Liebknechts auseinandersetze, versuchte der Vorwärts zudem, die Rolle der preußischen Regierung in der Rettung der finanziell an867 Beispielhaft Vorwärts, Bürgerliche Preßkorruption, 19. 9. 1901. Vgl. auch Fallsammlung, Anhang. 868 Liebknecht legte die Vorwürfe an zwei aufeinanderfolgenden Sitzungstagen explizit dar : Redebeiträge Karl Liebknecht, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18. 4. 1913, S. 4910–4913 sowie 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4. 1913, S. 4923–4926.

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

geschlagenen Verlagsgruppe Scherl durch das Bankhaus Oppenheimer zu problematisieren.869 Im Fahrwasser des Kornwalzererfolges unternahm Liebknecht wenige Monate vor Kriegsbeginn sodann zwei weitere Skandalierungsversuche. Zu Beginn des Jahres 1914 erhob er Vorwürfe gegen das Unternehmen SiemensSchuckert, in Japan hohe Marineoffiziere zur Auftragsakquise bestochen zu haben. Um diese Vorgänge geheim zu halten, habe die Firma in illegitimer Weise Einfluss auf ein deutsches Gericht ausgeübt. Im Deutschen Kaiserreich kaum beachtet, entwickelte sich der Shı¯mensu jiken, der sogenannte Siemens-Zwischenfall, in Japan zeitgleich zu einem der bis dato größten politischen Skandale des Landes, der mit dem Sturz der Regierung Yamamoto Gonnohyo¯es endete. Im Mai 1914 schließlich enthüllte Karl Liebknecht, dass verschiedene prominente Personen des politischen Lebens über Jahre Titel und Orden zum Verkauf angeboten hatten. Der sogenannte Titel- und Ordensschacher870 beschäftigte nicht nur die politische Öffentlichkeit des Reiches, sondern auch die Justiz- und Regierungsbehörden über mehrere Wochen. Diese drei Skandale werden im Folgenden entlang gemeinsamer Fragestellungen, aber auch in Hinblick auf ihre individuellen Besonderheiten untersucht. Im Fokus der vergleichenden Analyse stehen die Aktivitäten des sozialdemokratischen Wortführers Karl Liebknecht und des Vorwärts, deren Vorgehen während der Skandalierungsphasen und im Rahmen der anschließenden Korruptionsdebatten untersucht wird. So sollen die zentralen Faktoren, die den Erfolg oder das Scheitern der Skandalierungsbemühungen bedingten, im Kontext der gesellschaftspolitischen Begleitumstände ermittelt werden. Wo es die Quellenlage zulässt, wird hierbei auch nach der Bedeutung vergangener Skandalierungen und Korruptionsdebatten gefragt, die den Erfahrungshorizont der Akteure konstituierten. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wird schließlich die These geprüft, ob im Verlauf des Kaiserreichs und insbesondere am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine Professionalisierung der sozialdemokratischen Skandalierungsbemühungen und des öffentlichen Umgangs mit dem Korruptionsvorwurf zu beobachten ist. In Auszügen wird hierfür auch die Rezeption des sozialdemokratischen Vorgehens durch die Berliner Hauptstadtpresse nachgezeichnet. Darüber hinaus werden Eigenheiten eines jeden Skandals adressiert. Der Kornwalzerskandal soll insbesondere in seiner Rolle als (vorläufiger) Kulminationspunkt sozialdemokratischer Skandalierungserfahrungen einerseits und als Referenz für nachfolgende Kampagnen andererseits untersucht werden. In 869 Auf diesen Umstand wird im Verlauf der Arbeit nicht weiter eingegangen, weitere Informationen gebündelt im Anhang. 870 Diese Bezeichnung wurde von verschiedenen Zeitungen gebraucht. Vgl. u. a. Kölnische Volkszeitung, Zum Titel- und Ordensschacher, 25. 8. 1914; Schlesische Zeitung, Enthüller und ihre Helfer, 29. 5. 1914.

Karl Liebknecht und der Kornwalzerskandal 1913

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diesem Zusammenhang wird auch die Funktion des Panamaskandals als epochen- und parteiübergreifender Referenzwert während des Kornwalzerskandals analysiert. Abschließend beschäftigt sich der Abschnitt mit der Bedeutung des Gerichtssaals, der 1913 erstmals eine prominente Rolle während eines Korruptionsskandals spielte. Die Analyse der Siemensskandalierung und des Titel- und Ordensschachers widmet sich sodann der internen Kommunikation der Regierungsvertreter, deren Standpunkte bislang hauptsächlich über die Berichterstattung offizieller Presseorgane rekonstruiert werden mussten. Da in diesen beiden Fällen Quellenmaterial der Ministerialbehörden überliefert ist, kann die Analyse der Presseberichterstattung um eine neue Ebene ergänzt und können die ›internen‹ Reaktionen auf die Skandalierungsbemühungen der Sozialdemokratie exemplarisch aufgezeigt werden. Zusätzlich sollen zwei weitere, unterschiedliche Erkenntnisziele die Untersuchung anleiten: Im Fall der Vorwürfe gegen Siemens-Schuckert werden Vorstellungen von korruptem Verhalten und gesellschaftliche Normen im Fokus stehen. Außerdem wird gefragt, welche Rolle es bei der Reaktion auf und Beurteilung von Bestechungsvorwürfen spielte, dass es sich bei dem geschädigten Akteur um eine fremde Nation handelte. Im Zentrum der Analyse des Titel- und Ordensschachers werden hingegen das Verhältnis und die Unterschiede zwischen der öffentlichen Berichterstattung einerseits und den internen Abstimmungen der Regierung und Behörden andererseits stehen.

6.1

Die Professionalisierung des Korruptionsvorwurfs: Karl Liebknecht und der Kornwalzerskandal 1913

»Die Bestechlichkeit – darauf möchte ich hinweisen – der unteren oder oberen Beamten der Militärverwaltung fördern, wie es die Firma Krupp getan hat, das ist wahrlich keine Kleinigkeit. Das heißt die Beamtenschaft korrumpieren […]. Es darf nichts vertuscht werden. Es handelt sich hier um ein Panama, schlimmer als Panama.«871

Mit seinen Enthüllungen über die Bestechung von preußischen Verwaltungsbeamten durch das Rüstungsunternehmen Krupp vor dem deutschen Reichstag löste der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht im April 1913 den bis dato größten Korruptionsskandal des Deutschen Kaiserreichs aus.872 Die Affäre um das Essener Unternehmen ist dank der Pionierarbeit von Frank Bösch nicht nur die erste systematisch untersuchte reichsdeutsche Korruptionsde871 Redebeitrag Karl Liebknecht, 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19.4. 1913, S. 4925f. 872 Wie Verweis 868.

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

batte, sondern bleibt bis heute auch eine der besterforschten unter ihnen.873 Hinweise auf den Kornwalzerskandal finden sich zwar in vielen in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, doch war Bösch der erste, der den Skandal als kulturgeschichtliches Ereignis eigenen Ranges analysierte.874 Auf Basis unterschiedlicher Quellen hat er den Verlauf des Skandals, die diskutierten Vergehen sowie die öffentlichen Reaktionen minutiös rekonstruiert und im Kontext der modernen Kultur- und Mediengeschichte interpretativ verortet. Ziel dieser Untersuchung muss es daher nicht sein, den Skandal in seiner Entwicklung aufzubereiten; vielmehr sollen nach einer kurzen Einführung seine Besonderheiten und mögliche Entwicklungstendenzen im Vergleich zu den vorangegangenen Korruptionsdebatten des Kaiserreichs im Vordergrund stehen. Dabei werden drei Aspekte hervorgehoben: Zum einen geht es um die Bedeutung Liebknechts und der sozialdemokratischen Presse für die Entwicklung des Skandals. Ihr Engagement im Jahre 1913, das den Grundstein legte für die sozialdemokratischen Skandalierungsbemühungen des folgenden Jahres, muss vor dem Hintergrund der Entwicklung der deutschen Korruptionskommunikation einerseits und der Sozialdemokratischen Partei andererseits untersucht werden. Von den Akteuren der Skandalierung richtet sich der Blick sodann auf die Orte der Korruptionsdebatte: Im Fokus steht der Gerichtssaal als Raum der Korruptionskommunikation. Er prägte die öffentliche Rezeption in einer bis dato unbekannten Art und Weise und spielte daher für den Verlauf des Kornwalzerskandals eine bedeutende Rolle. Abschließend wird die Bedeutung der zunehmenden Internationalisierung der Presse für die Korruptionskommunikation schlaglichtartig beleuchtet. So legt der Verweis auf den französischen Panamaskandal in dem einführenden Zitat Liebknechts nahe, dass die Zeitgenossen die Vorwürfe im Kontext vorangegangener Skandale im In- und Ausland verorteten und bewerteten. Die Geschichte des Kornwalzerskandals begann mit der Reichstagsrede Karl Liebknechts im Frühjahr 1913. Die Geschichte der Korruptionsvorwürfe jedoch reichte deutlich weiter zurück, wie Liebknecht dem Plenum selbst offenbarte: Die preußische Regierung hatte bereits mehrere Monate zuvor Untersuchungen gegen das Rüstungsunternehmen eingeleitet. Ausschlaggebend hierfür waren 873 Bösch, Krupps »Kornwalzer«. In vielen Passagen ähnlich: Ders., Öffentliche Geheimnisse, S. 445–467. Die inhaltliche Widergabe wird sich im Folgenden, sofern nicht anders angegeben, an diesen Darstellungen orientieren. Bösch bediente sich verschiedener Archivquellen, von besonderer Bedeutung: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 5a. Auch: Historisches Archiv Krupp, Bestand WA 4. 874 Vgl. bsph. Alfred Hugenberg: Das Rathaus, in: Ders: Streiflichter aus Vergangenheit und Gegenwart, Berlin 1927, S. 4; Richard (Morus) Lewinsohn: Das Geld in der Politik, Berlin 1930, S. 39–41; Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy, S. 182–187; Lothar Gall: Krupp. Der Aufstieg eines Industrieimperiums, Berlin 2000, S. 336f.

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geheime Betriebsunterlagen, die Liebknecht dem Kriegsministerium zur Verfügung gestellt hatte. Die Ermittlungen gipfelten in einer Durchsuchung der Essener Büroräume und der Verhaftung verschiedener Beamter im Februar 1913. Wie Liebknecht erörterte, legten die sichergestellten Dokumente dar, dass Krupp Verwaltungsbeamte bestochen und zum Verrat militärischer Geheimnisse angehalten habe. Auf diese Weise habe sich das Unternehmen vertrauliche Informationen aus dem preußischen Kriegsministerium beschafft, so etwa über zukünftige Aufträge oder Angebote der Konkurrenz. Krupp habe hierfür eigens eine Geschäftsstelle in Berlin unterhalten, deren Mitarbeiter, Maximilian Brandt, unentwegt damit beschäftigt gewesen sei, Kontakte zu Informanten zu pflegen und Berichte – die sogenannten Kornwalzer875 – für die Essener Geschäftsleitung zusammenzustellen. Über mehrere Jahre habe sich Krupp auf diese Weise einen unmoralischen Wettbewerbsvorteil erschlichen und sich der Korruption schuldig gemacht.876 Nachdem Liebknecht die Ermittlungen vor dem Reichstag publik gemacht hatte, verfolgte die politische Öffentlichkeit in den nächsten Monaten gespannt den Verlauf der Untersuchung, die in zwei große, aufsehenerregende Gerichtsprozessen – im Folgenden ›Krupp-Prozesse‹ genannt – mündete.877 Am 31. Juli 1913 begann vor dem Berliner Kommandanturgericht der erste Prozess gegen sieben Offiziere der Heeresverwaltung, die wegen Verrats militärischer Geheimnisse, Bestechlichkeit und militärischen Ungehorsams angeklagt waren.878 Die Angeklagten wurden am 6. August 1913 für schuldig befunden und verurteilt. Ihre Strafen variierten zwischen mehreren Monaten Gefängnis, Festungshaft oder Arrest, der Dienstentlassung, einer Degradation oder einer temporären Dienstenthebung.879 Sechs der verurteilten Offiziere legten gegen das Urteil 875 Der Begriff der »Kornwalzer« wurde von dem Unternehmen selbst verwendet, um die Berichte zu kennzeichnen. Vgl. Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 339. Während der verschiedenen Gerichtsprozess wurde der Begriff in der Presse zu einem geflügelten Wort, in dem sich die verschiedenen Vergehen Krupps verdichteten. 876 Vgl. Redebeiträge Karl Liebknecht, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18. 4.1913, S. 4910–4913; sowie 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4.1913, S. 4925f. 877 Die Darstellung beschränkt sich auf die zwei größten, auch von Bösch hervorgehobenen Prozesse. Tatsächlich fanden darüber hinaus weitere kleine, weniger stark rezipierte Gerichtsverfahren statt, wie bspw. gegen Offizier Linde im Oktober 1913 vor dem Kommandanturgericht Berlin, vgl. Prozessbericht Berliner Tageblatt, Ein neuer Kruppprozeß vor dem Kriegsgericht, 13. 10. 1913; Dass., Der Kruppprozeß, 15. 10. 1913MA. 878 Prozessberichte wurden in allen namhaften Zeitungen abgedruckt. Vgl. bsph. Vossische Zeitung, Die Kruppangelegenheit vor dem Kriegsgericht, 30. 7. 1913MA; Germania, Die Kruppaffäre vor dem Kriegsgericht, 31. 7. 19193AA. Auch Vereinsjournale und kleine Publikationen beschäftigten sich mit dem Prozess. Vgl. Vereinsmitteilungen des Vereins gegen das Bestechungsunwesen, Verurteilung militärischer Beamter wegen Bestechung usw., 1. 9. 1913, Nr. 7, S. 133–137. 879 Detailliert: Vossische Zeitung, Das Urteil im Krupp-Prozeß, 6. 8. 1913MA.

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Berufung am Obersten Kriegsgericht ein. Über die Dauer des Prozesses hinweg hatten die Angeklagten wenig Schuldbewusstsein gezeigt und ihre Taten mit der Begründung gerechtfertigt, der Staat habe vor Krupp keine Geheimnisse. So erklärte einer der Angeklagter dem Staatsanwalt: »Wenn es nicht Krupp gewesen wäre, wäre es mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, so etwas zu tun, weil ich immer das Gefühl hatte, daß Krupp und der Staat Hand in Hand arbeiten, daß es da überhaupt keine geheimen Dinge gibt […]. Ich habe niemals das Gefühl gehabt, daß der Staat hatte Schaden leiden können.«880

Tatsächlich war in den vorangegangenen Jahren das enge Verhältnis zwischen Krupp und dem Staat mehrfach öffentlich hervorgehoben und zelebriert worden. So zum Beispiel 1912 auf der sogenannten Jahrhundertfeier des Unternehmens, zu der neben einer Vielzahl verschiedener Generäle auch der Reichskanzler und der Kaiser persönlich erschienen waren.881 Nichtsdestotrotz wies das Gericht die Existenz einer solchen Symbiose im Laufe der Verhandlung mehrfach entschieden zurück und betonte, dass es sich bei den Vergehen selbstverständlich auch dann um Geheimnisverrat handele, wenn der Adressat ein Mitarbeiter Krupps sei, und dass zudem eine Form des unlauteren Wettbewerbs vorliege.882 Der zweite Gerichtsprozess gegen den Berliner Kruppmitarbeiter Brandt und den stellvertretend abgeordneten Direktor des Unternehmens, Otto Eccius, fand zwischen dem 25. Oktober und dem 8. November 1913 vor dem Berliner Landgericht statt.883 Den Angeklagten wurde Beamtenbestechung, Verrat militärischer Geheimnisse und Beihilfe zur Bestechung zur Last gelegt. Im Fokus stand die Frage, ob das Direktorium des Essener Betriebs von der Bestechung der Offiziere gewusst und inwiefern das Unternehmen von den Kornwalzern profitiert hatte. Obwohl diese Fragen im Rahmen des ersten Prozesses auf Grundlage vielfältigen Beweismaterials bereits bejaht worden waren, folgten die Richter in vielen Anklagepunkten der Argumentation der Verteidigung, sodass das abschließende Urteil sehr milde ausfiel: Brandt wurde zu vier Monaten Haft 880 Zitiert nach: Vossische Zeitung, Der Krupp-Prozeß vor dem Kriegsgericht, 31. 7. 1913AA. 881 Vgl. Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 345. 882 Ebd., S. 363. Zur Entstehungsgeschichte des Gesetzes gegen den Unlauteren Wettbewerb und den damit befindlichen gesellschaftlichen Diskurs vgl. Köhler/Rothfuss, Der Verein gegen das Bestechungsunwesen; Volker Köhler: »Wirtschaftskorruption in der Weimarer Republik? Der Verein gegen das Bestechungsunwesen und dessen Korruptionskommunikation«, in: Hartmut Berghoff/Cornelia Rauh/Thomas Welskopp (Hrsg.): Tatort Unternehmen. Zur Geschichte der Wirtschaftskriminalität im 20. und 21. Jahrhundert (= Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 28), Berlin 2016, S. 68–83. 883 Die Anwälte Krupps hatten erreicht, dass die Klage auf ein Mitglied des Direktoriums beschränkt und die Direktoren Hugenberg, Rötger, Haux, Muehlon sowie der stellvertretende Direktor Marquard von der Klage ausgenommen wurden. Vgl. Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 368.

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verurteilt, Eccius zu einer Geldstrafe von 1.200 Mark.884 Nach diesem zweiten großen Prozess ebbte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit langsam ab. Dazu trug vermutlich nicht nur eine langsam einsetzende Übersättigung des Publikums, sondern auch der Beginn der Zabern-Affäre im November 1913 bei, der die Aufmerksamkeit der politischen Öffentlichkeit neu fokussierte.885 Erst im Januar 1914 wurden die Kornwalzer noch einmal zum Thema der öffentlichen Debatte, als das Urteil des ersten Prozesses in Revision verhandelt wurde. Dieser kurze Überblick über den Hergang der Ereignisse hat sich an drei maßgeblichen Kulminationspunkten orientiert: der Reichstagsrede Karl Liebknechts, dem Prozess gegen die der Bestechlichkeit beschuldigten Offiziere und schlussendlich dem »Krupp-Prozeß«.886 Diese Geschehnisse markierten zeitlich begrenzte Phasen, in denen der politischen Öffentlichkeit in schneller Abfolge große Mengen an Informationen zugänglich wurden, die das Interesse an den Vorgängen maßgeblich steigerten und Höhepunkte des Skandal konstituierten. Im Folgenden werden die Besonderheiten des Kornwalzerskandals im Vergleich mit den vorangegangenen Korruptionsdebatten hervorgehoben und am Beispiel dieser Kulminationspunkte illustriert.

6.1.1 Der sozialdemokratische Umgang mit dem Korruptionsvorwurf Die Korruptionsvorwürfe, die Liebknecht am 18. April 1913 vor dem deutschen Reichstag gegen Krupp erhob, lösten unmittelbar große Aufregung in der politischen Öffentlichkeit des Kaiserreichs aus. Das Besondere an ihnen war, dass die laufende Untersuchung der Regierung ihnen von Anfang an eine gewisse Rechtmäßigkeit zusprach und ihre Tragweite bestätigte. Damit hoben sich die Enthüllungen Liebknechts von Vorwürfen anderer Skandalierungskampagnen ab, die auf investigativer Recherche oder Mutmaßungen gründeten und für die es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung möglicherweise noch keine gesicherten Beweise gab. Darüber hinaus trug der politische Kontext maßgeblich dazu bei, dass sich die Debatte, die aus den Vorwürfen Liebknechts erwuchs, sehr schnell zu einem Skandal verdichtete: Zum Zeitpunkt der Enthüllungen diskutierte der Reichstag über den aktuellen Haushaltsetat und insbesondere über eine von der Regierung vorgeschlagene Wehrvorlage. Diese sah vor, den Heeresetat drastisch zu erhöhen, um in Reaktion auf eine französische Mobilisierungskampagne 884 Zum genauen Inhalt der Verhandlung: ebd., S. 368f. Zu dem Urteil: Vossische Zeitung, Zum Urteil im Krupp-Prozeß, 9. 11. 1913MA. 885 Zur Zabernaffäre: Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 310–322; David Schoenbaum, Zabern 1913. Consensus Politics in Imperial Germany, London 1982. 886 In der Presse wurden die Ereignisse auf plakative Formeln verkürzt, wie bspw.: »KruppProzeß«, »Krupp vor Gericht« oder »Kruppaffäre«.

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auch das deutsche Truppenkontingent deutlich zu vergrößern. So hatte der Generalstab verlangt, die Friedenspräsenzstärke des Heeres um 300.000 Mann zu steigern.887 Im Reichstag protestierte vor allem die Sozialdemokratische Partei, die seit den Reichstagswahlen von 1912 die größte Fraktion stellte, gegen die Vorlage. Die Korruptionsvorwürfe gegen Krupp, die Liebknecht in der dritten Lesung des Etats publik machte, boten der Partei die Möglichkeit, die Ablehnung des Haushalts mit schlagkräftigen Argumenten zu rechtfertigen. Vor dem Hintergrund dieser Debatte ist daher zu vermuten, dass Liebknecht den Zeitpunkt seiner Enthüllungen strategisch gewählt hatte. Erste Informationen über Krupps fragliche Geschäftspraktiken waren dem prominenten Sozialdemokraten bereits im November 1912 zugespielt worden. Der ehemalige Direktor der Berliner Unternehmensfiliale, Wilhelm von Metzen, hatte Liebknecht nach seiner Entlassung im September 1912 in einer anonymen Sendung mehrere Kornwalzer zukommen lassen und in einem Schreiben die Funktion der Berichte und des Berliner Büros ausführlich dargelegt.888 Interessanterweise wandte sich Liebknecht mit dem belastenden Material nicht sofort an die Presse, obwohl ihm genügend Beweise für eine Skandalierungskampagne vorlagen. Stattdessen übersandte der Abgeordnete die Unterlagen an den preußischen Kriegsminister, Josias von Heeringen, der eine Untersuchung gegen Krupp einleitete. Warum war Liebknecht nicht sofort an die Öffentlichkeit getreten? Wie das Beispiel der Dresdner Skandalierungsbemühungen und der Kaiserinsel-Kampagne gezeigt haben, hatte die Sozialdemokratie in den Jahren zuvor bereits Erfahrung mit Skandalierungsversuchen gesammelt und dabei erfahren, dass ein solches Unterfangen von zahlreichen Risiken begleitet und Erfolg und Misserfolg von vielen Faktoren bestimmt waren. Nicht zuletzt hatte sie die Gefahr erkannt, als Skandalierer der eigenen Kampagne zum Opfer zufallen – wie es 1903 geschehen war. Auch ist zu vermuten, dass die noch immer anhaltende Stigmatisierung der Sozialdemokraten und ihre umkämpfte Position im Parteiensystem des Kaiserreichs Liebknechts bedachtes Vorgehen bedingten. Er musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass eine hastige, unüberlegte Enthüllung des brisanten Materials ihm von den Gegnern seiner Partei als Akt 887 Zum Inhalt der Wehrvorlage vgl. Stig Förster : »Ein militarisiertes Land? Zur gesellschaftlichen Stellung des Militärs im Deutschen Kaiserreich«, in: Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.), Das Deutsche Kaiserreich, 1890–1914, Paderborn 2011, S. 163f.; Ders.: Der doppelte Militarismus. Die Deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-Quo-Sicherung und Aggression 1890–1913, Stuttgart 1985, S. 265f. 888 Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 354; Auch: GStA PK HA. I. Rep. 83, Nr. 5a, Bd. 1. Von Metzen war entlassen worden, da er einen von ihm in naher Zukunft zu übernehmende Posten in Italien gewissermaßen an einen Mitbewerber verkaufte hatte: Er hatte sich schriftlich verpflichtet, auf die Position zu verzichten und stattdessen seinen Käufer zu empfehlen. Nachdem der Handel bekanntgeworden war, musste Metzen das Unternehmen verlassen, vgl. Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 355.

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des Volkverrats ausgelegt werden könnte, wie es beispielsweise Wilhelm Liebknecht und August Bebel 1872 erfahren hatten. Vor dem Reichstag trat Liebknecht daher sehr bedacht auf.889 In seiner ersten Rede über die »Praktiken und Schleichwege unserer Militärlieferanten« am 18. April 1913 erwähnte Liebknecht die Vorwürfe gegen Krupp nur kurz und bettete sie in eine Vielzahl bereits bekannter Kritikpunkte ein, die er gegen die Wehrvorlage ins Feld führte.890 So prangerte er etwa den Zusammenhang zwischen der »Kriegshetze« der Presse und den »Profitinteressen des Rüstungskapitals« an, den er anhand der Verbindung der Dillinger Werke zu der konservativen Post illustrierte. Sodann griff Liebknecht auch den vielfach erhobenen Vorwurf auf, deutsche Rüstungsfirmen – unter anderem auch Krupp – hätten ihre Produkte wiederholt ins Ausland verkauft und dort bisweilen sogar zu günstigeren Konditionen angeboten.891 Liebknecht betonte, bei diesen Missständen handele es sich nicht etwa um spezifisch deutsche, sondern um internationale Probleme, die auf den Charakter der Rüstungsindustrie zurückzuführen seien und gegen die er im »Interesse des deutschen Volks und im Interesse des europäischen Friedens« protestiere.892 Noch bevor die Sitzung geschlossen wurde, reagierte Kriegsminister von Heeringen auf Liebknechts Anschuldigungen. Er betonte, die Untersuchung gegen Krupp sei noch nicht abgeschlossen, doch sei bereits festgestellt worden, dass es sich nicht um Landesverrat oder den Verrat militärischer Geheimnisse handele.893 Die Intervention Heeringens bot Liebknecht ein Sprungbrett. Unter der Prämisse, sich zu erklären, konnte er am darauffolgenden Tage detailliert Stellung beziehen und seine Kritik ausführen. Explizit wiederholt er den Vorwurf der Bestechung und des Geheimnisverrats. Darüber hinaus verortete Liebknecht seine Anklage im Kontext einer breiten Militarismuskritik und stellte eine Verbindung zu der Wehrvorlage her.894 Der Abgeordnete passte dabei die Vorwürfe gegen Krupp in verschiedene Legitimierungs- und Rechtfertigungsnarrative ein. So betonte er einerseits seine Loyalität der Regierung gegenüber – schließlich habe er mit dem Kriegsministerium kooperiert, anstatt die Kornwalzer einfach der Öffentlichkeit preiszugeben. Andererseits hob er aber auch seine Verbundenheit mit dem deutschen Volk hervor, dessen Interessen er vertreten müsse. Im Gegensatz dazu sei das »Kapital« vaterlandslos und 889 Vgl. im Folgenden: Redebeitrag Liebknecht, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18. 4. 1913, S. 4910–4913. 890 Ebd., S. 4910. 891 Ebd. Vgl. auch Wolbring: Krupp und die Öffentlichkeit, Kap. 4D, S. 283f. 892 Redebeitrag Liebknecht, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18. 4. 1913, S. 4912. 893 Redebeitrag Heeringen, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18.4. 1913, S. 4912–4914. 894 Wenn nicht anders gekennzeichnet, im Folgenden: Redebeitrag Liebknecht, 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4. 1913, S. 4923–4926.

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unmoralisch, wie die Millionengewinne des Essener Konzerns demonstrierten, die aus den »Taschen der Armsten [sic!] der Armen des deutschen Volkes entnommen« seien.895 Liebknecht stilisierte die sozialdemokratische Agitation gegen die Wehrvorlage – wie auch die Enthüllung der Kornwalzer – als Kreuzzug gegen die Partikularinteressen der Rüstungsindustrie und als Einsatz für den Fortbestand des Friedens in Europa. Er schloss seine Rede vor dem Reichstag mit dem Appell an die Regierung, der Untersuchung gegen Krupp entschiedene Maßnahmen folgen zu lassen und gegen die »kriegstreibende«, »allmächtige Kapitalsclique« vorzugehen. Von dem Parlament forderte er die Einsetzung einer Enquete zur Untersuchung der Rüstungsindustrie.896 Mit dieser Argumentation versuchte Liebknecht nicht nur, Angriffen auf seine Person und die Sozialdemokratie vorzugreifen, er schuf auch vielfältige Anknüpfungspunkte für die Pressekampagne des Vorwärts, die zeitgleich zu seinen Reden einsetzte.897 Die SPD-Zeitung orientierte sich stark an den Thesen Liebknechts, formulierte aber nicht nur ausschweifender, sondern auch polemischer und zugespitzter. Ferner nutzte der Vorwärts die Korruptionsvorwürfe, um inhaltliche Verbindungen zwischen verschiedenen Themenkomplexen zu knüpfen. Er verwendete sie als Argument gegen die Wehrvorlage der Regierung und leitete darüber hinaus eine weitreichende Kritik der politischen Situation aus ihnen ab. Wie in vorangegangenen Debatten stützte sich das Blatt dabei auf ein systemisches Korruptionsverständnis: Korruption sei ein Symptom des modernen Kapitalismus, der Dominanz privater Interessen gegenüber den Bedürfnissen der Allgemeinheit.898 Sodann betonte das sozialdemokratische Organ die enge Verbindung zwischen Kapitalismus und Militarismus und die negativen Konsequenzen, die diese Verquickung für das Staatswesen habe. Die Vergehen des Kruppkonzerns, der militärische Geheimnisse durch Bestechung einem »privaten Profitbedürfnis dienstbar«899 gemacht habe, seien hierfür exemplarisch. Während das »Rüstungskapital« seinen Einfluss stetig ausdehne, folge die Regierung

895 Redebeitrag Liebknecht, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18. 4. 1913, S. 4912; 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4.1913, S. 4924. 896 Redebeitrag Liebknecht, 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4. 1913, S. 4925. 897 Zur Berichterstattung des Vorwärts bereits erschienen und für den folgenden Abschnitt zu konsultieren: Engels/Rothfuss, Les Usages de la Politique du Scandale, S. 45–50. 898 Beispielhaft Vorwärts, Korruption, 7. 7. 1913; Ders., Die Sühne des Krupp-Panamas, 9. 11. 1913. 899 Vorwärts, Krupp-Krach, 20. 4. 1913.

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»nicht der eigenen Erkenntnis staatlicher Notwendigkeit, sondern [lasse] sich treiben von Kräften, die von außen auf sie einwirken; sie steht im Banne kleiner Cliquen, die ihre Sonderinteressen über die Interessen des Allgemeinwohls stellen.«900

Aus diesem Befund leitet der Vorwärts mehrere Forderungen ab. Für das Blatt stellten die Ablehnung der Wehrvorlage und die Verstaatlichung des Rüstungswesens unbedingte Konsequenzen der Korruption dar.901 Das Blatt argumentierte, man müsse mit der Darstellung brechen, zwischen deutschen Interessen und kapitalistischen-militaristischen Gewinnstreben bestehe Deckungsgleichheit und die deutsche Ehre sei mit dem Ansehen der Rüstungskonzerne verquickt.902 Nur dann sei die »Korruptionsbande der Kriegshetzer« zu stoppen und der europäische Frieden zu bewahren.903 In den vorhandenen Missständen erblickte der Vorwärts schließlich auch die Folgen ausbleibender politischer Entwicklung: Dem Willen des Volkes müsse endlich entsprochen werden. Obgleich die Reichstagswahl 1912 dem Wählerwillen deutlich Ausdruck verliehen habe, würden sich Regierung und Parteien weiterhin dem eingeforderten Fortschritt widersetzen. So verfälsche etwa das preußische Dreiklassenwahlrecht noch immer die Mehrheitsverhältnisse in preußischen Parlamenten und Stadtverordnetenversammlungen und der Bundesrat blockiere prinzipiell die Verabschiedung sozialdemokratischer Beschlüsse.904 Auf diese Weise zeichnete der Vorwärts bestehende politische Probleme als Konsequenz des Dreigestirns von Kapitalismus, Militarismus und Korruption und suggerierte, dass diese nur durch eine sozialdemokratische Politik zu lösen seien. Karl Liebknecht und der Vorwärts nutzten die Korruptionsvorwürfe auf diese Weise nicht nur für einen Angriff auf das Essener Rüstungsunternehmen. Sie verknüpften sie zudem geschickt mit der Debatte um die Wehrvorlage, um so sozialdemokratischen antimilitaristischen Argumenten mehr Gehör und Wirkkraft zu verleihen. Erstmals verband die Sozialdemokratie mit den Korruptionsvorwürfen dabei aber nicht nur abstrakte Bedürfnisse – wie noch während des Panamaskandals 1892/93 –, sondern auch konkrete Forderungen, wie die Ablehnung der Wehrvorlage, die Modifikation des Reichshaushaltsetats und die Reform des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Beachtenswert ist in diesem 900 Vorwärts, Dritte Lesung des Etats. Eine neue Krupp-Debatte, 27. 4. 1913, siehe auch Ders., Hokuspokus II., 28. 8. 1913. 901 Vorwärts, Militäretat und Prozentpatriotismus! Enthüllungen über die Firma Krupp, 19. 4. 1913; Ders., Krupp-Krach, 20. 4. 1913. Ähnliche Forderungen auch vonseiten des linksliberalen Berliner Tageblatts: Berliner Tageblatt, Zum Krupp Prozeß, 12. 11. 1913. 902 Beispielhaft Vorwärts, o. T., 21. 4. 1913; Auch: Redebeitrag Liebknecht, 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4. 1913, S. 4924. Später (Auswahl): Vorwärts, Staatsanwalt und Krupp-Anwalt, 8. 11. 1913. 903 Zitat des sozialdemokratischen Abgeordneten Lebedour vor dem Deutschen Reichstag am 23. 4. 1913 in: Vorwärts, o. T., 24. 4. 1913. 904 Vorwärts, Eine neue Krupp-Debatte, 27. 4. 1913.

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Zusammenhang, dass die sozialdemokratischen Akteure keine Revolution, nicht die Verwerfung des politischen Systems forderten, sondern Reformen innerhalb der bestehenden Ordnung. Diese Beobachtung ergänzt die Beobachtungen Stig Försters, der zeigte, dass die sozialdemokratische Fraktion auch in den Verhandlungen um den Heeresetat 1913 konstruktiv partizipierte.905 Sie versuchte also, ihr Anrecht auf Inklusion und parlamentarische Teilhabe zu nutzen, das seit der Reichstagswahl von 1912 auch von den anderen Parteien theoretisch nicht verleugnet werden konnte. So hatte die Sozialdemokratie im Reichstag und vor allem in verschiedenen Landes- und Kommunalparlamenten begonnen, zumindest teilweise einen pragmatischen Kurs zu verfolgen, dessen Ziel Veränderung durch Partizipation war.906 Im Gegensatz dazu blieb aber gerade der Vorwärts weiterhin von radikalen Ideologien in Sprache und Inhalt geprägt. In der Vorkriegszeit etablierte sich das Blatt unter den bedeutenden Hauptstadtzeitungen als Organ der Skandalierung und Enthüllung. Der Korruptionsvorwurf avancierte dabei zu einer viel genutzten kommunikativen Ressource, die radikale Ideologie mit der Forderung nach Fortschritt innerhalb bestehender Strukturen verband.907 Diese Beobachtungen legen nahe, dass der Korruptionsvorwurf in den Händen der deutschen Sozialdemokratie zu einem Instrument der Inklusion avancierte und damit im weitesten Sinne als Stütze der bestehenden Ordnung diente.

6.1.2 Krupp auf der Anklagebank: Rezeption und Bedeutung der Gerichtsverfahren für den Korruptionsskandal In den letzten zwei Dekaden des Deutschen Kaiserreichs wurde die politische Öffentlichkeit durch mehrere bedeutende Skandale erschüttert, wie beispielsweise den Polizeiskandal um Eugen von Tausch oder den sogenannten Eulenburgskandal.908 Einen wesentlichen Bestandteil dieser medialen Ereignisse stellte der Gerichtsprozess dar, da er der politischen Öffentlichkeit detaillierte Informationen über den skandalierten Normbruch zugänglich machte: In der 905 Förster, Der Doppelte Militarismus, S. 285f. 906 Knapp bei: Berger, Social Democracy and the Working Class, S. 83. 907 Zu der Flügelbildung innerhalb der SPD vor dem ersten Weltkrieg: Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Auch in der zeitgenössischen Presse wurde wiederholt auf den Konflikt zwischen Pragmatismus und Radikalismus innerhalb der SPD hingewiesen. Beispielhaft Norddeutsche Allgemeine Zeitung, o. T., 3. 8. 1913AA. 908 Zu diesen Skandalen einführend: Domeier, Eulenburg-Skandal; Ekkehard-Teja Wilke: »Clipping the Wings of the Hohenlohe Ministry : Marschall von Bieberstein, the Bismarck Revelations, and the Leckert-Lützow Scandal«, in: Studies in Modern European History and Culture 2 (1976), S. 211–234. Vgl. auch Anhang.

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Presse wurden die Verhandlungen minutiös verfolgt und rege kommentiert.909 In vielen Fällen erschienen sogar eigens publizierte Flugschriften, in denen die Protokolle der Verhandlungen wiedergegeben wurden – je nach Herausgeber mit mehr oder minder deutlicher politischer Färbung.910 Nimmt man nun spezifisch die Korruptionsdebatten des Kaiserreichs in den Blick, fällt eine Besonderheit des Kornwalzerskandals ins Auge. Er war der erste reichsweit rezipierte Korruptionsskandal, in dessen Verlauf sich die der Korruption beschuldigten Akteure vor Gericht verantworten mussten. Zwar hatte es auch zuvor Korruptionsdebatten gegeben, die in einem Prozess gipfelten, doch waren diese entweder lokal begrenzt oder es war der Skandalierer gewesen, der vor der Gerichtsbarkeit als Angeklagter erschienen war. Man denke dabei an die von Bismarck angestrengten Prozesse der 1870er Jahre, das Verfahren gegen Johannes Fusangel in Bochum 1892 oder den Dresdener Presseskandal von 1901. Welchen Einfluss die Kornwalzerprozesse auf den Korruptionsskandal ausübten, wird im Folgenden untersucht. Die »Geschehnisse in Moabit« – wie man in der Presse auf die Verfahren hinzuweisen pflegte – spalteten im Herbst 1913 die politische Öffentlichkeit des Kaiserreichs.911 Nach den Enthüllungen Liebknechts hatte die Reichsregierung zunächst versucht, die Deutungshoheit über die Vorwürfe der Justiz zu übertragen. Regierungsvertreter hatten wiederholt gefordert, mit einer Bewertung der Vorgänge zu warten, bis das juristische Urteil gefallen sei.912 Auf diese Weise wollte das Kabinett vorschnellen Wertungen und Spekulationen vonseiten der Abgeordneten oder der Presse den Boden entziehen. Dieser Versuch, die Justiz – in den Worten Böschs – als »einzige legitime Bewertungsinstanz« zu etablieren, scheiterte jedoch.913 Bereits vor Prozessbeginn musste die Regierung eine erste Niederlage hinnehmen, als die Judikative – nicht zuletzt ob des immensen Drucks durch die Presse – entschied, eine öffentliche Verhandlung zu führen.914 Dennoch versuchte man, die öffentliche Aufmerksamkeit durch einfache Mittel zu begrenzen: So wurde beispielsweise ein kleiner Sitzungssaal gewählt, in dem

909 Vgl. bsph. Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 455; Auch: Domeier, Eulenburg-Skandal; Kohlrausch, Monarch im Skandal. 910 Vgl. bsph. o. A.: Die politische Polizei in Preußen. Bericht über die Verhandlungen im Prozeß Leckert-Lützow-Tausch am 2., 3., 4. und 7. Dezember 1896 vor dem Landgericht I zu Berlin, Berlin 1896; Wilhelm Sollmann: Backschisch. Der Kölner Polizei-Prozeß. 7. bis 17. Januar 1914 vor der dritten Strafkammer, Köln 1914. 911 Berlin-Moabit: Standort des Berliner Landgerichts. 912 Vgl. bsph. Redebeitrag von Heeringen, 143. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 18. 4. 1913, S. 4914. 913 Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 358. 914 Vgl. bsph. Vorwärts, Die Krupp-Affäre hinter verschlossenen Türen?, 17. 6. 1913; Ders., Vorhang zu!, 21. 7. 1913.

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nur eine begrenzte Anzahl ausgewählter Journalisten Platz fand.915 Dieses Vorgehen legt nahe, dass vor dem Hintergrund vorangegangener Skandalprozesse unter den politischen Akteuren ein Bewusstsein dafür erwachsen war, welche Bedeutung das Prozessgeschehen für den Verlauf einer Affäre und deren mediale Rezeption haben konnte. Die Gerichtsverhandlung fungierte als öffentliche Bühne, auf der die beteiligten Akteure ihre Argumentationen detailliert darstellen und ihre Positionen im Rahmen der Korruptionsdebatte inszenieren konnten. So veränderte sich auch der Informationsgehalt der Presseberichterstattung, denn das Prozessgeschehen versorgte die Zeitungen in der Regel mit einer Vielzahl neuer Details. Die Periodika konnten die als korrupt angeprangerten Vorgänge ausführlich nachzeichnen und erhielten Zugang zu Aussagen und Zitaten der Personen, über die sie berichteten. Im Kornwalzerskandal entstand auf diese Weise eine Wechselwirkung: Die Enthüllungen und die subsequente Berichterstattung der politischen Presse rückten die Gerichtsverfahren in den Fokus des öffentlichen Interesses. Zugleich dienten die Prozesse den Zeitungen als neue Informationsquelle und garantierten abwechslungsreiche Meldungen, die wiederum den Skandal befeuerten. Damit fungierten die Kruppprozesse als Multiplikatoren öffentlicher Aufmerksamkeit. Sie eröffneten zudem neue Kommunikationskanäle, die über den vielfältigen Austausch innerhalb des journalistischen Feldes hinausreichten. Wie später dargestellt wird, kam es im Rahmen der Korruptionsdebatte erstmals zu einer direkten Interaktion zwischen Presse und Justiz. Analysiert man die Berichterstattung über die Verfahren auf einer inhaltlichen Ebene, so lässt sich des Weiteren feststellen, dass sie den Gegensatz zwischen den Verteidigern und den Kritikern Krupps verschärfte und damit die politische Öffentlichkeit weiter polarisierte. So lassen sich in den Stellungnahmen und Kommentaren zu den Prozessen einerseits Erwartungen und Hoffnungen und andererseits Ängste, die sich mit den Verfahren verbanden, herauslesen, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessen und Motivationen zu einem Gegenstand der Argumentation wurden. Nicht zuletzt fungierten sie als Brennglas, das die Konflikte über die zugrundeliegenden Normvorstellungen katalysierte und in der Rückschau sichtbar macht: Die Gegner der Gerichtsprozesse rekrutierten sich zumeist aus den industriellen Kreisen um Krupp oder der dem Unternehmen nahestehenden Presse. In der Regel argumentierte diese Gruppe, dass die juristische Untersuchungen die deutsche (Export-)Industrie schädigen und das Ansehen Deutschlands im 915 Vgl. bsph. Vossische Zeitung, Die Kruppangelegenheit vor dem Kriegsgericht, 30. 7. 1913MA. Zum Ausmaß des öffentlichen Interesses vgl. bsph. Neue Preußische Zeitung, Tilian und Genossen vor dem Kommandanturgericht, 31. 7. 1913AA. Ähnliche Maßnahmen wurde auch während des zweiten Prozesses im Oktober/November ergriffen, vgl. bsph. Vorwärts, Krupp vor Gericht, 24. 10. 1913.

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Ausland herabsetzen würden.916 Aus Rücksichtnahme auf das »Staatswohl«, so drückte beispielsweise der Berliner Lokal-Anzeiger sein Missfallen über die Verfahren aus, hätte ein solches »Experiment« unterbleiben sollen.917 Am lautesten wurden Stimmen dieser Art im Verlauf des zweiten Prozesses, bei dem die Vertreter Krupps auf der Anklagebank Platz nehmen mussten. Die konservative Post fasste ihre Argumentation pointiert zusammen: »Was jetzt in Moabit durchgesprochen und untersucht wird, das setzt sich außerhalb des Gerichtssaales in Riesenverluste um, und die Worte, die dort fallen, sind Blutstropfen, die dem volkswirtschaftlichen Körper Deutschlands entquillen.«918

Die alldeutsche Rheinisch-Westfälische Zeitung fügte hinzu, dass sich die ›Arbeiterschaft‹ in zukünftigen Notzeiten für die ausbleibenden Aufträge bei ihrem Wortführer Liebknecht bedanken solle.919 Auf diese Weise suchte man nicht nur den Sinn der Prozesse in Frage zu stellen, sondern auch eine Gegenskandalierung zu starten: In verschiedenen Zeitungen wurde bereits seit den Enthüllungen vor dem Reichstag von einem »Fall Liebknecht« gesprochen und der sozialdemokratische Abgeordnete als »Fakir« gebrandmarkt, der mit seinem unpatriotischen Verhalten nicht nur das Allgemeinwohl, sondern auch speziell die Interessen seiner eigenen Wählerschaft schädige.920 Während sich in diesen Argumentationen kaum Stellungnahmen zu den eigentlichen, vor Gericht verhandelten Vorgängen fanden, versuchten einige wenige Zeitungen auch, die Geschäftspraktiken Krupps direkt zu rechtfertigen. Die Argumente dafür reichten von einer Verharmlosung der Vorgänge – »kaufmännische Notwendigkeit«921, die in günstigeren Preisen für das Reich resultierte habe – bis zu ihrer aggressiven Verteidigung. Vielfach orientierte sich diese radikale Apologetik an den Stellungnahmen Alfred Hugenbergs, die im April 1913 in der Presse erschienen waren.922 Dort hob der Direktor der Kruppwerke hervor, dass das Unternehmen aufgrund der Natur seiner Geschäfte und seiner bedeutenden Stellung alltäglich legalen Umgang mit Geheimbe916 Die Bezeichnung als Gruppe soll nicht fälschlicherweise suggerieren, es handele sich um eine Verdingung von Akteuren, die miteinander agiierten. 917 Berliner Lokal-Anzeiger, Der Krupp Prozeß, 12. 11. 1913; vgl. auch Ders., Zu den Erklärungen des Oberstaatsanwalts, 6. 11. 1013. 918 Post, Das Echo von Moabit, 5. 11. 1913. 919 Rheinisch-Westfälische Zeitung, Die Musterknaben, 9. 11. 1913. 920 Post, Das Echo von Moabit, 5. 11. 1913. 921 Vgl. bsph. Rheinisch-Westfälische Zeitung, Die Musterknaben, 9. 11. 1913; bsph. auch: Deutsche Tageszeitung, Der Krupp-Prozeß, 9. 11. 1913. 922 Hugenberg veröffentlichte in der Zeitung Der Tag und sprach u. a. mit der Kölnischen Zeitung, die Meldungen wurden aber in unterschiedlichen Organen abgedruckt. Vgl. bsph. Neue Preußische Zeitung, Die Firma Krupp und Liebknechts »Stinkbomben«, 25. 4. 1913MA; Dies., Eine neue Erklärung Hugenbergs, 25. 4. 1913AA; Dies., Zum Fall Krupp, 27. 4. 1913MA.

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richten über die inländische Bewaffnungsfrage pflege. Bei den Kornwalzern handele es sich jedoch nur um unbedeutende »Lappalien«, mit denen Liebknecht den Reichstag und die öffentliche Meinung »überrumpelt« und »hypnotisiert« habe.923 Auf diese Argumentation stützte sich beispielsweise der Berliner Lokal-Anzeiger, der die natürlich gewachsene »Symbiose […] zwischen den behördlichen Organen und dem Unternehmer« als notwendigen Bestandteil des Geschäftslebens charakterisierte.924 Durch diese aggressive Verteidigung Krupps provozierte der Redakteur des Berliner Lokal-Anzeigers, Otto von Gottberg, sogar eine direkte Auseinandersetzung mit der Staatsanwaltschaft. Während des Prozessgeschehens bezog der Oberstaatsanwalt des Berliner Landgerichts, Chrzescinski, persönlichen Stellung zu den Artikeln des Journalisten. Gottberg hatte ihm vorgeworfen, mit der Verlesung verschiedener Dokumente nationale Interessen gefährdet zu haben, woraufhin Chrzescinski mit mehreren scharfen Erklärungen antwortete.925 Dieser direkte Austausch zwischen Presse und Staatsanwaltschaft demonstriert, dass der Kornwalzerskandal ausgehend von den Gerichtsprozessen von neuen Dynamiken geprägt war. Die Berichterstattung hatte eine vormals unbekannte inhaltliche Qualität und Schärfe erreicht, die neue Kommunikationskanäle eröffnete. Darüber hinaus spiegelt sich in der Korruptionsdebatte auch das wachsende Selbstverständnis der Presse als Vertreter verschiedener Interessengruppen oder eines subjektiv definierten Volkswohls wider : Die Deutungshoheit über die Geschehnisse wurde nicht selbstverständlich der Justiz überlassen, wie es den Wünschen der Regierung entsprochen hätte. Sie blieb zwischen den Akteuren der Korruptionskommunikation umkämpft. Die radikale nationale und teils apologetische Position des Berliner LokalAnzeigers war inhaltlich jedoch – und das ist hervorzuheben – eine Minderheitenposition. Selbst unter den Befürwortern Krupps beschränkte man sich vornehmlich darauf, die Bedeutung des Unternehmens für den Staats- und Volkskörper hervorzuheben und die Schäden, die durch Enthüllung und juristische Verfolgung entstanden waren, darzulegen. Die Bestechung der Offiziere wurde nur selten gerechtfertigt. Stattdessen wurde sie meist als das Verschulden Einzelner charakterisiert und mit dem Bild einer vorbildhaften und unkorrumpierbaren preußischen Beamtenschaft kontrastiert.926 Der Kornwalzerskandal weist in dieser Hinsicht deutliche Ähnlichkeiten mit den vorangegan923 Ebd. 924 Berliner Lokal Anzeiger, Der Krupp Prozeß, 12. 11. 1913. 925 Vgl. bsph. die Erklärung des Oberstaatsanwalts in: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Prozeß gegen Brandt und Eccius, 6. 11. 1913; Berliner Tageblatt, Der Krupp-Prozeß, 5. 11. 1913; Berliner Lokal-Anzeiger, Zu den Erklärungen des Oberstaatsanwalts,6. 11. 1913MA. 926 Vgl. bsph. Berliner Morgenpost, Das Urteil im Krupp-Prozeß, 9. 11. 1913; Post, Ursache und Wirkung, 9.11.13.

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genen Korruptionsdebatten auf, in denen der Topos des unbestechlichen preußischen Beamten gleichermaßen bedient und auch von den Oppositionsparteien nicht in Frage gestellt wurde. So ist festzuhalten, dass sich – wie auch im Fall der Vorwürfe gegen Victor von Podbielski – 1913 eine kleine Gruppe fand, die versuchte, gegen einen dominanten gesellschaftlichen Normenkonsens eine Außenseiterposition zu vertreten, um das Gebaren der skandalierten ›Normbrecher‹ zu verteidigen. Die Reaktionen der politischen Öffentlichkeit auf diese Argumentation waren jedoch 1906 wie auch 1913 eindeutig. Die große Mehrzahl der Zeitungen zeigte sich empört über die Vorgänge und besonders über die augenscheinliche Selbstverständlichkeit, mit der die angeklagten Offiziere Krupp mit Informationen versorgt hatten. Im Vorwärts wie auch in anderen Zeitungen war von »Butterbroten« und »Trinkgeldern« die Rede, mit denen der »Krupp-Agent« die Beamten bezahlt habe.927 Abschätzig wurde von einer »Schmiergelderpraxis« gesprochen und die »unsauberen Geschäftspraktiken« der Firma Krupp gerügt.928 Wie bereits in der Beurteilung der französischen Korruptionsskandale in den Jahren 1887 und 1892/93 oder der Korruptionsvorwürfe gegen Tippelskirch und Podbielski wurden die dem Vorwurf zugrundeliegenden Vorgänge auch 1913 von der politischen Öffentlichkeit einstimmig als korrupt bewertet. Um dieses Urteil zu stützen, wurden auch die Gerichtsprozesse herangezogen. Von verschiedenen Presseorgane wurden sie beispielsweise als Korrektiv eines als bedrohlich bzw. unmoralisch befundenen Zustandes begrüßt und als Sieg der Rechtspflege gedeutet.929 Dass die Gesetzesgrundlagen bezüglich der zur Debatte stehenden Praktiken jedoch nicht notwendigerweise deckungsgleich mit deren normativer Bewertung in der politischen Öffentlichkeit waren, darauf verwies beispielsweise die Vossische Zeitung. Sie schrieb: »Für den juristisch nicht durchgebildeten Beobachter ist die Grenze zwischen Aufmerksamkeit und Bestechung flüssig, und jedenfalls scheint ihm nicht alles schon erlaubt, wenn es nicht mit Strafe bedroht ist.«930 In den Augen der liberalen Vossischen Zeitung urteilte also die Gesellschaft noch härter als der Gesetzgeber. Bereits in den vorangegangenen Kapiteln konnte gezeigt werden, dass im Kontext der Korruptionskommunikation derartige Asynchronitäten immer wieder thematisiert wurden: Normen und Gesetze wurden hinterfragt, bestätigt oder adaptiert – so auch 1913. Im Nachklang des Kornwalzerskandals verabschiedete der Reichstag verschiedene Gesetzesände-

927 928 929 930

Vgl. bsph. Vorwärts, Der Krupp-Prozeß vor dem Kriegsgericht, 1. 6. 1913. Vgl. bsph. Germania, Der Krupp-Prozeß, 6. 8. 1913AA. Beispielhaft: Germania, Das Urteil im Krupp-Prozeß, 9. 11. 1913. Vossische Zeitung, Der Fall Krupp, 7. 11. 1913.

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rungen, die im Sommer 1914 in Kraft traten. So wurde etwa die juristische Definition des militärischen Geheimnisverrats verschärft.931 Der Kornwalzerskandal bestätigte damit die gesellschaftliche Bewertung von Bestechung und Geheimnisverrat als korrupte, illegitime sowie illegale Praktiken, die bereits in den französischen Affären und dem Tippelskirchskandal zu beobachten gewesen war. Darüber hinaus inspirierten die Korruptionsvorwürfe in der politischen Sphäre des Kaiserreichs auch eine Debatte über die Verflechtung von Staat, Politik und Wirtschaft. Bereits im Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen und im Tippelskirchskandal war diese Beziehung im Rahmen der Korruptionskommunikation zum Thema geworden. In beiden Fällen wurde über die Nähe von Politikern zu oder deren Beteiligung an privatwirtschaftlichen Unternehmen debattiert. Die Korruptionsdebatten waren zugleich Spiegel und Motor einer Homogenisierung bestehender Normen, die sich in Gesetzesinitiativen und/oder den Handlungen der Akteure widerspiegelten. Man denke hierbei an die Interpellation Laskers im Deutschen Reichstag zur strengeren Regulation von Aktiengesellschaften oder an den Staatssekretär des Reichskolonialamts, Bernhard von Dernburg, der bei Amtsantritt 1906 all seine Beziehungen in die Wirtschaft beendete. Diese kritische Auseinandersetzung mit der Beziehung von Politik und Wirtschaft setzte sich im Kornwalzerskandal fort. Im Anschluss an Liebknechts Rede verabschiedete der Reichstag eine Resolution, welche die Beschaffung von Kriegsmaterialien strengeren Bestimmungen unterwarf und eine mögliche Verstaatlichung der Rüstungswirtschaft thematisierte.932 Darüber hinaus bezogen auch verschiedene Zeitungen kritisch Stellung. Das Berliner Tageblatt beispielsweise fasste das Resultat des Kruppprozesses mit den Worten zusammen, er habe »nach mehr als einer Richtung die Grenzen zwischen Behörden und Privatbetrieben bestimmter abgesteckt.«933 Gemeinsames Argument der ›Verflechungskritiker‹ war, die Rechtsprechung müsse im Sinne der Allgemeinheit erfolgen und dürfe nicht hinter den Interessen einzelner zurücktreten.934 Sie definierten die Judikative als Instanz, die zum Wohle des Volks handeln sollte, und betonten damit auch die Bedeutung der Gerichtsprozessen für den Skandal. So äußerte etwa die Kölnische Zeitung die Hoffnung, die Staatsanwaltschaft werde mit der Verurteilung Krupps dem Rechtsempfinden des Volkes entsprechen, das jüngst durch verschiedene juristische Entscheidungen enttäuscht worden sei.935 931 Eine Novelle über den Verrat militärischer Geheimnisse trat im Juni 1914 in Kraft, vgl. Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 463. 932 Bösch, Krupps »Kornwalzer«, S. 358. 933 Berliner Tageblatt, Das Urteil im Krupp-Prozeß, 9. 11. 1913. Vgl. bsph. auch: Kölnische Volkszeitung, Der Krupp-Prozeß, 8. 11. 1913. 934 Vossische Zeitung, Der Fall Krupp, 7. 11. 1913; Germania, Fiat justitia!, 7. 11. 1913. 935 Kölnische Volkszeitung, Der Krupp-Prozeß, 8. 11. 1913.

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So kann einerseits festgehalten werden, dass Akteure der politischen Sphäre mit den Gerichtsprozessen verschiedene Erwartungen verknüpften und diese – wie dargestellt – als Argumente der Normenaushandlungsprozesse instrumentalisierten. Andererseits wurden die Verfahren selbst zum Gegenstand der Korruptionskommunikation und unterlagen der Bewertung durch die politische Öffentlichkeit. Positiv fiel beispielsweise die Wertung der katholischen Germania aus, die argumentierte, indem man gegen Krupp ermittelt habe, habe man »vor aller Welt zu erkennen [gegeben], daß es im Deutschen Reiche nur ein Recht, nur eine Gerechtigkeit gibt, welche die Gleichheit aller vor dem Gesetz zur Wahrheit macht […].«936 Gänzlich anders urteilte hingegen das Kleine Journal. Der Prozess gegen die Vertreter des Krupp-Direktorium beweise, dass die Regierung von der Justiz verlange, im »sogenannten Staatsinteresse […] das Recht zu beugen.«937 Eine Position, die auch von der liberalen Frankfurter Zeitung in ähnlicher Form vertreten wurde.938 Derartige Kritik an der Justiz war für einige Zeitungen Ausgangspunkt für eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik. Beispielhaft hierfür ist einmal mehr der Vorwärts, der mit Blick auf die Gerichtsprozesse von Klassenjustiz sprach und daraus – wie bereits dargestellt – ein Urteil über den Gesamtzustand der deutschen Gesellschaft ableitete.939 Die Rezeption der Gerichtsprozesse in der politischen Öffentlichkeit weist Parallelen zu der – weniger prominent geführten – Debatte um die Untersuchungskommission auf. Der Vorwärts etwa kritisierte, dass das Gremium nur über eingeschränkte Ermittlungs- und Bestrafungsmöglichkeiten verfüge. Eine Aufklärung der Korruptionsvorwürfe sei vonseiten der Regierung gar nicht gewünscht, vielmehr handele sich um eine »Beschönigungskommission«.940 Diese Haltung, so die verallgemeinernde Schlussfolgerung der Parteizeitung, sei beispielhaft für den prinzipiellen Umgang mit Korruption im Kaiserreich. Auch vonseiten der Liberalen wurde Kritik an der Untersuchungskommission geübt. Das Berliner Tageblatt argumentierte, dem Parlament sei verfassungsrechtlich die Kontrolle der Verwaltung übertragen worden; da die Regierung jedoch eine rein parlamentarische Untersuchungskommission verhindert habe, boykottiere sie die Ausübung des konstitutionellen Auftrags.941 Hier finden sich Ähnlichkeiten zu dem Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen: Auch 1873 hatte die Regierung auf die Einsetzung einer Untersuchungskommission durch das Parlament mit restriktiven Maßnahmen reagiert und Kontrolle über die 936 937 938 939 940 941

Germania, Das Urteil im Krupp-Prozeß, 9. 11. 1913. Das Kleine Journal, Der Fall Chrezescinski, 3. 11. 1913. Frankfurter Zeitung, Das Urteil über Krupp, 9. 11. 1913. Vgl. bsph. Vorwärts, Die Sühne des Krupp-Panamas, 9. 11. 1913. Beispielhaft Vorwärts, Schiebung und Siebung, 10. 11. 1913. Berliner Tageblatt, Der Umweg, 10. 11. 1913.

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Ausgestaltung, Besetzung und die Kompetenzen des Gremiums geltend gemacht.942 In beiden Fällen verhinderte das Eingreifen der Regierung, dass kritische Stimmen in der Kommission die Überhand gewannen und die Möglichkeit erhielten, dieses Gremium zu ihrem Sprachrohr zu machen. Beide Beispiele zeigen darüber hinaus, dass die Auseinandersetzung um die Einsetzung einer Untersuchungskommission für den Verlauf einer Korruptionsdebatte in der Mehrzahl der Fälle von größerer Bedeutung war als deren Arbeit und Ergebnisse. So waren die Skandale in beiden Fällen bereits verebbt, als die Kommissionen ihrer Arbeit beendeten, und die Präsentation ihrer Ergebnisse erhielt nur noch geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Die Bedeutung der Kruppprozesse für den Kornwalzerskandal tritt in der Gegenüberstellung mit der Untersuchungskommission noch einmal deutlich hervor: Mit Ausnahme der deutlich später stattfindenden Revisionsverhandlungen wurden die Gerichtsverfahren 1913 während ihrer gesamten Dauer von einem lebhaften Presseecho begleitet. Die vor Gericht zusammengetragenen Informationen wurden durch die Zeitungen reichsweit zirkuliert und der politischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Es entstand eine Wechselwirkung zwischen der Presseberichterstattung und den Prozessen, die den Skandal über mehrere Monate immer wieder befeuerte. Anders als im Fall der Untersuchungskommissionen von 1873 und 1913, die durch das Eingreifen der Regierung in ihrer Arbeit eingeschränkt waren und deren langwierige und komplexe Ermittlungen wenig Interesse generierten, polarisierten die Gerichtsprozesse unmittelbar. Sie wurden zu einem aktiven Bestandteil der Korruptionskommunikation, denn sie produzierten Neuigkeiten und wurden zugleich von den Akteuren der politischen Sphäre als Gegenstand der Argumentation instrumentalisiert. So bewerteten Kruppgegner wie auch -verfechter die Vorgänge entlang ihrer individuellen Interessenpolitik. Der Kornwalzerskandal weist damit deutliche Ähnlichkeiten zu den französischen Korruptionsdebatten der Jahre 1887 und 1892/93 auf, bei denen die Gerichtsprozesse die Dynamik der Korruptionsskandale ebenfalls maßgeblich beeinflussten. Auffallend ist jedoch, dass in Frankreich schon deutlich früher gegen Personen prozessiert wurde, die der Korruption verdächtigt wurden. Hierfür sind einerseits die unterschiedlichen strafrechtlichen Entwicklungen und Grundlagen in den beiden Ländern – wie in Kap. 4 dargestellt – verantwortlich, andererseits aber auch die Natur der erhobenen Vorwürfe. 1913 macht die Schwere des Beweismaterials ein Eingreifen der deutschen Regierung und der Justiz quasi unabdingbar, während in den Jahren zuvor nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ weniger rechtlich greifbare Vorwürfe erhoben wurden. Schließlich trug Liebknechts taktisches 942 Festzuhalten ist jedoch, dass es sich 1873 um das preußische Abgeordnetenhaus, 1913 um den deutschen Reichstag handelte.

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Vorgehen – seine anfängliche Zurückhaltung und Kooperation mit dem Kriegsministerium und seine gelungene Platzierung der Vorwürfe im Kontext der Wehrvorlage – dazu bei, den Skandal zu initiieren. Auf diese Weise gelang ihm, das Vorgehen von Regierung, Staatsbehörden und Justiz in den Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit zu rücken und die Strafverfolgung vor den Augen der politischen Öffentlichkeit einzufordern. Nicht zuletzt ist auch die Evolution der Presse und der politischen Öffentlichkeit zu nennen. Wie verschiedene kulturhistorische Studien gezeigt haben, initiierten und begleiteten technologische und gesellschaftliche Entwicklungen den Aufstieg der modernen (Massen)Presse und bedingten ein wachsendes Selbstverständnis der Medien. Wie bereits im Tippelskirchskandal gesehen, war die Presse nicht mehr nur Sprachrohr politischer Akteure, sondern wurde zu einer legitimitätsstiftenden Instanz, die ihrerseits Einfluss auf den politischen Prozess nahm.943 Wie die zurückliegenden Kapitel gezeigt haben, veränderte sich vor diesem Hintergrund nicht nur die politische Kommunikation im Laufe des Untersuchungszeitraums, sondern in Folge dessen auch die Korruptionskommunikation maßgeblich. Diese Entwicklung spiegelt sich in den Skandalprozessen der Wilhelminischen Periode wider, die das Selbstbewusstsein und den Erfahrungsschatz der Presse steigerten und damit letztlich auch den Verlauf des Kornwalzerskandals prägten. So forderten die politischen Hauptstadtzeitungen beispielsweise selbstsicher die öffentliche Verhandlung der Kruppprozesse ein. Zugleich zeigt das Vorgehen Liebknechts, dass sich auch der Umgang mit dem Vorwurf der Korruption insbesondere in der politischen Sphäre professionalisierte. Dieses Zusammenspiel schuf eine Atmosphäre, in der erstmals Vorwürfe eines solchen Ausmaßes nicht nur erfolgreich öffentlich thematisiert und skandaliert werden konnten, sondern in dem auch die Verhandlung der Vorwürfe vor Gericht zu einem Bestandteil der Korruptionskommunikation wurde. Beispielhaft zeigt der im Anschluss zu untersuchende Fall Siemens, dass ein Verfahren in einzelnen Fällen nun einen Korruptionsskandal sogar erst auslösen konnte.

6.1.3 »Schlimmer als Panama«: Der Kornwalzerskandal im zeitgenössischen Vergleich Im letzten Abschnitt dieses Unterkapitels gilt es noch einmal zum Ausgangspunkt des Kornwalzerskandals zurückzukehren – zu den Worten, mit denen Karl Liebknecht vor dem Deutschen Reichstag das Rüstungsunternehmen Krupp der Bestechung preußischer Militärbeamter bezichtigte und damit den 943 Beispielhaft Schulz, Der Aufstieg der »vierten Gewalt«; Kohlrausch, Medienskandale und Monarchie; Requate, Die Zeitung als Medium politischer Kommunikation.

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größten Korruptionsskandal in der Geschichte des Reiches beschwor : »Es handelt sich hier um ein Panama, schlimmer als Panama.«944 Dieser Vergleich Liebknechts mit der zwei Dekaden zurückliegenden französischen Korruptionsaffäre prägte von Anfang an den Charakter der deutschen Debatte. Überall, im Reichstag, im Gerichtssaal, in der Presse, dominierte die Frage: Hatte Karl Liebknecht ein deutsches ›Panama‹ enthüllt? Im Folgenden soll untersucht werden, wie einzelne Akteure den Vergleich mit anderen zeitgenössischen Skandalen im Allgemeinen und mit ›Panama‹ im Besonderen inszenierten und warum die Gegenüberstellung mit der französischen Korruptionsaffäre eine solch herausragende Rolle in der deutschen Debatte spielte. Wie die Analyse in Kap. 4 gezeigt hat, stellte der französische Panamaskandal auch für die deutsche Korruptionskommunikation ein wichtiges Moment dar. In den darauffolgenden Jahren wurde der Skandal in der deutschen Presse zu einem geflügelten Begriff und avancierte zum Sinnbild des modernen Korruptionsskandals. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit entwickelte sich ›Panama‹ zu einem feststehenden Topos, einem Richtwert, an dem das Ausmaß und die Schwere von Korruptionsvorwürfen evaluiert und transnational verglichen wurde. Besonders in der sozialdemokratischen Presse wurde dieser Vergleich zu einem festen Bestandteil der Berichterstattung. So hatte der Vorwärts bereits im Verlauf der französischen Korruptionsaffäre die Gegenüberstellung genutzt, um über angebliche Missstände im eigenen Land zu reflektieren. Über die Jahre nutzte das Parteiorgan ›Panama‹ sodann regelmäßig als Zustandsbeschreibung; die Bandbreite der ›korrupten‹ Vergehen, die mit dem Topos beschrieben wurden, weitete sich aus. Dabei fällt jedoch auf, dass die Sozialdemokratie nach 1892/93 hauptsächlich Korruptionsvergehen in anderen Ländern an ›Panama‹ maß. In der Berichterstattung über den Tippelskirchskandal beispielsweise war es nur das liberale Berliner Tageblatt, das einen direkten Vergleich mit der französischen Affäre wagte.945 Auch im Kontext des Dresdner Presseskandals hielt sich der Vorwärts mit dem Urteil ›Panama‹ zurück, obwohl das Periodikum die »Preßkorruption«, die Bestechungen der Dresdner Lokalredeakteure, scharf tadelte.946 Erst 1913 übertrug Karl Liebknecht den Topos auf deutsche Verhältnisse. Im Vorfeld des Kornwalzerskandals hatte der Vorwärts bereits die Existenz mehrerer europäischer ›Panamas‹ moniert, so beispielsweise in Ungarn, wo der amtierende Ministerpräsident L#szlj Luk#cs, »der größte Panamist der Welt«, in dem Verdacht stand, Staatsaufträge gegen Spenden für den Wahlfonds seiner

944 Redebeitrag Karl Liebknecht, 144. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 19. 4. 1913, S. 4925f. 945 Berliner Tageblatt, Ein Panama?, 31. 7. 1906MA. 946 Beispielhaft Vorwärts, Preßkorruption, 19. 9. 1901. Zum Dresdner Presseskandal vgl. Anhang.

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Partei vergeben zu haben.947 Auch von einem italienischen ›Panama‹ war im Frühjahr 1913 im Vorwärts zu lesen, da es beim Bau des römischen Justizpalasts zu finanziellen Unregelmäßigkeiten gekommen war.948 Im direkten zeitlichen Umfeld der Wehrvorlage beklagte das sozialdemokratische Organ sodann wiederholt die »Korruption« in Russland, die aber interessanterweise nie als ›Panama‹ bezeichnet wurde. Stattdessen beschrieb und benannte der Vorwärts die zur Anklage stehenden korrupten Praktiken dort sehr deutlich und prangerte Russland als das »klassische Land der Rüstungskorruption« an.949 Rüstungsfirmen aus ganz Europa seien in korrupte Geschäftsgebaren vor Ort involviert und unterstützten auf diese Weise die russische »Militärdiktatur«, so die These des sozialdemokratischen Parteiorgans.950 Im Umfeld dieser verschiedenen europäischen Korruptionsaffären begannen Karl Liebknecht und der Vorwärts im April 1913 ihre Kampagne gegen die deutsche Wehrvorlage und die deutsche »Korruptionsbande der Kriegshetzer«.951 Dabei hielt sich der Vorwärts in der ersten Phase seiner Berichterstattung mit einem direkten Vergleich zwischen ›Panama‹ und den Krupp’schen Bestechungen auffallend zurück. Stattdessen fanden sich die Vorwürfe gegen Krupp in den Spalten des Parteiorgans in direkter räumlicher Nähe zu Artikeln über ausländische ›Panamas‹ und die korrupten Praktiken des »internationalen Rüstungskapital[s]«.952 Das Blatt suggerierte so eine Affinität zwischen den unterschiedlichen Korruptionsdebatten und stellte eine implizite Verbindung zu der deutschen Situation her.953 Grundlegend hierfür war einmal mehr die vom Vorwärts genutzte und in verschiedenen Kapiteln bereits dargestellte sozialdemokratische Definition von Korruption, die einen kausalen Zusammenhang zwischen Korruption, Kapitalismus und Militarismus konstruierte. Während des Kornwalzerskandals ermöglichte diese Definition, die Kritik an Krupp mit der deutschen Wehrvorlage zu verknüpfen. Darüber hinaus wurde sie mithilfe des universal verständlichen Topos ›Panama‹ zum Kern einer sozialistischen Kapitalismus- und Militarismuskritik, welche die Ebenen internationaler und 947 Der Vorwärts zitiert hier die Aussage des oppositionellen Abgeordneten Zoltan D8sy vom 18. 9. 1912: Ders., Der größte Panamist, 6. 6. 1913. Auch: Ders., Der Panamisten-Prozeß, 18.21913. Vgl. auch: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 [Online-Ausgabe], http://www.biographien.ac.at/oebl_5/361.pdf (16. 6. 2015). 948 Beispielhaft Vorwärts, Ein neues Panama,16. 2. 1913; Ders., Das italienische Panama, 5. 5. 1913. 949 Vorwärts, Aus dem klassischen Land der Rüstungskorruption, 27. 4. 1913; Ders., Von der russischen Korruption, 12. 3. 1913; Ders., Ein Armeeskandal in Rußland, 24. 4. 1913. 950 Vorwärts, Aus dem klassischen Land der Rüstungskorruption, 27. 4. 1913. 951 Wie Verweis 903. 952 Vorwärts, Die Schliche des internationalen Rüstungskapitals, 24. 4. 1913. 953 Der Vorwärts machte neben dem italienischen und ungarischen auch ein österreichisches Panama aus. Beispielhaft Ders., Das Panama des österreichischen Militarismus, 1. 6. 1913.

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nationaler Korruptionskritik miteinander in Verbindung setzte: Die Berichterstattung des Vorwärts über das Problem sich häufender, internationaler ›Panama-Affären‹ evozierte das Bild eines von Korruption zerrütteten Europas, das von den Partikularinteressen des internationalen (Rüstungs-)Kapitals dominiert und zu gefährlicher Kriegstreiberei und Aufrüstung bewegt werde – ein Prozess, der sich auch in der deutschen Wehrvorlage widerspiegele.954 Die Gegenüberstellung mit bereits vergangenen Affären stützte das Narrativ eines andauernden Kampfes gegen die korrumpierenden Kräfte des Kapitalismus und Militarismus. Sparsam verwendete, doch direkte Vergleiche zwischen den deutschen Verhältnissen und beispielsweise der französischen Dreyfus-Affäre betonten schließlich die Signifikanz des Kruppskandals und die Internationalität seines Charakters.955 Nachdem die Debatte um die Wehrvorlage entschieden und das Thema damit an Aktualität und Brisanz verloren hatte, begann der Vorwärts sich sodann direkt mit dem deutschen ›Panama‹ – namentlich den Kruppprozessen – zu beschäftigen. Tatsächlich war der Vergleich mit der französischen Korruptionsaffäre vor Gericht quasi zu einem impliziten Anklagepunkt geworden, der von den Prozessteilnehmern erhitzt diskutiert wurde. Anklagevertreter Kriegsgerichtsrat Welt beispielsweise eröffnete am 31. Juli 1913 den ersten Kruppprozess mit dem Hinweis, der Liebknecht’sche Vorwurf eines ›Panamas‹ sei Ansporn, die Untersuchung vor den Augen der Öffentlichkeit in aller Gründlichkeit zu führen.956 Diese kurze Bemerkung zeigt, wie stark der PanamaTopos mit der Existenz einer politischen Öffentlichkeit verbunden war, welche die Funktion einer beobachtenden und wertenden Instanz einnahm. Je größer die als Zeuge angerufene Öffentlichkeit war, umso schwerer wog dabei der Vorwurf eines ›Panamas‹. Dieser Automatismus zählt zu den Folgen einer zunehmend internationalisierten und vernetzten Presseberichterstattung, durch die sich politische Skandale zu »transnationale[n] Medienereignisse[n]« wandelten und als solche von den zeitgenössischen Akteuren bewusst erlebt und wahrgenommen wurden.957 Das Beispiel von Kriegsgerichtsrat Welt zeigt, dass diese Entwicklung auch auf den Kornwalzerskandal zutraf. So offenbart die mediale Rezeption der Kruppprozesse, dass die gesamte deutschen Presse selbstverständlich davon ausging, das Prozessgeschehen werde von einem europäischem Publikum verfolgt.958 Gestärkt wurde diese Wahrnehmung unter 954 Beispielhaft Vorwärts, o. T., 7. 4. 1913; Ders., o. T., 21. 4. 1913; Ders., Folgen des KruppKrachs, 22. 4. 1913. 955 Ebd. 956 Vgl. Prozessbericht der Vossischen Zeitung, Der Krupp-Prozeß vor dem Kriegsgericht, 31. 7. 1913AA. 957 Domeier, Eulenburg-Skandal, S. 19. 958 Beispielhaft Berliner Tageblatt, Deutschland, 4. 8. 1913.

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anderem durch die Anwesenheit ausländischer Pressevertreter, die sich unter die Beobachter der Prozesse gemischt hatten.959 Vor diesem Hintergrund wurde das Ergebnis der juristischen Verfahren, die nicht mehr allein über Bestechung, sondern auch über die moralische Gesundheit des Reiches zu urteilen hatten, ungleich bedeutender. In der Urteilsverkündung des ersten Kruppprozesses wurde daher Liebknechts Aussage, es handele sich um ein »deutsches Panama«, explizit thematisiert. Verhandlungsführer Welt führte aus, dass das deutsche Militär im In- und Ausland über großes Ansehen verfüge, welches nicht allein in der Pflichterfüllung seiner Soldaten begründet sei, sondern auch auf der Unkorrumpierbarkeit seiner Verwaltung beruhe. Dass dieses Ansehen durch die zu Tage geförderten Bestechungen nachhaltig beschädigt sei, räumte Welt ein; dass die Vorgänge jedoch die Ausmaße eines ›Panama‹ gehabt hätten, wies er mit folgender Begründung zurück: »Unter Panama versteht das Gericht eine Korruption schlimmster Sorte, um eine solche handelt es sich hier aber nicht. Drei Unteroffiziere und ein mittlerer Beamter haben sich für Mitteilung gewisser Dinge kleine Geldbeträge und Zechen geben lassen. Das ist kein Panama.«960

Die Argumentation Welts zeigt gleichermaßen das Bewusstsein der Akteure, vor den Augen einer internationalen politischen Öffentlichkeit zu agieren, sowie die Bedeutung des Panama-Topos für die Korruptionsdebatte. Während Welt die Fehler Einzelner hervorhob, lobte 7er gleichzeitig die Unversehrtheit der Beamtenschaft als Einheit. Die Negierung des deutschen ›Panamas‹ bedeutete, die moralische Überlegenheit und die Dominanz der deutschen Verwaltung im internationalen Vergleich zu bekräftigen. Auf diese Weise wurde nicht nur die Unversehrtheit einzelner Verwaltungseinheiten betont, sondern im Vergleich mit der französischen Republik auch indirekt die moralische Gesundheit und Stärke des monarchischen Staatsystems hervorgehoben. In der Mehrheit der deutschen Presse wurden die Urteilsbegründung und die Negierung des deutschen ›Panamas‹ positiv aufgenommen – ein Vorgang, der sich nach dem zweiten Prozess in ähnlicher Form wiederholte. Neben der sozialdemokratischen Presse, die weiterhin auf der Einschätzung Karl Liebknechts beharrte, wagte lediglich die liberale Vossische Zeitung, die Beurteilung des Kriegsgerichtsrats als zu milde in Zweifel zu ziehen.961 Vor allem konservativnationale Zeitungen begrüßten das Urteil und hoben hervor, dass die gründliche juristische Untersuchung der Vorwürfe ein positives Licht auf das deutsche 959 Prozessbericht der Vossischen Zeitung, Der Krupp-Prozeß vor dem Kriegsgericht, 31. 7. 1913AA. 960 Prozessbericht der Germania, Die Kruppaffäre vor dem Kriegsgericht, 6. 8. 1913AA. 961 Vossische Zeitung, Der Krupp-Prozeß, 6. 8. 1913MA.

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Rechtssystem werfe und Anerkennung im In- und Ausland verdiene.962 Einige Zeitungen wie die konservative Post betonten sogar, dass eine solche Aufklärung in anderen Ländern nicht stattgefunden hätte.963 Diejenigen Zeitungen also, die zu Beginn des Skandals die Enthüllungen der Kornwalzer noch grundsätzlich als unpatriotisch kritisiert und sich für eine Beilegung der öffentlichen Debatte ausgesprochen hatten, interpretierten die juristischen Untersuchung nun selbstbewusst in ihrem eigenen bzw. im ›nationalem‹ Interesse. Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung stellte nach der Urteilsverkündung klar : »Ein ›Panama‹ der deutschen Heeresverwaltung gibt es nicht.« Bei dem Vergleich mit der französischen Korruptionsaffäre habe es sich von Anfang an lediglich um »Aufbauschungsversuche« der Sozialdemokratie gehandelt.964 Ähnlich wie das offiziöse Organ argumentierten mehrere Zeitungen – vor allem jene, die bereits nach der Reichstagsrede Liebknechts eine sozialdemokratische Kampagne proklamiert und sich eventuell sogar an Versuchen einer Gegenskandalierung beteiligt hatten. So beschuldigte beispielsweise die Post Liebknecht, die Aufmerksamkeit des Auslandes durch eine planmäßige Hetze absichtlich provoziert zu haben, um der deutschen Volkswirtschaft zu schaden.965 Die konservative Zeitung sprach sogar von einem »Panama der Presse«, das die Sozialdemokratie mit ihrer Agitation gegen Krupp und die Staatsbeamten heraufbeschworen habe.966 Vereinzelt wurde auch die vom Reichstag verabschiedete Untersuchungskommission in diese Argumentation einbezogen. Die Kreuzzeitung etwa kritisierte das Gremium als Mittel der Sozialdemokratie, die Heeresverwaltung weiter herabzusetzen und zu diskreditieren.967 Das ›beobachtende Ausland‹ wurde damit zu einem Argument, das sowohl der Sozialdemokratie bei der Skandalierung der Kornwalzer diente, als auch von den Akteuren der Gegenskandalierung genutzt wurde. Wenn letztere vor dem Hintergrund ausländischer Wertung das Ende des Kornwalzerskandals forderten, so stellte für sie die Anrufung des ›beobachtenden Auslands‹ eine wichtige Ressource dar, um den eigenen Argumenten eine größere Bedeutung zu verleihen. Dieser kurze Einblick in die Presseberichterstattung hat gezeigt, dass ›Panama‹ für alle Akteure einen wichtigen Referenzpunkt darstellte. Die französische Korruptionsaffäre hatte sich zu einem Topos entwickelt, der zu Anfang des 962 Post, Ursache und Wirkung, 9. 11. 1913. Ähnlich: Deutsche Tageszeitung, Prozessuale Gedanken zum Krupp-Prozeß, 14. 8. 1913. 963 Ebd. Auch: Braunschweigische Landzeitung, Der Kornwalzer vor Gericht, 9. 11. 1913. 964 Norddeutsche Allgemeine Zeitung, o. T., 8. 8. 1913. 965 Post, Das Echo von Moabit, 5. 11. 1913. Ähnlich: Neue Preußische Kreuzzeitung, Der Reichstag über die Firma Krupp, 19. 4. 1913AA; Hamburger Nachrichten, Gericht und Parlament, 6. 11. 1913. 966 Post, Der Zeugenpranger des »Vorwärts«, 6. 11. 1913. 967 Neue Preußische Kreuzzeitung, Das »deutsche« Panama, 6. 8. 1906AA.

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20. Jahrhunderts als Inbegriff von Korruption, als Sinnbild für Ordnungsverfall und Unmoral galt. Besonders für die konservativen und staatstragenden Akteure des Kaiserreichs symbolisierte er politische Instabilität und avancierte zum Gegenbegriff einer als rechtmäßig empfundenen Ordnung. Der Vergleich mit einem deutschen ›Panama‹ oder die Beschwörung dessen musste in den Augen dieser Akteure daher nicht nur einem Affront gleichkommen, sondern eine regelrechte Bedrohung des Status quo darstellen. Sie wehrten sich nicht allein gegen die Assoziationen, die sich mit dem Topos verbanden, sondern auch gegen sein Potenzial, Raum für Kritik und alternative Ordnungsvorstellungen zu bereiten. Hier ist beispielsweise an die Sozialdemokratie zu denken, die im Kontext des Panamaskandals 1892/93 den Vergleich genutzt hatte, um den Missständen im eigenen Land die Wehrhaftigkeit einer idealisierten Republik gegenüberzustellen. Tatsächlich war es kritischen Stimmen aus dem Lager der Sozialdemokraten und der Linksliberalen 1913 in ähnlicher Weise gelungen, die Korruptionsvorwürfe mit tagespolitischen Thematiken in Verbindung zu bringen und daraus erstmals konkrete Forderungen abzuleiten. Doch auch wenn diese kritischen Positionen existierten, so ist festzuhalten, dass das »deutsche Panama« in der Mehrheit der reichsweiten Presse einstimmig zurückgewiesen wurde, um das Kaiserreich gegen die europaweite Symbolkraft dieses Topos zu verteidigen. Unter Berufung auf die Konsequenzen, die Deutschland aus dem Vergleich erwachsen sollten, wurden also einerseits nationale Verbundenheit und die Beendigung des Skandals eingefordert, andererseits aber auch der Anspruch auf Aufklärung und Transparenz untermauert. Ob nun der Kornwalzerskandal in den nachfolgenden Monaten und Jahren selbst zu einem Topos oder Referenzwert der deutschen Korruptionskommunikation avancierte, wird im Folgenden an zwei Beispielen aus der unmittelbaren Vorkriegszeit untersucht.

6.2

Andere Länder, andere Sitten? Die Vorwürfe gegen Siemens-Schuckert 1914

Im Kornwalzerskandal hatte Karl Liebknecht bewiesen, dass er den Vorwurf der Korruption als Instrument der politischen Kommunikation verstand und bereit war, diesen in seinem Interesse einzusetzen: Durch sein bedachtes Vorgehen und die strategische Inszenierung der Korruptionsvorwürfe gelang es ihm, eine ernsthafte Auseinandersetzung der politischen Öffentlichkeit mit den Vergehen der Firma Krupp zu initiieren. Der prominente SPD-Politiker konnte auf diese Weise den Anspruch seiner Partei auf politische Partizipation auf nationaler Ebene unterstreichen, während seine Gegner dabei scheiterten, die Korruptionsvorwürfe durch eine Gegenskandalierung des Sozialdemokraten zu diskre-

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ditieren. Die weitreichende politische und normative Debatte zog sowohl eine juristische Verurteilung als auch Gesetzesänderungen nach sich. Im direkten Gegensatz zu der gelungenen Skandalierung der Kornwalzer steht der Versuch Liebknechts wenige Monate später, Korruptionsvorwürfe gegen das Unternehmen Siemens zu erheben. Wenngleich es sich auch in diesem Fall um den Tatbestand der Bestechung handelte, konnte der Sozialdemokrat keine Korruptionsdebatte von ähnlichem Ausmaß entfachen. Im Folgenden sollen die Vorwürfe Liebknechts dargestellt und das Scheitern der Skandalierungsbemühungen vor dem Hintergrund des vorangegangenen Kornwalzerskandals untersucht werden. Im Fokus stehen dabei die Mechanismen der Korruptionskommunikation sowie die situative Bewertung mikropolitischer Praktiken durch die politische Öffentlichkeit des Deutschen Kaiserreichs. Am 20. Januar 1914 endete vor dem Landgericht Berlin III der unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführte Prozess gegen Carl Richter. Dem ehemaligen Angestellten der Siemens-Schuckert-Werke in Tokio wurde zur Last gelegt, seinen alten Arbeitgeber bestohlen und einen Erpressungsversuch unternommen zu haben. Richter wurde in beiden Belangen schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Ehrverlust verurteilt.968 Dem Verfahren hatte Karl Liebknecht als Anwalt des Angeklagten beigewohnt. Nach Verkündung des Schuldspruchs traf der Sozialdemokrat mit verschiedenen Vertretern der Presse zusammen, die er über die Details des Verfahrens informierte. Basierend auf diesem Austausch erschienen in den darauffolgenden Tagen in einer Vielzahl politischer Tageszeitungen Berichte über den Prozess.969 Woher rührte das Interesse der Presse an einem einfachen, wegen Diebstahls angeklagten Angestellten und wieso hatte sich gerade der prominente Sozialdemokrat zu dessen Verteidigung bereit erklärt? Carl Richter wurde 1909 bei den Siemens-Schuckert-Werken als Stenotypist angestellt.970 Nach vier Jahren wurde er im Frühjahr 1913 in die Tochterfiliale 968 Prozessbericht abgedruckt in Vorwärts, Korruption in der Rüstungsindustrie, 21.1. 1914. Vgl. auch: Redebeitrag Karl Liebknecht, 85. Sitzung des Preußischen Landtags am 20. 5.1914, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 599, S. 7389–7393. Die Akten der Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin (LA Berlin A Rep. 358–01) und des Landgerichts Berlin (LA Berlin A Rep. 339) sind aufgrund von Kriegsverlusten nur lückenhaft überliefert, Akten zu dem Prozess gegen Richter sind leider nicht mehr vorhanden. 969 Vgl. bsph. Vossische Zeitung, Korruption in Japan, 21. 1. 1914MA; Neue Preußische Kreuzzeitung, Erpressungsversuch, 21. 1. 1914MA; Berliner Tageblatt, Erpressung gegen den Direktor der Siemens-Schuckertwerke in Japan, 21. 1. 1914MA. 970 Die Vorgänge wurden, sofern nicht anders angegeben, anhand der Prozessberichterstattung des Vorwärts und der Akten des preußischen Justizministeriums rekonstruiert: Vorwärts, Korruption in der Rüstungsindustrie, 21. 1. 1914; Redebeitrag Karl Liebknecht, 85. Sitzung des Preußischen Landtags am 20. 5. 1914, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 599, S. 7389–7393; GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49639. In den letzten Jahren beschäftigten sich Hartmut Berghoff und Cornelia Rauh mit der Aufarbeitung der Firmen-

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Denki Kabushiki Kaisha in Tokio versetzt, wo er für den dortigen Direktor Hermann tätig war.971 In dieser Funktion entwendete er verschiedene vertrauliche Briefe, die zwischen der deutschen Direktion und der Filiale in Japan ausgetauscht worden waren. Aus dem Schriftwechsel ging hervor, dass SiemensSchuckert verschiedenen japanischen Beamten Provisionen gezahlt hatte, um eine bevorzugte Position bei der Auftragsvergabe zu erreichen.972 Im Juli desselben Jahres soll sich Richter an die japanische Niederlassung des Konkurrenten, an die Allgemeinen Elektrizitätswerke, gewendet und dort »vertrauliche Informationen« zum Kauf angeboten haben. Als die Siemensfiliale in Tokio von der Indiskretion ihres Angestellten erfuhr, wurde Richter nach Berlin zurückbeordert. Da der Angestellte dieser Aufforderung jedoch nicht nachkam, wurde er wegen Vertrauensbruchs entlassen. Richter sendete daraufhin aus Tokio einen Brief an die Direktion des Unternehmens, in dem er unter Verweis auf den Kornwalzerskandal drohte, den Inhalt der von ihm entwendeten Briefe zu veröffentlichen, sollte er nicht eine Summe von 2.500 Yen erhalten.973 Nachdem seine Forderungen abgelehnt worden waren, begab sich Richter nach Deutschland. Etwa zeitgleich informierte die Firmenleitung von Siemens-Schuckert den Kaiserlichen Generalkonsul in Japan über die Vorgänge und forderte die Festnahme Richters in Deutschland sowie die Sicherstellung der gestohlenen Briefe. Das königlich-preußische Ministerium der Auswärtigen Angelegenheiten informierte daraufhin das preußische Justizministerium sowie die zuständigen Gerichtsbehörden.974 Mit der Begründung, dass »es sich um deutsche Interessen handelt«, wurde vom Amtsgericht Charlottenburg ein Haftbefehl erlassen und der Flüchtige am 22. November 1913 festgenommen.975 Bis zu seinem Prozess verlieb Richter in Untersuchungshaft. Nach § 4 des deutschen Strafgesetzbuches konnten die Vergehen Richters zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Deutschen Kaiserreich verfolgt werden – aber sie mussten es nicht: »Wegen der im Auslande begangenen Verbrechen und

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geschichte Siemens, die Veröffentlichung steht noch aus. Voraussichtlich: Cornelia Rauh/ Hartmut Berghoff: Die große Transformation. Die Geschichte der Siemens AG im Zeitalter der Globalisierung, 1966–2001, geplante Veröffentlichung. Vgl. auch Verweis 1000. In den Quellen wird sowohl die Schreibweise Herrmann wie auch Hermann verwendet. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49639, Erster Staatsanwalt des königlichen Landgerichts Berlin III an den Oberstaatsanwalt des königlichen Kammergerichts Berlin vom 8. Februar 1914, Blatt 19–34. Ein ¥ entsprach damals etwa 2,07 Reichsmark, vgl. Toru Takenaka: Die Tätigkeit der Firma Siemens in Japan vor dem Ersten Weltkrieg, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 76 (1989), Nr. 3, S. 332. In die Vorgänge waren bis auf das kaiserliche Generalkonsulat in Yokohama keine weiteren reichsdeutschen Behörden involviert. Da Richters letzter Wohnsitz in Deutschland BerlinCharlottenburg gewesen war, wies man seinen Fall dieser Behörde zu. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49639, Brief des königlichen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten an das preußische Justizministerium vom 16. 11. 1913.

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Vergehen findet in der Regel keine Verfolgung statt.«976 Tatsächlich geht aus den Akten des preußischen Justizministeriums eindeutig hervor, dass der Haftbefehl und der Prozess gegen Richter einzig auf Grund des dringenden Ersuchens des Ministeriums des Auswärtigen und in Absprache mit Siemens-Schuckert angestrengt wurden.977 Verschiedene Schriftwechsel belegen darüber hinaus, dass man dem Unternehmen vor dem Prozess höchstmögliche Diskretion zugesichert hatte. So wurden verschiedene Details innerhalb der Ministerien nur mündlich kommuniziert und man versuchte während des Prozesses mehrfach, wichtige Beweisstücke – darunter auch den Erpresserbrief Richters – geheim zu halten und die Einsichtnahme der Verteidigung zu verhindern.978 Nachdem durch das Eingreifen Liebknechts dennoch zahlreiche Details an die Presse gelangt waren, mussten verschiedene Gerichtsbehörden dem Justizministerium Bericht erstatten und darlegen, wieso man die Geheimhaltung nicht hatte gewährleisten können.979 Das Vorgehen und Verhalten der Direktion der Siemens-Schuckert-Werke und der involvierten Ministerialbehörden lässt einige Rückschlüsse zu. Ihre Versuche, den Fall diskret beizulegen, lassen vermuten, dass sowohl aufseiten der Siemens-Direktion als auch aufseiten der Ministerien ein Bewusstsein dafür herrschte, dass die Bestechungsvorgänge in der Öffentlichkeit vor allem vor dem Hintergrund des Kornwalzerskandals möglicherweise als illegitim gelten und Anstoß erregen könnten. Ferner legt die die Kontaktaufnahme der Direktion zu den Ministerialbehörden nahe, dass das Unternehmen darauf vertraute, von staatlicher Seite Unterstützung zu erfahren. Tatsächlich konnte Siemens erwirken, dass Richter gerichtlich verfolgt wurde, obgleich seine Vergehen auf deutschem Boden straffrei waren. Dieses ›Entgegenkommen‹ wurde von Ministerien und Behörden indirekt wiederholt gerechtfertigt. So hieß es in internen Unter976 Vgl. Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich 1871, in: Reichs-Gesetzblatt, Nr. 24, Berlin 1871, S. 128, § 4 Art. 2–3. Das StGB des Deutschen Kaiserreichs ist inzwischen auch online einsehbar unter : http://de.wikisource.org/wiki/Strafgesetzbuch_für_das_Deutsche_Reich_ (1871)#.C2.A7._4. (19. 5. 2015). 977 GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49639, Brief des Ersten Staatsanwalts des königlichen Landgericht Berlin III an den Oberstaatsanwalt des königlichen Kammergerichts Berlin vom 8. 2. 1914. Markiert »Geheim!« 978 Hinweis des Geheimen Legationsrats Wedding (Ministerium des Auswärtigen) an den Ersten Staatsanwalt Krause am königlichen LG Berlin III, in: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49639, Brief des Ersten Staatsanwalts des königlichen Landgericht Berlin III an den Oberstaatsanwalt des königlichen Kammergerichts Berlin vom 8. 2. 1914. Sowie: Redebeitrag Karl Liebknecht, 85. Sitzung des Preußischen Landtags am 20. 5. 1914, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 599, S. 7391f. 979 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49639, Brief des Oberstaatsanwalts beim königlichen Kammergericht Berlin an das preußische Justizministerium vom 12. 2. 1914. Markiert: »Geheim«. Enthält Bericht des Ersten Staatsanwalts des königlichen Landgericht Berlin III vom 8. 2. 1914.

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lagen, die Veröffentlichung der Briefe durch Richter würde die Geschäfte des Unternehmens immens schädigen, was auch im deutschen Interesse vermieden werden müsse: »Wenn die Staatshoheit die deutsche Industrie, die im Ausland fast überall einen schweren Konkurrenzkampf gegen die Industrien anderer Länder zu führen hat, gegen solche niederträchtigen Angriffe in Schutz nahm, so erfüllte sie damit nur ein Gebot der Pflicht gegenüber einem großen Teil der deutschen Untertanen und damit auch gegenüber dem deutschen Vaterlande.«980

Ähnlich wie im Fall Krupp betonte man die Verbindung staatlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen und hob die Bedeutung der Industrie für das ›Gemeinwohl‹ hervor. In Konsequenz galt, wie in den Akten formuliert, »den Angeklagten auf möglichst lange Zeit unschädlich zu machen«, um so Schaden von der Allgemeinheit abzuwenden.981 Entlang dieser Interpretation gelang es der Siemens-Direktion schlussendlich sogar durchzusetzen, dass die von Richter beantragte Revisionsverhandlung in der Sitzungspause des japanischen Parlaments stattfand, um dort weiteres Aufsehen zu vermeiden.982 Dieser Fall zeigt, dass sich an den Normen, denen sich Unternehmen wie Krupp oder Siemens-Schuckert verpflichtet fühlten und an denen sie von Justizund Regierungsbehörden gemessen wurden, nach dem Kornwalzerskandal nichts verändert hatte. Auch die Wertschätzung und Protektion dieser Firmen blieb von staatlicher Seite bestehen. Intern wurde dieses ›systematische Wohlwollen‹ in gleicher Weise begründet wie auch 1913, wohingegen nach außen größtmögliche Geheimhaltung gelten sollte. Dieser Versuch, die Kommunikation mit der politischen Öffentlichkeit komplett zu vermeiden, signalisiert, dass Politiker und Beamte vor dem Hintergrund der Krupp-Affäre bezweifelten, dass die politische Öffentlichkeit den altbewährten Rechtfertigungsnarrativen weiterhin bedingungslos folgen würde. Der Angeklagte Richter scheint dies ähnlich beurteilt zu haben: In seinem Erpresserbrief, den er im Oktober 1913 unter dem Eindruck des Kornwalzerskandals verfasst hatte, wies er ausdrücklich darauf hin, dass es nach dem »Fall Krupp« auch einen »Fall Siemens« geben könne, wenn man seinen Forderungen nicht nachkäme.983 Zudem hatte er – wie der Bericht der Staatsanwaltschaft dokumentiert – bei seiner Verhaftung »Aeußerungen fallen [lassen], die die Absicht bekundeten, die ganze Angelegenheit 980 Ebd., Brief des Ersten Staatsanwalts des königlichen Landgericht Berlin III. an den Oberstaatsanwalt des königlichen Kammergerichts Berlin vom 8. 2. 1914. Markiert »Geheim!«. 981 Ebd. 982 Ebd., Brief des Ministeriums des Auswärtigen an das preußische Justizministerium vom 15. 2. 1914. 983 Ebd., Brief des Ersten Staatsanwalts des königlichen Landgericht Berlin III. an den Oberstaatsanwalt des königlichen Kammergerichts Berlin vom 8. 2. 1914. Markiert »Geheim!«.

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alsbald im »Vorwärts« zu veröffentlichen«.984 Richter schien demnach überzeugt, mit den Briefwechseln nicht nur illegitimes Verhalten bei Siemens nachweisen, sondern auch breite Empörung in der Öffentlichkeit hervorrufen zu können. Seine Kommentare deuten darauf hin, dass er nach seiner Festnahme in Erwägung zog, die Skandalierung des Materials zu seiner Verteidigung zu nutzen. Daher liegt es nahe, dass auch der Verweis auf den Vorwärts auf taktischen Überlegungen beruhte. Die Andeutung demonstriert, wie eng zu diesem Zeitpunkt die Assoziation des sozialdemokratischen Parteiorgans und seines Redakteurs mit Skandalen und Skandalierungskampagnen in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs ausgeprägt war. Auf der anderen Seite ist zu vermuten, dass auch für Karl Liebknecht taktische Überlegungen ein ausschlaggebender Faktor gewesen waren, die Verteidigung Richters zu übernehmen. Sein Verhalten im Anschluss an die Verhandlung – der direkte Austausch mit der Presse und die kritische Kommentierung der Ereignisse – legt nahe, dass es ihm vor allem darum ging, eine öffentliche Diskussion über die Geschäftspraktiken der Firma Siemens-Schuckert zu provozieren. Die Vergehen Richters suchte er zu diesem Zweck zu relativieren und in einem Umfeld negativer Einflüsse zu verorten. Er argumentierte, Richter habe anfänglich aus einer positiven Motivation heraus gehandelt und die Briefe den japanischen Behörden zukommen lassen wollen. Erst seine durch die Entlassung bedingte finanzielle Notlage habe ihn auf die Idee gebracht, seinen ehemaligen Arbeitgeber zu erpressen. Das unmoralische Handeln Richters, so die These Liebknechts, sei durch das illegitime Verhalten des Unternehmens geradezu inspiriert worden, da es ein schlechtes Exempel darstelle und einen negativen Einfluss auf die Moral der Angestellten ausübe.985 Gerade weil man Siemens vonseiten der Regierung so weit entgegen kam, ist festzuhalten, dass sich der Vorsitzende Landgerichtsdirektor Rosenthal der Interpretation Liebknechts in seiner mündlichen Urteilsbegründung zumindest teilweise anschloss. Mit dem Hinweis auf die »unlauteren Manipulationen« der Firma Siemens-Schuckert, die möglicherweise einen Anreiz für den Angeklagten geschaffen hätten, blieb er mit seinem Urteil weit hinter den Forderungen der Staatsanwaltschaft nach acht Jahren Zuchthaus zurück.986 Rosenthals Erläuterungen wurden in der schriftli984 Ebd. 985 Vgl. Prozessberichterstattung des Vorwärts: Ders., Korruption in der Rüstungsindustrie, 21. 1. 1914. 986 Vgl. Redebeitrag Karl Liebknecht, 85. Sitzung des Preußischen Landtags am 20. 5. 1914, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 599, S. 7391. In den Akten findet sich kein Hinweis auf die mündliche Urteilsbegründung, Berichte verschiedener Telegraphenbureaus und (inter)nationale Zeitungen stützen aber die Darstellung Liebknechts, vgl. bsph.: New York Times, Origin of Japans Armament Scandal, 8. 2. 1914, http:// query.nytimes.com/gst/abstract.html?res=9401E7D61F3BE633A2575BC0A9649C946596D 6CF# (19. 05. 2015).

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chen Fassung des Urteils nicht festgehalten, verschieden Zeitungen griffen die Kommentare des Richters jedoch in ihrer Berichterstattung auf. So wiesen vor allem sozialdemokratischen und liberalen Zeitungen auf die von Rosenthal angeführten strafmildernden Umstände hin, während konservative und katholische Blätter die mündliche Urteilsbegründung ignorierten.987 Auch die Direktion der Siemens-Schuckert-Werke reagierte auf die Urteilsbegründung und ließ über das Wolff ’sche Telegraphen Bureau eine Stellungnahme verbreiten, die unter anderem in der Kreuzzeitung abgedruckt wurde. In der Meldung wies das Unternehmen den Vorwurf der Bestechung zurück und erklärte, niemals Kommissionen an japanische Staatsbeamte gezahlt zu haben.988 In der Mehrheit der Zeitungen wurde die Stellungnahme Siemens’ jedoch kaum rezipiert und auch über den Prozess selbst wurde nur in Kürze und ohne eine eigenständige Kommentierung berichtet. Die Presseberichterstattung kam bereits zwei Tage nach der Verhandlung zum Erliegen. Lediglich der »japanische Marineskandal« blieb im Rahmen der Auslandsberichterstattung in den großen politischen Tageszeitungen weiterhin ein Thema. Die kausale Verbindung zwischen den Ereignissen in Japan und den Bestechungen durch das deutsche Unternehmen wurde hier jedoch konsequent ignoriert.989 So verhallten die Enthüllungen, denen Richter und Liebknecht so viel Bedeutung beigemessen hatten, im Kaiserreich zwar nicht gänzlich ungehört, aber doch überwiegend unbeachtet. Woher rührte das Desinteresse der politischen Öffentlichkeit an den Korruptionsvorwürfen gegen Siemens-Schuckert? Ein Blick auf die unterschiedliche Darstellung und Bewertung der Bestechungsvorgänge in der Presse liefert Hinweise. Vor allem fällt das Fehlen eines Sympathieträgers oder ›Opfers‹ auf, mit dem sich die Öffentlichkeit identifizieren respektive hätte solidarisieren können, sowie eine fehlende Anschlussfähigkeit an aktuelle und vergangene Korruptionsdebatten. Den Korruptionskritikern gelang es nicht, erfolgreiche Narrative zu entwickeln, mit denen sie die Öffentlichkeit involvieren und sich gegen Argumentationen der Gegenseite, in diesem Fall gegen Siemens, durchsetzen konnten. Die Berichterstattung des Berliner Tageblatts und des Vorwärts über den Fall illustriert dies beispielhaft. Beide Zeitungen unternahmen eine eigen987 Vgl. bsph. Germania, Ein Erpressungsversuch, 21. 1. 1914AA; Neue Preußische Zeitung, Erpressungsversuch, 21. 1. 1914MA; Vossische Zeitung, Korruption in Japan, 21. 1. 1914MA; Berliner Tageblatt, Erpressung gegen den Direktor der Siemens-Schuckertwerke in Japan, 21. 1. 1914MA. 988 Neue Preußische Zeitung, Der Erpressungsversuch, 21. 1. 1914AA. 989 Die Germania sprach sogar von einem »japanischen Panama«, ohne dabei die Bestechungen durch Siemens-Schuckert erneut zu thematisieren: Germania, Das japanische Panama, 7. 2. 1914MA. Die Vossische Zeitung berichtete über die Bloßstellung der Bestechungsgeldempfänger : Vossische Zeitung, Der Marine-Skandal in Japan, 7. 2. 1914AA. Vgl auch: Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Berichterstattung, Februar–März 1914.

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ständige und detaillierte Kommentierung des Prozessgeschehens und der Telegraphenberichte und setzten sich damit quantitativ wie auch qualitativ deutlich von dem Gros der politischen Presse ab. Sie hoben den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verfahren gegen Richter und den revolutionären Geschehnissen in Tokio deutlich hervor.990 Dennoch gelang es ihnen nicht, die Korruptionsvorwürfe der politischen Öffentlichkeit des Kaiserreiches zugänglich zu machen: Die Bestechungen durch Siemens-Schuckert blieben trotz detaillierter Beschreibungen abstrakte Vorgänge, die sich in einem weit entfernten, größtenteils unbekannten Land abgespielt hatten. Geschädigt hatten sie die japanische Gesellschaft, die dem deutschen Zeitungsleser fremd war und keine Identifikationsansätze bot. Damit unterschied sich der Fall Siemens grundlegend von den Vorwürfen gegen Krupp, bei denen es den Korruptionskritikern gelungen war, ein Narrativ zu entwickeln, das negative Konsequenzen der Bestechungen für das deutsche Allgemeinwohl und somit eine direkte Verbindung postulierte. Der Zeitungsleser war emotional in den Kornwalzerskandal involviert und die öffentliche Debatte zudem durch den Vergleich mit Skandalen wie ›Panama‹ angefacht und intensiviert worden. Im Fall Siemens hingegen stellte sich der Rekurs auf vorangegangene Skandale und besonders auf die Vorwürfe gegen Krupp als ein schwieriges Unterfangen für die sozialdemokratische und liberale Presse dar. Die Berichterstattung über den Kornwalzerskandal hatte im Frühjahr 1914 ihren Zenit überschritten und das Interesse der Öffentlichkeit war nach wochenlangen Enthüllungen merklich abgeflacht. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand nahm außerdem die Kritik an einer ›oppositionellen Instrumentalisierung‹ der »Kruppkorruption«991 – der Widerstand gegen die Korruptionskritiker – immer weiter zu, sodass der Skandal als Referenz- oder Ausgangspunkt für Korruptionskritik in der unmittelbaren Post-Skandalphase nur bedingt geeignet war. Der Vorwärts beispielsweise unternahm nur einen einzelnen indirekten Versuch der Anknüpfung, indem er die Bestechungen bei Siemens als eine Fortsetzung der »internationalen Rüstungskorruption« kennzeichnete; das Berliner Tageblatt verzichtete komplett auf derartige Rückgriffe.992 Erschwerend kam hinzu, dass weder die Person des Angeklagten noch die des Skandalierers als Sympathieträger geeignet waren. Karl Liebknecht war in der politischen Öffentlichkeit zwar weithin bekannt, wurde als prominenter Vertreter der Sozialdemokratie aber kontrovers rezipiert. Spätestens seit dem 990 Das Berliner Tageblatt bspw. kommentierte eine Depesche des Reuterschen Bureaus, diese sei nicht neutral und unterschlage die Erkenntnisse, die durch die Berliner Gerichtsverhandlung gewonnen worden seien: Berliner Tageblatt, Vertreter von Siemens-Schuckert in Tokio Verhaftet, 5. 2. 1914AA. 991 Vorwärts, Hokuspokus I., 27. 8. 1913. 992 Vorwärts, Vom neuen Rüstungsskandal, 22. 1. 1914.

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Kornwalzerskandal hatte er sich als ›Enthüller‹ etabliert, wurde in dieser Rolle aber nicht allein positiv wahrgenommen. Eine Karikatur des Kladderadatsch, die nach einer Reichstagsrede Liebknechts im Mai 1914 veröffentlicht wurde, illustriert die changierende öffentliche Wahrnehmung des Abgeordneten, die zunehmend auch von Spott geprägt war :

Abb 8: »Die sensationelle ›Enthüllung‹ im Reichstag am 11. Mai«, Kladderadatsch 1914

Der Angeklagte Richter sodann war noch weitaus weniger als Liebknecht zur Identifikationsfigur geeignet. Die Tatsachen, dass der ehemalige Siemens-Angestellte in der Vergangenheit schon einmal wegen Diebstahls verurteilt worden war und die belastenden Korrespondenzen zu seinem persönlichen Nutzen hatte instrumentalisieren wollen, ließen sich kaum erfolgreich zu einem positiven Narrativ umdeuten und wurden stattdessen von der Siemens-freundlichen Presse ausgebeutet. Der Vorwärts und das Berliner Tageblatt betonten daher vor allem die Schuld des Unternehmens. Siemens-Schuckert habe sich mit seinen

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»nicht lauteren Manipulationen« selbst erpressbar gemacht, das »Bedrohungspotential«, das den von Richter entwendeten Briefen innewohne, dürfe nicht dem Angeklagten zur Last gelegt werden.993 Richter, so die Interpretation, sei von den niederen moralischen Grundsätzen seines Arbeitgebers geradezu zu seiner Handlung verführt worden. Mit Ausnahme des Vorwärts und des Berliner Tageblatts erfuhr diese Deutung der Ereignisse in der politischen Öffentlichkeit jedoch keine weitere Rezeption oder gar Unterstützung. Den Verteidigern Siemens’ gelang es hingegen ihrerseits, ein inkludierendes Narrativ zu entwickeln, das ein hohes Identifikationspotenzial bot und an Argumentationsstrategien des Kornwalzerskandals anknüpfte. Die konservative Post beispielsweise glaubte hinter Liebknechts Vorgehen einen erneuten »Feldzug gegen die deutsche Industrie« zu erkennen. Der sozialdemokratische Abgeordnete wolle, so ihre These, durch die Korruptionsvorwürfe die Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmen im Ausland beeinträchtigen.994 Auch die Kreuzzeitung verwies auf den Schaden, der Siemens durch den Skandalierungsversuch entstehe, und monierte, es sei »wirklich für jeden national denkenden Menschen tief betrübend zu sehen, wie wenig in der Allgemeinheit der Gedanke vertreten ist, deutschen Handel und Industrie zu schützen.«995 Damit knüpfte das konservative Blatt an eine Argumentation an, die bereits im Kornwalzerskandal wiederholt genutzt worden war, die während der Siemensaffäre innerhalb der Ministerien kursiert hatte und ein übereinstimmendes Interesse von Wirtschaft und Gesellschaft postulierte. Den Kornwalzerskandal beschrieb die konservative Presse einstimmig als bereits überwundenes Hindernis, vor dessen Hintergrund die Vorwürfe gegen Siemens inszeniert werden sollten: Die Aufmerksamkeit, die man den (unbegründeten) Vorwürfen zukommen lasse, stelle eine Gefahr für das ›deutsche Interesse‹ dar. Auf diese Weise rückte die »Anprangerung« der Vorgänge durch die sozialdemokratische und linksliberale Presse in den Fokus und die eigentlichen Vergehen – die Bestechungen der Siemens-Schuckert-Werke – in den Hintergrund der Berichterstattung.996 Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen lässt sich konstatieren, dass der Fall Siemens ein Paradebeispiel einer gescheiterten Skandalierung von Korruption darstellte. Die Quellenanalyse hat gezeigt, dass die entwendeten Briefwechsel nicht nur von Richter und Liebknecht als skandaltauglich bewertet, sondern auch in den Ministerialbehörden als brisant eingestuft wurden. Tat993 Berliner Tageblatt, Erpressung gegen den Direktor der Siemens-Schuckertwerke in Japan, 21. 1. 1914MA; Vorwärts, Korruption in der Rüstungsindustrie, 21. 1. 1914. 994 Post, Dr. Liebknechts Feldzug gegen die deutsche Industrie, 20. 6. 1914. 995 Neue Preußische Kreuzzeitung, Presse und Industrie, 23. 1. 1914MA. 996 Vgl. bsph. Post, Dr. Liebknechts Feldzug gegen die deutsche Industrie, 20. 6. 1914; Neue Preußische Kreuzzeitung, Presse und Industrie, 23. 1. 1914MA.

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sächlich erregte die Enthüllung der Bestechungsvorgänge in der politischen Öffentlichkeit des Deutschen Kaiserreichs jedoch nur geringe Aufmerksamkeit. Neben dem Fehlen von Sympathieträgern und der erschwerten Anschlussfähigkeit an vorangegangene Korruptionsdebatten scheinen die Kritik an den Instrumentalisierungsbemühungen Liebknechts und der Appell an ein abstraktes Allgemeinwohl im Mai 1914 ein höheres gesellschaftliches Identifikationspotenzial als die Korruptionskritik geboten und damit zum Scheitern der Skandalierungskampagne beigetragen zu haben. Damit steht der Fall Siemens im direkten Gegensatz zum Kornwalzerskandal. Im Vergleich scheint es, als ob die zweimalige Bestechung von Staatsbeamten innerhalb weniger Monate eine sehr unterschiedliche Bewertung im Deutschen Kaiserreich erfahren habe. Tatsächlich erregte die Enthüllung der Kornwalzer große Empörung und initiierte eine Normendebatte, die zu verschiedene Gesetzesänderungen führte. Die Korruption japanischer Staatbeamter durch ein deutsches Unternehmen hingegen wurde in der Mehrheit der politischen Öffentlichkeit nicht als Normenverstoß rezipiert. Im Gegenteil, die Verteidiger der Praktik argumentierten mit ihrer angeblichen Notwendigkeit und profitierten davon, dass kein Opfer der Korruption benannt wurde, das zur Identifikation einlud. Auch fällt die enge Kooperation zwischen Siemens-Schuckert und den Ministerialbehörden auf. Letztere waren auf Nachfrage vonseiten Siemens gerne bereit, den bestehenden juristischen Spielraum im Sinne des Unternehmens auszulegen und dabei auch gesetzliche Grauzonen zu betreten. Dieses Verhalten zeigt, dass die hohe Reputation großer Unternehmen auch nach dem Kornwalzerskandal fortbestand. Der Versuch Liebknechts im Mai 1914, diese Formen »kapitalistischer Beeinflussung« vor dem preußischen Abgeordnetenhaus zu problematisieren, scheiterte.997 Auch seine Provokation vor dem Reichstag, die Vorgänge mit dem französischen »Rochetteskandal« zu vergleichen, verhallte ungehört.998 Die unterschiedliche Rezeption in beiden Fällen illustriert damit beispielhaft die Gebundenheit normativer Bewertungen an ihren gesellschaftspolitischen Kontext und die situative Abhängigkeit von Skandalierungsversuchen an eine Vielzahl verschiedener Faktoren. Die Bestechung deutscher Staatsbeamter und die damit verbundene Schädigung des ›deutschen Gemeinwohls‹ wog ungleich schwerer als die Bestechung von Beamten im Ausland. Tatsächlich blieb dieser normative Konsens lange Zeit bestehen. Bis in die 1990er Jahre war Bestechung im Ausland in Deutschland straffrei.999 Interessanterweise inspirierte insbe997 Redebeitrag Karl Liebknecht, 85. Sitzung des Preußischen Landtags am 20. 5. 1914, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, Bd. 599, S. 7389–7393. 998 Redebeitrag Karl Liebknecht, 254. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 11.5. 1914, S. 8712. 999 Vgl. Gesetz zu dem Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr, erlassen am 10. 9. 1998, BGB I.II,

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

sondere der neue Siemensskandal 2006 eine erneute gesellschaftliche Normendebatte über diese Praktik.1000

6.3

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Den dritten Versuch in der Reihe sozialdemokratischer Skandalierungsbemühungen der Vorkriegszeit stellt der deutsche Titel- und Ordensschacher dar. Nach der gelungenen Skandalierung der Kornwalzer im Herbst 1913, dem erfolglosen Bemühen im Januar 1914, die Bestechungen der Siemens-SchuckertWerke in eine gesellschaftspolitische Diskussion zu überführen, gelang es Karl Liebknecht im Mai 1914 ein weiteres Mal, eine Korruptionsdebatte in der politischen Presse anzustoßen, die auch Ministerial- und Justizbehörden über mehrere Monate beschäftigte. Dabei sah es zunächst danach aus, als würde die Thematisierung des »Titel- und Ordensschacher[s]« – wie die Presse die Vorgänge alsbald betitelte – scheitern.1001 Am 11. Mai 1914 ergriff Liebknecht im Reichstag im Rahmen der Debatte um den Haushaltsetat das Wort, um verschiedenste Formen der »Korruption« der deutschen Rüstungsindustrie anzuprangern. In einem Streifzug durch das vergangene Jahr rekapitulierte er die Vorwürfe gegen Krupp und Siemens-Schuckert und kritisierte die engen Verbindungen zwischen staatlichen Verwaltungsund Regierungsbehörden und dem deutschen »Großkapital«. Liebknecht beanstandete, dass man im Kaiserreich die Interessengleichheit von Industrie und Gesellschaft proklamiere und »Korruption« bagatellisiere.1002 Kurz vor Schluss seiner Rede kam er auf einen neuen, bisher unbekannten Korruptionsfall zu sprechen. Der Sozialdemokrat beschuldigte den im Februar 1914 verstorbenen Gouverneur von Metz, Generalleutnant Kurt von Lindenau, »einen einträglichen Handel mit der Gunst Seiner Majestät des Kaisers getrieben« zu haben, »indem er Titel und dergleichen gegen klingende Münze verkauft« habe.1003 Er schloss seine Rede mit dem Hinweis, die Vorgänge der Öffentlichkeit nicht vorenthalten

1000

1001 1002 1003

S. 2327, http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl& jum pTo=bgbl298s2327.pdf (6. 7. 2017) sowie: http ://www.gesetze-im-internet.de/intbestg/ BJNR232729998.html#BJNR232729998BJNG000100305 (6. 7. 2017). Die Forscher Hartmut Berghoff und Cornelia Rauh haben sich mit der Aufarbeitung des neuen Siemensskandals über Jahre befasst. Die Publikation dieser Studie steht aus. In der politischen Öffentlichkeit kursiert das Gerücht, Siemens wirke dem Erscheinen der Forschungsergebnisse entgegen. Vgl. bsph. Spiegel Online, Siemens hält Schmiergeldstudie unter Verschluß, 17. 3. 2017, http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/siemenshaelt-schmiergeld-studie-unter-verschluss-a-1139211.html (6. 7. 2017). Wie Verweis 870. Für den vorangehenden Absatz vgl. Redebeitrag Karl Liebknecht, 254. Sitzung des Deutschen Reichstags, XIII. Legislaturperiode, 11. 5. 1914, S. 8699–8713. Ebd., S. 8712f.

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zu wollen und verwies auf sein Recht und seine Pflicht »als Deutscher«, die Unterbindung der Korruption im In- und Ausland zu fordern.1004 Die Redeprotokolle des Reichstags zeigen, dass die Anschuldigungen Liebknechts für Unruhe und Erregung unter den Abgeordneten sorgten und von kritischen sowie spöttischen Zurufen begleitet wurden. Tatsächlich provozierte der Redebeitrag Liebknechts eine erhitzte Diskussion im Parlament, die sich in der Hauptsache um verschiedene Details des Kornwalzerskandals drehte. Die Causa Siemens-Schuckert wurde gar nicht, der Vorwurf des Titelhandels nur kurz, dafür aber intensiv thematisiert: Sitzungspräsident Dr. Kaempf drohte dem sozialdemokratischen Abgeordneten unter großem Beifall des Plenums, ihm das Wort zu entziehen, da »es durchaus gegen die Gebräuche dieses Hauses [sei], auf einen Toten derartige Vorwürfe zu häufen.«1005 Matthias Erzberger, der im Anschluss das Wort ergriff, erhielt ebenfalls Beifall, als er den Fauxpas des Sozialdemoraten rügte und hervorhob, dass Liebknechts Vorwürfe zudem in keinem Zusammenhang mit dem Thema der Debatte stünden.1006 Mit den Vorwürfen gegen den verstorbenen Generalleutnant verstieß Liebknecht gegen eine Verhaltensnorm, die das Sprechen im Parlament regelte, und hatte damit unmittelbaren Widerstand gegen seine Anklage – ungeachtet ihrer möglichen Rechtmäßigkeit – provoziert. In seiner Retoure unternahm der Sozialdemokrat daher den Versuch, sein Vorgehen zu verteidigen und das Reglement in Frage zu stellen. Er argumentierte, »sobald die Behandlung eines Verstorbenen ein allgemeines Interesse berührt, bleibt es verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich mit der Person des Betreffenden zu befassen.«1007 Durchsetzen konnte sich Liebknecht mit dieser Deutung weder im Parlament noch in der Presse, wo seine Rede – unter Nichtbeachtung der Vorwürfe gegen Lindenau – eine kritische, bisweilen gar spöttische Rezeption erfuhr (vgl. Abb. 8). Erst als der Vorwärts die Vorwürfe wenige Tage später aufgriff und zu einer Skandalierung ansetzte, verbreiteten sich die Informationen über den Titelhandel in den politischen Tageszeitungen. Bemerkenswerterweise nahm nun kaum ein Blatt Anstoß an dem Umstand, dass sich die Anklage gegen ein wehrloses – weil verstorbenes – Opfer richtete.1008 Dafür war einerseits die geschickte Berichterstattung des Vorwärts verantwortlich, andererseits zeigt dieser Umstand, dass die Verhaltensnormen in Parlament und Presse am Vorabend des Ersten Weltkriegs divergierten und damit unterschiedliche Formen der Thematisierung und Skandalierung von Korruptionsvorwürfen ermöglichten. 1004 1005 1006 1007 1008

Ebd., S. 8713. Redebeitrag Dr. Kaempf, ebd., S. 8712. Redebeitrag Matthias Erzberger, ebd., S. 8716. Redebeitrag Karl Liebknecht, ebd., S. 8720. Eine eindrückliche Ausnahme stellte die Post dar : vgl. u. a. Post, Reichstagsabgeordneter und sonst noch was, 20. 5. 1914.

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Der Vorwärts begann seine Berichterstattung eine Woche nach der Reichstagsrede Liebknechts am 18. Mai 1914. In einem von Liebknecht verfassten Artikel mit der Überschrift »Beinahe Kriegsminister und sonst noch was!« rezipierte die Zeitung zunächst das Presse-Echo, welches den Tod Lindenaus im Februar 1914 begleitet hatte.1009 Zeitungen verschiedenster politischer Couleur hatten damals die Karriere des Generalleutnants gepriesen und hervorgehoben, dass er wiederholt als Anwärter auf das Amt des preußischen Kriegsministers gehandelt worden sei. Den positiven Nachrufen stellte der Vorwärts sodann verschiedene Vorwürfe gegenüber : Ein posthum angestrengtes Konkursverfahren am Amtsgericht Trier habe ergeben, dass Lindenau über eine Million Mark Schulden gehabt habe, die den Gläubigern nach seinem Tode als verloren galten. Darüber hinaus habe der Generalleutnant »Titel und kaiserliche Gnaden« an »bedürftige Staatsbürger mit Titelschmerzen« verkauft.1010 In den darauffolgenden Tagen veröffentlichte der Vorwärts kontinuierlich neue Informationen über das »Titel- und Ordensgeschäft« und bezog weitere Personen in die Affäre mit ein.1011 So wurde in einem Leitartikel aus der Feder Liebknechts auch der Vorsitzende des Reichverbands gegen die Sozialdemokratie, Dr. Franz Ludwig, des Titelhandels beschuldigt und eine Übersicht über den »Titel- und Ordenstarif« veröffentlicht, der im Kaiserreich gelte.1012 Aus der Fülle seines Beweismaterials leitete der Vorwärts sodann die These ab, der Titel- und Ordensschacher sei keine einmalige Verfehlung eines Individuums, sondern besitze Systemcharakter in Deutschland wie im Ausland; er sei »ein Symptom der lebendigen, allzu lebendigen kapitalistischen Korruption.«1013 Mit dieser Bewertung der Ereignisse schloss das Parteiblatt an seine Argumentationen aus vorangegangenen Korruptionsdebatten an. Zugleich nahm der Vorwärts aber Abstand von ausschweifenden Definitionen oder Rekursen. Dieses Vorgehen war Teil einer sehr bedachten und dem Anschein nach strategischen Berichterstattung in der Anfangsphase der Skandalierung, die beispielhaft ist für die zunehmende Professionalisierung der Sozialdemokraten im Umgang mit Korruptionsvorwürfen. Viele Indizien deuten darauf hin, dass man in der Redaktion des Vorwärts über vorherige Debatten reflektiert hatte und das eigene Vorgehen nun an erfolgreichen Kampagnen ausrichtete. So erfolgte – wie im Fall der 1009 Vorwärts, Beinahe Kriegsminister und sonst noch was!, 18. 5. 1914. Über Kurt von Lindenau sind nur wenige biographische Daten bekannt. Wenige Hinweise bei: Herrmann A. L. Degener : Wer ist’s? Zeitgenossenlexikon, Leipzig4 1909, S. 840; Verband der Deutschen Akademien (Hrsg.): Deutsches Biographisches Jahrbuch, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1925, 1914–1916, Überleitungsband 1: Eintrag Lindenau. 1010 Vorwärts, Beinahe Kriegsminister und sonst noch was!, 18. 5. 1914. 1011 Vorwärts, Reichsverbandhäuptling und sonst noch was, 20. 5. 1914. 1012 Ebd.; Ders., Der Titel- und Ordenstarif, 25. 5. 1914. 1013 Vorwärts, Beinahe Kriegsminister und sonst noch was!, 18. 5. 1914.

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Kornwalzer – auch hier die mediale Veröffentlichung der Vorwürfe gegen Lindenau erst, nachdem Liebknecht seine Anklage im Reichstag vorgetragen hatte. Auf diese Weise räumte man den Abgeordneten sowie den verantwortlichen Ministerien die Möglichkeit ein, auf die Enthüllungen zu reagieren, und konnte den Schritt vor die Öffentlichkeit bei Bedarf mit parlamentarischem und institutionellem Desinteresse rechtfertigen. Die sukzessive Veröffentlichung neuer Informationen und die Enthüllung weiterer involvierter Akteure half, das Interesse an dem Fall möglichst lange aufrechtzuerhalten und öffentlicher Ermüdung vorzubeugen. Auch verwendete der Vorwärts eine Vielzahl verschiedener Publikationsformen, um die umfangreiche Berichterstattung möglichst divers zu gestalten: Leitartikel, Karikaturen, narrative Wiedergaben des ›korrupten‹ Vorganges, tabellarische Darstellungen und Presseschauen.1014 Für das Parteiorgan war es darüber hinaus von zentraler Bedeutung, alle Vorwürfe mit scheinbar objektiven Beweisen belegen zu können und den Anschein größtmöglicher Transparenz zu erwecken. Die verschiedenen Leitartikel, die den Kern der Skandalierungsbemühungen bildeten, wiesen beispielsweise eindeutig Liebknecht als Autor aus – was nicht der üblichen Veröffentlichungspraxis entsprach. Auch zitierte der Vorwärts umfangreiche Textpassagen aus Korrespondenzen der Angeklagten oder druckte ganze Briefe mit handschriftlichen Kommentaren und Unterschriften ab – wobei es dem/der gewöhnlichen LeserIn freilich unmöglich war, die Authentizität des Materials zu überprüfen.1015 Doch nicht nur formal wusste sich der Vorwärts auf Kritik der gegnerischen Presse vorzubereiten; auch inhaltlich positionierte sich die Zeitung und kommentierte ablehnende Meldungen überlegt. Dabei war die Korruptionsdebatte, die sich nach der Initialmeldung des sozialdemokratischen Organs in der politischen Presse um die Vorwürfe entspannte, keineswegs nur von Opposition und Ablehnung geprägt. Sie war vielschichtig und wurde in weiten Teilen gegenstandsbezogen und interessiert geführt, was durch die augenscheinlich strategische und materialreiche Berichterstattung des Vorwärts sicherlich begünstigt wurde.1016 So beschäftigten sich beispielsweise die beiden liberalen Zeitungen, das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung, sehr sachlich mit einzelnen Facetten der Vorwürfe – unter anderem mit der Frage, ob der Titelund Ordenshandel juristisch belangbar sei oder ob die rechtlichen Grundlagen das Tragen eines gekauften Titels erlaubten.1017 Beide Zeitungen sprachen sich 1014 Vgl. bsph. Vorwärts, Berichterstattung des 25. 5. 1914. 1015 Beispielhaft Abdruck des Briefes von Franz Ludwig an Unbekannt vom 15.9.[unbekannt]. Abgedruckt in: Vorwärts, Reichsverbandhäuptling und sonst noch was, 20. 05. 1914. 1016 Beispielhaft Kleine Pressesammlung in: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49642. Weitere Artikel in BUA R8034 III, Nr. L83 Lindenau und BUA R 8034 III, Nr. 290 Ludwig. 1017 Vgl. bsph. Vossische Zeitung, Der Titelhandel, 29. 5. 1914AA; Berliner Tageblatt, Ordensund Titelvermittlung in rechtlicher Betrachtung, 24. 7. 1914MA.

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wiederholt für eine gründliche Untersuchung der Vorwürfe aus. Auch in jener der Sozialdemokratie gegenüber tendenziell kritisch eingestellten Presse erschienen anfangs vereinzelt befürwortende Meldungen. So reagierte die konservative Kreuzzeitung noch am Tag der Initialveröffentlichung mit einem Artikel, in dem sie forderte, den Vorwürfen des Vorwärts nachzugehen »und zwar in rücksichtslosester Weise […]. Es muß der Nachweis geliefert werden, daß wenn sich bei uns irgendwo etwas von Korruption zeigt, wir den Mut haben und es vertragen können, sie restlos aufzudecken.«1018 Dieses Zitat der Kreuzzeitung illustriert ein wichtiges Charakteristikum, das die Korruptionsdebatte um den Titel- und Ordensschacher grundlegend vom Fall Siemens unterschied: Von der Mehrheit der politischen Tagespresse wurde der Verkauf von Titeln im Kaiserreich weder in seiner Existenz noch in seiner moralischen Bewertung als korrupt in Frage gestellt. Diese Übereinstimmung bildete die Grundlage der öffentlichen Debatte, die nur von einer Handvoll Zeitungen argumentativ hinterfragt wurde. Zu diesem Kreis gehörten die Hannoverschen Tages-Nachrichten. Das Blatt hob hervor, dass in Deutschland Titel im Gegensatz zu anderen Ländern wie den USA oder Frankreich nur nach intensiver Prüfung zu erhalten und dass Orden und akademische Titel generell vom Verkauf ausgenommen seien. Allein der Titel des Kommerzienrats sei spezifisch geschaffen worden, um nicht nur Erfolg in Industrie und Wirtschaft, sondern auch den Einsatz »zu Gunsten der Allgemeinheit« zu belohnen; um Korruption handele es sich dabei nicht.1019 Tatsächlich war diese Argumentation der Hannoverschen Tages-Nachrichten nur teilweise zutreffend. In der Tat existierte im Deutschen Kaiserreich seit unbestimmter Zeit der Brauch, spezifische Titel wie den Kommerzienrat oder den Geheimen Kommerzienrat an Personen zu vergeben, die wohltätige Stiftungen vorgenommen hatten.1020 Dies entsprach aber nicht den offiziellen Vergaberichtlinien. Schon 1906 hatte der damalige preußische Handelsminister Clemens von Delbrück diese Praxis kritisiert und die Einhaltung geltender Grundsätze verlangt.1021 Drei Jahre später konstatierte Delbrück eine Verschlechterung der Situation und berichtete von der Existenz sogenannter »Vermittler«, die für die Beschaffung von Titeln Tantiemen erhoben. Vor dem Hintergrund dieser Zustände schlussfolgerte er, »[…] daß öffentlichen Äußerungen über die Käuflichkeit der Titel nicht einmal entgegengetreten werden könne.«1022 In ihrer 1018 Neue Preußische Zeitung, General v. Lindenau, 18. 05. 1914AA. 1019 Hannoversche Tages-Nachrichten, Titelschacher, 27. 5. 1914. 1020 Für einen unvollständigen historischen Überblick über die Vielzahl vorhandener Titel und Orden vgl. Jules Laforgue: Berlin, der Hof und die Stadt 1887, Frankfurt a. M.4 1990, S. 60– 62. 1021 Vgl. Bemerkungen Delbrücks und Auflistung der Grundsätze zur Vergabe des Titels (Geheimer) Kommerzienrat: GStA PK, I. HA Rep. 90a, Nr. 2002, Blatt 26–28. 1022 Ebd., Blatt 35–37. Delbrück hob zudem hervor, dass »die Titel durch den Schacher doch

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Argumentation maßen die Hannoverschen Tages-Nachrichten dem gesellschaftlich etablierten Brauch also größere Legitimität zu als den administrativen Vorschriften. So wurde der Brauch, Titel und Orden gegen finanzielle Gegenleistung zu vergeben, nicht zuletzt durch seine historisch gewachsene Existenz moralisch gerechtfertigt. Vor dem Hintergrund einer anders gelagerten Argumentation verteidigte auch die National-Zeitung den Verkauf von Titeln. Sie stellte zur Debatte, »warum eine Frage der Eitelkeit nicht zugleich zu einer Frage des Geldes gemacht werden sollte?«1023 Die Allgemeinheit, so die These des Blattes, profitiere von dem Erwerb der Titel. Die gängigen Gegenleistungen wie Gelder und Stiftungen kämen wohltätigen Zwecken zugute, womit nicht zuletzt auch die Interessen der Sozialdemokratie bedient würden. Mittelsmänner, so die Rechtfertigung, seien für diesen Prozess notwendig und nur dann eines Unrechts zu bezichtigen, wenn sie ihre Dienste zu persönlichem Vorteil verkauften.1024 Ansichten wie die der Hannoverschen Tages-Nachrichten oder der National-Zeitung tauchten vereinzelt auf, setzten sich aber in den meinungsstarken Zeitungen der politischen Hauptstadtpresse nicht durch, sodass sich der Vorwärts nicht zu einer Rechtfertigung angehalten sah. Neben den wenigen Versuchen, das moralische Urteil des Vorwärts über den Titelhandel anzufechten, wurden die Korruptionsvorwürfe der Sozialdemokraten jedoch auch auf anderen argumentativen Ebenen angegriffen. Zwar bezweifelte die Mehrzahl der Zeitungen die Existenz des Titelhandels und dessen ›korrupten Charakter‹ nicht, wehrte sich aber entschieden gegen die sozialdemokratische Deutung, die Vergehen seien repräsentativ für den Zustand der Gesellschaft. Die Post beispielsweise bezichtigte Liebknecht »chronischer Panamitis«, zu deren Krankheitsbild es gehöre, überall und »aus jedem Einzel- und Ausnahmefall die Korruption als solche her[zu]leite[n].«1025 Diese Position wurde von vielen Zeitungen geteilt, die hinter den Vergehen Ludwigs das Versagen eines Einzelnen erblickten, das nicht der Allgemeinheit zur Last gelegt und als Gradmesser für den Zustand von Gesellschaft und Staat missbraucht werden könne.1026 Der Versuch Liebknechts, die Vorgänge als Korruption der gesamten

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schon so entwertet [seien], daß er öfters Bitten um Abstandnahme von der Titelverleihung erhalte.« National Zeitung, Titel und Orden, 26. 5. 1914. Ebd. Post, Reichstagsabegordneter und sonst noch was, 20. 5. 1914AA. Auch: Dies., Der Totengräber, 28. 05. 1914, Nr. 2300. Vgl bsph. Deutsche Tageszeitung, Neuste Enthüllungen des Herrn Liebknecht, 23. 5. 1914AA; Berliner Neuste Nachrichten, Die sozialdemokratischen Enthüllungen, 25. 5. 1914; Schlesische Zeitung, Enthüller und ihre Helfer, 29. 5. 1914; Rheinisch-Westfälische Zeitung, Liebknechts neues »Panama«, 24. 5. 1914. Ludwig hatte eine Stellungnahme veröffentlicht, die in der Presse einstimmig als Eingeständnis gewertet worden war.

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Gesellschaft zu beschreiben, wurde gerügt und als Verallgemeinerung kritisiert. Einige Zeitungen setzten sogar zum Gegenangriff auf die Sozialdemokratie an und prangerten deren »pharisäisch[e]« Erhebung über den »Gegenwartsstaat« an.1027 Als Referenz diente das Strafverfahren gegen den Kassierer des Sozialdemokratischen Arbeitervereins in Sprottau (Niederschlesien), Hermann Kirsch, den man im Juni 1909 wegen der Unterschlagung von Parteigeldern zu drei Monaten Gefängnis verurteilt hatte.1028 Der Fall war in der nationalen Presse damals gar nicht zur Sprache gekommen, diente nun aber dazu, die angebliche Doppelmoral der Sozialdemokratie zu entlarven. Die Post betonte: »Gevatterschaft, Protektion und Begünstigung gibt es überall in der Welt, auch in der Sozialdemokratie. Menschliche Charakterfehler sind nicht an Stände und nicht an Parteien gebunden.«1029 Zu dem Verfahren gegen Hermann Kirsch bezog der Vorwärts in seiner Berichterstattung nicht Stellung, wohl aber zu dem Vorwurf, es handele sich bei dem Titelhandel nur um die Taten von Individuen, die eine Schlussfolgerung auf den Allgemeinzustand der Gesellschaft nicht rechtfertigten. Das Parteiblatt verwies auf die Fülle von Vorgängen, die es im Rahmen der Berichterstattung veröffentlicht hatte, und erklärte, die Summe dieser Beispiele belege, dass es sich um mehr als Einzelfälle handele.1030 Die Kritik am Vorwärts reichte aber über den Vorwurf hinaus, die Korruptionsvorwürfe über den Kreis einzelner Angeklagter auf ein gesellschaftsrelevantes Level hinweg auszuweiten. Sie ging oft Hand in Hand mit einer Kritik an der Art der Skandalierung, an der sogenannten »Methode Liebknecht«, wie die Deutsche Tageszeitung sich ausdrückte.1031 Das Organ des BdL beanstandete, dass die Korruptionsvorwürfe der Sozialdemokratie nicht von dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit geleitet seien, sondern die Delegitimierung staatlicher Institutionen und die Herabsetzung des Reiches vor dem Ausland zum Ziel hätten. Die Sozialdemokratie, so ihr Urteil, betreibe Skandalierung nur zum »Selbstzweck«.1032 Zu dem gleichen Ergebnis kam auch der protestantisch-nationale Reichsbote, der in einem langen Artikel unter der Überschrift »Das Unmoralische der Liebknechtschen Enthüllungen« die Mechanismen und Ziele der sozialdemokratischen Skandalierungskampagne untersuchte.1033 Mehrere Kritiker Liebknechts nahmen darüber hinaus Anstoß an der Tatsache, dass der Sozialdemokrat seine Vorwürfe in der Presse 1027 Vgl. Reichsbote, Das Unmoralische der Liebknechtschen Enthüllungen, 28. 5. 1914. 1028 Vgl. u. a. ebd.; Berliner Neuste Nachrichten, Sozialdemokratische Enthüllungen, 25. 5. 1914AA; Germania, Die Enthüllungen, 26. 5. 1914. 1029 Post, Um den Titel, 24. 6. 1914MA. 1030 Vorwärts, Berichterstattung, 25. 5. 1914. Unterstützt wurde diese Argumentation bspw. von Das Freie Wort, De Mortius …, 30. 5. 1914. 1031 Deutsche Tageszeitung, Methode Liebknecht, 25. 5. 1914AA. 1032 Ebd. 1033 Der Reichsbote, Das Unmoralische der Liebknechtschen Enthüllungen, 28. 5. 1914.

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veröffentlicht hatte, ohne vorher die Justizbehörden eingeschaltet zu haben.1034 Dieser Kritik begegnete der Vorwärts mit dem Verweis auf die verzögerte Reaktion der Behörden im Fall Krupp und dem Desinteresse der Staatsanwaltschaft an den Bestechungen durch Siemens-Schuckert.1035 Auch habe Liebknecht die Vorwürfe im Reichstag vorgetragen, ohne eine Reaktion zu erhalten.1036 Das sozialdemokratische Organ schlussfolgerte, dass die »Verteidiger der Korruption« allein deshalb auf den »Enthüller« losschlügen, um auf diese Weise »das dokumentarisch und unwiderleglich bewiesene Vorhandensein der Korruption abzuleugnen«.1037 Sollte ein ehrliches Interesse an der Aufklärung der Vorgänge bestehen, provozierte der Vorwärts, so werde er die Vorwürfe gerne vor Gericht verifizieren.1038 Dieses mediale Echo auf die Vorwürfe Liebknechts zeigt einmal mehr die kontroverse Wahrnehmung des Skandalierers: Wie in der Karikatur des Kladderadatsch (Abb. 8) verbildlicht, rezipierte die Öffentlichkeit die Person des ›Enthüllers‹ zunehmend negativ. Dazu trug nicht geringfügig das über die vorangegangenen Monate erwachsene ›Skandalierungsmonopol‹ der Sozialdemokratie bei. War es einzelnen Skandalierern wie Lasker oder Erzberger in der Vergangenheit gelungen, eine positive Selbstdarstellung in weiten Teilen der Öffentlichkeit zu etablieren, so wurde Karl Liebknecht als sozialdemokratischer »Enthüller« in der politischen Presse mehrheitlich negativ wahrgenommen und die Skandalierung ›korrupter‹ Praktiken als Bedrohung begriffen. Die Analyse des erhaltenen Quellenmaterials zeigt, dass diese negative Wahrnehmung des Skandalierers größtenteils auch von den Ministerial- und Justizbehörden geteilt wurde, die sich zeitgleich mit den Korruptionsvorwürfen beschäftigten. Ab dem 22. Mai 1914 fand hinter den Kulissen ein reger schriftlicher Austausch statt, an dem sich vor allem der preußische Justizminister Max von Beseler, der preußische Kultusminister August von Trott zu Solz, der Präsident des Staatsministeriums Reichskanzler Bethmann Hollweg sowie verschiedene Justizbehörden auf Kreis- und Landesebene beteiligten.1039 Gegenstand der Kommunikation 1034 Beispielhaft Deutsche Tageszeitung, Methode Liebknecht, 25. 5. 1914AA. 1035 Vorwärts, Sie werden nicht klug, 26. 5. 1914. 1036 In dieser Argumentation wurde der Vorwärts von verschiedenen Zeitungen unterstützt, bsph. Das Freie Wort, De Mortius …, 30. 5. 1914. 1037 Vorwärts, Hehler und Stehler, 24. 5. 1914. Ähnlich: Leipziger Volkszeitung, Der Ankläger soll unschädlich gemacht werden, 4. 6. 1914. 1038 Ebd. 1039 Laut Aussage des preußischen Landtagsbgeordneten Heilmann (SPD) hat die Staatsanwaltschaft des LG Berlin I 43 Aktenbände über den Fall erstellt, vgl. Redebeitrag Heilmann, 16. Sitzung des Preußischen Landtags am 20. 2. 1925, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, S. 668. Leider sind die Akten der Generalstaatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin (LA Berlin A Rep. 358–01) und des Landgerichts Berlin (LA Berlin A Rep. 339) aufgrund von Kriegsverlusten nur lückenhaft/teils überhaupt nicht erhalten.

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war zu Anfang vor allem die Frage, ob und gegen welche Beteiligten der Korruptionsdebatte man juristisch vorgehen könne. Besonders Kultusminister1040 Trott zu Solz, dessen Ministerium mit der Vergabe einer Vielzahl unterschiedlicher Titel und Orden betraut war, drängte auf eine gerichtliche Belangung der Skandaltreibenden und Involvierten.1041 Es ist zu vermuten, dass er die Integrität seiner Behörde durch die Korruptionsdebatte gefährdet sah. Nach kurzer Erörterung erhielt Justizminister Beseler am 25. Mai 1914 von Bethmann Hollweg die offizielle Weisung, die strafrechtliche Verfolgung einzuleiten. In den nächsten Wochen wurde gegen Franz Ludwig ein Strafverfahren wegen Beamtenbeleidigung eingeleitet und dem preußischen Haus der Abgeordneten der Antrag vorgelegt, die juristische Verfolgung des Abgeordneten Liebknecht zu genehmigen.1042 Die Ergebnisse erster Ermittlungen – unter anderem die Hausdurchsuchung und Vernehmung Ludwigs – führten in den darauffolgenden Wochen zur Eröffnung einer Vielzahl weiterer Gerichtsverfahren.1043 Darüber hinaus regten sie den gegenseitigen Austausch unter den Amtsträgern zusätzlich an. In den verschiedenen Ministerien stellte man interne Untersuchungen an, schrieb Berichte und tauschte Ergebnisse sowie angeforderte Informationen aus. Dabei wurde weiterhin auch über mögliche Gerichtsprozesse gegen einzelne Publikationen diskutiert. Diese internen Überlegungen geben einen Einblick in die Interpretation und das Verständnis medialer Korruptionsdebatten vonseiten der Ministerialbehörden, wie am Beispiel der folgenden Karikatur des Vorwärts vom 2. Juni 1914 gezeigt werden kann: Die Abbildung zeigt einen unbekannten, voll uniformierten Offizier mit heruntergelassenen Hosen, der bei Einwurf von Geldmünzen verschiedene Orden und Titel ausscheidet. Die eigenwillige Karikatur erregte großen Anstoß unter den Ministern. Man diskutierte, ob eine Klage wegen Majestätsbeleidigung

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Überliefert sind jedoch die Akten des preußischen Justizministeriums: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49640 sowie Nr. 49641. Weiter Hinweise sind in den Protokollen des Preußischen Staatsministeriums zu finden. Das Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit Kultusministerium abgekürzt. Bsph. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49640, Schreiben des Kultusministers an den Justizminister und den Ersten Staatsanwalt des kgl. LG Berlin vom 22. 5. 1914. Ebd., Bericht des Ersten Staatsanwalts des kgl. LG Berlin I an den Oberstaatsanwalt des kgl. Kammergerichts Berlin vom 8. 6. 1914, Blatt 9–12; ebd., Schreiben des Justizministeriums an den Präsidenten des Hauses der Abgeordneten, 12. 6. 1914. Sowie: 93. Sitzung des Preußischen Landtags am 13. 6. 1914, GStA PK Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten. Die Hausdurchsuchung bei Ludwig fand bereits am 28. 5. 1914 statt: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49640, Brief des Ersten Staatsanwalts des kgl. LG Berlin an den Oberstaatsanwalt des kgl. Kammergerichts Berlin vom 8. 6. 1914. Aus dem sichergestellten Beweismaterial und den Hinweisen, die aus der Vernehmung Ludwigs gewonnen wurden, wurden 11 weitere Strafverfahren eröffnet: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49641, Bericht des Ersten Staatsanwalts am kgl. LG Berlin vom 15. 1. 1915.

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Abb. 9: »Der Titelautomat«, Vorwärts 1914

möglich sei und ersuchte diesbezüglich um Auskunft bei der Staatsanwaltschaft. Die juristische Beurteilung fiel eindeutig aus und gibt Hinweise auf den Stellenwert des Gerichtsverfahrens in Korruptionsdebatten und -skandalen.1044 Mit der Darstellung eines unbekannten Offiziers, so die Staatsanwaltschaft, habe man bewusst die Repräsentativität des Abgebildeten für den Offiziers- und Beamtenstand als Ganzes suggerieren wollen. Damit sei der Tatbestand der Beamtenbeleidigung erfüllt, wohlgleich eine Anklage unter dem Vorwurf der Majestätsbeleidigung nicht juristisch begründbar sei. In seiner Stellungnahme wies der Erste Staatsanwalt am Königlichen Landgericht aber in aller Deutlichkeit darauf hin, dass der erfolgreiche Ausgang des Verfahrens ungewiss und von unterschiedlichsten Faktoren abhängig sei. In einer ähnlich gelagerten, zeitgleich gestellten Anfrage bezüglich einer Klage gegen die Deutsche Montagszeitung hob die Staatsanwaltschaft explizit hervor, dass neben dem Erfolg auch die Dauer eines Verfahrens von der Beweisführung der Angeklagten abhänge.1045 Die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft und die Tatsache, dass das 1044 Vgl. im Folgenden: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49641, Brief des Ersten Staatsanwalts LG Berlin an den Oberstaatsanwalt des LG Berlin vom 5. 6. 1914. 1045 Hierbei ging es um einen Artikel der Deutschen Montagszeitung unter dem Titel »Der Kraemer im Tempel« vom 25. 5. 1914. Ders., Antwortschreiben des Oberstaatsanwalts des Kammergerichts Berlin an den preußischen Justizminister vom 30. 5. 1914.

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Kabinett sich in beiden Fällen entschloss, auf eine Klage zu verzichten, ist beachtenswert. Nach der Erfahrung verschiedener politischer Affären in der Wilhelminischen Ära scheint es, als sei ein Bewusstsein dafür erwachsen, welche Rolle dem öffentlichen Gerichtsprozess im Kontext der politischen Kommunikation und ihrer Verdichtung in Skandalen zukam. Gerichtsprozesse wurden von Ankläger wie Angeklagten zunehmend als Bühne begriffen, auf der vor den Augen der politischen Öffentlichkeit (Korruptions-)Vorwürfe abgeurteilt oder inszeniert werden konnten. Wie die verschiedenen Kruppprozesse gezeigt haben, spielte für die öffentliche Meinungsbildung der Ausgang des Prozesses oftmals keine Rolle: Der Empörung der politischen Öffentlichkeit, die unter anderem in der Tagespresse ihren Ausdruck fand, wurde in vielen Urteilen nicht entsprochen. Dennoch fungierten die Prozesse als Foren der politischen Meinungsäußerung und als Meinungsmultiplikatoren.1046 Vor diesem Hintergrund ist nicht verwunderlich, dass der Vorwärts seinerseits wiederholt auf einen Gerichtsprozess drängte, um so das öffentliche Interesse weiter zu fokussieren und die Chance zu erhalten, die Vorwürfe ausführlich zu kommentieren.1047 Dass man aufseiten des Ministeriums wiederum auf einen öffentlichen Prozess verzichtete, ist ebenfalls nicht erstaunlich. Die internen Untersuchungen zogen sich über mehrere Monate hin, bevor das preußische Staatsministerium am 2. Februar 1915 entschied, bestehende Klagen gegen Ludwig, Liebknecht, den Vorwärts und das Berliner Tageblatt zurückzuziehen. Im Protokoll der Sitzung wurde festgehalten: »Titelkäufe. Zurückziehung der Strafanträge […], weil die Freisprechung der Angeklagten wahrscheinlich sei.«1048 Vier Tage später informierte Justizminister Beseler bereits den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, dass der Antrag auf Genehmigung der Strafverfolgung Liebknechts zurückgezogen worden sei.1049 Zu der Entscheidung des Staatsministeriums hatten maßgeblich zwei jeweils etwa 300 Seiten starke Berichte der Staatsanwaltschaft beigetragen, welche die vorläufigen Resultate der Ermittlungen darlegten.1050 Die Dokumente enthielten unter an1046 Vgl. pointiert Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 474–477. 1047 Beispielhaft Vorwärts, Hehler und Stehler, 24. 5. 1914; Ders., o. T., 4. 6. 1914. 1048 Protokoll der 127. Sitzung des Staatsministeriums am 2. Februar 1915 in: Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): Acta Borussia. Die Protokolle des preußischen Staatsministeriums 1817–1934/38, Hildesheim/Zürich/New York 1999, Bd. 10, bearbeitet von Reinhold Zilch, S. 129. Auch online unter : http://preussenprotokol le.bbaw.de/bilder/Band%2010.pdf (15. 8. 2017). 1049 GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49640, Schreiben des Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums an den preußischen Justizminister vom 6. 2. 1915; Ders., Schreiben des preußischen Justizministers an den Präsidenten des Hauses der Abgeordneten vom 6. 2. 1915. 1050 Ebd., Bericht des Ersten Staatsanwalts am kgl. LG Berlin vom 15. September 1914 (280 S.); ebd., Zweiter Bericht des Ersten Staatsanwalt des kgl. LG Berlin am 19. 12. 1914 (304 S.).

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derem die ausführlichen Ergebnisse von über 270 einzelnen Untersuchungen in Bezug auf die Vergabe von Titeln, in denen auch die Namen bekannter Persönlichkeiten wie von Podbielski, von Thurn und Taxis, von PosadowskyWehner oder von Aretin fielen. Ferner dokumentierten die Berichte, dass tatsächlich hohe Beamte aus dem direkten Umkreis der Königsfamilie im Verdacht standen, an Titel- und Ordensvermittlungen beteiligt gewesen zu sein. Ein Beispiel hierfür war der Schatullenrendanten Sambraus, der im Kabinett der Kaiserin angestellt war.1051 In ihrem abschließenden Urteil bestätigte die Staatsanwaltschaft die Echtheit der vom Vorwärts abgedruckten Korrespondenzen. Zudem musste sie eingestehen, dass »die Zahl der Personen, die sich gewerbsmäßig mit der Vermittlung von Orden, Titeln und dergleichen befassen, ganz außerordentlich groß ist«, jedoch in keinerlei Relation zu den Erfolgen derartiger Transaktionen stehe, die doch überdurchschnittlich gering seien. Zudem sei bislang in keinem Fall nachgewiesen worden, dass Beamte den Einfluss ihres Amtes für ein solches Geschäft missbraucht hätten.1052 Trotz dieser finalen Feststellung lösten die beiden Berichte innerhalb der Ministerien großes Unbehagen aus, das sich vor allem in der schriftlichen Beratung über die Niederlegung der bestehenden Strafverfahren widerspiegelt. Wiederholt fiel der Vermerk, es sei »bedenklich«, die Ergebnisse der Untersuchungen schriftlich festzuhalten. Stattdessen plädierte man vorerst für einen mündlichen Austausch zwischen den Behörden.1053 In einem finalen Schreiben Bethmann Hollwegs an die Ressortminister hob der Präsident des Staatsministeriums hervor : »Es muß unbedingte Vorsorge dagegen getroffen werden, daß noch fernerhin die Erwirkung von Titel- und Ordensauszeichnungen unter Beteiligung von Beamten zum Gegenstande von Geldgeschäften der angedeuteten Art gemacht werden kann.«1054

Mit dieser Bemerkung war die Aufforderung verknüpft, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um einer Wiederholung dieser »unliebsamen Erscheinungen« vorzubeugen.1055 Leider geht aus dem überliefertem Quellenmaterial nicht hervor, ob und welche Schritte die Ressortminister nach der Weisung Bethmann Hollwegs ergriffen. Mit Blick auf das Kriegsgeschehen ist allerdings zu vermuten, dass der Problematik eine zunehmend geringe Bedeutung zugemessen wurde. Der Blick ›hinter die Kulissen‹ hat gezeigt, dass die interne Beschäftigung mit 1051 Beispielhaft ebd., Bericht des Ersten Staatsanwalts am kgl. LG Berlin vom 15. September 1914. Zu Sambraus liegen in bezeichneter Akte mehrere Schriftstücke vor. 1052 Für diesen Absatz: ebd., Bericht des Ersten Staatsanwalts am kgl. LG Berlin vom 15. September 1914 (280 S.). 1053 Vgl. bsph. ebd., Schreiben des preußischen Justizministers an alle Staatsminister vom 20. 1. 1915. 1054 Ebd., Präsident des Staatsministeriums an die Resortminister, 24. 2. 1915. 1055 Ebd.

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

den Korruptionsvorwürfen Liebknechts die öffentliche Berichterstattung über den Titel- und Ordenshandel, die bereits im Juni 1914 langsam abebbte, um ein Vielfaches überdauerte. Gewichtige Gründe hierfür waren unter anderem die militärische Mobilisierung und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die stattdessen in den Fokus der Presse rückten, aber auch die Tatsache, dass keine neuen Informationen an die Öffentlichkeit drangen, welche die Berichterstattung belebt hätten. Die Kombination dieser Faktoren führte dazu, dass die Vorwürfe in der politischen Öffentlichkeit zwar diskutiert wurden, aber ohne wirklichen Kulminationspunkt verhallten.

6.4

Zwischenfazit

Viele Gemeinsamkeiten trotz augenscheinlicher Unterschiede – so lassen sich die drei Korruptionsfälle beschreiben, denen sich die Untersuchung in diesem letzten Kapitel gewidmet hat. Wenngleich die Fälle in ihrer Dauer, ihren Ausmaßen und auch in ihrer Wirkkraft stark voneinander abweichen, so verbindet sie vor allem das Engagement von Karl Liebknecht, der auf inhaltlicher und formaler Ebene prägend auf ihre Entwicklung und ihren Verlauf einwirkte: Zwischen Oktober 1913 und Mai 1914 startete der sozialdemokratische Wortführer mithilfe des Vorwärts drei Skandalierungskampagnen, zum einen gegen die Rüstungsunternehmen Krupp und Siemens wegen der Bestechung von Staatsbeamten und zum anderen gegen Mitglieder des Militärs, der preußischen Politik und Zivilpersonen wegen des Verkaufs von Titeln und Orden. Gemein hatten die Kampagnen, dass sie sich in ihrem Kern gegen prominente Vertreter des deutschen Militarismus richteten und den epidemischen und allgegenwärtigen Charakter der Korruption im Kaiserreich anprangerten. Liebknechts Bemühen reichte dabei über eine bloße Kritik mikropolitischer Praktiken hinaus; sein Ziel war es, mit den Korruptionsvorwürfen an Fragen sozialdemokratischer Politik- und Gesellschaftskritik anzuschließen. Dabei gelang es ihm erstmals, die sozialdemokratische Korruptionskommunikation erfolgreich in den politischen Diskurs des Kaiserreichs zu integrieren und die Sozialdemokratie als Skandalierer zu etablieren. Liebknechts Korruptionskritik gründete auf der bereits 1973 etablierten sozialdemokratischen Überzeugung, Korruption verkörpere die notwendige Konsequenz aus dem Fortschreiten des internationalen Kapitalismus und Militarismus und könne nur durch sozialdemokratische Interventionen bekämpft werden. Diese Argumentation verknüpfte Liebknecht erfolgreich mit tagespolitischen Ereignissen. So assoziierte er beispielsweise im Kornwalzerskandal die Vorwürfe gegen Krupp mit der sozialdemokratischen Kritik an der Wehrvorlage, für deren Ablehnung bzw. Revision die Sozialdemokraten im Reichstag eintraten. So begann die Sozialdemokratie 1913 im

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Reichstag und in der Presse konkrete Konsequenzen aus den Korruptionsfällen zu fordern und sich damit von vorangegangenen Korruptionsdebatten abzuheben, in denen sie sich häufig auf Handlungsempfehlungen beschränkt hatte, wie etwa im Panamaskandal. Beachtenswerterweise verlangte die Sozialdemokratie jedoch nicht nach einem revolutionären Umsturz; stattdessen forderten zumindest Teile der Partei eine Reform der bestehenden Verhältnisse. Liebknecht rief zur Arbeit mit dem politischen System auf und verlangte damit von der politischen Öffentlichkeit des Reiches, die SPD als ernstzunehmende Gesprächspartnerin in den politischen Diskurs zu integrieren. Diese Beobachtungen stützen und führen die Ergebnisse des Historikers Andreas Biefang fort. Biefang legt in seinen Forschungen überzeugend dar, dass die parlamentarische Arbeit der Sozialdemokratie bereits seit der Bismarckzeit zu einer prozesshaften Integration der Partei in das politische System des Kaiserreichs beitrug.1056 In der sozialdemokratischen Korruptionskommunikation und insbesondere auch in den in diesem Kontext geäußerten Reformforderungen spiegelt sich die Fortsetzung dieses Prozesses wider. Aus formaler Perspektive betrachtet passt auch das bedächtige Vorgehen Liebknechts und des Vorwärts in dieses Bild und verbindet die drei Korruptionsfälle der Vorkriegsjahre miteinander. Wenngleich explizite Quellenbelege fehlen, so ist anzunehmen, dass die Skandale der Wilhelminischen Periode und im Besonderen die eigenen Skandalierungsversuche, wie etwa in der Kaiserinsel-Affäre, von der Sozialdemokratie genauestens rezipiert worden waren und das Verhalten Liebknechts auf diesen Erfahrungswerten fußte. Anstatt die Korruptionsvorwürfe unmittelbar in der Presse zu veröffentlichen, wählte er mit dem Parlament und dem Gerichtsaal Foren, in denen nicht seine Journalistentätigkeit, sondern seine Rolle als Abgeordneter und Anwalt im Vordergrund standen. Zudem verliehen die Symbolträchtigkeit und Verhaltensmaßregeln dieser Orte seinen Darlegungen eine gewisse Ernsthaftigkeit und Legitimität und befreiten sie von dem Vorwurf medialer Spekulationen. Schließlich kooperierte der Sozialdemokrat im Fall der Kornwalzer im Vorfeld der Enthüllungen auch mit der Regierung, um sein Vorgehen gegen den Vorwurf des Geheimnisverrats und der Volksverhetzung abzusichern. Doch trotz seines bedachten Vorgehens waren die Skandalierungsbemühungen Liebknechts nicht immer erfolgreich, wie das Beispiel Siemens gezeigt hat. Dieser Fall illustriert exemplarisch, dass mikropolitische Praktiken, die auf den ersten Blick identisch erscheinen – die Bestechung von Staatsbeamten – in unterschiedlichen Kontexten – im In- und im Ausland – unterschiedlich bewertet wurden, Normen 1056 Andreas Biefang: »Die Sozialdemokratie im Reichstag. Das Parlament als Faktor der Integration 1871–1890«, in: Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen 26 (2001), S. 25–54.

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Korruptionsdebatten am Vorabend des Ersten Weltkriegs

immer situativ gebunden und abhängig von gesellschaftspolitischen Umständen waren. Darüber hinaus veranschaulicht die Korruptionskommunikation der Siemensbefürworter sehr deutlich, dass das Auftreten der Sozialdemokratie als Skandalierer auch kritisch bewertet wurde. Zwar war die SPD in der politischen Öffentlichkeit nun als »Enthüller« bekannt (vgl. auch Abb. 8), jedoch verband sich damit häufig auch der Vorwurf der Interessenpolitik. Man unterstellte der Sozialdemokratie, die Schädigung des ›nationalen Volksinteresses‹ billigend in Kauf zu nehmen oder bewusst herbeizuführen. Wenngleich auch andere Skandalierer wie Erzberger oder Lasker Widerstand und Kritik erfahren hatten, war dieser Vorwurf ihnen gegenüber deutlich schwächer ausgeprägt gewesen.1057 Es liegt nahe, hierfür die dominante Position der Sozialdemokratie innerhalb der deutschen Korruptionskommunikation als Erklärung heranzuziehen: Die Partei hielt vor dem Ersten Weltkrieg quasi ein Monopol auf Korruptionsvorwürfe und thematisierte diese – wie die drei Beispiele illustriert haben – mit zunehmender Regelmäßigkeit, Erfahrung und Expertise. Der professionelle Umgang mit dem Thema der Korruption in der politischen Kommunikation erstreckte sich – wie der Fall Siemens und der Titel- und Ordensschacher demonstrieren – auch auf die Regierungs- und Ministerialbehörden. Das Quellenmaterial, das im Zusammenhang mit diesen beiden Fällen überliefert ist, zeigt, dass auch aufseiten der Bürokratie taktiert und auf Erfahrungen vergangener Jahre rekurriert wurde. Beispielhaft hierfür ist die Entscheidung, beim Titel- und Ordensschacher auf eine Strafverfolgung Liebknechts und des Vorwärts zu verzichten, da man befürchtete, die öffentliche Aufmerksamkeit sonst weiter zu steigern. Dieses Beispiel illustriert nicht nur die strategischen Überlegungen von Judikative und Exekutive, es zeigt auch die wachsende Bedeutung des Gerichtsprozesses in der deutschen Korruptionskommunikation. Während die Gerichtsverhandlungen in anderen Skandalen, wie etwa im Eulenburgskandal 1907–1908, schon früher eine zentrale Rolle als Meinungsmultiplikator gespielt hatten, wurden sie erst in den Vorkriegsjahren auch für die Korruptionskommunikation zentral. Prägend war hierbei der Einfluss des Kornwalzerskandals, in dem mit Brandt und Eccius zum ersten Mal auch Initiatoren mikropolitischer Praktiken auf der Anklagebank saßen. Die Prozesse avancierten zu einem medialen Spektakel, das den Korruptionsskandal über Wochen befeuerte und von einem internationalen Publikum verfolgt wurde. Damit förderte der Kornwalzerskandal auch die Wahrnehmung der Zeitgenos1057 Diese Disposition sollte in der Weimarer Republik erhalten bleiben: Man warf der Sozialdemokratie bspw. unter dem Stichwort der »Futterkrippenwirtschaft« korrupte Interessenpolitik vor, vgl. Klein, Korruptionsskandale in der Weimarer Republik; Volker Köhler, Genossen – Freunde – Junker, Kap. II, Genossen und Minister: Das »rote Sachsen« (1918– 1923), S. 65f.

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sen, vor einer internationalen Öffentlichkeit zu agieren, für die transnationale Vergleichswerte wie der Panamaskandal eine zunehmende Bedeutung besaßen. Vor allem die Sozialdemokratie versuchte in den darauffolgenden Skandalierungsversuchen wiederholt, den Gerichtsprozess als Instrument der Korruptionskommunikation zu nutzen. Im Fall Siemens nutzte Liebknecht den Prozess als Aufhänger für seinen Skandalierungsversuch, im Titel- und Ordensschacher forderte er die strafrechtliche Ermittlung offensiv ein. Die Bedeutung der Gerichtsverhandlung für die Korruptionskommunikation sollte während der Weimarer Republik anhalten, wie etwa der Erzberger-Helfferich-Prozess von 1920 demonstriert.1058 So lässt sich abschließend zusammenfassen, dass die drei Korruptionsfälle der Vorkriegsjahre nicht nur Erkenntnisse über die Korruptionskommunikation des Kaiserreiches erschließen und bündeln, sondern mit ihren Besonderheiten bereits den Blick auf das kommende Jahrzehnt lenken. So sollten die Rolle der Sozialdemokratie in der reichsdeutschen Korruptionskommunikation, die ambivalente Wahrnehmung der Skandalierer und die Kontextgebundenheit von Normen als zentrale Themen die Korruptionskommunikation auch nach 1914 prägen.

1058 Vgl. Klein, Korruption und Korruptionsskandale, Kap. 2.

7

Fazit

In unserer multimedialen Gegenwart erfahren wir tagtäglich von (inter-)nationalen Korruptionsvorkommnissen: Mal sind es einzelne Scoops, wie etwa die Enthüllung der sogenannten »Panama Papers« 2015, mal langwierige Debatten, wie im Umfeld des US-Wahlkampfs 2016, oder aber wir folgen der kontinuierlichen Kritik spezialisierter NGOs wie etwa Transparency International.1059 Korruption ist ein Thema, über das weltweit gesprochen wird, und die heutige Informationsfülle erweckt bisweilen den Eindruck, Korruption sei allgegenwärtig. Wenngleich die Berichterstattung im Kaiserreich diese Dichte selbstverständlich nicht erreichen konnte, so hat die vorliegende Arbeit doch gezeigt, dass auch zwischen 1871 und 1914 in Deutschland viel und lebhaft über Korruption gesprochen wurde. Die Sprache, die dabei Verwendung fand, ist uns auch heute nicht fremd. Ein Beispiel hierfür ist die Trump-Karikatur aus der Einleitung, die den Präsidentschaftskandidaten beim Entwässern des Korruptionssumpfes zeigt – ein Sprachbild, das bereits Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war. Ähnlichkeiten finden sich jedoch nicht nur in Ausdrucksformen und Metaphern, sondern auch in der Funktion der Korruptionskommunikation: Sie war und ist ein wichtiger Bestandteil der politischen Kommunikation. Dabei mag die von den Zeitgenossen perpetuierte Eigenwahrnehmung1060 der deutschen Staatlichkeit als ›unkorrumpierbar‹ in der Vergangenheit darüber hinweggetäuscht haben, dass Korruption durchaus rege debattiert – wenn auch vergleichsweise selten skandaliert – wurde. Tatsächlich lassen sich im Kaiserreich relativ wenig große Korruptionsskandale nachweisen, was besonders in der Gegenüberstellung mit der Weimarer Republik auffällt.1061 Da sich Skandale 1059 Bastian Obermayer/Frederik Obermaier : Panama Papers: Die Geschichte einer weltweiten Enthüllung, Köln 2016; auch bsph. Chris Sanders: Transparency International Turns 20, 8. 2. 2013, https://www.transparency.org/news/feature/transparency_international_turns _20 (5. 9. 2016). 1060 Plumpe, Korruption. Annäherung an ein historisches und gesellschaftliches Phänomen, S. 44f. 1061 Vgl. bsph. Klein, Korruption und Korruptionsskandale.

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Fazit

jedoch in den Quellen leichter identifizieren lassen, mag die relative Skandalarmut einer der Hauptgründe sein, warum Korruption im Kaiserreich bislang wenig beforscht wurde. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen setzte sich die Untersuchung zum Ziel, das Sprechen über Korruption im Deutschen Kaiserreich sichtbar zu machen und für die historische Forschung zu erschließen. Zu diesem Zweck wurde das Konzept der Korruptionskommunikation nach Niels Grüne adaptiert, mit dem der Fokus über Skandale hinaus erweitert und Korruptionsdebatten und Skandalierungsversuche in die Analyse inkludiert wurden. Die Diskursivität der Korruptionskommunikation wurde dabei bewusst für die Recherche genutzt: Wie verschiedene Beispiele gezeigt haben, verorteten die Zeitgenossen Korruptionsdebatten und -skandale in einem historischen und zugleich internationalen Feld korruptionsbezogener Referenzen. Sie stellten Vergleiche an und verwiesen auf Korruptionsdebatten, die zeitlich zurücklagen oder sich in Nachbarländern ereignet hatten. Basierend auf dieser Erkenntnis wurden Skandale, die der Forschung zuvor bereits bekannt gewesen waren – wie beispielsweise der Kornwalzerskandal 1913 –, nach Hinweisen auf noch unentdeckte Korruptionsdebatten durchsucht. So gelang der Arbeit nicht nur, neue Debatten zu erfassen, sondern auch die Korruptionskommunikation zwischen 1871 und 1914 erstmals gebündelt darzustellen. Auch neue Formen der Korruptionskommunikation konnten auf diese Weise identifiziert werden, wie etwa der Transfer von Korruptionsvorwürfen zwischen kommunaler und nationaler Ebene.

7.1

Korruptionskommunikation: Ein demokratisches Instrument der politischen Kommunikation

Im Deutschen Kaiserreich wurde über Korruption gesprochen, das belegt nun also die Fülle an Korruptionsdebatten, welche die Recherche zu Tage gefördert hat. Doch wer beteiligte sich an diesen Debatten und Skandalen? Das Forschungsvorhaben prüfte die These, nach der die Korruptionskommunikation zwischen 1870 und 1914 ein demokratischer Bestandteil der politischen Kommunikation gewesen sei. Tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass Akteure jeglicher politischer Couleur über Korruption sprachen. Nicht nur beteiligten sich sämtliche Parteien an der Korruptionskommunikation, bis auf wenige Ausnahmen unternahmen sie alle mindesten einmal selbst den Versuch, eine Debatte oder einen Skandal zu initiieren. Betrachtet man die Korruptionsdebatten in ihrem breiteren politischen Kontext, lässt sich dieses Bild verfeinern. So fällt auf, dass zwar alle Parteien kontinuierlich an Korruptionsdebatten und

Korruptionskommunikation

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-skandalen partizipierten, deren Initiierung jedoch zeitlichen Trends unterworfen war. In der Regel ging die Initiative von Akteuren aus, die zu einem spezifischen Zeitpunkt konkrete politische Interessen verfolgten und diese nicht auf konstitutionellem Wege oder durch Koalition mit der Exekutive durchsetzen konnten. Das Vorgehen der Akteure wurde dabei einerseits von externen Faktoren geprägt, wie beispielsweise dem Sozialistengesetz oder dem Kulturkampf, welche die Handlungsmöglichkeiten der Parteien auch mit Blick auf die Korruptionskommunikation beeinflussten. Andererseits spielten aber auch (partei-)interne oder persönliche Faktoren eine Rolle, wie etwa im Fall Erzbergers. Unter Einfluss dieser Faktoren sind für den Untersuchungszeitraum spezifische Trends nachzuweisen: In der ersten Hälfte des Kaiserreichs war eine starke Beteiligung außerparlamentarischer Akteure, namentlich antiliberaler und antisemitischer Agitatoren, an der Korruptionskommunikation zu beobachten. Sie veröffentlichten eine Flut von Korruptionsvorwürfen, die zumeist in Flugschriften, Journal- oder Zeitungsartikeln erschienen. Nicht immer verdichteten sich diese Vorwürfe zu Debatten oder Skandalen, häufig blieben sie in ihrer Rezeption auf einseitig interessierte Teilöffentlichkeiten beschränkt. Aus der spezifischen Kommunikation dieser Akteursgruppe entstand in den 1870er und 1880er Jahren die Herausbildung einer argumentativen Verbindung von Antiliberalismus, Antisemitismus und Korruption, die sich unter anderem aus einer Unzufriedenheit mit dem politischen Liberalismus und der (subjektiven) Wahrnehmung wirtschaftlichen Niedergangs speiste. Hinter der Instrumentalisierung dieses dreigestirnigen Stereotyps standen Interessen, die ebenso heterogen waren wie die Akteure, die sie verfolgten. Sie reichten von persönlicher Feindschaft über den Ausdruck eines generellen politischen und wirtschaftlichen Unwohlseins bis hin zu konkreten politischen Zielen. Man denke hier beispielsweise an die teils abstrakten Korruptionsvorwürfe gegen Bismarck und Bleichröder oder den Versuch der Germania, den Kulturkampf zu delegitimieren. Zweierlei Merkmale sind an der Korruptionskommunikation vor der Jahrhundertwende weiterhin als besonders hervorzuheben: Erstens illustriert die Korruptionskommunikation dieser Periode, dass sich neben etablierten Parteien auch außerparlamentarische Akteure an den Korruptionsdebatten des Kaiserreichs beteiligten und dass Akteure jeder Partei und jeden politischen Ranges mit Korruptionsvorwürfen belegt werden konnten. Sofern diese Korruptionsvorwürfe über Substanz verfügten und nicht vollkommen haltlos waren, konnten sie in der politischen Sphäre eine ernstzunehmende Korruptionsdebatte provozieren. Das besondere Engagement außerparlamentarischer Akteure in diesem Zeitraum ist dabei nicht zuletzt auf die politische Dominanz Bismarcks gegenüber den etablierten Parteien sowie die zeitweilige Zensur zweier Oppositionsparteien – der Sozialdemokratie und des Zentrums – zu-

314

Fazit

rückzuführen. Zweitens fällt auf, dass die argumentative Verbindung von Antiliberalismus, Antisemitismus und Korruption über mehrere Dekaden als Konstante in die Korruptionskommunikation einging und als solche von verschiedenen Akteuren bedient werden konnte. Darüber hinaus trug sie maßgeblich dazu bei, dass Zeitgenossen die unterschiedlichen Korruptionsvorwürfe selbst nach Jahren noch als miteinander verbunden und als Teil einer größeren Debatte wahrnahmen. Nimmt man die zweite Hälfte des Kaiserreichs und die Skandalierung von Korruptionsvorwürfen durch parlamentarische Akteure in den Blick, sind ebenfalls zweierlei Besonderheiten und Entwicklungen hervorzuheben. Einerseits fällt auf, dass die deutsche Korruptionskommunikation in ihrer Entwicklung sowie in ihrer zeitgenössischen Wahrnehmung häufig von dem Engagement einzelner Individuen geprägt war. So markiert die Skandalierung des nationalliberalen Politikers Eduard Lasker (Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen) den Beginn des Untersuchungszeitraums. Nach der Jahrhundertwende stechen die Korruptionsvorwürfe Matthias Erzbergers (unter anderem Tippelskirchskandal) hervor, worauf die wiederholten Skandalierungskampagnen des sozialdemokratischen Parteiführers Karl Liebknecht (Kornwalzerskandal/Siemensskandalierung/Ordens- und Titelschacher) folgten. Diese Auflistung ist nicht nur stellvertretend für die prägnantesten Korruptionsskandale des Kaiserreiches, sie verweist auch auf eine maßgebliche Entwicklung: Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes trat die Sozialdemokratie verstärkt als politische Kraft in Erscheinung, die begann, die politische Kommunikation des Kaiserreichs mitzugestalten. Bereits die Panamaberichterstattung muss als Versuch des Vorwärts gewertet werden, Korruptionskritik gewinnbringend mit den politischen Interessen der Sozialdemokratie zu verbinden und anhand der Welfenfondsvorwürfe Möglichkeiten der Skandalierung zu erproben. In den folgenden Jahren weitete die Sozialdemokratie ihr Vorgehen weiter aus; Skandalierungsversuche blieben weder auf ausländische Affären (Panama/Banca Romana 1892/Neapel 1901) noch spezifisch auf Korruptionsfälle beschränkt, wie das sozialdemokratische Engagement in verschiedenen deutschen Skandalen illustriert.1062 Entlang dieser Entwicklung zeigt sich, dass die SPD spätestens ab den 1910er Jahren die deutsche Korruptionskommunikation dominierte. Nicht nur initiierte sie quantitativ die meisten Korruptionsdebatten, ihr Vorgehen wurde zugleich immer professioneller und dadurch auch erfolgreicher. Die Vorwürfe gegen Krupp illustrieren diesen Umstand hervorragend: Durch ein bedachtes und professionelles Vorgehen – Liebknecht kooperierte vor Veröffentlichung der Vorwürfe mit der Regierung, um so den 1062 Vgl. hierzu u. a. Bösch, Öffentliche Geheimnisse; Richter, Krupp auf Capri; Hall, Scandal, Sensation and Social Democracy.

Korruptionskommunikation

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Vorwurf des Volksverrates von Anfang an zu entkräften – gelang es der Partei, den größten Korruptionsskandal des Kaiserreichs überhaupt anzustoßen. Selbstverständlich entwickelten sich nicht alle sozialdemokratischen Korruptionsvorwürfe zu großen Skandalen. Die Vorwürfe gegen Siemens etwa erfuhren im Vergleich zu dem Kornwalzerskandal relativ geringe Beachtung. Bedeutsam ist aber, dass sich die parteipolitische Sphäre, Presse, Parlamente, Staatssekretariate und die Justiz in unterschiedlicher Intensität ernsthaft mit den Anschuldigungen beschäftigten. Das dominante Auftreten der Sozialdemokraten traf jedoch vielfach auch auf Widerstand, wurde es doch nicht selten als Provokation wahrgenommen. So wurde die Partei wiederholt selbst zum Ziel von Angriffen, wie etwa in der Kaiserinselaffäre 1901 oder 1909, als kommunale SPD-Funktionäre beschuldigt wurden, Parteigeldern zu Lasten sozialschwacher Mitglieder veruntreut zu haben.1063 Interessanterweise löste jedoch keiner dieser Angriffe einen nennenswerten Skandal aus. Weiterhin fällt auf, dass sich mit der Zunahme sozialdemokratisch initiierter Korruptionsvorwürfe die Wahrnehmung des Skandalierers in der politischen Öffentlichkeit einseitig verfestigte. Seit Beginn des Kaiserreichs war die Figur des Skandalierers ambivalent besetzt. Die Initiatoren von Korruptionsvorwürfen wurden häufig sehr kritisch beurteilt. Man warf ihnen vor, persönliche Interessen zu verfolgen, betitelte sie als Verleumder oder ließ sie gerichtlich verfolgen. Zugleich existierte jedoch auch eine positiv besetzte Wahrnehmung des Skandalierers, der zum Wohl der Gesellschaft handele, wie man am Beispiel Erzbergers 1906 nachverfolgen kann (vgl. Abb. 4). Das Engagement von Karl Liebknecht in den Vorkriegsjahren schien die Wahrnehmung des Skandalierers gleichwohl einseitig zu verschieben. Positive Konnotationen traten fast vollständig in den Hintergrund und es dominierte die Vorstellung des Sozialdemokraten als Krachmachers, der allein dem sozialistischen Parteiinteresse diente (vgl. Abb. 8). Nichtsdestotrotz: Die dominante Rolle der Sozialdemokratie in der Korruptionskommunikation der Vorkriegsjahre ist besonders hervorzuheben: Keine andere Akteursgruppe skandalierte in solch professioneller Weise oder mit ähnlichem Erfolg. Interessanterweise lässt sich eine ähnliche Entwicklung in Frankreich beobachten: Auch dort nutzen sozialistische Akteure den Panamaskandal, um ihren politischen Partizipationsanspruch öffentlich zu formulieren und sich weithin sichtbar in der Parteienlandschaft zu positionieren. Ihr Engagement in der Korruptionskommunikation erreichte in der Affaire Rochette (schubweise zwischen 1908 und 1914) einen vorläufigen Höhepunkt, als dem Sozialistenführer Jean JaurHs der Vorsitz über die parlamentarische Untersuchungskommission übertragen wurde.1064 1063 Vgl. Vorwürfe gegen Hermann Kirsch, Anhang. 1064 Vgl. Monier, Fr8d8ric: »EnquÞter sur la Corruption: JaurHs et la Commission Rochette«, in:

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Fazit

In ihrer Gesamtheit tragen diese Beobachtungen neue Erkenntnisse zur wissenschaftlichen Erforschung der Korruptionskommunikation sowie zu der Kaiserreichs- und der jüngst etwas in den Hintergrund getretenen Parteienforschung bei. So ist festzuhalten, dass Korruptionskommunikation ein Instrument war, dass allen Akteuren Zugang zur politischen Kommunikation eröffnete. Über die Jahre erhoben im Deutschen Kaiserreich sowohl parlamentarische als auch außerparlamentarische Akteure den Vorwurf der Korruption und initiierten auf diese Weise ernstzunehmende Debatten in der politischen Sphäre, die Raum für politische Selbstdarstellung und Interessenpolitik boten. So lässt sich durchaus von einer demokratisierenden und Prozesse der Integration unterstützenden Funktion der Korruptionskommunikation sprechen. Dies gilt im Besonderen für neue und/oder aufsteigende politische Akteure wie etwa Politiker im Umfeld des politischen Antisemitismus in den 1880er und 1890er Jahren oder die Sozialdemokraten nach Außerkrafttreten des Sozialistengesetzes. Die Untersuchung konnte zeigen, dass diese Gruppen es verstanden, die Korruptionskommunikation als Instrument zu nutzten, um an der politischen Kommunikation zu partizipieren. Schließlich ist für die deutsche Sozialdemokratie im Besonderen festzuhalten, dass es ihr gelang, politische Korruptionsdebatten zu initiieren, an denen alle Parteien teilnahmen und in denen sie selbst als ernstzunehmende Kommunikationspartnerin auftrat und wahrgenommen wurde. Auch wenn in vielen Fällen die Mehrzahl der Akteure gegen das Auftreten und die inhaltlichen Positionen der SPD in der Korruptionskommunikation Stellung bezog, erfolgte immer wieder eine ernstzunehmende Auseinandersetzung mit ihren Vorwürfen und Argumenten. Dieser Dialog ist als signifikant herauszustellen, da besonders die ältere geschichtswissenschaftliche Forschung die andauernde Außenseiterposition der Sozialdemokratie in der nationalen Parteilandschaft vor dem Ersten Weltkrieg betonte.1065 Tatsächlich ist die Korruptionskommunikation jedoch ein Beispiel für den politischen Austausch der Sozialdemokratie mit den etablierten Parteien. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, unterstützte das reformorientierte Vorgehen der Partei dabei ihren Anspruch, als ernstzunehmende Akteurin innerhalb der politischen Sphäre wahrgenommen zu werden.

Cahiers JaurHs 209 (2013), S. 71–92; Portalez, Christophe: »La Revue Socialiste face / la Corruption Politique: Du Scandale de Panama / l’affaire Rochette (1892–1914)«, in: Cahiers JaurHs 209 (2013), S. 15–32. 1065 Beispielhaft Groh, Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Vgl. auch die Forschungen von Stefan Berger, der betont, dass auf kommunal- und landespolitischer Ebene die Integration der Sozialdemokratie bereits deutlich weiter fortgeschritten gewesen sei: Berger, Social Democracy, Kap. 3.

Korruptionskommunikation als Instrument der Interessenpolitik

7.2

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Korruptionskommunikation als Instrument der Interessenpolitik: Deutschland und Frankreich im Vergleich

Neben der Frage, wer im Kaiserreich über Korruption sprach, wurde in der vorliegenden Arbeit untersucht, welche Formen die Korruptionskommunikation annahm und welche Motive die Akteure verfolgten. Festgehalten werden kann, dass Korruptionskommunikation zwischen 1871 und 1914 rasch zu einem etablierten Instrument der Interessenpolitik wurde, das in unterschiedlichen Formen auftrat und eingesetzt wurde. Neben der Analyse der deutschen Einzelstudien offenbarte vor allem der Vergleich mit den französischen Korruptionsfällen Einblicke in den Charakter der (spezifisch) deutschen Korruptionskommunikation. So muss zuvorderst konstatiert werden, dass das Sprechen über französische Skandale – und ausländische im Allgemeinen – eine eigene, bisher jedoch vernachlässigte Dimension der deutschen Korruptionskommunikation darstellte. Politische Akteure nutzten die Affären im Ausland in einer originellen und einzigartigen Weise als Spiegel, um Aussagen über die (inter-)nationale Politik und den herrschenden Status quo zu treffen. Basierend auf den empirischen Befunden kann zwischen zwei Facetten der Interessenpolitik differenziert werden: Einerseits bot Korruptionskommunikation politischen Akteuren die Gelegenheit, öffentlich an nationale Diskurse um Staatlichkeit anzuknüpfen. Auf diese Weise war es ihnen möglich, sich ideologisch in der politischen (Parteien-)Landschaft zu positionieren und im Austausch mit dem politischen Gegner öffentlichkeitswirksam das eigene Profil zu schärfen. Andererseits versuchten Akteure mithilfe der Korruptionskommunikation unmittelbare, realpolitische Ziele umzusetzen. Diese Differenzierung kann im weitesten Sinne mit der, in der Politikwissenschaftlich üblichen, Unterteilung in Formen (Polity) und Inhalte (Policy) der Politik verglichen werden: Akteure kommunizierten im Kontext von Korruptionsdebatten interessengeleitet sowohl über den Staat als Form als auch über die konkreten Inhalte der Politik.1066 Wie die Fallstudien zeigten, gingen diese Facetten in der Kommunikation der Akteure natürlich ineinander über und dienten sich gegenseitig als argumentative Stütze. Trotz dieser Interdependenz schärfte eine analytische Trennung im Rahmen der Untersuchung die Ergebnisse dieser Arbeit maßgeblich. So gelang es, im Hinblick auf diese beiden Dimensionen im Vergleich mit der französischen Korruptionskommunikation nationale Spezifika, aber auch Gemein-

1066 Jens Ivo Engels hat alternativ die Unterscheidung in taktische (policy) und strategische (polity) Ziele der Korruptionskritik vorgeschlagen, vgl. Ronald G. Asch/Birgit Emich/Jens Ivo Engels: »Einleitung«, in: Asch/Emich/Engels, Integration, Legitimation, Korruption, S. 22.

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Fazit

samkeiten herauszuarbeiten und verschiedene Handlungsformen zu unterscheiden.

7.2.1 Reform statt Revolution: Staatlichkeit als Thema der Korruptionskommunikation Auf den ersten Blick scheint die Gegenüberstellung der französischen und der deutschen Korruptionskommunikation vor allem grundlegende Unterschiede zu offenbaren. So kann bei oberflächlicher Betrachtung des Panamaskandals und des Skandals der Dekorationen leicht der Eindruck entstehen, in der Dritten Republik seien Korruptionsdebatten offener, energischer und mit größerer Wirkmacht geführt worden als im deutschen Kaiserreich. Tatsächlich debattierten Akteure in Frankreich im Kontext der Korruptionskommunikation aktiv über die Vorzüge und Fehler der Republik einerseits und den Charakter alternativer Staatsmodelle andererseits. Befürworter der Republik erblickten in ihr die positive Weiterentwicklung einer Abfolge korrupter Staatsmodelle. Gegner hingegen beschrieben die Republik als Hort der Korruption und begründeten damit die Notwendigkeit von Veränderungen. Dieser lebhafte Diskurs um die Form französischer Staatlichkeit hatte bereits damals eine lange Tradition, die, wie Jens Ivo Engels zeigen konnte, bis zur Französischen Revolution zurückreicht.1067 In den 1890er Jahren spiegelt er zugleich aber auch das Erbe einer bewegten Periode wider : Nach ihrer Gründung 1870 war die Republik als Staatsystem umstritten und in ihrer Existenz wiederholt bedroht. Das republikanische System gewann erst über die Dauer mehrerer Dekaden an Rückhalt; der Diskurs um das Staatsmodell wurde dennoch weitergeführt und fand unter anderem Ausdruck in den Korruptionsskandalen der 1880er und 1890er Jahre. Diese offene Auseinandersetzung – die im Vergleich zum Kaiserreich erstaunt – darf jedoch nicht über die Inhalte hinwegtäuschen: Auch von Republikgegnern wurde die – zumindest temporäre – Alternativlosigkeit des Systems nicht in Frage gestellt, sondern – im Gegenteil – öffentlich bestätigt. Die Korruptionskommunikation war also kein Instrument revolutionärer Umsturzversuche; dennoch bot sie die Möglichkeit, das Staatssystem zu kritisieren und alternative Modelle öffentlich zu debattieren. Darüber hinaus diente die negative sowie positive Auseinandersetzung mit der Republik auch als Argument, um konkrete politische Forderungen zu untermauern. Der Figaro beispielsweise leitete aus seinem vernichtenden Urteil über die Republik im Kontext des Panamaskandals einen realpolitischen Machtanspruch der monarchistischen Parteien ab. An 1067 Engels, Revolution und Panama.

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dieser Stelle verquicken sich die verschiedenen Dimensionen der Interessenpolitik. Im Deutschen Kaiserreich bestand hingegen nur im eingeschränkt Maße die Möglichkeit, öffentlich über das politische System zu debattieren. Alle untersuchten Akteure akzeptierten die konstitutionelle Monarchie als alternativlos und stellten sie im öffentlichen Diskurs nicht ernsthaft in Frage. Auch wurde in der politischen Sphäre in deutlich geringerem Maße über die eigene Staatsform gestritten, als dies in Frankreich der Fall war. Untersucht man die Korruptionskommunikation jedoch en d8tail, so muss dieses Ergebnis unbedingt verfeinert werden. Die Einzelstudien zeigen, dass sich politische Akteure im Kaiserreich durchaus mit verschiedenen Staatsformen auseinandersetzten, dies jedoch auf eine subtilere Art und Weise taten als ihre französischen Kollegen. Ein direkter Bezug auf das eigene Staatsmodell oder eine klare Bewertung dessen erfolgte fast ausschließlich, wenn es galt, die konstitutionelle Monarchie als überlegen hervorzuheben und von anderen Systemen positiv abzugrenzen. Kritik hingegen wurde vor allem auf indirektem Wege geäußert. Die grundlegende Veränderung oder Auflösung des deutschen Staatsmodells war (auch rein rhetorisch) nicht Ziel der Korruptionskommunikation. Stattdessen reagierten und kommentierten viele politische Akteure auf diese Weise (kritisch) langfristige oder aktuelle Entwicklungen und äußerten häufig mehr oder minder konkrete Handlungsempfehlungen. Prinzipiell stellten ausländische Skandale dafür eine besonders geeignete Plattform dar. Sie boten die Möglichkeit, durch Abgrenzung Stellung zu beziehen und indirekt über das eigene System zu reflektieren. Die konservativen und sozialdemokratischen Reaktionen auf den Panamaskandal illustrieren diese Handlungsoption beispielhaft: Die konservative Presse nutzte die Ereignisse in Frankreich für eine wiederholte Parlamentarismuskritik. Ihr gängiges Argument lautete: Derartige Korruption sei nur in der parlamentarischen Republik möglich, im System der konstitutionellen Monarchie hingegen undenkbar. Auf diese Weise versuchten die konservativen Akteure, Parlamentarisierungsbemühungen – egal von welcher Seite – präventiv entgegenzuwirken. Angespornt wurden diese Bemühungen sicherlich von den Veränderungen im deutschen Parteiensystem, unter anderem von dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetzes im Jahre 1890. Auf der anderen Seite nutzten insbesondere die Sozialdemokraten die Möglichkeit, die konstitutionelle Monarchie im Rahmen der Korruptionskommunikation zu kritisieren. Sie argumentierten, Korruption sei eine inhärente Begleiterscheinung des (internationalen) Kapitalismus, die nur durch dessen Überwindung bekämpft werden könne. Da das Kaiserreich ein Hort des Kapitalismus sei – so die indirekte Schlussfolgerung – müsse Korruption auch hier notwendigerweise zu Tage treten. Im Vergleich zur Dritten Republik, in der man im Rahmen der Skandale

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Fazit

um eine öffentliche Auseinandersetzung mit den Korruptionserscheinungen bemüht sei, werde im Kaiserreich Korruption vertuscht. Doch anstatt aus ihrer Korruptionskritik die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution abzuleiten, plädierte die Sozialdemokratie sowohl in Bezug auf das Kaiserreich als auch auf die Dritte Republik stets ›nur‹ für Änderungen im Rahmen der bestehenden Ordnung. Die marxistisch-revolutionäre Rhetorik der sozialdemokratischen Parteiorgane – Überbleibsel aus Zeiten des Sozialistengesetztes – darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass Korruptionskritik kein revolutionäres Werkzeug war, sondern genutzt wurde, um reformorientierte Handlungsvorschläge zu unterbreiten. Gleiches lässt sich übrigens auch bei den französischen Sozialisten beobachten: Ebenso wie Liebknecht plädierte JaurHs in der Affaire Rochette für Veränderungen im Rahmen des bestehenden Systems, für Reform statt Revolution. Der Panamaskandal, das ist an dieser Stelle noch hervorzuheben, stellte nach 1892 eine beliebte Referenz dar, an der nicht nur die Ausmaße von Korruption, sondern auch die ›Gesundheit‹ des eigenen oder eines fremden Staatssystems bemessen wurden. Mit Blick auf die Polity-Dimension der Korruptionskommunikation können somit sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen Frankreich und Deutschland festgehalten werden: In keinem der beiden Länder wurde im Rahmen der Korruptionskommunikation ein unmittelbarer Angriff auf die Staatsform und deren grundlegende Organisation getätigt. In der Dritten Republik wurde das Staatssystem im Rahmen der Korruptionskommunikation jedoch rigoros bewertet und in seinen verschiedenen Facetten in Frage gestellt. Im Deutschen Kaiserreich wurde dieser Diskurs im Vergleich deutlich zurückhaltender und in indirekter Form, etwa über Verweise und Vergleiche, geführt. Eine wichtige Referenz stellten dabei ausländische Korruptionsfälle dar. Mit dem räumlichen Abstand ging eine argumentative Distanz einher, die den Akteuren ermöglichte, die Beziehung zwischen Korruption und Staat zu bewerten und in ihrem Urteil indirekt auch über den eigenen nationalen Status quo zu reflektieren. Als Ergebnis soll daher festgehalten werden, dass Korruptionskommunikation neue Freiräume in der politischen Kommunikation eröffnete. Zugleich stützen diese Beobachtungen jedoch auch die These Mark Hewitsons: Er argumentiert, dass die Alternativlosigkeit der konstitutionellen Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg durch die Rezeption benachbarter Demokratien und deren als Scheitern interpretierten Entwicklungen gestützt worden sei.1068 Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass im Rahmen der Korruptionskommunikation eben solche Anschauungen tatsächlich geäußert wurden. Durch die Abgrenzung von den korrupten parlamentarischen Nachbarn wurde die mo1068 Hewitson, The Kaiserreich in Question, S. 727. Auch: Ders., The Wilhelmine Regime and the Problem of Reform.

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ralische Überlegenheit des eigenen Systems betont. Die Korruptionskommunikation stabilisierte damit zugleich auch das eigene politische System.

7.2.2 Politische Partizipation, Interessenpolitik, Korruptionskommunikation Eine ähnliche Mischung aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden zeigt sich auch in Hinblick auf die Möglichkeiten der Akteure, im Rahmen der Korruptionskommunikation politische Inhalte zu gestalten und ihre Interessen umzusetzen (Policy-Dimension). Betrachtet man zu Beginn die Vorgehensweise der Akteure, so können in beiden Länder zwei gleiche Handlungsformen identifiziert werden, die allein oder auch in Kombination miteinander Verwendung fanden. Zum einen gab es die Möglichkeit, den Vorwurf der Korruption als Waffe gegen den politischen Opponenten, gegen eine Einzelperson oder gegen eine größere Personengruppe einzusetzen. Man denke hier beispielsweise an die Vorwürfe Laskers gegenüber Wagener. Diese Korruptionsdebatte zeigt beispielhaft, wie Wagener durch das Stigma der Korruption delegitimiert und letztlich zum Rückzug aus seinen Ämtern gezwungen wurde. Hinzu kam, dass die Zeitgenossen Wagener so selbstverständlich mit dessen Mentor Bismarck assoziierten, dass der Reichskanzler sich gezwungen sah, öffentlich Stellung zu beziehen. Lasker war es also nicht nur gelungen, Wagener und Mitglieder der konservativen Führungsriege zu belasten. Die Korruptionsdebatte hatte darüber hinaus auch Bismarck unter Druck gesetzt. Auf diese Weise konnte Lasker den unbedingten Partizipationswillen seiner Partei demonstrieren, die versuchte, sich gegen die Dominanz alteingesessener, konservativer Akteure durchzusetzen. Der französische Skandal der Dekorationen folgte einer ähnlichen Dynamik. Staatspräsident Gr8vy wurde im Rahmen der Korruptionsdebatte, die sich an den Handlungen seines Schwiegersohns entzündet hatte, zum Rücktritt gezwungen. Den skandalierenden Akteuren gelang es in diesen Fällen, in Entlang der Entwicklung der Korruptionsdebatten ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. Skandalierer und Nutznießer versuchten zum anderen auch, Korruptionsdebatten über deren eigentlichen Gegenstand hinaus auszuweiten, um Interessen zu verfolgen, die in keinem direkten Zusammenhang mit den Geschehnissen standen. Sie stellten zu diesem Zweck argumentative oder inhaltliche Verbindungen zwischen den Vorwürfen einerseits und unverbundenen Fällen oder Personen andererseits her. Auf diese Weise gelang es, Korruptionsdebatten mit tagespolitischen Themen zu verknüpfen oder auf einen größeren politischen Kontext zu verweisen. Karl Liebknecht beispielsweise nutzte die Korruptionsvorwürfe gegen Krupp, um die sozialdemokratische Ablehnung der Wehrvorlage 1913 argumentativ zu unterstützen. Er versuchte auf diese Weise, den so-

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Fazit

zialdemokratischen Reformvorschlägen Dringlichkeit und Wirkungsmacht zu verleihen. Eine weniger erfolgreiche Verknüpfung praktizierte hingegen die katholische Presse in den frühen 1870er Jahren, als sie behauptete, der Kulturkampf sei ein Ablenkungsmanöver gewesen, um von der Korruption ›der Juden‹ an der Börse abzulenken. Dieser Vorwurf verhallte in der politischen Sphäre quasi unbemerkt, zeigt aber, dass politische Akteure eine Vielfalt unterschiedlicher Thematiken mit Korruptionskommunikation verknüpften. Die Einzelstudien unterstreichen, dass den Möglichkeiten kaum Grenzen gesetzt waren; fast immer gelang es den Akteuren, einen argumentativen Zusammenhang zu konstruieren. Hierin liegt nicht zuletzt die Besonderheit des Korruptionsvorwurfs: Er war durch sein unabwehrbares moralisches Stigma von hoher Wirkkraft. Zugleich hob ihn seine flexiblen Verwendungsmöglichkeiten von ähnlich skandalösen Vorwürfen wie etwa dem der Homosexualität ab. Betrachtet man in einem zweiten Schritt, wann es den Akteuren gelang, im Kontext der Korruptionsdebatten ihre Interessen zu verwirklichen und politische Inhalte zu verändern, fallen Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich auf. Wie auch mit Blick auf die Polity-Dimension der Korruptionskommunikation schienen französische Akteure augenscheinlich erfolgreicher darin zu sein, ihre Interessen durchzusetzen. Tatsächlich wurden in der Dritten Republik im Zuge von Korruptionsdebatten wiederholt Regierungen gestürzt und sogar Staatspräsidenten zum Rücktritt gezwungen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass mit diesen scheinbar drastischen Konsequenzen häufig keine Veränderungen der politischen Machtverhältnisse einhergingen. Machtverschiebungen fanden stattdessen vor allem innerhalb der Parteien statt. Diese Beobachtungen müssen vor dem Hintergrund der politischen Kultur Frankreichs verstanden werden: Im Laufe ihres Bestehens war die Dritte Republik stets von schnellen Regierungswechseln gekennzeichnet, die oftmals eine Konsequenz der politischen Kommunikation darstellten. Im Rahmen der Korruptionskommunikation ist ihr Auftreten daher nicht als außergewöhnlich zu werten, sondern muss als etablierter Reaktionsmechanismus verstanden werden. Auch forcierte keine politische Richtung, wie bereits dargestellt, eine revolutionäre Umgestaltung des politischen Systems. Die Ziele, welche politische Akteure im Rahmen der Korruptionskommunikation verfolgten, bewegten sich im konstitutionellen Rahmen der Republik und zielten auf erweiterte Partizipation ab – was den Sozialisten beispielsweise durchaus gelang. In Bezug auf das Deutsche Kaiserreich erscheinen die Ergebnisse der Untersuchung im Vergleich zur Dritten Republik auf den ersten Blick unspektakulär : Weder stürzten Regierungen über den Vorwurf der Korruption, noch wurde ein Reichskanzler zum Rücktritt gezwungen. Tatsächlich konnte die Analyse jedoch offenbaren, dass es den politischen Akteuren in Deutschland gelang, im Rahmen der Korruptionskommunikation ihre konstitutionellen

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Handlungsoptionen und die Grenzen des Sagbaren zu testen und bisweilen zu überschreiten. Zwei Ergebnisse sind besonders hervorzuheben: (1) Bei der deutschen Korruptionskommunikation handelte es sich um eine Kommunikationsform, die sehr stark auf die mediale Vermittlung politischer Debatten angewiesen war. Über die Jahre entstanden auf diese Weise reziproke Verbindungen. Korruptionsdebatten beförderten die Herausbildung gegenseitig vorteiliger Beziehungen zwischen politischen Akteuren, der politischen Öffentlichkeit und den in der Entstehung begriffenen Massenmedien. So gelang es Politikern, Agitatoren und Regierungsvertretern im Rahmen der Korruptionsdebatten zunehmend, sich auf die Dynamiken der Medien einzustellen und diese für ihre Interessen zu nutzen. Man denke hierbei beispielsweise an den Tippelskirchskandal: Inspiriert durch und anknüpfend an die (links-)liberale Pressekampagne gegen Landwirtschaftsminister Podbielski, begann Reichskanzler Bülow, im Rahmen der Korruptionsdebatte seinerseits auf den Rücktritt des ihm unliebsamen Ministers hinzuwirken. Sein Ziel war dabei nicht die hintergründige Beeinflussung oder umfassende Kontrolle der Presse in der Art Bismarcks; er versuchte, die Dynamik der medialen Korruptionsdebatte für sein Ziel zu instrumentalisieren. Hervorzuheben ist, dass es sich weder in diesem noch in einem der anderen Fälle um eine einseitige Instrumentalisierung der Presse durch politische Akteure handelte. Dazu war nicht nur die wechselseitige Verquickung von Politik und Medien zu eng, auch entzog sich die Eigendynamik der Korruptionskommunikation der Kontrolle der Akteure. So erreichte Bülow zwar die Entlassung Podbielskis, wurde aber zugleich selbst zum Ziel eines medialen Angriffs, der seine Position im politischen Machtgefüge erheblich schwächte. Nichtsdestotrotz: Das Beispiel Bülow zeigt, dass politische Akteure lernten, im Rahmen der Korruptionskommunikation die Medien zu nutzen und auf diese Weise ihre Handlungsoptionen zu verbessern. Gleichermaßen stärkte die Korruptionskommunikation auch die Presse in ihrer Rolle als eigenständige, vermittelnde Kraft der politischen Kommunikation und die politische Öffentlichkeit als bedeutsame, legitimitätsstiftende Instanz. So diskutierten politische Akteure im Kontext von Korruptionsdebatten beispielsweise regelmäßig über die Rolle der Presse in der Politik, ihre Funktion und ihr Selbstverständnis. Vor allem die Sozialdemokraten, aber auch liberale Pressevertreter sprachen sich dabei wiederholt für eine unabhängige Presseberichterstattung aus; die SPD versuchte mithilfe der Welfenfonds-Vorwürfe sogar eine Debatte anzustoßen, die sich spezifisch dieser Thematik widmete. Erweitert man den Fokus an dieser Stelle über Korruptionsskandale hinaus, so illustrieren Ereignisse wie die Daily-Telegraph-Affäre 1908, in welchem Maße die Bedeutung der Presse im Verlauf des Kaiserreichs wuchs und dass (Korruptions-)Skandale dabei als Vehikel fungierten, die diesen Prozess beschleunigten. Parallel zu dieser Entwicklung wurde auch die politische Öffentlichkeit als

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Fazit

Teilnehmerin der politischen Kommunikation gestärkt. Im Kontext der Korruptionskommunikation wurde sie zunehmend als richtende Instanz beschworen und rivalisierende Akteure nahmen simultan für sich in Anspruch, das öffentliche bzw. das Gemeinwohlinteresse zu vertreten. Wenngleich diese Argumentationen zweifelsohne die individuellen Positionen der Akteure stärken sollten, so ließ sich im Verlauf der Untersuchung beobachten, dass politische Akteure immer seltener im direkten Widerspruch zur öffentlichen Meinung, die sich im Skandal als Empörung äußerte, handelten. Im Kornwalzerskandal beispielsweise war von staatlicher Seite erbeten worden, die Gerichtsverhandlungen gegen Krupp unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu führen. Diese Pläne erzeugten in der politischen Sphäre solche Empörung, dass die Staatsanwaltschaft beschloss, die Verhandlung doch für die Öffentlichkeit zu öffnen. Erstens kann also festgehalten werden, dass Skandale die (positive) Auseinandersetzung politischer Akteure mit den Mechanismen der Massenmedien verstärkten. Davon profitierten sowohl Politiker, denen es gelang, die Dynamiken der Medien in ihrem Sinne zu nutzen, als auch die Presse, deren Rolle als eigenständige Akteurin der politischen Kommunikation zunehmend anerkannt wurde. Interessanterweise ist an dieser Stelle hinzuzufügen, dass – anders als beispielsweise in Großbritannien – investigativer Journalismus im Rahmen der Korruptionskommunikation im Kaiserreich noch keine Rolle spielte.1069 Zwar wurden verschiedene Skandale durch mediale Vermittlung angestoßen, wie beispielsweise der Kornwalzerskandal oder der Titel- und Ordensschacher, doch standen hinter diesen Enthüllungen bekannte Politgrößen, die in der Presse namentlich auftraten und fest mit den Korruptionsvorwürfen assoziiert wurden, man denke hier an Karl Liebknecht oder Matthias Erzberger. Die Korruptionskommunikation stärkte schließlich auch die politische Öffentlichkeit, die in den Korruptionsdebatten ein Vehikel fand, um gegenüber den staatsführenden Personen, Institutionen und Organisationen an Macht zu gewinnen und sich energischer zu positionieren. (2) Ein ambivalentes Ergebnis offenbarte die Frage, inwiefern es den politischen Akteuren des Kaiserreichs möglich war, die Korruptionskommunikation zu nutzen, um ihre Handlungsspielräume zu vergrößern und eigene politische Interessen durchzusetzen. Einerseits zeigen die Einzelstudien, dass es den Akteuren durchaus gelang, ihre Freiräume (bisweilen auch über verfassungsgegebenen Bestimmungen hinaus) zu erweitern. Der Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen und der Tippelskirchskandal zeigen, dass mithilfe der Korruptionskommunikation Einfluss auf personalpolitische Entscheidungen, 1069 Zu der Entwicklung des Investigativen Journalismus in Großbritannien unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung von Skandal für diesen Prozess: Vgl. bsph. Bösch, Öffentliche Geheimnisse.

Korruptionskommunikation als Instrument der Interessenpolitik

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wie etwa die Benennung und Entlassung von Ministern, genommen wurde, für die theoretisch alleine der Kaiser und König verantwortlich zeichnete. So konnte Lasker 1873 den Rücktritt Wageners gegen den Willen des Reichskanzlers herbeiführen und 1906 entließ Kaiser Wilhelm II. entgegen seiner persönlichen Präferenzen den preußischen Landwirtschaftsminister Podbielski aus dem Dienst. Auch hat das Beispiel der Sozialdemokratie oder des politischen Antisemitismus gezeigt, dass es vor allem Randgruppen und politischen Außenseitern anhand der Korruptionskommunikation gelang, sich über die vom politischen Establishment etablierten Restriktionen hinwegzusetzen. Im Fall der SPD und der Antisemiten bedeutete dies, in die politische Kommunikation einzusteigen, mit den anderen Akteuren in Austausch zu treten und die eigenen inhaltlichen und ideologischen Positionen öffentlichkeitswirksam kundzutun. Der Vorwurf der Korruption war somit eine sehr schlagkräftige und vielseitige Waffe der politischen Kommunikation. Diese Beobachtung ergänzt die neuere kulturhistorische Forschung, welche die Frage nach der Modernität des Kaiserreichs neu gestellt und auf zunehmende parlamentarische wie auch demokratische Tendenzen verwiesen hat: Nicht zuletzt aufgrund der hohen moralischen Aufladung war Korruption als Thema der politischen Kommunikation von solch erheblicher gesellschaftlicher Relevanz, dass es von keinem Akteur der politischen Sphäre ignoriert werden konnte. So entstanden integrative Korruptionsdebatten, in deren Kontext Akteure die Inhalte der Politik in ihrem Sinne beeinflussen und die Grenzen Ihrer Handlungsmöglichkeiten testen und erweitern konnten. Zugleich stützen diese Ergebnisse aber auch kritischere Bewertungen des Deutschen Kaiserreichs und zeichnen damit ein ambivalentes Bild Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg. Hier sei besonders an die These Christoph Schönbergers erinnert, der von einer »negativen Parlamentarisierung« im Kaiserreich vor 1914 ausgeht. Er argumentiert, dass das Ziel der deutschen Parlamentarier die Kontrolle der Regierung gewesen sei, nicht aber die Übernahme der Regierungsverantwortung und damit auch keine wirkliche Parlamentarisierung der Exekutive. Darüber hinaus seien vor allem demokratisierende Tendenzen unterstützt worden, wie beispielsweise die Reform des restriktiven Dreiklassenwahlrechts. Wenn man sich nun die Ergebnisse dieser Studie noch einmal vor Augen führt, so finden sich Übereinstimmungen mit Schönbergers These. Er betont beispielsweise, dass der Zustand der ›negativen Parlamentarisierung‹ zu einer Politik der Demagogie führen könne. Da den Akteuren keine Regierungsverantwortung übertragen wurde, hätten diese auch kein Verständnis für die Konsequenzen ihres Handelns entwickelt. Erste Anzeichen einer solchen demagogischen Rhetorik finden sich exemplarisch in den Korruptionsvorwürfen der antisemitischen Agitatoren in der ersten Hälfte des Kaiserreichs. Diese spitzten sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der Rhetorik der Natio-

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Fazit

nalsozialisten weiter zu. Auch das Verhalten der deutschen Sozialdemokraten kann im Sinne Schönbergers als Beispiel für den ›negativen Parlamentarismus‹ des Kaiserreichs gedeutet werden. So stellten die Reformbemühungen der SPD zwar einen Versuch dar, die Inhalte der Politik mitzugestalten, sie unterstrichen zugleich aber auch, dass es der Partei nicht daran lag, die Voraussetzungen – das System als solches – zu verändern. Eine Parlamentarisierung und die Übernahme von Regierungsverantwortung standen nicht im Vordergrund der sozialdemokratischen Agitation. Diese Interpretation wird unter anderem durch die ablehnenden Reaktionen der Sozialdemokratie auf die Berufung des ersten sozialistischen Ministers, Alexandre Millerand, in die französische Regierung im Jahre 1899 gestützt. Auch konnte die Forschung zeigen, dass die SPD noch vor dem Ersten Weltkrieg gespalten war in die Fraktion der Revisionisten um Eduard Bernstein (pro Reform) und die sogenannten ›orthodoxen Marxisten‹ um August Bebel und Karl Kautsky, die weiterhin an der Revolution festhielten. Letztere wiederum stritten über die Frage, ob der revolutionäre Umsturz aktiv herbeigeführt werden müsse (Rosa Luxemburg) oder von selbst eintreten werde (revolutionärer Attentismus/Kautsky). Die Notwendigkeit, zwischen diesen gegensätzlichen Positionen zu vermitteln, bestimmte den Kurs der nationalen Parteiführung (und des Vorwärts), der je nach Forschungsposition entweder positiv als realpolitisch-reformorientiert oder aber als zu passiv interpretiert werden kann, um eine wirkliche Parlamentarisierung des Kaiserreichs voranzutreiben.

7.3

Gesellschaftlicher Normenwandel im Spiegel der Korruptionskommunikation

Korruptionsdebatten sind Orte gesellschaftlicher Normenaushandlungskonflikte. Die Analyse der Einzelstudien konnte diese letzte These nicht nur bestätigen, sondern auch eine langfristige Entwicklung identifizieren: Im Verlauf des Untersuchungszeitraums erfuhr das gesellschaftliche Normensystem des Deutschen Kaiserreichs eine deutliche Homogenisierung, welche sich in der zunehmend einstimmigen öffentliche Bewertung von mikropolitischen Praktiken spiegelt. Der Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen (1873) illustriert, dass kurz nach Gründung des Kaiserreiches noch ein gewisser interpretativer Spielraum bei der Beurteilung mikropolitischer Praktiken bestand. Im Besondern ist hier das Handeln von Amtsträgern gemeint, die ihre Positionen für private Interessen instrumentalisierten. Die Debatte, die um den Geheimen Staatssekretär Wagener entbrannte, hat gezeigt, dass zwar keine absolute und unmittelbare Verurteilung erfolgte, die Legitimität seines Handelns aber

Gesellschaftlicher Normenwandel im Spiegel der Korruptionskommunikation

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öffentlich in Frage gestellt wurde. Noch existierte kein gesellschaftlicher Konsens darüber, welche Normen die Sphären des Privaten und des Öffentlichen regelten und wie sich ›Grenzgänger‹ wie Wagener in diesem Spannungsfeld zu verhalten hatten. Über die im Rahmen des Skandals geführte, gesellschaftliche Normenaushandlungsdebatte hinaus lässt sich im Nachklang der Ereignisse auch eine erste legislative Spezifizierung beobachten. So legte Lasker dem Preußischen Landtag einen Antrag vor, der die Neuregelung der Beschäftigung von Staatsbeamten in der Privatwirtschaft forderte. Nach der Affäre um Wagener dauerte es drei Jahrzehnte, bis das Kaiserreich einen neuen Korruptionsskandal ähnlichen Ausmaßes erlebte. Die stetige Homogenisierung des gesellschaftlichen Normengefüges lässt sich jedoch anhand der Berichterstattung über die französischen Korruptionsskandale illustrieren. So wurden die Handlungen von Daniel Wilson 1887 und der Panama Compagnie 1892/93 in der politischen Sphäre des deutschen Kaiserreichs einstimmig als korrupt bewertet und benannt. Man sprach von Bestechung und Amtsmissbrauch und stimmte damit in das moralische Urteil der französischen Presse ein. Natürlich kam in diesen beiden Fällen hinzu, dass die Korruptionsvorwürfe nicht das Kaiserreich, sondern die Reputation des Nachbarn trafen. Erst 1906 galt es, sich im Rahmen des Tippelskirchskandals erneut mit eigenen Missständen auseinanderzusetzen; doch auch hier erklang nun ein einstimmiges gesellschaftliches Urteil. In der öffentlichen Wahrnehmung unterschied man deutlich zwischen privaten und öffentlichen Interessen und es galt nicht mehr länger als konform, im Rahmen eines Staatsamtes private Interessen zu verfolgen. Infolgedessen begrüßte die politische Presse eine offizielle Untersuchung im Fall Fischer einstimmig: Der intime Kontakt des Offiziers mit dem ihm geschäftlich anbetrauten Unternehmen galt bereits als unlauter und daher unakzeptabel, bevor der Vorwurf der Bestechung bewiesen war. Auch gegenüber Podbielski fand die Presse klare Worte: Man mahnte, es gehöre im Kaiserreich zum guten Ton, bei Übernahme eines Ministerportefeuilles private wirtschaftliche Unternehmungen zu beenden – eine Norm, der sich Podbielskis Nachfolger Bernhard von Dernburg bei Amtsantritt unterwarf. Einen Dialog über die Normen, welche die Bereiche privaten und öffentlichen Handelns regelten, wie er im Fall Wagener stattgefunden hatte, gab es 1906 nicht mehr. Im Gegenteil: vor allem in Bezug auf Fischer erfolgte die Stigmatisierung quasi automatisch; die Bewertung seiner Handlungen war kaum einer Erwähnung wert – sie war selbstverständlich. Im Fall Podbielski wurde im Vergleich zwar häufiger über dessen Vergehen gesprochen, was aber vor allem mit der exponierten Stellung des Ministers in der politischen Landschaft des Kaiserreichs zu tun hatte. Die Bewertung seiner Handlungen erfolgte dennoch einstimmig. Zaghafte Versuche aus dem Lager des Landwirtschaftsministers, die Handlungen zu rechtfertigen, erfuhren keinerlei Echo.

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Fazit

Die Ergebnisse von 1906 finden sich in dem Kornwalzerskandal wenige Jahre später weiter bestätigt: Mit Ausnahme einiger weniger, stark parteiischer Einzelstimmen bewerteten die Akteure der politischen Sphäre die Handlungen des Essener Rüstungsunternehmens einstimmig als illegitim. Ähnlich wie 1873 ist zudem zu beobachten, dass auch auf legislativer Ebene auf die gesellschaftspolitische Empörung reagiert wurde: Der gesellschaftliche Normenkonsens manifestierte sich 1913/14 in einer Reihe gesetzlicher Änderungen, die den Erwerb von Rüstungsmaterial stärkeren Auflagen unterwarfen. Hinzu kommt, dass der Kornwalzerskandal die erste Korruptionsdebatte des Reiches darstellt, in Zuge derer sich die als korrupt stigmatisierten Akteure vor Gericht verantworten mussten. In der Vergangenheit waren hingegen nicht selten Prozesse gegen die Skandalierer angestrengt worden, wie beispielsweise gegen Rudolf Meyer 1877 oder Johannes Fusangel 1891. Der Kornwalzerskandal markiert damit den vorläufigen Höhepunkt einer fortgesetzten Angleichung zwischen dem normativen Empfinden der Zeitgenossen und der juristischen Praxis, denn, so formulierte schon 1913 die Vossische Zeitung: »Für den juristisch nicht durchgebildeten Beobachter […] scheint […] nicht alles schon erlaubt, wenn es nicht mit Strafe bedroht ist.«1070 Wie spätere Korruptionsdebatten zeigen, war dieses Verhältnis noch lange durch ein Ungleichgewicht gekennzeichnet – und bleibt es vielleicht bis heute.1071 Der Skandal um die preußischen Eisenbahnkonzessionen, der Tippelskirchskandal und schließlich die Vorwürfe gegen Krupp: Diese Abfolge illustriert, dass im Verlauf des Kaiserreichs die Verbindung zwischen privatwirtschaftlichen Unternehmen und Staatsvertretern zunehmend kritisiert und in Folge reglementiert wurde. Ergänzt man die Auflistung um die Siemensskandalierung von 1914, so zeigt sich darüber hinaus die starke Kontextgebundenheit gesellschaftlicher Normen. Die Vergehen, welche die politische Öffentlichkeit während des Kornwalzerskandals einstimmig als korrupt gebrandmarkt hatten, erregten nur wenige Monate später in einem leicht veränderten Kontext kaum Aufmerksamkeit. Der bedeutende Unterschied: Von den Vorwürfen gegen Siemens war ein fremdes Land betroffen, zu dem die deutsche Gesellschaft über eine nur geringe bis keine Bindung verfügte. An dieser Stelle zeigt sich die Bedeutung desjenigen abstrakten Gemeinwohlkonzepts, das für die Korruptionskommunikation eine essenzielle Rolle spielte. Die Legitimität bzw. Illegitimität und in Folge dessen die Skandalierbarkeit einer mikropolitischen Praktik 1070 Vossische Zeitung, Der Fall Krupp, 7.11.13. 1071 Die Enthüllungen der »Panama Papers« stellten einen vorläufigen Höhepunkt in dem gesellschaftlichen Diskurs um Offshore-Firmen dar. In den nächsten Jahren und im Kontext der größtenteils noch ausstehenden juristischen Prozesse, die sich aus den Enthüllungen ergeben haben, wird sich zeigen, ob einige der Einwände, die seit Jahren aus der politischen Sphäre erklingen, in legislativen Änderungen umgesetzt werden.

Gesellschaftlicher Normenwandel im Spiegel der Korruptionskommunikation

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hing in hohem Maße davon ab, ob diese von der Gesellschaft als nutzbringend oder als schädlich für die Allgemeinheit bewertet wurde.1072 Im Fall Siemens waren die Folgen der Bestechung für die japanische Gesellschaft in Deutschland kaum nachzuvollziehen, für das Kaiserreich selbst waren sie hingegen sogar gewinnbringend. Die Kritik Liebknechts an den Vorgängen blieb also auf eine rein moralisch-prinzipielle Ebene beschränkt und rief daher kaum Resonanz hervor. Ergänzend ist hinzuzufügen, dass die gesellschaftliche (und juristische) Akzeptanz von Bestechung im Ausland über Jahrzehnte unverändert bestand. Ironischerweise löste ein weiterer Skandal um Siemens in den 1990er Jahren eine gesellschaftliche Normendebatte aus, in deren Folge weitreichende legislative Veränderungen stattfanden.1073 Neben dem Gemeinwohlprinzip sei abschließend auf die Bedeutung von Gewohnheiten hingewiesen, deren Existenz wiederholt Normendebatten herausforderte. So illustriert der Titel- und Ordensschacher von 1914 beispielhaft, wie jahrzehntelang gewachsene Gewohnheiten und Bräuche neben ihnen widersprechenden Regelungen fortbestanden und zu einem Zustand der Normenkonkurrenz führten. So war innerhalb der preußischen Regierung seit Jahrzehnten bekannt, dass Titel und Orden routinemäßig in einer Form verliehen wurden, die mit den offiziellen Richtlinien nicht übereinstimmte. Über die Jahre versuchten einzelne Regierungsvertreter verschiedentlich, mit schriftlichen Ermahnungen auf diesen Umstand einzuwirken. Als es im Rahmen der Liebknecht’schen Enthüllungen zu einer internen Untersuchung kam, offenbarte sich jedoch, dass diese ergebnislos gewesen waren und die Praktiken unverändert weiterbestanden hatten. Ferner zeigte sich, wie stark sie tatsächlich etabliert waren: Vonseiten des Justizministeriums wurde von einem juristischen Vorgehen gegen den Skandalierer Liebknecht abgeraten, da dessen Vorwürfe nicht zu bestreiten seien. Darüber hinaus herrschte unter den der Korruption bezichtigten Akteuren, ähnlich wie auch im Kornwalzerskandal, kein Verständnis für die Anklage der als Gewohnheiten verteidigten Praktiken. Dieser Umstand zeigt: Hier konkurrierten (auf Teilöffentlichkeiten beschränkte) Alltagsnormen mit juristischen oder legislativen Normen – eine Parallelität, die durch den Vorwurf der Korruption öffentlich zur Debatte gestellt werden konnte.

1072 Zu der Bedeutung von Allgemeinwohl in der Bewertung mikropolitischer Praktiken vgl. Köhler, Genossen – Freunde – Junker, VI. 2. Gemeinwohl und Legitimation: Regeln der Mikropolitik, S. 308f. 1073 Vorraussichtlich: Cornelia Rauh/Hartmut Berghoff: Die große Transformation. Die Geschichte der Siemens AG im Zeitalter der Globalisierung, 1966–2001, geplante Veröffentlichung. Vgl. auch Verweis 1000.

330

7.4

Fazit

Ausblick

Im Laufe der Analyse haben sich en passant neue Fragen ergeben, die weiterführende Forschungsperspektiven aufzeigen und die Möglichkeit bieten, die hier gewonnenen Resultate zukünftig zu ergänzen. So scheint der Versuch lohnenswert, das Konzept der Korruptionskommunikation (1) über den eng definierten Raum des Politischen hinausgehend zu betrachten. Unter dieser Prämisse könnten beispielsweise zivilgesellschaftliche Prozesse wie Vereinsgründungen, juristische Entwicklungen oder auch mikropolitische Praktiken im Bereich der Wirtschaft interpretiert und untersucht werden.1074 Erste Forschungsarbeiten in diese Richtung liegen bereits vor und bieten neue Anknüpfungsmöglichkeiten: Sie beschäftigten sich unter anderem mit der Verflechtung von Wirtschaft und Politik, deren internen Mechanismen und öffentlicher Wahrnehmung sowie mit Fragen der Wirtschaftsethik.1075 Die Verortung aktueller Korruptionsdebatten durch die Zeitgenossen in einem Netz aus historischen und internationalen Referenzen und Vergleichen verweist zudem auf das Potenzial diachroner (2) sowie horizontaler (3) Vergleiche. Engels hat hier mit seiner Monographie »Die Geschichte der Korruption« einen Grundstein gelegt und bereits wertvolle Erkenntnisse zusammengetragen. Die dort und in einer Vielzahl von Einzelstudien gemachten Beobachtungen inspirieren Fragen nach der Beschaffenheit der Korruptionskommunikation, nach nationalen Unterschieden und Gemeinsamkeiten einerseits und der Entstehung und Funktion diskursiver Kontinuitäten andererseits. Korruptionskommunikation scheint zudem in einem noch näher zu beleuchtenden Verhältnis zu Krisen- und Stabilitätsvorstellungen zu stehen. Fahrmeir diagnostizierte in diesem Zusammenhang eine Schlagseite in der Forschung, die bisher vor allem krisenanfällige Systeme untersucht habe.1076 Die vorliegende Arbeit ist ein erster wichtiger Schritt, um Korruptionskommunikation systematisch für ein stabiles politisches Gebilde zu untersuchen. Auch entstehen momentan mehrere Forschungsarbeiten, die Korruption in Übergangszeiten erforschen – in Phasen also, in denen die politische Ordnung 1074 Vgl. bsph. die Forschungen von Volker Köhler und Anna Rothfuss zu dem Verein gegen das Bestechungsunwesen: Köhler/Rothfuss, Ehrbare Kaufmänner und unlauterer Wettbewerb. 1075 Sammelband: Engels/Fahrmeir/Monier/Dard (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft; Berghoff/Rauh/Welskopp, Tatort Unternehmen; sowie: Shady Businness. White Collar Crime in History, 18.–20. September 2014 in Washington, D. C. Ausgerichtet von dem GHI Washington. Tagungsband in Vorbereitung. Tagungsbericht von Hartmut Berghoff/Uwe Spiekermann: »Shady Business: White Collar Crime in History«, in: Bulletin of the GHI 56 (2015), http://www.ghi-dc.org/fileadmin/user_upload/GHI_Washington/Publications/ Bulletin56/bu56_115.pdf (10. 10. 2016). 1076 Vgl. Fahrmeir, Investitionen in politische Karrieren, S. 67–88.

Ausblick

331

Deutschlands grundlegende Änderungen erfuhr oder die einen Wechsel in der Wahrnehmung des politischen Systems markieren. Trotzdem ist zu wünschen, dass neue Arbeiten die Beziehung von Korruption und Krise, aber vor allem von Korruption und Stabilität auch im internationalen Vergleich eingehender untersuchen. Gerade eine Verknüpfung außereuropäischer mit europäischen Forschungsergebnissen scheint in diesem Zusammenhang interessant. So zeigen die Untersuchungen von William Gould zu Uttar Pradesh/Indien und die Studien Stephan Ruderers zu Argentinien, dass in diesen Ländern/Bundesstaaten mitunter andere mikropolitische Praktiken in unterschiedlicher Streuung verbreitet waren. Zugleich legen die Ergebnisse der beiden Wissenschaftler jedoch nahe, dass die von ihnen untersuchten Korruptionsdebatten ähnlichen Mechanismen unterworfen waren.1077 Gould betont zudem den Einfluss der indischen Unabhängigkeit 1947 auf die Wahrnehmung von Korruption und den öffentlichen Umgang mit dem Thema. Mit Blick auf diese Ergebnisse wäre es vor allem interessant, die Entwicklung der öffentlichen Wahrnehmung von Korruption historisch nachzuverfolgen und die Wechselwirkungen von Korruptionskommunikation und politischen Systemen im Vergleich mit bereits bekannten europäischen Beispielen zu erforschen. Mit Hinblick auf die Kolonialgeschichte dieser Länder wäre außerdem an eine auf Kulturtransfer konzentrierte Untersuchung zu denken. Ein solches Vorgehen würde den nationalen Rahmen, der die Korruptionsforschung bisher in vielerlei Hinsicht stark geprägt hat, zu einem gewissen Grade auflösen. Neben dem Kulturtransfer ist hierbei noch an weitere kulturgeschichtliche Zugänge zu denken, die unter anderem Austauschprozesse in den Blick nehmen, so etwa die transnationale Geschichte oder die Histoire Crois8e. Der Vergrößerung oder Auflösung des nationalen Referenzrahmens steht abschließend die Verkleinerung gegenüber. So hat das Beispiel des Bochumer Steuerprozesses gezeigt, dass (4) auch die kommunale Korruptionskommunikation einen lohnenden Forschungsgegenstand darstellt. Dabei ist nicht nur an den Transfer der Korruptionskommunikation zwischen nationalem und kommunalem Level zu denken, auch die Erforschung kommunaler Netzwerke und lokaler Eigenheiten verspricht interessante Erkenntnisse. Das Beispiel des Backschischskandals 1914 in Köln (vgl. Anhang) verweist beispielsweise auf ein lokalspezifisches Narrativ, das der Kölner Korruptionskommunikation zu eigen war. Erste Untersuchungen, die sich der ›Korruption im Kleinen‹ widmen, wurden unter anderem auf einer internationalen Konferenz in Annweiler am 1077 Vgl. William Gould: »From Subjects to Citizens? Rationing, Refugees and the Publicity of Corruption over Independence in UP«, in: Modern Asian Studies 45 (2011), S. 33–56; Stephan Ruderer: »Crisis and Corruption. The Anglo-Argentine Scandal Sourrounding the Privatisation of the Buenos-Aires Sanitary Works 1888–1891«, in: Monier/Dard/Engels/Fahrmeir (Hrsg.), Scandales et Corruption, S. 66–79.

332

Fazit

Trifels im April 2016 vorgestellt. Die Veröffentlichung der Ergebnisse ist geplant.1078 Eine Untersuchung dieser unterschiedlichen Fragestellungen würde nicht nur die Ergebnisse dieser Arbeit sinnvoll ergänzen, sondern auch die Möglichkeit einräumen, diese zu überprüfen und breiter zu kontextualisieren. Insbesondere mit Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte und die Mikrogeschichte, die in den letzten Jahren zur Neubewertung des Kaiserreichs beigetragen haben, erscheint eine perspektivische Erweiterung auf Korruptionskommunikation erfolgversprechend. So könnte das Kaiserreich in all seinen Facetten untersucht und Unterschiede zu vorangegangenen und nachfolgenden Epochen hervorgehoben werden. Die vorliegende Dissertation hofft, mit ihren Ergebnissen einen ersten Schritt in diese Richtung gegangen zu sein. Sie hat zeigen können, dass Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich zu einem wichtigen Element der politischen Kommunikation avancierte, das Prozesse beschleunigte und prägte, die als kritische Voraussetzungen auf dem Weg eines Staates zur Modernisierung gelten: Sie trug zu einer Homogenisierung des gesellschaftlichen Normensystems bei und prägte maßgeblich das Verhältnis von Politik und Wirtschaft. Korruptionskommunikation veränderte das Verhältnis zwischen Presse, Politik und Öffentlichkeit und stellte ein demokratisierendes Element der politischen Kommunikation dar. Akteure aller politischen Überzeugungen und aus verschiedenen politischen Sphären nutzten sie als Instrument, um an der politischen Kommunikation teilzuhaben. Sie bot Raum, um über die Entwicklung des eigenen Staatssystems zu reflektieren und diese zu bewerten. Darüber hinaus ermöglichte Korruptionskommunikation den Akteuren, ihre verfassungsgegebenen Spielräume auszutesten oder sich in den etablierten Rahmenbedingungen der politischen Landschaft neue Freiräume zu schaffen. Zugleich zeigt die Untersuchung der deutschen Korruptionskommunikation aber auch, dass die politischen Akteure des deutschen Kaiserreichs zwar über die Grenzen der konstitutionellen Monarchie und ihre Möglichkeiten, diese zu verändern, reflektierten, die grundlegende Existenz dieses Systems aber nicht in Frage stellten.

1078 Die Konferenz Stadt – Macht – Korruption. Praktiken, Debatten und Wahrnehmungen städtischer Korruption im 19. und 20. Jahrhundert fand vom 27.–29. April 2016 in Annweiler am Trifels statt und wurde von dem DFG/ANR Projektverbund Poc/K organisiert. Die Ergebnisse wurden in einem Tagungsband veröffentlicht: Jens Ivo Engels/Andreas Fahrmeir/Cesare Mattina/Fr8d8ric Monier (Hrsg.), Stadt – Macht – Korruption (= Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, Bd. 20), Stuttgart 2017.

8

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Diese Auflistung unternimmt den Versuch, die Korruptionskommunikation des Kaiserreichs möglichst vollständig zu erfassen und dabei auch auf kleinere Korruptionsdebatten zu verweisen, die im Rahmen der Untersuchung leider nur angeschnitten werden konnten oder aus strukturanalytischen Gründen keine Erwähnung fanden. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, möchte aber als Referenz- und Startpunkt für weitere Forschungsvorhaben dienen. Sofern die Korruptionsdebatten in der Arbeit nicht aufgeführt werden, sind an dieser Stelle erste Quellen- bzw. Literaturhinweise vermerkt, die als Ausgangspunkt einer Recherche dienen können.

Kurzbeschreibung Der nationalliberale Abgeordnete Eduard Lasker beschuldigt in einer Rede vor dem preußischen Abgeordnetenhaus den Geheimen Rat Wagener (Proteg8 Bismarcks) sowie Vertreter der konservativen Aristokratie der »Vetternwirtschaft«. Dem Eisenbahnunternehmer Strousberg werden im Zug des Skandals der preußischen Eisenbahnkonzessionen »korrupte« Geschäftspraktiken unterstellt. Gegen Strousberg wird 1876 in Moskau wegen Bestechung prozessiert.

Bezeichnung

Skandal der preußischen Eisenbahnkonzessionen

Korruptionsvorwürfe gegen Bethel Henry Strousberg

Datum

1873

um 1873

Vgl. Kap. 2. Auch: Borchart, Joachim: Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg, München 1991. Roth, Ralf: »Der Sturz des Eisenbahnkönigs Bethel Henry Strousberg. Ein jüdischer Wirtschaftsbürger in den Turbulenzen der Reichsgründung«, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 10 (2001), S. 86–111. Prozessberichterstattung unter anderem in der St. Petersburger Zeitung (Stabi Berlin ZA, Ztg 574 MR)

Vgl. Kap. 2.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

334 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Bezeichnung

Lange Korruptionsdebatte: Antisemitismus – Liberalismus – Korruption

Datum

1875–1878

(Fortsetzung)

Verschiedene konservative und antisemitische Agitatoren erheben Korruptionsvorwürfe u. a. gegen Reichskanzler Bismarck, Rudolph von Delbrück (u. a. Präsident des Reichskanzleramts), Otto von Camphausen (preußischer Finanzminister) und Johannes von Miquel (preußischer Finanzminister). Skandalöse Episoden: 1874/75 Otto Glagau veröffentlicht in der Gartenlaube die Artikelserie »Der Börsenund Gründungsschwindel« 1875 Die Kreuzzeitung veröffentlicht die Artikelserie: »Die Aera BleichröderDelbrück-Camphausen und die neudeutsche Wirthschaftspolitik« 1876 Johannes Miquel bezieht vor dem Reichstag Stellung zu den gegen ihn gerichteten Korruptionsvorwürfen 1876 Die Deutsche Eisenbahnzeitung veröffentlicht die Artikelserie »Der Industriöse Staatsmann« 1877 Bismarck strengt eine Verleumdungsklage gegen Rudolf Meyer an, dieser veröffentlicht »Politische Gründer und die Corruption in Deutschland«

Kurzbeschreibung

Vgl. Kap. 3. Auch: Gartenlaube: In Ausschnitten online: https://de.wikisource.org/wiki/ Die_Gartenlaube_(1871) (9. 8. 2017). »Ära-Artikel« der Kreuzzeitung: Stabi Berlin ZA, Ztg 1961 MR. Deutsche Eisenbahnzeitung: Stabi Berlin ZA, Ztg 133 MR. Reichstagsprotokolle online einzusehen unter : http://www.reichstagsprotokolle.de/ index.html (16. 5. 2017). Meyer, Rudolf: Politische Gründer und die Corruption in Deutschland, Leipzig 1877. Die Universität Frankfurt hat wichtige Quellendokumente des politischen Antisemitismus gescannt und online verfügbar gemacht: http:// sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/judaica/ nav/index/all (16. 5. 2017).

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

335

Über mehrere Jahre richten unterschiedliche (antisemitische) Akteure Korruptionsvorwürfe gegen den Privatbankier Bismarcks, Gerson von Bleichröder. Antisemitische Agitatoren klagen den Bureau-Chef des Geheimen Zivilkabinetts Manch8 des Titelhandels an.

Korruptionsvorwürfe gegen Gerson von Bleichröder

Vorwurf des Titelhandels gegen den Staatsbeamten Manch8

Skandal der Dekorationen (Frankreich)

1873–1877

1885 Thematisiert in den 1890er Jahren

1887

Ahlwardt, Hermann: Die Prozesse Manch8 und Bleichröder, Berlin 1891.

Stern, Fritz: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Reinbek bei Hamburg 1988.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Die deutsche Presse berichtet über den Vgl. Kap. 4. französischen Skandal der Dekorationen. Daniel Wilson, Schwiegersohn des französischen Präsidenten Jules Gr8vy, wird beschuldigt, Titelhandel betrieben zu haben. Die Affäre endet mit dem Rücktritt Gr8vys.

Kurzbeschreibung

Bezeichnung

Datum

(Fortsetzung)

336 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Bezeichnung

Bochumer Steuereinschätzungen

»Judenflinten«-Affäre

Datum

1890

1890

(Fortsetzung) Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Der katholische Redakteur Johannes Fusangel beschuldigt die Bochumer Steuereinschätzungskommission der »Vetternwirtschaft« – ausgewählte Bürger seien wissentlich zu gering besteuert worden. Die Staatsanwaltschaft Essen erhebt gegen Fusangel Klage wegen Beleidigung.

O. A., Der Bochumer Steuerprozeß 1891. Verhandlungen der Strafkammer des königlichen Landgerichts zu Essen am 1. bis 6., 8., 9., 11., 12. und 19. Juni gegen die Redakteure der »Westfälischen Volkszeitung« in Bochum. Chefredakteur Fusangel und verantwortlicher Redakteur Lunemann, Hagen i. Westfalen 1891. GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49799 I. Prozess wider den Redakteur Johannes Fusangel zu Bochum wegen Beleidigung der Einschätzungkommission. Der antisemitische Agitator Hermann Vgl. Kap. 3. Ahlwardt erhebt den Vorwurf, die jüdische Auch: Ahlwardt, Hermann: Neue Enthüllungen. Gewehrfabrik Löwe verkaufe dem Deutschen Reich minderwertige Ware. In Judenflinten, Dresden15 1892. dem Werk komme es u. a. auch zu Jahr, Christoph: »Ahlwardt on Trial: Bestechungen der aufsehenden Beamten. Reactions to the Antisemitic Agitation of the 1890s in Germany«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 48 (2003), S. 67–85.

Kurzbeschreibung

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

337

1892/93

Bochumer »Schienenflickerei«

1892

Der katholische Redakteur Johannes Fusangel erhebt den Vorwurf, der Bochumer Verein vertreibe »geflickte«, d. h. mangelhafte Schienen. Die Debatte wird von der Sozialdemokratie auf nationaler Ebene mit Fusangels Korruptionsvorwürfen von 1891 verbunden.

Kurzbeschreibung

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Vgl. Kap. 4. Auch: GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 49799, II. Die Untersuchung wegen angeblich im Bochumer Verein verübter Fälschung von Schienenstempeln GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 56489–56490, Fälschungen von Schienenstempeln im Bochumer Verein für Bergbau und Gussstahlfabrikation und fahrlässiger Falsch-Eid des Geheimen Kommerzienrates Ludwig Baare aus Bochum u. a., Bd. 1–2, 1891–1892 Panamaskandal (Frankreich) Die deutsche Presse berichtet über den Vgl. Kap. 4. französischen Panamaskandal. Einführend: Nach dem finanziellen Zusammenbruch Mollier, Jean-Yves: Le Scandal de Panama, der französischen Kanalbaugesellschaft Paris 1991. wird bekannt, dass diese über Jahre Presse Bouvier, Jean: Les Deux Scandales de und Politiker bestochen hatte, um das Panama, Paris 1964. Blic, Damien de: Moraliser l’argent. Ce que öffentliche Image der Firma positiv zu beeinflussen und finanzielle Unterstützung Panama a chang8 dans la soci8t8 FranÅaise (1889–1897), in: Politix 71(2005), Nr. 3, einzuwerben. S. 61–82.

Bezeichnung

Datum

(Fortsetzung)

338 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Bezeichnung

Der Missbrauch des Welfenfonds

Datum

1892

(Fortsetzung)

Die Sozialdemokratie beschuldigt Bismarck, Gelder aus dem Welfenfonds genutzt zu haben, um Vertreter der Presse zu beeinflussen. Die Skandalierung erfolgt im Zuge der Panamaberichterstattung und in Anschluss an die Enthüllungen über die Emser Depesche. Während der Amtszeit Bismarcks werden ähnliche Vorwürfe bereits von unterschiedlichen Seiten thematisiert.

Kurzbeschreibung

Vgl. Kap. 4. Auch: Philippi, Hans: »Zur Geschichte des Welfenfonds«, in: Niedersächsisches Jahrbuch zur Landesgeschichte 31 (1959), S. 190–254. Nöll von der Nahmer, Robert: Bismarcks Reptilienfonds. Aus den Geheimakten Preussens und des Deutschen Reiches, Mainz 1968. Engels, Jens Ivo: »Panama in Deutschland: Der Panama-Skandal in der deutschen Presse 1892/1893«, in: Andreas von Gelz/ Sabine Ruß-Sattar/Dietmar Hüser (Hrsg.), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin 2014, S. 107–124.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

339

Kurzbeschreibung Komplexer Skandal in dessen Mittelpunkt der Staatssekretär des Äußeren, Marschall von Bieberstein, ein Agent der Berliner Politischen Polizei, Eugen v. Tausch, die Journalisten Leckert und Lützow sowie der Vertraute Wilhelms II., Philipp von Eulenburg, stehen. Augenscheinlich geht es um sogenannte »Preßtreiberei«: Leckert und Lützow sind angeklagt, inkriminierende Falschmeldungen publiziert zu haben. Im Hintergrund spielen sich jedoch interne Machtkämpfe zwischen Mitgliedern des Regierungsapparates und des Beraterzirkels um Wilhelm II. ab, bei denen Mitglieder der politischen Polizei instrumentalisiert werden. Der Vorwurf der Korruption spielt innerhalb des Skandals wiederholt eine Rolle.

Bezeichnung

Affäre Tausch, Leckert, Lützow

Datum

1896

(Fortsetzung)

Bösch, Öffentliche Geheimnisse, S. 343f. Fricke, Dieter : »Die Affäre Leckert-LützowTausch und die Regierungskrise von 1897 in Deutschland«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 7 (1960), S. 1579–1603. Wilke, Ekkehard-Teja: »Clipping the Wings of the Hohenlohe Ministry : Marschall von Bieberstein, the Bismarck Revelations, and the Leckert-Lützow Scandal«, in: Studies in Modern European History and Culture 2 (1976), S. 211–234. Wilke, Ekkehard-Teja: Political Decadence in Imperial Germany : Personnel-political Aspects of the Government Crisis 1894–1897, Urbana 1976. O. A., Die politische Polizei in Preußen. Bericht über die Verhandlungen im Prozeß Leckert-Lützow-Tausch am 2., 3., 4. und 7. Dezember 1896 vor dem Landgericht I zu Berlin, Berlin 1896.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

340 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Bezeichnung

Dresdener Presseskandal

Tippelskirchskandal

Datum

1901

1906

(Fortsetzung)

Artikelserie in der Berliner Morgenpost, September 1901 bsph. Berliner Morgenpost, Dresdener Panama!, 19. 9. 1901. Berichterstattung des Vorwärts 19. 9. 1901–29. 9. 1901, bsph. Ders., Bürgerliche Preßkorruption, 19. 9. 1901; Ders., Gekaufte Meinung, 20. 9. 1901. Vgl. Kap. 5.

Der (später sozialdemokratische) Journalist Georg Bernhard erhebt in der Berliner Morgenpost den Vorwurf, Dresdener Journalisten seien bestochen worden, um den Zusammenbruch der Dresdner Creditanstalt zu verhindern. Der im Reichsdienst stehende Major Fischer wird verdächtigt, sein Amt zum persönlichen Vorteil missbraucht zu haben. Im Verlauf der Enthüllungen deckt der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger weiterhin auf, dass der preußische Landwirtschaftsminister Victor von Podbielski Anteilseigner eines Unternehmens ist, deren Hauptkunde das Deutsche Reich ist. Im weiteren Verlauf wird Reichskanzler Bülow in den Skandal verwickelt; ihm wird in der Presse unterstellt, die Entlassung Podbielskis zu forcieren.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Kurzbeschreibung

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

341

Kurzbeschreibung Bereits seit den 1890er Jahren entsteht im Deutschen Kaiserreich ein Diskurs, der sich kritisch mit den Kolonien auseinandersetzt und in dessen Kontext immer wieder auch – häufig am Rande – Korruptionsvorwürfe thematisiert werden. Zwischen 1905 und 1907 stößt im Besonderen der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger verschiedene Kolonialskandale an, in denen nicht nur Korruptionsvorwürfe innerhalb der Kolonien, sondern auch in der deutschen Reichsverwaltung verhandelt werden. So greift Erzberger beispielsweise die Aussagen des Reichsbeamten Pöpelau auf, der Missstände wiederholt reklamiert hatte (u. a. bei einem Mitglied der Freisinnigen Partei, Dr. Hermann Müller). Gegen Pöpelau wird eine interne Ermittlung wegen Verstoßes gegen das Amtsgeheimnis eingeleitet.

Bezeichnung

Korruptionsvorwürfe im Rahmen der Kolonialskandale

Datum

Schwerpunktjahre 1905–1907

(Fortsetzung)

Vgl. Kap. 5. Auch: Erzberger, Matthias: Die Kolonial-Bilanz. Bilder aus der deutschen Kolonialpolitik auf Grund der Verhandlungen des Reichstags im Sessionsabschnitt 1905/06, Berlin 1906. Bösch, Frank: »Der Ankläger. Erzberger und die Kolonialpolitik im frühen 20. Jahrhundert«, in: Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hrsg.), Matthias Erzberger : Ein Demokrat in Zeiten des Hasses, Stuttgart 2013, S. 47–71. Leitzbach, Christine: Matthias Erzberger. Ein kritischer Beobachter des Wilhelminischen Reiches 1895–1914, Frankfurt a. M. 1998. Vorwärts, Die Vertuschung der Kolonialkorruption, 19. 8. 1906 Vorwärts, Die Verantwortlichen des Vertuschungssystems, 18. 8. 1906. Erklärung des Staatssekretärs v. Richthofen vor dem Deutschen Reichstag in der Angelegenheit Pöpelau, 12. Sitzung des Deutschen Reichstags, 11. Legislaturperiode, 14. 12. 1905.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

342 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

1911

Kurzbeschreibung

Der SPD wird auf nationaler Ebene vonseiten der Konservativen vorgeworfen, der SPD-Funktionär Kirsch habe Gelder aus der Parteikasse veruntreut. Der Vorwurf taucht 1914 als Versuch der Gegenskandalierung im Titel- und Ordensschacher-Skandal auf, konnte aber bisher nicht in Quellen aus dem Jahre 1909 belegt werden. Gründung des Vereins gegen Der Verein veröffentlicht mehrmals im Jahr das Bestechungsunwesen eine Vereinszeitung, in der er vor allem über kommunale Korruptionsfälle aus dem Reich berichtet. Ähnliche in den Quellen nachgewiesene Vereine: Verein gegen Unwesen in Handel und Gewerbe (Zeitung: Der Weckruf), Quellennachweise u. a. für das Jahr 1907 Verein gegen Unwesen in Handel und Gewerbe Köln

Bezeichnung

1909 Skandal Hermann Kirsch Thematisiert: 1914 (unbestätigt)

Datum

(Fortsetzung)

Köhler, Volker/Rothfuss, Anna: »Ehrbare Kaufmänner und unlauterer Wettbewerb. Der Verein gegen das Bestechungsunwesen 1911–1935«, in: Engels, Jens Ivo/Fahrmeir, Andreas/Monier, Fr8d8ric/Dard, Olivier (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft, Köln 2015. Verein gegen das Bestechungsunwesen e.V, Vereins-Mitteilungen, Erster Jahrgang 1911. O. A., 100 Jahre Verein gegen Unwesen in Handel und Gewerbe Köln e.V. 1885–1985, o. O. 1985.

Berliner Neueste Nachrichten, Die Sozialdemokratischen Enthüllungen, 25. 5. 1914.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

343

Kornwalzerskandal

1913

Kurzbeschreibung

Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht enthüllt, dass das Essener Rüstungsunternehmen Krupp jahrelang Berliner Beamte bestochen hat, um Wettbewerbsvorteile zu erlangen. Es kommt zu mehreren Prozessen sowohl gegen das Unternehmen als auch gegen Beamte der Heeresverwaltung. 1913 Veruntreuung von Der SPD wird im Titel- und Thematisiert: 1914 Witwengeldern (unbestätigt) Ordensschacher-Skandal von konservativer Seite vorgeworfen, die Königsberger Parteivertretung treibe Missbrauch mit den Geldern der dortigen Witwenkasse.

Bezeichnung

Datum

(Fortsetzung)

Neue Preußische Zeitung, Sozialdemokratischer Mißbrauch von Witwengeldern, 20. 2. 1914MA.

Vgl. Kap. 6.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

344 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Kurzbeschreibung Germania und Vorwärts thematisieren während des Kornwalzerskandals (Nebenskandalierung) die wirtschaftliche Situation der Verlagsgruppe von Rudolf Scherl. Die Behauptung steht im Raum, Scherl habe vor dem Bankrott gestanden und sei nur durch die von Landwirtschaftsminister Schorlemer-Alst initiierte Initiative des Bankhauses Oppenheimer gerettet worden. Motiv für die in der sozialdemokratischen und katholischen Presse unter moralischrechtlichen Aspekten kritisch beäugte Rettung sei die Verhinderung einer Übernahme durch die liberalen Verlage Ullstein oder Mosse gewesen.

Bezeichnung

Korruptionsvorwürfe gegen Oppenheim – Scherl

Datum

1913

(Fortsetzung)

Mendelssohn, Peter de: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 1982, S. 233–239. Vorwärts, Krupp-Geschütze gegen Rechtspflege, 30. 10. 1913. Vorwärts, Die Krupptaler rollen, 12. 11. 1913. Germania, Berliner Lokal-Anzeiger und Krupp-Prozeß, 12. 11. 1913AA.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

345

Bezeichnung

Siemensskandalierung

Kölner »Backschischskandal«

Datum

1/1914

1/1914

(Fortsetzung)

Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht beschuldigt im Vorwärts die Firma Siemens, japanische Beamte bestochen zu haben, um die Auftragsvergabe vor Ort zu beeinflussen. Den Vorwürfen Liebknechts liegt ein Gerichtsprozess gegen den ehemaligen Mitarbeiter der Firma Siemens, Karl Richter, zugrunde, der von dem Unternehmen wegen Diebstahl und versuchter Erpressung angeklagt und verurteilt worden ist. Richter hatte inkriminierende Dokumente des Konzerns gestohlen und an internationale Presse Outlets verkauft. Der sozialdemokratische Redakteur Wilhelm Sollmann beschuldigt in der Rheinischen Zeitung das Kölner Polizeipräsidium der »Korruption« in verschiedenen Fällen. Sollmann wird daraufhin angeklagt.

Kurzbeschreibung

Sollmann, Wilhelm: Backschisch. Der Kölner Polizei-Prozeß. 7. bis 17. Januar 1914 vor der dritten Strafkammer, Köln 1914. Existierende Kölner Tageszeitungen u. a.: Rheinische Zeitung Tribüne Auch: Thomas Mergel plant ein Buch zur Stadtgeschichte Kölns, in dem der Skandal möglicherweise eine Rolle spielen wird.

Vgl. Kap. 6.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

346 Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

Bezeichnung

Fall Beschke

Titel- und Ordensschacher

Datum

1908–1910 Thematisiert: 4/1914

5/1914

(Fortsetzung)

Die Inhaber der Lackfabrik Thurm und Beschke (Filialen u. a. in Berlin, Breslau, Hannover, Hamburg, Bremen) werden der aktiven sowie passiven Bestechung beschuldigt. Dem Verein gegen das Bestechungsunwesen werden Beweise zugespielt, er erhebt Anklage. 1913 kommt es zu einem Gerichtsprozess vor dem Landgericht Magdeburg (geht in Revision bis vor das Reichsstrafgericht). Der Verein gegen das Bestechungsunwesen berichtet 1914 über die Vorwürfe und den Verlauf des Verfahrens. Der Fall wird national rezipiert, es findet jedoch keine Skandalierung statt. Die Vorwürfe wurden bislang noch nicht in ihrem kommunalen Umfeld recherchiert. Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Liebknecht erhebt im Vorwärts den Vorwurf, der verstorbene General Kurt von Lindenau habe mit Titeln gehandelt. Die Vorwürfe ziehen eine interne Untersuchung nach sich, die zu dem Ergebnis kommt, ein öffentlicher Prozess gegen Liebknecht sei zu vermeiden, da es tatsächlich Unregelmäßigkeiten gegeben habe.

Kurzbeschreibung

Vgl. Kap. 6. Auch: GStA PK, I. Ha Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49641, Ordens- und Titelschacher. GStA PK, I. Ha Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49640, Dr. Ludwig wegen Beleidigung, Ordens und Titelschacher 356.

Auswahl: Verein gegen das Bestechungsunwesen e.V, Vereins-Mitteilungen, 7. April 1914, Nr. 7. Beispielhaft: Berliner Tageblatt, Der Schmiergelderprozeß, 13. 2. 1914MA.

Bibliographische Hinweise (Auswahl)

Anhang: Korruptionskommunikation im Deutschen Kaiserreich, 1871–1914

347

9

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungen relevanter Quellenbestände und besuchter Archive AN APP BUA GStA PK HAK STABI STABI ZA ULB DA

Archives Nationales, Paris Archives de la Pr8fecture de Police, Paris Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem Historisches Archiv Krupp, Essen Staatsbibliothek zu Berlin Staatsbibliothek zu Berlin, Zeitungsabteilung Westhafen Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt

Abkürzungen von Organisationen, Institutionen, Firmen etc. ADAV AKL BdL CBCAG SPD

Allgemeiner deutscher Arbeiterverein Anti-Kanzler-Liga Bund deutscher Landwirte Central-Boden-Credit-AG Sozialdemokratische Partei Deutschland

Sonstige Abkürzungen AA Abb. a. M. Bd. bes. Bl. bsph. bspw. bzw.

Abendausgabe Abbildung am Main Band besonders Blatt beispielhaft beispielsweise beziehungsweise

350 Dass. Ders. d. h. Dies. Ebd. etc. f./ff. Hrsg. insbes. Kap. MA MI NGO Nr. o. A. o. O. o. T. S. u. a. USA usw. v. Vgl. Vol. z. B.

Abkürzungsverzeichnis

Dasselbe Derselbe das heißt Dieselbe/Dieselben Ebenda et cetera folgende Herausgeber insbesondere Kapitel Morgenausgabe Mittagsausgabe Non-governmental organisation (= Nicht-Regierungsorganisation) Nummer ohne Autor ohne Ort ohne Titel Seite(n) unter anderem United States of America und so weiter von Vergleiche Volume zum Beispiel

10

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Ben Garrison, »New Brooms Sweep Clean«, Pro-Trump-Karikatur aus dem US-Wahlkampf 2016 Abb. 2: Ben Garrison, »Drain the Swamp«, Pro-Trump-Karikatur aus dem US-Wahlkampf 2016 Abb. 3: »Der große Schwindel und der große Krach«, zeitgenössisches Flugschriftencover Abb. 4: »Podbielski, Tippelskirch & Co.«, Karikatur 1906 Abb. 5: »Pod und Co.«, Karikatur des Kladderadatsch 1906 Abb. 6: »Bitte lassen Sie sich nicht aufhalten, wenn Sie gehen wollen«, Simplicissimus 1906 Abb. 7: Kaiserinsel-Karikatur des Wahren Jakobs 1903 Abb 8: »Die sensationelle ›Enthüllung‹ im Reichstag am 11. Mai«, Kladderadatsch 1914 Abb. 9: »Der Titelautomat«, Vorwärts 1914

19 20 91 230 233 250 255 291 303

Bildquellen Abb. 1: http://www.trump-conservative.com/wp-content/uploads/2016/12/trump-sweeps -washington-garrisson-cartoon.jpg (17. 7. 2017). Copyright: Ben Garrison, http:// www.grrrgraphics.com. Abb. 2: https://grrrgraphics.files.wordpress.com/2016/10/drain_the_swamp_ben_garri son.jpg (17. 7. 2017). Copyright: Ben Garrison, http://www.grrrgraphics.com. Abb. 3: Coverillustration aus: Franz Perrot: Der große Schwindel und der große Krach, Rostock 1875. Abb. 4: Ursprung unbekannt. Aus: GStA PK, I. HA Rep. 87, ZB Nr. 373. Abb. 5: Kladderadatsch, Pod und Co., 8. 4. 1906, Nr. 14. Abb. 6: Simplicissimus »Bitte lassen Sie sich nicht aufhalten, wenn sie gehen wollen«, 24 (1906), S. 384. Abb. 7: Der Wahre Jakob, o. T., 20. 10. 1903, Nr. 450. Abb. 8: Kladderadatsch, Die sensationelle »Enthüllung« im Reichstag am 11. Mai, 24. 5. 1914, Nr. 21. Abb. 9: Vorwärts, Der Titelautomat, 2. 6. 1914, Nr. 147.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Verzeichnis der zitierten Zeitungen Zeitungen einsehbar in der Staatsbibliothek Berlin, Zeitungsabteilung, Westhafen.

Deutsches Kaiserreich Berliner Abendpost Berliner Lokal-Anzeiger Berliner Morgenpost Berliner Neueste Nachrichten Berliner Tageblatt Breslauer Zeitung Deutsche Montagszeitung Deutsche Tageszeitung Frankfurter Zeitung Freie Deutsche Presse Das Freie Wort Germania Hamburger Nachrichten Hannoverscher Courier Hannoversche Tages-Nachrichten Kladderadatsch Das Kleine Journal Kölnische Volkszeitung Kölnische Zeitung Leipziger Volkszeitung Münchner Allgemeine Zeitung National-Zeitung Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) Neueste Mittheilungen

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Norddeutsche Allgemeine Zeitung Posener Neueste Nachrichten Post Provincial-Correspondenz Reichsbote Rheinisch-Westfälische Volkszeitung Rheinisch-Westfälische Zeitung Schlesische Zeitung Der Sozialdemokrat (Exil-Zeitung der deutschen Sozialdemokratie) Sozial-Politische-Correspondenz Staatsbürger-Zeitung Volksstaat (Erscheinungszeitraum: 1873–1875) Vorwärts (ab 1891) Vossische Zeitung1079 Der Wahre Jakob Die Welt am Montag Die Welt am Sonntag Die Zukunft

Dritte französische Republik L’Autorit8 La Cocarde Le Figaro La France Le Gaulois L’Intransigeant La Lanterne La Libre Parole Le Matin Le Paris Le Rappel Le Temps Le XIXe SiHcle

Weltweit (zeitgenössisch) The Morning Post (GB) The New York Times (USA) The Times (GB) 1079 Eigentlich: Königlich Privilegierte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen/ ab 1911 unter dem Titel: Berlinerische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen.

Ungedruckte Quellen

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Aktuell Frankfurter Allgemeine Zeitung Spiegel Online The Washington Times

Ungedruckte Quellen Archives Nationales, Paris AN F7 12549.

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Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem GStA PK Preußischer Landtag, Stenographische Berichte, Haus der Abgeordneten, in mehreren Bänden. GStA PK IV. HA Rep 7 Preußische Armee Offizierswitwenkasse u. a. militärische Versorgungsstellen, Nr. 4890, Victor von Podbielski. GStA PK, I. HA Rep. 83 Oberpräsidium von Brandenburg und Pommern, Nr. 5a. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 5a. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, ML Nr. 17126. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49639. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49640. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49641. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49642. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49673. GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 49799.

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