Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht [1 ed.] 9783428501649, 9783428101641

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Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht [1 ed.]
 9783428501649, 9783428101641

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ANDREAS WAHL

Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 854

Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht

Von Andreas Wahl

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wahl, Andreas: Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht / Andreas Wahl. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 854) Zugl.: Dresden, Techn. Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10164-2

Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10164-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreie09718-lm) Papier entsprechend ISO 9706 θ

M.

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Juristischen Fakultät der Technischen Universität Dresden. Sie wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Fakultät als Dissertation angenommen und mit dem von der Goethe-Buchhandlung Dresden gestifteten Promotionspreis der Fakultät ausgezeichnet. Das Manuskript wurde im März 1999 abgeschlossen. Spätere Gesetzgebung, Rechtsprechung und Literatur wurden nicht mehr berücksichtigt. Dies mag in Anbetracht der permanenten Aktivität des Gesetzgebers gerade auch im Vertragsarztrecht und angesichts anhaltender Kritik an der in dieser Arbeit dargestellten neueren Rechtsprechung des BSG mißlich erscheinen. Doch geht es der Arbeit in erster Linie um Strukturen, die ungeachtet aller gesetzgeberischer Interventionen seit Jahrzehnten im Kern unverändert geblieben sind, und um deren rechtliche Würdigung, an der ungeachtet der zwischenzeitlich erschienenen Literatur und ungeachtet einer vom BSG weiter fortentwickelten Rechtsprechung festgehalten werden kann. Prof. Dr. H.-H. Trute, an dessen Lehrstuhl die Arbeit entstanden ist, hat das Thema angeregt. Für den Umfang, den die Arbeit schließlich angenommen hat, bin ich jedoch allein verantwortlich. Prof. Dr. H.-H. Trute, der auch das Erstgutachten erstattet hat, habe ich zu danken für die Betreuung der Arbeit und die Geduld, die er dabe| bewiesen hat. I Dank schulde ich ferner Prof. Dr. V. Neumann, Rostock, für die Übernahme des Zweitgutachtens und die sehr freundliche Aufnahme einer Arbeit, die doch an einigen Punkten von den von ihm vertretenen Auffassungen deutlich abweicht. Ebenso gebührt mein Dank Prof. Dr. J. Rozek, Dresden, für die Erstattung des Drittgutachtens. Die Veröffentlichung der Arbeit wurde von der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht e. V. mit einem Druckkostenzuschuß gefördert, wofür ich auch an dieser Stelle danken möchte. Chemnitz, im Dezember 2000

Andreas Wahl

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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1. Gesundheitspolitischer Rahmen 2. Kooperationsstrukturen a) Kooperation in der öffentlichen Verwaltung b) Regelungsstrukturen und Verantwortungsteilungen c) Kooperation im Vertragsarztrecht d) Korporatismus 3. Gang der Untersuchung

21 26 27 29 32 34 36

Erster Teil

Grundlagen §1 Grundlinien der Leistungsstruktur I. Struktur und Inhalt des Leistungsanspruchs 1. Finale Struktur des Krankenbehandlungsanspruchs 2. Krankheitsbegriff a) Regelwidrigkeit b) Behandlungsbedürftigkeit 3. Arten und Umfang der Behandlung a) Behandlungsarten b) Wirtschaftlichkeitsgebot 4. Krankenbehandlungsanspruch als Rahmenrecht II. Verfahrensrechtlicher Weg der Anspruchskonkretisierung 1. Naturalleistungsprinzip a) Unmittelbare Bedarfsbefriedigung b) Kostenerstattung als Gegenprinzip (1) Sekundäre Kostenerstattung (2) Primäre Kostenerstattung c) Verantwortungsstrukturen 2. Anspruchsfeststellung a) Tatsächliche Inanspruchnahme b) Sonderfälle der Leistungsbewilligung c) Verordnung von Leistungen 3. Gestaltungsrechte des Versicherten a) Grundlage von Gestaltungsrechten b) Wahlrecht und Selbstbestimmung III. Exkurs: Sozialrechtsverhältnis als Ordnungsrahmen 1. Grund- und Erfüllungsverhältnis

39 41 41 41 44 45 48 51 51 55 61 65 65 66 68 69 69 71 76 76 79 80 80 81 82 84 85

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nsverzeichnis 2. Dreiseitiges ErfüllungsVerhältnis 3. Organisatorische Dimension IV. Vertragsärzte als Leistungserbringer 1. Teilnahme- und Praxisformen 2. Zulassung a) Voraussetzungen (1) Eignung (2) Altersgrenze (3) Zulassungsbeschränkungen b) Beendigung 3. Ermächtigung 4. Teilnahmestatus a) Recht und Pflicht zur Teilnahme b) Vergütungsanspruch c) Mitgliedschaft in der Kassenärztlichen Vereinigung 5. Vom Kassenarzt zum Vertragsarzt

§2 Interessenlagen I. Individual-und Kollektivinteressen im Vertragsarztrecht 1. Versicherten-und Ärzteinteressen 2. Organisationsinteressen II. Patienteninteressen 1. Schutzgehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit a) Regelungstradition b) Integritätsschutz c) Gesundheitsschutz 2. Umfang des Integritäts- und Gesundheitsschutzes a) Selbstbestimmung in der Krankenbehandlung b) Ausgestaltung des Versorgungssystems III. Versicherteninteressen 1. Einbeziehung in den Schutz der Eigentumsgarantie a) Verfestigte, privatnützig zugeordnete Rechtsposition b) Eigenleistungen 2. Umfang des Eigentumsschutzes a) Bestandsschutz b) Ausgestaltung der Leistungen (1) Subjektstellung (2) Verfahrensmäßige und organisatorische Vorkehrungen IV. Beitragszahlerinteressen 1. Gleichheitssatz als Maßstab 2. Belastungsgleichheit und Äquivalenzgebot (1) Exteme Effekte (2) Interne Effekte 3. Organisatorische Anforderungen V. Professionsinteressen 1. Freiheit des Berufs a) Berufe als soziale Konstrukte

86 88 89 89 92 92 92 93 94 96 97 99 100 102 103 104

107 107 107 108 111 111 112 114 116 120 121 122 123 124 125 128 130 131 132 132 133 134 135 137 140 141 143 143 145 146

nsverzeichnis

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b) Berufsfreiheit als Chancenschutz 151 c) Berufsfreiheit freier Berufe 152 2. Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung 154 a) Eingriffsnatur der Zulassungsverweigerung 155 b) Beruf des Vertragsarztes 160 c) Recht auf Teilnahme an der Versorgung 161 (1) Lösungsbedürftiges Problem 164 (2) Zulassungsbeschränkungen als Mittel zur Problembewältigung 164 (3) Strukturelle Nähe des Problems zu Zugelassenen oder Bewerbern .. 165 (4) Exteme Rechtfertigungsgründe 166 3. Vergütungsinteressen 167 a) Gesetzgeberische Ingerenzen 167 b) Kostendeckung oder eigebnisgerechte Vergütung 168 c) Prozedurale Verwirklichung 169 4. Therapiefreiheit 170

§3 Krankenkassen I. Versicherung und Solidargemeinschaft 1. Risikogemeinschaft oder Versicherungsuntemehmen 2. Versicherungsprinzip und sozialer Ausgleich II. Binnenstruktur der Krankenkassen 1. Rechtfertigung der Arbeitgeberbeteiligung a) Beitragsakzessorietät b) Sozialpartnerschaft c) Mittelbare und unmittelbare Interessen 2. Friedenswahlen 3. Professionalisierung und Managementstrukturen III. Gliederung und Wettbewerb der Krankenkassen 1. Strukturmerkmale der Kassengliederung 2. Ausdehnung der Kassenwahlrechte 3. Wettbewerbliche Umorientierung IV. Verbandsstrukturen 1. Landesverbände 2. Bundesverbände 3. Ersatzkassenverbände 4. Gemeinsam und einheitlich zu treffende Entscheidungen der Spitzenverbände 5. Verbände und Wettbewerb V. Krankenkassen zwischen Verwaltungs-, Mitglieder- und Untemehmensorientierung

§4 Kassenärztliche Vereinigungen I. Kassenärztliche Vereinigungen als Verbände der Vertragsärzte II. Sicherstellungsauftrag und Interessenwahmehmung 1. Sicherstellungsauftrag a) Sicherstellung (1) Allgemeiner und besonderer Sicherstellungsauftrag

172 172 173 175 180 181 182 184 186 187 190 196 196 200 203 206 207 208 210 212 214 215

217 217 220 221 221 223

12

nsverzeichnis (2) Sicherstellung und Leistimgserbringung b) Gewährleistung 2. Interessenvertretung III. Binnenstruktur 1. Mitglieder 2. Organe IV. Kassenärztliche Bundesvereinigung V. Sozialstaatlich in Anspruch genommene Interessenverbände

225 227 228 232 233 234 239 240

Zweiter Teil

Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation §5 Ziele der Kooperation I. Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung 1. Aspekte der Sicherstellung 2. Gesetzliche Leitlinien 3. Verhältnis zum Leistungsrecht II. Qualität, Humanität und Wirtschaftlichkeit 1. Qualität a) Qualitätsbegriff b) Aspekte der Qualitätssicherung c) Exkurs: Kompetenz zur Qualitätssicherung 2. Wirtschaftlichkeit a) Begriff der Wirtschaftlichkeit b) Exkurs: Wirtschaftlichkeitsprüfung c) Bezugspunkt des Wirtschaftlichkeitsgebots 3. Humanität III. Bedarfsgerechtigkeit 1. Bedürfnisklauseln 2. Bedarfsbegriff 3. Wertungsoffenheit der Bedarfsgerechtigkeit IV. Vergütung der vertragsärztlichen Versorgung 1. Beitragssatzstabilität a) Beitragssatzstabilität und Kostendämpfung b) Verhältnis zur Angemessenheit der Vergütung 2. Angemessenheit der Vergütung a) Stufung der Vergütung b) Gesamtvergütung c) Honorarverteilung V. Gesetzliche Leitlinien als Regelungsdirektiven

242 244 244 245 246 247 248 249 249 251 253 254 255 256 258 259 261 262 264 268 270 272 272 273 276 277 279 283 286

§6 Organisation und Verfahren der Kooperation

288

I. Prozedurales Konzept des Vertragsarztrechts II. Verträge 1. Arten von Verträgen

288 291 292

nsverzeichnis

III.

IV.

V.

VI.

a) Verhältnis der Bundesmantel-zu den Gesamtverträgen b) Einheitlicher Bewertungsmaßstab c) Empfehlungsvereinbarungen 2. Zustandekommen von Verträgen a) Sonderfall: Festsetzung durch Schiedsämter b) Sonderfall: Beschluß des Bewertungsausschusses Schiedsämter 1. Funktion der Schiedsämter 2. Bildung und Zusammensetzung der Schiedsämter 3. Schiedsamtsverfahren Bewertungsausschuß 1. Funktion des Bewertungsausschusses 2. Einfacher Bewertungsausschuß 3. Erweiterter Bewertungsausschuß Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen 1. Funktion des Bundesausschusses a) Vom Zentralausschuß zum Bundesausschuß b) Aufwertung des Bundesausschusses c) Regulierung der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise 2. Bildung und Zusammensetzung a) Historische Entwicklung b) Gegenwärtiger Befund 3. Entscheidungsfindung des Bundesausschusses a) Anhörung betroffener Kreise b) Βeschlußfassung im Bundesausschuß 4. Aufsicht des Bundesgesundheitsministers Rechtsnatur der Kooperationsgremien 1. Deutungsansätze 2. Kooperationsgremien als Kooperationsform a) Zurechnung der Entscheidungen b) Einordnung der Verselbständigung c) Kooperationsorganisationen als eigenständige Organisationsform 3. Zustand des (Verwaltungs-)Organisationsrechts

§7 Handlungsformen der Kooperation I. Kollektivierung und Breitenwirkung II. Verträge 1. Standpunkt der Rechtsprechung 2. Erklärungsansätze in der Literatur 3. Vertraglich vereinbartes Recht III. Richtlinien 1. Entwicklung der Rechtsprechung a) Verwaltungsvorschriften und Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung . b) Durchführungsbestimmungen, Erfahrungssätze, Normkonkretisierung .. c) Rechtsnormen 2. Beitrag der Literatur a) Exegese des GKAR

13 293 295 296 298 298 300 301 302 304 307 310 310 311 312 313 313 314 315 318 320 320 322 324 324 325 326 330 331 336 337 340 343 344

346 346 346 348 351 354 357 358 358 360 364 367 367

14

nsverzeichnis b) Rezeption und Kritik der Rechtsprechung c) Exegese des GRG 3. Richtlinien als kooperatives Recht a) Richtlinien, Leitlinien, Standards b) Richtlinien und Gerichtskontrolle

369 372 373 376 378

Dritter Teil

Verfassungsrechtlicher Rahmen der Kooperation §8 Kooperationsstrukturen und Verfassungsrecht I. Verdichtung verfassungsrechtlicher Anforderungen in besonderen Rechtsfiguren 1. Gemeinsame Selbstverwaltung 2. Numerus clausus von Rechtsnormformen 3. Verfassungsrechtlicher Ertrag II. Rechtsstaatsprinzip 1. Bestimmtheit 2. Publizität III. Demokratieprinzip 1. Dimensionen des Demokratieprinzips 2. Demokratische Legitimation der öffentlichen Verwaltung a) Legitimationsketten und Gemeinwohlsicherung b) Parlamentsgesetzliche Determination 3. Autonome Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung a) Legitimationsbedürftigkeit der Selbstverwaltung b) Legitimationsfähigkeit der Selbstverwaltung c) Grenzen der Autonomie 4. Kooperation und Demokratie 5. Vertragsarztrecht und Demokratie a) Selbstverwaltung b) Binnenstrukturen (1) Krankenkassen (2) Kassenärztliche Vereinigungen (3) Verbandsstrukturen c) Kooperationsstrukturen (1) Umfang der Kooperation (2) Vertragsförmige Kooperation (3) Gremienvermittelte Kooperation (4) Auswirkungen kooperativer Festlegungen auf Exteme (5) Parlamentsgesetzliche Determination kooperativer Festlegungen .... IV. Grundrechte V. Sozialstaatsprinzip Zusammenfassung in Thesen

382 385 385 385 389 395 395 396 399 400 401 404 405 409 415 416 417 423 428 433 434 436 436 437 439 441 441 444 445 448 452 460 464 473

nsverzeichnis

15

Anhang

481

1. Geschäftsordnung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen 481 2. Verfahrensordnung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur Durchführung von Anhörungen auf der Grundlage von §§35 Abs. 2, 92 Abs. 2, Abs. 3 a, Abs. 5, Abs. 6, Abs. 7 SGB V 484 Literaturverzeichnis

487

Sachwortverzeichnis

513

Abkürzungsverzeichnis' 1. GKV-NOG 2. GKV-NOG AK-GG AN ArbVers BA/LAVO

BMA BMV-Ä EBM E-GO EKV-Ä EuM GKAR GKV-SolG GmS OGB GO-BA GRG GSG HDR HKG HS-KV HS-PV HStR HVerfR KHKG

41

1.GKV-Neuordnungsgesetz vom 23.6.1997 (BGB1.I S. 1518) 2. GKV-Neuordnungsgesetz vom 23.6.1997 (BGBl. I S. 1520) Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Altemativkommentare) Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamts Die Arbeiterversorgung (Zeitschrift) Verordnung über die Amtsdauer, Amtsführung und Entschädigung der Mitglieder der Bundesausschüsse und Landesausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen vom 10.11.1956 (BGBl. I S.861) Bewertungsmaßstab für kassenärztliche (heute: vertragsärztliche) Leistungen Bundesmantelvertrag-Ärzte Einheitlicher Bewertungsmaßstab Ersatzkassen-Gebührenordnung Arzt-/Ersatzkassen-Vertrag (Bundesmantelvertrag-Ärzte/Ersatzkassen) Entscheidungen und Mitteilungen des Reichsversicherungsamts Gesetz über Kassenarztrecht vom 17.8.1955 (BGB1.I S.513) GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz vom 19.12.1998 (BGBl. IS. 3853) Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Geschäftsordnung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen Gesundheits-Reformgesetz vom 20.12.1988 (BGB1.I S.2477) Gesundheitsstrukturgesetz vom 21.12.1992 (BGB1.I S.2266) Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung Gesetz über die eingeschriebenen Hülfskassen vom 7.4.1876 (RGBl. S. 125) Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1 : Krankenversicherungsrecht Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 4: Pflegeversicherungsrecht Handbuch des Staatsrechts Handbuch des Verfassungsrechts Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz vom 22.12.1981 (BGBl. I S.1568)

Aufgeführt sind nur weniger gebräuchliche sowie Abkürzungen, die bei H. Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. 1993, nicht erklärt werden.

Abkürzungsverzeichnis KVEG KVG KVKG KVWG NUB RehaAnglG RVA SchAVO SDSGV SDSRV SF SRH SVwG

SVR KAiG UVG VfO-BA ZSR

17

Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz vom 22.12.1981 (BGBl. I S.1578) Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15.6.1883 (RGBl. S. 73) Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz vom 27.6.1977 (BGBl. IS. 1069) Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz vom 28.12.1976 (BGBl. IS. 3871) Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Rehabilitations-Angleichungsgesetz vom 7.8.1974 (BGBl. I S.1881) Reichsversicherungsamt Schiedsamtsverordnung vom 28.5.1957 (BGBl. I S. 570) Schriftenreihe des Deutschen Sozialgerichtsverbandes (heute: SDSRV) Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes (früher: SDSGV) Sozialer Fortschritt (Zeitschrift) Sozialrechtshandbuch Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung (Selbstverwaltungsgesetz) vom 22.01.1951 (BGB1.I S. 124) Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen Unfallversicherungsgesetz vom 6.7.1884 (RGBl. S. 69) Verfahrensordnung des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur Durchführung von Anhörungen Zeitschrift für Sozialreform

Jahresangaben hinter Gesetzesbezeichnungen beziehen sich auf das Inkrafttreten der zitierten Bestimmung

2 Wahl

Einleitung Nicht Beharrung, sondern permanenter Wandel kennzeichnet das Sozialrecht. Die Redeweise von der „Normenflut" kommt unwillkürlich in den Sinn. Der gleichen maritimen Bilderwelt verpflichtet wurde das Sozialrecht als „Bugwelle einer sich ständig verkomplizierenden Gesetzgebung" bezeichnet.1 In nüchterner Sprache wird dem Sozialrechtsgesetzgeber „Regelungsbeflissenheit und gelegentliche Detailverliebtheit" attestiert.2 Der beständige Strom von Gesetzen, der sich auch über das Krankenversicherungsrecht ergießt, scheint dieses am besten als Teil des Sozialrechts auszuweisen. Dies wird den wenig stören, der aus den Höhen des Verfassungsrechts das Geschehen betrachtet und in der ruhelosen Aktivität des Gesetzgebers einen Ausdruck von Sozialstaatlichkeit zu sehen geneigt ist.3 Eher wird darin jedoch ein Krisensymptom gesehen. Und in der Tat geht es den ständigen gesetzgeberischen Eingriffen um die Bewältigung von Herausforderungen, vor die sich die Institutionen des Sozialstaats infolge des ökonomischen und sozialen Wandels gestellt sehen. Als zentrales Problem gilt in der sozialen Krankenversicherung seit Mitte der 1970er Jahre die sich in steigenden Beitragssätzen niederschlagende Ausgabendynamik. Mit immer neuen Kostendämpfungsgesetzen hat der Gesetzgeber gegenzusteuern versucht. Nachhaltiger Erfolg blieb ihm aber versagt. Vor diesem Hintergrund bekundet er neuerdings den Willen zum Rückzug. Selbstkritisch räumt er ein, oft zu sehr reglementierend in das Krankenversicherungsrecht eingegriffen zu haben.4 Von einer stärkeren Regulierung und Kontrolle des Gesundheitswesens sei wenig für die Stabilisierung der sozialen Krankenversicherung zu erhoffen. Stattdessen solle durch die Stärkung der „Selbststeuerungskräfte im Gesundheitswesen" ein „sich selbst steuerndes System" geschaffen werden, das „das medizinisch Erforderliche mit dem volkswirtschaftlich Vertretbaren und den Versicherten Zumutbaren in Einklang" bringt. 5 1

D. Katzenstein, Über die Sozialgesetzgebung unserer Zeit, in: Festgabe zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 139,142. - Beliebt sind auch botanische Vergleiche wie etwa die Rede vom „Sozialrechtsdschungel" (B. Schulin, Stand und Entwicklung der Sozialgesetzgebung, in: Vorträge zur Rechtsentwicklung der achtziger Jahre, 1991, S. 17, 22). 2 V. Neumann, Der informelle Sozialstaat, VSSR 1993, 119, 120. 3 Enthält doch nach der Rechtsprechung des BVerfG das Sozialstaatsprinzip in erster Linie einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber (BVerfGE 82, 60, 80; so schon BVerfGE 1, 97, 105). 4 Entwurf eines 2. GKV-NOG, BT-Drs. 13/6087, S. 15. 5 So der Entwurf des-am Bundesrat gescheiterten-GKV WG, BT-Drs. 13/3608, S. 1 sowie nunmehr der Sozialbericht 1997, Tz. 134. 2*

20

Einleitung

Die Stärkung der Selbststeuerung, zu der sich der Gesetzgeber hier bekennt, kann an vorhandene Selbststeuerungspotentiale anknüpfen. Dabei ist nicht nur, ja nicht einmal vorrangig - wie die in diesem Zusammenhang ausgegebene Losung „Vorfahrt für die Selbstverwaltung"6 vermuten lassen könnte - an die soziale Selbstverwaltung, die auf der körperschaftlichen Struktur der Krankenkassen aufruhende mitgliedschaftliche Mitbestimmung, zu denken. Angesprochen sind damit vielmehr in erster Linie die Strukturen, in denen im Recht der sozialen Krankenversicherung Kooperation zwischen den Krankenkassen und den Verbänden der Vertragsärzten stattfindet. Diese Kooperationsstrukturen, die Organisationen, Verfahren und Formen, in denen hier auf kollektiver Ebene Krankenkassen und Ärzte zusammenwirken, haben eine lange Tradition. Das institutionelle Gefüge des Vertragsarztrechts hat in der Weimarer Republik im wesentlichen seine heutige Ausprägung erfahren, die Grundelemente lassen sich jedoch bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. 7 Von legislatorischen Interventionen blieb es indes nicht verschont. Zumal seit Beginn der Kostendämpfungsgesetzgebung hat der Gesetzgeber seine sozialstaatliche Verantwortung für die Ergebnisse des Versorgungsystems bisweilen sehr ins einzelne gehend wahrgenommen. Die mit dem Ziel eines sich selbst steuernden Systems propagierte Änderung des staatlichen Regelungsansatzes nickt das Vertragsarztrecht ins Blickfeld der gegenwärtigen Entwicklung des öffentlichen Sektors: Ein sich selbst steuerndes System scheint irgendwo zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Selbstregulierung angesiedelt zu sein.8 Dabei wird im Vertragsarztrecht allerdings an Strukturen angeknüpft, die sich nicht erst im Kontext der gegenwärtigen Modernisierungsdebatte herausgebildet haben. Dafür bürgt schon, daß sie auf Selbstverwaltung und damit einem hergebrachten Modell der Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte für die Erledigung öffentlicher Angelegenheiten9 aufruhen. Mit der Aufwertung, die diese Strukturen erfahren, finden sie vermehrt rechtliches Interesse und sehen sich dabei zunehmend dogmatischen Figuren konfrontiert, die auf ganz andere Segmente des öffentlichen Sektors und ganz anders strukturierte Agenden hin konzipiert sind.10 Soweit dieser Dogmenbestand im Vertragsarztrecht auf Strukturen trifft, die Ansät6

BT-Drs. 13/6087, S. 16f. Näher dazu G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, 1994, Rn. 13 ff. - S. a. § 41, § 6 V i a . - Freilich ist das mit dem Kassenarztrecht von 1931/32 eingeführte Gefüge in der NSZeit im wesentlichen suspendiert worden. Das restaurativ angelegte Gesetz über das Kassenarztrecht von 1955 konnte daher auf ein wirklich erprobtes Kooperationsmodell nicht zurückgreifen. 8 Wie man in Anklang an das Thema der Dresdner Staatsrechtslehrertagung 1996 formulieren kann (siehe die Referate von M. Schmidt-Preuß und U.Di Fabio , Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 [1997], S. 160ff. und S.235ff. sowie den Begleitaufsatz von //.-//. Trute, DVB1 1996,950 ff.). 9 Vgl. BVerfGE 33,125,156f. 10 S.u. §812. 7

Einleitung

ze zu einem sich selbst steuernden System enthalten, läßt die Beschäftigung mit ihnen Rückschlüsse auf den rechtlichen Rahmen einer Modernisierung des öffentlichen Sektors erwarten. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Strukturen, in denen gegenwärtig im Vertragsarztrecht Kooperation zwischen Krankenkassen und Ärzten stattfindet. Gleichwohl sollen diese im folgenden im Lichte der gesundheitspolitischen Debatte kurz beleuchtet werden (1.), bevor näher auf den Begriff der Kooperationsstrukturen, den damit verbundenen staatlichen Regelungsansatz und deren Standort zwischen Staat und Gesellschaft eingegangen wird (2.). Nach diesen Vorklärungen wird der Gang der Untersuchung dargelegt (3.).

1. Gesundheitspolitischer Rahmen Bis Anfang der 1970er Jahre ist die Kostendynamik im Gesundheitswesen nicht als Problem wahrgenommen worden. Im Gegenteil: Die Ausgabenexpansion ist positiv als Ausdruck des Abbaus von Versorgungslücken und des Ausbaus der Versorgungsstrukturen bewertet worden. Dies änderte sich Mitte der 1970er Jahre grundlegend. Nachdem die „Ölkrise" die wirtschaftliche Entwicklung abrupt gestoppt hatte, begann eine Politik der Kostendämpfung, die sich in einer ganzen Welle von Gesetzen der späten 1970er und frühen 1980er Jahre niederschlug.11 Zu Ziel und Maß dieser Politik wurde die Stabilisierung der Beitragsbelastung. Diese läßt sich in verschiedener Weise erreichen: durch Erweiterung der Beitragsgrundlagen, durch Beschränkung der Leistungen oder durch Steigerung der Effizienz der Leistungserbringung. Der Kostendämpfungsgesetzgeber hat mehr zu Leistungsbeschränkungen gegriffen, als daß er die Strukturen der Leistungserstellung verändert hätte. In der neuen mit dem GRG einsetzenden, als „Gesundheitsreformen" 12 bezeichneten Phase gesundheitspolitischer Gesetzgebung wird dagegen die Notwendigkeit struktureller Reformen stärker betont. Gravierende Eingriffe in die bestehenden Strukturen erfolgten durch das GSG, das insbesondere die Organisation der Krankenkassen grundlegend verändert hat. Freilich blieben die Gesundheitsreformen nicht nur ih11 Gesetz zur Dämpfung der Ausgabenentwicklung und zur Strukturverbesserung in der gesetzlichen Krankenversicherung (Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz - KVKG) vom 27.6.1977 (BGB1.I S. 1069); Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz- KHKG) vom 22.12.1981 (BGB1.I S. 1568); Gesetz zur Ergänzung und zur Verbesserung der Wirksamkeit kostendämpfender Maßnahmen in der Krankenversicherung (Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz - KVEG) vom 22.12.1981 (BGB1.I S. 1578); Gesetz zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Beschäftigung und zur Entlastung des Bundeshaushalts (Haushaltsbegleitgesetz 1983) vom 20.12.1982 (BGB1.I S. 1857). 12 Der Begriff hat sich für Reformen im Gesundheitswesen eingebürgert, woran der Gesetzgeber nicht unbeteiligt war - lautet doch die amtliche Kurzbezeichnung des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 20.12.1988 (BGB1.I S. 2477) „Gesundheits-Reformgesetz". Obgleich der Begriff unglücklich ist, wird er im weiteren beibehalten.

22

Einleitung

rem Anlaß nach dem Ziel der finanziellen Stabilisierung der Krankenversicherung verpflichtet. Typisch für die Kostendämpfungsgesetze war jedoch, daß sie jeweils eine nur kurzfristige Entlastung brachten, eine dauerhafte Stabilisierung mit ihnen aber nicht erreicht werden konnte. Der Beitragssatz stieg kontinuierlich. Die Kostendämpfungsgesetzgebung zielte darauf, den Beitragssatz zu stabilisieren, ohne das System in Frage zu stellen. Auch die Gesundheitsreformen sind nicht mit dem Anspruch einer „völligen Neukonstruktion" angetreten.13 Vielmehr ging es immer um Modifikationen der vorhandenen Strukturen. Zu deren Konstanten zählt eine doppelte Durchbrechung des Marktprinzips: - Nach dem Bedarfsprinzip berechtigt allein der tatsächliche Bedarf zur Inanspruchnahme von Leistungen und nicht die finanzielle Leistlingsfähigkeit. Insoweit ist die soziale Krankenversicherung von einer in Marktwirtschaften erstaunlichen Egalität der Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet. Dies spiegelt den hohen Stellenwert wider, der Gesundheit und Leben eingeräumt wird. Sollen allen die gleichen Gesundheitschancen zustehen, so geht es nicht an, wenn Gesundheitsgüter allein nach Maßgabe individueller Kaufkraft erworben werden können. Damit finanzielle Hürden nicht über den Zugang zu medizinischen Leistungen bestimmen, wird insoweit das Marktprinzip durchbrochen und der Konsum von Gesundheitsgütern am individuellen Bedürfnis orientiert. - Die Krankenversicherungsträger schulden zwar die medizinische Versorgung selbst, erbringen diese aber durch Dritte. Das Gesetz verweist sie zur Beschaffung der erforderlichen Dienst- und Sachleistungen generell auf die Kooperation mit selbständigen Leistungserbringern. Diese sind im Vertragsarztrecht in öffentlichrechtlich organisierten Verbänden, den Kassenärztlichen Vereinigungen, zusammengefaßt, die allein die Vertragsärzte gegenüber den Krankenkassen repräsentieren. Statt Marktbeziehungen sind hier Verhandlungen auf kollektiver Ebene zwischen hochgradig organisierten Verbänden anzutreffen. Bedarfsorientierte Risikoabsicherung und kollektive Verhandlungsstrukturen ergeben zusammen mit der aus der Beitragsaufbringung resultierenden Staatsdistanz der sozialen Krankenversicherung insgesamt das Bild einer zwischen staatlichem Gesundheitswesen und Markt angesiedelten Struktur. 14 Der Übergang zur Kostendämpfungspolitik hat die Ökonomie auf den Plan gerufen. Mit der Dominanz finanzieller Aspekte ging eine Ökonomisierung der Gesund13 Einer solchen wurde von dem Entwurf zum GRG ausdrücklich eine Absage erteilt (siehe BT-Drs. 11/2237, S. 147, 156f.). 14 M. Wallerath, Staatliche Regulierung und Wettbewerb im Recht der sozialen Sicherung, VSSR1997,215 ff., insb. 218 ff.; U. Becker, Gesetzliche Krankenversicherung zwischen Markt und Regulierung, JZ 1997,534,541 ff.; M. Groser, Gruppenverhandlungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung, ZSR 33 (1987), 743 ff. - S. a. R. Rosenbrock, Die Gesetzliche Krankenversicherung - ein Steuerungsmodell am Scheideweg, ZSR 42 (1996), 497, 501.

Einleitung

heitspolitik einher.15 Eine dabei entstandene marktorientierte Kritik warf dem bestehenden System vor, falsche Anreize zu setzen, die zu Verschwendung führen müßten: 16 Es bestehe ein diesem System immanenter Konflikt zwischen individueller und kollektiver Rationalität, der zu Fehlallokationen führen müsse. Während es für den einzelnen Versicherten wegen der vollen Kostendeckung rational sei, die Nachfrage bis zur Sättigungsgrenze auszudehnen, führe ein solches zweckrationales Verhalten aller einzelnen auf kollektiver Ebene schlichtweg zu Irrationalität. Auch auf Anbieterseite fehlten Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten, während den Ärzten zugleich die entscheidende Steuerungsfunktion zukomme. Insoweit bestehe die Gefahr angebotsinduzierter Nachfrage, d. h. die Anbieter könnten die nachgefragte Menge erhöhen und damit ihren Umsatz steigern, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Aus dieser „Rationalitätenfalle" könne sich das Gesundheitswesen nur durch die Wiederaufrichtung des Marktes befreien. Dazu solle die Zahlungsbereitschaft des Konsumenten zum zentralen Steuerungsmittel ausgebaut und das Kostenbewußtsein gestärkt werden. Verwerflich sei nicht, daß die Nachfrager ihren Nutzen maximieren wollen, sondern daß dies zu Lasten anderer geht. Kritisiert wird nicht die fehlende Begrenzung der Nachfrage, sondern ihre Verzerrung und daraus folgende Fehlallokationen. Auch wenn gefordert wird, der Patient müsse in direkten wirtschaftlichen Kontakt zum Arzt treten, so wird die Notwendigkeit einer Versicherung des Krankheitsrisikos anerkannt. Doch müsse - wie in der privaten Krankenversicherung - das Versicherungsprinzip konsequent durchgeführt und folglich Umverteilungseffekte abgeschafft und eine am individuellen Risiko ausgerichtete Beitragssatzkalkulation eingeführt werden. Die Tatsache, daß auch die private Krankenversicherung unter der Kostendynamik leidet,17 und der Befund, daß im internationalen Vergleich Gesundheitssysteme um so kostspieliger sind, je stärker die private Finanzierung vorherrscht, 18 müßte eigentlich ernüchternd sein. Vertreter marktradikaler Positionen lassen sich jedoch dadurch in ihrem Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit des Markts und der privaten Versicherungswirtschaft nicht erschüttern. 19 Der zentrale Einwand gegen marktradikale Positionen geht freilich dahin, sie verkenne die Besonderheit des Gutes Gesundheit:20 15

Dazu B. Blanke/H. Kania, Die Ökonomisierung der Gesundheitspolitik, Leviathan 24 (1996), 512ff. 16 Zum folgenden die Zusammenfassung in: Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung, Bd. 2,1990, S. 89 ff. - In diese Richtung etwa P. Oberender, Marktwirtschaft und Solidarität, in: Sass, Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, S. 267 ff. 17 Siehe dazu das Gutachten der Unabhängigen Expertenkommission zur Untersuchung der Problematik steigender Beiträge der privat Krankenversicherten im Alter, BT-Drs. 13/4945. ,8 J. Alber, Die Steuerung des Gesundheitswesens in vergleichender Perspektive, Journal für Sozialforschung 29 (1989), 259,267. 19 So etwa: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1985/86, BT-Drs. 10/4295, Tz. 358 ff. - Differenzierter dagegen nunmehr das Jahresgutachten 1996/97, BT-Drs. 13/6200, Tz. 425 ff. 20 Zum folgenden die Zusammenfassung in: Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung, Bd. 2, S. 147 ff.

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Die Kaufkraft über den Zugang zu medizinischen Leistungen bestimmen zu lassen, sei sozialethisch nicht haltbar; der Stellenwert von Leben und Gesundheit gebiete geradezu die Durchbrechung des Marktprinzips. Vor allem aber lägen der Ansicht, die Belastung der Patienten mit den Kosten der Gesundheitsversorgung führe zu einem verantwortlichen Umgang mit ihr, viel zu optimistische Annahmen über die Kompetenz der Konsumenten zugrunde. Es sei irreal, vom Patienten als souveränem Konsumenten auszugehen, als Marktteilnehmer, der das Angebot auf dem Gesundheitsmarkt und dessen Wert richtig beurteilen können. Auf dem Gesundheitsmarkt herrsche eine ungleiche Informationsverteilung: Die Nachfrager verfügten als Laien nicht über die Informationen, die sie zu einem autonomen Marktteilnehmer machen würden; stattdessen seien sie auf die fachliche Kompetenz des Arztes angewiesen.21 Dieser Einwand läßt sich nicht widerlegen. 22 Er läßt sich allenfalls in die Aufforderung ummünzen, Markttransparenz aktiv herzustellen,23 die jedoch die Frage nach dem staatlichen Anteil an der Wiederaufrichtung des Markts im Gesundheitswesen aufwirft. Transparenz wird sich hier nicht von selbst herstellen. Die Kompensation von Informationsasymmetrien wird immer Regulierung erforderlich machen. Wenn aber Krankenversicherung ohnehin für erforderlich gehalten wird, stellt sich die Frage, ob nicht diese in die Bearbeitung der zu konstatierenden Marktverwerfungen einbezogen werden kann. Dies scheint den eher Strukturen konservierenden, inkrementalistischen Ansatz der Politik zu bestärken - zumal sie durchaus auf Erfolge bei der Kostendämpfung zurückblicken kann. Zwar stieg der durchschnittliche Beitragssatz in der sozialen Krankenversicherung trotz Kostendämpfungsgesetzgebung kontinuierlich an. Die Ursache dafür lag aber weniger in der Kostenentwicklung - die Gesundheitsausgaben wuchsen seit Mitte der 1970er Jahre nicht schneller als das Bruttosozialprodukt - , als in der angespannten Arbeitsmarktlage, die das einkommensabhängige Beitragsaufkommen der Krankenkassen naturgemäß in Mitleidenschaft zieht.24 Die Finanzierungsprobleme der sozialen Krankenversicherung rühren eher von außen her, wenn auch nicht abzustreiten ist, daß der medizinische und medizinisch-technische Fortschritt und Wandlungen des Krankheitsspektrums tendenziell kostentreibend wirken; 25 gleiches wird vom demographischen Wandel erwartet.

21 So auch R. Pitschas, Beziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen, insbesondere vertragsärztliche Versorgung, JbSozRdG 18 (1996), 253, 256f. 22 Siehe etwa die dahingehenden, letztlich nicht überzeugenden Versuche des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/97, BT-Drs. 13/6200, Tz. 430. 23 So etwa P. Oberender, in: Sass, Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, S.267, 276. 24 Siehe nur£. Blanke/H. Kania, Leviathan 24 (1996), 512,520ff., die weiterhin daraufhinweisen, daß seit Mitte der 1970er Jahre der Anteil der sozialen Krankenversicherung an den Gesundheitsausgaben kontinuierlich wuchs. 25 Zum Auseinanderdriften des Machbaren und des Finanzierbaren in der Medizin siehe: A. Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S.48ff.

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Für eine auf Beitragssatzstabilität fixierte Politik mag dies wenig beruhigend sein - vor allem wenn neuerdings angesichts der Globalisierung 26 der Wirtschaft die Senkung der Lohnnebenkosten anstehen soll, um im internationalen Wettbewerb den Standort Deutschland zu sichern. Vor diesem Hintergrund ist eine Debatte um den Umbau des Sozialstaats entstanden,27 die inzwischen auch das Recht erreicht hat.28 Ihr liegt die Annahme zugrunde, der Sozialstaat müsse umgestaltet werden, weil er „nicht mehrfinanzierbar sei, Staat und Wirtschaft überfordere, zum eigentlichen Verursacher der Wettbewerbsschwäche des Standorts Deutschland geworden sei und (mit-) verantwortlich sei für die wachsende Arbeitslosigkeit." 29 Umbau verheißt weder Ausbau noch Abbau, sondern wahrt zu beidem gleichermaßen Distanz. Die zugrundeliegende Analyse weist dieser offenen Forderung jedoch eine ganz bestimmte Richtung. Einen eigentümlichen Akzent erhält die Umbauforderung allerdings, wenn das Gesundheitswesen als zu fördernder Wachstumssektor entdeckt wird. 30 Gesundheitspolitik wird damit auf einmal in einem ganz anderen Sinne Arbeitsmarktpolitik: In Anklang an die marktradikale Kritik wird die Dynamik des Gesundheitswesens nicht mehr nur negativ gesehen, sondern im Hinblick auf die Beschäftigungsintensität dieses Wirtschaftssektors durchaus positiv bewertet. Dies wirft freilich die Frage auf, wie es angehen soll, die beitragsfinanzierte Krankenversicherung von sozialer Sicherung auf Wirtschaftsförderung umzupolen. Marktradikalen Vorschlägen zum Trotz ist eher eine Politik der „Korporatisierung" 31 , einer Übertragung wesentlicher Elemente der Kooperationsstrukturen des 26

Zum Begriff: F.-X. Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, 1997, S. 118 ff. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Sozialstaat vor dem Umbau, 1994 und aus gewerkschaftlicher Sicht: Schulte, Erneuerung des Sozialstaates, 1996. - S. a. S. Lessenich, Umbau, Abbau, Neubau? Der deutsche Sozialstaat im Wandel, Leviathan 24 (1996), 209 ff. 28 Siehe nur F. Ruland, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen bei der Umgestaltung des Sozialstaats im Bereich der Alterssicherung, VSSR 1997, 19ff.; B. Schulin, Verfassungsrechtliche Grenzen bei der Umgestaltung des Sozialstaats im Bereich der Gesundheitssicherung, VSSR 1997, 43 ff.; W. Rüfner, Verfassungs- und europarechtliche Grenzen bei der Umgestaltung des Sozialstaats im Bereich des Sozialhilferechts, VSSR 1997,59ff.; E. Eichenhofer, Umbau des Sozialstaats und das Europarecht, VSSR 1997,71 ff.; B. v.Maydell, Die „Krise des Sozialstaats" in internationaler Perspektive, SF 1997,1 ff.; W. Leisner, Umbau des Sozialstaats, BB Beil 13 zu Heft 13/1996; R. Pitschas, Verrechtlichung von Sozialleistungen im wohlfahrtsdistanzierten Sozialstaat, SDSRV41 (1996), S.7, lOff.; D. Merten, Grenzen des Sozialstaats, VSSR 1995,155 ff. - Siehe auch H. Sodan, Freie Berufe als Leistungserbringer im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung, 1997, der seine Arbeit im Untertitel als ,3eitrag zum Umbau des Sozialstaates" bezeichnet. 29 G. Bräcker, Sind die Grenzen des Sozialstaates überschritten?, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 25-26/95, S. 13. 30 Bezeichnend der Titel des Sondergutachtens 1996 der SVR KAiG: „Gesundheitswesen in Deutschland: Kostenfaktor und Zukunftsbranche". - Zu dieser neuen Perspektive siehe nur J. Wasem, Im Schatten des GSG, ArbuSozPol 7-8/98, 18,25 f. 31 M. Döhler/Ph. Manow, Korporatisierung als gesundheitspolitische Strategie, StWuStP 3 (1992), 64ff., die mit „Korporatisierung" weniger auf den Korporatismus-Ansatz als auf den Begriff des korporativen Akteurs rekurrieren wollen (aaO S.67). 27

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Vertragsarztrechts, von Kollektivverträgen mit Zwangsschlichtung und verpflichtungsfähigen Verbänden, auf andere Leistungsbereiche zu beobachten. Zwar hat das GSG in die Organisation der Krankenkassen Wettbewerbsstrukturen eingezogen und damit hier ein Stück Markt implementiert. 32 Wettbewerb findet dabei aber nur um die Versicherten statt, während die Kooperationsstrukturen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern unangetastet blieben.33 Die Ausdehnung der Kostenerstattung und die Umgestaltung der zahnärztlichen Versorgung durch das 2. GKV-NOG wiesen zwar in eine grundsätzlich andere Richtung.34 Dies ist jedoch durch das GKV-SolG wieder rückgängig gemacht worden. Auch wenn inzwischen eine deutliche Stärkung der Krankenkassen anzustehen scheint, so ist eine Abkehr von den gegenwärtigen Kooperationsstrukturen und ein Übergang zu einem neuen Ordnungsmodell nicht erkennbar.

2. Kooperationsstrukturen Mit Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts werden hier die Organisationen, Verfahren und Formen bezeichnet, in denen auf kollektiver Ebene Krankenkassen und Ärzte zusammenwirken. In der gesundheitspolitischen Debatte wird darin eine vom Markt abweichende Gestaltung gesehen. Auch wenn die marktorientierte Kritik darauf nicht das Hauptaugenmerk lenkt, so weisen die Kooperationsstrukturen doch auch gegenüber dem Staat Unterschiede auf. Im folgenden soll aus der Perspektive des Staates der Begriff der Kooperationsstrukturen entfaltet werden. Dazu wird in einem ersten Schritt allgemein auf das Phänomen der Kooperation im öffentlichen Sektor eingegangen (a). Kooperation weist auf Wandlungen des staatlichen Regelungsansatzes hin, mit ihr läßt sich dieser Wandel freilich nicht vollständig erfassen. Daher soll in einem zweiten Schritt Konzepten nachgegangen werden, die der Realität des modernen Staates angemessener erscheinen (b). Nach diesen Vorklärungen ist zu untersuchen, ob die Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht überhaupt in diesen Rahmen passen (c). Weil diese Strukturen oftmals als korporatistisches Gebilde bezeichnet werden, soll abschließend noch ein Blick auf die Theorie des (Neo-) Korporatismus geworfen werden (d).

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S.u. §31113. Kritisch dazu Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Jahresgutachten 1996/97, BT-Drs. 13/6200, Tz. 435 ff. - Der Gesetzgeber hat sich aber auch bei den jüngsten Gesundheitsreformen nicht dazu durchringen können, gegenüber den Leistungserbringern eine wettbewerbliche Öffnung vorzunehmen. Im Gegenteil: im Krankenhausbereich ist das 2.GKV-NOG mit der Korporatisierung sogar noch vorangeschritten. 34 Siehe dazu W. Noftz, Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht nach Inkrafttreten des 2.GKV-Neuordnungsgesetzes, VSSR 1997, 393 ff. 33

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a) Kooperation in der öffentlichen

Verwaltung

Kooperatives Handeln der Verwaltung avancierte in den letzten Jahren zu einem Thema der Verwaltungs-(rechts-)wissenschaft. 35 Allerdings wurde nicht immer deutlich, worin die Eigenart der zunehmend wahrgenommenen Kooperation liegt. Davon zeugt, wenn gleichbedeutend statt von kooperativer Verwaltung auch von informellem Verwaltungshandeln36 gesprochen werden konnte. Informalität und Kooperation haben aber auf den ersten Blick wenig gemein. Erst vor der Folie des Verwaltungsakts ändert sich dies, verkörpert dieser doch die Rechtsförmlichkeit der Verwaltung und stellt zugleich als einseitiger hoheitlicher Befehl das Gegenteil von Kooperation dar. Das Interesse an der kooperativen Verwaltung und dem informellen Verwaltungshandeln hat vom Nachlassen der Leistungsfähigkeit des Verwaltungsakts seine Impulse erhalten. Die Verkopplung läßt aber im unklaren, ob unter Kooperation in der Verwaltung alle Interaktionen zwischen Staat und Bürger, alle (formalen und informalen) Verhaltensabstimmungen oder nur rechtsförmliche Abreden zu verstehen sind.37 Zutreffenderweise wird man alle Verhaltensabstimmungen - nicht nur die informellen - darunter fassen müssen.38 Soweit die Verknüpfung von kooperativem und informalem Verwaltungshandeln auf den Verwaltungsakt verweist, so macht sie aber deutlich, daß Kooperation einen grundsätzlich anderen Ansatz gegenüber der das Bild von Staat und Verwaltung prägenden einseitigen Intervention in die gesellschaftlichen Verhältnisse darstellt. Herkömmlichem Verständnis nach ist der Staat eine von der Gesellschaft abgehobene, zu eigener Willensbildung und einseitigem Handeln fähige institutionelle Einheit. Kooperation weist als real zu beobachtendes Phänomen auf die Grenzen dieses Konzepts des Staates hin. Am kooperativen Verwaltungshandeln zeigt sich, daß sich öffentliche Aufgaben vielfach nicht durch einseitige Entscheidungen staatlicher Stellen, sondern erst im Zusammenwirken mit Privaten erfüllen lassen. Kooperation 35

Vgl. J.-P. Schneider, Kooperative Verwaltungsverfahren, VerwArch 87 (1996), 38ff.; H.Ch. Röhl Staatliche Verantwortung in Kooperationsstrukturen, DV39 (1996), 487ff.; H. Schulze -Fie litz, Kooperatives Recht im Spannungsfeld von Rechtsstaatsprinzip und Verfahrensökonomie, DVB11994,657ff.; N. Dose, Kooperatives Recht, DV27 (1994), 91 ff.; V. Neumann, Freiheitsgefährdungen im kooperativen Sozialstaat, 1992; E.H. Ritter, Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, StWuStP 2 (1990), 50ff.; J.J. Hesse, Aufgaben einer Staatslehre heute, JbStuVwW 1 (1987), 55,68 ff.; Ε. H. Ritter, Der kooperative Staat, AöR 104 (1979), 389ff. 36 Siehe etwa W. Er ohm, Rechtsstaatliche Vorgaben für informelles Verwaltungshandeln, DVB1 1994, 133ff.; H.Dreier, Informales Verwaltungshandeln, StWuStP4 (1993), 647ff.; V. Neumann, VSSR 1993,119ff.; M. Schulte, Informales Verwaltungshandeln als Mittel staatlicher Umwelt- und Gesundheitspflege, DVB1 1988, 512ff.; H.Bauer, Informelles Verwaltungshandeln im öffentlichen Wirtschaftsrecht, VerwArch 78 (1987), 241 ff.; E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981. 37 H. Schulze-Fielitz, Kooperatives Recht im Spannungsfeld von Rechtsstaatsprinzip und Verfahrensökonomie, in: Dose/Voigt, Kooperatives Recht, 1995, S.225. 38 V. Neumann,, VSSR 1990,119, 120.

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kann insoweit als Instrument zur Sicherstellung der Handlungsfähigkeit des Staates verstanden werden. 39 Doch ist das Abgehen von hoheitlicher Einwirkung folgenreich: Der kooperative Staat ist nicht mehr die überlegene autonome Einheit, die einseitig ihren Willen exekutiert - er erscheint nur mehr als Mitspieler, der seine Aufgaben im Zusammenwirken mit Privaten erledigt. 40 Mit Kooperation als wechselseitiger Einflußnahme, gemeinsamer Zielsetzung und gemeinsamer Zielverwirklichung 41 öffnet sich der Staat der Mitgestaltung durch Private. Weil diese dabei mit ihren eigenen Interessen und ihrer eigenen Handlungslogik einbezogen werden, stellt sich die Frage nach dem Ausgleich der tangierten Interessen: Kooperation kann die Interessen privater Dritter, aber auch des privaten Kooperationspartners oder die öffentlichen Interessen beeinträchtigen.42 Freilich ist der Staat, der zur Kooperation greift, nicht zu einem gleichrangigen Verhandlungspartner Privater geworden und hat seine Fähigkeit völlig verloren, regelnd in die Lebensverhältnisse einzugreifen. Der Staat begibt sich wohl der Illusion der Autonomie, stellt sich aber nicht auf dieselbe Stufe wie seine Kooperationspartner. In der Kooperation verzichtet der Staat nicht auf die absichtsvolle Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und läßt sich von seinen (privaten) Kooperationspartner instrumentalisieren. Der Staat zehrt sich durch Kooperation nicht völlig auf: Auch wenn seine - immer mehr gedachte denn reale - Autonomie nunmehr zugunsten kooperativer Strukturen zur Gesellschaft hin durchlässiger wird, so verliert er dadurch weder seine Ziele noch seine Machtmittel, es verändert sich allerdings die Art seiner Aufgaben Wahrnehmung.43 Zwar erhält der staatliche Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß durch die Beteiligung Privater eine neue Qualität. Das ändert freilich nichts an der Verantwortung der Träger öffentlicher Gewalt für die Sachaufgabe. Über die Mittel, um diese wahrzunehmen, verfügt der Staat weiterhin. Die gemeinwohlorientierte Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse ist allerdings voraussetzungsvoller geworden.

39 Siehe dazu: E.H. Ritter, StWuStP2 (1990), 50, 58ff.; H. Bauer, VerwArch 78 (1987), 241, 250 ff. 40 D.Fürst, Zur Neubelebung der Staatsdiskussion, JbStuVwW 1 (1987), 261, 266; E.-H. Ritter, Staatliche Steuerung bei vermindertem Rationalitätsanspruch, JbStuVwW 1 (1987), 321, 341 ff. 41 E.H. Ritter, AöR 104 (1979), 389, 396. 42 H. Schulze-Fielitz, in: Dose/Voigt, Kooperatives Recht, S.225, 229. 43 J.J. Hesse, JbStuVwW 1 (1987), 55,71 ff. hat hier von einer „Führungsaufgabe" gesprochen, die drei strategische Funktionen umfaßt: eine Orientierungsfunktion (Probleme frühzeitig aufzugreifen, zu benennen, Optionen für ihre Bearbeitung zu schaffen, Ziele und Leitlinien für Lösungswege zu bezeichnen, auch ungewünschte Folgewirkungen abzuschätzen), eine Organisationsfunktion (alle wichtigen Akteure zu mobilisieren und zu gemeinsamem Handeln zusammenzuführen) und eine Vermittlungsfünktion (kollektives Handeln nicht nur zu initiieren, sondern auch zu motivieren und moderieren).

Einleitung

b) Regelungsstrukturen

und Verantwortungsteilungen

Herkömmlich wird der Staat als institutionelle Einheit gedacht, die zu einseitiger gemeinwohlorientierter Intervention in die gesellschaftlichen Verhältnisse fähig ist. Während der Staat steuernd auf die Gesellschaft einwirkt, erscheint die Gesellschaft nur als Objekt staatlicher Steuerung.44 Freilich ist die Gesellschaft nicht so handlungsunfähig, wie es diesem Bild entsprechen müßte. Dementsprechend hängt die Steuerbarkeit von der Verfaßtheit der Gesellschaft ab. Dies reflektiert in gewisser Weise die Beschreibung als kooperativer Staat, die auf die Notwendigkeit und Möglichkeit von Verhandlungen mit gesellschaftlichen Akteuren zur Verwirklichung von Gemeinwohlzielen hindeutet. Aus der Handlungsfähigkeit des Staates wird so Verhandlungsfähigkeit. Identifiziert man staatliche Steuerung mit einseitiger Intervention, so scheint der kooperierende Staat seine Fähigkeit zur absichtsvollen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse verloren zu haben. Gleichwohl ist der kooperative Staat nicht zu einem Privaten gleichrangigen Verhandlungspartner geworden und seiner Fähigkeit verlustig gegangen, regelnd einzugreifen und absichtsvoll Steuerungsziele zu erreichen. Mit Kooperation allein ist die Tätigkeit des Staates nicht angemessen zu erfassen, weil sie zu sehr seine Unfähigkeit zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse behauptet. Dagegen erscheint der Steuerungsbegriff wiederum zu eng, weil er zu sehr mit einer sich in einseitigen Interventionen erweisenden Handlungsfähigkeit gleichgesetzt wird und die Gesellschaft zu sehr als reines Objekt staatlichen Handelns begreift. Deshalb wird die Ersetzung des Begriffs der Steuerung durch den der Regelung vorgeschlagen, der einseitige Intervention als mögliche Variante mitumfaßt. 45 Dabei erweist sich die Handlungsfähigkeit des Staates als von der Steuerbarkeit der verschiedenen Regelungsfelder abhängig. Je nach institutioneller Struktur können diese in unterschiedlicher Weise zur Selbstorganisation fähig sein. Wirkt der Staat auf sie ein und macht sich ihre Selbststeuerungsfähigkeit zunutze, dann kann sich daraus eine komplexe Mischung aus staatlicher Regelung und gesellschaftlicher Selbstorganisation ergeben. Für staatsnahe Sektoren, in denen diese Mischung vornehmlich vorkommt, ist eine Differenzierung zwischen Regelungs- und Leistungsstrukturen vorgeschlagen worden. Dabei werden unter Leistungsstrukturen die Einrichtungen verstanden, die unmittelbar der Erbringung von Leistungen dienen, während Regelungsstrukturen die Institutionen und Akteurskonstellationen umfassen, in denen die 44 Zum Steuerungsbegriff: R. Mayntz, Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme, JbStuVwW 1 (1987), S. 89ff. und neuerdings dies., Politische Steuerung: Aufstieg, Niedergang und Transfonnation einer Theorie, PVS-Sonderheft 26/1996, S. 148 ff. 45 R. Mayntz/F. Scharpf\ Steuerung und Selbstoiganisation in staatsnahen Sektoren, in: dies., Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, S.9, 16. - Der Regelungsbegriff ist dem englischen „governance" verpflichtet, das mehr als Regieren bedeutet, nicht nur auf das Verwalten im Sinne der Institutionen, Verfahren und Formen der öffentlichen Verwaltung beschränkt ist, sondern all die Verhältnisse umfaßt, in denen zwischen Verwaltung und Privaten öffentliche Aufgaben erfüllt werden.

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Leistungsstrukturen absichtsvoll gestaltet werden. 46 Die tatsächliche Bewirkung von Ergebnissen wird damit von der Gestaltung ihrer Rahmenbedingungen getrennt. Dies ist kennzeichnend für den staatsnahen Sektor, in dem der Staat Leistungen nicht selbst erstellt und damit Ergebnisse nicht selbst bewirkt, sondern dies gesellschaftlichen Akteuren überläßt, ohne dadurch das Interesse an den Ergebnissen zu verlieren. Die Differenzierung zwischen Leistungs- und Regelungsstruktur spiegelt damit eine Differenzierung in der vom Staat wahrgenommenen Verantwortung wider. Auch hinsichtlich der Regelung sind Differenzierungen möglich: Der Staat kann die Leistungsstruktur durch einseitige Intervention beeinflussen, auf sie aber auch über die nichtstaatliche Regelungsstruktur einwirken. 47 In diesen nichthierarchischen, netzwerkartigen Strukturen werden dann Ergebnisse durch Verhandlungen - freilich „im Schatten der Hierarchie" 48 - herbeigeführt. Dabei versucht der Staat, diese Strukturen, ihre Institutionen und Akteurskonstellationen so zu gestalten, daß sich mit ihnen bei der Verfolgung von Partikularinteressen Wohlfahrtseffekte erreichen lassen. Eine solche auf die gemeinwohlorientierte Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtete Koordination partikularer Handlungsstrategien ist alles andere als trivial. So sehr auch die Regelungsstrukturen die Handlungsfähigkeit des Staates betonen und nur - aber immerhin - daraufhinweisen, daß sie voraussetzungsvoller ist, als ein einfaches Interventionsmodell glauben macht, so wird doch daraus auch noch nicht ganz klar, worin denn nun der Anteil des Staates an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Einzelfall besteht. Dies ist kein Konstruktionsmangel, sondern dem Ansatz geschuldet, einen Rahmen bereitzustellen, der die Analyse einer Vielzahl von je nach Regelungsfeld unterschiedlichen institutionellen Ausprägungen ermöglichen soll. Freilich ist der Grad der Involviertheit des Staates durchaus unterschiedlich. Diesem Aspekt wird die Unterscheidung von Verantwortungsteilungen gerechter. Diese geht von dem der Differenzierung von Leistungs- und Regelungsstruktur zugrundeliegenden Gedanke aus, daß Verwaltungsaufgaben nicht nur durch den Verwaltungsapparat selbst, sondern auch durch Private erfüllt werden können. Dies ist keine neue Erkenntnis. 49 Das Verwaltungsrecht hält für diesen Sachverhalt die Figuren des Verwaltungshelfers und des Beliehenen bereit und in der Privatisierungsdebatte ist hierfür der Begriff der funktionalen Privatisierung geprägt worden. 50 Dabei 46 R. Mayntz/F. Scharpf\ in: dies., Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, S. 9, 16ff. 47 R. Mayntz/F. Scharpf\ in: dies., Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, S.9, 27 f. 48 F. Scharpf \ Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, PVS 32 (1991), 621, 629. 49 Siehe nur F. Ossenbiihl, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1971), S. 137 ff.; H.-U. Gallwas, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1971), S. 211 ff. 50 Siehe nur L. Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), S. 204, 223 und 234 ff. sowie H. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), S. 243, 252.

Einleitung

versucht die Unterscheidung zwischen Aufgabenträgerschaft und Aufgabenerledigung bzw. zwischen Bereitstellung und Herstellung öffentlicher Güter die Grenze der Verwaltungshilfe nachzuziehen.51 Dies liegt auch der Unterscheidung von voller Erfüllungsverantwortung einerseits und Beratungs-, Überwachungs-, Organisationsund Einstandsverantwortung 52 andererseits zugrunde, die aber in dem hier interessierenden Bereich das Verhältnis staatlicher und privater Anteile an der Erledigung öffentlicher Aufgaben stärker differenziert. Beratung, Überwachung, Organisation und Einstehen kennzeichnen unterschiedliche Ausprägungen, die der staatliche Beitrag an der Erledigung öffentlicher Aufgaben annehmen kann. Auch mit Gewährleistungs-, Auffang-, Reserve- und Rahmenverantwortung 53 wird versucht, ein differenzierteres Bild des staatlichen Beitrags bei der in Kooperation mit Privaten erfolgenden Erledigung öffentlicher Aufgaben zu entwickeln.54 Daß die Herauslösung von Handlungskomplexen aus der Verantwortung des Verwaltungsträgers nicht unproblematisch ist, ist keine neue Erkenntnis. Zwar erschließt sich die Verwaltung dadurch administratives Potential; sie erkauft sich diesen Zuwachs aber mit einem Schwund an (direkter) Steuerungsmöglichkeit. Im Hinblick darauf wurde nicht nur zwischen exklusiver Wahrnehmungszuständigkeit der Verwaltung und möglicher Aufgabenübertragung sowie zwischen Übertragung unter Begründung einer Garantenstellung, also unter Beibehaltung einer gewissen Verwaltungsverantwortung, und Übertragung mit befreiender Wirkung unterschieden, sondern vor allem der Sinn dieser Garantenstellung dahingehend umschrieben, sie gehe primär dahin, den Verwaltungsmittler zu binden und zu kontrollieren, und begründe sekundär eine Einstandspflicht. 55 Damit sind bereits Grundfragen von Verantwortungsteilungen angesprochen und in einen Zusammenhang gebracht worden. Im Rahmen der gegenwärtigen Debatte um die Modernisierung des öffentliche Sektors werden ganz ähnlich Fragen bei der Leistungstiefenanalyse als Voraussetzung rationaler Aufgabenzuordnungsentscheidungen an der Schnittstelle zwischen öffentlicher Verwaltung und gesellschaftlichem Bereich aufgeworfen. 56

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L. Osterloh, VVDStRL 54 (1995), S.204, 234f. E. Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11, 43 f. 53 H. Bauer, VVDStRL 54 (1995), S.243, 277ff.; W. Hoffmann-Riem, Organisationsrecht als Steuerungsressource, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S.355, 363 ff. 54 Deren Mehrdimensionalst spiegelt es wider, wenn H.-H. Trute, DVB1 1996, 950ff. einerseits zwischen Rahmen- und Erfüllungsverantwortung weitere Typen von Verantwortungsteilungen unterscheidet und andererseits eine Legitimationsverantwortung ins Spiel bringt. 55 H.-U. Gallwas, VVDStRL 29 (1971), S.211, 216ff. 56 Näher dazu F. Naschold/D. Budäus/W. Jann/E. Mezger/M. Oppen!A. Picot/Ch. Reichard E. Schanze/N. Simon, Leistungstiefe im öffentlichen Sektor, 1996. 52

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c) Kooperation im Vertragsarztrecht Bisher war von Kooperation zwischen Staat und Privaten die Rede, die das herkömmliche Bild des Staates fragwürdig erscheinen läßt. Das Vertragsarztrecht fällt aus diesem Raster heraus: Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen, die beiden Hauptakteure, sind Körperschaften des öffentlichen Rechts,57 so daß formal gesehen eine Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Handlungssubjekten nicht stattfindet. Allerdings wird die vertragsärztliche Versorgung nicht durch die Kassenärztlichen Vereinigungen, sondern durch die Vertragsärzte erbracht, die jedenfalls in dienstrechtlicher Sicht nicht in den hoheitlichen Bereich einbezogen sind.58 In der Sache findet eine Kooperation öffentlich-rechtlicher Versicherungsträger mit privaten Leistungserbringern statt, die durch öffentlich-rechtlich organisierte Verbände mediatisiert sind. Insoweit muß es auch einem auf die Schnittstelle zwischen Staat und Bürger beschränkten Verständnis gerechtfertigt erscheinen, hier von Kooperation zu sprechen. Doch wohnt die Beschränkung auf diese Schnittstelle dem Begriff der Kooperation keineswegs notwendig inne. Ein auf die Schnittstelle zwischen Staat und Privaten beschränkter Begriff der Kooperation unterstellt eine Einheit des Staates, wie sie gerade im Vertragsarztrecht sinnfälligerweise nicht existiert. Es handelt sich hier um Strukturen, die gerade darauf aus zu sein scheinen, die Einheit des Staates in diesem Bereich zu verhindern: ein staatliches Gesundheitswesen.59 Zu Recht werden auch Verhandlungen im Binnenbereich des Staates dem Phänomen des kooperativen Staates zugerechnet.60 Auch hier verweist Kooperation auf Grenzen des herkömmlichen Staatsverständnisses hin, das diesen als hierarchisch integrierte institutionelle Einheit sieht. Überdies wird der soziale Sektor in Deutschland aufgrund seiner öffentlich-rechtlichen Organisationsformen vorschnell dem Staat zugerechnet.61 Zwar sind die Träger der Sozialversicherung, des Kernbereichs des Sicherungssystems, körperschaftlich verfaßt und gerade die Körperschaft ist als Kooperationsform von Staat und Privaten bezeichnet worden, 62 doch liegt für sie das Etikett „mittelbarer Staatsverwaltung" schon bereit, das der Herausforderung, die ihre rechtliche Verselbständigung 57

S.u. §31, §41. Zur Diskussion um die Gebundenheit des Kassenarztberufs und seinen Amtscharakter siehe unten § 2 V 2b. - Zur Beschreibung der Funktion der Vertragsärzte im Gesamt der Naturalleistungserbringung greift das BSG auf die Figur der Beleihung zurück (BSGE 73,271,278 und 281), was - ungeachtet der Frage, ob diese Einordnung zutreffend ist - darauf hinweist, daß der Vertragsarzt sich nicht allein im privaten Bereich bewegt, sondern mit Wirkung für die Krankenkassen in deren Verhältnis zu den Versicherten rechtswirksam Entscheidungen treffen kann (siehe dazu unten § 1112). 59 Vgl. dazu//. Zacher! M. Friedrich- Marczyk, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst?, 1980. 60 Vgl. A. Beni , Kooperative Verwaltung, 1994, S. 204ff. 61 Siehe nur M. Schmidt-Preuß, VVDStRL 56 (1997), S. 160, 163 Fn.6. 62 G. F. Schuppert, Selbstverwaltung als Beteiligung Privater an der Staatsverwaltung?, in: Festgabe für G. Ch. ν. Unruh, 1983, S. 183,187ff. 58

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offenbar bereitet, mit der Betonung ihrer Eingliederung in die Einheit des Staates begegnet.63 Dem etatistischen Grundzug der Bismarckschen Sozialversicherung mag dies entsprechen. Freilich ist dieser nie so verwirklicht worden, wie es ursprünglich geplant war. 64 Gerade die Krankenversicherung war ein Bereich, der politisch keine große Aufmerksamkeit fand. 65 Ihre Gliederung kündet noch heute davon, wie wenig Gestaltungs wille sich auf sie konzentrierte, wie sehr beibehalten wurde, was sich bereits herausgebildet hatte, bevor der Staat regelnd einschritt. 66 Die Krankenkassen waren ursprünglich Selbsthilfeeinrichtungen und wurden erst im Laufe der Zeit immer stärker in staatlich kontrollierte bürokratische Apparate überführt. 67 Der soziale Sektor ist ohnehin ein Musterfall komplexer Interaktionen zwischen privatem, gesellschaftlichem und staatlichem Bereich. 68 Die seit je umstrittene Ziehung der Grenze zwischen öffentlichem und privatem Recht bei der Erbringung von Sozialleistungen durch Dritte zeugt davon.69 Die soziale Aufgabe impliziert keine bestimmte Form ihrer Durchführung. Wie sie erledigt wird - durch Markt, Staat oder zwischen diesen angesiedelten Institutionen - kann ganz unterschiedlich beantwortet werden. Nicht zufällig findet sich gerade hier die Rede von einem „Dritten Sektor". 70 Die Krankenkassen gehören in diesem Verständnis heute nicht mehr dem Bereich der Selbsthilfe an. Doch können sie als staatlich kontrollierte Kollektive der Versicherten begriffen werden. Bei ihnen ist eine komplexe Mischung öffentlicher und privater Elemente anzutreffen: Eine tragende Rolle spielt die versicherungsmäßige Finanzierung; 71 der Staat beschränkt sich dagegen (formal) auf die Setzung gesetzlicher Rahmenvorgaben und die Ausübung der (Rechts-) Aufsicht. Verdeckt wurde die geringe Bedeutung, die der Staat hier tatsächlich wahrnimmt, durch eine Überschätzung der Steuerungswirkungen des Gesetzes. Bis in die jüngste Zeit hin63

Siehe nur BVerfGE 39, 302, 313. Die Zusammenfassung der „realen Kräfte des Volkslebens" in „corporativen Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung", von der in der vielfach als „Magna Charta" des deutschen Sozialversicherungsrechts bezeichneten Kaiserlichen Botschaft vom 17.11.1881 die Rede war (abgedruckt bei M. Stolleis, Quellen zur Geschichte des Sozialrechts, 1979, S. 105), spiegelte nicht das eigentliche Programm der Sozialgesetzgebung wider, sondern war eine politischen Gründen geschuldete Abkehr von der ursprünglich geplanten Reichsversicherungsanstalt (vgl. F. Tennstedt, Vorgeschichte und Entstehung der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881, ZSR 27 [1981], 663ff., insb.703f. - s. a. ders., „Der Staat hat wenig Liebe - activ wie passiv", ZSR 39 [1993], 362. 378f.; ders.,, Jeder Tag hat seine eigenen Sorgen...", ZSR 41 [1995], 671, 676f.). 65 F. Tennstedt, Soziale Selbstverwaltung, Bd. 2,1977, S.23. 66 Näher unten § 3 III 1. 67 S.u. §3 V. 68 Siehe dazu aus rechtsvergleichender Sicht H. ZacherlF. Kessler, Die Rollen der öffentlichen Verwaltung und der privaten Träger in der sozialen Sicherheit, ZI AS 4 (1990), 97 ff. 69 Dazu umfassend/. Schmitt, Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht, 1990. 70 Siehe dazu G. Schuppert, Zur Anatomie und Analyse des Dritten Sektors, DV28 (1995), 137 ff. 71 Dazu unten § 31. 64

3 Wahl

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ein war die Vorstellung dominierend, daß das Gesetz abschließend die Krankenversicherungsleistungen definiere. 72 Nicht zur Kenntnis genommen wurde die geringe rechtliche Determinierbarkeit von Dienstleistungen.73 Jedenfalls erfüllt der Sozialstaat Aufgaben der sozialen Krankenversicherung nicht ohne Bedacht nicht durch die staatliche Bürokratie. Auch wenn der Grund dafür nur in der Ausgestaltung ihrer Finanzierung liegen sollte, so ist es doch nicht ohne Belang, daß die Krankenversicherung dadurch auch in der Sache dem Staat gegenüber distanziert erscheint. Die soziale Aufgabe erscheint eher als Bindeglied zum Staat,74 denn als vom Staat den Versicherungsträgern übertragene genuin staatliche Aufgabe. d) Korporatismus Für das zwischen Markt und Staat angesiedelte Steuerungsmodell, dessen sich das Gesetz in der sozialen Krankenversicherung bedient, findet sich vielfach die Bezeichnung „korporatistisch". 75 Als korporatistisch werden die Strukturen des Vertragsarztrechts bezeichnet, weil hier hochgradig verbandlich organisierte Interessengruppen in die öffentliche Verwaltung hereingeholt werden, die hier ihre je eigenen Interessen verfolgen können, zugleich aber in ihrem Wechselspiel für die Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe in Dienst genommen werden. 76 Daran zeigt sich schon die Ambivalenz korporatistischer Arrangements: Einerseits öffnet sich der Staat in ihnen organisierten Interessen - aber nur um andererseits deren Organisation für seine Ziele zu benutzen. Das Eigentümliche von Korporatisierung, der Schaffung korporatistischer Strukturen, wird darin gesehen, daß der Staat damit „die Organisationsressourcen der Verbände - insbesondere ihre Verpflichtungsfähigkeit - in den Dienst staatlicher Politikziele stellt, damit aber auch den Staat selbst von unmittelbarer Dienstleistungsproduktion entlastet".77 72

E. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 275ff., insb. 277 in Anlehnung an BVerfGE 39, 302, 313. 73 Dazu nur H. Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 11, 35. 74 So - indes ablehnend - BVerfGE 39, 302, 313. 75 Siehe einerseits die Beiträge in G. Gäfgen, Neokorporatismus und Gesundheitswesen, 1988, und andererseits B. Schlink, Korporatismus im Krankenhauswesen, RsDE 11 (1990), 1 ff.; /. Ebsen, Rechtliche Instrumente der Freiheitssicherung und Steuerung bei der Leistungserbringung, SDSRV38 (1994), S.7,10,23; K.-J. Bieback, Die Einbindung nichtärztlicher Leistungserbringer in das System der gesetzlichen Krankenversicherung (Teil 1), NZS 1997,393, 394. - Im sozialrechtlichen Schrifttum weiter verbreitet ist ein Gegenmacht-Ansatz, der die Frühgeschichte des Kassenarztrechts nachzeichnet und das heutige Recht auf dieser Folie entwickelt (siehe nur G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.21 ff., 30 ff. mwN). 76 /. Ebsen, SDSRV 38 (1994), S. 7, 23. - Freilich ist gerade aus politikwissenschaftlicher Sicht darauf hingewiesen worden, daß im Gesundheitswesen wegen der Fragmentierung der Kassenseite nur mit Einschränkungen von Korporatismus gesprochen werden kann (M. Döhler/Ph. Manow, StWuStP 3 [1992], 64, 71). 77 G. Lehmbruch, Der Beitrag der Korporatismusforschung zur Entwicklung der Steuerungstheorie, PVS 37 (1996), 735, 744.

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Prägend für den Korporatismusbegriff war ein polemischer Bezug auf den Pluralismus. Ausgehend von Beobachtung wohlgeordneter und dauerhafter Beziehungen zwischen Staat und Verbänden wurde der Korporatismus als Monopolmodell der Interessenvermittlung dem pluralistischen Wettbewerbsmodell entgegengestellt: Während sich korporatistische Verbände durch ihre begrenzte Zahl, funktionale Differenzierung, fehlenden Wettbewerb, Mitgliedschaftszwang und hierarchische Struktur auszeichnen, sind pluralistische Verbände durch ihre Vielzahl und Vielfalt, fließende Grenzen, Wettbewerb, freiwillige Mitgliedschaft und nichthierarchische Struktur gekennzeichnet; während der Staat sich Interventionen in pluralistische Verbände enthält, beruht das Repräsentationsmonopol korporatistischer Verbände auf staatlicher Anerkennung, die im Austausch gegen eine Kontrolle der verbandlichen Interessenartikulation gewährt wird. 78 Insoweit widerspricht der Korporatismusansatz der in der Klage von der „Herrschaft der Verbände" 79 zugespitzten Sicht, die eine Infiltration der institutionalisierten Staatlichkeit durch organisierte Interessen sieht, die die Souveränität des Staates und dessen Fähigkeit zu einem gerechten Ausgleich der Interessen in Frage stellt. Souveränität läßt sich nach dieser Ansicht nur dadurch wahren, daß der Einfluß der Verbände auf den Staat unterbunden wird und diese auf Dienstleistungen für ihre Mitglieder beschränkt werden. 80 Unter dem Einfluß des Pluralismus hatte diese Position an Boden verloren. Die positivere Bewertung von Interessenverbänden ist dem Korporatismus gemein mit dem Pluralismus. Es geht nicht mehr um illegitime Herrschaft der Verbände, sondern um eine positiv bewertete Option politischer Steuerung.81 Dazu trägt eine Umkehrung der Perspektive bei: Der Staat bedient sich privater Interessen. Er ist nicht mehr (nur) Objekt von Verbandshandeln. Es geht nicht mehr um Kolonisierung des dem Allgemeininteresse verpflichteten Staates. Vielmehr ist es der Staat, der Verbände bewußt einsetzt. Verbände sind nicht mehr gleichsam souveräne, allein den partikularen Interessen ihrer Mitglieder verpflichtete Einheiten. Beschränkt sich die Funktion von Verbänden nicht mehr auf Einflußnahme, sondern werden diese in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben eingebunden, stellt sich die Frage nach der Gemeinwohlrelevanz in ganz anderer Weise. Die „korporatistische Tauschhypothese" geht davon aus, daß über die „Tauschgeschäfte", zu denen die Verbände genötigt sind, Wohlfahrtseffekte erreichbar sind. Paradoxerweise führt der Monopolcharakter der Verbände zu einer doppelten Restriktion: Nach innen sind heterogene Interessen zu bündeln und nach außen ist Rücksicht auf Gegeninteressen erforderlich. Umfassender Vertretungsanspruch nötigt also zu Kompromissen.82 Freilich besteht in korporatistischen Arrangements die Gefahr der Instrumen78 79 80 81 82

3*

R. Czada, Konjunkturen des Korporatismus, PVS-Sonderheft 25/1994, S.37,45. Th. Eschenburg, Herrschaft der Verbände? 1955. So berichtend D. Grimm, Verbände, HVerfR, § 15 Rn. 3 mwN. R. Czada, Konjunkturen des Korporatismus, PVS-Sonderheft 25/1994, S.37, 38. R. Czada, Konjunkturen des Korporatismus, PVS-Sonderheft 25/1994, S.37, 48f.

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talisierung staatlicher Hoheitsbefugnisse - insbesondere wenn staatliche Kontrolle durch einseitige Informationsabhängigkeit geschwächt wird. Private Macht resultiert hier allerdings nicht aus Verbandsressourcen, sondern aus staatlich zugewiesener Kompetenz, und es ist Sache des Staates, zwischen Staatsentlastung und Kolonisierung abzuwägen.83 Darüber hinaus werfen korporatistische Strukturen ein allgemeines demokratietheoretisches Problem auf: Eine auf Funktionalität und Leistungsfähigkeit gestützte materielle Legitimation ist defizitär gegenüber dem universalistischen Geltungsanspruch der Demokratie. Ändert man nicht die normativen Grundlagen, so ist die Chance formal gleicher Beteiligung aller betroffenen Interessen sicherzustellen. Werden aber staatlich Sicherungen erforderlich, so stellt sich das Problem: „Wenn in Verhandlungen der Schatten der Hierarchie zu lang und die Zahl der Beteiligten zu groß wird, geht der Vorzug freiwilliger Einbindung verloren." 84 Die Staatsentlastung verkehrt sich in ihr Gegenteil. Soll Korporatismus mehr als modisches Accessoire sein, so stellt sich die Frage nach seinem Ertrag für das Recht. Korporatisierung, die Indienstnahme der Organisationsressourcen der Verbände durch den Staat, ist voraussetzungsvoll und folgenreich. Normativ weist der Korporatismus auf die Problematik vor allem - aber nicht nur - verbandlicher Kooperation hin: Vor dem Hintergrund des universalistischen Anspruchs des demokratischen Gedankens stellen sie eine problembeladene selektive Erweiterung von Partizipationsmöglichkeiten dar. Dagegen werden ihr im Hinblick auf ihre Leistungsfähigkeit Vorteile attestiert. Und auch Effizienz läßt sich als Aspekt des demokratischen Gedankens begreifen.

3. Gang der Untersuchung Einer auf Rückzug des Staates drängenden Sicht mag das Sozialrecht von vornherein antiquiert erscheinen. Dennoch lohnt es sich, bei der Neuvermessung des öffentlichen Sektors einen Blick auf die Lösungen zu werfen, die das Sozialrecht gefunden hat. Denn die Probleme, vor die sich dieses gestellt sieht, tun sich gerade bei einer Änderung des staatlichen Steuerungsansatzes in anderen Bereichen in ähnlicher Weise auf. Dies gilt gerade für das Vertragsarztrecht: So ist das Krankenversicherungsrecht seit jeher vom Naturalleistungsprinzip geprägt, einer eigentümlichen Verantwortungsteilung zwischen öffentlichen Leistungsträgern und privaten Leistungserbringern. 85 Dieses auf Kooperation angelegte Verhältnis wird im Vertragsarztrecht institutionell verfestigt und mittels Organisationen, Verfahren und Formen strukturiert. Hier müßten sich Erfahrungen über den Umgang mit Verantwortungsteilungen angesammelt haben.

83 84 85

R. Czada, Konjunkturen des Korporatismus, PVS-Sonderheft 25/1994, S.37, 51. R. Czada, Konjunkturen des Korporatismus, PVS-Sonderheft 25/1994, S.37, 50. Näher unten §1 I I I .

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Freilich stellt sich gegenwärtig die Frage, ob das Vertragsarztrecht künftig noch insoweit als „Referenzgebiet" 86 taugen mag. Es lassen sich Bemühungen um eine immer stärkere Annäherung der Institute des Vertragsarztrechts und des übrigen Leistungserbringungsrechts an die Dogmen des klassischen, an der hierarchischen Verwaltung orientierten Verwaltungsrechts beobachten. Dadurch kann das Leistungserbringungsrecht nicht nur seine gegenwärtigen Strukturen verlieren, sondern auch um seine Funktionsfähigkeit gebracht werden. In Frage gestellt werden die Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts gegenwärtig mehr durch eine immer dezidierter die hierarchische Verwaltung als allein verfassungsgebotenes Ordnungsmodell betonende Dogmatik87 als durch Interventionen europarechtlicher Provenienz. Zwar werden die Marktfreiheiten und die Wettbewerbsregelungen des Gemeinschaftsrechts zunehmend auf das Sozialversicherungsrecht appliziert und gelegentlich die Forderung nach einer Umstellung auf wettbewerbliche Strukturen erhoben.88 Die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten fallen jedoch nicht unter das Wettbewerbsrecht des EGV, soweit mit ihnen ein ausschließlicher sozialer Zweck verfolgt wird. 89 Freilich hat der EuGH dies im Hinblick auf die Zulässigkeit der Versicherungspflicht, also für das Verhältnis sozialer Sicherungssysteme zu (privaten) Versicherungsunternehmen, nicht aber für deren Beziehungen zu den Erbringern medizinischer Leistungen ausgesprochen. Die hier zu beobachtenden Marktzugangsbeschränkungen sind jedoch nicht kategorisch unzulässig.90 Namentlich die Gefährdung des finanziellen Gleichge86

E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, S. 11, 14f. und 26f.; ders., Zur Funktion des Allgemeinen Verwaltungsrechts, DV27 (1994), 137, 148f. 87 Siehe insb. unten §8 12. 88 R. Pitschas, Die Weiterentwicklung der sozialen Krankenversicherung in Deutschland im Gegenlicht europäischer Gesundheitspolitik, VSSR 1994, 85, 101. 89 EuGH, EuZW 1993, 355 = NJW 1993, 2597 Tz. 17ff. (Poucet und Pistre). - Siehe aber auch EuGH, NJW 1991,2891 Tz.21 ff. (Höfner); EuZW 1996,277 Tz. 14ff. (Fédération Française des Sociétés d'Assurances). - Siehe ferner die Ausführungen des Generalanwalts Jacobs in: Slg.1995,1-4705. 90 EuGH, NJW 1984, 542 Tz.20ff. (Duphar). - Bemerkenswerterweise ist dies für die Warenverkehrsfreiheit ausgesprochen worden, so daß insoweit die Bedeutung der früher viel diskutierten Frage, ob Art. 52 II EGV aF nur ein Diskriminierungsverbot oder ein Verbot unverhältnismäßiger Beschränkung enthält (siehe dazu nur P. Troberg, in: v. d. Groeben/Thiesing/ Ehlermann, EWGV, Art. 52 Rn. 31 ff.; A. Randelzhofen, in: Grabitz/Hilf, EGV, Art. 52 EWGV Rn. 43 ff., H.Jarass, Elemente einer Dogmatik der Grundfreiheiten, EuR 1995, 202, 214f.; K. Hailbronner/A. Nachbaur, Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Binnenmarkt 1992, WiVerw 1992,57,76ff.; P. Behrens, Die Konvergenz der wirtschaftlichen Freiheiten im europäischen Gemeinschaftsrecht, EuR 1992,145,157 ff.), relativiert wird. Der EuGH geht inzwischen von letzterem aus (EuGH, EuZW 1996,92 = JZ 1996,465 Tz. 37 [Gebhard] m. Anm. D. Ehlers/K. Lackhoff,; JZ 1996, 467 ff.; EuGH EuZW 1997, 443 Tz. 24ff. [Futura] m. Anm. R. v. Borries, EuZW 1997, 446ff. - Zu dieser Rechtsprechung M. Eberhartinger, Konvergenz und Neustrukturierung der Grundfreiheiten, EWS 1997,43,46ff.). - EuGH, EuZW 1998,124 Tz. 26 ff. (Sodemare) hat die Kriterien von EuGH, EuZW 1993,355 = NJW 1993,2597 (Poucet und Pistre) aus dem Wettbewerbsrecht auf die Marktfreiheiten übertragen.

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wichts der sozialen Sicherungssysteme kann Beschränkungen der Marktfreiheiten rechtfertigen. 91 Gleichwohl machen Entscheidungen des EuGH zur Kostenerstattung für medizinische Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat92 darauf aufmerksam, daß die territorial begrenzte Sachleistungserbringung gemeinschaftsrechtlich nicht unproblematisch ist. Die Monopolstellung von Verbänden der Leistungserbringer steht darüber hinaus auch in einem Spannungsverhältnis zum Wettbewerbsrecht des EGV, das bisher kaum Beachtung gefunden hat.93 Immerhin soll durch den Amsterdamer Vertrag in Art. 152 V EGV nF festgeschrieben werden, daß bei der Tätigkeit der Gemeinschaft im Bereich der Gesundheitspolitik die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt bleibt. Wie sich dies auswirken wird, bleibt abzuwarten. Schon in der Vergangenheit hat sich das Europarecht nicht einmal gegen ein staatliches Gesundheitswesen gesträubt. Daß alle Übergangsformen zwischen Markt und Staat im Gesundheitswesen gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen sollen, will nicht einleuchten. Sicher ist aber, daß sich jede in diesem Zwischenbereich anzutreffende Regulierung zu rechtfertigen hat. Diese gemeinschaftsrechtlichen Fragestellungen bedürfen einer vertieften Behandlung, die in dieser Arbeit nicht geleistet werden kann. Um die Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht angemessen beurteilen zu können, werden im folgenden zunächst die Grundlinien der Leistungsstruktur entfaltet (§ 1) und die Interessenlagen erörtert, auf die diese treffen (§ 2). Sodann wird es darum gehen, die Hauptakteure, die Krankenkassen (§ 3) und Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 4), gerade im Bezug zu den Trägern der von ihnen repräsentierten Interessen in den Blick zu nehmen. Denn Kooperation dient auch im Vertragsarztrecht wesentlich dem Ausgleich von Interessen. Der Kooperation gibt das Gesetz zwar materielle Ziele vor (§ 5), strukturiert sie aber vor allem durch Organisationen, Verfahren und Formen (§§ 6, 7), die es bereitstellt. Gerade letztere, die (Rechts-) Formen, haben immer wieder Aufmerksamkeit gefunden, weil sie sich in den Typenvorrat des an anderen Referenzgebieten ausgerichteten allgemeinen Verwaltungsrechts nur schwer einordnen lassen. Dessen Handlungstypen finden sich inzwischen vielfach derart mit verfassungsrechtlichen Dogmen kurzgeschlossen, daß den Kooperationsstrukturen immer mehr das Mal der Verfassungswidrigkeit aufgedrückt wird. Wieweit die verfassungsrechtlichen Einwände gerechtfertigt sind, wird abschließend zu beurteilen sein (§ 8). 91

So jüngst EuGH, NJW 1998, 1769 Tz. 39 (Decker) und NJW 1998, 1771 Tz. 41 (Kohll). EuGH, NJW 1998, 1769 (Decker) und NJW 1998,1771 (Kohll). 93 Vgl. R. Giesen, Sozialversicherungsmonopol und EG-Vertrag, 1995, 127f.; S. Zechel, Die territorial begrenzte Leistungserbringung der Krankenkassen im Lichte des EG-Vertrages, 1995,90 f. - Unverständlich ist es, wenn zwar die Verbände der Krankenkassen, nicht aber die Kassenärztlichen Vereinigungen als Unternehmensvereinigungen im Sinne des Art. 851 EGV aF angesehen werden (so aber S. Zechel, aaO 84 ff.). - Dagegen will R. Pitschas, VSSR 1994, 85, 101 f. die Sonderstellung des Vertragsarztrechts aus dem Gedanken der „sozialen Kohäsion" rechtfertigen. 92

Erster Teil

Grundlagen Eine Beschäftigung mit den Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts erscheint ohne Vergewisserung der Grundlinien der Leistungsstruktur wenig sinnvoll. Denn zwar lassen sich die Regelungsstrukturen von der Leistungsstruktur unterscheiden und getrennt betrachten. Doch bleiben die Regelungsstrukturen nicht nur in einem tatsächlichen Sinne auf die Leistungsstruktur bezogen. Das Leistungsgeschehen, die vertragsärztliche Versorgung, ist nicht nur der Gegenstandsbereich, um den es der kooperativen Gestaltung durch die Verbände der Ärzte und Krankenkassen geht. Vielmehr ermöglicht und beschränkt die Eigenart der Leistungsstruktur zugleich diese kooperative Gestaltung und zieht ihr einen Rahmen. Die Eigenart der Leistungsstruktur wird dabei wesentlich durch gesetzliche Vorgaben bestimmt. Die Ausgestaltung der Versorgung der Versicherten mit ambulanten ärztlichen Leistungen ist keineswegs allein verbandlicher Kooperation überantwortet. Der Gesetzgeber hat hierbei seine sozialstaatliche Verantwortung durchaus wahrgenommen. Bis vor kurzem war es sogar weitverbreitete Auffassung, daß sich dem Gesetz Ansprüche auf bestimmte Behandlungsmaßnahmen entnehmen lassen. Ware dem so, wäre das gesamte Leistungsgeschehen bereits im Gesetz vorgezeichnet und harrte nur der richtigen Anwendung auf den Einzelfall, so würde sich allerdings die Frage stellen, was überhaupt der Gegenstand kooperativer Gestaltung ist. Um Klarheit über den Gegenstandsbereich der Kooperation zu gewinnen, sollen daher in einem ersten Schritt die Grundlinien der Leistungs struktur nachgezeichnet werden (§1). Eine Beschäftigung mit den Kooperationsstrukturen im Vertragsarztrecht hat sich aber nicht nur der gesetzlichen Ausgestaltung der Leistungsstruktur zu vergewissern. Kooperation in diesem Sachbereich ist nicht nur ein Mittel zur Gestaltung des Leistungsgeschehens, das aus dessen Eigenart Möglichkeiten und Grenzen, Zielrichtung und Maßgaben erfährt. Kooperation ist auch und gerade ein Instrument des Interessenausgleichs. Weil in den Kooperationsstrukturen verschiedene, teils gegenläufige, teils gleichgerichtete Interessen verarbeitet werden sollen, ist es erforderlich, diese Interessen namhaft zu machen, in ihrer Bedeutung und ihrem Gewicht zu erfassen, voneinander abzugrenzen und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Eine vollständige Analyse der Interessenlagen, auf die die verbandliche Kooperation im Vertragsarztrecht trifft, läßt sich allerdings nicht allgemein, sondern nur anhand einzelner Konfliktfelder durchführen. Wenn in einem zweiten Schritt die Interessenlagen zum Thema gemacht werden (§ 2), so soll sich deren Konturierung auf das beschränken, was losgelöst von einzelnen Konfliktlagen möglich ist.

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1. Teil: Grundlagen

An die Kooperationsstrukturen wird der Interessenausgleich nicht nur als materials Ziel - gleichsam von außen - herangetragen, vielmehr ist ihnen dieser - sozusagen von innen - eingeschrieben, indem die kooperierenden Verbände - freilich in unterschiedlicher Weise - den relevanten Interessen verbunden sind. Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen lassen sich allerdings als Interessenverbände allein nicht erklären. Dem herkömmlichen Verständnis ist es ohnehin fremd, in den Krankenkassen Interessenverbände zu sehen. Daher wird es in einem dritten Schritt nicht nur darum gehen, den Bezug von Krankenkassen (§ 3) und Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 4) zu den relevanten Interessen nachzuzeichnen, sondern auch darum, wie die Rechtsordnung diese Körperschaften überhaupt ausgestaltet hat.

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur I. Struktur und Inhalt des Leistungsanspruchs Die Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts lassen sich angemessen nur vor dem Hintergrund der Grundlinien der in dem Sachbereich der vertragsärztlichen Versorgung anzutreffenden Leistungstrukturen beurteilen. Sicher dienen die Kooperationsstrukturen als bereichsspezifische Ausprägung von Regelungsstrukturen der absichtsvollen Gestaltung der Leistungsstrukturen. Doch ziehen die vom Gesetz vorgegebenen Grundlinien der Leistungsstruktur dieser Gestaltung Grenzen und weisen ihr zugleich die Richtung. Prägend für das gesamte hier in Rede stehende institutionelle Gefüge ist vor allem die normative Struktur des Leistungsanspruchs.

1. Finale Struktur des Krankenbehandlungsanspruchs Nach § 2711 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, „wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern." Nimmt man § 2711 SGB V beim Wort, so ist der Anspruchsinhalt allein durch die Behandlungsziele bestimmt. Voraussetzungen hat der Anspruch scheinbar nicht. Allein die Rechtsfolgen sind gesetzlich fixiert. Allerdings weisen die Behandlungsziele durchweg einen negativen Bezug zur Krankheit auf, die als tatbestandliche Voraussetzung des Anspruchs angesehen werden kann. So gesehen, läßt sich § 2711 SGB V als konditional programmierter Satz lesen: Das Vorliegen von Krankheit ist Bedingung für die - in den § § 28 ff. SGB V näher geregelte - Krankenbehandlung. Dies entspricht durchaus dem traditionellen Verständnis, nach dem Krankheit den (wichtigsten) Versicherungsfall des Krankenversicherungsrechts darstellt und unter Versicherungsfall das Ereignis im Leben des Versicherten zu verstehen ist, gegen dessen Nachteile Versicherungsschutz gewährt wird. 1 Dieses Verständnis konnte sich früher im Krankenversicherungsrecht auch auf den Wortlaut des Gesetzes stützen: Nach § 182 I Nr. 1RVO, der Vorgängervorschrift zu § 2711 SGB V, wurde „Krankenpflege vom Beginn der Krankheit an" gewährt. Krankheit stand damit auf der Tatbestandsseite. Dafür fehlte aber auf Rechtsfolgenseite die Benennung der zulässigerweise mit der Behandlung verfolgbaren Ziele. 1

G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, l.Bd., 1965, S.291f.

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1. Teil: Grundlagen

Daß mit der Verlagerung der Krankheit von der Tatbestandsseite auf die Rechtsfolgenseite Änderungen verbunden sein sollten, läßt sich den Materialien zum GRG, durch das das SGB V eingeführt worden ist, nicht entnehmen. Im Gegenteil: Die Begründung des Gesetzentwurfs betonte, der Krankenbehandlungsanspruch bestehe nach wie vor vom Beginn der Krankheit an, und von einer Legaldefinition des Krankheitsbegriffs werde weiterhin abgesehen, „weil sein Inhalt ständigen Änderungen unterliegt"; „Zielrichtung und Zweckbestimmung der Krankenbehandlung" würden dagegen in § 2711 SGB V zusammengefaßt, weil diese Vorschrift für alle Leistungen des 1. Titels gelte.2 § 2711 SGB V sollte also nur die bereits bestehende Zweckbestimmung der Krankenbehandlung hervorheben, aber keine grundsätzliche Umgestaltung bewirken. Daß der Begriff der Krankheit zwischen Tatbestands- und Rechtsfolgenseite problemlos verschoben werden kann, deutet darauf hin, daß der Krankenbehandlungsanspruch immer schon eine finale Struktur aufgewiesen hat. Dem entspricht seine traditionelle Zuordnung zum Finalprinzip, dem die Sozialleistungen zugeordnet werden, die „allein wegen der gegenwärtigen Lage des Berechtigten" und nicht „wegen eines in der Vergangenheit liegenden Grundes zum Ausgleich der dadurch eingetretenen Benachteiligung gewährt werden". 3 Diese Leistungen seien, weil sie nicht kausal, sondern allein final bestimmt sind, Ausdruck des Finalprinzips; Leistungen dagegen, die gerade im Hinblick auf ihre Ursache gewährt werden, seien Ausprägungen des Kausalprinzips. Dieser Unterscheidung lag die ganz praktische Fragestellung zugrunde, „ob es berechtigt ist, gewisse Leidenszustände wegen der Art ihrer Verursachung zu begünstigen."4 Ungeachtet der bescheidenen Fragestellung, die ihr zugrunde liegt, war die Differenzierung zwischen kausal undfinal bestimmten Sozialleistungen so prägend, daß sie, bisweilen in den Rang „alternativer Elementarprinzipien" erhoben,5 heute noch anzutreffen ist.6 Auch wenn die Unterscheidung unglücklich, wenn nicht irreführend 7 ist, so zeigt sich an ihr doch zweierlei: Zum einen ist Voraussetzung für Sozialleistungen immer eine Bedarfssituation. Diese kann zusätzlich noch um Anforderungen an ihre Entstehung angerei2

BT-Drs. 11/2237, S. 170. W. Bogs, in: Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland (Bericht der Sozialenquête-Kommission), 1966, Tz. 206. - Die Unterscheidung ist freilich älter, siehe schon G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, S.9. 4 W. Bogs, in: Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Tz.210. - Diese Frage stellte sich nicht für die Krankheit allgemein, sondern nur für die durch betriebliche Vorgänge und Kriegseinwirkungen verursachten Krankheiten, weil nur für diese mit der Unfallversicherung und der Kriegsopferfürsorge Sondersysteme der sozialen Sicherung bereitstanden, die gewisse Vergünstigungen gegenüber den anderen Sicherungssystemen gewährten. 5 So Η. Β ley, Alternative Elementarprinzipien des Sozialleistungsrechts, ZSR 24 (1978), Iff. 6 B. v.Maydell, SHR, 2. Aufl. 1996, 1 Rn.21; E. Eichenkofen Sozialrecht, 1995, Rn. 174; H. Bley/R. Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1993, Rn.89ff.; B. Schulin, Sozialrecht, 5. Aufl. 1993, Rn.38. 7 H. Zacher, Zur Anatomie des Sozialrechts, SGb 1982, 329, 334f. 3

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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chert werden.8 Zum anderen weist die Bedarfssituation eine Nähe zum Inhalt der Leistung, zur Rechtsfolge des Leistungstatbestandes auf. Denn ein Bedarf muß nicht nur vorliegen, sondern soll auch befriedigt werden. Der Bedarf ist mit anderen Worten nicht nur Voraussetzung, sondern immer auch in einem negativen Sinne das Ziel der Sozialleistung. Wegen ihrer Bedarfsbezogenheit weisen alle Sozialleistungsansprüche letztlich eine finale Struktur auf. Allerdings bestehen durchaus Unterschiede. Manche Leistungen sind auf die Beseitigung eines konkreten Bedarfs bezogen und insofern stärker final ausgerichtet als solche Leistungen, die eher abstrakt an eine typisierte Bedarfslage anknüpfen. 9 Gegen die Differenzierung von Kausal- und Finalprinzip ist aber vor allem einzuwenden, daß sich bei Sach- und Dienstleistungen Kausalität und Finalität nicht so trennen lassen, wie es diese Differenzierung suggeriert. Bei ihnen gilt nämlich: „geleistet wird, weil eine Defizit- oder Förderungslage als Ursache anerkannt wird; und geleistet wird, was als notwendig anerkannt ist, um diese ursächliche Lage so zu verbessern, wie das für möglich und ausreichend gehalten wird. Kausalität und Finalität laufen einander sozusagen nach."10 Danach braucht die finale Struktur des Krankenbehandlungsanspruchs nicht wunder zu nehmen. Im Gegenteil ist die finale Ausrichtung typisch für einen auf Sach- und Dienstleistungen gerichteten Anspruch wie den aus § 2711 SGB V. Daß in § 2711 SGB V gegenüber § 1821 Nr. 1RVO die Krankheit von der Tatbestandsseite auf die Rechtsfolgenseite gerutscht ist, zeugt gerade für das „Nacheinanderlaufen" von Kausalität und Finalität, dafür, daß Krankheit nicht nur Ursache einer Bedarfslage ist, sondern daß Krankheit auch den Inhalt der Bedarfslage beschreibt und damit Bezugspunkt für die Bemessung des Ausgleichsumfangs ist. Auch wenn es im Wortlaut des Gesetzes nur unzureichend zum Ausdruck kommt, so bezieht sich § 2711 SGB V doch in doppelter Weise auf Krankheit: Als Ursache der Bedarfslage und als inhaltsbestimmender Faktor des zu deckenden Bedarfs. Die finale Struktur des Krankenbehandlungsanspruchs läßt eine gewisse Wertungsoffenheit vermuten, die, sollte sie sich bestätigen, die Frage nach weiteren den Anspruch konkretisierenden Mechanismen aufwirft. Dem soll im folgenden nachgegangen werden. 8

Dabei kann es mitunter schwierig zu ermitteln sein, ob die Leistung nur durch den sozialen Bedarf oder auch durch die besonderen Umstände seiner Entstehung begründet ist: So hat etwa noch H. Bley in ZSR 24 (1978), 1,6 in der Krankheit nur die Bedarfslage gesehen, für die Leistungen der Krankenversicherung erbracht werden, und den Krankenbehandlungsanspruch dementsprechend dem Finalprinzip zugerechnet, während nunmehr H. Bley IR. Kreikebohm, Sozialrecht, Rn.91 in der Krankheit die Ursache der Bedarfslage erblicken, für die Krankenversicherungsleistungen gewährt werden, und damit eine Zuordnung zum Kausalprinzip vornehmen. 9 So weisen die Geldleistungen der Vorsorgesysteme eine stärkere Abstraktheit auf, während Sach- und Dienstleistungen durchweg eng auf die Befriedigung eines konkreten Bedarfs gerichtet sind. 10 H. Zacher, SGb 1982,329,334. - S. a. der s., Sozialrecht und Gerechtigkeit, in: Festschrift für W. Maihofer, 1988, S. 669, 676 mit Fn. 32, sowie ders. y Verfassung und Sozialrecht, in: Festschrift für G. Dürig, 1990, S.67, 79.

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1. Teil: Grundlagen

2. Krankheitsbegriff Der Entwurf des GRG begründete den Verzicht auf eine Legaldefinition des Krankheitsbegriffs damit, daß „sein Inhalt ständigen Änderungen unterliegt." 1 1 Bei näherem Zusehen handelt es sich dabei allerdings um ein fragwürdiges Argument: Das BSG verstand in ständiger Rechtsprechung unter Krankheit i m Sinne des § 182 RVO einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand, der Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit oder beides zur Folge hat. 1 2 Es benutzte damit einen Begriff, der bereits zehn Jahre nach Verabschiedung des K V G in der Literatur anzutreffen war, 13 den das PrOVG erstmals 1902 (noch zu § 6 K V G ) verwandt hatte 1 4 und der seit 1915 (schon zu § 182 RVO) die ständige Rechtsprechung des RVA geprägt hat. 15 Der - durchaus zutreffende 16 - Wandel des Begriffsinhalts, mit dem der Entwurf des GRG den Verzicht auf eine Legaldefinition begründet hat, fand innerhalb eines in seiner Formulierung bemerkenswert dauerhaften und gerade keinem Wandel unterworfenen Begriffs statt. 17 Die Tradition hat sich - ungeachtet aller K r i t i k 1 8 - in der Rechtsprechung des BSG auch unter Geltung des SGB V bislang als durchsetzungsfähiger erwiesen. 19 11

BT-Drs. 11/2237, S. 170. BSGE 13,134,136; 19,179,181; 26,240,242; 26,288,289; 28,114,115; 30,151,152f.; 33,202,203 f.; 35,10,12; 39,167,168; 51,251,252; 59,119,121; 62,83; 66,248,249; 72,96, 98. 13 H. Rosin, Das Recht der Arbeiterversorgung, 1. Bd., 1893, S. 293 ff., 294. 14 PrOVGE 42, 308, 310. 15 RVA EuM 7,55,56f.; EuM 6,65,66 = AN 1916,341; EuM 12, 30 = AN 1920,319,320; ArbVers 1929, 92; EuM 27, 58, 60 = AN 1930, 164; AN 1939,412; EuM 46, 149,150. 16 Dazu W. Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung, 1992, S.39ff.; R. Sticken, Die Entwicklung des Krankheitsbegriffs, 1985, S.73ff.; W. Schmitt, Die Befreiung vom Krankheitsbegriff, MedR 1985,52ff.; K. Peters, Rechtsfortbildung durch Richterrecht in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Entwicklung des Sozialrechts, 1984, S. 319, 325 ff.; O.-E. Krasney, Zum Krankheitsbegriff in der Entwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung, ZSR 22 (1976), 411 ff.; H. Hahn, Die Ausweitung des Krankheitsbegriffs und ihre Auswirkungen für die Krankenversicherung, BKK 1969, 255 ff. 17 R. Schmidt, in: Peters, § 27 SGB V Rn. 49. 18 Vor dem GRG plädierten für eine Verabschiedung des zweigliedrigen Krankheitsbegriffs: W. Eicher y Die Praktikabilität des Krankheitsbegriffs in der gesetzlichen Krankenversicherung, KrV 1987,153,157f., der die Behandlungsbedürftigkeit in das Wirtschaftlichkeitsgebot integrieren wollte, und M. Faude, Der Krankheitsbegriff der Gesetzlichen Krankenversicherung und die nach §§ 182,184 RVO versicherten Risiken, SGb 1978,374,376f., der sich dafür aussprach, das Merkmal der Regelwidrigkeit überhaupt aufzugeben. - Nach Inkrafttreten des GRG erhielt die Kritik dadurch zusätzlich Nahrung, daß §2711 SGB V mit den Behandlungszielen die von der Rechtsprechung entwickelten Elemente der Behandlungsbedürftigkeit ausdrücklich regelt, wodurch die ungewöhnliche Situation entsteht, „daß ein ausformuliertes Tatbestandsmerkmal einer Norm zugleich Element eines anderen Tatbestandsmerkmals derselben Norm sein soll" (R. Schmidt, in: Peters, vor § 27 SGB V Rn. 123). - Die Zusammenfassung der leistungsauslösenden Ursache „Regelwidrigkeit" mit den bedarfsbezogenen Folgen „Behandlungsbedürftigkeit" und „Arbeitsunfähigkeit" in einem Begriff ist vor allem vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Einheit des Versicherungsfalls zu verstehen (dazu ausführlich 12

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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Der traditionelle Krankheitsbegriff weist eine bemerkenswerte Zweigliedrigkeit auf: Krankheit gilt nicht als vollständig mit der Regelwidrigkeit eines Zustandes umschrieben, sondern soll erst vorliegen, wenn die Regelwidrigkeit zu Behandlungsbedürftigkeit oder Arbeitsunfähigkeit führt. Darin scheint ein folgenorientiertes Verständnis auf: Krankheit wird wesentlich als durch die Leistungen definiert angesehen, die das Krankenversicherungsrecht für sie vorsieht. 20 Dies mag auf den ersten Blick zirkulär erscheinen, sollte doch der Tatbestand (Krankheit) die Rechtsfolgen (Behandlung) festlegen und nicht umgekehrt. Beides läßt sich aber, wie erwähnt, nicht streng trennen: Im auszugleichenden Bedarf vermischt sich die Ursache der Bedarfslage mit ihrem Umfang. Außerdem ist nicht „Krankheit schlechthin" Gegenstand des durch das Recht der sozialen Krankenversicherung versicherten Risikos; Krankheit ist vielmehr krankenversicherungsrechtlich erst relevant, wenn sie Leistungen auszulösen vermag. Daher hatten die Leistungen, die das Gesetz für den Krankheitsfall vorsieht, schon immer einerisikobegrenzende Funktion.21 Und zur Herstellung des für die Risikobegrenzung erforderlichen Zusammenhangs zwischen Regelwidrigkeit und Leistungen diente seit je das Merkmal der Behandlungsbedürftigkeit. Die Verkopplung des „eher medizinischen" Merkmals der Regelwidrigkeit mit dem „eher versicherungsrechtlichen" der Behandlungsbedürftigkeit schuf einen krankenversicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff. 22 a) Regelwidrigkeit Setzt Krankheit einen regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand voraus, ist sie also wesentlich Regelwidrigkeit, so bedarf es einer Definition der Regel. Dazu bedient sich die Praxis traditionell medizinischer Erkenntnisse - und zwar nicht nur auf einer abstrakt-generellen Ebene, indem sie an medizinische Regelvorstellungen K. Peters, Der Anspruch auf Krankengeld nach Ende der Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1984,229,230ff., 237ff.; ders. y in: Entwicklung des Sozialrechts, S. 319, 331 ff.; R. Schmidt, in: Peters, vor § 27 SGB V Rn. 59 ff.). Dieser Grundsatz verlor im Laufe der Zeit durch Gesetzgebung und Rechtsprechung immer mehr seine ursprüngliche Bedeutung (dazu näher K. Peters, SGb 1984, 229, 237 ff.). Seit Inkrafttreten des GRG dürfte er seine Berechtigung vollends verloren haben (A. Marschner, Krankengeldanspruch bei Arbeitsunfähigkeit und Gesundheitsreform, 1994, S.75ff., 94ff., 103 ff., 118 ff.). Auch aus diesem Grunde erhebt sich die Forderung nach einem Abschied vom zweigliedrigen Krankheitsbegriff (B. Schulin, Mitgliedschaft, VersicherungsVerhältnis und Versicherungsfall nach neuem Krankenversicherungsrecht, KrV 1989, 215, 218 f.; ders., Sozialrecht, Rn. 240. - dagegen aber H. Tons, Mitgliedschaft, Versicherungsverhältnis und Versicherungsfall nach neuem Krankenversicherungsrecht, KrV 1990, 32, 39f.). 19 Siehe nur BSGE 72, 227, 231; 73, 271, 279. 20 E. Eichenhof er, Sozialrecht, Rn.364; P. Kummer, Versicherungs- und Leistungsfälle, HSKV, § 20 Rn. 27; K.-J. Bieback y Zur Neubestimmung des Krankheitsbegriffs in der GKV, SF 1978,265. 21 G. Wannagau Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, S.253. 22 G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, S.253; W. Gitter, Krankheit und Pflegebedürftigkeit, KrV 1986, 191, 192; K-J. BiebacK SF 1978, 265.

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1. Teil: Grundlagen

anknüpft, sondern auch im Einzelfall, indem sie die Expertise von Medizinern den Ausschlag geben läßt. Wegen der Dominanz medizinischer Vorstellungen wurde gar gefordert, auf das Merkmal der Regelwidrigkeit ganz zu verzichten und Krankheit nur noch als Behandlungsbedürftigkeit zu verstehen.23 Umgekehrt erhob sich ihretwegen auch die Forderung, die Fixierung auf medizinische Krankheitsbilder zu überwinden und die Zwischenstadien zwischen Krankheit und Gesundheit und die „neuen Krankheitsformen", insbesondere die psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, zu erfassen. 24 Die Dominanz medizinischer Regelvorstellungen wurde allerdings durch eine vom BSG entwickelte Figur etwas aufgelockert. Ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand soll danach eine Abweichung von der durch das „Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm" voraussetzen.25 Eingeführt wurde das „Leitbild des gesunden Menschen", um zu begründen, daß nicht nur Regelwidrigkeiten mit Auswirkungen auf die Erwerbstätigkeit Krankheitswert besitzen.26 Produktiv wurde dieses Leitbild, als die in bezug genommene Gesundheit mit dem Zustand gleichgesetzt worden war, in dem der einzelne zur Ausübung der körperlichen Funktionen in der Lage ist. 27 Dies ist in der Folge weiter präzisiert worden: So kommt nicht schon jeder Abweichung von einer morphologischen Idealnorm Krankheitswert zu.28 Vielmehr muß der Versicherte in der Ausübung der „normalen psychophysischen Funktionen" erheblich beeinträchtigt sein.29 Innerhalb der „Bandbreite individueller Verschiedenheiten"30 ist damit nicht schon jede Abweichung von einem idealen Wert oder vom statistischen Mittel regelwidrig. Innerhalb des „Normbereichs" liegende Verschiedenheiten begründen noch keine Regelwidrigkeit.31 Geben nicht gesundheitliche Idealnormen den Ausschlag, so brauchen natürliche Veränderungen, selbst wenn sie mit Minderungen der Leistungsfähigkeit 23

M. Fauäe, SGb 1978, 374, 376f. K.-J. Bieback, SF 1978, 265, 266f. 25 BSGE 26, 240, 242; 35,10, 12. 26 Vgl. BSGE 26, 240, 242 und F. Schwankhart, Besteht eine objektive Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit? (2. Teil), ZfS 1973,301,302. - Durch die Benennung der Gesundheit als Bezugspunkt der Regelmäßigkeit von Körper- und Geisteszuständen wurde die Erwerbsorientierung aus der sozialen Krankenversicherung endgültig verabschiedet, die diese ursprünglich völlig beherrschte, durch die Ausdehnung des versicherten Personenkreises jedoch schon längst fragwürdig geworden war: Bewirkte schon die Einbeziehung der Angestellten eine Vergeistigung der Arbeitsfähigkeit, so führte die volle Integration der Rentner schließlich dazu, daß die Erwerbsorientierung, selbst da wo sie noch gesetzliche Voraussetzung von Sachleistungen war, wie etwa bei den Hilfsmitteln nach § 187 Nr. 3 RVO i. d. F. vor dem RehaAnglG, einfach als unpassend beiseite geschoben wurde (näher dazu W. Schmitt, MedR 1985, 52, 56 f.). 27 BSGE 30, 151, 153. 28 BSGE 35, 10, 12. 29 BSGE 59, 119, 121; 62, 83; 66, 248, 249. 30 BSGE 48, 253, 256. 31 BSGE 72, 96, 98. 24

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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verbunden sind, keine Regelwidrigkeiten darzustellen, sondern können „normgemäße" Erscheinungen sein.32 Früher wurde auch die altersbedingte Leistungsabnahme insoweit nicht als „regelwidrig" angesehen, als sie dem natürlichen Lebensprozeß des Alterns entspricht. 33 Die Praxis hat sich darüber allerdings hinweggesetzt, indem sie Ansprüche auf Heil- und Hilfsmitteln zur Korrektur altersbedingter Beeinträchtigungen anerkannte,34 was sich nur erklären läßt, wenn ein „Leitbild des gesunden und jungen Menschen" gilt. 35 Das „Leitbild des gesunden Menschen" knüpft an medizinische Vorstellungen an. Aber schon indem es diese Anknüpfung in rechtliche Regeln faßt, indem es Gesundheit als den Zustand bezeichnet, in dem der einzelne zur „Ausübung der normalen psychophysischen Funktionen" fähig ist, entfaltet es eine Tendenz zur Auflockerung der Dominanz medizinischer Regelvorstellungen. In gewisser Weise wird das Normproblem der medizinischen Wissenschaft offengelegt: 36 Diese ist ihrem Selbstverständnis nach zwar eine naturwissenschaftliche Disziplin. Der Normalzustand des Körpers läßt sich aber mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht zweifelsfrei bestimmen. Körperzustände und -abläufe lassen sich wohl beschreiben, messen und statistisch aufarbeiten. Angesichts der Bandbreite natürlicher Verschiedenheiten kann aber nicht jeder Abweichung vom statistischen Mittelwert bereits Krankheitswert zukommen. Wohl lassen sich gewisse elementare Lebensfunktionen ausmachen; sie beschreiben aber die Grenze zwischen Leben und Tod und nicht die zwischen Gesundheit und Krankheit. Die Körperfunktionen weisen zwar eine Regelhaftigkeit auf; in die Festlegung physiologischer Sollwerte gehen aber nicht nur organische Notwendigkeiten ein, sondern auch soziale Vorstellungen über die Leistungsfähigkeit des Körpers. Weisen aber schon somatische Erkrankungen einen Bezug auf soziale Vorstellungen auf, so gilt dies umso mehr für psychische Krankheiten, die nur zu einem geringen Teil eine organische Grundlage haben, sich überwiegend aber in bloßem abweichendem Verhalten äußern.37 In der Konsequenz des „Leitbilds" liegt es, diesen Beitrag sozialer Anschauungen offenzulegen. Folglich blieb das BSG nicht dabei stehen, sich für die Gewinnung des „Leitbilds" auf eine „natürliche Betrachtungsweise" zu berufen, 38 sondern hat 32

G. Spielmeyer, Zum Krankheitsbegriff der Sozialversicherung, DOK 1971, 836, 838. RVA, ArbVers 1929, 92; G. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, l.Bd., S. 255; F. Schwankhart, ZfS 1973, 270, 272. 34 R. Schmidt, in: Peters, § 27 SGB V Rn. 64ff.; K. Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 27 SGB V Rn. 14; W. Schmitt, MedR 1985, 52, 59. - Deshalb für die Annahme von Regelwidrigkeit: G. Spielmeyer, DOK 1971, 836, 838; E. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 365. - W. Gitter, KrV 1986,191,195 weist daraufhin, daß sich die Ausgrenzung reiner Pflegefälle vom Merkmal der Regelwidrigkeit auf das der Behandlungsbedürftigkeit verschoben hat. 35 E. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn.365. 36 Zum folgenden: H. Schaefer, Der Krankheitsbegriff, in: Blohmke, Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3,1976, S. 15,20f. 37 Vgl. W. Kargly Krankheit, Charakter und Schuld, NJW 1975, 558, 559f. 38 BSGE 62, 83, 84. 33

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1. Teil: Grundlagen

maßgeblich auch auf die Überzeugung der Rechtsgemeinschaft abgestellt.39 Auch wenn es damit auf die Erwartungen an das Leben im allgemeinen, auf die Vorstellungen der Gesellschaft über Krankheit und Gesundheit ankommt,40 so bedeutet dies nicht, daß medizinische Erkenntnisse nur noch von nachrangiger Bedeutung wären. Medizinische Regelvorstellungen prägen nach wie vor die Beurteilung der Regelwidrigkeit von Körper- oder Geisteszuständen. Die Rechtsprechung behält sich aber Korrekturen vor, die dem Gedanken geschuldet sind, daß es nicht Aufgabe des Krankenversicherungsrechts ist, alles medizinisch Irreguläre zu beseitigen, es vielmehr nur in qualifizierten Fällen medizinische Hilfe bereitstellen soll. Zur normativen Korrektur, zur Rückbindung an den Zweck der Krankenversicherung dient freilich traditionell das Merkmal der Behandlungsbedürftigkeit. Daher ergab erst die Verbindung von Regelwidrigkeit und Behandlungsbedürftigkeit den versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriff. 41 Gerade daran zeigt sich, daß der medizinische Krankheitsbegriff nie mit dem sozialen Konsens über die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen deckungsgleich war, und daß deshalb innerhalb des versicherungsrechtlichen Krankheitsbegriffs seit jeher eine Auseinandersetzung sozialer mit medizinischen Vorstellungen stattfand. 42 b) Behandlungsbedürftigkeit Behandlungsbedürftigkeit bezeichnet das Unvermögen, einen Zustand durch eigene Kräfte zu überwinden. 43 Als Angewiesenheit auf fremde Hilfe verweist Behandlungsbedürftigkeit weiter auf die Personen, deren Hilfe das Krankenversicherungsrecht im Krankheitsfalle vorsieht. Da es sich dabei ursprünglich im wesentlichen um ärztliche Hilfe gehandelt hatte, ging die Rechtsprechung davon aus, daß nur solche Funktionsstörungen versicherungsrechtlich relevant sind, zu deren Behebung der Versicherte der Hilfe des Arztes bedurfte. 44 Neben den Erwartungen, die an das Verhalten eines Arztes zu stellen sind, waren aber auch die Erwartungen an die Inanspruchnahme ärztlicher Leistungen durch die Versicherten von Bedeutung.45 Weil Behandlungsbedürftigkeit nach den gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten von Arzt und versichertem Patienten bestimmt wurde, konnte sich das Gesetz einer genaueren Beschreibung des versicherten Risikos enthalten. Dies führte allerdings mit Veränderung der gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten von Arzt und versichertem Patienten zu einem veränderten Verständnis der Behandlungsbedürftigkeit. 39

BSGE 59, 119,122. So schon K. Peters, in: Entwicklung des Sozialrechts, S.319, 327f. 41 Vgl. G. Spielmeyer, DOK 1971, 836f. 42 W. Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung, S.200f. 43 P. Mrozynski, Rehabilitationsrecht, 3. Aufl. 1992, Rn. 137. 44 Siehe RVA EuM 27,58,60; BSGE 26,240,243; 28,114,116; 30,151,153; 35,10,12; 48, 258, 265. 45 W. Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung, S. 171 ff., 206ff. 40

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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So hat das RVA den Notwendigkeitsaspekt, der dem Begriff der Behandlungsftedürftigkeit innewohnt, noch besonders betont: Ärztliche Behandlung sei nur notwendig, wenn ohne sie „eine Besserung des Leidens ausgeschlossen oder dessen Verschlimmerung zu erwarten ist". 46 Damit hat es eine „augenblickliche Behandlungsbedürftigkeit" 47 gefordert und somit nur Akuterkrankungen als versichert angesehen, Dauerleiden dagegen aus dem Versicherungsschutz ausgeschieden, sofern sie nicht mit besonderen Beschwerden oder Schmerzen verbunden waren oder eine wesentliche Verschlimmerung drohte und sie deswegen in ein akutes Stadium getreten waren. 48 Dies spiegelte die gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten von Personen wider, die der sozialen Schicht der Versicherungspflichtigen angehören: die Erwartungen an das Verhalten erkrankter Arbeiter. 49 Die Einbeziehung immer weiterer Bevölkerungskreise in den Versicherungsschutz und der Wandel der sozialen Vorstellungen mußten sich zwangsläufig in einem veränderten Verständnis der Behandlungsbedürftigkeit niederschlagen. Das BSG verzichtete schon früh auf das Erfordernis akuter Behandlungsbedürftigkeit und hielt auch Behandlungen im Frühstadium für zulässig, weil es „im wohlverstandenen Interesse der Versichertengemeinschaft" läge, regelwidrige Zustände zu behandeln, die zwar noch keine Schmerzen oder Beschwerden bereiten, bei denen „durch ärztliche Behandlung im Frühstadium aber eine wesentliche Besserung oder gar Beseitigung des Leidens und damit eine günstige Wirkung auf die spätere Erwerbsfähigkeit erreicht werden kann". 50 Die hier noch wahrnehmbare Erwerbsorientierung hat das BSG alsbald mit der Figur des „Leitbilds des gesunden Menschen" aufgegeben, 51 was vor allem eine Ausdehnung der zulässigerweise mit einer Behandlung verfolgbaren Ziele zur Folge hatte. Noch unter Geltung der RVO traten als zulässige Behandlungsziele neben Diagnose und Heilung: die Besserung des Gesundheitszustandes, die Linderung von Beschwerden, die Bewahrung vor Verschlimmerung und die Verlängerung des Lebens für eine begrenzte Zeit. 52 Das „Leitbild des gesunden Menschen" war so nicht nur von Bedeutung für das Merkmal der Regelwidrigkeit, sondern auch für die Bestimmung dessen, was der Versicherte an Leistungen erwarten kann. Das „Leitbild des gesunden Men46

RVA AN 1920,319, 321. RVA EuM 46, 149, 151. 48 RVA AN 1916,341,342; AN 1920,319,320; AN 1939,412,413 = EuM 45,53,54; EuM 46, 149, 150f. - Anders allein RVA EuM 39, 41 Iff., wo aus bevölkerungspolitischen Erwägungen die Behandlung eines Dauerleidens (Unfruchtbarkeit) auch ohne Vorliegen besonderer Beschwerden oder von Verschlimmerungsgefahr für notwendig erachtet wurde. - Krit. dazu H. Peters, Ein Beitrag zum Begriff der Krankheit, in: Festschrift für W. Bogs, 1959, S. 293, 298 f. 49 R. Sticken, Die Entwicklung des Krankheitsbegriffs, S.99ff., 104ff. 50 BSGE 13,134,136. - Das BSG hat damit ökonomischen Erwägungen den Ausschlag geben lassen, die das RVA noch verworfen hatte (siehe RVA EuM 46, 149, 151 f.). 51 BSGE 26, 240, 242. 52 BSGE 62, 83, 84; 59, 116, 117 mwN. 47

4 Wahl

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sehen" zeichnete dabei nur nach, was aus der sozialen Krankenversicherung, die einmal als Arbeiterversicherung begonnen hatte, geworden war: eine Volksversicherung, die der Befriedigung eines nicht mehr schichtenspezifisch, sondern gesamtgesellschaftlich definierten Bedarfs nach Gesundheitsgütern dient. Dies hat auch im Gesetz seinen Niederschlag gefunden (§ 4 I I Nr. 2 SGB I, § 1 S. 1 SGB V). Die von daher nur konsequente Ausweitung der Behandlungsziele hat dazu beigetragen, die Frage nach dem „Verhältnis von Aufwand und erstrebtem Erfolg", also den Notwendigkeitsaspekt der Behandlungsbedürftigkeit in den Hintergrund treten zu lassen.53 Ein regelwidriger Zustand wird demzufolge heute bereits dann für behandlungsbedürftig gehalten, wenn er der Behandlung zugänglich ist. 54 Behandlungsbedürftigkeit fällt damit mit Behandlungszugänglichkeit zusammen.55 Die Ausdehnung der zulässigen Behandlungsziele führte dazu, daß sich der im Begriff der Behandlungsbedürftigkeit ursprünglich vorhandene Notwendigkeitsaspekt zunehmend verflüchtigte. Je weiter die zulässigen Behandlungsziele sind, desto weniger regelwidrige Zustände lassen sich über das Merkmal der Behandlungsbedürftigkeit aussteuern. Behandlungsbedürftigkeit wandelt dementsprechend ihren Charakter und dient kaum noch der Beschränkung des Leistungsanspruchs des Versicherten, sondern nur mehr seiner Lenkung auf Behandlungsziele. Nur wenn durch eine Behandlung weder eine Krankheit geheilt, noch ihre Verschlimmerung verhütet oder mit ihr verbundene Beschwerden gelindert werden kann, ist die Behandlung nicht erforderlich. Ausgeschieden werden so regelwidrige Zustände, die durch Behandlungen nicht mehr beeinflußt werden können56 oder sich wieder von selbst regulieren, 57 aber auch Maßnahmen, die regelwidrige Zustände nicht beeinflussen können.58 Behandlungsbedürftigkeit lenkt zwar auf Behandlungsziele hin, übernimmt dabei aber nicht die Feinsteuerung auf die im Einzelfall gebotene Behandlung. Die wegen der Weite der Behandlungsziele erforderliche Feinsteuerung erfolgt nicht über das Merkmal der Behandlungsbedürftigkeit, sondern eher über das Wirtschaftlichkeitsgebot (§121 SGB V). 5 9 53

G. Spielmeyer, DOK 1971, 836, 838. BSGE 26, 240, 243; 39, 167, 168f.; 59,119, 121. 55 Vgl. BSGE 62, 83, 84; 59, 116, 117 und W. Schmitt, MedR 1985, 52, 59; O.-E. Krasney, ZSR 22 (1976), 411, 419; W. Eicher, KrV 1987, 153ff.; K. Höfler,, in: Kasseler Kommentar, § 27 SGB V Rn. 25 (Stand 1993). 56 K. Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 27 SGB V Rn. 25 f. (Stand 1993). 57 Vgl. BSGE 35, 10, 12. 58 BSGE 66,248,249 f. - Aus diesem Grunde ist alleinige Pflege ohne Verfolgung eines medizinischen Ziels kein zulässige Art der Krankenbehandlung (W. Gitter, KrV 1986,191,195 ff. mwN). - Darüber hinaus lassen sich immerhin regelwidrige Zustände ausscheiden, die in die Eigenverantwortung des Versicherten (§ 1 S. 2 SGB V) fallen, insbesondere weil sie durch eine Änderung der Lebensführung zu beheben sind (vgl. BSGE 50,47,48 f.). 59 Dementsprechend läßt sich in der jüngeren Rechtsprechung des BSG beobachten, daß der Vorrang der Heilung einer Krankheit vor der Stabilisierung eines Krankheitszustands aus dem Wirtschaftlichkeitsgebot des § 121 SGB V abgeleitet wird (BSGE 76, 194, 201; 78, 70, 54

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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Jedenfalls gehen über die Behandlungsbedürftigkeit soziale Anschauungen in den Krankheitsbegriff des SGB V ein. Im Zusammenwirken von Behandlungsbedürftigkeit und Regelwidrigkeit, von sozialem Konsens über die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und sozialem Konsens über die Regelwidrigkeit von Körper- oder Geisteszuständen konstituiert sich damit letztlich ein „sozialer Krankheitsbegriff 4.60 Krankheit erweist sich damit nicht nur als final strukturierter, sondern insgesamt auch als wertungsoffener Begriff. 61

3. Arten und Umfang der Behandlung Finalität und Wertungsoffenheit des Krankheitsbegriffs werfen die Frage nach anspruchskonkretisierenden Mechanismen auf. Als solche kommen die Behandlungsarten (§ 2712 SGB V) und das Wirtschaftlichkeitsgebot (§121 SGB V) in Betracht.

a) Behandlungsarten Für den konkretisierenden Gehalt der Behandlungsarten scheint § 2712 SGB V zu sprechen, der die im Satz zuvor noch als Einheit angesprochene Krankenbehandlung in eine Reihe verschiedener Verrichtungen aufgliedert und damit das Bild eines ausdifferenzierten arbeitsteiligen Prozesses zeichnet. Allerdings legt schon die Wortwahl des § 2712 SGB V nahe, daß den Ärzten in der ambulanten Versorgung der Versicherten eine zentrale Stelle reserviert ist: Während mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln nur Sachen benannt sind, mit denen die Versicherten versorgt werden sollen, ist die Behandlung dem Arzt vorbehalten. Außerhalb der ärztlichen Behandlung findet nur die Bereitstellung von Sachen statt, derer der erkrankte Versicherte zu seiner Genesung auch noch bedarf. Der eigentliche diagnostische und therapeutische Prozeß scheint sich damit auf den Arzt zu fokussieren. Allerdings wird dieses Bild dadurch durcheinander gebracht, daß Heilmittel auch „als Dienstleistungen" abgegeben werden können (§ 1241 SGB V). 6 2 Die Differenzierung zwi85 f. - anders allerdings BSGE 62, 83, 84; 72, 96, 99, wo für psychischen Störungen ein Vorrang psychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Behandlung aus der Behandlungsbedüftigkeit hergeleitet wurde). 60 W. Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung, S.213f. -Mazal schlägt dort zwar einen „sozialen Krankheitsbegriff" vor. Das neue daran ist aber nicht dessen Offenheit gegenüber sozialen Anschauungen, sondern seine-einem „Idealmodell" sozialer Sicherungssysteme (dazu näher aaO S. 31 ff.) folgende - Struktur. 61 W. Gitter, Strukturen der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1991, 85, 88: „Der Begriff ist damit,offen 4, zugänglich für Wertungen aus dem medizinischen, aber auch aus dem gesellschaftlich-sozialen Bereich". 62 Dies geht auf die Rechtsprechung zurück, die, nachdem ursprünglich unter Heilmitteln nur Sachen verstanden wurden, zu diesen auch Dienstleistungen gezählt hat, die wie Heilmittel angewandt werden und deren Zweck erfüllen (BSGE 42,16,17 f.). - Die Spitzenverbände der 4*

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1. Teil: Grundlagen

sehen Dienst- und Sachleistung vermag dann freilich nicht allein zu tragen. Auch die Legaldefinition des § 2811 SGB V ist wenig hilfreich, weil sie das definitorische Problem dadurch zu lösen versucht, daß sie die ärztliche Behandlung zunächst durch die Person, die sie vornimmt, bestimmt und sodann, da nicht alles was ein Arzt tut, ärztliche Behandlung sein kann, verlangt, daß er bestimmte Ziele verfolgt und bestimmte Standards beachtet. Was die ärztliche Tätigkeit von der anderer Heilberufe hervorhebt und wie sie sich zu diesen verhält, läßt sich daraus nicht unmittelbar entnehmen. Auch die §§ 1512, 2812 SGB V, nach denen der Arzt die Hilfeleistung anderer Personen anordnen kann, helfen hier nicht weiter. In ihnen ist der Grundsatz der persönlichen Leistungserbringung, 63 aber kein Arztvorbehalt verankert. 64 Die selbständige Tätigkeit nichtärztlicher Leistungserbringer erfassen diese Bestimmungen weder in ihren Voraussetzungen, noch in ihren Folgen.65 Gleichwohl räumt das BSG den Ärzten in der ambulanten Versorgung eine Schlüsselstellung ein: Wahrend einerseits zur ärztlichen Behandlung auch medizinisch-technische Leistungen zählen, soweit nicht der technische Aspekt die Anwendung medizinisch-wissenschaftlicher Sachkunde völlig in den Hintergrund treten läßt,66 während das Tätigkeitsfeld der Heilhilfsberufe damit den Ärzten prinzipiell offensteht, soweit sie die Tätigkeiten aufgrund ihres Fachwissens verantworten können,67 sind andererseits den Ärzten bestimmte persönliche medizinische Leistungen vorbehalten, die zum „Kernbereich der ärztlichen Behandlung" gehören. Die Tätigkeit der nichtärztlichen Heilberufe umfaßt nämlich nach Ansicht des Krankenkassen hatten kurz vor Inkrafttreten des GRG vorgeschlagen, nunmehr den Hilfsmitteln alle sächlichen Mittel zuzuordnen und die Heilmittel auf Dienstleistungen zu beschränken (vgl. R. Schmidt, in: Peters, § 32 Rn.48). In Übereinstimmung damit definieren die Heil- und Hilfsmittelrichtlinien Heilmittel als „persönliche medizinische Leistungen" (Abschn.A Ziff. 1), Hilfsmitteln dagegen als „sächliche medizinische Leistungen" (Abschn.A Zifif.2). Das BSG ist dem indes nicht gefolgt und hat an der von ihm entwickelten Systematik festgehalten (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 15). Der Gesetzgeber hat jedoch für den Bereich der Unfallversicherung der von den Spitzenverbänden der Krankenkassen entwickelten Terminologie den Vorzug gegeben: Nach dem Recht des SGB VII sind Heilmittel Dienstleistungen, die einem Heilzweck dienen oder einen Heilerfolg sichern (§ 30 S. 1 SGB VII), dagegen sind Hilfsmittel alle Sachen, die den Erfolg der Heilbehandlung sichern oder die Folgen von Gesundheitsschäden mildem oder ausgleichen (§3111 SGB VII). 63 Dazu näher G. Köhler-Fleischmann, Der Grundsatz der persönlichen ärztlichen Leistungspflicht, 1991, S. 32ff., 47 ff.; W. Gitter/G. Köhler, Der Grundsatz der persönlichen ärztlichen Leistungspflicht, 1989, S. 12ff. 64 B. Schulin, Rechtliche Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Probleme, HS-KV, § 6 Rn. 234; Κ Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 15 SGB V Rn. 3 ff. 65 Die Anordnung setzt voraus, daß der Arzt nicht nur die Leistung veranlaßt, sondern ihre Durchführung anleitet und beaufsichtigt und ihr Ergebnis kontrolliert. Von der Anordnung zu unterscheiden ist die Verordnung als Veranlassung einer selbständig durchgeführten medizinischen Leistung (K. Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 15 SGB V Rn. 9). 66 Der handwerklich-technische Herstellungsvorgang zählt nicht zur ärztlichen Behandlung (BSGE 36, 146, 149 f.). 67 BSGE 76,109,1 lOf. - Dagegen umfaßt nach BVerwG, DVB11996,869,869f. Krankenhilfe nach § 37 BSHG auch die Übernahme von Dolmetscherkosten.

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BSG lediglich solche Hilfeleistungen im Rahmen der ärztlichen Heilbehandlung, „die keine auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende ärztliche Sachkunde erfordern". 68 Den Ärzten dagegen wird aufgrund ihrer „umfassenden medizinischen Ausbildung" die „übergreifende Sachkunde" für die gesamte Krankenbehandlung zugesprochen mit der Folge, daß auch die nichtärztlichen Leistungen in der Gesamtverantwortung des Arztes als „heilberuflicher Hauptperson" stehen.69 Letztlich setzt das BSG damit die ärztliche Behandlung mit der medizinischen Versorgung gleich und sichert dadurch den Ärzten die Letztverantwortlichkeit auch für nichtärztliche medizinische Leistungen. Werden nichtärztliche Leistungserbringer selbständig tätig, so ist dies im wesentlichen nur von ökonomischer Bedeutung; funktional haben sie sich in einen vom Arzt bestimmten Zusammenhang einzugliedern. Dies hatte namentlich auf die psychotherapeutische Versorgung nachhaltige Auswirkungen: Ist die eigenständige Behandlung im Sinne einer Diagnose, Planung, Durchführung und Kontrolle der Therapie umfassenden Versorgung den Ärzten vorbehalten und bezieht sich dies auf alles, was Krankheit im Sinne des Gesetzes ist, also auch auf psychische Erkrankungen, so ist es nur folgerichtig, auch die psychotherapeutische Behandlung zum „Kernbereich der ärztlichen Behandlung" zu zählen. 70 Problematisch ist indes, daß dadurch den Ärzten ein Bereich vorbehalten wird, den sie allein von ihrer „medizinisch-wissenschaftlichen Sachkunde" her kaum ausfüllen konnten. Um die darauf beruhende „Versorgungslücke" zu schließen ist in der Praxis das „Delegationsverfahren" entwickelt worden, bei dem ein psychotherapeutisch geschulter Arzt die Diagnose erstellt und die Therapie „anordnet" sowie gegebenenfalls über ihre Verlängerung entscheidet, die psychotherapeutische Behandlung selbst aber durch nichtärztliche Psychotherapeuten erfolgt. 71 Um die Delegation der psychotherapeutischen Behandlung in das Recht der sozialen Krankenversicherung einzupassen, wurde sie als Anordnung gedeutet, wofür die §§ 1512, 2812 SGB V aber über ihren Wortlaut hinaus strapaziert werden mußten. Auch wenn der Gesetzgeber des GRG dieses Verfahren gebilligt hatte,72 so war doch die Verantwortung des anordnenden Arztes ungeachtet seiner Sachkunde eine reine Fiktion. Der Gesetzgeber hat daraus inzwischen die Konsequenz gezogen und die psychologischen Psychotherapeuten als eigenverantwortliche Erbringer psychotherapeutischer Leistungen in die soziale Krankenversicherung einbezogen.73 68

BSGE 72, 148, 154. BSGE 53, 144, 147. 70 BSGE 72, 148, 152 und 154; 72, 227, 231; 48,47, 50; 38, 73, 77. 71 Näher dazu K.-J Bieback, Verfassungsrechtliche Anforderungen an die Einbeziehung Psychologischer Psychotherapeuten in das Leistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung, 1996, S. 19ff.; Wagner, Heilung ohne Arzt oder Medizin ohne Mediziner?, SGb 1988, 328, 329ff. 72 BT-Drs.il/2237, S. 171. 73 Psychotherapeutengesetz vom 16.6.1998 (BGB1.I S. 1311); Neuntes SGB V-Änderungsgesetz vom 8.5.1998 (BGB1.I S.907). 69

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Der Arztvorbehalt steht allerdings in Übereinstimmung mit den Intentionen der historischen Gesetzgeber: § 122 RVO hatte ihn noch in Form eines Approbationsvorbehalts statuiert, um trotz Kurierfreiheit die Behandlung sozialversicherter Patienten durch „Naturheilkundige" - in heutiger Begrifflichkeit: Heilpraktiker - auszuschließen. In den Gesetzesmaterialien heißt es dazu, zwar könnten auch Naturheilkundige Heilerfolge erzielen, eine Gewähr dafür, wie sie das Gesetz verlangen müsse, böten sie jedoch in ihrer Person und ihrem nachgewiesenen Können nicht. 74 Um der Sicherstellung eines bestimmten Qualitätsstandard willen wurde so entgegen der im Berufsrecht weiter bestehenden Kurierfreiheit im Krankenversicherungsrecht ein Kuriermonopol errichtet. 75 Dies hatte auch unter dem Grundgesetz Bestand. Das BSG hat dieses Monopol damit gerechtfertigt, der Versichertengemeinschaft könne nicht gleichgültig sein, ob eine auf ihre Kosten durchgeführte Behandlung nach den dabei angewandten Methoden und der Qualifikation der dabei tätigen Personen Erfolg verspricht. Wohl richte sich das öffentliche Interesse bei privater Behandlung allein darauf, daß der Patient vor Schäden bewahrt wird; die Wirksamkeit der Behandlung dagegen falle allein in das private Interesse des Patienten. Sobald aber die Behandlung durch einen öffentlichen Leistungsträger erfolge, müsse sich dessen (öffentliches) Interesse über Gefahrenabwehr hinaus auf die Nützlichkeit der Behandlung, auf ihre Eignung, die Gesundheit zu fördern, richten.76 Das BVerfG pflichtete dem bei. 77 Das mit dem Arztvorbehalt errichtete Behandlungsmonopol ist damit Ausfluß des Interesses an einer effektiven und qualitativ hochstehenden Versorgung der Versicherten. Weil die Krankenkassen ihren Mitgliedern eine effektive Krankenbehandlung zu gewähren haben und ärztliche Behandlung als „zentraler Bestandteil der Krankenbehandlung" nur „auf der Grundlage der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft" sachgerecht ausgeübt werden kann, ist nach Ansicht des BSG die Beschränkung der Behandlungsberechtigung als „Teil eines ausgewogenen Systems, das eine effektive Behandlung der Versicherten auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft sicherstellt", gerechtfertigt. 78 Das Krankenversicherungsrecht übernimmt danach den Arztberuf nicht so, wie es ihn im Berufsrecht vorfindet, sondern geht über das Berufsrecht hinaus, indem es mit der „ärztlichen Behandlung" bestimmte Tätigkeiten bei den Ärzten monopolisiert. 79 74 Entwurf einer RVO, Reichstag, 12. Legislatur-Periode, II. Session 1909/10, Drs. Nr. 340, S. 136. 75 Auf ein Kuriermonopol der Ärzte zielte zwar das Heilpraktikergesetz vom 17.2.1939 (RGB1.I S. 251) in seiner ursprünglichen Fassung; es wurde freilich unter dem Grundgesetz seiner restringierenden Elemente beraubt (BVerwGE 4, 250,254ff.) und nahm dadurch einen ganz anderen Charakter an (siehe dazu jüngst BVerwGE 94,269,271 f.). 76 BSGE 48,47, 52f. 77 BVerfGE 78,155, 162f. 78 BSGE 72, 227, 232 und 234. 79 Das Heilpraktikergesetz enthält selbst nur ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt (siehe dazu nur BVerwGE 94, 269, 271 ff.).

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Die berufsrechtliche Kurierfreiheit wird bereichsspezifisch durch ein Kuriermonopol ersetzt und den Ärzten die eigenständige Behandlung von Kranken, also Diagnose, Festlegung der Therapie, Durchführung wesentlicher Therapieschritte und Kontrolle des Therapieerfolgs, vorbehalten. Damit wird den Ärzten nicht nur die ärztliche Behandlung, sondern mit ihr auch eine hervorgehobene Funktion in der medizinischen Versorgung vorbehalten. War eingangs nach dem konkretisierenden Gehalt der Behandlungsarten gefragt worden, so fällt der Ertrag dürftig aus: Die medizinische Versorgung ist im Grundsatz den Ärzten vorbehalten. Nur Leistungen, die ihre Fachkunde überschreiten, sind ihnen entzogen. Bemerkenswerterweise erfolgt die Abgrenzung von den Ärzten her. Wegen der umfassend angenommenen Zuständigkeit der Ärzte kann von einer „Feinsteuerung" innerhalb des Leistungsanspruchs, von dessen Lenkung auf den „richtigen" Inhalt über den „richtigen" Leistungserbringer nicht die Rede sein.

b) Wirtschaftlichkeitsgebot Auf die tatbestandliche Offenheit des Krankenbehandlungsanspruchs reagiert das Wirtschaftlichkeitsgebot. Nach § 1211 SGB V müssen die Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein und dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Daß Krankenbehandlungsleistungen wirtschaftlich sein müssen, daß ökonomische Erwägungen auf den Anspruchsumfang Einfluß haben sollen, versteht sich nicht von selbst. Die Aufgabe, Gesundheit zu erhalten, zu bessern und wiederherzustellen (§ 1 S. 1 SGB V), scheint eher dafür zu sprechen, daß ökonomische Erwägungen hier fehl am Platze sind. Eher wäre zu vermuten, daß die gesetzliche Krankenversicherung einen Anspruch auf alle möglichen und rechtlich zulässigen Behandlungsmethoden gewährt. Indes ist die gesetzliche Krankenversicherung auch Versicherung. Als solche dient sie auch wesentlich der Bereitstellung der zur Bedarfsdekkung erforderlichen Mittel. Weil sie auch Versicherung ist, trifft sie unter den möglichen Behandlungsmethoden eine Auswahl, um die Beitragspflichtigen nicht mit Abgaben in einer Höhe zu belasten, „die zur Erreichung des Zwecks der Krankenversicherung außer Verhältnis stehen".80 Freilich wirft Wirtschaftlichkeit Probleme auf. Denn Wirtschaftlichkeit bezeichnet keinen bestimmten, eindeutig feststellbaren Zustand, sondern ein Verhältnis zwischen eingesetzten Mitteln und erzieltem Nutzen. Wirtschaftlichkeit ist ein formales Gebot zur Optimierung dieser Relation.81 Dieses Optimum liegt nach dem Nutzenmaximierungsansatz (oder Maximalprinzip) darin, mit gegebenen Mitteln 80

BSGE 78, 70, 87. W. Krebs, Rechtmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit als Kontrollmaßstäbe des Rechnungshofs, in: v. Arnim, Finanzkontrolle im Wandel, 1989, S.65, 66. 81

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den größtmöglichen Nutzen zu erreichen, nach dem Kostenminimierungssatz (oder Minimalprinzip) darin, einen festgelegten Nutzen mit dem geringstmöglichen Aufwand zu erzielen. 82 Beide Ansätze betreffen unterschiedliche Entscheidungssituationen: Während das Minimalprinzip von einem möglichst konkret feststehenden Zweck lebt, setzt das Maximalprinzip die Befugnis zur Festlegung des zu erzielenden Nutzens, zur Zwecksetzung voraus.83 Wirtschaftlichkeit ist inhaltsarm und erfährt Konkretisierung erst aus der Zielsetzung des zu beurteilenden Vorgangs. Erst aus ihr läßt sich ableiten, wie mit dem Problem der Güterknappheit umgegangen werden soll, ja ob überhaupt eine Güterknappheit besteht. Freilich dient das Gebot der Wirtschaftlichkeit im öffentlichen Sektor weniger dazu, in wohl strukturierten Situationen mit vorgegebenen und klar definierten Zielen Handlungsalternativen zu bewerten. Vielmehr soll mit ihm gerade zur Strukturierung unstrukturierter Situationen beigetragen werden. 84 Darin liegt aber sein Hauptproblem. Der Nutzen des Verwaltungshandelns läßt sich nur begrenzt messen und quantifizieren. Ohnehin ist die Erfassung und Bewertung aller Handlungsfolgen praktisch nicht durchführbar; für die Selektion der relevanten Handlungsfolgen hält das inhaltsarme, formale Wirtschaftlichkeitsprinzip keine Kriterien vor. 85 Auch lassen sich die verfolgten Ziele vielfach nicht präzisieren. Abstraktere Zwecke entziehen sich Standardisierungen. Zweck-Mittel-Relationen lassen sich dann nicht mehr eindeutig isolieren. 86 Daher findet sich die Formulierung, Wirtschaftlichkeit verlange ein „angemessenes Verhältnis zwischen öffentlichem Mitteleinsatz und sozialem Nutzen". 87 Dies macht darauf aufmerksam, daß Aussagen über die Wirtschaftlichkeit in erheblichem Umfang wertende Elemente enthalten - und zwar nicht allein, was die Festlegung des zu verfolgenden Ziels, die Definition des anzustrebenden Nutzens, sondern auch, was die Bewertung des erzielten Nutzens anbelangt. Diese Schwierigkeiten, den rechtlichen Gehalt von Wirtschaftlichkeit zu bestimmen, gelten auch für das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 SGB V. Freilich bestehen durchaus Unterschiede, bezieht es sich doch auf einen engeren Ausschnitt des Handelns der öffentlichen Hand. Dieser Ausschnitt ist in einen Regelungszusammenhang eingebettet, der Ziele vorgibt: Heilung von Krankheit, Verhütung ihrer Verschlimmerung, Linderung der mit ihr verbundenen Beschwerden (§ 2711 SGB V). Das Wirtschaftlichkeitsgebot dient dazu, im Rahmen dieser Zielsetzung den Mitteleinsatz zu optimieren, ohne diesen dabei auf das Minimalprinzip festzulegen. 88 Probleme bereitet das Wirtschaftlichkeitsgebot jedoch, weil es auf eine keineswegs ein82

G. F. Schuppert, Die Steuerung des Verwaltungshandelns durch Haushaltsrecht und Haushaltskontrolle, VVDStRL 42 (1984), S.216, 259; H. Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S.231, 254f. 83 G. F. Schuppert, VVDStRL 42 (1984), S.216, 259f. 84 D. Budäus, Public Management, 1995, S.41 f. 85 W. Krebs, in: v. Arnim, Finanzkontrolle im Wandel, S. 65, 67. 86 H. Schulze-Fielitz, VVDStRL 55 (1996), S.231, 256f. 87 H. Fischer-Menshausen, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 114 Rn. 18. 88 So aber W. Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht, 1994, Rn.87.

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fach strukturierte Situation trifft. Zudem gibt § 2711 SGB V keineswegs eindeutige Ziele vor, vielmehr ist es gerade Aufgabe des Wirtschaftlichkeitsgebots, zu einer Auswahl unter mehreren an sich zulässigen Behandlungszielen beizutragen. Gerade im Gesundheitswesen bereitet die Messung des Nutzens der aufgewandten Mittel Schwierigkeiten: Wohl läßt sich die Anzahl der erbrachten Behandlungsleistungen noch relativ leicht quantifizieren; die damit erzielten Gesundheitsergebnisse lassen sich so freilich nicht messen.89 Auch die Bestimmung der Kosten ist keineswegs einfach, bestehen sie doch nicht nur im finanziellen Aufwand für die Behandlung selbst, vielmehr sind zu ihnen auch Nebenwirkungen, Schmerzen und Unannehmlichkeiten zu zählen, die mit einer bestimmten Behandlung verbunden sind. Dem Normtext nach weist das Wirtschaftlichkeitsgebot Besonderheiten auf. § 1211 SGB V nennt als Einzelelemente des Wirtschaftlichkeitsgebots, daß eine Leistung ausreichend, zweckmäßig, wirtschaftlich und notwendig zu sein hat. Von der Merkwürdigkeit abgesehen, daß Wirtschaftlichkeit als Teilelement der Wirtschaftlichkeit auftaucht, scheint es sich hier auf den ersten Blick um eine den Elementen des Verhältnismäßigkeitsprinzips vergleichbare Aufgliederung der relationalen Grundstruktur des Wirtschaftlichkeitsprinzips zu handeln. Die Rechtsprechung indes bekennt sich zu einer „Gesamtbetrachtung", die zwischen Ausreichen, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit und Notwendigkeit nicht streng unterscheidet.90 In der Literatur sind dagegen die Bemühungen um eine Entfaltung der Elemente nie verstummt. 91 Sie sind auch nicht völlig nichtssagend. Mit ihnen wird das 89 Weil ergebnisgerechte Leistungen verlangt werden müssen, gleichzeitig aber die mit der Leistung erzielten Ergebnisse sich nur schwer messen lassen, wird in der Praxis unterstellt, daß zwischen Leistungen und damit erzielbaren Ergebnissen eine feste Beziehung besteht. Maßstab der Wirtschaftlichkeit wird dann der durchschnittliche Mitteleinsatz, die tatsächlichen Ergebnisse bleiben unberücksichtigt (Af. Arnold, Von der Black-Box zum Glashaus, NZS 1996, 353, 355 f.) - Auf diesem Gedanken basiert die statistische Methode der Wirtschaftlichkeitsprüfung im Vertragsarztrecht. 90 Siehe nur BSGE 76,194,201; 17,79, 84. - In BSGE 17,79 mußte die Nuancen eingeebnet werden, um die Wirtschaftlichkeit als allgemeinen Grundsatz zu rechtfertigen. Es ging darin darum, die Reichweite der Kontrolle der Prüfungsgremien festzulegen, denen § 368 η I V 1 RVO die Überwachung der „Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen Versorgung" zuwies, während das materielle Recht auch von „ausreichender", „zweckmäßiger" und „notwendiger" Behandlung (§§182 II, § 386 e RVO) sprach. Hätte es sich dabei um eigenständige Begriffe gehandelt, so wäre die Wirtschaftlichkeitsprüfung insoweit einzuschränken gewesen. - Zur Umschreibung der Grenzen des Wirtschaftlichkeitsgebots macht es durchaus Sinn, auf den engen Zusammenhang der Einzelelemente hinzuweisen; innerhalb des Wirtschaftlichkeitsgebots macht es aber mehr Sinn, ihnen je eigene Funktionen zuzuerkennen. So verlief dann auch die Rechtsprechung des BSG, die nach BSGE 17, 79 den einzelnen Elementen durchaus konkretere Aussagen entnahm. 91 Siehe nur G. Neugebauer, Das Wirtschaftlichkeitsgebot in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1996, S. 61 ff.; H. Günther, Das Wirtschaftlichkeitsgebot in der kassenärztlichen Verordnungsweise, 1988,S.59ff.; U. Spiolek, Das Wirtschaftlichkeitsgebot des SGB V und die beiden neuen Formen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 II 1 SGB V, ZSR 38 (1992), 209ff.; V. Geers, Die gesundheitsökonomischen Grundsätze der Krankenpflege nach § 182 Abs.2 RVO, SGb 1983,55 ff.; H. Tons, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit als Anspruchs-

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Spannungsfeld umrissen, innerhalb dessen über die Wirtschaftlichkeit der Leistungen zu entscheiden ist: Das Gesetz will überflüssige, weil das Maß des Notwendigen überschreitende Leistungen ausschließen und weist damit auf die Grenzen des Versicherungsschutzes hin. Zugleich will es einen Mindeststandard der Leistungen garantieren, indem es verlangt, daß diese ausreichend sein müssen. Die Richtung, in der Ausreichen und Notwendigkeit zu beurteilen sind, wird von der Zweckmäßigkeit vorgegeben. Diese finale Ausrichtung hat nun entgegen den Intentionen des historischen Gesetzgebers92 bewirkt, daß Kostenaspekte in den Hintergrund getreten sind. Dominant wurden Nutzenaspekte, die unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit zu Fragen der Wirksamkeit umformuliert wurden. Erst unter mehreren gleich wirksamen Mitteln findet ein Kosten-Nutzen-Vergleich statt, der dann freilich trivial erscheint: Stehen mehrere gleich geeignete Behandlungsmethoden zur Verfügung, so darf die Methode mit den höheren Gesamtkosten nicht beansprucht, bewirkt oder bewilligt werden.93 Wenn das GRG in das Wirtschaftlichkeitsgebot die Forderung aufgenommen hat, daß Leistungen wirtschaftlich sein müssen, wurde damit erneut ein Kosten-Nutzen-Vergleich eingefordert. Freilich dürfte dieser im Bereich der ärztlichen Behandlung kaum praktisch werden. 94 An der Dominanz des therapeutischen Nutzens gegenüber dem Kostenaspekt wird sich kaum etwas ändern. Der Schwerpunkt der Rechtsprechung zum Wirtschaftlichkeitsgebot liegt denn auch bei der Zweckmäßigkeit.95 Zweckmäßig sind Leistungen, die darauf gerichtet und dazu in der Lage sind, ein zulässiges Behandlungsziel zu erreichen. Eignung zur Zielerreichung setzt aber ein „gewisses Maß an Wirksamkeit" voraus. 96 Insoweit dient Wirtschaftlichkeit der Sicherung der Qualität. Es stellt sich allerdings die Frage, ob über die Wirksamkeit im Einzelfall oder anhand von Erfahrungssätzen zu urteilen ist. Weil sich das Wirtschaftlichkeitsgebot auf die einzelne Leistung bezieht, erscheint seine Nutzbarkeit für die Beurteilung verschiedener Therapieformen problematisch. 97 Relevant wurde dies bei den sog. Außenseitermethoden, d.h. bei Behandlungsverfahren, deren Wirksamkeit nicht allgemein anerkannt ist und die in der Regel von der Schulmedizin abgelehnt werden: 98 Nachdem die Recht-

bestimmungen im Leistungswesen der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Festschrift für K. Brackmann, 1977, S.81ff. 92 Das Wirtschaftlichkeitsgebot wurde durch Notverordnung vom 26.7.1930 (RGB1.I S. 311 [322]) in die RVO eingeführt, geht allerdings der Sache nach auf § 111 der Verordnung über Krankenhilfe bei den Krankenkassen vom 30.10.1923 (RGB1.I S. 1054) zurück. 93 BSGE 78, 70, 85. 94 U. Spiolek, ZSR 38 (1992), 209,212. - Dabei geben freilich weniger ethische Gründe den Ausschlag, sondern die Schwierigkeit der Messung des Nutzens. 95 K. Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 12 SGB V Rn. 8. 96 H. Käs ling, in: Krauskopf, § 12 SGB V Rn. 6 (Stand 1996). 97 K. Höfler, in Kasseler Kommentar, § 12 SGB V Rn. 6. 98 BSGE 63, 102, 103; 64, 255, 257 f. - Zu Außenseitermethoden und Schulmedizin siehe auch E. Jung, Die Regeln der ärztlichen Kunst und unkonventionelle Heilmethoden, in: Fest-

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sprechung lange Zeit von einer Beschränkung auf das Behandlungsspektrum der Schulmedizin ausgegangen war, ist sie von dieser restriktiven Haltung in den 1980er Jahren deutlich abgerückt und hat einen Anspruch auf eine nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode schon dann bejaht, wenn i m Einzelfall ein positiver Wirkungsnachweis erbracht wurde." Nach Inkrafttreten des SGB V hat das BSG diese Rechtsprechung jedoch revidiert und geht nunmehr i m Hinblick auf § 212, 3 SGB V davon aus, daß auch für die nicht von der Schulmedizin anerkannten Behandlungsmethoden ein Nachweis der Wirksamkeit in einer „statistisch relevanten Zahl von Fällen" erforderlich ist. 1 0 0 Diese letztlich an strengen naturwissenschaftlichen Maßstäben orientierte Auffassung hat das BSG inzwischen etwas modifiziert, wenn es nunmehr zuvörderst verlangt, daß die unkonventionelle Behandlungsmethode einer besonderen Therapierichtung angehört, worunter nur ein umfassendes therapeutisches Konzept zu verstehen ist, das auf einem eigenen, sich von der Schulmedizin abgrenzenden Denkansatz beruht und bei einem größeren Teil der Ärzteschaft und weiten Bevölkerungskreisen Anerkennung findet. 1 0 1 Wohl hat das BSG damit die „Exoten" unter den Außenseitermethoden, keineswegs aber alle von der Schulmedizin abgelehnten Methoden verworfen. Die Leistungsfähigkeit der Qualitätssicherung, wie sie i m Wirtschaftlichkeitsgebot über den Aspekt der Zweckmäßigkeit erfolgt, wurde aber erhöht. 1 0 2 schrift für O.-E. Krasney, 1997, S. 221,224ff.; M. v. Wulffen, Besondere Therapiemethoden in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, SGb 1996,250ff.; B. Schulin, Alternative Medizin in der gesetzlichen Krankenversicherung, ZSR 40 (1994), 546ff.; W. Enderlein, Der Begriff „allgemein anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse" im SGB V, VSSR 1992, 123 ff.; J.Meydam, Außenseitermethoden und Anspruch auf ambulante und stationäre Behandlung, SGb 1992, 299ff.; R.-JJ. Schlenker, Die Außenseitermethoden und das System der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1992,530ff.; S. Biehl/H. Ortwein, Sind Außenseitermethoden Maßnahmen außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung?, SGb 1991,529ff.; M. Estelmann, Die Einbindung unkonventioneller Behandlungsmethoden in das System der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1991,515 ff.; M. Estelmann/ W. Eicher, Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen vor dem Hintergrund der Pluralität ärztlicher Therapien, SGb 1991, 247ff.; P. Kirsten, Unorthodoxe Krankenbehandlung, Sachleistungsprinzip und Beschaffungsweg, SGb 1991, 157 ff.; B. Schulin/W. Enderlein, Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen bei der Anwendung von Außenseitermethoden nach dem SGB 5, ZSR 36 (1990), 502ff. 99 BSGE 52, 70,74f.; 52,134,137 mit 139. 100 BSGE 76, 194, 198 f. -H. Plagemann, Mitwirkungsmöglichkeiten des Leistungsempfängers und Dritter bei der Leistungsrealisierung, SDSRV41 (1996), 41,62 hat diese Entscheidung mit einem Paukenschlag in der „Idylle der Naturmedizin" verglichen. «» BSGE 81, 54, 72. 102 Daß das Wirtschaftlichkeitsgebot Funktionen der Qualitätssicherung wahrnimmt, zeigt sich auch am Ausschluß nicht zugelassener Arzneimittel: Das BSG geht davon aus, daß ein Arzneimittel, dem die arzneimittelrechtliche Zulassung förmlich versagt worden ist, nicht zulasten der Krankenkassen verordnet werden darf (BSGE 72, 252, 256f. - anders noch BSGE 67,36,38). Nicht verkehrsfähige Arzneimittel sind auch nicht verschreibungsfähig (BSGE 76, 194, 196). Dies gilt auch, wenn der die Zulassung ablehnende Bescheid noch nicht bestandskräftig geworden ist; auch in diesem Fall schließt die fehlende Zulassung die Verordnungsfähigkeit aus (BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 3).

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Neben der Sicherung von Qualitäts- und Wirksamkeitsstandards erfolgt über das Wirtschaftlichkeitsgebot auch eine Feinsteuerung auf das im Einzelfall zu verfolgende Behandlungsziel. Das BSG leitet aus ihm einen Vorrang der Heilung der Krankheit vor der Linderung von Krankheitsbeschwerden ab.103 Wenn das BSG davon spricht, der Versicherte habe nur einen Anspruch auf gesundheitliche Maßnahmen, „die gezielt der Krankheitsbekämpfung dienen", weil es nicht Aufgabe der Krankenversicherung sei, dem Versicherten „sonstige wegen einer Krankheit notwendig werdende Hilfe im Bereich der Lebensführung zu bieten", 104 so geht es letztlich um eine Bewertung des Nutzens verschiedener Behandlungsweisen.105 Ein echter Kosten-Nutzen-Vergleich findet sich dagegen selten. Eine gewisse Bedeutung hat er bei der Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln erlangt. 106 Hier verlangt die Rechtsprechung eine „begründbare Relation zwischen Kosten und Heilerfolg", 107 wozu Wirkungen und Kosten verschiedener Methoden in der Art einer „Gesamtbilanz" einander gegenüberzustellen seien.108 Dabei findet sich nicht nur die Forderung nach einer „Bewertung des Gebrauchsvorteils", sondern sind auch präzise Angaben zum Mindestnutzen anzutreffen. 109 Der Anwendungsbereich des Wirtschaftlichkeitsgebots erweist sich damit als recht schmal: Neben einer Hierarchisierung der Behandlungsziele sind es vor allem Wirksamkeitsanforderungen, die (auch) hier ihre Grundlage haben. Ein echter Kosten-Nutzen-Vergleich findet kaum statt. Dies nimmt jedoch nicht wunder: Nicht nur ist es nicht eindeutig, was überhaupt im Einzelfall Behandlungsziel sein soll, auch läßt sich die Erreichung dieses Ziels nur schwer messen. Vor allem aber liegt es 103

BSGE 78,70, 86; 76,194,201. - Freilich wird der Vorrang bisweilen auch am Merkmal der Behandlungsbedürftigkeit festgemacht (so BSGE 62, 83, 84; 72, 96, 99). 104 BSG, NZS 1996, 388, 389. 105 Dies zeigt sich deutlich an der Rechtsprechung zur Drogentherapie: Nur die Abstinenztherapie genügt danach auf Dauer gesehen dem Wirtschaftlichkeitsgebot, weil sie auch Folgekrankheiten der Drogenabhängigkeit vermeidet oder ihre wirkungsvolle Behandlung ermöglicht (BSGE 76, 194, 201). Daher fällt die Drogensubstitution nur dann in den Bereich der Krankenversicherung, wenn sie in Verfolgung des Drogenentzugs als Hauptziel erfolgt (BSGE 78,70,86; 76,194,201 - so auch BSGE 77,195,205). Wirtschaftlich ist die Substitutionstherapie freilich auch dann nur, wenn die „mit der Verwendung von Drogensubstitutionsmitteln verbundenen Gefahren möglichst gering gehalten werden." (BSGE 76, 194,202f.). 106 K. Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 12 SGB V Rn. 7, 9. 107 BSGE 52, 70, 75; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 4, 16, 18, 20. 108 BSGE 52, 134, 139. 109 BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16,18. - Bei einem Preis von 4.000,00 bis 5.000,00DM müsse die zeitliche Nutzung eines Lesesprechgeräts wöchentlich durchschnittlich mindestens 5 Stunden betragen. Dies sei „im Sinne einer .gegriffenen Größe4 zu verstehen, wie sie von der Rechtsprechung entwickelt wird, um die Handhabung unbestimmter Rechtsbegriffe zu erleichtem." (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16). - Im Falle eines Farberkennungsgerät ging das BSG davon aus, daß bei Kosten von etwa 1.500 DM bei einer Nutzung von fünf- bis zehnmal am Tag ausreichend seien, um das Gerät als wirtschaftlich zu bezeichnen. (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 18).

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angesichts des Stellenwerts der Gesundheit nahe, daß eher etwas Überflüssiges geleistet, als etwas Nützliches unterlassen wird. Dies bewirkt aber, daß das Wirtschaftlichkeitsgebot kaum dazu gebraucht wird festzustellen, wo „der Grenznutzen für zusätzliche Gesundheitsleistungen gegen Null geht." 110 Für die dafür erforderlichen Wertungen scheint die Rechtsprechung ohnehin kaum geeignet.111

4. Krankenbehandlungsanspruch als Rahmenrecht Während die Rechtsprechung früher der Auffassung war, daß sich dem Leistungsrecht im Wege der Auslegung Ansprüche auf konkrete Behandlungsmaßnahmen entnehmen lassen,112 geht sie heute davon aus, daß sich aus dem Leistungsrecht nur im Ausnahmefall konkrete Leistungsansprüche ergeben. In der Regel werde dort dem Versicherten nur ein ausfüllungsbedürftiges Rahmenrecht auf Behandlung in Aussicht gestellt.113 Denn die Bestimmungen des Leistungsrechts, insbesondere die § § 271,1211,213 SGB V, enthielten weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit alle tatbestandlichen, „subsumtionsfähig" bestimmten Voraussetzungen für einen konkreten Anspruch auf eine bestimmte Behandlungsmaßnahme. Schon die Vielzahl der Bestimmungen und ihre wechselseitige Abhängigkeit zeige, daß es sich um „offene Wertungsnormen" handle. Es bedürfe daher weiterer Konkretisierungsschritte, bis erkennbar wird, auf welche Behandlungsmaßnahme der Versicherte einen Anspruch hat. 114 Das Gesetz lege somit nur „die Rahmenbedingungen für die Entstehung möglicher Ansprüche und damit zugleich die äußersten Grenzen für die Leistungsverpflichtungen der Krankenversicherungsträger fest." 115 Nur in den seltenen Fällen, in denen eine einzige Maßnahme eine reale Chance zur Erreichung des Behandlungsziels bietet, verdichte sich das Rahmenrecht zum echten Anspruch. 116 Den Grund für die Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung der Anspruchsgrundlagen, für seinen Verzicht auf die Festschreibung von Konditionalprogrammen und für seine Beschränkung auf „subjektiv-rechtlich bewehrte" Zweckprogramme, sieht das BSG vor allem in der „medizinisch-wissenschaftlichen Komplexität der Regelungsmaterie": Die medizinische Erkenntnis befinde sich in einem ständigen Fluß und entziehe sich schon wegen ihrer Dynamik einer Erfassung durch Konditionalprogramme. Eine „ins einzelne gehende Ausgestal110

1. Ebsen, Soziale Sicherheit im Spannungsfeld von Wohlfahrtsstaatlichkeit, Freiheit und Verteilungsgerechtigkeit, DVB1 1992,1140,1147. 111 Die Rechtsprechung zur „begründbaren Relation zwischen Kosten und Heilerfolg" im Heil- und Hilfsmittelbereich (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 16,18) kündet davon. 112 Siehe nur BSGE 70, 24, 26. 113 BSGE 81, 54, 60f.; 81, 73, 78f.; 78, 154, 155; 73, 271, 279ff. 114 BSGE 73, 271,279. 115 BSGE 73, 217, 280. 116 BSGE 78, 70, 85.

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1. Teil: Grundlagen

tung von Ansprüchen" könne wegen der dadurch bewirkten Statik sogar Gefahr laufen, das Ziel zu verfehlen, den Kranken die dem jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung zuteil werden zu lassen. Aus diesem Grunde habe das Gesetz „prinzipiell einen anderen, im weitesten Sinne »verfahrensrechtlichen 4 Weg beschritten", um konkrete Ansprüche aus dem Rahmenrecht herzuleiten. 117 Allgemeiner formuliert: Die Natur der versprochenen Leistung streitet gegen die abschließende gesetzliche Normierung des Leistungsinhalts. Statt das materielle Recht auszugestalten, verfolgt das Gesetz einen prozeduralen Ansatz. Diese Konzeption ist mit bemerkenswerter Verzögerung von der Literatur zur Kenntnis genommen und zunächst lediglich rezipiert worden. 118 Erst jüngst hat sie deutliche Kritik erfahren: 119 Die These von der finalen Programmierung des Leistungsanspruchs sei fragwürdig. Die „konkrete und differenzierte" Arbeit am Gesetz könne nicht durch die Gegenüberstellung von konditionaler und finaler Programmierung ersetzt werden. 120 Die Unterscheidung zwischen Zweck- und Konditionalprogrammen sei eher von rechtstheoretischer als von rechtsdogmatischer Bedeutung und alles andere als trennscharf. Die Anspruchsnormen des SGB V seien aber „eindeutig konditionalprogrammiert". 121 Und gegen die Verdünnung des Krankenbehandlungsanspruchs zu einer „offenen Wertungsnorm" sei daran zu erinnern, daß im Recht der sozialen Krankenversicherung die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe nie umstritten gewesen sei. Die Figur eines Rahmenrechts werde insoweit gar nicht benötigt. Wohl aber brauche, folge man ihr, nicht mehr geklärt zu werden, ob sich aus der Unbestimmtheit Beurteilungsspielräume ergeben. 122 Insgesamt sei die rahmenrechtliche Konstruktion dogmatisch nicht tragfähig. Sie verdünne die leistungsrechtlichen Vorgaben so sehr, daß der Behandlungsanspruch nur noch eine leere Hülse sei. 123 Wenn das BSG in den Bestimmungen des Leistungsrechts „offene Wertungsnormen" sieht und im Hinblick darauf seine rahmenrechtliche Konzeption entwickelt, 117

BSGE 73, 271,280. G. Schwerdtfeger, Die Leistungsansprüche der Versicherten im Rechtskonkretisierungskonzept des SGB V (Teil 1), NZS 1998, 49ff.; R. Schmidt-De Caluwe, Das Behandlungsverhältnis zwischen Vertragsarzt und sozialversichertem Patienten, VSSR 1998,207,226f.; I. Ebsen, Der Behandlungsanspruch des Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung und das Leistungserbringungsrecht, in: Festschrift für O.-E. Krasney, 1997, S. 81, 84ff.; W. Noftz, Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht nach Inkrafttreten des 2.GKV-Neuordnungsgesetzes, VSSR 1997, 393,426. 119 V. Neumann, Der Anspruch auf Krankenbehandlung - ein Rahmenrecht?, SGb 1998, 609ff.; R. Franche , Richtlinien, Normsetzungsverträge und neue Behandlungsmethoden im Rechtskonkretisierungskonzept des Bundessozialgerichts, SGb 1999,5 ff. 120 R. Franche , SGb 1999, 5, 6. 121 V. Neumann, SGb 1998,609, 611. 122 V. Neumann, SGb 1998,609, 611 f. 123 V.: Neumann, SGb 1998, 609, 612 und 614. 118

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dann wird damit in der Tat nicht nur die Unbestimmtheit von Gesetzesbegriffen konstatiert, sondern zugleich auch ein Urteil über die Eröffnung von Entscheidungsspielräumen abgegeben. Daß nicht von Beurteilungsspielräumen die Rede ist, dafür aber umso mehr von Konkretisierung, mag dem Umstand geschuldet sein, daß das BSG das Gesetz nur einen „im weitesten Sinne »verfahrensrechtlichen' Weg" beschreiten sieht. Für einen nur „im weitesten", nicht aber im strengen Sinne verfahrensrechtlichen Weg mag eine abweichende Begrifflichkeit vorzugswürdig erscheinen. In der Sache ist das Rahmenrecht aber eine Chiffre für gerichtlich nicht völlig nachprüfbare Spielräume. Das Rahmenrecht hat die gleiche Funktion wie § 26 V SGB VII, der den Unfallversicherungsträgern bei der Bestimmung von Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung ein Ermessen einräumt und damit den in § 261 SGB V I I niedergelegten Anspruch auf Heilbehandlung zu einem bloßen Anspruch dem Grunde nach macht.124 Als Begründung für die mit der rahmenrechtlichen Konzeption eingeräumten Spielräume genügt die Wertungsoffenheit der leistungsrechtlichen Bestimmungen allein jedoch nicht. Auch die Qualifikation der leistungsrechtlichen Bestimmungen als Zweckprogramm trägt die rahmenrechtliche Konzeption noch nicht. Zweck- und Konditionalprogramm sind sicherlich keine dogmatischen Kategorien. Und § 2711 SGB V, der Kern der leistungsrechtlichen Bestimmungen, läßt sich durchaus als konditional programmierter Satz lesen. Gleichwohl ist die finale Struktur des Krankenbehandlungsanspruchs unverkennbar. Sie schlägt sich in dessen traditioneller Zuordnung zum „Finalprinzip" nieder und wurzelt in ihrer ausgeprägten Bedarfsbezogenheit, darin, daß Krankheit nicht nur Ursache einer auszugleichenden Bedarfslage ist, sondern auch den Inhalt der Bedarfslage beschreibt und damit Bezugspunkt für die Bemessung des Leistungsumfangs ist. 125 Dann aber kann nicht die rechtstheoretische Zuordnung des § 2711 SGB V entscheidend sein, sondern muß es auf den Gegenstand des Leistungsanspruchs ankommen. Es ist eher ein Gemeinplatz, daß sich Dienstleistungen - und die ärztliche Behandlung zählt zu diesen - gegen rechtliche Regulierung sträuben 126 und folglich auch nur selten normativ konkretisiert sind. Die Distanz von Dienstleistungen gegenüber dem Recht ist Folge ihres ausgesprochenen Zweckbezugs: Während sich Geldleistungsansprüche leicht in ihrer Höhe exakt festlegen lassen, ist es kaum möglich, allgemein zu bestimmen, was eine Krankenbehandlung im konkreten Einzelfall an Leistungen erfordert. 127 Es ist aber nicht nur die Vielfalt der Lebenssachverhalte, denen Dienstleistungen gerecht werden sollen, die einer allzu konkreten Regelung im Gesetz widerstreitet. Es ist auch die Eigenart von Dienstleistungen 124

1. Ebsen, in: Festschrift für O.-E. Krasney, S. 81, 85 f. S.o.Il. 126 Siehe nur H. Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 11, 35. 127 P. Krause, Rechtsprobleme einer Konkretisierung von Dienst- und Sachleistungen, in: Festschrift für G. Wannagat, 1981, S.239, 241. 125

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1. Teil: Grundlagen

selbst, die ihrer gesetzlichen Vorzeichnung Grenzen setzt: Weil es sich bei ihnen eher um immaterielle Verrichtungen handelt, deren Erbringung wesentlich von der Person und der Persönlichkeit des Leistungserbringers abhängt und die in Interaktion mit dem Leistungsempfänger produziert werden, gilt ihre Standardisierung als schwierig. 128 Dienstleistungen sträuben sich gegen Standardisierung, sie verschließen sich ihr aber keineswegs. Die Regeln der ärztlichen Kunst, auf die auch das Gesetz bezug nimmt (§ 2811 SGB V), sind ein Beispiel für derartige Standards. Nichtsdestotrotz ist es zutreffend, wenn das BSG hervorhebt, dem Gesetz ließe sich nicht entnehmen, bei welchen medizinischen Indikationen welche Behandlungsmaßnahmen beansprucht werden können.129 Den eigentlichen Grund dafür sieht das BSG in der „medizinisch-wissenschaftlichen Komplexität der Regelungsmaterie", in der Dynamik der medizinischen Erkenntnisse und in dem Ziel, den Kranken die dem jeweiligen Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechende Behandlung zuteil werden zu lassen.130 Daß die Konkretisierung des Krankenbehandlungsanspruchs ein äußerst voraussetzungsvoller Prozeß ist und hochkomplexe Entscheidungen erfordert, wird auch von Kritikern eingeräumt, von denen zugleich darauf hingewiesen wird, daß es, solange ausreichend Ressourcen zur Verfügung standen, keine Probleme bereitet hatte, die gesetzlichen Bestimmungen des Leistungsrechts durch außerrechtliche, professionelle und wissenschaftliche Normen zu konkretisieren. 131 Ist aber der Rückgriff auf außerrechtliche Wertungen immer schon erforderlich gewesen, so wird letztlich zugestanden, daß das Gesetz selbst nicht alles an Vorgaben enthält, um beurteilen zu können, ob der Versicherte eine bestimmte Behandlungsmaßnahme beanspruchen kann. Der Grund dafür liegt seit jeher im Gesetz selbst: Es ist nicht nur die Distanz von Dienstleistungen gegenüber rechtlicher Regulierung, es ist auch der bewußte Verzicht des Gesetzgebers auf eine gesetzesförmige Fixierung des ärztlichen Behandlungsgeschehens, die den vom BSG mit dem Rahmenrecht auf den Begriff gebrachten Konkretisierungsbedarf auslöst. Und es ist das Gesetz selbst, das den Weg weist, wie dieser Konkretisierungsbedarf befriedigt werden soll: Es bedient sich dazu eines „im weitesten Sinne »verfahrensrechtlichen 4 Wegs", eines prozeduralen Ansatzes, der die Konkretisierung des im Gesetz nur rahmenmäßig gefaßten Krankenbehandlungsanspruchs in rechtlich geordnete Bahnen lenkt. Die rahmenrechtliche Konzeption des BSG hat damit durchaus einen tragfähigen Grund im Gesetz. Eine ganz andere Frage ist es aber, ob der „im weitesten Sinne »verfahrensrechtliche Weg 4 ", den das Gesetz demzufolge bei der Konkretisierung des Rahmenrechts beschreitet, in jeder Hinsicht mit der Verfassung vereinbar ist. 132 Jedenfalls ist zurecht daran erinnert worden, daß die Bestimmungen des Leistungsrechts einen stärker de128 129 130 131 132

M. Oppen, Qualitätsmanagement, 1995, S.20ff. BSGE 73, 271, 279f. BSGE 73, 271,280. R. Francke, SGb 1999, 5, 7. Dahingehend mit Recht R. Francke, SGb 1999,5, 6.

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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terminierenden Gehalt haben, als es nach dem prozeduralen Ansatz den Anschein haben kann. 133 Das Gesetz steckt mit den leistungsrechtlichen Bestimmungen nicht nur einen äußersten Rahmen ab, vielmehr geben diese final strukturierten und wertungsoffenen Bestimmungen der Konkretisierung sehr wohl Maß und Ziele vor.

II. Verfahrensrechtlicher Weg der Anspruchskonkretisierung Hat sich der Anspruch auf Krankenbehandlung als ein nur rahmenmäßig gefaßter Anspruch erwiesen, der weiterer Konkretisierungsschritte bedarf, bevor feststeht, ob der Versicherte eine bestimmte Leistung beanspruchen kann, so stellt sich die Frage, wie diese weiteren Schritte und der Weg beschaffen ist, den sie nehmen sollen. Am Ausgangspunkt des „im weitesten Sinne »verfahrensrechtlichen' Wegs", den das Gesetz hier beschreitet, steht, daß es die Krankenkassen als Träger der sozialen Krankenversicherung (§ 21Π mit § 12 SGB I) sind, denen gegenüber den Versicherten der Krankenbehandlungsanspruch zusteht. Die Krankenkassen erbringen die Krankenbehandlung jedoch grundsätzlich nicht selbst, sondern bedienen sich dazu selbständiger Dritter als Leistungserbringer (vgl. § 2 Π 2 SGB V). Das wirft die Frage nach der Rolle der Krankenkassen in diesem Geschehen auf, die unter dem Stichwort „Naturalleistungsprinzip" 134 diskutiert wird (1.). Damit ist freilich nur der Ausgangspunkt des „verfahrensrechtlichen Wegs" markiert. Vor seinem Hintergrund ist in einem zweiten Schritt dem Verfahren nachzugehen, in dem im Einzelfall der Anspruch konkretisiert wird (2.). Dabei ist gesondert nach der Position des Versicherten in diesem Geschehen zu fragen (3.).

1. Naturalleistungsprinzip Das Gesetz räumt den Versicherten in § 271 SGB V einen Anspruch ein, der unmittelbar auf Krankenbehandlung und damit unmittelbar auf Sach- und Dienstleistungen gerichtet ist. Es liegt nahe, daß die Versicherten nur die Krankenbehandlung als solche beanspruchen und nicht statt ihrer Geldleistungen verlangen können. Dennoch schreibt das Gesetz in § 131 SGB V besonders fest, daß die Krankenkassen anstelle von Sach- und Dienstleistungen Kosten nur dann erstatten dürfen, wenn das Gesetz dies vorsieht, und bestimmt in § 2111 SGB V, daß die Versicherten die Leistungen der Krankenversicherung als Sach- und Dienstleistungen erhalten, soweit 133

/. Ebsen, in: Festschrift für O.-E. Krasney, S. 81,97, der deshalb für einen „integrativen" Ansatz wirbt. 134 Üblicherweise wird von „Sachleistungsprinzip" gesprochen, obwohl die ärztliche Behandlung als wichtigste „Sachleistung" nach der Terminologie des Sozialgesetzbuchs Dienstleistung ist (vgl. § 11 S. 1 SGB I). Der Begriff „Sachleistung" wurde im Rahmen der Beratungen der RVO eingeführt, um den älteren der „Naturalleistung" zu verdeutschen (5. Leibfried Ί F : Tennstedt, ZSR 26 [1980], 695,698). Der Begriff „Naturalleistung" dürfte das erstemal von H. Rosin, Das Recht der Arbeiterversicherung, Bd. 1,1893, S.369 verwandt worden sein. 5 Wahl

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1. Teil: Grundlagen

das Gesetz nichts Abweichendes vorsieht. Die solchermaßen bewirkte Bindung an den in den Leistungstatbeständen vorgesehenen Leistungsmodus erscheint wenig bemerkenswert. 135 Und dennoch wurde mit den §§2111,131 SGB V das Naturalleistungsprinzip bewußt als „strukturprägendes Prinzip" 136 des Krankenversicherungsrechts im Gesetz festgeschrieben, um Unsicherheiten über dessen Geltung, die in der Behauptung seiner „übernormativen" Natur mündeten,137 auszuräumen. Für seinen normativen Gehalt gilt gleiches jedoch nicht.

a) Unmittelbare Bedarfsbefriedigung Das Naturalleistungsprinzip besagt zunächst nur, daß der Versicherte die Krankenbehandlung nur als solche, „in Natur", 138 beanspruchen und nur als solche von den Krankenkassen erhalten kann. Dies weist weiter auf die „Natur" der Leistungen und damit auf die Differenzierung der Leistungsarten, wie sie in § 11 S. 1 SGB I vorgenommen wird. Wenn dort zwischen Dienst-, Sach- und Geldleistungen unterschieden wird, so ist dies nicht allein eine formale Differenzierung nach dem Leistungsgegenstand. Hinter dieser Differenzierung steht zugleich auch ein verschiedener Bedarfsbezug: Während Geldleistungen durch abstrakte Bedarfsannahmen motiviert oder an konkreten Bedarfslagen ausgerichtet sein können, immer aber die Beschaffung der für die Bedarfsdeckung erforderlichen Sachen und Dienste dem Leistungsberechtigten überlassen und diesen nur mit dem dafür erforderlichen Geld ausstatten, machen sich Sach- und Dienstleistungen die Deckung des Bedarfs selbst zum Gegenstand. Sie weisen damit dem Leistungsträger eine unmittelbare Verantwortung für die Bedarfsdeckung zu. Gleichwohl besteht insoweit zwischen Geldleistungen auf der einen und Sachund Dienstleistungen auf der anderen Seite eher ein gleitender Übergang: So sind schon die Geldleistungen nicht völlig frei von jedem Bezug auf die Bedarfslage. Diese kann bloß abstrakt motivieren, typisierend berechnet oder konkret im Einzelfall ermittelt sein. Gerade die Kostenerstattung, die in § 131 SGB V als „Gegenprin135 Bemerkenswerter war es schon, daß das BSG früher annahm, der Anspruch auf Krankenhausbehandlung wandle sich, obwohl „inhaltlich überwiegend ein Dienstleistungsanspruch", mit Beginn der Behandlung in einen Anspruch auf Übernahme der Behandlungskosten um (BSGE 53,62,64). Dies wurde später dahingehend, Jdaigestellt", daß der Versicherte keinen Zahlungsanspruch gegen die Krankenkasse hat, den er dem Krankenhaus abtritt, daß der Zahlungsanspruch vielmehr unmittelbar zugunsten des Krankenhauses entsteht (BSGE 70, 20, 22f.). Die solchermaßen „klargestellte" Konstruktion diente allein dazu, die Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Krankenhäuser zu publifizieren. Sie war insoweit erfolgreich (siehe BGHZ 89,250,255 ff.), bleibt aber-jedenfalls soweit sie nicht freigemeinnützige Krankenhäuser betrifft (vgl. dazu V. Neumann, Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat, 1992, S.262ff.)-fragwürdig. 136 Dazu BSGE 42, 117, 119; 19, 21, 23. 137 BSGE 69,170, 173. 138 BSGE 75, 167, 169f.; 69, 170, 173; 42, 229, 230. - So schon RVA, AN 1914, 379, 380.

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zip" 1 3 9 zur Naturalleistung Erwähnung findet, ist eng am Bedarf orientiert: Von ihrem Umfang her ist sie genau am krankheitsbedingten Bedarf ausgerichtet, weil nur der Ersatz der darauf beruhenden Aufwendungen beansprucht werden kann. Daher erscheint sie eher als „versorgungstechnische Variante" denn als „Gegenprinzip". 140 Andererseits schreiben Sach- und Dienstleistungen zwar den Modus der Leistungserfüllung fest und zwingen die Krankenkassen zu „unmittelbarer Bedarfsbefriedigung". 141 Damit wird ihnen eine über die Finanzierung hinausgehende Verantwortung zugewiesen, die allerdings in ganz verschiedener Weise wahrgenommen werden kann: Sofern der Leistungsträger die Sach- und Dienstleistungen nicht in eigenen Einrichtungen erbringen läßt, kann sich seine Aufgabe darauf beschränken, den Versicherten von der Vorleistung der Kosten freizustellen; sie kann aber auch darüber hinausgehen und die Vermittlung oder Verschaffung der erforderlichen Dienstund Sachleistungen umfassen. 142 Beschränkt sich seine Aufgabe auf die bloße Freistellung von der Vorleistung, so unterscheidet sie sich von der Kostenerstattung allein im Zahlungsweg - und auch dieser Unterschied ist allenfalls graduell, wenn man in Betracht zieht, daß Kostenerstattung keineswegs die Zahlung an den Erbringer von Behandlungsleistungen ausschließt.143 Einerseits kann die Freistellung von den Kosten allein nicht genügen. Andererseits verlangt das Naturalleistungsprinzip nicht, daß die Sach- und Dienstleistungen von den Krankenkassen selbst erbracht werden. Ob diese Leistungen überhaupt eigenhändig erbringen dürfen, war Gegenstand eines mit erheblicher publizistischer Unterstützung geführten Rechtsstreits.144 Der BGH kam darin zu dem Schluß, daß die eigenhändige Leistungserbringung nur ausnahmsweise vom Gesetz gedeckt sei. 145 Die Entscheidung leidet an manchen Schwächen.146 Das BSG hat dem BGH 139

BSGE 66, 284, 287. J. Meydam, Gewährleistungspflicht, Sachleistungsgrundsatz und Kostenerstattung im neu normierten Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1991, 377, 380. 141 H. Zacher/M. Friedrich-Marczyk, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst?, 1980, S. 28; dies., Zum Wesen des Sachleistungsprinzips im gesetzlichen Krankenversicherungsrecht, ZfS 1980,97; dies., Zur Problematik genereller Eigenleistungsbefugnis der gesetzlichen Krankenkassen, SGb 1980,505, 507. 142 Vgl. E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, 1987, S.72. 143 B. Schulin, HS-KV,§ 6 Rn. 110. 144 Dazu einerseits H. Zacher/M. Friedrich-Marczyk, Krankenkassen oder nationaler Gesundheitsdienst?, 1980; Β. v. Maydell/R. Scholz, Grenzen der Eigenwirtschaft gesetzlicher Krankenversicherungsträger, 1980, und andererseits//. Rohwer-Kahlmann, Die Sozialleistung der „Versorgung mit Brillen", ZSR 26 (1980), 197 ff. - Kennzeichnend für die Atmosphäre ist das Scharmützel zwischen und S. Leibfried/F. Tennstedt, Verfehlte Optik? Gezielte Rezeptur?, ZSR 26 (1980), 695 ff. und H. Zacher, „Verfehlte Optik? Gezielte Rezeptur?", ZSR 27 (1981), 206 f. 145 BGHZ 82, 375, 385 ff. - Zwar sei das Sachleistungsprinzip indifferent, weil es keine Rückschlüsse auf die Person des Leistungserbringers zulasse (aaO 385ff.). Doch entspreche die Erbringung von Sachleistungen durch Dritte dem Regelfall des Gesetzes (aaO 387 ff.). Die eigenhändige Leistungserbringung komme danach nur „ausnahmsweise, d.h. aus zwingenden gesundheits- und sozialrechtlichen Erwägungen", in Betracht. Nur dieser Regelfall beachte, 140

5*

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1. Teil: Grundlagen

später mit guten Gründen widersprochen. 147 Der Gesetzgeber des GRG jedoch hat den BGH noch überboten und in § 140 SGB V ein generelles Verbot von Eigeneinrichtungen statuiert. Ist danach - mit welcher Berechtigung auch immer 148 - die eigenhändige Leistungserbringung den Trägern der sozialen Krankenversicherung verwehrt, so müssen diesen dennoch die Sach- und Dienstleistungen im Verhältnis zu den Versicherten als eigene zugerechnet werden können, auch wenn sie durch Dritte erbracht werden. Erbringt der Leistungsträger Sach- und Dienstleistungen nicht selbst, so muß er zumindest mit selbständigen Leistungserbringern Verträge abschließen (vgl. § 2 I I 2 SGB V), die dies bewirken. Aus der Sicht des Versicherten formuliert, geht es dem Naturalleistungsprinzip darum, wann ihm gegenüber Leistungen Dritter als solche der Krankenkassen gelten können. Damit sind zugleich Fragen nach der Verantwortung der Krankenkassen für das Leistungsgeschehen angeschnitten, die auch deren Verhältnis zu den Leistungserbringern betreffen. Diesen Fragen soll nach einem Umweg über die vom Gesetz zugelassenen Fälle der Kostenerstattung nachgegangen werden.

b) Kostenerstattung als Gegenprinzip Die ausweislich § 2 I I 1 SGB V vom Naturalleistungsprinzip geprägte soziale Krankenversicherung kennt, wie § 131 SGB V zeigt, auch Fälle der Kostenerstattung. 149 In § 13 II, I I I SGB V haben gleich zwei solcher Ausnahmefälle eine Regelung erfahren.

daß Art. 121GG es der öffentlichen Hand verwehre, über das sachlich Gebotene hinaus in den Bereich der beruflichen Betätigung Privater einzugreifen. Eine schrankenlose Ermächtigung zum Betrieb von Selbstabgabestellen könnte dazu führen, daß im Widerspruch zu Art. 121 GG „vorhandene und nach Herkommen und Gesetz anerkannte selbständige Berufe faktisch nur noch als Angestelltenberufe" ausgeübt werden könnten (aaO 390 f.). 146 So mutet der Gedanke merkwürdig an, der Ausschluß der Krankenkassen diene „zugleich dem allgemein gebilligten wirtschaftspolitischen Ziel der Förderung des Mittelstandes" (BGHZ 82,375, 390). Mittelstandsförderung ist aber sicher keine Aufgabe der sozialen Krankenversicherung (so zutreffend H.-J. Spieß, Leistungserbringung in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1984, 56, 62 ff.). 147 BSGE 63, 173, 182ff. 148 An ihrem sozialpolitischen Sinn ist gezweifelt worden, „weil die Zusammenarbeit zwischen Leistungsträgern und Leistungserbringern immer dort am ehesten funktionstüchtig ist, wo die Leistungsträger durch den Betrieb von Eigeneinrichtungen Erfahrungen in der sozialen Arbeit sammeln können." (V. Neumann, Grundlagen, HS-PV, § 20 Rn. 28). 149 Die Rechtsprechung geht davon aus, daß Kostenerstattung nur dort vorgesehen ist, wo auch das Wort „Kostenerstattung" verwandt wird (BSGE 77,119,129).

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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(1) Sekundäre Kostenerstattung In dem nunmehr 150 in § 13 ΠΙ SGB V geregelten Anspruch auf Erstattung der Kosten für selbstbeschaffte Leistungen sieht das BSG einen Schadensersatzanspruch aus Garantiehaftung. 151 Die Krankenkassen seien nämlich verpflichtet, die gesetzlich vorgesehenen Sach- und Dienstleistungen dem Versicherten in Natur zur Verfügung zu stellen (§ 211, I I 1 SGB V). Diese Verpflichtung könne nur erfüllt werden, wenn ein bedarfsgerecht ausdifferenziertes Naturalleistungssystem vorhanden sei. Da die Sicherstellung und Erbringung des im SGB V vorgesehenen Naturalleistungsangebots die Kräfte des einzelnen Krankenversicherungsträgers übersteige, habe das Gesetz die Krankenkasse und die Leistungserbringer „in einem vielschichtig funktional gegliederten Gesamtsystem" verbunden; dieses „Naturalleistungssystem" werde von der jeweiligen Krankenkasse dem Versicherten gegenüber repräsentiert, die ihm gegenüber deshalb für den „Verschaffungserfolg" haftet. 152 Dieser Garantiehaftung entspreche spiegelbildlich, daß die zugelassenen Leistungserbringer mit befreiender Wirkung für die Krankenkasse an den Versicherten leisteten.153 Der als Schadensersatzanspruch gedeutete sekundäre Kostenerstattungsanspruch aus § 13 III SGB V setzt einen - nicht erfüllten - primären Naturalleistungsanspruch voraus. 154 Er läßt freilich dem Versicherten nicht die Wahl, ob er das Naturalleistungssystem in Anspruch nehmen will oder nicht, vielmehr kann er nur, sofern und soweit dieses System versagt hat, andere Versorgungswege wählen.155 Das Naturalleistungsprinzip bewirkt nicht nur, daß die Krankenkassen ein Versorgungssystem bereitzuhalten haben, sondern auch daß die Versicherten die Versorgungswege einzuhalten haben.

(2) Primäre Kostenerstattung Nach § 13 I I SGB V 1999 können freiwillig Versicherte anstelle von Sach- und Dienstleistungen Kostenerstattung wählen, sind aber auch dann auf die Inanspruchnahme zugelassener Leistungserbringer beschränkt. Diese - vorübergehend durch 150

Der in § 13 III SGB V enthaltene Kostenerstattungsanspruch ist mit seinen Varianten von der Rechtsprechung entwickelt worden (siehe insb. BSGE 48, 258, 260; 46, 179, 182). 151 BSGE 73,271,274. - S.a. BSG, NZS 1997,231,232, wo die Frage aufgeworfen wird, ob die Kostenerstattung nicht eher aus dem Herstellungsgedanken abzuleiten ist. 152 BSGE 73, 271,275. 153 BSGE 73, 271,276. >* BSGE 73, 271,276. 155 Das BSG verlangt daher einen Kausalzusammenhang zwischen derhaftungsauslösenden Ursache (Systemversagen oder Leistungsablehnung) und der Inanspruchnahme eines bestimmten Leistungserbringers (BSG, NZS 1997, 231, 232).

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1. Teil: Grundlagen

das 2. GKV-NOG auf alle Versicherten ausgedehnte156 - Wahlmöglichkeit hat ihre Wurzeln im Bereich der Ersatzkassen. Die Ersatzkassen, die als Krankenversicherungsträger lange Zeit einen Sonderstatus besaßen,157 hielten sich seit jeher für berechtigt, freiwillig Versicherten anstelle von Sachleistungen Kostenerstattung einzuräumen. Unumstritten war dies nicht. Primärkassen, die nach dem Vorbild der Ersatzkassen auch Kostenerstattung für ihre freiwilligen Mitglieder einführen wollten, scheiterten damit aber vor dem BSG, das derlei im Hinblick auf das Naturalleistungsprinzip für unzulässig hielt. 158 Das GRG, das in §§ 2Π1,131 SGB V die Geltung des Naturalleistungsprinzips allen Zweifeln enthoben hatte, sah in Art. 61 GRG eine Ausnahmebestimmung vor für diejenigen Krankenkassen, die bisher ihren freiwilligen Mitgliedern die Wahl der Kostenerstattung eingeräumt hatten. Aufgrund ihrer Formulierung war mit dieser Vorschrift allerdings noch nicht einmal geklärt worden, ob die Kostenerstattung der Ersatzkassen überhaupt zulässig war. 159 Diese verunglückte Bestimmung wurde vom GSG durch § 13 I I SGB V1993 ersetzt: Nunmehr konnten alle Krankenassen ihren freiwilligen Mitglieder die Möglichkeit der Kostenerstattung einräumen. Das BSG nahm zu dieser Bestimmung an, auch bei Kostenerstattung könnten die Versicherten nur die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte in Anspruch nehmen. Denn § 761 SGB V gelte nicht nur „bei der Gewährung von Sachleistungen, sondern auch für die Kostenerstattung"; hätte der Gesetzgeber die Fälle des § 13 I I SGB V davon ausnehmen wollen, so hätte er dies ausdrücklich tun müssen.160 Freilich ist § 761 SGB V eine Bestimmung des Vertragsarztrechts, für das bis dahin das Naturalleistungsprinzip für eine notwendige Existenzbedingung gehalten wurde. 161 Das BSG hielt seine Argumentation offenbar selbst nicht ganz für überzeugend und betonte, eine freie Wahl unter allen Ärzten sei auch „mit dem bis156

Zu dem darin angelegten grundlegenden Wandel siehe nur W. Noftz, Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht nach Inkrafttreten des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, VSSR 1997, 393,402 ff. 157 Nach dem Recht der RVO waren die Ersatzkassen kerne Krankenkassen (§ 2251 RVO); die für die Krankenkassen geltenden Bestimmungen und somit ein Großteil des Krankenversicherungsrechts waren auf sie nur entsprechend anwendbar. Das GRG hat demgegenüber die Ersatzkassen zu den Krankenkassen gezählt (§ 4 II SGB V); während damit das Leistungsrecht unmittelbar auch für die Ersatzkassen galt, genossen sie im Leistungserbringungsrecht weiterhin einen Sonderstatus, den sie erst durch das GSG verloren (s.u. § 3IV3). 158 BSGE, 69,170,172ff. - Siehe zum ganzen B. Schulin, Kostenerstattung nach § 13 Abs.2 SGB V, BKK 1993,718ff.; ders., Sachleistungsgrundsatz und Kostenerstattung- eine Diskussion ohne Ende, SGb 1992,289ff.; H.-J. Spieß, Zur Kostenerstattung in der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1989,495 ff. 159 R. Zuck, Verbietet § 13 Abs. 2 SGB V die Inanpruchnahme von Leistungen zur vertragsärztlichen Versorgung nicht zugelassener/nicht ermächtigter Leistungserbringer?, NZS 1994, 254, 258. »« BSGE 76,101,102; 72,93,95. - Dagegen B. Schulin, HS-KV, §6 Rn. 121,123;/?. Zuck, NZS 1994, 254, 258 f. 161 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 1171, der dabei aber in erster Linie die historische Entwicklung im Auge hatte.

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herigen System der sozialen Krankenversicherung" nur schwer zu vereinbaren. 162 Dabei knüpfte es an eine Entscheidung zur Kostenerstattung im Rahmen von Erprobungsregelungen an, die eine unbeschränkt freie Arztwahl für mit den Grundsätzen der sozialen Krankenversicherung unvereinbar gehalten hatte: „Damit das öffentlich-rechtliche Krankenversicherungssystem auf Dauer finanzierbar bleibt, sind die Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§121 SGB V) und die Prüfung der Wirtschaftlichkeit unerläßliche Voraussetzungen."163 Freilich war dabei darüber zu befinden, ob die fragliche Erprobungsregelung die soziale Krankenversicherung „weiterentwickelt", wie dies § 63 S. 1 SGB V1989 verlangt hatte. Für die Kostenerstattungsregelung des § 13 I I SGB V1993 besagte dies aber nichts. Dem Gesetzgeber gegenüber läßt sich ein Weiterentwicklungsgebot nicht statuieren. Mag es noch plausibel geklungen haben, den Ausschluß der Inanspruchnahme nicht zugelassener oder ermächtigter Ärzte verfassungsrechtlich für geboten zu halten, weil andernfalls freiwilligen Mitgliedern ohne zwingenden Grund ein Recht eingeräumt würde, das versicherungspflichtige Mitglieder nicht haben,164 so ist diesem Argument durch das 2. GKV-NOG die Grundlage entzogen worden: Denn nach § 13 I I SGB V1997 sollten alle Versicherten in den Genuß von Kostenerstattung gelangen können. Nichtsdestotrotz hatte das 2. GKV-NOG die Rechtsprechung übernommen und in § 13 I I 1 SGB V 1997 ausdrücklich die Inanspruchnahme von Nichtvertragsärzten ausgeschlossen. Inzwischen ist durch das GKV-SolG die Wahl der Kostenerstattung wieder auf freiwillige Mitglieder beschränkt worden (§ 13 I I 1 SGB V 1999); für die weiterhin ausdrücklich im Gesetz verankerte Bindung an Vertragsärzte (§ 13 Π 2, 3 SGB V1999) hat damit das Gleichbehandlungsargument wieder an Plausibilität gewonnen. Festzuhalten bleibt, daß die Rechtsprechung auch bei primärer Kostenerstattung nicht auf die Steuerungsmöglichkeiten des Vertragsarztrechts verzichten will. 1 6 5 Und der Gesetzgeber folgt ihr darin.

c) Verantwortungsstrukturen Oben ist festgehalten worden: Indem das Gesetz unmittelbar auf Dienst- oder Sachleistung gerichtete Ansprüche statuiert, lenkt es den Naturalleistungsanspruch direkt auf die Bedarfsbefriedigung. Um die Bedarfsbefriedigung effektiv sicherzustellen, wird der Versicherte aus dem wirtschaftlichem Vorgang der Leistungsbereitstellung herausgehalten.166 Zugleich wird den Krankenkassen eine über die Finan162

BSGE 76, 101, 102f. BSGE 72, 93, 96. 164 BSGE 76,101,104. 165 BSG, NZS 1996, 390, 391. 166 B. Behrends, Die Grenzen des Privatrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1986, S. 18 f. 163

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1. Teil: Grundlagen

zierung hinausgehende Verantwortung auferlegt, die, wenn auch nicht auf Eigenerstellung, so doch auf Vermittlung oder Verschaffung der Leistungen gerichtet sein kann. Wie weit diese Verantwortung reicht, blieb noch offen. Beim Blick auf die Fälle von Kostenerstattung im Recht der sozialen Krankenversicherung war von einem „Naturalleistungssystem", das die Krankenkassen den Versicherten gegenüber repräsentieren und für dessen Versagen sie haften, und von Steuerungsmöglichkeiten die Rede, die dieses System eröffnet. Zur Bestimmung des Reichweite der Verantwortung der Krankenkassen sind in der Literatur Typologien denkbarer Ausgestaltungen anzutreffen, die von der Kostenerstattung über die Schuldbefreiung, die Dienstvermittlung und die Dienstverschaffung bis hin zur Dienstleistung reichen. 167 Dabei sollen sich Dienstverschaffung und Dienstvermittlung von der Dienstleistung dadurch hervorheben, daß der Dritte nicht Erfüllungsgehilfe der Krankenkasse ist, 168 und voneinander danach unterscheiden, daß bei der Dienstvermittlung der Schuldner nur dafür zu sorgen hat, daß genügend Personen bereitstehen, die zum Abschluß von Verträgen eines bestimmten Typs und Inhalts bereit sind, während er bei der Dienstverschaffung Verträge mit dienstbereiten Personen abschließt, in denen sich diese zu Dienstleistungen Dritten gegenüber verpflichten. 169 Die Verschaffungspflicht wird aber auch weitergehend als Einstandspflicht für die sachgerechte Leistungserbringung verstanden 170 und zwischen ihr und der auch als Nachweispflicht 171 bezeichneten Vermittlungspflicht eine Bereitstellungspflicht 172 angesiedelt. Diese Typologien sind in Einzelheiten deutlich zivilistischen Vorstellungen verpflichtet, was nicht wunder nimmt, verläuft doch ausweislich § 76IV SGB V mitten durch die vertragsärztliche Behandlung die Grenze zwischen öffentlichem und Privatrecht. Teilweise wird die Naturalleistungspflicht als eine bloße Vermittlungspflicht verstanden - unter anderem mit der Begründung, die Verantwortlichkeit des Vertragsarztes für Behandlungsfehler schließe es aus, in ihm einen Erfüllungsgehil167 E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, S. 72. - Dabei kann die von Natter auch noch genannte Summenversicherung von vornherein außer Betracht bleiben. 168 E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, S. 68 f. - Schwer erkennbar ist, warum bei der Dienstverschaffung keine Dienstleistung durch Erfüllungsgehilfen vorliegen soll. Natter greift hier auf eine arbeitsrechtliche Gestaltung zurück, die in Auseinandersetzung mit dem Arbeitsvermittlungsmonopol der Bundesanstalt für Arbeit entstanden ist (näher zu solchen Dreierbeziehungen im Arbeitsrecht: W. Zöllner !K.-G. Loritz, Arbeitsrecht, 4. Aufl. 1992, S. 296 ff.). 169 E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozial versicherten Patienten, S. 73. 170 H.-P. Adolf y Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, S. 179ff. - S. a. H.RohwerKahlmann,, ZSR 26 (1980), 197, 206f. 171 P. Krause, Wettbewerbliche Grenzen der Selbstabgabe und Sachleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, ZfS 1983,132,134. 172 H.-P. Adolf Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, S. 184f. - Unspezifisch spricht Th. Simons, Verfahren und verfahrensäquivalente Rechtsformen im Sozialrecht, 1985, S.465 von Verschaffung der Leistung durch Bereitstellung eines „insgesamt ausreichenden Netzes von Leistungseinrichtungen und Diensten".

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fen der Krankenkasse zu sehen, die dann ja für seine Fehler zu haften hätte.173 Dies ist nicht unwidersprochen geblieben: Eine bloße Vermittlungs- oder Nachweispflicht sei abzulehnen, weil sie die Erfüllung der Leistungsansprüche nicht gewährleiste, wenn kein leistungsbereiter oder -fähiger Dritter nachgewiesen werden könne. Stattdessen sei grundsätzlich von einer Einstandspflicht auszugehen, wie die den Leistungsträgern in § 97 I I mit § 89 V SGB X vorbehaltenen Weisungsrechte zeigten. 174 Im Vertragsarztrecht bestehe allerdings im Hinblick auf § 76IV SGB V eine bloße Bereitstellungspflicht. 175 Ein anderer Akzent wird gesetzt, wenn davon gesprochen wird, die Krankenkassen schuldeten zwar grundsätzlich die Durchführung der ärztlichen Behandlung, seien aber „kraft Gesetzes zur Substitution eigener Erfüllungshandlungen verpflichtet", weil das Gesetz von ihnen verlange, „diese Sachleistung im Zusammenwirken mit den Kassenärzten so zu erbringen, daß diese bei der Erfüllung an die Stelle der Krankenkassen treten." 176 Letztlich werden aber in all diesen Fällen Fragen der Verantwortungsteilung bei der Erbringung von Sozialleistungen durch Dritte thematisiert. Für Verantwortungsteilungen finden sich in der verwaltungsrechtlichen Diskussion vielfältige Typologien: So wird zwischen voller Erfüllungsverantwortung einerseits und Beratungs-, Überwachungs-, Organisations- und Einstandsverantwortung andererseits 177 oder zwischen Erfüllungs-, Kontroll-, Privatisierungsfolgenund Beobachtungsverantwortung unterschieden.178 Der Erfüllungsverantwortung werden auch Gewährleistungs- und Auffangverantwortung, Reserve- und Rahmenverantwortung gegenübergestellt.179 Hinter diesen Typologien steht zunächst die Beobachtung, daß die Verwaltung öffentliche Aufgaben nicht nur selbst durch ihren eigenen Apparat erfüllen (Erfüllungsverantwortung), sondern in die Aufgabenerfüllung auch Private einbeziehen kann, ohne sich dadurch ihrer Verantwortung für die Aufgabe völlig zu entledigen (GewährleistungsVerantwortung). Daß diese verbleibende Verantwortung der Verwaltung mit vielfältigen Begriffen belegt wird, macht sodann auf die real anzutreffenden Unterschiede aufmerksam. Grundlegend ist jedenfalls die Ablösung einer Erfüllungsverantwortung durch eine bloße Gewährleistungsverantwortung; die Folgen dieses Übergangs für das Handeln der Verwaltung werden durch eine Ausdifferenzierung von Verantwortungstypen aufzufangen versucht. 173 E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, S. 91 ff. - Eine Dienstverschaffungspflicht lehnt Natter im Hinblick auf die Zusatzleistungen ab (aaO 109ff.). 174 H.-P. Adolf y Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, S. 179 ff. 175 H.-P. Adolf \ Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, S. 184f. 176 S. Herwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 144ff. 177 E. Schmidt-Aßmann, in: Hoffrnann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 11,43 f. 178 H. Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), S.243,277 ff. 179 Vgl. H.-H. Trute, Die Verwaltung und das Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, DVB1. 1996, 950, 951 ff.

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1. Teil: Grundlagen

In der Privatisierungsdebatte ist hinsichtlich der Ablösung der Erfüllungsverantwortung durch andere Formen der Verwaltungsverantwortung von „funktionaler Privatisierung" gesprochen worden. 180 Die Übertragung der Aufgabenerledigung auf Private bei fortbestehender öffentlicher Aufgabenträgerschaft entspricht im wesentlichen der traditionellen Figur der Verwaltungshilfe. Deren Problem besteht darin, daß sie, soll sie effektiv sein, in der Regel eine umfassende Delegation voraussetzt; je weiter diese aber geht, desto mehr wird die Kompetenz des Verwaltungsträgers ausgehöhlt: „Er ist zwar verpflichtet, die Aufgabe mit stetem Blick auf das Gemeinwohl zu tragen, weiß aber selbst mangels Sachkenntnis nicht, was dafür tatsächlich zu tun ist", und „führt als Aufgabenträger ein Schattendasein."181 Verwaltungshilfe bewirkt zwar nicht rechtlich, wohl aber faktisch umfassende und weitreichende Aufgabendelegation, weshalb die Qualität der Instrumente, mit denen die Aufgabenerledigung durch den Verwaltungshelfer gesteuert wird, entscheidendes Gewicht erhält. 182 Weil aber die Übertragung der Aufgabenerledigung auf Private immer einen Riß „im Scharnier zwischen Verwaltungsaufgabe und Verwaltungsverantwortung" hinterläßt, wird dafür plädiert, die Verwaltungsaufgabe „deutlich und handlungsleitend auf Aufsichts- und Kontrollbefugnisse" zu beschränken, diese aber auch bereitzustellen. 183 Diesem Problem stellt sich im Sozialrecht allgemein § 97 SGB X. Nach § 971 SGB X muß bei der Durchführung von Aufgaben durch Dritte sichergestellt sein, daß der Dritte die Gewähr für eine sachgerechte, die Rechte und Interessen des Betroffenen wahrende Erfüllung der Aufgabe bietet. Um die weiterhin beim Leistungsträger verbleibende Verantwortung für die Aufgabe zu instrumentieren, sind nach § 97 I I SGB X eine Reihe von Bestimmungen über das Auftragsrecht anwendbar, die Informations- und Rechenschaftspflichten sowie Prüfungs- und Weisungsrechte enthalten. Durchbrochen wird dies freilich von § 17 I I I SGB I für die Zusammenarbeit von öffentlichen Leistungsträgern mit freigemeinnützigen Trägern. Noch allgemeiner wird in § 17 SGB I die Verantwortung der Leistungsträger für die Leistungserbringung umschrieben. Dabei erfaßt § 17 SGB I nicht nur die Fälle, in denen der Leistungsträger selbst darauf hinzuwirken hat, daß die Sozialleistungen zeitgemäß, umfassend und schnell erbracht werden (Nr. 1), die dafür erforderlichen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen (Nr. 2) und der Zugang zu den Sozialleistungen möglichst einfach gestaltet ist (Nr. 3). § 17 SGB I erfaßt vielmehr auch den Fall, daß Leistungen von freien Trägern in eigener Verantwortung erbracht werden, und den öffentlichen Träger nur die Verantwortung für ein insgesamt den gesetzlichen Anforderungen genügendes Leistungsniveau trifft. Da die freien Träger in diesem Falle nicht im Auftrag des öffentlichen Trägers, sondern 180 181

Zum Begriff: H. Bauer, VVDStRL 54 (1995), S.243, 252. L. Osterloh, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), S. 204,

235 f. 182 183

L. Osterloh, VVDStRL 54 (1995), S.204,236. L. Osterloh, VVDStRL 54 (1995), S.204,238 mit Fn. 135.

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in eigener Sache handeln, ist der öffentliche Träger darauf angewiesen, in Kooperation mit den freien Trägern dieses Gesamtniveau herzustellen. In den Fällen des § 171 SGB I gehen die Einwirkungsmöglichkeiten des Leistungsträgers dagegen darüber hinaus. Zu diesem Zweck räumt ihm § 97 SGB X die Möglichkeit ein, Dritte zur Erfüllung rechtlich ihm zugerechneter Leistungen heranzuziehen. Diese Dritte sind anders als die freien Träger nicht selbst sozial tätig. Zu ihnen zählen auch die Vertragsärzte; für diese enthält allerdings das Vertragsarztrecht abweichende Bestimmungen, die die allgemeine Regelung des § 97 SGB X ausschließen. Die Verantwortung der Sozialleistungsträger geht im Regelfall über eine Gesamtverantwortung hinaus, wie sie § 17 ΠΙ SGB I im Auge hat. Den Krankenkassen werden rechtlich gesehen die Leistungen Dritter zugerechnet. Zwar haften die Vertragsärzte für Behandlungsfehler den Versicherten direkt (§ 76IV SGB V). Doch ist damit nicht jede Haftung der Krankenkassen für ihr Verhalten ausgeschlossen. An der Haftung für System versagen nach § 13 ΠΙ SGB V zeigt sich, daß die Krankenkassen sehr wohl für die Leistungserbringer haften. Das BSG spricht sogar davon, die Krankenkassen könnten sich bei Fehlverhalten der Leistungserbringer „ebensowenig ihrer Leistungspflicht entziehen, wie wenn ihre Bediensteten rechtswidrig Ansprüche zuerkennen oder durch fehlerhaftes Verhalten Schäden verursachen". 184 Vor dem Hintergrund der Schadensersatzpflicht der Krankenkassen aus § 13 I I I SGB V erscheint § 76 IV SGB V in einem anderen Licht: Diese Bestimmung ermöglicht - und fordert - einen Durchgriff des Versicherten. Insoweit kann durchaus von einer Ergebnisverantwortung der Krankenkassen gesprochen werden - auch wenn damit über deren Einwirkungsmöglichkeiten nichts gesagt ist. Das Naturalleistungsprinzip setzt das Vorhandensein einer entsprechenden organisatorischen Infrastruktur voraus. Es dient nicht allein dazu, dem Versicherten Krankenbehandlung ohne Aufwendung eigener finanzieller Mittel zu gewähren, sondern soll auch eine wirtschaftliche Versorgung und eine Begrenzung des Kostenrisikos sicherstellen. 185 Der Versicherte wird nicht nur aus dem ökonomischen,186 sondern auch aus dem tatsächlichen Vorgang der Leistungsbeschaffung weitgehend herausgehalten. Der Versicherte hat einen Anspruch auf unmittelbare Bedarfsdekkung und kann sich darauf verlassen, daß die im Bedarfsfall erforderlichen Leistungen vorgehalten werden und er eine vorhandene Versorgungsinfrastruktur nur in Anspruch zu nehmen braucht. Dafür trifft den Krankenversicherungsträger eine entsprechende Organisationspflicht. 187 Die Fixierung auf das Gegenprinzip Kostener184

BSGE 78,154, 156 - in bezug auf die Krankenhausbehandlung. BSG SozR 3-3100 § 18 Nr. 3. 186 Etwas anderes gilt für Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen, die allerdings das Naturalleistungsprinzip nicht in Frage stellen (vgl. BSGE 75, 167, 169f.). 187 Es genügt der „Aufbau einer Organisation, welche die erforderlichen Dienstleistungen und Sachgüter anbietet, und die Übernahme der erforderlichen Kosten" (so die von P. Krause, Die Rechtsbeziehungen zwischen Kassenarzt und Kassenpatient, SGb 1983,425,426 bei Fn.8 berichtete, zum - vergleichbaren - österreichischen Krankenversicherungsrecht vertretene Auffassung). 185

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1. Teil: Grundlagen

stattung hat diesen organisatorischen Aspekt verdeckt. Die Naturalleistung schien sich von der Kostenerstattung allein dadurch hervorzuheben, daß der Versicherte nicht vorzuleisten braucht. Da damit einem sozialen Schutzbedürfnis abgeholfen wird, erhielt das Naturalleistungsprinzip den Tropfen sozialen Öls, der es aus den Niederungen der reinen Rechtstechnik emporhebt. Das Naturalleistungsprinzip läßt sich damit aber nicht vollständig umschreiben. Es wirkt sich auch auf die Art und Weise der Leistungserbringung aus. Mit ihm verbinden sich vor allem Steuerungsmöglichkeiten zur Sicherstellung der Versorgung der Versicherten. 188 Wie diese ausgestaltet sind, folgt allerdings nicht schon aus dem Naturalleistungsprinzip. Das aus der Naturalleistungspflicht heraus erstandene Leistungserbringungsrecht gestaltet diese differenziert aus. Im Vertragsarztrecht hat es dabei über das allgemeine Kooperationsprinzip des § 2 Π 2 SGB V hinausgehende Kooperationsstrukturen geschaffen.

2. Anspruchsfeststellung Die Leistungsansprüche enthalten, weil sie im Gesetz nur rahmenmäßig umschrieben sind, erhebliche Spielräume, die im Einzelfall nach einer Konkretisierung verlangen. Da die Versicherten die Leistungen rechtlich gesehen von den Krankenkassen erhalten und die Rechtsbeziehungen zwischen Versicherten und Krankenkassen unstreitig öffentlich-rechtlicher Art sind, liegt es nahe, Anspruchskonkretisierung in Form von Verwaltungsakten zu erwarten.

a) Tatsächliche Inanspruchnahme Nach § 19 S. 1 SGB IV werden in der gesetzlichen Krankenversicherung Leistungen grundsätzlich nur auf Antrag erbracht. Dennoch finden Verwaltungsverfahren im Sinne des § 8 SGB X im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung kaum statt. Der Versicherte wendet sich bei Krankheit nicht zunächst an die Krankenkasse und sucht um die Bewilligung von Krankenbehandlung nach, sondern wendet sich sofort an den Vertragsarzt. Wegen der Wertungsoffenheit des Krankheitsbegriffs und der nur rahmenmäßigen Bestimmtheit des Leistungsumfangs könnte eine Bewilligung geboten erscheinen. Dagegen streitet allerdings das Ziel der Krankenbehandlung: Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Gesundheit (§1 S. 1 SGB V). Müßte der kranke Versicherte erst eine Entscheidung der Krankenkasse abwarten, bevor er in den Genuß von Krankenbehandlung kommen könnte, so würde sich dieser Zustand zunächst verschlechtern, sich also während der Bearbeitungszeit weiter von dem Leitbild des Gesetzes entfernen. 188 S. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 126ff.

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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Daher ist der Rechtsprechung zuzustimmen, die seit jeher davon ausgegangen ist, daß die Versicherten ärztliche Behandlung auch ohne vorherige Bewilligung der Krankenkasse „unmittelbar in Anspruch" nehmen können.189 Die normative Grundlage für das Absehen von einem Verwaltungsverfahren ist allerdings nicht ganz klar. Die Rechtsprechung nennt im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung entweder § 15 Π SGB V oder beruft sich gleich auf das „System der vertragsärztlichen Versorgung", in dem eine Bewilligung der ärztlichen Behandlung nicht vorgesehen sei. 190 Von Bewilligung ist allerdings in § 1212 SGB V - und gerade im Hinblick auf Sach- und Dienstleistungen - die Rede; daraus folgt aber nicht, daß die Bewilligung der Regelfall ist, vielmehr nur, daß sie auch bei Naturalleistungen nicht kategorisch ausgeschlossen ist. Auch wenn die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung keinen Verwaltungsakt voraussetzt, so schließt das jedoch eine Regelung durch Verwaltungsakt nicht aus.191 Obwohl der Inhalt des Behandlungsanspruchs vom Vertragsarzt bestimmt wird, so bleibt doch die Entscheidungsbefugnis der Krankenkasse im Grundsatz erhalten, wie etwa § 2751 Nr. 1 SGB V zeigt. Allerdings ist eine „Aberkennung" nicht möglich; ein Regreß findet nur im Wege der Wirtschaftlichkeits- und sachlich-rechnerischen Prüfung, d. h. der Abrechnungen statt. Jedenfalls sieht das Gesetz bei der ärztlichen Behandlung ein Genehmigungsverfahren seitens der Krankenkasse nicht vor; eine Genehmigung der Leistung erfolgt auch nicht durch andere Systembeteiligte, insbesondere nicht durch den Vertragsarzt. Der Verzicht auf eine vorherige Bewilligung ist der Natur der ärztlichen Behandlung geschuldet. Dienstleistungen - und die ärztliche Behandlung zählt zu diesen - gelten allgemein als rechtsformfeindlich. Weil ihre Programmierbarkeit als gering gilt, beschränkt sich das rechtliche Instrumentarium auf das schlichte Verwaltungshandeln.192 Allerdings ist ihre „Resistenz"193 gegenüber rechtsförmiger Regulierung im Abnehmen.194 Distanz zum oder gar Resistenz gegenüber dem Recht folgt aus dem ausgesprochenen Zweckbezug von Dienstleistungen: Sie entstehen in unmittelbarer Interaktion zwischen Versichertem und Leistungserbringer - und 189

BSGE 59, 172, 177. So BSGE 65,94,97 zur RVO. Das BSG korrigierte dabei BSGE 19,270,273 f., wonach es „überhaupt nicht Angelegenheit der Krankenkasse [sei], etwas zu bewilligen", die Bewilligung vielmehr in die Hand der Kassenärzte gelegt sei, dahingehend, daß eine Genehmigung krankenversicherungsrechtlicher Sachleistungen auch nicht durch andere „Systembeteiligte" zu erfolgen habe. 191 BSGE 65, 94, 97 gegen BSGE 19, 270, 273. 192 R. Wahl, Die Aufgabenabhängigkeit von Verwaltung und Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert, Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 177, 206ff. 193 H. Zacher, Verrechtlichung im Bereich des Sozialrechts, in: Kübler, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 11, 35. 194 So wird ein Verrechtlichungsdruck infolge „rechtsförmigen Bestrebens zur Qualitätssicherung" ausgemacht (R. Pitschas, Verrechtlichung von Sozialleistungen im wohlfahrtsdistanzierten Sozialstaat, SDSRV41 [1996], S.7, 20). 190

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1. Teil: Grundlagen

zwar bewußt: um solchermaßen an die jeweils besonderen Bedürfnisse angepaßt werden zu können. Hierin, in der „einstellungsabhängigen und wertbestimmten Kommunikation", ist das „individuell-personale Element" der Leistungserbringung zu erblicken, das zunehmend unter den Einfluß rechtsförmiger Standardisierung gerät. 195 Gerade bei Ansprüchen auf medizinische Versorgung erscheint es schwer vorstellbar, daß ihnen ein formelles Bewilligungsverfahren vorangehen soll. Begutachtung und Behandlung auseinanderzureißen und erstere in eine förmliche Entscheidung des Leistungsträgers münden zu lassen, erscheint namentlich bei akuten Erkrankungen unzumutbar und in Routinefällen unangemessen aufwendig. Freilich sind es nicht allein verwaltungsökonomische Erwägungen, die gegen die Rechtsformen des SGB X sprechen. Vor allem die Eigenart der von den Krankenkassen geschuldeten Dienstleistung widerstrebt einer von der konkreten Interaktion zwischen Arzt und Patient allzusehr abstrahierenden Festlegung. Mit Blick darauf spricht die Rechtsprechung davon, daß der Vertragsarzt dazu berufen ist, mit Planung und Durchführung der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen den vom Gesetz als Rahmenrecht ausgestalteten Leistungsanspruch des Versicherten fortlaufend zu konkretisieren und zu erfüllen. 196 Der Vertragsarzt ist danach im Rahmen des Naturalleistungsprinzips gesetzlich ermächtigt, mit Wirkung für die Krankenkassen über die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen und damit konkludent auch über den Leistungsanspruch des Versicherten zu entscheiden.197 Die Krankenkassen sind grundsätzlich an diese Entscheidung gebunden.198 Dieser Bindung kann die Krankenkasse - sofern dem Versicherten nicht ausnahmsweise, etwa bei arglistiger Leistungserschieichung, das fehlende Rahmenrecht bekannt ist - für die Vergangenheit überhaupt nicht und für die Zukunft nur dadurch entgehen, daß sie ihre Einwendungen gegen die Leistungspflicht dem Versicherten vor der Leistungserbringung mitteilt oder mitteilen läßt. 199 Insoweit ist die Entscheidung des Vertragsarztes auch von rechtlicher Bedeutung. Denn mit ihr wird festgelegt, für welche konkrete Behandlungsmaßnahmen die Krankenkasse einzustehen hat. Das bedeutet aber nicht, wie das BSG erst jüngst ausdrücklich betont hat, daß der Vertragsarzt anstelle der Krankenkasse über das rechtliche Bestehen von Leistungsansprüchen zu befinden oder gar darüber Verwaltungsakte zu erlassen hätte.200 Denn es ist nicht Sache des Vertragsarztes Rechtsentscheidungen über die Leistungspflicht der Krankenkassen zu treffen; seine Aufgabe ist es allein, Behandlungsentscheidungen zu treffen, die allerdings die Krankenkasse gegen sich gelten lassen muß. Die Konkretisierung von Sach- und Dienstleistungsansprüchen durch den Vertragsarzt kann aber nicht nur deshalb nicht als verwaltungsverfahrensrechtliche Ent195 196 197 198 199 200

R. Pitschas, SDSRV 41 (1996), S.7, 27. BSGE 78, 154, 155f.; 73, 271, 278ff. BSGE 78, 154, 156. BSG, NZS 1997, 228, 230. BSGE 78, 154, 156. BSGE 82,158, 161.

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Scheidung angesehen werden, weil der Vertragsarzt hierfür nicht zuständig ist, sondern auch weil seine Festlegungen nicht über den jeweiligen Behandlungsbedarf hinaus in die Zukunft reichen. 201 Die Ausgestaltung des Naturalleistungsprinzips in der gesetzlichen Krankenversicherung schließt damit verwaltungsverfahrensrechtliche Festlegungen in Form von Verwaltungsakten weitgehend aus.202 Nur in Ausnahmefällen - bei kostspieligen Therapien - wird ein Bewilligungsbescheid verlangt. Dies beruht nicht allein auf der konkreten Ausgestaltung des Versorgungssystems, sondern entspringt letztlich seinem Gegenstand: Medizinische Behandlung sträubt sich gegen verwaltungsverfahrensrechtliche Festlegungen.203 b) Sonderfälle

der Leistungsbewilligung

Der Vertragsarzt darf üblicherweise nach eigener Beurteilung, aber auch auf das Risiko einer nachträglichen Überprüfung der sachlichen Richtigkeit und Wirtschaftlichkeit, die von ihm für geeignet gehaltene Leistung erbringen. 204 Nur bei einzelnen Therapien - wie Psychotherapie, Zahnersatz-, Parodontose- und kieferorthopädischen Behandlungen205 - ist eine Leistungsbewilligung erforderlich. Dabei handelt es sich entweder um kostspielige oder um solche Therapien, deren Durchführung besondere Qualifikationen voraussetzen oder die sonst ungewöhnlich für die Krankenversicherung sind. Nur bei ihnen finden sich förmliche Bewilligungsverfahren, die von der Krankenkasse durchgeführt und mit einer Entscheidung gegenüber dem Versicherten abgeschlossen werden, auf die sich gegebenenfalls der Vertragsarzt berufen kann. Vor diesem Hintergrund ist der Bewilligungsvorbehalt der Nr. 2.5 MethadonRichtlinien 206 in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich: Nach ihr bedarf der Vertragsarzt für die Substitutionstherapie bei der Auffangindikation der „vergleichbar schweren Erkrankung" der Bewilligung durch die Kassenärztliche Vereinigung. Das BSG hält diese Übertragung der Entscheidungsbefugnis an die Kassenärztliche Vereinigung jedenfalls dann für unbedenklich, wenn die Kassenärztliche Vereinigung nicht unmittelbar gegenüber dem Versicherten über dessen Leistungsanspruch entscheidet. Denn diese Entscheidung sei vom Gesetz der Krankenkasse vorbehal201

BSGE 78, 154, 158. - Soweit das BSG in bezug auf die Vertragsärzte von „Beleihung" gesprochen hatte (BSGE 73,271,278 und 281) wurde damit klargestellt, daß die Vertragsärzte nicht voll in die Funktionen der Krankenkassen einrücken. 202 BSGE 78, 154,158. 203 Daher kann eine „dennoch (sozusagen »abstrakt') erklärte Leistungszusage... jederzeit, und zwar unabhängig von einer rechtlichen oder tatsächlichen Änderung, widerrufen werden" (BSGE 78, 154, 158). 204 BSGE 78, 70, 87 f. 205 Abschn FIL 1. Psychotherapie-Richtlinien 1998 mit § 11 Psychotherapie-Vereinbarung 1998; § 2 III mit Anlagen 6,9,12 BMV-Z bzw. § 9 Nr. 4, 6, 9 EKV-Z hinsichtlich Zahnersatz-, Parodontose- und kieferorthopädischen Behandlungen. 206 Anlage 1 Nr. 2 zu den NUB-Richtlinien.

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1. Teil: Grundlagen

ten. Weil aber die Entscheidung der Kassenärztlichen Vereinigung gegenüber dem Vertragsarzt „präjudizielle Wirkung" für das Leistungsverhältnis des Versicherten zu seiner Krankenkasse entfaltet, müsse der Versicherte und die Krankenkasse von der Kassenärztlichen Vereinigung über die Einleitung des Bewilligungsverfahrens informiert und auf Antrag daran beteiligt werden. 207 c) Verordnung von Leistungen Die Versorgung mit Arznei- oder Heilmitteln setzt eine Verordnung durch den Vertragsarzt voraus. 208 Ein solcher Verordnungsvorbehält steht zwar nirgends ausdrücklich im Gesetz.209 Doch schon allein weil der Vertragsarzt die Tätigkeit anderer Leistungserbringer veranlassen kann, wird er als „Schlüsselfigur" der Arznei- und Heilmittelversorgung bezeichnet.210 Kraft der ihm durch das Vertragsarztrecht verliehenen Kompetenzen handelt er bei der Ausstellung von Verordnungen als Vertreter der Krankenkassen.211 Die Krankenkassen sind von Rechts wegen grundsätzlich an die medizinische Erkenntnis, an Diagnose und Therapie des ordnungsgemäß handelnden Vertragsarztes gebunden und gehindert, in das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Versicherten einzugreifen. 212 Sie können die Verordnungsweise zwar auf ihre Wirtschaftlichkeit überprüfen lassen; über Fragen der Behandlungsweise stehen ihnen aber nicht nur im Verhältnis zum Vertragsarzt, sondern auch im Verhältnis zum Apotheker keine Entscheidungskompetenz zu. Daher kann sich die Krankenkasse gegenüber Arzt und Apotheker auch nicht darauf berufen, daß sie dem Versicherten gegenüber den Anspruch auf eine bestimmte Behandlungsweise mit bindendem Bescheid abgelehnt hat. 213 Die Verordnung durch den Vertragsarzt ist trotz ihrer weitreichenden Folgen keine Bewilligung. Aus der Verordnung folgt zwar in eigentümlicher Weise eine Bindung der Krankenkasse. In verwaltungsverfahrensrechtlicher Hinsicht wird über den Anspruch des Versicherten aber durch sie nicht entschieden.

3. Gestaltungsrechte des Versicherten Eine denkbare, in der bisherigen Untersuchung noch nicht in Betracht gezogene Möglichkeit, den im Gesetz nur rahmenmäßig gefaßten Krankenbehandlungsanspruch zu konkretisieren, bestünde darin, dem Versicherten diesbezüglich ein Be207

BSGE 78, 70, 88. BSGE 77,194,200; SozR 3-2500 § 19 Nr.2. Dagegen soll die Hilfsmittelversorgung keine vertragsärztliche Verordnung erfordern (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 25). 209 Auch § 72 II Nr. 7 SGB V enthält einen solchen Vorbehalt nicht. 210 BSGE 73, 271,283. 211 BSGE 77, 194, 200; SozR 3-2500 § 19 Nr. 2. 212 BSGE 73, 271,282. 213 BSGE 77, 194, 203. 208

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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stimmungsrecht einzuräumen. Die Rechtsprechung sieht jedoch geradezu den Kerngedanken des Rechtskonkretisierungskonzepts des SGB V darin, daß die Erkenntnis, ob eine Krankheit besteht und was zu ihrer Behandlung medizinisch notwendig ist, weder einem Bestimmungsrecht des Versicherten noch einer Entscheidung der Krankenkasse, sondern einem an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden und „dadurch mit der erforderlichen Rechtsmacht beliehenen" Arzt überantwortet ist. 214 Freilich fallen dann bei der Inanspruchnahme des Vertragsarztes - wie auch bei der Verordnung weiterer Leistungen durch diesen - für den Versicherten mit der Bewilligung auch die rechtlichen Sicherungen aus, die das Verwaltungsverfahrensrecht für eine solche vorsieht. Dies wirft die Frage nach „Verfahrensäquivalenten" auf und damit nach Positionen, die den Versicherten einen gewissen (rechts-) gestaltenden Einfluß im Rahmen der Anspruchskonkretisierung eröffnet. 215 Solche Gestaltungsrechte lassen sich auch zu dem „im weitesten »verfahrensrechtlichen 4 Weg" zählen, den das Gesetz bei der Konkretisierung des Rahmenrechts auf Krankenbehandlung beschreitet.

a) Grundlage von Gestaltungsrechten Die Position des Versicherten bei der Anspruchskonkretisierung wird bestimmt von seiner Stellung als Anspruchsinhaber. Trotz ihrer Offenheit und Konkretisierungsbedürftigkeit ist die Krankenbehandlung nicht als Ermessensleistung ausgestaltet.216 Der Versicherte ist vielmehr Inhaber eines auf Krankenbehandlung gerichteten Anspruchs. Das bedeutet indes nicht, daß allein der Versicherte über Art und Umfang der Leistungsmodalitäten zu bestimmen hätte, daß ihm also ein umfassendes Bestimmungsrecht zustünde. Vielmehr ist die Bereitstellung eines Leistungssystems Aufgabe des Leistungsträgers; auf dieses System muß sich der Versicherte - soweit es den gesetzlichen Voraussetzungen genügt - verweisen lassen.217 Innerhalb dieses Systems muß jedoch der Versicherte als Subjekt handeln können. Folglich muß über Anspruchskonkretisierung, über Planung und Durchführung der einzelnen Behandlungsschritte in Kooperation mit ihm entschieden werden. Auch wenn der Versicherte nicht einseitig die Konkretisierung des Rahmenrechts vornehmen kann, so folgt doch aus seiner materiellrechtlichen Position als Anspruchsinhaber sein - „im weitesten Sinne verfahrensrechtliches" - Recht auf Selbstbestimmung. 214

BSGE 73, 271,281. Zum Begriff: Th. Simons, Verfahren und verfahrensäquivalente Rechtsformen im Sozialrecht, S.431. 216 wie etwa beim vergleichbaren Anspruch auf Heilbehandlung in der sozialen Unfallversicherung (siehe § 261, V SGB VII). 215

217 Dies ist jedoch nicht im Sinne einer anstaltlichen Konzeption zu verstehen, wie sie das BSG früher vertrat (siehe BSGE 59,172,179) und wie sie auch heute noch - wenn auch in abgewandelter Form - in seiner Rechtsprechung anzutreffen ist (siehe BSGE 78, 70, 76f.).

6 Wahl

82

1. Teil: Grundlagen

Dieses Recht stützt sich nicht (erst) auf § 33 SGB I, der bei der Ausgestaltung von „nach Art und Umfang nicht im einzelnen bestimmten" Rechten nicht nur fordert, auf die persönlichen Verhältnisse des Berechtigten und die örtlichen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen, sondern auch verlangt, nach Möglichkeit den Wünschen des Berechtigten zu entsprechen. Auch wenn § 33 SGB I seinem Text nach nicht nur für Ermessensleistungen (§ 39 SGB I) zu gelten scheint, so reicht doch die Position des Versicherten über diesen seine fürsorgerechtliche (sozialhilferechtliche) Tradition 218 atmenden Individualisierungsgrundsatz mit dem Anhängsel des Wunschrechts hinaus.219 Die Position des Versicherten beinhaltet vielmehr einen Anspruch auf kooperative Ausgestaltung der Leistungserbringung und zielt auf ein umfassendes Selbstbestimmungsrecht in der medizinischen Behandlung. Dem entspricht eher § 76IV SGB V, der die arzthaftungsrechtlichen Standards und mit ihnen das Erfordernis der (informierten) Einwilligung 220 in das Krankenversicherungsrecht transportiert. 221

b) Wahlrecht und Selbstbestimmung Zunächst eröffnet die freie Arztwahl (§ 761 SGB V) dem Versicherten die Möglichkeit, auf die Leistungserbringung einzuwirken. Da die an seiner Person vorzunehmende ärztliche Behandlung ein Vertrauensverhältnis zum Leistungserbringer auch um des Behandlungserfolgs willen voraussetzt, stellt das Gesetz es in das Belieben des Versicherten, welchen Vertragsarzt er aufsucht. Allerdings eröffnet § 761 SGB V keine unbeschränkt freie Arztwahl; diese ist vielmehr auf die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte begrenzt. Eine weitere Einschränkung enthält die Quartalsbindung des § 76 I I I 1 SGB V, deren Wirksamkeit jedoch nach Einführung der Krankenversicherungskarte (§ 291 SGB V) noch fragwürdiger geworden ist. Das Wahlrecht besteht nicht nur im Hinblick auf persönliche Eigenschaften des Vertragsarztes, sondern hat auch einen inhaltlichen Aspekt. Allgemein scheint dieser Zusammenhang in § 2 I I I SGB V auf, wo davon die Rede ist, daß die Krankenkassen bei Auswahl der Leistungserbringer auf deren Vielfalt zu achten haben. Darin kommt der Gedanke eines pluralen Leistungsangebots zum Ausdruck, das allerdings an Qualitäts- und Wirksamkeitsstandards gebunden bleibt (§ 212, 3 SGB V). In diesem Rahmen kann die Wahl des Versicherten gerade im Hinblick auf ein be-

218

OazuB.v.Maydell, GK-SGBI, §33 Rn. 1; P. Mrozynski, SGBI, §33 Rn.3. Gegen eine Anwendung des § 33 SGB I auf unbestimmte Rechtsbegriffe: Ρ: Mrozynski, SGBI, §33 Rn.6. 220 Siehe dazu D. Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 1995, Rn. 200ff.; A. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rn. 160ff. 221 Zur Funktion: U. Hencke, in: Peters, § 76 SGB V Rn. 35. 219

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

83

sonderes Leistungsprofil des Leistungserbringers erfolgen. Durch dessen Wahl hat er Einfluß auf das Leistungsgeschehen. Die Gestaltungsrechte des Versicherten erschöpfen sich freilich nicht in der Wahl des Arztes. Seine Stellung als Inhaber des Krankenbehandlungsanspruchs fordert auch Selbstbestimmung in der Krankenbehandlung selbst, in der Planung und Durchführung der diagnostischen und therapeutischen Schritte. Die kooperativ auszugestaltende Konkretisierung des Anspruchsrahmens, die schon für sich anspruchsvoll ist, erfährt dadurch eine zusätzliche Komplikation, daß der Vertragsarzt hierbei nicht nur für die Krankenkassen tätig wird, sondern diesen gegenüber zugleich eine distanzierte Stellung einnimmt. Der Vertragsarzt ist zwar ermächtigt mit Wirkung für die Krankenkassen, den Anspruchsrahmen zu konkretisieren, doch vermag er ebensowenig wie die Krankenkasse den Versicherten aus seiner Subjektstellung zu verdrängen. Es fragt sich allerdings, ob er aus eigenem Recht einen Freiraum besitzt, der auch gegenüber dem Versicherten Wirkung entfaltet, ob ihm originäre Gestaltungsbefugnisse zugewiesen sind, die er dem Versicherten, der Krankenkasse und sonstigen Beteiligten gegenüber geltend machen könnte. In diesem Zusammenhang ist immer die Rede von einer Therapiefreiheit des Arztes, die sich allerdings nur schwer textlich im Gesetz festmachen läßt. Ohne daß das Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht der versicherten Patienten klar würde, wird den Vertragsärzten eine Therapiefreiheit zugesprochen, deren Standort im Ungefähren bleibt. Gelegentlich wird in § 212 SGB V eine originäre Abstützung der ärztlichen Therapiefreiheit gesehen.222 Die Heranziehung dieser Bestimmung überrascht, heißt es hier doch nur, Behandlungsmethoden der besonderen Therapierichtungen seien nicht ausgeschlossen. Aus ihrer Entstehungsgeschichte läßt sich entnehmen, daß die Festlegung auf den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (§213 SGB V) aufgelockert werden sollte. Daraus läßt sich aber nicht ableiten, daß damit irgendwelchen Leistungserbringern ein originärer Gestaltungsspielraum eingeräumt werden sollte. Therapiefreiheit besteht gleichwohl, doch ist diese in den Gestaltungsrechten der Versicherten verankert. Sie ist damit Kehrseite des Selbstbestimmungsrechts des Versicherten. Aus ihrer Verankerung folgt, daß die Therapiefreiheit des Arztes nicht weiter als die Gestaltungsrechte des Versicherten gehen kann und daß sie nur in Kooperation mit dem Versicherten ausgeübt werden kann. Sie kann damit den Rechten des Versicherten nicht entgegenlaufen und nicht den Versicherten bevormunden. Ein therapeutisches Privileg des Vertragsarztes gegenüber dem Versicherten läßt sich daraus nicht ableiten. Gegen ein solches spricht aber auch und vor allem § 76IV SGB V, der in erster Linie auf die Herstellung der Kongruenz der Haftungs- und damit auch Behandlungsmaßstäbe für Versicherte und Privatpatienten zielt. Im Arzthaftungsrecht gelten aber alle Versuche, mit Figuren wie der „Methodenfreiheit" ein „therapeutisches Privileg" des Arztes im Verhältnis zum Patienten zu konstruieren, 222

*

So BSGE 73, 66, 72

1. Teil: Grundlagen

84

als gescheitert. 223 Die darin liegende Bevormundung des Patienten wäre auch diametral den auf die Stärkung seiner Subjektstellung zielenden Aufklärungsanforderungen entgegengesetzt. In Kooperation mit dem Versicherten steht dem Vertragsarzt allerdings eine gewisse Freiheit in der Therapie zu, die er - zusammen mit dem Versicherten - mit Wirkung auf den Leistungsanspruch ausüben kann. Von Therapiefreiheit kann nur soweit gesprochen werden, als das Leistungsrecht Gestaltungsspielräume läßt; insoweit fallen Selbstbestimmung des Versicherten und Therapiefreiheit des Vertragsarztes zusammen. Dann ist freilich Therapiefreiheit nur eine Chiffre für die inhaltliche Offenheit des Leistungsanspruchs, mithin für dessen bloß rahmenmäßige Bestimmtheit.

III. Exkurs: Sozialrechtsverhältnis als Ordnungsrahmen Zur Integration der verschiedenen Phasen der Entstehung und Verwirklichung von Rechten und Pflichten bietet sich die Figur des Sozialrechtsverhältnisses 224 an. Dieser Figur geht es weniger als der allgemeineren des Verwaltungsrechtsverhältnisses225 um Kritik an der Handlungsformenlehre samt ihren Implikationen, 226 weniger um einen Wechsel grundlegender konstruktiver Annahmen,227 sondern mehr um das praktische Anliegen, ein „Interpretationsgerüst" 228 für die auf Dauer angelegten, anläßlich von Sozialleistungen entstehenden rechtlichen Beziehungen zu bieten. Daß das Sozialrechtsverhältnis sich insofern als brauchbar erwiesen hat, 223

Vgl. D. Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 1995, Rn. 105ff. mwN., insb. 106, 109. Allgemein zum Sozialrechtsverhältnis: W. Löwer, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, NVwZ 1986, 793, 795ff.; P.Krause, Das Sozialrechtsverhältnis, SDSGV 18 (1979), S. 12ff.; F. Schnapp, Sozialrecht und Verwaltungsrecht, SGb 1979,200,202ff. - Siehe auch W. Henke, Rechtsformen der sozialen Sicherung und das allgemeine Verwaltungsrecht, VVDStRL 28 (1970), S. 149, 156ff. 225 Zur Lehre vom Verwaltungsrechtsverhältnis siehe nur: R. Gröschner, Vom Nutzen des Verwaltungsrechtsverhältnisses, DV30 (1997), 301ff.; Th. v.Danwitz, Zur Funktion und Bedeutung der Rechtsverhältnislehre, DV30 (1997), 339ff.; J. Pietzcker, Das Verwaltungsrechtsverhältnis - archimedischer Punkt oder Münchhausens Zopf?, DV30 (1997), 281ff.; M. Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 203ff.; F. Schoch, Der Verwaltungsakt zwischen Stabilität und Flexibilität, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 199, 21 Iff.; H. Bauer, Verwaltungsrechtslehre im Umbruch?, DV 25 (1992), 301 ff.; P.Krause, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, VVDStRL 45 (1987), S.212, 213 ff.; D. Ehlers, Rechtsverhältnisse in der Leistungsverwaltung, DVB1 1986, 912ff.; N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, §20 Rn. Iff. 226 M. Schulte, Informales Verwaltungshandeln als Mittel staatlicher Umwelt- und Gesundheitspflege, DVB1 1988, 512, 513. - Allgemein zur Kritik an der Handlungsformenlehre E. Schmidt-Aßmann, Die Lehre von den Rechtsformen des Verwaltungshandelns, DVB11989, 533,535 ff. 227 Vgl. N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 1986, § 20 Rn. 32ff.; P. Hübe rie, Das Verwaltungsrechtsverhältnis-eine Problemskizze, SDSGV 18 (1979), S.60, 65 ff. 228 H. Dreier, Informales Verwaltungshandeln, StWuStP 4 (1993), 647, 668. 224

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

85

geht nicht zuletzt auf die geringen Strukturierungsleistungen des Verwaltungsakts im Sozialrecht zurück, 229 der sich hier ohnehin erst sehr spät durchgesetzt hat. 230

1. Grund- und ErfüllungsVerhältnis Bei den hier vornehmlich interessierenden Leistungsverhältnissen231 kann zwischen dem eigentlichen Leistungsverhältnis, dem Grundverhältnis, und den in seiner Erfüllung begründeten weiteren Rechtsverhältnissen, den Erfüllungsverhältnissen unterschieden werden. 232 Von Erfüllungsverhältnissen ist die Rede, wenn Sozialleistungen nicht durch den Leistungsträger selbst, sondern durch Dritte erbracht werden. Sicherlich erfordert auch die Erbringung von Leistungen in Eigeneinrichtungen der Leistungsträger die Begründung von Rechtsverhältnissen zur Beschaffung des nötigen Personals und der nötigen Sachgüter. Diese Drittrechtsbeziehungen lassen sich vom Sozialrechtsverhältnis aber weitgehend isolieren, weil die Versicherungsträger hier starke Einwirkungsmöglichkeiten auf die Leistungserbringung haben. Das Sozialleistungsverhältnis kann dann allein aus seiner Eigenlogik entwickelt werden. Werden jedoch in die Erbringung von Sozialleistungen selbständige Dritte eingebunden, so kann deren stärkere rechtliche Stellung nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehungen der Leistungsträger zu den Versicherten bleiben. Die Interessen der Dritten spielen unmittelbar in die Leistungserfüllung hinein. Bei den Erfüllungsverhältnissen handelt es sich zunächst um Rechtsverhältnisse, kraft derer Dritte überhaupt erst befähigt werden, für den Versicherungsträger Leistungen zu erbringen. 233 Für solche Rechtsverhältnisse sieht § 97 SGB X grundsätz229 D e r geringe Stellenwert des Verwaltungsakts gerade im Krankenversicherungsrecht kommt beispielhaft in § 13 III SGB V zum Ausdruck: Wenn dort festgeschrieben ist, daß die Krankenkasse die Kosten der Beschaffung einer Leistung zu erstatten hat, die sie zu Unrecht abgelehnt hat, so bedeutet das nichts anderes, als daß ein Ablehnungsbescheid nicht in Bestandskraft erwächst. Der Versicherte ist nicht gehalten, diesen Bescheid anzufechten, sondern kann sich die begehrte Leistung selbst beschaffen und nunmehr von der Krankenkasse Zahlung der daraus entstandenen Kosten verlangen (siehe nur BSG, NZS 1997, 130ff. mwN). 230 Näher dazu W. Rüfner, Rechtsformen der sozialen Sicherung und das allgemeine Verwaltungsrecht, VVDStRL 28 (1970), S. 187, 204ff. 231 Neben den im weiteren behandelten Leistungsverhältnissen sind in der Sozialversicherung auch Vorsorgeverhältnisse anzutreffen (siehe nur/ 3. Krause, SDSGV18 [1979], S. 12,17) und neben diesen schuldrechtlichen Beziehungen auch mitgliedschaftliche Rechtsverhältnisse. - Ob die Mitgliedschaft als Grundlage sämtlicher Rechtsbeziehungen taugt (so S. H er twig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, 1989, für den die zentrale Frage die nach dem Verhältnis von Versicherung und Mitgliedschaft ist, aaO S.2f., s.a. S. 190f.), erscheint fraglich. 232 H. Zacher, in: Kübler, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 11, 38; H.-P: Adolf Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, S. 173; S. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 145. 233 H. Bley/R. Kreikebohm, Sozialrecht, Rn.61.

86

1. Teil: Grundlagen

lieh die Anwendung von Vorschriften des Auftragsrechts vor. Es liegt schon im Wesen des Auftrags, daß der Beauftragte Aufgaben des Leistungsträgers gegenüber dem Leistungsberechtigten wahrnimmt und damit in das Sozialleistungsverhältnis eintritt. 234 Das Rechtsverhältnis zwischen Drittem und Leistungsträger ist nicht nur in einem tatsächlichen Sinne auf das Sozialleistungsverhältnis ausgerichtet, sondern hat auch rechtliche Auswirkungen auf dieses. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Sozialleistungen der Konkretisierung im Einzelfall bedürfen und die Konkretisierung nicht durch den Leistungsträger erfolgt, sondern durch den Dritten. In diesem Fall ist es erforderlich, das Verhalten des Dritten im Rechtsverhältnis des Leistungsträgers mit ihm vorzuzeichnen. Zwar wird der Inhalt der Sozialleistung nur im Einzelfall festgelegt, und die Verhaltenspflichten sollen den Dritten darauf verpflichten, bestimmte Standards in diesem Falle zu beachten, ohne sein Verhalten vollständig determinieren zu können. Dennoch sind diese Verhaltenspflichten unübersehbar von Einfluß auf den Inhalt der Sozialleistung.

2. Dreiseitiges Erfüllungsverhältnis Diese rechtlichen Auswirkungen auf den Inhalt des Sozialleistungsanspruchs bewirken, daß Versicherungsträger, Drittleister und Versicherter in einem dreiseitigen Erfüllungsverhältnis miteinander verbunden sind. Damit kürzt Leistungserbringung durch Dritte nicht nur den Weg ab, auf dem die vom Versicherungsträger beschaffte Leistung an den Versicherten gelangt. Die wechselseitige Verflochtenheit der Rechtsbeziehungen wurde früher mit der Rechtsfigur des Vertrags zugunsten Dritter aufgefangen. 235 Diese Konstruktion wurde mit der schrittweisen Publifizierung der Beziehungen der Leistungsträger zu den Dritten unhaltbar und ist im Bereich der ambulanten ärztlichen Behandlung längst Vergangenheit.236

234 Anders verhält es sich bei den gemeinnützigen und freien Einrichtungen und Organisationen, die Sozialleistungen in Erfüllung eigener Aufgaben erbringen, und deren Eigenverantwortlichkeit in § 17 III SGB I für das gesamte Recht des Sozialgesetzbuchs (§ 37 S. 2 SGB I) festgeschrieben ist. - Siehe dazu V. Neumann, Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat, S.9ff. 235 D. Eherhardt, Zivilrecht und Sozialrecht in der Beziehung von Kassenarzt und Kassenpatient, AcP 171 (1971), 289, 294ff.; E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, S. 117ff. 236 Was allerdings im Vertragsarztrecht nicht auf den Zustand des Verwaltungsvertragsrechts zurückzuführen ist, sondern auf die Ablösung des Einzelvertrags durch den Kollektivvertrag (vgl. D. Eberhardt, AcP 171 [1971], 289, 294ff.; E. Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, S. 119 f.). Im Bereich der stationären Versorgung zeigt die Rechtsprechung des BGH, wie es möglich ist, trotz Publifizierung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Krankenhäusern am (privatrechtlichen) Vertrag zugunsten Dritter festzuhalten: Der BGH hat einfach das Behandlungsverhältnis vom Abrechnungsverhältnis abgespalten, so allerdings auch das Gegenseitigkeitsverhältnis des Krankenhausaufnahmevertrags aufgelöst (BGHZ 89, 250, 252ff., insb.255ff.).

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

87

Die Ausdifferenzierung des Erfüllungsverhältnisses in ein Beschaffungsverhältnis zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer und ein Erbringungsverhältnis zwischen Leistungserbringer und Versichertem, 237 spaltet das dreiseitige Rechtsverhältnis in zweipolige Rechtsbeziehungen auf. Wie wenig eine solche isolierende Betrachtungsweise fruchtet, erweist sich gerade am Krankenbehandlungsanspruch. Seine erhebliche inhaltliche Offenheit macht eine Konkretisierung nach Maßgabe des Einzelfalls erforderlich. Diese Konkretisierung findet dann, wenn - wie im Regelfall - die Dienste des Arztes ohne vorherige Bewilligung der Krankenkasse in Anspruch genommen werden können, zwischen Arzt und Versichertem statt. Dies führt dazu, daß - soll der Versicherungsträger die Verantwortung für die Leistungserbringung nicht völlig aufgeben - im Rechtsverhältnis zwischen ihm und dem Dritten die dem Versicherungsträger im Einzelfall faktisch entzogene Konkretisierung in generalisierender Weise vorgezeichnet werden muß. Innerhalb dieser Rahmenvorgaben kann dann die Sozialleistung „in der persönlichen Funktion der Leistungserbringung nach dem in dem Leistungsadressaten konkret bestehenden Bedarf 4 bestimmt werden. 238 Dies ist aber auch für das Grundverhältnis folgenreich, denn Leistungsanspruch des Versicherten und Leistungspflicht des Dritten müssen kongruent sein.239 Damit ist zwar nur gesagt, daß zwischen Leistungsträger und Drittem nichts anderes gelten kann als zwischen Leistungsträger und Versicherten, nicht dagegen, daß Leistungsträger und Dritter mit Wirkung für die Versicherten jedwede rechtliche Regelung treffen und beliebig den Leistungsanspruch ausgestalten könnten. Die Herstellung von Kongruenz bei gleichzeitiger Achtung der Selbständigkeit der Dritten wird dann aber zu einer Herausforderung, die sich nicht einfach durch den Verweis auf die Eigenständigkeit der rechtlichen Beziehungen leugnen läßt. Die Bewältigung dieses Spannungsverhältnisses stellt das eigentliche Problem der Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht dar - und nicht die völlig überbewertete Frage nach der Zuordnung einzelner Aspekte zum öffentlichen oder bürgerlichen Recht.240 Zwar lassen sich Sozialleistungsverhältnisse als Programme begreifen, die der Koordination des Verhaltens einer Vielzahl von Beteiligten im Einzelfall dienen.241 Gleichwohl steht das Dreiecksverhältnis in der ständigen Gefahr, die Polygonalität der Rechtsbeziehungen in Dichotomien aufzulösen. Sicherlich

237 238

Vgl. H.-P. Adolf Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, S. 185 ff. Th. Simons, Verfahren und verfahrensäquivalente Rechtsformen im Sozialrecht, 1985,

S. 111. 239

BSGE 65, 154,154f.; 63,102,105; 59,172,179; 52,134, 137. Zur Zeitbedingtheit der Grenzziehung und den vielfachen Ungleichzeitigkeiten in diesem Bereich siehe/. Schmitt, Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht, 1990. Die hier verlaufende Grenzlinie zwischen öffentlichem und privatem Recht, hat kontraproduktiv gewirkt und bindet nach wie vor erhebliche Ressourcen. 241 H. Zacher, in: Kübler, Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, 1984, S. 11, 38. 240

88

1. Teil: Grundlagen

sind „die drei Schenkel des Dreiecks jeweils eigenständige Rechtsverhältnisse". 242 Doch das Dreiecksverhältnis soll nicht ihre Trennung, sondern ihre wechselseitige Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit, nicht ihre Abschottung, sondern ihr Zusammenwirken darstellen.

3. Organisatorische Dimension Die Drittleistungsbeziehungen machen darauf aufmerksam, daß das Sozialrecht nicht nur materielles Recht ist, sondern auch eine formelle Dimension besitzt. So stellt schon § 1 SGBI neben die materielle Aufgabe der Gestaltung von Sozialleistungen (§111 SGB I) die verfahrensmäßige und organisatorische, dazu beizutragen, daß die „erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen" (§ 1 Π SGB I). Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß sich das Sozialstaatsprinzip nicht schon durch Einräumung von Rechtspositionen auf Behebung individueller Güterdefizite verwirklicht, sondern erst wenn die auf diese zurückgehenden Bedarfe gedeckt sind. Insoweit hat in § 1 SGB I das „formale Sozialstaatsprinzip" 243 seinen Ausdruck gefunden, das in § 171 SGB I wieder aufgenommen wird. Aus diesem Grunde sind auch Verfahren und Organisation der Sozialleistungserbringung integraler Bestandteil des Sozialrechtsverhältnisses. Doch stößt das Sozialrechtsverhältnis, auch wenn es als Ordnungsrahmen für mehrseitige Rechtsbeziehungen dienen kann, bei den Dreiecksverhältnissen an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit: Es ist immer auf die Erbringung der einzelnen Leistung gerichtet und damit in Gefahr, die Erfordernisse der Organisation der Leistungserbringung auszublenden. Obschon die Einbeziehung des ErfüllungsVerhältnisses zu einer Ausweitung der Aufmerksamkeit führt, so besteht doch die Gefahr, daß die organisatorischen Leistungen zu sehr unter die Dominanz der individuellen Leistungsabwicklung geraten. Erweist sich das Sozialrechtsverhältnis für die hier interessierenden Fragestellungen als zu eng, weil es seine Herkunft aus der Verarbeitung individueller Rechtsbeziehungen nicht leugnen kann und daher zu einer individualistischen Betrachtungsweise auch da drängt, wo es um die Erfassung der Gestaltung ganzer Sachbereiche geht, stellt sich die Frage nach anderen Figuren, mit denen sich der gesamte Zusammenhang einer Aufgabenerfüllung im Zusammenwirken verschiedener Akteure in den Blick bekommen läßt. Hierfür ist der Rückgriff auf die Figur der Regelungsstruktur vorgeschlagen worden. 244 Dem folgt 242

Κ Neumann, HS-PV, § 20 Rn. 5. R. Pitschasy Formelles Sozialstaatsprinzip, materielle Grundrechtsverwirklichung und Organisation sozialer Dienstleistungen, VSSR 1977,141 ff. 244 //.-//. Trute, DVB1 1996, 950, 951. - Zum Begriff der Regelungsstruktur: R. Mayntz/ F. Scharpf y Steuerung und Selbstorganisation in staatsnahen Sektoren, in: dies., Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung, 1995, S.9, 16ff. 243

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur die vorliegende Untersuchung, wenn sie sich die Kooperationsstrukturen

89 des Ver-

tragsarztrechts als eine besondere Erscheinungsform von Regelungsstrukturen zum Thema macht. 2 4 5

IV. Vertragsärzte als Leistungserbringer M i t der Leistungserbringung sind die Realhandlungen angesprochen, die erforderlich sind, um den Anspruch der Versicherten zu befriedigen. Daß die Konkretisierung des Anspruchs nicht durch Rechtsakte vermittelt wird, sondern mit der Erbringung der Leistungen geschieht, ist bereits ausgeführt worden. I m folgenden geht es um einen weiteren Aspekt des prozeduralen Wegs der Anspruchskonkretisierung, den das Gesetz i m Krankenversicherungsrecht beschreitet: um die Ausgestaltung des Status der Personen, die mit Wirkung für die Krankenkassen ärztliche Leistungen erbringen.

1. Teilnahme- und Praxisformen Das Gesetz kennt mit Zulassung und Ermächtigung zwei Teilnahmeformen (§ 9511 SGB V ) . 2 4 6 Die Zulassung vermittelt den Status des Vertragsarzts, des regulären Erbringers vertragsärztlicher Leistungen. Die Zulassung ist beschränkt auf Ärzte; Einrichtungen können nicht zugelassen werden. 2 4 7 Ermächtigt werden kön245

S.o. Einl.2b. Früher gab es mit der Beteiligung noch eine dritte Teilnahmeform, von der noch heute § 81 V 2 SGB V zeugt. Dabei waren zwei Formen der Beteiligung zu unterscheiden: Mit der in § 81 V 2 SGB V angesprochenen Beteiligung war die reguläre Form der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung der Ersatzkassen gemeint (dazu P. Wigge, Die Neuregelung der vertragsärztlichen Versorgung der Ersatzkassen, VSSR 1993, 37, 41), diese Sonderform ist mit dem GSG in der Zulassung aufgegangen. Allerdings behielten nach Art. 33 § 3 a II GSG die nur an der vertragsärztlichen Versorgung der Ersatzkassen teilnehmenden Ärzte ihren Status bei. Diese hat offenbar auch § 81 V 2 SGB V im Auge. - Dagegen war die Beteiligung nach § 368 VIII RVO eine Form der Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung der Primärkassen. Diese Beteiligung ging nach Art. 65 GG in der Ermächtigung auf. 247 Allerdings sind nach § 311 II SGB V im Beitrittsgebiet bestimmte Gesundheitseinrichtungen kraft Gesetzes zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Diese Zulassung vermittelt jedoch anders als die Zulassung nach § 95 SGB V nicht die Mitgliedschaft in der Kassenärztlichen Vereinigung. Die kraft Gesetzes zugelassenen Einrichtungen können daher nicht an der Willensbildung der Kassenärztlichen Vereinigung teilnehmen, obwohl sie deren Entscheidungen - insbesondere was die Leistungsvergütung anbelangt - unterworfen sind. Dagegen sind die in den Gesundheitseinrichtungen beschäftigten Fach- und Gebietsärzte nach § 311IV lit. a Nr. 1 SGB V ordentliche Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen. - § 311 II SGB V sah in seiner Ursprungsfassung durch den Einigungsvertrag vor, daß diese Einrichtungen bis zum 31.12.1995 abzuwickeln sind. Dies ist weitgehend auch geschehen (zum Geschehensablauf siehe nur/. Wasem, Vom staatlichen zum kassenärztlichen System, 1997, S.80ff., 133ff., 246

90

1. Teil: Grundlagen

nen dagegen auch Einrichtungen. Die Ermächtigung ist bedarfsabhängig und verschafft damit eine schwächere Position als die Zulassung. Die durch das GSG eingeführte Beschäftigung angestellter Ärzte (§ 95IX SGB V, § 32 b Ärzte-ZV) stellt dagegen keine weitere Teilnahmeform dar. 248 Sie ist vom Gesetz als Recht des Praxisinhabers ausgestaltet worden und vermittelt ihm neue Möglichkeiten der Praxisgestaltung. Damit eröffnen sich zwar für nicht zugelassene Ärzte neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Gesetz räumt ihnen aber kein eigenes, vom Willen des Praxisinhabers ablösbares Recht auf Anstellung zu. 249 Die Anstellung weist auf die Betriebsformen hin: Das Gesetz geht vom Regelfall der Einzelpraxis aus. Einrichtungen gesteht es nur die schwächere Teilnahmeform der Ermächtigung zu. 250 Freilich ist ein Trend zu größeren Betriebseinheiten unverkennbar. 251 Leitbild des Gesetzes war früher unangefochten die selbständig betriebene Einzelpraxis. 252 Heute noch spricht § 3211 Ärzte-ZV von der persönlichen Tätigkeit in freier Praxis als Normalfall. Das Vertragsarztrecht nimmt jedoch inzwischen auch andere Praxisformen zur Kenntnis. Neben der Praxisgemeinschaft, also der gemeinsamen Nutzung von Räumen und Einrichtungen sowie der gemeinsamen Beschäftigung von Hilfspersonal (§ 331 Ärzte-ZV), ist auch die gemeinsame Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit, also der Betrieb einer Ge-

194ff.). Die wenigen fortbestehenden Einrichtungen haben dennoch immer wieder die Rechtsprechung (BSGE 78,284; 75, 226; 74, 64) und auch den Gesetzgeber (6. SGB V-ÄndG) beschäftigt. - Bemerkenswerterweise läuft im Vertragsarztrecht, weil es auf die Einzelpraxis fixiert ist, § 17 III SGB I leer, obwohl diese Bestimmung nach § 37 S. 2 SGB I den Vorschriften der besonderen Teile des SGB vorgeht (instruktiv dazu: BSGE 74, 64). 248 Daran hat das 2. GKV-NOG nichts geändert. In Gegenteil: Die Anstellung von Ärzten soll nunmehr nur noch möglich sein, wenn sich der Praxisinhaber dazu verpflichtet, den bisherigen Praxisumfang nicht wesentlich auszudehnen (§101 I Nr. 5 SGB V1997). Derlei war dem bisherigen Recht unbekannt. Vielmehr wurden ganztags beschäftigte Ärzte mit dem Faktor 1,0 und halbtags beschäftigte mit dem Faktor 0,5 in der Bedarfsplanung berücksichtigt (§ 16b 14 Ärzte-ZV 1993); es wurde damit unterstellt, daß sich der Praxisumfang dementsprechend erweitert. 249 BSG SozR 3-5525 § 32b Nr. 2. - Die Anstellung bedarf der Genehmigung (§ 32b II 1 Ärzte-ZV), die nur vom Praxisinhaber beantragt werden kann und nur ihm gegenüber erteilt wird; der anzustellende Arzt ist nicht einmal am Verfahren zu beteiligen (G. Steinhilper, Der angestellte Arzt in der Vertragsarztpraxis, NZS 1994, 347, 349). Die Anstellung hängt ganz vom Status des Vertragsarzts ab: Mit seiner Zulassung endet auch die Genehmigung der Anstellung (G. Steinhilper, MedR 1993, 292, 295). 250 Dies mag für die privilegierten Einrichtungen der §§ 117,11811 SGB V nur als terminologische Frage erscheinen; doch können sie deswegen nicht an der Willensbildung der Kassenärztlichen Vereinigungen mitwirken. Dies gilt freilich auch für die nach § 311 SGB V zur vertragsärztlichen Versorgung „zugelassenen" Gesundheitseinrichtungen. 251 Die gänzlich andere Versorgungsstruktur der DDR konnte allerdings nach dem Beitritt rasch abgewickelt werden (siehe dazu J. Wasem y Vom staatlichen zum kassenärztlichen System, 1997). 252 Vgl. BSGE 55, 97, 100.

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur meinschaftspraxis

91

(§ 33 I I Ärzte-ZV), zulässig. 253 Diese gemeinschaftlichen Praxis-

formen lösen sich vom Leitbild des „Kassenpraxis-Alleinunternehmers"; gerade bei der Gemeinschaftspraxis tritt der einzelne Arzt ein Stück weit hinter die Institution zurück. 2 5 4 Noch einen Schritt weiter geht die - freilich in der Praxis nur zurückhaltend angenommene, aber auch vom Gesetzgeber nur eingeschränkt zugelassene - Anstellung. Von einer anderen Seite her gerät das Leitbild des in Einzelpraxis tätigen Arztes unter Druck: Das 2. G K V - N O G hat in § 73 a SGB V das Modell der „vernetzten Praxen" aufgenommen. 255 Das Gesetz bezeichnet diese „vernetzten Praxen" als Verbund von Vertragsärzten, die der Versicherte wählen kann, und die eine besondere Verantwortung für die Versorgung übernehmen und dafür auch eine besondere Vergütung erhalten können 2 5 6 Das Gesetz spricht nur von „Verbund" von Vertragsärzten und läßt damit erkennen, daß es sich weichere Formen der Kooperation vorstellt. Insoweit stellen Praxisnetze etwas Drittes gegenüber Gemeinschaftspraxis und Praxisgemeinschaft dar. 2 5 7 Anders als diese, mit denen wesentlich aus der Binnenperspektive der beteiligten Ärzte deren Zusammenarbeit gestaltet wird, zielen Praxis-

253 Siehe auch BSGE 23, 170, 171; 55, 97, 104.-Auch fachgebietsübergreifende Gemeinschaftspraxen sind zulässig, wenn sichergestellt ist, daß neben der Arztwahlfreiheit der Versicherten auch die Fachgebietsbeschränkung der Ärzte eingehalten ist (BSGE 55, 97, 101 ff.). 254 F. Geigant, Niederlassung in freier Praxis, in: Ökonomie des Gesundheitswesens, 1986, S. 305, 311 f. - Zu neueren Tendenzen siehe auch: H. D. Schirmer, Berufsrechtliche und kassenarztrechtliche Fragen der ärztlichen Berufsausübung in Partnerschaftsgesellschaften, MedR 1995, 341 ff., 383ff.; J. Taupitz, Integrative Gesundheitszentren, MedR 1993, 367ff. 255 Das Gesetz knüpft insoweit an ein von den Betriebskrankenkassen entwickeltes Modell an. Wenn §73a 11 SGB V1997 alternativ von einer Versorgungsstruktur spricht, bei der der „vom Versicherten gewählte Hausarzt" im Mittelpunkt steht, so nimmt es das von den Ortskrankenkassen propagierte Hausarztmodell auf. - Zu beiden Modellen: D. Krauskopf \ Die gesetzliche Krankenversicherung in der sozialrechtlichen Rechtsprechung und Literatur, JbSozRdG 18 (1996), 61,67f. 256 Damit knüpft das Gesetz an amerikanische Vorbilder, insbesondere an „Health Maintenance Organisations" (HMO) an (zu diesen J. Neipp, Das Gesundheitswesen der USA, 1988 S. 64ff.), die sich von Krankenkassen dadurch unterscheiden, daß sich bei ihnen der Versicherer nicht auf die reine Finanzierungsfünktion zurückziehen kann, sondern die Gesamtverantwortung für die medizinische Versorgung der Versicherten trägt, was sich in einem Versorgungsmanagement („managed care") widerspiegelt. Weil die Leistungserbringung gut koordiniert ist, und weil die Leistungsanbieter eine geringere Vergütung im Gegenzug für einen festen Patientenbestand akzeptieren, gelten HMOs relativ kostengünstig (Ch. Sattler, Das Gesundheitssystem in den USA, in: Blanke, Krankheit und Gemeinwohl, 1994, S. 173, 180f.). Ohne wirklich HMO-Strukturen einzuführen, weist das Modell vemetzter Praxen doch deutlich über die bisherigen Versorgungsstrukturen hinaus. 257 H. D. Schirmen MedR 1997, 431, 439. - Er folgt damit der engen Begriffsbildung der neuen Musterberufsordnung, die als „Praxisverbund" eine Kooperationsform bezeichnet, in der sich Ärzte, „ohne eine Berufsausübungs- oder Organisationsgemeinschaft zu bilden, unter Beibehaltung ihrer selbständigen Berufsausübung und ihrer Praxissitze durch schriftlichen Vertrag" zusammenschließen, um ein „gemeinsames Versorgungsziel" zu verfolgen (D Nr. 11 S. 1 MBO 1997 - abgedruckt in NJW 1997, 3076).

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1. Teil: Grundlagen

netze gerade auf die Gestaltung der Außenbeziehungen zu den Patienten. Das vom Patienten her gedachte Versorgungsmanagement zeitigt freilich auch Probleme im Verhältnis zu anderen Ärzten: Es liegt nicht fern, daß infolge der Vernetzung kartellartige Gebilde entstehen können, die dann die Frage aufwerfen, welche Ansprüche Außenseiter gegen Praxisnetze haben, die „monopolisierend die Patientenversorgung auf sich konzentrieren." 258

2. Zulassung Die Zulassung ist vom Gesetz zwar nicht als einzige, aber doch als Regelform der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung gedacht.

a) Voraussetzungen (1) Eignung Neben der fachlichen Eignung, die durch die Eintragung ins Arztregister nachzuweisen ist, die die Approbation als Arzt und eine dreijährige Weiterbildung zum Facharzt voraussetzt (§ 95 a I SGB V), 2 5 9 verlangt das Gesetz die persönliche Eignung des Bewerbers. Nicht geeignet ist, wer insbesondere wegen eines Beschäftigungsverhältnisses für die Versorgung der Versicherten nicht in erforderlichem Maße zur Verfügung steht (§ 201 Ärzte-ZV) oder eine mit der vertragsärztlichen Tätigkeit unvereinbare andere ärztliche Tätigkeit ausübt (§ 20 Π Ärzte-ZV). Beides ist im Hinblick auf § 95IV 1 SGB V zu sehen, wonach der Vertragsarzt zur vertragsärztlichen Versorgung nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet ist. Dabei wurde die Bestimmung des § 201 Ärzte-ZV lange Zeit dahingehend verstanden, daß der Vertragsarzt nicht seine volle Arbeitskraft der vertragsärztlichen Versorgung widmen muß, sondern es ausreicht, daß eine sachgerechte Versorgung der Versicherten 258

H. D. Schirmen MedR 1997, 431, 441. - In die 1997 vom Deutschen Ärztetag neu beschlossene Musterberufsordnung sind im Hinblick darauf gewisse Wettbewerbsregelungen aufgenommen worden: Danach muß die Mitgliedschaft an einem Praxisverbund grundsätzlich allen dazu bereiten Ärzte offenstehen; der Mitgliederkreis kann nur beschränkt werden, wenn die „dafür maßgeblichen Kriterien für den Versorgungsauftrag notwendig und nicht-diskriminierend" sind; außerdem darf eine „medizinisch gebotene oder vom Patienten gewünschte Überweisung" an einen nicht dem Verbund angehörigen Arzt nicht behindert werden (D Nr. 11 MBO 1997 - abgedruckt in NJW 1997, 3076). Erstaunlich ist, daß Kooperation und Koordination, die früher eher für standeswidrig gehalten wurden, nunmehr auch von der Ärzteschaft akzeptiert werden. Ob das Standesrecht aber in der Lage und der rechte Ort ist, die wettbewerbsrechtlichen Probleme zu lösen, mag hier dahinstehen. 259 Die Pflichtweiterbildungszeit des § 95 a SGB V hat im ärztlichen Bereich die Vorbereitungszeit ersetzt, die im zahnärztlichen Bereich mittelbare Zulassungsvoraussetzung geblieben ist (§95 II Nr. 2 SGB V).

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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noch möglich ist, wofür weniger die verfügbare Zeit, als die konkrete Ausgestaltung des anderweitigen Beschäftigungsverhältnisses ausschlaggebend sein sollte. 2 6 0 Damit näherte sich diese eigentlich quantitativ zu verstehende Inkompatibiltätsvorschrift an das qualitativ zu verstehende Verbot der Ausübung ärztlicher Tätigkeiten, die mit der vertragsärztlichen Versorgung unvereinbar sind (§ 20 I I Ärzte-ZV), 2 6 1 an. Eine Tätigkeit als Vertragsarzt nach Feierabend, mithin i m Nebenberuf, war grundsätzlich möglich. 2 6 2 Es genügte folglich ein M i n i m u m an Praxistätigkeit, das auch in atypischen Zeiten liegen konnte. Seit dem GSG mehren sich Stimmen, nebenberufliche Tätigkeit als Vertragsarzt grundsätzlich nicht mehr zuzulassen. 263 I n Anbetracht der Verschärfung der Zulassungsbeschränkungen soll sich der Arzt entscheiden, ob er als Vertragsarzt tätig sein w i l l oder nur gelegentlich einzelne vertragsärztliche Leistungen abrechnen will. Er wird damit gehalten, sich an (stärker) standardisierten Mustern ärztlicher Tätigkeit zu orientieren.

(2) Altersgrenze Nach § 25 S. 1 Ärzte-ZV ist die Zulassung eines Arztes, der das 55. Lebensjahr vollendet hat, ausgeschlossen. 264 Davon kann nach § 25 S. 2 Ärzte-ZV in Ausnah260

BSGE 26, 13, 14f. Darunter fallen sowohl Fälle der Interessenkollision (Praxis in Räumen, in denen amtsärztlicher Tätigkeit nachgegangen wird) als auch systemfremder Tätigkeiten (etwa als Arbeitsoder Rechtsmediziner) -M. Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 163. - Dazu jüngst BSGE 80, 130. 262 So in BSGE 26,13. - Das BSG hatte zur Rechtslage vor dem GSG keine Bedenken gegen die Zulassung eines als Beamten in einer Strafanstalt tätigen Arztes (BSG SozR 5520 § 20 Nr. 1). Ebensowenig stieß die gleichzeitige Zulassung als Arzt und Zahnarzt (BSGE 21,118), die Beschäftigung in einer Polizeizahnklinik (BSGE 26,13) oder die Tätigkeit als zeitbeamteter Arzt (BSGE 35, 247) auf Bedenken. - Sofem das Beschäftigungsverhältnis den Arzt voll, d. h. auch nach Feierabend, in Anspruch nahm, war eine Zulassung ausgeschlossen. 263 R. Hess, in: Kasseler Kommentar, SGB V § 95 Rn. 41 ; LSG Baden-Württemberg, MedR 1997,141, 142f.; LSG Berlin, MedR 1995, 209,210.-Aus § 101 S.5 SGB V1993 wurde gefolgert, daß ein Vertragsarzt nur dann im erforderlichen Maße der Versorgung der Versicherten zur Verfügung steht, wenn er zumindest ganztags als solcher tätig sein kann, was bei einer Wochenarbeitszeit von 38 Stunden der Fall sein soll (LSG Berlin, MedR 1995, 209, 210). Denn wenn § 101 S. 5 SGB V1993 vorschreibe, ein angestellter halbtags beschäftigter Arzt sei in der Bedarfsplanung mit dem Faktor 0,5 anzusetzen, so folge daraus, daß ein in der Bedarfsplanung mit dem Faktor 1,0 in Anschlag zu bringender selbständiger Vertragsarzt den Tätigkeitsumfang eines ganztags Beschäftigten erbringen müsse. Mit dem 2.GKV-NOG ist zwar § 101 S.5 SGB V1993 gestrichen worden; der Gedankengang läßt sich aber auf § 101 Nr. 5 SGB V1997 stützen. - Das BSG hat in BSGE 80,130,131 dahinstehen lassen, ob ein halbtags praktizierender Arzt der vertragsärztlichen Versorgung ausreichend zur Verfügung steht. 264 Zur Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift siehe einerseits BSGE 73, 223 - 6. Senat - (bejahend) und andererseits BSG, SGb 1994, 332 - 14a-Senat - (verneinend). - Der 6. Senat hat - nachdem er wieder für das gesamte Kassenarztrecht zuständig geworden war, den Vorlagebeschluß des 14a-Senats aufgehoben und die Klage abgewiesen (BSGE 80, 9, lOff.). 261

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1. Teil: Grundlagen

mefâllen abgewichen werden, „wenn dies zur Vermeidung von unbilligen Härten erforderlich ist." Diese Härtefallregelung wird vom BSG eng ausgelegt. 265

(3) Zulassungsbeschränkungen Bis zum GSG bestanden keine Zulassungsbeschränkungen von praktischer Bedeutung. Das GSG hat die Überversorgungsplanung 266 deutlich verschärft: Die noch in § 102 I I 5 SGB V 1 9 8 9 enthaltene Bestimmung, wonach immer 50 % der regionalen Planungsbereiche in der Bundesrepublik Deutschland für die Zulassung offen zu halten waren, ist aufgehoben worden. Gleichzeitig wurden i m Gesetz konkrete Vorgaben für die Feststellung von Überversorgung festgeschrieben. 267 I n der Folgezeit wurden viele Planungsbereiche wegen Überversorgung gesperrt mit der Folge, daß Bewerber in den betroffenen Zulassungsbezirken grundsätzlich nicht zugelassen werden konnten (§ 16 b I I Ärzte-ZV). Das 2. G K V - N O G hat dies in zweifacher Weise abgeschwächt: Einerseits soll nunmehr bei der Anpassung der Verhältniszahlen unter anderem der Zugang „einer ausreichenden Mindestzahl von Ärzten" gewährleistet sein (§ 101 I I SGB V ) . 2 6 8 Ande265 BSGE 73,223; BSG, SGb 1994,332: Grundsätzlich können sich nur solche Ärzte auf die Härtefallregelung berufen, die aus wirtschaftlichen Gründen auf die Berufsausübung als Vertrags-(zahn-)arzt zwingend angewiesen sind (BSGE 73, 223, 233; BSG SozR 3-2500 § 98 Nr. 3; SGb 1994,332). Ferner kann bei Ärzten, die bereits zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen waren, unabhängig von wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine unbillige Härte gegeben sein, wenn sie ihre kassenärztliche Tätigkeit unfreiwillig, etwa wegen Krankheit oder aus anderen zwingenden persönlichen Gründen aufgeben mußten und kürzere Zeit später, nachdem diese Umstände weggefallen sind, wieder zugelassen werden wollen (BSG SozR 3-2500 § 98 Nr. 3). Auf keinen Fall genügt der Wunsch, anstelle des Ruhestandes erstmals freiberuflich als Vertragsarzt tätig zu sein (BSG, SGb 1994, 332). 266 Die Bedarfsplanung, die 1976 als Unterversorgungsplanung in die RVO eingeführt worden war (§ 368 r II, III RVO i. d. F. des KVWG v. 28.12.1976 [BGBl. IS. 3871]), nachdem es im Gefolge des Kassenarzturteils des BVerfG zu Versorgungslücken im ländlichen Raum gekommen war, ist 1986 um eine Überversorgungsplanung ergänzt worden (§ 36811 RVO i. d. F. des BedarfsplanungsG v. 19.12.1986 [BGB1.I S.2593]), hatte aber ebenso wie die Unterversorgungsplanung keine nennenswerte praktische Bedeutung erlangt. 267 Danach ist Überversorgung anzunehmen, wenn der zum Stand vom 31.12.1990 zu ermittelnde allgemeine bedarfsgerechte Versorgungsgrad um 10% überschritten ist (§101 SGB V1993). Obwohl dem Versorgungsgrad ein planerisches Element innewohnt („bedarfsgerecht") ging der Gesetzgeber davon aus, daß im wesentlichen die Zulassungszahlen festgeschrieben werden. - Auch § 102 II SGB V1989. enthielt bereits konkrete Zahlen: Freilich dienten diese nicht als Obergrenze, sondern als Unteigrenze der Arztdichte: Nach § 102 II 4 SGB V1989 durfte Überversorgung erst angenommen werden, wenn der allgemeine bedarfsgerechte Versorgungsgrad um mindestens 50 % überschritten war. Diese Ziffer hatte damit eine ähnliche Funktion wie das Offenhalten von Planungsbereichen nach § 102 II 5,6 SGB V1989. 268 Begründet wurde dies damit, daß dadurch die „derzeitige Bedarfsplanung als lediglich regionale Verteilungsregelung ohne absolute Zugangsbeschränkung abgesichert werden" soll (BT-Drs. 13/7264, S.66). Es fragt sich allerdings, ob dies die gewählte Formulierung leisten kann. Verstanden als Aufforderung, innerhalb der Ermittlung des allgemeinen bedarfsgerech-

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rerseits erlaubt nunmehr § 1011 Nr. 4 SGB V eine Ausnahmezulassung in gesperrten Zulassungsbezirken, mit der das Job-Sharing von Vertragsärzten ermöglicht werden soll. 269 Die Ausnahmezulassung setzt daher voraus, daß der Bewerber mit einem bereits zugelassenen Vertragsarzt eine Gemeinschaftspraxis gründet; die Partner der Gemeinschaftspraxis müssen sich ferner dem Zulassungsausschuß gegenüber dazu verpflichten, den bisherigen Praxisumfang nicht wesentlich auszudehnen.270 Durch die Verpflichtung zur Leistungsbegrenzung wird die Zulassung in die Nähe eines Vertrages gerückt. Die Ausnahmezulassung ist nach § 101 III SGB V 1997 auf die Dauer der gemeinsamen vertragsärztlichen Tätigkeit beschränkt und vermittelt damit eine schwächere Rechtsstellung, kann aber nach Ablauf bestimmter Fristen und beim Wegfall der Zulassungsbeschränkung zur Vollzulassung erstarken. 271 Auch bei Praxisfortführung ist die Zulassung des Nachfolgers in gesperrten Zulassungsbezirken möglich (§ 103IV SGB V). 2 7 2 Dahinter steht der Gedanke, den wirtschaftlichen Wert der Praxis dem aus der vertragsärztlichen Versorgung ausscheidenden Vertragsarzt oder seinen Erben zu erhalten. Die Wertsteigerung, die die Praxis dadurch erfährt, daß mit ihr die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung in gesperrten Bezirken erworben werden kann, will § 103IV 5 SGB V kappen.273 Die Konsequenzen der Regelung über die Praxisfortführung zeigen sich am deutlichsten daran, daß in der Praxis die Frage aufgetaucht ist, ob diese auch noch greift, wenn die Zulassung des Vertragsarztes ruht und er bereits seine Praxis an einen anderen Vertragsarzt veräußert hat. 274 Hier wird die Zulassung wie ein verkehrsfähiges Gut behandelt.275 ten Versorgungsgrades auch einen „ausreichenden Mindestzugang" zu berücksichtigen, ist nicht davon auszugehen, daß die Bestimmung generell Zulassungsbeschränkungen verhindert (anders aber BSG, NZS 1999,50). 269 Vgl. BT-Drs. 13/7264, S.65. 270 In bezug auf die Leistungsbegrenzung entspricht die Ausnahmezulassung der Neuregelung der Anstellung von Ärzten in § 1011 Nr. 5 SGB V1997. Daß von der durch das GSG eingeführten Möglichkeit, einen Arzt anzustellen, in der Praxis nicht häufig Gebrauch gemacht wurde, ist im Gesetzgebungsverfahren darauf zurückgeführt worden, daß der angestellte Arzt bei der Feststellung des Versorgungsgrads mit zu berücksichtigen war (BT-Drs. 13/7264, S. 65). Wegen seines schwachen zulassungsrechtlichen Status bei voller Berücksichtigung in der Bedarfsplanung bestanden in der Tat wenig Anreize dazu, ein Anstellungsverhältnis einzugehen. 271 Näher dazu H. D. Schirmen MedR 1997,431, 442. 272 BSGE 5,40, 43 bezeichnete die Vorgängerregelungen in den Zulassungsordnungen, die die Übertragung der Kassenarztpraxis auf nächste Angehörige ohne Ausschreibung ermöglichten, treffend als „Erbhofbestimmungen" des Zulassungsrechts. 273 Die Beschränkung auf den Verkehrs wert ist sachgerecht, denn der besondere Vorteil der Marktabschottung durch die Zulassungssperre wurde vom Praxisinhaber nicht aufgebaut und ist auch nicht in seinem Interesse geschaffen worden. 274 Dazu H. Bartels, Rechtsfolgen des GSG '93, MedR 1995, 232, 232. 275 Wie nahe der Gedanke offenbar liegt, die Teilnahmeberechtigung selbst als verkehrsfähiges Gut anzusehen, zeigt sich daran, daß allen Ernstes erörtert wurde, ob der angestellte Arzt „sein Anstellungsverhältnis oder eine Anwartschaft" daran an einen potentiellen Nachfolger

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b) Beendigung Die Zulassung endet durch Entziehung (§ 95 V I SGB V), durch Tod, Verzicht oder Wegzug aus dem Zulassungsbezirk (§ 95 V I I 1 SGB V) sowie grundsätzlich mit dem Ende des Kalendervierteljahres in dem der Vertragsarzt sein 68. Lebensjahr vollendet (§ 95 V I I 2, 3 SGB V). Diese durch das GSG eingeführte Altersgrenze hat in verfassungsrechtlicher Sicht viel Aufmerksamkeit gefunden. 276 Gewählt ist sie so, daß bei ihrem Erreichen von einer ausreichenden Alterssicherung aufgrund der vertragsärztlichen Tätigkeit ausgegangen werden kann (vgl. § 95 V I I 3 Nr. 1 SGB V). Die Altersgrenze wirft ein Schlaglicht auf das Bild des Vertragsarztes und wurde daher als Anzeichen eines grundlegenden Wandel gesehen.277 Wenig Beachtung gefunden hat, wie sehr sie die Festigkeit und Dauerhaftigkeit des durch die Zulassung erlangten Status widerspiegelt. Mehr noch wird die Festigkeit durch die Regelung über die Entziehung der Zulassung verkörpert. Mit der Entziehung regelt § 95 V I SGB V abweichend von den allgemeinen Bestimmungen des SGB X über Widerruf und Rücknahme die Aufhebung der Zulassung. Den wichtigsten Entziehungsgrund dürfte die gröbliche Pflichtverletzung darstellen. Eine Pflichtverletzung wird dann als „gröblich" angesehen, wenn durch sie das Vertrauen der Kassenärztlichen Vereinigung und der Krankenkassen in das ordnungsgemäße Verhalten des Vertragsarztes so gestört wird, daß ersteren eine weitere Zusammenarbeit mit letzterem nicht mehr zugemutet werden kann. 278 Dem Vertrauen von Kassenärztlicher Vereinigung und Krankenkassen kommt deshalb nach der Rechtsprechung eine entscheidende Bedeutung zu, weil diesen die Überwachung der Ordnungsmäßigkeit der Leistungserbringung und übertragen oder veräußern kann (G. Steinhilper, NZS 1994, 347, 351 - im Ergebnis verneinend). - Diese Frage macht nach dem 2.GKV-NOG keinerlei Sinn mehr, weil die angestellten Ärzte nicht mehr in der Bedarfsplanung berücksichtigt werden und ihre Beschäftigung daher auch in gesperrten Gebieten ohne weiteres möglich ist; die Anstellung unterliegt nur mehr insofern Einschränkungen als sich der Praxisinhaber zu einer Leistungsbegrenzung verpflichten muß (§ 1011 Nr. 5 SGB V1997). 27 6 R. Pitschas y Beziehungen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen, insbesondere vertragsärztliche Versorgung, JbSozRdG 15 (1993), 285, 289f.; P. Wigge, Kassenarztrecht im Wandel, SGb 1993, 158, 161 f.; M. Zipperer, Wichtige strukturelle Änderungen für Ärzte, Zahnärzte und Versicherte im Gesundheitsstrukturgesetz, NZS 1993, 53, 56; A. KröllSy Grundgesetz und ärztliche Niederlassungsfreiheit, GewArch 1993, 217, 224 und 226; R. Pitschasy Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Kassen- und Vertragsarztrecht, in: Festschrift zum 40jährigen Bestehen der Sozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz, 1994, S. 217, 235. - S. a. A. Hänleiny Zur Vereinbarkeit der Zulassungsbeschränkungen für Vertragsärzte gemäß §§101 bis 103 SGB V in der Fassung des Gesundheitsstrukturgesetzes mit höherrangigem Recht, VSSR 1993, 169, 185 f. - Das BVerfG (2. Kammer des 1. Senats) hält diese Altersgrenze für verfassungsgemäß (NJW 1998,1776,1776f.). 27 7 R. Hessy Wandel vom Kassenarzt zum Vertragsarzt - Definition oder Statusänderung?, VSSR 1994, 395, 402. 278 BSGE 73, 234, 237. - W. Funky Vertragsarztrecht, HS-KV § 32 Rn. 75; G. Schneiden Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 861.

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Richtigkeit der Abrechnung nur beschränkt möglich ist, sie es aber sind, die für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung die Gewähr tragen. 279 Die Entziehung rechtfertigt sich damit aus der Störung des Vertrauensverhältnisses, das für die Funktionsfähigkeit des Systems der vertragsärztlichen Versorgung unabdingbare Voraussetzung ist. Freilich genügt nicht jedes Mißtrauen. Von einer „gröblichen" Pflichtverletzung soll nämlich erst gesprochen werden können, „wenn ihretwegen die Entziehung zur Sicherung der kassenärztlichen Versorgung notwendig ist", 280 was dann der Fall ist, „wenn sie das einzige Mittel zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ist," 281 wenn kein milderes Mittel ausreicht, den Arzt nachhaltig zur Pflichterfüllung anzuhalten.282 Wenn die Zulassungsentziehung das letzte verbliebene Mittel zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung sein soll, müssen die Anforderungen an sie mit der Verschärfung des Disziplinarrechts der Kassenärztlichen Vereinigungen steigen.283 Unter dem Einfluß des ultima-ratioPrinzips verflüchtigt sich dann aber das Vertrauensverhältnis. In dieser Auslegung vermittelt die „gröbliche Pflichtverletzung" dem Vertragsarzt letztlich einen nur schwer entziehbarer Status.

3. Ermächtigung Die Ermächtigung kann in der Regel nur bei einem allgemeinen oder speziellen Versorgungsbedarf erteilt werden (§311—III, § 31 a l Ärzte-ZV). 284 Die Bedarfsabhängigkeit unterscheidet die Ermächtigung von der Zulassung. Die Ermächtigung darf nur erteilt werden, wenn ein Bedürfnis für sie besteht.285 Dabei geht die Rechtsprechung von einem Vorrang der Vertragsärzte in der ambulanten Versorgung aus und läßt deshalb eine Ermächtigung nur zu, wenn im Leistungsangebot der Vertragsärzte eine Lücke besteht, die zur Sicherstellung einer ausreichenden und zweckmäßigen medizinischen Versorgung durch die Inanspruchnahme anderer Ärzte oder ärztlich geleiteter Einrichtungen geschlossen werden muß. 286 Die Versorgung durch die niedergelassenen Vertragsärzte kann deshalb 279

BSGE 73, 234, 237; 66, 6, 8. BSGE 66, 6, 8. 281 BSGE 73, 234, 237 f. 282 BVerfGE 69, 233, 243 f. 283 Zusf. A. Jacobs, Die Entziehung der Zulassung als Vertragsarzt, S. 159ff. 284 Das Gesetz regelt die Voraussetzungen unter denen eine Ermächtigung erteilt werden kann nicht allgemein. Nur Sonderfälle haben in den §§116-119 SGB V eine Regelung gefunden. Auf der Grundlage des § 98 II Nr. 11 SGB V hat die Zulassungsverordnung in § 31 die allgemeinen Voraussetzungen für die Ermächtigung festgelegt. 285 Zur Verfassungsmäßigkeit: BVerfGE 16, 286, 300ff. 286 BSGE 74, 257, 259f.; 73, 25, 28f. -Isensee spricht statt von Vorrang der Vertragsärzte von „Kassenarztmonopol" («ders., Kassenarztmonopol und nichtärztliche Leistungserbringer, 1995, passim, insb. S.9f.). 280

7 Wahl

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ungenügend sein, weil von ihnen die allgemeinen ärztlichen Leistungen nicht in ausreichendem Umfang oder weil von ihnen besondere, für die Versorgung notwendige Untersuchungs- oder Behandlungsmethoden nicht oder nicht in ausreichendem Maße angeboten werden. 287 Versorgungslücken können also entweder aus dem (quantitativ-allgemeinen) Mangel an Ärzten in einem bestimmten Bereich folgen, aber auch darin bestehen, daß der Bewerber (qualitativ-speziell) Leistungen anbietet, die für eine ausreichende Versorgung notwendig sind, aber von den niedergelassenen Vertragsärzten nicht erbracht werden können.288 Zeitweilig hat das BSG eine Konkurrentenklage gegen Ermächtigungen für zulässig gehalten, wenn diese in systemwidriger Weise die Vorrangstellung der Kassenärzte mißachteten und deren Existenz gefährdeten. 289 Davon ist es allerdings bald wieder abgerückt: Die Normen über die Ermächtigung dienten ihrer Zielrichtung und Wirkungsweise nach nicht dazu, den niedergelassenen Vertragsärzten eine wirtschaftlich ungefährdete vertragsärztliche Tätigkeit zu sichern. 290 Insbesondere entfalte der Vorrang der Vertragsärzte in der ambulanten Versorgung keine Schutzwirkung zugunsten des einzelnen niedergelassenen Arztes. 291 Die Literatur pflichtete dem bei. 292 Das BSG hat daran festgehalten und in einer jüngeren Entscheidung erneut betont, die § 116 S. 2 SGB V, § 31 a l Ärzte-ZV dienten „nicht einmal mittelbar" der Sicherung der wirtschaftlichen Interessen der niedergelassenen Ärzte; ihr Zweck sei allein, die besonderen Kenntnisse und Erfahrungen der Krankenhausärzte und die medizinisch-technischen bzw. apparativen Möglichkeiten von Krankenhäusern den Versicherten auch im Bereich der ambulanten Behandlung zugute kommen zu lassen.293

287

BSGE 56, 295, 297. BSGE 73,25,29f. - In § 116 SGB V, § 31 a Ärzte-ZV ist ein Fall qualitativ-speziellen Bedarfs, in § 311 Ärzte-ZV einer quantitativ-allgemeinen angesprochen. 289 BSGE 62, 231, 232ff. 290 BSGE 68, 291,295. 291 BSGE 68, 291,295. 292 M. Schnath, Bedarfsplanung und Konkurrenzschutz im Kassenarztrecht, 1992, S. 114ff.; R. Schimmelpfeng-Schütte/C. D. Ebmeyer, Anmerkung [zu BSG, SGb 1992, 317 = BSGE 68, 291], SGb 1992, 320ff.; S. Knitted in: Krauskopf, § 116 SGB V Rn.31; G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, 1993, Rn.934. 293 BSG SozR 3-1500 § 54 Nr. 30. - Für denkbar hielt das BSG jetzt jedoch die Konkurrentenklage eines Zulassungsbewerber. Erörtert wurde der Fall, daß dem auf einen qualitativen Sonderbedarf (§ 101 S. 1 Nr. 3 SGB V mit Ziff. 24ff. Bedarfsplanungsrichtlinien-Ärzte) gestützten Zulassungsbegehren eines Arztes entgegengehalten wird, der von ihm geltend gemachte Bedarf sei bereits durch eine Ermächtigung gedeckt. - Ausdrücklich offen gelassen wurde die in der Literatur umstrittene Frage, ob dann ausnahmsweise unmittelbar aus den Grundrechten eine Klagebefugnis folgen kann, wenn der zugelassene Arzt sich darauf beruft, die Ermächtigung sei willkürlich erteilt worden oder seine wirtschaftliche Existenz sei durch den Umfang der Ermächtigung akut bedroht (M. Schnath, Bedarfsplanung und Konkurrenzschutz im Kassenarztrecht, 1992, S. 121; R. Schimmelpfeng-Schütte/C. D. Ebmeyer, SGb 1992, 320, 321). 288

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

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Dagegen hat die Rechtsprechung aus der Bedarfsabhängigkeit der Ermächtigung und der Regelung des § 31 V I I Ärzte-ZV den Schluß gezogen, daß Ermächtigungen im Hinblick auf die sich verändernde Versorgungslage zeitlich zu begrenzen sind und daß dies regelmäßig in Form einer Befristung zu geschehen hat. 294 Zwar ist der Wortlaut des § 31 V I I Ärzte-ZV insoweit nicht eindeutig. Doch soll dies aus Sinn und Zweck der Ermächtigung folgen, den Vorrang der niedergelassenen Vertragsärzte zu wahren. Freilich fragt sich, ob der Vorrang der Vertragsärzte wirklich die Funktion hat, diesen „eine dauerhafte, kurzfristig abrufbare Option auf ein Leistungsmonopol sicherzustellen", und ob nicht auch der Situation des Ermächtigten Rechnung zu tragen ist. 295 Immerhin dient die Befristung in den Augen des BSG nicht allein dazu, eine zeit- und sachgerechte Anpassung an den vorhandenen Versorgungsbedarf zu ermöglichen, sondern soll auch den Beteiligten Rechtssicherheit geben. Aus diesem Grund kann die Ermächtigung während der Befristung wegen Änderungen der Bedarfslage nicht widerrufen werden. 296 Während die Rechtsprechung insoweit den ermächtigten Ärzten entgegenkommt, so versagt sie ihnen andererseits grundsätzlich Vertrauensschutz bei der Verlängerung der Ermächtigung: Weil die Zulassungsgremien den Ermächtigungsbedarf stets neu zu ermitteln haben, könne der Arzt grundsätzlich kein schutzwürdiges Vertrauen darauf haben, daß die Ermächtigung ihm immer wieder im selben Umfang erteilt wird. 297

4. Teilnahmestatus Zulassung und Ermächtigung bewirken, daß der betreffende Arzt bzw. die betreffende Einrichtung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt und verpflichtet ist (§ 95 ΠΙ 1, IV 1 SGB V). Durch Zulassung und Ermächtigung wird das Recht erworben, Versicherte zu behandeln (§ 73 Π, § 7611 SGB V) und an der Honorarverteilung nach Maßgabe des von der Kassenärztlichen Vereinigung beschlossenen Verteilungsmaßstabs teilzunehmen (§ 85IV SGB V). 2 9 8 Insoweit gleicht sich der durch Zulassung und Ermächtigung erworbene Status. Durch die Ermächtigung kann dagegen nicht, wie durch die Zulassung (§ 95ΙΠ1 SGB V), die Stellung 294

BSGE 70, 167,170ff. J. Isensee, Kassenarztmonopol und nichtärztliche Leistungserbringer, S. 62 ff. 296 BSGE 71, 280, 283; 70,167,174. - Der im früheren Recht vorgesehene Widerruf (§ 29 V 2 ZO-Ärzte) ist in der Entziehung aufgegangen (§ 95 IV 3 mit VI SGB V) - näher dazu BSG SozR 3-2500 §116 Nr. 1. 297 BSG SozR 3-2500 § 116 Nr. 14. 298 Für ermächtigte Ärzte und ermächtigte ärztlich geleitete Einrichtungen ist bemerkenswerterweise nirgendwo ausdrücklich geregelt, daß sie an der Honorarverteilung überhaupt teilnehmen. Aus der Beibehaltung des Wortes „Kassenarzt" in § 85 IV1 SGB V zu schließen, damit habe zum Ausdruck gebracht werden sollen, daß neben den Vertragsärzten auch ermächtigte Ärzte und ermächtigte ärztlich geleitete Einrichtungen an der Honorarverteilung zu beteiligen sind (so F.-J. Dahm, Gesetzliche Grundlagen der Honorarverteilung, MedR 1996,148) erscheint gewagt, zumal bis zum GSG das Wort „Kassenarzt" für zugelassene Ärzte reserviert war und § 85 I V 1 SGB V schon damals von der Verteilung unter den „Kassenärzten" sprach. 295

7+

100

1. Teil: Grundlagen

eines (ordentlichen) Mitglieds der zuständigen Kassenärztlichen Vereinigung erlangt werdeti.

a) Recht und Pflicht zur Teilnahme Zulassung und Ermächtigung berechtigen und verpflichten zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung (§ 95 ΠΙ 1, I V 1 SGB V). Beide unterwerfen den Arzt bzw. die Einrichtung den vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung (§ 95 ΠΙ 2 I V 2 SGB V). Ein Arzt, der weder zugelassen noch ermächtigt ist, darf Versicherte nur in Notfällen behandeln (§ 7612 SGB V). Der Umfang der Teilnahmeberechtigung ist nicht einheitlich: Während § 95 ΠΙ 1 SGB V dem Vertragsarzt grundsätzlich eine uneingeschränkte Teilnahmeberechtigung verschafft, 299 so wird die Ermächtigung wegen ihrer Bedarfsabhängigkeit grundsätzlich nur gegenständlich beschränkt erteilt. 300 Freilich gilt auch für die zugelassenen Vertragsärzte nur im Grundsatz, daß sie keinen Einschränkungen bei der Behandlung von Versicherten unterliegen. Denn sie sind auch in der vertragsärztlichen Versorgung an die Einhaltung der Fachgebietsgrenzen gebunden.301 Die „Zusammenschau" einer Reihe von Vorschriften des Zulassungs- und Bedarfsplanungsrechts zwingt nämlich nach Auffassung des BSG zu dem Schluß, daß der Gesetzgeber „von der klaren Vorstellung einer nach einzelnen ärztlichen Fachgebieten gegliederten ambulanten vertragsärztlichen Tätigkeit ausgegangen ist und sich insoweit auf die landesrechtlichen Vorschriften zur Abgrenzung der einzelnen , Arztgruppen4 gestützt hat." 302 Die Bindung an die Fachgebietsgrenzen rechtfertigt sich daraus, daß durch die Aufgliederung der ärztlichen Tätigkeit in verschiedene Fachdisziplinen und die damit verbundene Spezialisierung innerhalb der Ärzteschaft die medizinische Versorgung der Bevölkerung verbessert und den versicherten Patienten eine qualifizierte und breit gefächerte ärztliche Behandlung und Betreuung zur Verfügung gestellt wird. 303 Knüpft das Vertragsarztrecht bei der Bindung an die Fachgebietsgrenzen an das Berufsrecht an, so gestaltet es mit der Aufwertung der hausärztlichen Versorgung (§ 731-Ic SGB V 1993) den Inhalt vertragsärztlicher Tätigkeit selbst.304 Die hausärztliche Tätigkeit umfaßt alle Leistungen, die einen engen persönlichen Kontakt von Arzt und Patient voraussetzen,305 insbesondere die fortgesetzte ärztliche Betreuung und die Koordination spezialisierter Leistungen (§ 7313 Nr. 1 und 2 SGB V). 299

Siehe nur BSGE 78,91,96. G. Schneider y Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.890f. 3 °i BSGE 23, 97, 98ff.; 58, 18, 21 ff.; 62, 224, 226ff. 302 BSG SozR 3-2500 § 95 Nr. 7. 303 BSGE 62, 224, 225. - S. a. BVerfGE 33,125, 167. 304 Zur Verfassungsmäßigkeit: BSGE 80, 256ff. = NZS 1998, 143 ff. 305 G. Schneider, Rechtsfragen zur Hausarzt- und Facharztregelung, MedR 1995, 175, 176. 300

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

101

Freilich nimmt danach der Hausarzt nicht die Rolle eines Primärarztes 306 ein: Auch der Zugang zu spezialisierten fachärztlichen Leistungen ist nicht von einer Überweisung durch den Hausarzt abhängig. Wenn das Gesetz vorschreibt, daß der Versicherte einen Hausarzt zu wählen hat (§ 76 I I I 2 SGB V), so bleibt dies für den Versicherten ohne Folgen. Für den Vertragsarzt ist die Gliederung indes nicht völlig folgenlos: Sie hat vergütungsrechtliche Konsequenzen (§ 87 IIa SGB V) und ruft auch bestimmte Verhaltenspflichten, insbesondere Dokumentations- und Berichtspflichten, hervor (§ 73 Ib SGB V). Einen Schritt weiter geht der durch das 2. GKV-NOG eingeführte § 73 a SGB V: 3 0 7 Die danach mögliche Zuweisung einer besonderen Versorgungsverantwortung an den Hausarzt wertet diesen weiter auf und kommt einem Primärarztmodell zumindest nahe. Innerhalb dieses differenzierten Status genießen die zugelassenen und ermächtigten Ärzte volles Teilnahmerecht: Grundsätzlich können sie Leistungen zulasten der Krankenkassen erbringen, ohne daß diese zuvor von dieser oder einer anderen Stelle bewilligt werden müßten. Sie können die Versicherten unmittelbar auf Krankenversicherungskarte behandeln. Damit sind sie es allein, die - gemeinsam mit dem versicherten Patienten - über die Therapie zu entscheiden haben. Freilich sind sie dabei nicht nur verpflichtet, die Rechte des Patienten zu achten (insbesondere über § 76IV SGB V), sondern unterliegen auch weiteren rechtlichen Bindungen. Zu diesen rechtlichen Bindungen zählt in erster Linie die Teilnahmepflicht (§ 95 ΠΙ 1 SGB V). Mit ihr unvereinbar ist nicht nur die völlige Untätigkeit, sondern auch die Weigerung, Versicherte auf Krankenversicherungskarte zu behandeln. Bereits aus dem Gesetz folgt die grundsätzliche Verpflichtung, versicherte Patienten zu behandeln.308 Die Verweigerung der Behandlung ist ein schwerwiegender Verstoß, der die Zulassung infrage stellt. Es ist jedoch anerkannt, daß der Vertragsarzt die Behandlung eines Versicherten in begründeten Ausnahmefällen ablehnen kann. 309 Dies deckt allerdings nicht die Behandlungsverweigerung wegen „unangemessener Vergütung". 310 306

Zum Primärarztmodell : SVR KAiG, Jahresgutachten 1992, Tz.316ff. Dazu bereits oben § 1IV1. 308 R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 95 SGB V, Rn. 60; M. Jörg, Das neue Kassenarztrecht, Rn. 289. 309 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 1154; U.Hencke, in: Peters, §95 SGB V, Rn. 31 ; Krauskopf, SGB V, § 95 Rn. 27 ff. - Dementsprechende Bestimmungen enthalten die Bundesmantelverträge (§ 13 IV BMV-Ä 1995, § 13 IV EKV-Ä 1994). 310 Denn damit würde der Vertragsarzt das Vergütungssystem in Frage stellen, das darauf aufbaut, daß die Krankenkassen mit befreiender Wirkung an die Kassenärztlichen Vereinigungen eine Gesamtvergütung zahlen, die von letzteren unter den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen verteilt wird. An die Stelle von einzelvertraglichen Beziehungen zwischen Vertragsarzt und Krankenkassen, die ein derartiges Zurückbehaltungsrecht unter Umständen zulässig erscheinen lassen könnten, sind kollektivvertragliche Regelungen getreten, die durch gesetzliche Bestimmungen wie die Teilnahmepflicht abgestützt werden. - Anders aber Th. Muschallik, Kontrahierungszwang in der vertragsärztlichen Versorgung, MedR 1995, 6, 8 f. 307

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1. Teil: Grundlagen

Die aus der Teilnahme folgende Pflichtenstellung wird umfangreich vom Vertragsrecht geregelt, an das der zugelassene und der ermächtigte Arzt unmittelbar gebunden sind (§ 95 I I I 2, § 95IV 2 SGB V). Dazu zählen neben Gesamtverträgen und Bundesmantelverträgen vor allem die Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, die von § 92 V I I SGB V zum Bestandteil der Bundesmantelverträge erklärt werden. Auf die einzelnen Bestimmungen kann hier nicht eingegangen werden. Wichtiger erscheint die Funktionsweise dieser Verträge: Es handelt sich bei ihnen nicht um Einzelverträge zwischen Krankenkassen und Vertragsärzten, in denen die gegenseitigen Rechte und Pflichten festgeschrieben werden, sondern um Kollektivverträge zwischen Krankenkassen (-verbänden) und Kassenärztlichen Vereinigungen, die mit Wirkung für ihre Mitglieder die vertragsärztliche Versorgung regeln. Mit ihnen werden auf kollektiver Ebene Regelungen getroffen, die einzelvertragliche Absprachen ersetzen, wie sie zur Sicherstellung der Versorgung der Versicherten unter dem Naturalleistungsprinzip sonst erforderlich wären. Einige der eigentlich in Verträgen zu vermutenden Gegenstände sind freilich bereits im Gesetz geregelt, wie etwa Teilnahmerecht und -pflicht. Dennoch drückt sich im Vertragsrecht ein wesentlicher Grundzug des Vertragsarztrechts aus: Daß dieses nicht (allein) auf einseitiger gesetzlicher Vorzeichnung, sondern wesentlich auf kooperativer Festlegung der Bedingungen der Leistungserbringung beruht.

b) Vergütungsanspruch Das Eigentümliche des Vertragsarztrechts ist, daß den Vertragsärzten weder gegen die versicherten Patienten noch gegen die Krankenkassen ein Vergütungsanspruch zusteht. Gleichwohl müssen ihre Leistungen entlohnt werden und die Krankenkassen diese Entlohnung letztlich tragen. Das Gesetz sieht hierfür allerdings einen eigenartigen Mechanismus vor: Die Krankenkassen zahlen nicht direkt an die Vertragsärzte, sondern an die Kassenärztlichen Vereinigungen eine Gesamtvergütung, die - wie das Gesetz besonders betont - befreiende Wirkung hat (§ 85 I SGB V). Das Gesetz betont dies, um klarzustellen, daß damit Vergütungsansprüche der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen abgegolten sind. Die Gesamtvergütung wird von den Kassenärztlichen Vereinigungen unter den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen verteilt (§ 85IV SGB V). Der Honoraranspruch des einzelnen Vertragsarztes richtet sich gegen die für ihn zuständige Kassenärztliche Vereinigung und geht dem Grunde nach nur auf Teilhabe an der von den Krankenkassen entrichteten Gesamtvergütung. Bei der Verteilung hat die Kassenärztliche Vereinigung einen von ihr aufgestellten Verteilungsmaßstab anzuwenden, für den das Gesetz im Grundsatz eine leistungsproportionale Verteilung vorsieht (§ 85IV 2-5 SGB V). Die beiden Ebenen der Gesamtvergütung und der Vergütungsverteilung sind dem Grundgedanken nach prinzipiell verschieden.

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

103

In diesem Mechanismus kommt die Mediatisierung der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte durch die Kassenärztlichen Vereinigungen am deutlichsten zum Ausdruck. Die Kollektivierung der Rechtsbeziehungen zu den Krankenkassen, deren Ausdruck die Kassenärztlichen Vereinigungen sind, geht mit dem Übergang wesentlicher unternehmerischer Funktionen auf letztere einher. Nicht der Vertragsarzt ist es, der selbst in Preisverhandlungen mit den Krankenkassen tritt, sondern die für ihn zuständige Kassenärztliche Vereinigung. Über den wirtschaftlichen Erfolg des Vertragsarztes entscheidet damit wesentlich die Kassenärztliche Vereinigung. Sicher bürgt der Grundsatz leistungsproportionaler Vergütung 311 für Wettbewerb um Patienten, doch ändert auch er nichts daran, daß die Vertragsärzte nicht wie Unternehmer an der Festsetzung der Vergütungen für ihre Leistungen mitwirken.

c) Mitgliedschaft

in der Kassenärztlichen

Vereinigung

Die Zulassung bewirkt, daß der Vertragsarzt Vollmitglied der Kassenärztlichen Vereinigung wird (§ 95 ΠΙ 1 SGB V). Dagegen vermittelt die Ermächtigung keine mitgliedschaftliche Stellung in der Kassenärztlichen Vereinigung. Die Zulassung ist freilich nicht primär auf den Erwerb der Mitgliedschaft gerichtet: Es handelt sich nicht um eine Zulassung zur Kassenärztlichen Vereinigung, sondern zur vertragsärztlichen Versorgung. Sie erfolgt auch nicht (allein) durch die Kassenärztliche Vereinigung, sondern durch paritätisch von dieser und den Krankenkassen besetzte Zulassungsausschüsse. Stünde die Mitgliedschaft im Vordergrund, so wäre es schwer verständlich, warum sich die Kassenärztlichen Vereinigungen die Mitwirkung der Krankenkassen zumuten lassen müssen. Als Mitglied der Kassenärztlichen Vereinigung ist der Vertragsarzt deren Verbandsgewalt unterworfen. Es ist aber durchaus fraglich, ob seine Rechtsstellung davon wirklich wesentlich geprägt ist. Seine Pflichten folgen vielmehr aus dem Gesetz und vor allem aus dem Vertragsrecht, dessen Verbindlichkeit für den Vertragsarzt - wie für den ermächtigten Arzt - das Gesetz besonders anordnet (§ 95 ΠΙ 2, § 95IV 2 SGB V). Zum Vertragsrecht sind dabei nicht nur die Gesamtverträge und Bundesmantelverträge, sondern auch die Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen zu zählen, die nach § 92 V I I SGB V Bestandteil der Bundesmantelverträge sind. Macht beides, Verträge und Richtlinien, das Vertragsrecht aus, an das der Vertragsarzt nach § 95ΙΠ2 SGB V unmittelbar vom Gesetz gebunden wird, so fragt sich, welchen Sinn § 81 ΠΙ SGB V macht, wonach die Satzung der Kassenärztlichen Vereinigung die Verträge und Richtlinien für ihre Mitglieder für verbindlich erklären muß.

3" Dazu BSGE 73, 131, 135ff.-Näher dazu unten§5IV2c.

104

1. Teil: Grundlagen

Wirkliche Auswirkungen hat die Mitgliedschaft auf die Pflichtenstellung des Vertragsarztes, soweit sie ihn der Disziplinargewalt der Kassenärztlichen Vereinigungen unterwirft. Freilich stellen sich auch hier bei näherer Betrachtung Zweifel ein, da auch die ermächtigten Ärzte, die als solche nicht Mitglieder der Kassenärztlichen Vereinigung sind, deren Disziplinargewalt unterworfen sind (§ 95IV 3 SGB V), die Disziplinargewalt also gerade nicht auf dem Tatbestand der Mitgliedschaft in der Kassenärztlichen Vereinigung, sondern auf dem der Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung aufruht. 312

5. Vom Kassenarzt zum Vertragsarzt Das GSG hat die Kassenärzte in Vertragsärzte umbenannt. Der vordergründige Anlaß dieser Umbenennung war die durch dieses Gesetz erfolgte Integration der Ersatzkassen in das Kassenarztrecht. Bis zum GSG war nämlich die ambulante Versorgung in einen kassen- und einen vertragsärztlichen Bereich aufgeteilt: Während die kassenärztliche Versorgung der Versicherten von Primärkassen in den §§ 368 ff. RVO näher geregelt war, galten diese gesetzlichen Bestimmungen für die vertragsärztliche Versorgung der Ersatzkassenmitglieder nicht (vgl. §525c RVO). Das Gesetz band die Ersatzkassen vor allem nicht an die Kassenärztlichen Vereinigungen als Vertragspartner, derer sie sich gleichwohl bedienten, was § 368 η Π 3 RVO zuließ. Grundlage der kaum gesetzlich vorgezeichneten vertragsärztlichen Versorgung war in erster Linie der Arzt-Ersatzkassen-Vertrag. Im Vergleich zu den Primärkassen räumte das Gesetz den Ersatzkassen bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zu den Ärzten erhebliche Freiräume ein. Die Bezeichnung „Vertragsarztrecht" 313 symbolisierte beides: die vertragliche Grundlage dieses Versorgungssystems und die weitergehende Gestaltungsfreiheit. In der Sache allerdings entsprach die vertragsärztliche Versorgung im wesentlichen der kassenärztlichen.314 Das GSG schaffte diese Sonderstellung der Ersatzkassen ab und integrierte sie voll in das Kassenarztrecht, das zum Ausgleich dafür in Vertragsarztrecht umbenannt wurde. 315 Gleichsam als Ersatz für den Verlust der damit einst verbundenen Spiel312

Das Gesetz verschleiert diesen Umstand, indem § 81 V SGB V nur auf Mitglieder bezogen formuliert ist, dessen entsprechende Anwendung § 95 IV 3 SGB V anordnet. 313 Der Begriff „Vertragsarzt" kam erst nach Verabschiedung der RVO auf und ersetzte den bis dahin auch bei den Vorgängern der Ersatzkassen, den Hilfskassen, üblichen Begriff des „Kassenarztes" (vgl. die bei B. Schulin, Kostenerstattung der Ersatzkassen, S. 13 ff. wiedergegebenen Satzungen der Barmer Ersatzkasse). 314 W. Funk, HS-KV § 32 Rn.4. 315 BT-Drs. 12/3608, S. 83. - Dagegen hatte das GRG zwar die Ersatzkassen im Grundsatz den Primärkassen gleichgestellt; die vertragsärztliche Versorgung der Ersatzkassen-Versicherten blieb jedoch eine Sondermaterie. Die Ersatzkassen waren nunmehr - anders als noch nach dem Recht der RVO (vgl. § 2251 RVO) - selbst Krankenkassen (§ 4 II SGB V). Dementsprechend galt auch im Prinzip das Leistungserbringungsrecht der §§ 69 ff. SGB V für sie nunmehr unmittelbar. Jedoch sorgten einzelne Bestimmungen des Kassenarztrechts, insbesondere die

§ 1 Grundlinien der Leistungsstruktur

105

räume wurde die Bezeichnung „Vertragsarztrecht" auf das gesamte Kassenarztrecht übertragen. Allerdings wurde die Umbenennung im Gesetzestext nicht einmal konsequent eingehalten: Abgesehen von redaktionellen Versehen316 hat das Gesetz den Kassenärztlichen Vereinigungen ihren traditionellen Namen gelassen.317 Die Umbenennung ist in der Literatur vielfach auf Kritik gestoßen.318 So wurde die „Provokation" der Umbenennung darin erblickt, daß traditionell mit dem Kassenarztrecht ein engere Bindung assoziiert wurde als mit dem Vertragsarztrecht, das GSG habe aber nicht den Freiraum des (alten) Vertragsarztrechts ausgedehnt, sondern im Gegenteil die Bindung gerade verstärkt. 319 Im Brennpunkt der Kritik stand allerdings weniger die mit der Umbenennung kaschierte Reduktion kollektiver Gestaltungsspielräume. Motiviert wurde sie vielmehr dadurch, daß in dieser Umbenennung das Symbol eines grundlegenden Wandels des Status der zur Versorgung der Versicherten zugelassenen Ärzte gesehen wurde: Zwar sei Grund der Umbenennung der Wegfall der Sonderstellung der Ersatzkassen. Die Begriffswahl sei aber verfehlt, weil sich der Status aus der „öffentlich-rechtlichen Kassenzulassung" und nicht aus einem Einzelvertrag ergebe; die Rechte und Pflichten des Vertragsarztes leiteten sich vielmehr aus dem Mitgliedschaftsverhältnis zur Kassenärztlichen Vereinigung und die dadurch begründete Bindung an die Kollektivverträge ab. 320 Es war sogar die Rede von „irrationaler Gesetzessemantik": Der Begriff des Vertragsarztes erwecke „den falschen Eindruck von Vertragsfreiheit und von seiner Stellung als Vertragspartner". 321 Der Kassenarzt sei zu Unrecht in Vertragsarzt umgetauft worden, „denn substantielle Vertragsfreiheit ist ihm versagt"; ohnehin fehle es bereits am Vertrag, mit der Behandlung erfülle der Kassenarzt nämlich „seine korporationsrechtliche Dienstleistungspflicht gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung." 322 Die Umbenennung wurde auch als Ausdruck einer „gegenüber der Selbstverwaltung un-

§§72 III, 83 III SGB V1989, dafür, daß das Vertragsarztrecht zunächst noch seine Sonderstellung bewahren konnte. 316 Beispielsweise lautet die amtliche Überschrift des § 73 SGB V noch immer „Kassenärztliche Versorgung", während sodann im Text von „vertragsärztlicher Versorgung" die Rede ist, die auch in Abs. 2 definiert wird. In Abs. 5 und 6 taucht dann plötzlich wieder das Wort „kassenärztliche Versorgung" auf. 317 Wohl wurde infolgedessen auch der „Kassenarztsitz" in § 95 SGB V nicht in „Vertragsarztsitz" umbenannt. 318 Siehe nur B. Schulin, Wandel vom Kassenarzt zum Vertragsarzt - Definition oder Statusänderung?, VSSR 1994, 357ff.; R. Hess, VSSR 1994, 395ff.; B. Tiemann, Wandel vom Kassenarzt zum Vertragsarzt - Definition oder Statusänderung?, VSSR 1994,407ff. 319 B. Schulin, VSSR 1994, 357. 320 R. Hess, VSSR 1994, 395, 396f. 321 J. Isensee, Das Recht des Kassenarztes auf angemessene Vergütung, VSSR 1995, 321, 322 Fn. 2. 322 J. Isensee, VSSR 1995, 321, 330.

106

1. Teil: Grundlagen

freundliche Tendenz des GSG" angesehen, weil dadurch den Kassenärztlichen Vereinigungen „in terminologischer Hinsicht die Mitglieder genommen werden." 323 Die Kritik ist so symbolisch wie ihr Gegenstand. Gerade das begriffsprägende Ersatzkassenrecht zeugt davon, daß mit dem namensgebenden „Vertrag" nie ein Einzelvertrag zwischen Arzt und Krankenkasse gemeint war. Nur wenn man die Begriffsgeschichte außer acht läßt, könnte die Bezeichnung als Vertragsarzt zu der Annahme verleiten, statusbegründender Akt sei ein Vertrag. Vertragsarzt sei ein Arzt, den die Krankenkassen „unter Vertrag" hätten.324 Dem war auch in der früheren vertragsärztlichen Versorgung nicht so. 325 Sucht man den begriffsprägenden Vertrag aber nicht auf individueller, sondern auf kollektiver Ebene, so ist der neuen Begrifflichkeit nicht jede Berechtigung abzusprechen. Auch die kassenärztliche Versorgung beruhte seit jeher in erheblichem Umfang auf kollektivvertraglichen Regelungen.326 Die Bezeichnung als „Vertragsarztrecht" verdeutlicht die prägende Wirkung der vertraglichen Beziehungen, wie sie auch im Kassenarztrecht schon immer bestanden hat. Der Begriffswandel kann daher als Ausdruck einer stärkeren Betonung des Vertrags als zentralen Kooperationsinstruments angesehen werden.

323

S. Huster, Vergütungsvereinbarungen ohne Grundrechtsschutz?, VSSR 1993, 195, 197

Fn.4. 324

E. Eichenkofen Sozialrecht, Rn.369. Der Status als Vertragsarzt wurde nicht durch Vertrag, sondern durch Zulassung, einen Verwaltungsakt erlangt (BSGE 20, 86, 90). - Auch die Zulassung zur knappschaftsärztlichen Versorgung wurde als Verwaltungsakt angesehen, obwohl das Dienstverhältnis der Knappschaftsärzte durch Dienstvertrag geregelt war (BSGE 21,104,108 ff.). - Daß es nicht zwingend ist, die Zulassung als einseitigen Akt zu begreifen, vielmehr auch eine vertragliche Zulassung möglich ist, zeigt § 108 SGB V. Allerdings neigt das BSG mehr dazu, die Zulassung als einen einseitigen Akt anzusehen, sieht es doch die Ablehnung des Abschlusses eines Versorgungsvertrags als Verwaltungsakt an (so BSGE 78, 233,235 ff. zu § 109 SGB V). - Siehe dazu auch V. Neumann, Beziehungen der Pflegekassen zu den Leistungserbringern, HS-PV, § 21 Rn. 2, der die Qualifikation als Verwaltungsakt oder Vertrag mehr von den tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten des Leistungserbringers abhängig machen will. Legt man einen solchen eher materiellen Maßstab an, so tritt ein gleitender Übeigang zwischen Vertrag und Verwaltungsakt an die Stelle einer scharfen Zäsur. 326 So auch F. OldigeSy Wandel vom Kassenarzt zum Vertragsarzt - Definition oder Statusänderung?, VSSR 1994, 381, 385. 325

§ 2 Interessenlagen I. Individual- und Kollektivinteressen im Vertragsarztrecht Daß es dem Vertragsarztrecht um den Ausgleich widerstreitender Interessen geht, ist ein Gemeinplatz.1 Den Interessenlagen nachzugehen, die sich in diesem Sachbereich verflechten, erscheint deshalb angezeigt. Dies gilt umso mehr, als dieser Interessenausgleich in Strukturen stattfindet, von denen nicht ohne weiteres zu erwarten ist, daß sie die tangierten Interessen unverfälscht widerspiegeln. Der Analyse von Interessenlagen geht es darum festzustellen, welche Interessen in einem bestimmten Sachbereich konfligieren, und wie die Rechtsordnung diesen Konflikt bewältigt, wie sie die Interessen bewertet, gegeneinander abwägt und abgrenzt. Dabei sind Interessen wohl außerrechtliche, aber keine vorrechtlichen Phänomene. So sehr auch die Interessenargumentation den engen Horizont des positiven Rechts durch Rückgriff auf einen interessenmäßig strukturierten außerrechtlichen Raum zu überwinden sucht, so sind doch diese Interessen wiederum selbst rechtlich strukturiert. Die Rechtsordnung erkennt nicht jedes Interesse an, sondern verlangt, daß dieses rechtlich schützenswert ist. Dieses Erfordernis rechtlicher Anschlußfähigkeit ist nicht mehr als ein Filter, der verhindert, daß sich rechtliche Kommunikation unter dem unmittelbaren Einfluß subjektiver Interessiertheit auflöst. Vor allem die Grundrechte sind es, die die Interessen strukturieren. Sie geben über die Interessenlagen Auskunft, auf die die rechtliche Verfaßtheit des Gesundheitswesens Antwort sein sollte. Das positive Recht kann diesen grundrechtlichen Interessenlagen mehr oder weniger gerecht werden. Diese nachzuzeichnen, darum wird es im folgenden gehen.

1. Versicherten- und Ärzteinteressen Auf der Folie der Grundrechte lassen sich die Interessen, die im Vertragsarztrecht zu verarbeiten sind, folgendermaßen strukturieren: Bei den Versicherten lassen sich Patienten-, Versicherten- und Beitragszahlerinteresse unterscheiden: Die Versicherten haben nicht nur ein Interesse am Zugang zu medizinischer Versorgung überhaupt, sondern als Patienten auch an deren bedarfsgerechter Ausgestaltung und an Selbstbestimmung in ihr. Beides läßt sich auseinanderhalten und auch die Rechtsordnung antwortet differenziert darauf: Die Interessen 1

Siehe nur BSG SozR 3-2500 § 87 Nr. 5.

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1. Teil: Grundlagen

der Patienten können das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Π1GG) für sich reklamieren. Der grundrechtliche Ort der Interessen am Zugang zu Versorgungsleistungen erscheint dagegen prekär; soweit der Zugang aber durch Beiträge erkauft wird, kann er ökonomisch umformuliert im Rahmen des Eigentumsschutzes sozialversicherungsrechtlicher Positionen (Art. 14 GG) diskutiert werden. Das Beitragszahlerinteresse schließlich ist darauf gerichtet, möglichst niedrige Beiträge zu zahlen oder doch möglichst hohe Versicherungsleistungen für die Beiträge zu erlangen. Solche auf Äquivalenz von Beiträgen und Leistungen gerichtete Interessen werden meist dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 31 GG zugeordnet. Bei den Ärzten lassen sich ökonomische Aspekte ähnlich isolieren. So läßt sich das Vergütungsinteresse dem Interesse an autonomer Gestaltung der Tätigkeit - für das sich die Bezeichnung Therapiefreiheit findet - entgegensetzen. Grundrechtlich werden die in der Tätigkeit als Arzt wurzelnden Interessen aber allesamt von der Berufsfreiheit (Art. 121 GG) erfaßt. Daß für die Ärzteinteressen nur ein Grundrecht in Frage kommt, mag den Eindruck erwecken, diese besäßen eine schwächere Stellung als die Versicherteninteressen. Allerdings ist der verfassungsrechtliche Schutz keine Frage der Arithmetik. Es kann darin umgekehrt gerade ein Vorzug liegen, weil sich so alle Interessen im Brennglas eines Grundrechts bündeln lassen, während bei den Versicherten die Verteilung auf eine Vielzahl von Grundrechten die Interessen eher diffundieren läßt. Wie diese Interessen von den Grundrechten aufgenommen werden, wird im folgenden zu erörtern sein. Dabei wird es nicht (nur) darum gehen, wieweit die Grundrechte Widerpart, Restringierendes, sondern auch wieweit sie Aufgabe, zu Verwirklichendes sind. Interessen besitzen ohnehin einen näheren Bezug zur objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte. 2 Zwar können sie bestimmten Personen zugeordnet werden und weisen damit eine Grundvoraussetzung subjektiver Rechte auf. Doch sind sie nicht immer mit Rechtsmacht hintersetzt und bleiben so trotz Individualisierung objektiv. Dies ist keineswegs ein Mangel, vieleher ein Vorzug: Verengt es doch nicht den Blick durch Eingriffsabwehrschablonen, sondern lenkt ihn auf alle Maßnahmen, die zum Schutz des grundrechtlich zugesagten Freiheitsraums unerläßlich sind.

2. Organisationsinteressen Interessen sind zwar individuelle Präferenzen. Werden sie aber auf kollektiver Ebene organisiert, so ist dies für sie durchaus folgenreich. Sie werden nicht einfach nur anders artikuliert, sondern zu einem Gutteil von der sozialen Institution erst hergestellt.3 Sind aber kollektive Interessen wesentlich (wenn auch nicht nur) Produkt 2 Vgl. die Unterscheidung zwischen Grundrecht und Grundrechtsinteresse bei P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1970), S.43, 122. 3 Zu diesem Aspekt W. Streeck, Einleitung, PVS-Sonderheft 25/1994, S.7,12.

§ 2 Interessenlagen

109

eines Definitionsprozesses, so ist ihre Organisation rechtlich nicht indifferent. Dies wirft nicht nur die Frage nach dem Grundrechtsschutz durch Organisation, sondern auch nach dem Grundrechtsschutz der Organisation auf. Weil im Vertragsarztrecht Interessenausgleich gerade auch über Organisationen stattfindet, wird der Blick über die Individualinteressen hinaus auf die Organisationsinteressen gelenkt. Art. 19 I I I GG berechtigt Organisationen nicht zur treuhänderischen Wahrnehmung von Grundrechten ihrer Mitglieder. 4 Grundrechtsschutz kann ihnen vielmehr nur um solcher Eigenschaften und Handlungen willen zukommen, die sie gegenüber ihren Mitgliedern hervorheben, um „emergenter Eigenschaften" willen, die auf der Ebene der Organisation ausgebildet werden und nicht mehr aus den Handlungen oder Eigenschaften ihrer Mitglieder abgeleitet werden können.5 Als solche Interessen lassen sich wohl das am Fortbestand und Wachstum der Organisation, an Ausschließlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit gegenüber ihren Mitgliedern identifizieren. Um solche Apparatinteressen geht es hier freilich nicht. Soweit dagegen in Organisationen Kollektivinteressen ihrer Mitglieder ausgeprägt werden, kommt ein Grundrechtsschutz in Betracht. Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen, auf denen die hier interessierenden Kooperationsstrukturen aufruhen, sind juristische Personen des öffentlichen Rechts (§41, § 77 V SGB V), denen das BVerfG nur in Ausnahmefällen Grundrechtsschutz zugesteht. Dabei soll es neuerdings auf die Rechtsform als solche nicht (mehr) entscheidend ankommen, sondern maßgebend sein, ob und inwieweit in der Rechtsstellung der juristischen Person „eine Sach- und Rechtslage Ausdruck findet, welche nach dem Wesen der Grundrechte deren Anwendung auf juristische Personen entgegensteht."6 Dies klingt nüchterner als das Wort vom „Durchblick" auf die hinter einer juristischen Person stehenden Menschen, der Aufschluß über ihre „grundrechtstypische Gefährdungslage" und damit über ihre Grundrechtsfähigkeit geben soll.7 Dahinter steht freilich der gleiche Gedanke, Kompetenzkonflikte im öffentlichen Sektor nicht grundrechtsgestärkt austragen zu lassen und dadurch Strukturen und ihre Egoismen gegenüber von übergeordneten Steuerungsinteressen geleitetem Staatshandeln zu konservieren. 8 Denn als „Sach- und Rechtslage", die einer Grundrechtsfähigkeit entgegensteht, wird die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und Ausübung zugewiesener Kompetenzen angesehen und ihr das Gegenbild des Handelns in Wahrnehmung unabgeleiteter, ursprünglicher Freiheiten gegenübergestellt.9 4

K. Stern., Staatsrecht III/l, S. 1117. H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S. 359. 6 BVerfGE 75, 192,197. 7 BVerfGE 61, 82,101. 8 Strukturkonservatismus wird nur dort akzeptiert, wo juristische Personen des öffentlichen Rechts dem einzelnen als „Sachwalter" bei der Wahrnehmung seiner Grundrechte dienen (vgl. BVerfGE 61, 82,103 f.). 9 BVerfGE 75,192, 196; 68, 193, 206. 5

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1. Teil: Grundlagen

Sowohl Krankenkassen10 als auch Kassenärztlichen Vereinigungen 11 hat das BVerfG Grundrechtsfähigkeit abgesprochen. Dies liegt auf der Linie der Judikatur zu den Sozialversicherungsträgern, 12 die das BVerfG eher als eine Form mittelbarer Staatsverwaltung denn als Selbsthilfeeinrichtungen der Beteiligten begreift. 13 Daß auch den Kassenärztlichen Vereinigungen Grundrechtsschutz verweigert wird, scheint eher Symmetriegründen geschuldet gewesen zu sein. Freilich ist gerade im Hinblick auf diese die Kritik nicht verstummt. 14 Sie hat dadurch neue Nahrung erlangt, daß das BVerfG Innungen inzwischen unter Umständen Grundrechtsfähigkeit zubilligt, wenn diese mit Krankenversicherungsträgern Leistungserbringungsverträge abschließen.15 Das BVerfG hat indes keinen Anlaß gesehen, deswegen für die Kassenärztlichen Vereinigungen von seiner Rechtsprechung abzurücken.16 Kritisiert man dies, wird man folgerichtigerweise auch für die Grundrechtsfahigkeit der Krankenkassen plädieren müssen. Für diese spricht ohnehin einiges. Die (soziale) Aufgabe, die sie wahrnehmen, ist nichts ihren Mitgliedern gegenüber Fremdes. Krankenversicherung kann auch ohne den Staat und ohne öffentlich-rechtliche Organisationsform durchgeführt werden kann. Ist „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit" Strukturmerkmal der Sozialversicherung, 17 so sind es auch in dieser die Versicherten, die die Versicherungsfunktion erfüllen. 18 Dies gilt nicht nur für den eigentlichen Risikoausgleich, sondern auch für die in der Sozialversicherung zu beobachtenden Elemente sozialen Ausgleichs. Auch der soziale Ausgleich findet allein unter den Versicherten ohne unmittelbare staatliche Beteiligung statt. Der staatliche Anteil an der sozialen Krankenversicherung beschränkt sich auf die Setzung eines rechtlichen Rahmens und auf die Aufsicht über dessen Beachtung. Die soziale Aufgabe erscheint damit eher als Bindeglied zum Staat, 10

BVerfGE 39, 302, 312ff. BVerfGE 62, 354, 369f. 12 BVerfGE 21, 362, 368 ff.; 39, 302, 312ff. - S. a. BVerfGE 77, 340, 344. - Scheinbar eine Ausnahme stellt BVerfGE 36, 383, 392ff. dar. Prüfungsmaßstab der Entscheidung war zwar Art. 31 GG. Weil dies aber in einem Normenkontrollverfahren geschah, läßt sich daraus nichts ableiten. Zu dieser Entscheidung W. Rüfner, Grundrechtsträger, HStR V, § 116 Rn. 78 mit Fn. 189. 13 W. Rüfner, HStR V, § 116 Rn. 78. 14 D. Merten, Zum Selbstverwaltungsrecht Kassenärztlicher Vereinigungen, 1995, S.37 f.; S. Huster, Vergütungsvereinbarungen ohne Grundrechtsschutz?, VSSR 1993, 195, 213ff.; H. Bogs, Autonomie der öffentlich-rechtlichen Zwangskorporationen der Kassenärzte unter Grundrechtsschutz in: Freundesgabe für A. Söllner, 1990, S. 133ff. 15 BVerfGE 70,1,15 ff. - Allerdings nur soweit sie „nicht in ihrer Funktion als Teil der staatlichen Verwaltung, sondern als Interessenvertretung ihrer Mitglieder betroffen" sind, und die fragliche Tätigkeit sich „in nichts von derjenigen privater Zusammenschlüsse" unterscheidet (aaO S. 20). 16 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats) NZS 1995, 237. 17 BVerfGE 88, 203, 313; 75, 108,146. 18 Näher zum Versicherungscharakter der sozialen Krankenversicherung unten § 31. 11

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denn als den Krankenkassen vom Staat übertragen. Indes handelt es sich bei den hier allein in Betracht zu ziehenden Kollektivinteressen aus grundrechtlichem Blickwinkel nur um besondere Ausprägungen der Individualinteressen der Mitglieder der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigungen, so daß es auf die Grundrechtsfähigkeit dieser Organisationen letztlich nicht ankommt.

II. Patienteninteressen Stellt die soziale Krankenversicherung zur unmittelbaren Deckung krankheitsbedingter Bedarfe Gesundheitsleistungen zur Verfügung, so müßte das Grundrecht, in dem das Interesse an diesem Geschehen, an der medizinischen Versorgung, am ehesten verankert ist, das Recht auf körperliche Unversehrtheit, eine zentrale Rolle spielen. Diesem Grundrecht kann nicht von vornherein mit der Begründung jede Relevanz abgesprochen werden, daß den Grundrechten im allgemeinen keine Leistungsrechte zu entnehmen sind. Denn wenn die öffentliche Hand wie im Recht der sozialen Krankenversicherung Leistungen gewährt, dann stellt dieses Handeln nichts grundrechtlich Exemtes dar. Selbst wenn sie aus den Grundrechten nicht zu Leistungen verpflichtet sein sollte, bedeutet dies nicht, daß sie bei der Ausgestaltung der Leistungen keinerlei grundrechtlichen Bindungen unterworfen ist.

1. Schutzgehalt des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit Art. 2111 GG schützt die körperliche Unversehrtheit. Von Gesundheit spricht das Grundgesetz nicht. 20 Art. 2 I I 1 GG ist eigenartig negativ formuliert, als müsse dieses Grundrecht den Eingriffsbegriff in den Schutzbereich aufnehmen, um sich solchermaßen als klassisches Freiheitsrecht zu legitimieren, das es jedenfalls im Sinne von traditionsreich nicht ist. 21 Als klassisches im Sinne eines rein staatsgerichteten Abwehrrechts, ist Art. 2111 GG gleichfalls nicht konzipiert worden: Der Parlamentarische Rat wollte mit ihm ein Bekenntnis zu elementaren Werten menschlicher Existenz nach ihrer Erniedrigung und Verachtung in der NS-Zeit ablegen.22 Als Bekenntnis weist Art. 2 Π 1 GG von Anbeginn an deutliche, über den staatlichen Bereich hinausreichende, objektiv-rechtliche Züge auf. Das eigenartig Negative des Art. 2 I I 1 GG, die den Schutzgegenstand umschreibende Unversehrtheit (des Körpers), macht nicht allein der Staatsgewalt gegenüber Sinn. Körperliche Integrität 19

S.o. Einl 2c. Im Parlamentarischen Rat wurde Art. 22 des UNO-Kommissionsentwurfes der Menschenrechte erörtert, in dem positiv von der Gewährleistung von Gesundheit und Wohlbefinden die Rede war (vgl. K.-B. v.Doemming/R. Füßlein/W. Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n.F. 1 [1951], 1, 58). 21 D. Lorenz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, HStRVI, § 128 Rn. 1. 22 BVerfGE 18, 112, 117; 39, 1, 36f.-S.a. BVerfGE 52, 131, 174f. 20

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1. Teil: Grundlagen

kann genausogut von Privatpersonen verletzt werden. Rechtsprechung und Schrifttum sehen sich daher nicht gehindert, Art. 2 I I 1 GG Schutzpflichten zu entnehmen.23 Folgt man bei der Begründung dieser Schutzpflichten dem BVerfG, so begibt man sich auf einen folgenreichen (Um-) Weg, der bei der Annahme seinen Ausgang24 nimmt, die Grundrechte enthielten nicht allein subjektive Rechte, sondern eine objektive Wertordnung 25, mithin materielle Vorgaben für die Gestaltung der staatlich verfaßten sozialen Ordnung. Dies setzt einen positiven Gehalt auch des Grundrechts aus Art. 2 I I 1 GG voraus, den der negatorisch formulierte Text nicht unmittelbar erkennen läßt. Damit scheint wenig mehr gesagt, als ohnehin selbstverständlich sein sollte: Daß auch in Art. 2 Π 1 GG - ungeachtet seiner Formulierung - der Schutzgehalt vom Eingriff begrifflich zu unterscheiden und folglich positiv zu bestimmen ist. 26 a) Regelungstradition Indes bleibt, daß der Freiheitsgehalt dieses Grundrechts eigenartig negativ umschrieben ist. Dies ist umso erstaunlicher, als es keinen großen Aufwand dargestellt hätte, in Art. 2111 GG positiv von Gesundheit zu reden, womit das Schutzgut dieses Grundrechts oft einfach gleichgesetzt wird. 27 Der Grund dafür, daß dies das Grundgesetz nicht tut, der Sinn der eigenartigen Fassung des Art. 2 Π 1 GG erschließt sich aus der Regelungstradition dieses Grundrechts. Art. 2 I I 1 GG und besonders das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist nicht allein der Verachtung des Werts und der Würde menschlicher Existenz in der NS-Zeit geschuldet, sondern hat auch eine spezifisch juristische Vorgeschichte. Dürig prägte den Satz, Art. 2 I I GG schütze elementare „Werte der Körperlichkeit". 28 Er paraphrasierte dabei Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der 23 BVerfGE 39, 1, 41; 46, 160, 164; 49, 89, 141 f.; 53, 30, 57; 56, 54, 73; 77, 170, 214. - Grundlegend G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, insb. S. 190ff. 24 Wohl entnahm BVerfGE 39, 1,41 Schutzpflichten unmittelbar Art. 2 II 1 GG und stützte sie nur zusätzlich auf Art. 112 GG. Der objektiv-rechtliche Gehalt war aber bereits ausschlaggebend (vgl. BVerfGE 39, 1,41 f.); zu seinem Durchbruch leistete Art. 112 GG „Geburtshelferdienste" (J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR V, § 111 Rn. 80). Später wurden Schutzpflichten aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 2 II 1 GG abgeleitet (siehe etwa BVerfGE 56,54,73). - Allerdings sieht BVerfGE 88,203, 251 den Grund der Pflicht zum Schutz des Lebens wieder in Art. 11 GG und nur Gegenstand und Maß durch Art. 2 II GG näher bestimmt. 25 Grundlegend BVerfGE 7,198,205. - Zur Relativierung des Wertbezugs in der Rechtsprechung des BVerfG siehe: K. Stern, Staatsrecht, III/l, S. 899ff., 912; K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, HVerfR, § 5 Rn. 21 mit Fn. 26. 26 Vgl. M. Sachs, in: Stem, Staatsrecht III/2, S. 38. 27 Etwa von BVerfGE 49, 89, 143; 53, 30, 58; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 223 ff.; Ch. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 Rn. 130. 28 G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn. 1.

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Person als Dasein, Sosein und Bewegungsfreisein. Die hier interessierende körperliche Unversehrtheit, das Sosein, stelle den „naturgegebenen - lediglich durch Anlage und unbeeinflußte natürliche Entwicklung bedingten - Zustand des menschlichen Körpers" dar. Das Sosein sei nicht allein in einem objektiven, physiologischen Sinne als (körperliche) Gesundheit zu verstehen, sondern umfasse auch die (subjektive) Schmerzfreiheit und (eher sozial zu definierende) Verunstaltungsfreiheit. 29 Um die Körperlichkeit als Kern wurden also objektive, aber auch subjektive und soziale Schutzausprägungen gezogen. Dabei ist der Körperbezug nicht in einem natürlichen Sinne zu verstehen: „Werte der Körperlichkeit" stellen vielmehr auf Schutzinteressen ab. Noch deutlicher wird dies, betrachtet man die von Dürig in Bezug genommene Konzeption Belings. Diesem ging es um die strafrechtliche Relevanz ärztlicher Heileingriffe. Seitdem das RG diese als tatbestandsmäßige Körperverletzung qualifiziert hatte,30 sind die Stimmen nicht verstummt, die dies zu widerlegen trachten.31 Auch Beling gehörte zu den Kritikern. Seine Ausgangsthese war, Körperverletzung stelle nichts anderes als die Verletzung von Körperinteressen dar. 32 Und als Körperinteressen machte er aus: das objektive Interesse an der normalen Verfassung des Organismus (Gesundheit), das subjektive Interesse am körperlichen Wohlbefinden, das soziale Interesse an der (unentstellten) körperlichen Erscheinung.33 Für das objektive Körperinteresse fällt körperliche Integrität aus dem Tatbestand der Körperverletzung heraus.34 Ist der ärztliche Heileingriff erfolgreich, sind die objektiven Körperinteressen des Betroffenen nicht nur nicht verletzt, sondern im Gegenteil verwirklicht. Der damit bewirkten Zurückdrängung der Selbstbestimmung des Patienten entspricht die Engfassung subjektiver Körperinteressen als bloßer Schmerzfreiheit. Ein selbständiges Interesse an der Unversehrtheit des Körpers wurde abgelehnt.35 Dem Parlamentarischen Rat war daran gelegen, die Selbstbestimmung des einzelnen über seinen Körper besonders zu betonen. Dem Freiheitscharakter des Grundrechts aus Art. 2111 GG schien am besten dadurch gedient, die Integrität des Körpers und gerade nicht die Gesundheit als Schutzgut zu bezeichnen.36 Freilich bedeutet das nicht, daß Gesundheit nicht auch von Art. 2 I I 1 GG geschützt ist. 29

G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 II Rn.29f. RGSt 25, 375, 377 ff. - Seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH, NJW 1998, 1802, 1803; BGHSt 11, 111, 112. 31 Siehe nur A. Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. 1997, §223 Rn.28ff. mwN. 32 E. Beling, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Arztes bei der Vornahme und Unterlassung operativer Eingriffe, ZStW 44 (1922/23), 220, 225. 33 E. Beling, ZStW 44 (1922/23), 220, 222. 34 E. Beling, ZStW 44 (1922/23), 220, 223 f., 226ff. - Ihm folgend K. Engisch,, Ärztlicher Eingriff zu Heilzwecken und Einwilligung, ZStW 58 (1938/39), 1, 5ff. 35 E . Beling, ZStW 44 (1922/23), 220, 222f. 36 K. Roth-Stielow, Grundrechtsverständnis des Parlamentarischen Rates und der Grundrechtsschutz beim Betrieb von Kernkraftwerken, EuGRZ 1980, 386, 387 bei Fn. 15. - Vor die30

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b) Integritätsschutz Prägend für das heutige Verständnis des Art. 2 I I GG waren die lange Zeit dominierenden Fragestellungen umweltrechtlicher Provenienz.37 Art. 211 GG nahm teilweise den Platz eines Surrogats für den - bis zur Einführung des Art. 20 a GG - im Grundgesetz fehlenden Umweltschutz ein.38 Den umweltrechtlichen Fragestellungen entsprechend fand diese Diskussion zunächst auf der Ebene des Eingriffs statt. Unter dem Stichwort der Eingriffsqualität von Grundrechtsgefährdungen wurde in grundrechtlichem Gewand eine Debatte um die Risikovorsorge geführt. 39 Sie hatte insoweit durchaus Rückwirkungen auf das Verständnis des Schutzguts, als die dabei verwandten Figuren der Situationsbedingtheit und Sozialadäquanz Erscheinungen des Übergangsbereichs zwischen rechtlicher Konturierung des Eingriffs und des Schutzbereichs darstellen. 40 Unmittelbar auf den Schutzbereich zielte dagegen die in diesem Zusammenhang vom BVerfG aufgeworfene Frage, ob nicht Gesundheit als Schutzgut des Art. 2 Π GG mit der Satzung der Weltgesundheitsorganisation als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens" und nicht nur als „Freisein von Krankheit und Gebrechen" zu verstehen ist. 41 Dies wurde im Schrifttum einhellig verneint. 42 In der Folge fand ein kritischerer Umgang mit der Gesundheit und eine Rückbesinnung auf den Text des Art. 211 GG statt. So wird heute vermehrt die Körperlichkeit des Schutzes des Art. 211 GG betont: Geschützt sei nur die „konkrete Körperlichkeit des Menschen", die vom Willen umfaßte „Integrität der Körpersphäre, deren äußere biologisch-physiologische Grenze den Schutzbereich objektiv festlegt." 43 Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei sem Hintergrund wird verständlich, warum unter dem Grundgesetz betont wird, körperliche Unversehrtheit gehe über Gesundheit hinaus (so etwa E. Kern, Schutz des Lebens, der Freiheit und des Heims, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte II, 1954, S.60; F. Klein, in: v. Mangoldt/Klein, GG, 2. Aufl. 1957, Art. 2 Anm. V 3 ). 37 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, Anwendungsprobleme des Art. 2 Abs. 2 im Immissionsschutzrecht, AöR 106 (1981), 205ff.; H. Hofmann, Atomgesetz und Recht auf Leben und Gesundheit, BayVBl 1983,33ff.; A. Podlech, AK-GG, Art.2 Abs.2 Rn. 37ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 17 ff. 38 Vgl. H. Steigen Mensch und Umwelt, 1975, S. 33ff.; M. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 1978. 39 Zur Eingriffsqualität von Gefährdungen siehe nur BVerfGE 49, 89,141 f.; 51,324,346f.; 66, 39, 58. 40 Zu diesem Überschneidungsbereich M. Albers, Faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen als Schutzbereichsproblem, DVB1 1996,233,236ff. 41 BVerfGE 56, 54, 74. 42 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 21 \ R. Franche , Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, 1994, S.78; Ph. Kunig, in: v.Münch/Kunig Art.2 Rn.62; D.Lorenz, HStR VI, § 128 Rn. 18; Ch. Starch , in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 2 Rn. 130; E. SchmidtAßmann, AöR 106 (1981), 205, 209; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 223. 43 D. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 148. - Ähnlich D. Lorenz, HStR VI, § 128 Rn. 3.

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als Recht auf Gesundheit nicht zutreffend charakterisiert; zwar enthalte es Elemente eines Rechts auf Gesundheit, garantiere es aber nicht umfassend und gehe zugleich über ein solches Recht hinaus, indem es auch vor Integritätsverletzungen ohne Krankheitswert schütze.44 Der auf die „konkrete Körperlichkeit" fokussierte Grundrechtsschutz schließt die Gesundheit nicht völlig aus Art. 2 Π GG aus. Auf dieser Linie liegt es, wenn drei Schichten des Schutzguts unterschieden werden: die körperliche Integrität, die Gesundheit im engeren biologisch-physiologischen Sinne und schließlich im weiteren Sinne die psychisch-seelische Gesundheit.45 Dies liegt schon nahe bei der traditionellen Sicht, nach der körperliche Unversehrtheit den biologisch-physiologischen Gesundheitsbegriff abdeckt, der Schutz körperlicher Unversehrtheit aber nicht auf das Freisein von Krankheit beschränkt ist, sondern auch gesundheitsneutrale Integritätsverletzungen erfaßt. 46 Wird der Grundrechtsschutz auf die „konkrete Körperlichkeit" bezogen, so scheint es nahezuliegen, auch für die Verletzung Körperlichkeit zu fordern. So ist die Rede davon, nichtkörperliche Einwirkungen könnten einem körperlichen Eingriff gleichgestellt werden, wenn sie wie ein solcher wirken, also körperliche Effekte hervorrufen. 47 Dagegen ist daran zu erinnern, daß in Art. 2 I I GG mit „körperlicher Unversehrtheit" die Unversehrtheit des Körpers und nicht die Freiheit vor körperlichen Einwirkungen gemeint ist.48 Auch macht es keinen Sinn, wenn allein die „konkrete Körperlichkeit" Schutzgut ist, Handlungen, die sich nur körperlich auswirken, ohne körperlich einzuwirken, ohne die Körperhülle zu verletzen, nicht unter Art. 211 GG zu fassen. Maßgebend kann allein die körperliche Auswirkung, die Veränderung biologisch-physiologischer Vorgänge sein und nicht die Verletzung der Körperhülle. Auch für ein auf die Körperlichkeit insistierendes Konzept muß die Modalität der Verletzung sekundär sein. Entfällt aber die Körperlichkeit des Eingriffs, so geht der Schutz der Körperlichkeit in den der Gesundheit über. Ein räumliches Schutzkonzept läßt sich dann nur mit Abstrichen aufrecht erhalten. Auch wenn statt auf die Körperhülle als räumlicher Grenze des Grundrechtsschutzes auf die Ungestörtheit körperlicher Vorgänge abgestellt wird, mag der Körper als Ort dieser Vorgänge einen Raum freier Selbstbestimmung des einzelnen abstecken, der jeden Übergriff als Verletzung erscheinen läßt. Doch ändert dies nichts daran, daß das Recht auf körperliche Unversehrtheit, sobald sein Schutzgut nicht mehr durch die Körperhülle bestimmt wird, sondern körperliche Vorgänge maßgeblich werden, mehr als nur Elemente eines Rechts auf Gesundheit enthält. Zutreffenderweise schützt das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht allein 44

D. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 150. H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 18 ff. 46 Ph. Küttig, in: v. Münch/Kunig Art. 2 Rn. 62. 47 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 19f.; D. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 150. 48 Daß die Verdoppelung der Körperlichkeit auf eine Erwägung des BVerfG zurückgeht (BVerfGE 56, 54, 74) macht sie nicht richtiger. 45

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eine auf die äußere Körperhülle beschränkte Integrität, sondern umfaßt auch die Gesundheit als „Negation pathologischer Zustände", 49 als „Normalität der körperlichen Gestalt und Funktionen", 5 0 sowie die psychische Integrität. 51 Gesundheit bezeichnet aber nur einen Teil des Schutzguts des Art. 2 I I GG; erfaßt sind auch Verletzungen der Körpersubstanz, die zu keiner Krankheit führen. 52 Insoweit besitzt die besondere Betonung der Körperlichkeit durchaus Vorzüge, führt sie doch zu einer besonderen Hervorhebung der Selbstbestimmung über den eigenen Körper. 53

c) Gesundheitsschutz Gesundheit ist, womit früher das Schutzgut des Art. 2 Π 1 GG meist schlichtweg gleichgesetzt wurde. 5 4 Was Gesundheit ist, blieb indes i m vagen. 55 Immerhin hat das BVerfG auf die Dimensionen von Gesundheit hingewiesen, als es die Frage aufwarf, ob Gesundheit mit der Satzung der Weltgesundheitsorganisation als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens" zu verstehen ist. 5 6 Ein solches vor allem auch soziales Verständnis scheint Art. 2 I I G G zu einem „Generalgrundrecht" 57 werden zu lassen. Es liegt nahe, zur Definition dessen, was Gesundheit ist, auf die Erkenntnisse der Medizin zurückzugreifen, wenn nicht sogar diese darüber entscheiden zu lassen. 58 49

E. Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205, 209. R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S.II. 51 Und zwar nicht nur, soweit „durch Einwirkungen auf die Psyche körperliche Effekte hervorgerufen werden (können)" (so D. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 149). Art. 2 II GG auf den Schutz vor Einwirkungen auf die Körpersubstanz zu reduzieren und psychische Beeinträchtigungen grundsätzlich aus seinem Schutz auszuschließen (soD. Lorenz, HStRVI, § 128 Rn. 17 f.), ist nicht gerechtfertigt. Vielmehr erfaßt Art. 2 II GG die„körperlich-psychische Normalität" (R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S.77) und damit das Freisein von psychischen Krankheitszuständen. 52 R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S.78. 53 D. Lorenz, HStRVI, § 128 Rn.64f. 54 So BVerfGE 49, 89, 143; 53, 30, 58 und schon BVerwGE 1, 159, 162. - G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 223 ff.; O. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit, 1981, S.47ff. 55 O. Seewald, Zum Verfassungsrecht auf Gesundheit S.43 beklagt, daß die Verfassungsrechtsdogmatik auf eine Definition von Gesundheit verzichtet hat, entwickelt aber selbst auch keine, sondern versucht nachzuweisen, daß Gesundheitsbegriffe der Medizin rechtlichen Ansprüchen genügen (aaO S.41, 132ff.). 56 BVerfGE 56, 54, 74. - Gegen eine Übernahme dieser Definition spricht schon die völlig andere Situation, um die es dem Verfassungsrecht geht: Für das politische Handeln einer internationalen Organisation ist eine möglichst weite Fassung ihres Ziels erforderlich, weil sie anders als ein Staat nicht auf umfassende Zuständigkeiten blicken kann. Eine derartige hegemoniale Tendenz kann einem Grundrecht aber nicht zukommen. 57 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 21. 58 So spricht B. Schulin, Anfängliche Arbeitsunfähigkeit und Lohnfortzahlung, ZfA 9 (1978), 215, 247 f. der Rechtswissenschaft überhaupt die Kompetenz zur Bildung eines eige50

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Allerdings wird in Abrede gestellt, daß die Medizin überhaupt einen wissenschaftlich fundierten allgemeinen Begriff von Gesundheit besitzt.59 Sicher ist für sie als praktischer Disziplin nicht Gesundheit, sondern Krankheit erkenntnisleitend; dementsprechend gibt es für sie auch nicht eine Krankheit, sondern eine Vielzahl verschiedener Krankheiten. Zu weit geht es indes, der Medizin jegliche allgemeinere Vorstellung über die Natur von Krankheiten abzusprechen. Sie begreift Krankheit entweder mehr als Strukturdefizit oder als Funktionsstörung, wobei im letzten Fall der Akzent mehr auf die körperinternen Zusammenhänge oder auf die Austauschprozesse mit der Umwelt gelegt wird. 60 Dies läßt sich historisch nachzeichnen:61 Die Medizin konzipierte, als sie sich im 19. Jahrhundert als naturwissenschaftliche Disziplin zu konstituieren begann, zunächst Krankheit als Strukturdefizit des Körpers. Dem lag die Annahme zugrunde, daß die Krankheit ihren Sitz an einer genau zu lokalisierenden Stelle des Körpers hat. Mit zunehmendem Erkenntnisfortschritt erwies sich dies jedoch als ungenügend, weil die Körperzusammenhänge damit nicht erklärt werden konnten. Daher folgte Ende des 19. Jahrhunderts eine physiologische Wende, die den Körper als funktionalen Zusammenhang begriff. Krankheiten wurden nicht mehr auf statische Zustände, sondern auf dynamische, regulatorische Zusammenhänge bezogen. In der Folge setzte sich immer mehr ein Verständnis des Körper als komplexes System durch, das auch auf Umweltanforderungen zu antworten hat. Krankheit wurde als Anpassungsdefizit begriffen, als mangelndes Vermögen des biologischen Systems des Körpers, Irritationen aus seiner Umwelt so zu verarbeiten, daß sich seine Stabilität aufrechterhalten läßt. Ob nun der Akzent auf die (Fehl-)Regulation des biologischen Systems des Körpers oder auf die Veränderung seiner organischen Strukturen gesetzt wird, immer sind zur Feststellung von Krankheit Wertungen erforderlich. Der dafür maßgebende Normalzustand des Körpers läßt sich mit naturwissenschaftlichen Mitteln nicht zweifelsfrei bestimmen.62 Seine Sollwerte lassen sich weder direkt messen noch nen Krankheitsbegriffs ab. - Kritisch zu derlei B. Haffke, Gesundheitsbegriff und Neokorporatismus, MedR 1990, 243, 244. 59 H. Noack, Gesundheit: Medizinische, psychologische und soziologische Konzepte, in: Gawatz/Novak, Soziale Konstruktion von Gesundheit, 1993, S. 13,16. 60 So bezeichnet H. Cottier , Pathogenese, Bd. 1, 1980, S. 1 Gesundheit als die „Harmonie der Lebensprozesse, die sich in »normalen4 Strukturen, einem »regelrechten* Stoffwechsel, ungestörten Wachstums- und Emeuerungsvorgängen sowie einer uneingeschränkten Reaktionsund Regulationsfähigkeit des Organismus" äußern. - Für M. Eder/P. Gedigk, Allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie, 33. Aufl. 1990, S. 1 ist Gesundheit „Zustand der vollen Anpassung" des Organismus an seine Umwelt, während Krankheiten,»Lebensvorgänge an der Grenze der dem Organismus möglichen Anpassung" sind. 61 Zum folgenden P. Diepgen/G. Gruber/H. Schadewald, Der Krankheitsbegriff, seine Geschichte und Problematik, in: Altmann, Handbuch der Allgemeinen Pathologie, l.Bd., 1969, S. 1,19ff.; Ch. Lichtenthaelen, Geschichte der Medizin, 4. Aufl. 1987, S.481 ff., 515ff. 62 H. Schaefer, Der Krankheitsbegriff, in: Blohmke, Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3, 1976, S. 20.

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rein statistisch aus Istwerten ermitteln. Immerhin sind die regulatorischen Abläufe methodisch geleiteten Aussagen zugänglich. Allerdings gehen in die Sollwerte nicht nur organische Notwendigkeiten, sondern auch soziale Vorstellungen über die Leistungsfähigkeit des Körpers ein.63 Gesundheit und Krankheit sind dementsprechend auch sozial konstruiert. 64 Noch mehr gilt dies für psychische Krankheiten, die nur zu einem geringen Teil eine organische Grundlage haben, sich überwiegend aber in bloßem abweichenden Verhalten äußern.65 Daß Gesundheit auch sozial konstruiert ist, mag für den problematisch erscheinen, der die Schutzgüter des Art. 2 I I GG zu den wenigen natürlich vorgeprägten und erfahrbaren des Grundrechtsteils des Grundgesetzes zählt, und demzufolge betont, sie unterlägen keinem kulturellen Wandel.66 Die Debatte um den Hirntod, die jüngst im Zusammenhang mit der Transplantationsgesetzgebung stattfand, 67 hat aber gezeigt, daß selbst die Grenze zwischen Leben und Tod nichts rein Natürliches und völlig von Wertungen Freies ist. Noch mehr muß dies für die Gesundheit gelten. Seitdem in der Medizin Krankheit auch als Anpassungsdefizit und Gesundheit auch als das Vermögen des einzelnen begriffen wird, Beschränkungen und Belastungen gegenüber relativ autonom zu bleiben,68 ist offengelegt, daß in die psychophysische Normalität immer Vorstellungen von der Leistungsfähigkeit eingehen. So wird denn auch von ärztlicher Seite Gesundheit als die „aus der Einheit von subjektivem Wohlbefinden und individueller Belastbarkeit erwachsende körperliche, seelische und soziale Leistungsfähigkeit des Menschen" bezeichnet69 und damit gerade auf die soziale Konstruktion von Gesundheit verwiesen. Auf diesen Aspekt wird aus rechtlicher Sicht hingewiesen, wenn Gesundheit als das Vermögen des einzelnen definiert wird, diejenigen Aufgaben zu erfüllen, die ihm gesellschaftlich zukommen.70 Ist aber Gesundheit (auch) sozial konstruiert, so kann sich das Recht nicht völlig darauf beschränken, medizinische Vorstellungen zu rezipieren. 71 63

H. Schaefer, in: Blohmke, Handbuch der Sozialmedizin, Bd. 3, S.21. So auch B. Haffke, MedR 1990, 243. 65 Vgl. W. Kargl, Krankheit, Charakter und Schuld, NJW 1975,558, 559f. - S. a. BVerfGE 58, 208, 227, wo davon die Rede ist, psychische Störungen seien medizinisch „lediglich als Abweichungen von einem angenommenen Durchschnitts verhalten zu beschreiben". 66 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 241 ff. 67 Siehe dazu J. F. Spittler, Der menschliche Körper im Himtod, JZ 1997, 747 ff.; W. Heun, Der Hirntod als Kriterium des Todes des Menschen, JZ 1996, 213ff.; W. Höfling, Um Leben und Tod, JZ 1995,26 ff.; ders./S. Rixen, Verfassungsfragen der Transplantationsmedizin, 1996, S.49ff., 65ff. 68 J. Siegerist, Medizinische Soziologie, S. 184. 69 Gesundheitspolitisches Programm der deutschen Ärzteschaft, 1994, S. 11. 70 So auch R. Jaeger , Überlegungen zur Kodifikation eines Grundrechts auf Gesundheit, in: Böckenförde/Jekewitz/Ramm, Soziale Grundrechte, 1981, S.99, 102. 71 B. Haffke, MedR 1990, 243, 244 kritisiert, daß das Recht mit Überantwortung der Definitionsmacht an die Medizin nicht mehr als „autopoietisches System" funktioniert, „das die Pertuberationen der Ärzteschaft nach eigener Logik aufnimmt und verarbeitet, sondern als ,tri64

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Die soziale Konstruktion von Gesundheit ist auch der herkömmlichen Dogmatik geläufig, wie die Figuren der „Sozialadäquanz" oder „Situationsbedingtheit" zeigen.72 Daß Gesundheit (auch) sozial konstruiert ist, heißt nicht, daß Gesundheit bloße Konvention wäre. Gesundheit ist - nicht anders als Krankheit - ein Zustand menschlichen Lebens. Während Krankheit als Form eingeschränkter Lebenstätigkeit zu begreifen ist, ist für den Lebenszustand Gesundheit die Abwesenheit von Einschränkungen des Leistungsvermögens zwar notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. Gesundheit ist nicht nur instrumenteil zu verstehen, sondern hat als Wohlbefinden auch einen Selbstwert. Auch aus diesem Grund erscheint es problematisch, Gesundheit allein als soziales Konstrukt zu begreifen. Dies ist freilich schon deshalb ausgeschlossen, weil Gesundheit in erster Linie einen Lebenszustand bezeichnet, in dessen Bewertung sicher soziale Anschauungen über das Leben eingehen, der sich aber doch wesentlich auf ein natürliches Substrat stützt. Dies grenzt im übrigen Gesundheit vom Persönlichkeitsrecht ab, dem es um die Bedingungen geht, unter denen Persönlichkeit ausgeprägt werden kann. Dementsprechend kann zwar auch dem Recht auf körperliche Unversehrtheit ein Gebot zum Schutz der Bedingungen entnommen werden, unter denen Gesundheit möglich ist. Gesundheit und Persönlichkeit sind aber - auch in bezug auf psychische Störungen - zweierlei. Daß Gesundheit von sozialen Anschauungen abhängig ist, wird abgemildert, aber auch verdeckt durch die Expertise, die der Medizin in gesundheitlichen Fragen zugebilligt wird. Dennoch stehen dahinter Wertungen, die dem Grundrechtsträger gegenüber Zumutungen darstellen können, wenn er sein Leben an anderen gesundheitlichen Vorstellungen ausrichten will. Der einzelne kann nicht darauf verwiesen sein, die von der Gesellschaft vorgesehenen Verhaltensweisen zu übernehmen. Der einzelne muß vielmehr frei sein, im Bereich seiner leiblich-seelischen Integrität „seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu leben und zu entscheiden."73 Dazu gehören auch ungesunde Maßstäbe. Insoweit besteht auch eine „Freiheit zur Krankheit". 74 Dem Recht auf Gesundheit geht es folglich um die Möglichkeit selbstbestimmten gesundheitlichen Verhaltens. Dies ist allerdings nicht im Sinne eines staatlichen Definitionsverbotes und individuellen Definitionsmonopols zu verstehen.75 Vielmehr verwirklicht sich der Schutz der gesundheitlichen Selbstbestimmung primär darin, daß Art. 2 I I 1 GG die Voraussetzungen schützt, unter denen Gesundheit möglich ist, ohne dem einzelnen zuzumuten, Gesundheit zu wählen. Der Schutz der körperlichen Integrität erweist sich dabei als besondere Ausprägung des Selbstbestimmungsgehalts des Art. 2 I I 1 GG. Aber nicht nur durch den Selbstbestimmungs-, viale Maschine4, die ohne eigene spezifische Selektionsleistung die Befehle des anderen Teilsystems direkt und unmittelbar umsetzt.44 72 E. Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205, 212 und 214 mwN. 73 BVerfGE 52,131,175 (abweichende Meinung der Richter Hirsch, Niebier und Steinberger). 74 Vgl. BVerfGE 58, 208, 226. 75 So aber A. Philipp, Arzneimittellisten und Grundrechte, 1995, S.203f.

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sondern auch durch den Menschenwürdegehalt dieses Grundrechts werden sozialen Anschauungen Grenzen gezogen. Dabei zeigt jedoch die Achtung körperlicher Kontingenz76 nur äußerste Grenzen auf.

2. Umfang des Integritäts- und Gesundheitsschutzes Grundsätzlich wird es abgelehnt, Art. 2 I I GG Ansprüche auf medizinische Versorgung oder auf Gewährung dahingehender finanzieller Leistungen zu entnehmen. Nur soweit es um das Existenzminimum, um für das (Über-) Leben unerläßliche Leistungen geht, sollen sich aus Art. 2 Π GG unter Zuhilfenahme des Menschenwürdesatzes originäre Leistungsansprüche ableiten lassen.77 Zu diesen existentiellen Leistungen ist sicher auch eine medizinische Grundversorgung zu zählen;78 die Leistungen der sozialen Krankenversicherung beschränken sich jedoch nicht auf eine solche. Selbst wenn man darüber hinausgehend Art. 2 Π GG mit dem Sozialstaatsprinzip eine Pflicht zur Bereithaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems entnimmt, so besitzt der Gesetzgeber doch dabei einen so weiten Gestaltungsspielraum, daß sich daraus originäre Leistungsansprüche kaum ableiten lassen.79 Für derivative Leistungsansprüche steht mit dem Gleichheitssatz ein anderer Maßstab zur Verfügung, der Ansatz für die Entwicklung von Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit sein kann.80 Dabei gebührt dem effektiven Ressourceneinsatz sicher ein Vorrang vor der Erweiterung von Ressourcen; dieser Vorrang könnte weiter in Richtung eines Gebots optimaler Allokation bestehender Ressourcen entwickelt werden. 81 Hier geht es jedoch nicht um die Schaffung, sondern um die Ausgestaltung eines Leistungssystems. Fragen des effektiven Ressourceneinsatzes wurzeln mehr noch als in den Patienteninteressen in den Interessen der Beitragszahler und sollen daher auch dort erörtert werden. 82 Originäre Ansprüche auf Zugang zu den Ressourcen des Gesundheitssystems werden Art. 2 Π GG nicht entnommen - auch nicht über Schutzpflichten. 83 Wohl ist 76

Dazu A. Podlechy AK-GG Art. 1 Rn. 22,44ff. BVerwGE 1, 159, 161 f.; G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 2 II Rn. 26f.; Ph. Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2 Rn. 60; D. Lorenz, HStR VI, § 128 Rn. 52. - S. a. BVerfGE 82, 60, 85; 40,121,133. - Kritisch zur Reduktion des Existenzminimums auf ein alternativenloses nacktes Dasein infolge seiner Ausrichtung am „physiologisch Notwendigen": V. Neumann, Menschenwürde und Existenzminimum, NVwZ 1995,426,430. 78 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II Rn. 58; Ph. Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 2 Rn.60. 79 D. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2 Rn. 225. 80 Zu Kriterien der Verteilungsgerechtigkeit: A. Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 311 ff. 81 R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 84. 82 Unten §2 IV 2. 83 BVerfG (2. Kammer des 1. Senats) NJW 1997, 3085. - Speziell zu Schutzpflichten G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S.264. 77

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in der Rechtsprechung des BVerfG anerkannt, daß Art. 2111 GG eine objektiv-rechtliche Pflicht des Staates zu entnehmen ist, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter dieses Grundrechts zu stellen.84 Die Vernachlässigung dieser Schutzpflicht kann mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden. 85 Die Subjektivierung ist prozessual verbrämt, aber doch unverkennbar. Bei der Erfüllung der Schutzpflicht steht aber der öffentlichen Gewalt eine weite Gestaltungsfreiheit zu. 86 Obwohl sich der Staat nicht nur schützend, sondern auch fördernd vor die Grundrechtsgüter zu stellen hat, besteht die Schutzpflicht doch „vor allem" darin, „vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren". 87 Schutzpflichten mit ihrem negatorischen Charakter scheinen mit den Interessen Versicherter wenig gemein zu haben. Die durch die soziale Krankenversicherung bereitgestellte medizinische Versorgung erscheint in grundrechtlicher Sicht allein als leistungsrechtliches Problem. Daran ändert nichts, daß sich auch Schutzpflichten als Leistungspflichten darstellen; denn es macht durchaus einen Unterschied, ob der Staat Grundrechtsgebrauch nur vor Beeinträchtigungen bewahren oder die tatsächlichen Voraussetzungen effektiver Grundrechtsverwirklichung bereitstellen soll. a) Selbstbestimmung in der Krankenbehandlung Jedoch treten auch in der Krankenversorgung Sachverhalte auf, die des abwehrenden staatlichen Schutzes bedürfen. Insbesondere gilt das für das ärztliche Tun als körperlich relevantem und oftmals riskantem Verhalten. Bei dessen rechtlicher Einhegung handelt es sich freilich um keine Besonderheit sozialrechtlich organisierter Krankenversorgung. Der grundrechtliche Ansatz unterscheidet sich hier nicht, solange die Vertragsärzte selbst private Leistungserbringer sind. Auch für den Bereich der Sozialversicherung verbürgt Art. 2 I I GG das „Selbstbestimmungsrecht des Menschen für den Bereich seiner leiblich-seelischen Integrität." 88 Danach steht allein dem Patienten die Entscheidung über ärztliche Heileingriffe und über die in seinem Fall anzuwendende Therapie zu. 89 Dies gilt in der sozialen Krankenversiche84

BVerfGE 90, 145,195; 88,203,251; 46,160,164. BVerfGE 79,174, 202. 86 BVerfGE 85,191, 212; 79,174, 202; 77,170,214f. - Nach herkömmlichem Verständnis war die Vernachlässigung der Schutzpflicht solange nicht feststellbar, wie die öffentliche Gewalt nicht gänzlich ungeeignete oder völlig unzulängliche Vorkehrungen zum Schutz des Grundrechts trifft (BVerfGE 77,170,215). Dies wurde im zweiten Abtreibungsurteil entscheidend verengt: Der Schutzpflicht genügen danach nicht schon Vorkehrungen irgendwelcher Art; vielmehr besteht ein „Untermaßverbot" (BVerfGE 88, 203, 254 - kritisch dazu G. Hermes! S. Walther, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht, NJW 1993, 2337, 2340). 87 BVerfGE 90, 145,195. - So auch bisher BVerfGE 39,1,42; 46, 160, 164; 53, 30, 57; 56, 54, 73; Isensee, HStR V, § 111 Rn. 97 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 226ff. 88 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, S. 223 ff. 89 BVerfGE 89, 120, 130. - S. a. BVerfGE 53, 30, 65 und die abweichende Meinung der Richter Simon und Heußner aaO 71 ff. 85

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rung nicht anders als bei der Behandlung von Privatpatienten. In beiden Bereichen stellt die „seit alters übliche »Sprachlosigkeit4 des Arztes in spezifisch medizinischen Belangen"90 ein Problem dar. Das Arzthaftungsrecht, dessen Maßstäbe über § 76IV SGB V in das Krankenversicherungsrecht transportiert werden, hat hier mit dem Erfordernis der (informierten) Einwilligung Anforderungen entwickelt,91 die die Beteiligung des Patienten an den ihn betreffenden Entscheidungen sichern sollen und ihm freilich dann auch die (Mit-) Verantwortung für die einvernehmlich getroffene Entscheidung übertragen. b) Ausgestaltung des Versorgungssystems Neben der Relevanz für die Begegnung von Arzt und Patient stellt sich die Frage nach der Relevanz des Art. 211 GG für die Ausgestaltung des medizinischen Versorgungssystems. Hier wird in der Literatur ein „Recht auf Heilung" postuliert, das auf die Strukturen der medizinischen Versorgung bezogen zum einen gebieten soll, daß in der Behandlung keine zusätzlichen gesundheitlichen Schäden auftreten, und zum andern verlangen soll, daß der nach dem Stand von Wissenschaft und Praxis erreichbare Behandlungserfolg auch erzielt wird, also alle an sich möglichen Behandlungsarten ausgeschöpft werden. 92 Weisen die Versorgungsstrukturen Defizite auf, soll jedoch der Gesetzgeber einen Spielraum besitzen zu entscheiden, wie er dagegen Schutz gewährt. 93 Ein solches „Recht auf Heilung", das den Zugang zu gesellschaftlich verfügbaren Heilmethoden schützt, stellt kein Leistungsrecht dar, weil es ihm nicht um die „Verfügbarmachung von Ressourcen" geht; vielmehr richtet es sich gegen den die Zugänglichkeit aus Gefahrenabwehrgründen einschränkenden Staat.94 Freilich liegt es nahe, das Recht auf Zugang zu Gesundheitsleistungen ins Positive zu wenden und zu einem Leistungsrecht umzuwandeln.95 Die Gewährleistung „sicherer und leistungsfähiger Strukturen" nimmt bezug auf den Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren. Wirkt Art. 2 I I 1 GG als Vorgabe für die Gestaltung von Organisation und Verfahren, so müssen daraus auch 90

SVR KAiG, Jahresgutachten 1992, Tz. 358. Siehe dazu D. Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 1995, Rn.200ff.; A. Laufs, Arztrecht, 5. Aufl. 1993, Rn. 160ff. 92 R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 79 ff. 93 R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S. 89 ff. 94 Dementsprechend wird von einer janusköpfigen Gestalt gesprochen, die das Grundrecht aus Art. 2 II GG mit dem Recht auf Heilung erhält, weil „es einerseits die öffentliche Gewalt zum Schutz vor gefährlichen Behandlungsmethoden verpflichtet und andererseits ungehinderten Zugang zu Behandlungsmethoden gewährleistet" (R. Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, S.82). 95 Dies tuM. Philipp, Arzneimittellisten und Grundrechte, 1995, S. 207ff., indem er die soziale Krankenversicherung für verpflichtet hält, Behandlungsmethoden zufinanzieren, damit diese auf dem Markt bleiben und jedermann (nicht nur den Versicherten) zur Verfügung stehen. 91

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Maßgaben für die Gestaltung der Strukturen des medizinischen Versorgungssystems folgen - zumal wenn und soweit sie durch das Recht der sozialen Krankenversicherung gestaltet werden. Diese Vorgaben lassen sich sicher nicht auf die Verhinderung von Gesundheitsschäden reduzieren, sondern müssen weitergehende Anforderungen an die Qualität der Versorgung stellen. Dennoch fragt sich, ob nicht stärker auf die Selbstbestimmung der Patienten der Akzent gelegt werden sollte. Die Selbstbestimmung äußert sich sicher in der Leistungserbringung am unmittelbarsten. Diese läßt sich auch mit einem enggeführten, auf den Schutz der Körperhülle reduzierten Gehalt des Art. 2 I I 1 GG absichern. Auf die Begegnung von Arzt und Patient ist Selbstbestimmung aber nicht beschränkt. Vielmehr folgt aus ihr jedenfalls dann, wenn das Gesetz den Leistungsträgern die nähere Bestimmung des Gegenstands der Krankenbehandlung überläßt, ein grundrechtlich abgestützter Anspruch auf Teilnahme daran. Denn mit der Definition der Leistungsansprüche wird festgelegt, was gesundheitliche Normalität ist, und wann ein als Krankheit bezeichneter abweichender Zustand vorliegt, der zu abweichendem, nämlich Krankheitsverhalten ermächtigt. Die Fixierung gesundheitlicher Normalität ist nicht nur Voraussetzung von Leistungsansprüchen, sie beeinflußt nicht allein die Inanspruchnahme von Leistungen, sondern das Gesundheitsverhalten schlechthin. Weil die gesundheitliche Selbstbestimmung in der Leistungserbringung von den (untergesetzlichen) Festlegungen der Regelungsebene abhängt, ist dort auch eine effektive Repräsentation der Gesundheitsinteressen geboten.

III. Versicherteninteressen Daß Art. 2 Π GG keine Ansprüche auf medizinische Versorgung entnommen werden, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ansprüche auf Krankenbehandlung sehr wohl unter Grundrechtsschutz stehen. Es handelt es sich dabei um im weitesten Sinne derivative Leistungsansprüche aus Art. 14 GG. 96 Infolge der versicherungsrechtlichen Lösung, die das Gesetz gewählt hat, wird Krankenbehandlung nicht vor96

So spricht etwa Badura in bezug auf sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften und Ansprüche von „teilhaberechtlich ausgestaltetem Eigentum" (P. Badura, Eigentum, HVerfR, § 10 Rn.41), der damit allerdings zugleich eine Reduktion des grundrechtlichen Eigentumsschutzes dieser Positionen im Auge hat: „Der Dogmatik von Teilhaberechten entsprechend, wird nicht wie bei Vermögenswerten Rechten des Privatrechts schlechterdings Bestandsschutz zugesichert. Die wesentlichen Maßstäbe sind vielmehr Vertrauensschutz und Gleichheit." ( Ρ: Badura, Eigentumsordnung, in: Sozialrechtsprechung, Bd. 2, 1979, S.673, 687). - Einen „Funktionswandel" der Eigentumsgarantie vom Abwehr- zum Teilhaberecht konstatiert auch H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14 Rn. 6f. und 129; ders. y Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, SRH, B.3 Rn.51. - Dem hält Leisner, entgegen, daß sozialversicherungsrechtliche Positionen dann, wenn sie dem Schutz des Art. 14 GG unterstellt werden, diesen auch in ungeschmälerter Weise genießen müssen (W. Leisner, Eigentum, HStRVI, § 149 Rn. 5). - Wenn hier davon die Rede ist, die Eigentumsgarantie wirke faktisch wie ein Leistungsrecht, wenn sie (einfachrechtliche) Leistungsansprüche verfassungsrechtlich abstützt, so ist damit nicht gesagt, daß sich deswegen rechtlich der Schutzumfang des Art. 14 GG wandelt.

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aussetzungslos erbracht mit der Folge, daß ein grundrechtlicher Anspruch auf sie allein eine Frage originärer Leistung wäre. Sie ist vielmehr beitragsfinanziert, also von ihren Inhabern erkauft und stellt sich daher nicht als bloße Begünstigung dar. Indem der grundrechtliche Schutz sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche unter dem Gesichtspunkt ihrer Einbeziehung in den Schutz der Eigentumsgarantie erörtert wird, werden leistungsrechtliche Fragen in abwehrrechtliche umformuliert und insbesondere als solche des Bestandsschutzes aufgeworfen. Der Zugang zu den Systemen der Sozialversicherung selbst bleibt außerhalb dieser Betrachtungsweise: Hier kann allein der allgemeine Gleichheitssatz verhindern, daß einzelne Personengruppen ohne sachlichen Grund aus den Sicherungssystemen ausgeschlossen sind.

1. Einbeziehung in den Schutz der Eigentumsgarantie Daß Sozialleistungsansprüche dem Schutz der Eigentumsgarantie unterfallen, versteht sich nicht von selbst. Das BVerfG hat diesen Schritt erst nach langem Zögern vollzogen, obschon es sich bereits früh mit dieser Frage beschäftigt 97 und sie immer wieder aufgeworfen hatte.98 1980 schließlich unterstellte das BVerfG Rentenanwartschaften dem Schutz des Art. 14 GG mit der Begründung, sie erfüllten Funktionen, die zu schützen Aufgabe der Eigentumsgarantie sei: Sie dienten der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz und wiesen auch die konstituierenden Merkmale des Eigentums auf, seien dem einzelnen privatnützig zugewiesen und beruhten auf eigener Leistung.99 Nach der in der Folge weiter präzisierten 100 Formel des BVerfG genießen sozialversicherungsrechtliche Positionen dann den Schutz der Eigentumsgarantie, wenn sie „nach Art eines Ausschließlichkeitsrechts dem Rechtsträger als privatnützig zugeordnet sind", „auf nicht unerheblichen Eigenleistungen des Versicherten beruhen und der Sicherung seiner Existenz dienen".101 In dieser Formel drückt sich das Bemühen aus, nur solche vermögensweiten öffentlichen Rechte der Eigentumsgarantie zu unterstellen, die eine Rechtsstellung verschaffen, die der eines Eigentümers entspricht, wozu nicht allein ihre existenzsichernde Funktion genügen soll; vielmehr werden über die Privatnützigkeit hinaus nicht unerhebliche Eigenleistungen als Grund der Rechtsposition verlangt. 102 Dahinter steht das Bestreben, unter den (auch) zu privaten Zwecken nutzbaren öffent97

BVerfGE 1, 264, 277 ff. BVerfGE 40, 65, 82ff. mwN. 99 BVerfGE 53, 257, 289 ff. 100 Dazu im einzelnen H. v. Ditfurth, Die Einbeziehung subjektiv-öffentlicher Berechtigungen, 1994, S.42ff. 101 BVerfGE 92, 365,405; 72, 9,18f.; 69,272, 300. 102 Für den Eigentumsschutz von Rechtspositionen, die nicht aus dem privatautonomen Bereich stammen (zu diesen siehe nur BVerfGE 91, 294, 307), genügt damit nicht schon ihr Zweck, nicht schon daß sie privatem Nutzen dienen. 98

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liehen Rechten jene aus dem Schutzbereich des Art. 14 GG auszusondern, bei denen die öffentlichen Interessen an der Einräumung überwiegen. Da dahinter letztlich Abwägungsfragen stehen, wird ihre Berücksichtigung im Rahmen des Schutzbereichs des Art. 14 GG kritisiert und ihre Behandlung im Rahmen der Rechtfertigung inhalts- und schrankenbestimmender Regelungen gefordert. 103 a) Verfestigte,

privatnützig

zugeordnete Rechtsposition

Das durch Art. 14 GG geschützte Eigentum ist nach der Rechtsprechung des BVerfG wesentlich durch Privatnützigkeit gekennzeichnet, durch die „Zuordnung zu einem Rechtsträger, in dessen Hand es als Grundlage privater Initiative und im eigenverantwortlichen privaten Interesse ,νοη Nutzen4 sein soll, und durch die von dieser Nutzung nicht immer deutlich abgrenzbare grundsätzliche Verfügungsbefugnis über den Eigentumsgegenstand."104 Verfügungsbefugnisse bestehen bei sozialversicherungsrechtlichen Positionen nur in geringem Umfang. 105 Das BVerfG stellt indes an diese keine hohen Anforderungen und läßt genügen, daß der Inhaber den Umfang der Rechtsposition mitbestimmt hat. 106 Die Privatnützigkeit einer Position allein genügt allerdings nicht. Art. 14 GG schützt nur als privatnützig zugeordnete Rechtspositionen. Diese Zuordnung setzt eine hinreichende Verfestigung voraus; an dieser fehlt es bei Ermessensleistungen ebenso wie bei bloßen Aussichten.107 Nahe läge es daher, vor der Erfüllung aller Anspruchsvoraussetzungen (vgl. § 40 SGB I) jeden Eigentumsschutz abzulehnen. Dies würde freilich in der Rentenversicherung dazu führen, daß Versicherte in der langen Phase der Beitragsleistung keinerlei Grundrechtsschutz aus Art. 14 GG genießen würden. Im Hinblick darauf hat das BVerfG auch Anwartschaften als hinreichend verfestigte und damit schutzfähige Rechtspositionen angesehen. Eine Anwartschaft soll vorliegen, wenn eine Aussicht „allein durch Erfüllung weiterer Voraussetzungen, etwa des Ablaufs der Wartezeit oder des Eintritts des Versicherungsfalls zum Vollrecht erstarken" kann. 108 Die Grenze zwischen Anwartschaft und 103 Η. v. Ditfurth, Die Einbeziehung subjektiv-öffentlicher Berechtigungen, S. 147 ff.;/. Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn.55. 104 BVerfGE 53, 257,290; 50, 290, 339. 105 So schließt das Gesetz Übertragung und Verpfändung bei Dienst- und Sachleistungen gänzlich aus (§ 531 SGB I) und gestattet sie bei Geldleistungen nur eingeschränkt (§ 53 I I - V SGB I). 106 BVerfGE 53, 257, 291. - Bei Vermögenswerten privaten Rechten hält das BVerfG es für ausreichend, wenn diese „dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, daß er die damit verbundenen Befugnisse nach eigener Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf, ohne daß es dabei auf den Grad der Verfügungsbefugnis ankäme" (BVerfGE 91, 294, 307). 107 BVerfGE 72,141,153; 69, 272, 301; 63,152, 174.-S.a. H.-J. Papier, in: Maunz/Dürig (1994), GG, Art. 14 Rn. 159; W. Rüfner, Die Differenziertheit sozialrechtlicher Positionen und der Anspruch der Eigentumsgarantie, SDSRV23 (1982), S. 169, 172. 108 BVerfGE 72,141, 153; 69, 272, 301; 53, 257, 289f.

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Aussicht ist freilich keineswegs so klar, wie der Rückgriff auf eine etablierte dogmatische Figur des Zivilrechts zunächst suggerieren mag. 1 0 9 Ihr Kernproblem ist, von welchen Ereignissen ein künftiges (Voll-) Recht noch abhängen darf, damit die Aussicht auf dieses Recht jetzt schon als Anwartschaft Eigentumsschutz genießen soll. Das Grundanliegen, Eigentumsschutz schon vor Entstehung von Sozialleistungsansprüchen zu gewähren, ist gerechtfertigt. Nur scheint der Ansatz verkehrt, auf die Sozialleistungsansprüche zu blicken und nach ihren Vorwirkungen zu fragen. Denn dabei wird ausgeblendet, daß schon der Versicherungsschutz Vermögenswert besitzt. 1 1 0 Die Perspektive ist falsch gewählt, wenn allein auf die künftigen Leistungen geblickt wird, die gegenwärtigen Effekte der (Sozial-) Versicherung aber ignoriert werden. 1 1 1 Wechselt man die Perspektive ist das Problem nicht mehr, ob und wieweit künftige Sozialleistungen Vorwirkungen entfalten können, sondern, was Gegenstand des Versicherungsschutzes ist und damit als Gegenstand des Eigentumsschutzes in Betracht kommt. M i t dem Gegenstand ändert sich auch der Inhalt des Eigentumsschutzes. Dieser entspricht dann nicht mehr einfach den i m Versicherungsfall gewährten Versicherungsleistungen. Offenbar fällt es leichter, in Ansprüchen und Anwartschaften auf Sozialleistungen den Gegenstand des Eigentumsschutzes zu sehen. 112 Denn die Leistungsansprü109 So soll etwa die Aussicht auf eine Geschiedenen-Witwenrente keine Anwartschaft darstellen, weil die Erstarkung zum Vollrecht neben dem Eintritt des Versicherungsfalls auch noch die Scheidung und die Unterhaltsverpflichtung des Ehemanns voraussetzt (BVerfGE 72, 141, 153 f.). - Im Arbeitsförderungsrecht wird beim Arbeitslosengeld eine Anwartschaft erst nach Ablauf der Wartezeit (BVerfGE 92,365,405; 72,9,18 f.), beim Kurzarbeitergeld teilweise erst nach Bewilligung (vgl. D. Katzenstein, Aspekte einer zukünftigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz sozialrechtlicher Positionen, in: Festschrift für W Zeidler, 1987, S. 645,660), teilweise bereits ab Antragstellung (R. Stober, Eigentumsschutz im Sozialrecht, SGb 1989, 53, 55), teilweise ab Vorliegen der materiellen Voraussetzungen (J. Denck, Eigentumsgarantie für Kurzarbeitergeld, BB 1987, 1597, 1598) angenommen (offengelassen in BVerfGE 92, 365, 405 f.). 110 Η. v. Ditfurth, Die Einbeziehung subjektiv-öffentlicher Berechtigungen, S. 65 f., 72ff. So schon P. Krause, Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982, S. 104ff. 111 Die Fixierung auf die Anwartschaft hat dazu geführt, gerade in der sozialen Krankenversicherung Eigentumsschutz für unmöglich zu halten. So wurde früher argumentiert, der „Gedanke einer Eigenvorsorge durch Erwerb »sozialen Besitzes'" sei hier nicht tragfähig, weil durch den Beitrag nicht „spätere Leistungsansprüche bestimmter Ausprägung gewissermaßen vorausbezahlt und als bestehendes Eigentum verfestigt würden" (W. Gitter/P. Oberender, Möglichkeiten und Grenzen des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, 1987, S. 84 f.). Sorichtiges ist, daß in der Krankenversicherung die Beiträge in der jeweiligen Abrechnungsperiode verbraucht werden, so wenig bedeutet dies, daß der Krankenversicherungsschutz keinerlei Vermögenswert besitzt. 112 So hat etwa das BSG unlängst von einer .Anwartschaft auf Krankenversicherungsschutz" gesprochen (BSGE 74,232,236f.) - offenbar um damit eine durch verfassungsgerichtliche Rechtsprechung kanonisierte dogmatische Figur mit dem zu verbinden, was in der Sache den wirtschaftlichen Wert des Krankenversicherungsschutzes ausmacht: Daß der Versicherten durch den Versicherungsschutz der Notwendigkeit enthoben ist, anderweitig für die von die-

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che sind nicht nur konkreter als die Risikoabsicherung, sondern scheinen auch sinnfällig zum Ausdruck zu bringen, daß die Versicherung auf Gegenseitigkeit beruht. Doch ist es fragwürdig, in ihnen die Gegenleistung der Versicherung zu sehen: Denn tritt der Versicherungsfall nicht ein und erlangt der Versicherte folglich auch keine (Sozial-) Leistung, so erscheint sein Beitrag umsonst erbracht. Es ist nun aber keinesfalls Zufall, sondern „logische Konsequenz" des Funktionsprinzips von Versicherungen, daß in einer Vielzahl von Fällen niemals ein Versicherungsfall eintreten wird. 113 Daher ist der Versicherungsschutz nicht einfach gleichzusetzen mit den im Versicherungsfall zu erbringenden Leistungen. Was Gegenleistung des Versicherers ist, ist auch im Privatversicherungsrecht umstritten. 114 Dieser Streit, der hier nicht nachgezeichnet werden soll, wird beflügelt durch zivilrechtsdogmatische Konstruktionsprobleme. 115 Der Ansicht, die Gegenleistung des Versicherers sei nicht die durch Eintritt des Versicherungsfalls aufschiebend bedingte Zahlungspflicht, sondern die gegenwärtige, unbedingte Gefahrtragung, wird zugebilligt, die wirtschaftliche Funktion der Versicherung besser zu erfassen. 116 Kritisch wird dazu angemerkt, daß der Versicherer nicht die Gefahr übernimmt, sondern in Wirklichkeit den Versicherten Sicherheit verschafft, ihren Liquiditätsspielraum erhöht und ihre Risikobereitschaft steigert. 117 Die Geldleistung im Versicherungsfall dagegen ist bloße „Sekundärfunktion"; sie bewirkt, daß die Versicherten auch nach Realisierung der versicherten Gefahr über ihr einmal geschaffenes „Sicherheits-, Liquiditäts- und Innovationspotential" weiterhin ungeschmälert verfügen können.118 Auch in der Sozialversicherung ist die Risikoabsicherung die primäre Leistung der Versicherung. 119 Sie hat Vermögenswert, weil sie den Versicherten der Eigenvorsorge enthebt und Raum für anderweitige Dispositionen schafft. Insoweit verwirklicht sich schon durch den Versicherungsschutz das, sem erfaßten Lebensrisiken Vorsorge zu treffen. Von einer „Anwartschaft auf Versicherungsschutz" kann diesbezüglich aber nicht die Rede sein. 113 H.-P. Schwintowski, Die Rechtsnatur des Versicherungsvertrages, JZ 1996, 702, 702f. 114 Dazu zusammenfassend M. Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, 1991, S. 84 ff. - Dem Streit wird praktische Relevanz abgesprochen. Sein Motor war die Frage, ob der Versicherungsvertrag den §§ 320ff. BGB unterstellt werden kann. Diese Frage hat durch die Neufassung des § 40 VVG an Bedeutung verloren (J. Pro Iss, in: Prölss/Martin, VVG, § 1 Anm.2 Ala). 1,5 Siehe dazu nur H.-P. Schwintowski, JZ 1996,702, 702 f. 116 M. Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, S.92. 117 H.-P. Schwintowski, JZ 1996, 702, 703. - Schwintkowski hat dabei mit dem zivilrechtsdogmatischen Problem zu tun, daß sich diese Schaffung von „Sicherheits-, Liquiditäts- und Innovationspotential" bei den Versicherten nicht als Leistung im Rechtssinne begreifen läßt. Er durchschlägt freilich den gordischen Knoten und spricht dem Versicherungsvertrag den Gegenseitigkeitscharakter ab. 118 H.-P. Schwintowski, JZ 1996, 702, 703. 119 Jedenfalls bei Risikoversicherungen ist Gegenstand des Versicherungsschutzes allein die Möglichkeit, bei Eintritt des versicherten Risikos die zugesagten Leistungen zu erhalten (F. Ruland, Grundprinzipien des Rentenversicherungsrechts, HDR, B.19 Rn. 16).

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worin das BVerfG die Funktion des Eigentums erblickt: der Versicherte erlangt einen „Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich". 120 Auch in der Sozialversicherung stehen „Sicherheit, Liquidität, Innovation" im Vordergrund - zwar nicht als marktfähiges Produkt, aber doch als Gegenstand einer staatlicherseits auferlegten Vorsorge. Damit sollte sich die Suche nach Vorwirkungen der Sozialleistungsansprüche erübrigen. Allerdings bleiben neben dem (primären) Versicherungsschutz die (sekundären) Sozialleistungsansprüche weiterhin des Eigentumsschutzes fähige Rechtspositionen.

b) Eigenleistungen In inzwischen ständiger Rechtsprechung will das BVerfG öffentlich-rechtlichen Positionen Eigentumsschutz nur leistungsabhängig zuerkennen und verlangt zur Ausgrenzung einseitig vom Staat eingeräumter Positionen das Vorliegen nicht unerheblicher Eigenleistungen.121 Probleme bereitet hier vor allem der Arbeitgeberbeitrag, den das BVerfG den eigentumsrelevanten Eigenleistungen des Arbeitnehmers zurechnet. 122 Offen bleibt dabei aber, was Grund dieser Zurechnung ist: Ob es sich beim Arbeitgeberbeitrag um einen Lohnbestandteil handelt und damit um eine echte Eigenleistung des Versicherten oder doch um eine Fremdleistung, die nur wie einen Eigenleistung zu behandeln ist, weil sie dem Arbeitnehmer endgültig zugute kommen soll. Die Natur des Arbeitgeberbeitrags ist umstritten; jedoch mehren sich die Stimmen, die ihn als versteckten Lohnbestandteil und damit als bloß formale Mitfinanzierung durch den Arbeitgeber ansehen.123 Einigkeit besteht darüber, daß der Arbeitgeber120

BVerfGE 50, 290, 339. BVerfGE 92, 365, 405; 72, 9, 18f.; 69, 272, 300; 53, 257, 292. - Soweit das BVerfG in diesem Zusammenhang die Erheblichkeit der Eigenleistung nach dem Grad der individuellen Äquivalenz beurteilen will (so BVerfGE 69, 272, 302 f. für das Rentenversicherungsrecht), so stößt dies auf Bedenken, auch wenn Umlagefinanzierung und Elemente des Solidarausgleichs nicht entgegenstehen sollen (siehe dazu BVerfGE 76,256,301). Denn nicht nur bei Risikoversicherungen sollte Globaläquivalenz genügen (so BVerfGE 76, 220, 236f.; 72,9, 19f. für die Arbeitslosenversicherung). Vielmehr geht es schon deshalb nicht an, Eigentumsschutz zu verweigern, wenn eine individuelle Äquivalenz nicht vorliegt, solange es allein die Versicherten sind, die - wie in der Krankenversicherung - die Sozialversicherung mit ihren Beiträgen finanzieren. Die Umverteilung unter den Versicherten ist ein sekundäres Problem, das den Versicherungsschutz nicht zur einseitigen staatlichen Gewährung macht. 122 BVerfGE 69, 272, 302. - S. a. BVerfGE 72, 9, 19. - In BVerfGE 70, 1, 31 spricht das BVerfG einfach von dem „sozialen Leistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung, das aus Beiträgen der Versicherten finanziert wird", was den Schluß zulassen könnte, daß es den Arbeitgeberbeitrag verfassungsrechtlich als vom Versicherten getragenen Beitragsbestandteil ansieht. 123 B. Schulin, Gedanken über die Rolle der Arbeitgeber bei der sozialen Sicherung der Arbeitnehmer, in: Festschrift für O. R. Kissel, 1994, S. 1055, 1073 ff.; ders., Rechtliche Grund121

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beitrag aus dem Arbeitsertrag des Arbeitnehmers geleistet wird und wirtschaftlich gesehen Teil der Arbeitskosten ist. 124 Die Aufteilung des Gesamtbeitrags auf Arbeitgeber und Versicherten ist eher buchungstechnischer Natur; in der Sache handelt es sich beim Arbeitgeberbeitrag um einen Lohnbestandteil. Von daher liegt es nahe, ihn auch rechtlich dem Arbeitseinkommen zuzurechnen. Dem ist allerdings früher weithin unangefochten entgegengehalten worden, wirtschaftlich möge der Arbeitgeberbeitrag Lohnbestandteil sein, „der rechtlichen Ordnung nach" sei er aber eine Schuld des Arbeitgebers. 125 Sicher trifft es zu, daß das Sozialversicherungsrecht den Arbeitgeberbeitrag nicht als Bestandteil des Arbeitsentgelts behandelt.126 Doch kann es für das Verfassungsrecht nicht maßgeblich auf die begriffliche Zuordnung durch das einfache Recht ankommen, sondern muß entscheidend die Funktion des Arbeitgeberbeitrags sein. Dieser war ursprünglich, bei Einführung der Sozialversicherung Ende des 19. Jahrhunderts, verteilungspolitisch motiviert und hat seinen verteilungspolitischen Zweck auch erfüllt. Der Arbeitgeberbeitrag ging zulasten des Unternehmensertrags und war somit aus dem Vermögen des Arbeitgebers zu entrichten. Diese Verteilungswirkung hat er aber längst verloren. 127 Er ist längst in den Lohnkosten aufgegangen und wird keineswegs aus den Unternehmensgewinnen finanziert. 128 Daß dem Arbeitgeberbeitrag gleichwohl noch immer Verteilungseffekte zugesprochen werden, wird denn auch als „Fiskalillusion" bezeichnet.129 Letztlich sind es allein die Arbeitnehmer, die wirtschaftlich gesehen die Beitragslast tragen. Der Arbeitgeberbeitrag ist ein Lohnbestandteil, dessen einzige Besonderheit darin besteht, daß er prinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Probleme, HS-KV, § 6 Rn. 90; F. Kirchhof,\ Das Solidarprinzip im Krankenversicherungsbeitrag, SDSRV35 (1992), 65,77 f.; ders., Grundlagen, HS-KV, §53 Rn.27; G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 300f.; F. Ruland, HDR, B.19 Rn. 32; D. Birk,, Rentenversicherung und Steuerrecht, HDR, B.13 Rn. 10; H. Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, 1973, S. 89. 124 So auch K.-J. Bieback, Der Grundsatz der hälftigen Beitragslast im Beitragsrecht der Sozialversicherung, VSSR 1997, 117, 136; J. Isensee, Empfiehlt es sich die Zuweisung von Risiken und Lasten im Sozialrecht neu zu ordnen?, 59.DJT 1992, Q53; ders., Der Sozialversicherungsbeitrag des Arbeitgebers in der Finanzordnung des Grundgesetzes, DRV 1980, 145, 149 f. 125 W. Bogs, in: Soziale Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, 1966, Tz. 144. 126 Anders aber das Steuerrecht - F. Kirchhof ; SDSRV35 (1992), 65, 75 und 78. 127 M. Groser, Der Arbeitgeberbeitrag - eine sozialpolitische Illusion?, Leviathan-Sonderheft 14/1994, S. 205, 207. 128 Aus ökonomischer Sicht wird davon ausgegangen, daß die Arbeitgeber die Beitragslast im Regelfall über die Preise auf die Verbraucher abwälzen können (SVR KAiG, Sachstandsbericht 1994, Tz. 534 - differenzierend M. Groser, Der Arbeitgeberbeitrag - eine sozialpolitische Illusion?, in: Riedmüller/Olk, Grenzen des Sozialversicherungsstaates, S.205, 209ff.). Die Arbeitgeber tragen nur, aber immerhin das Risiko der Abwälzbarkeit (K.-J. Bieback, VSSR 1997, 117, 136). - Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bezeichnet den Arbeitgeberbeitrag als Fiktion, weil die „Traglast" immer bei den Arbeitnehmern liegt, die entweder einen entsprechend niedrigeren Lohn oder ein höheres Arbeitsplatzrisiko hinnehmen müssen (Jahresgutachten 1996/97, BT-Drs. 13/6200, Tz. 439). »» SVR KAiG, Sachstandsbericht 1994, Tz. 534. 9 Wahl

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1. Teil: Grundlagen

nicht durch Arbeits- oder Tarifvertrag festgelegt ist. 130 Weil der Arbeitgeberbeitrag nur formal im Bruttolohn nicht enthalten, der Sache nach aber Teil des Arbeitseinkommens und der Arbeitskosten ist, sollte sich das Verfassungsrecht der sozialpolitischen Illusion des einfachen Rechts nicht länger hingeben und die Beitragszahlungen denen zurechnen, die sie wirtschaftlich tragen: den Arbeitnehmern. Der Grund für die Debatte um den Arbeitgeberbeitrag ist aber ohnehin weniger im Eigentumsschutz, als in an ihn anknüpfenden sozialrechtlichen Folgen zu erblicken, insbesondere in der Beteiligung der Arbeitgeber an der sozialen Selbstverwaltung. 131 Soweit es den Eigentumsschutz anbelangt, ist die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ohnehin nie der Fiskalillusion des einfachen Rechts gefolgt. 132

2. Umfang des Eigentumsschutzes Die Einbeziehung sozialversicherungsrechtlicher Positionen in die Eigentumsgarantie wird in erster Linie als Frage nach dem Schutz ihres Bestands verstanden. Im Hinblick auf diese klassische Fragestellung des Art. 14 GG wurde den „publizistischen Eigentumssurrogaten" schon früh wegen ihrer besonderen Sozialgebundenheit weitgehende Fruchtlosigkeit vorhergesagt. 133 Daran hat sich wenig geändert. 134 Freilich ist Bestandsschutz nur ein Aspekt des Eigentumsschutzes. Im folgenden soll daher auch der Frage nachgegangen werden, inwieweit Art. 141 GG Vorgaben 130

F. Kirchhof,\ HS-KV, § 53 Rn. 27. - Hierin gründet auch das Risiko der Abwälzbarkeit (s. o. Fn. 128). - Das BSG hat darin die Rechtfertigung der Beteiligung der Arbeitgeber an der Selbstverwaltung der Krankenkassen gesehen, daß jede Anhebung des Beitragssatzes durch die Krankenkassen zu einer Erhöhung der Personalzusatzkosten führt, „ohne daß dies durch staatliche Gesetzgebung oder Tarifvertrag legitimiert würde." (BSGE 78,70,81 f.). Freilich ist auch damit keine Umverteilung intendiert, denn der Beitragssatz orientiert sich am Leistungsaufkommen und schwankt mit dessen Veränderungen. 131 So deutlich J. Isensee, Die Rolle des Beitrags bei der rechtlichen Einordnung und Gewährleistung der sozialen Sicherung, in: Zacher, Die Rolle des Beitrags in der sozialen Sicherung, S.467, 469 und ders., DRV 1980, 145, 153. - Bezeichnenderweise wird von Arbeitgeberseite gegen die Abschaffung der hälftige Beitragsaufbringung eingewandt, die dahingehenden „überwiegend ökonomisch begründeten wissenschaftlichen Stellungnahmen" gingen nicht darauf ein, daß die Arbeitgeber mit dem Arbeitgeberbeitrag auch die „Legitimation zur Mitsprache in der Sozialpolitik" verlieren würden (Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Sozialstaat vor dem Umbau, 1994, S. 13). 132 Das BVerfG hat denn auch die gesamten Beitragszahlungen und aus ihnen hervorgegangenen Leistungsansprüche den Arbeitnehmern zugerechnet (BVerfGE 72, 9, 19; 70,1, 31; 69, 272, 302). 133 M. Stolleis, Möglichkeit der Fortentwicklung des Rechts der Sozialen Sicherheit zwischen Anpassungszwang und Bestandsschutz, 55.DJT, 1984, Ν 41 f. - S. a. ders., Der Schutz des Vermögensrechts des Bürgers gegenüber dem Staat, SDSRV 23 (1982), S. 104, 116 und 122. 134 A. v. Brünneck, Eigentumsschutz der Renten - Eine Bilanz nach zehn Jahren, JZ 1990, 992 ff., insb. 996 und jüngst V. Neumann, Der Grundrechtsschutz von Sozialleistungen in Zeiten der Finanznot, NZS 1998,401 ff.

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für die Ausgestaltung krankenversicherungsrechtlicher Positionen zu entnehmen sind. Diese Fragestellung überschneidet sich zwar mit der nach dem Bestandsschutz, lenkt aber die Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Außerdem liegt es nahe, danach zu fragen, ob und wieweit Art. 14GG Maßstäbe für Organisation und Verfahren der Institution bereithält, der gegenüber der Eigentumsschutz Wirkungen entfaltet: der Sozialversicherung.

a) Bestandsschutz Geht man davon aus, daß Gegenstand des Eigentumsschutzes in erster Linie der gegenwärtige Versicherungsschutz ist, weil er den einzelnen von der Notwendigkeit anderweitiger Vorsorge enthebt, ihm so einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich sichert und dadurch die eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens ermöglicht, 135 dann kann der Bestandsschutz keine große Rolle spielen. Unterfällt der Eigentumsgarantie primär der gegenwärtige Versicherungsschutz und nur sekundär der im Versicherungsfall entstehende Sozialleistungsanspruch, dann genießt das Leistungsniveau nur eingeschränkt Eigentumsschutz. Nur soweit die Zusage von Leistungen konstituierend für die Risikoabsicherung ist, wird sie und werden mit ihr die Leistungen vom Eigentumsschutz erfaßt. Sach- und Dienstleistungen der sozialen Krankenversicherung verheißen aber nur gegenüber aktuellen Risiken Absicherung; mit ihnen wird nur zugesagt, daß der Versicherte aktuell für den Krankheitsfall keine Vorsorge treffen muß und auf eine Versorgung in dem krankenversicherungsrechtlich näher festgelegten Umfang rechnen kann. Wegen des starken Gegenwartsbezugs der Krankenversicherung 136 sind dem Gesetzgeber durch Art. 14GG keine sonderlich hohen Hürden errichtet. Daher ist ein Rückgriff auf die Maßstäbe, die das BVerfG für die Umgestaltung von sozialversicherungsrechtlichen Positionen entwickelt hat, in den meisten Fällen nicht erforderlich. 137 135

Vgl. BVerfGE 50, 290, 339. Einen Zukunftsbezug kann sie allenfalls insoweit haben, als eine (in Relation zum Risiko) in jüngeren Jahren höhere Beitragsbelastung als Rückstellung für das Alter begriffen wird. Eine solche zeitlich gestreckte Betrachtung würde inteigenerative Umverteilungseffekte relativieren. Sie stünde allerdings in einem Spannungsverhältnis zur Unterdrückung des Risikogedankens in der sozialen Krankenversicherung. Immerhin erscheint es denkbar, daran anknüpfend über den aktuellen Versicherungsschutz (und bereits entstandene Sozialleistungsansprüche) hinaus einen Rückstellungsteil als eigentumsgeschützt anzusehen. 137 Zu diesen Maßstäben siehe BVerfGE 90, 226, 236; 74, 203, 214; 53, 257, 292; 50, 290, 339 f. - Dabei billigt das BVerfG wegen des „ausgeprägten sozialen Bezugs" sozialversicherungsrechtlicher Positionen dem Gesetzgeber eine weite Gestaltungsfreiheit zu, insbesondere für Regelungen, die dazu dienen, die „Funktions- und Leistungsfähigkeit" des Sozialversicherungssystems „im Interesse aller zu erhalten, zu verbessern oder veränderten wirtschaftlichen Bedingungen anzupassen" (BVerfGE 74, 203, 214; 53, 257, 293). Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers verengt sich jedoch umso mehr, je größer der Anteil der dem Sozialleistungsanspruch zugrundeliegenden Eigenleistung ist, weil insoweit der personale Bezug des Anspruchs hervortrete (BVerfGE 53, 257, 293). Art. 14 GG schließt daher Anpassung und Umgestaltung 136

*

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1. Teil: Grundlagen

b) Ausgestaltung der Leistungen Angesichts dieser Vorordnungsschwäche der Eigentumsgarantie scheint es müßig, der Frage nachzugehen, welche Vorgaben sich ihr für die Ausgestaltung sozialversicherungsrechtlicher Positionen entnehmen lassen. Dies gilt umso mehr, als der Institutsgarantie, an die eine solche ins positive gewendete Fragestellung anknüpfen müßte, attestiert wird, in der Verfassungspraxis bisher keine Bedeutung erlangt zu haben.138 Den Kern des als Institut geschützten Eigentums macht die Privatnützigkeit der und die Verfügbarkeit über die Rechtsposition aus. Da es sich hierbei um Elemente des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs handelt, scheint gerade bei Vermögenswerten öffentlichen Rechten die Argumentation zirkulär zu werden: Wie soll der Gesetzgeber aus Art. 14GG verpflichtet sein können, eine Rechtsposition als privatnützige auszugestalten und mit Verfügungsbefugnis zu versehen, wenn er sich der Bindungen dieses Grundrechts dadurch entledigen kann, daß er der betreffenden Rechtsposition gerade diese Elemente vorenthält? Diese Frage ist in der Tat innerhalb der Eigentumsgarantie nicht zu lösen. Der Gesetzgeber kann nur aus anderen Grundrechten zur Einräumung einer eigentumsgeschützten Rechtsposition verpflichtet sein - etwa deshalb, weil er die Mittel nicht selbst aufbringt, sondern die Destinatäre des Versicherungsschutzes diesen selbstfinanzieren läßt. Ist der Gesetzgeber aber dazu verpflichtet, eine Rechtsposition als Eigentum im Sinne des Art. 14GG auszugestalten, so hat er sie so dem Inhaber zuzuordnen, daß sie in seiner Hand als Grundlage privater Initiative und eigenverantwortlichen privaten Interesses von Nutzen sein kann. 139 (1) Subjektstellung Die rechtliche Zuordnung scheint dabei noch am wenigsten Probleme zu bereiten. 140 In erster Linie muß die damit geforderte Subjektstellung hinsichtlich des (primären) Versicherungsschutzes bestehen. Weil aber auch die im Versicherungsfall entstehenden (sekundären) Ansprüche unter den Schutz des Art. 14 GG fallen, müssen auch diese in einer der Eigentumsgarantie genügenden Weise ausgestaltet sein. Freilich kann die Subjektstellung des Inhabers durch Ermessen oder sonstige Entder Sozialversicherung nicht aus, läßt es aber nicht zu, daß dabei allein auf das System als Ganzes geblickt wird und die individuelle Position der Versicherten außer Betracht bleibt (BVerfGE 53, 257, 294). 138 J. Wieland, in: Dreier, GG, 1996, Art. 14 Rn. 117. 139 Vgl. BVerfGE 50, 290, 339. 140 BSGE 73,146,149 hat Art. 31 mit Art. 1412 GG das Gebot einer „willkürfreien und angemessenen Differenzierung bei der Zuordnung subjektiver, vermögenswerter, auf beträchtlichen Eigenleistungen... beruhender und der Existenzsicherung dienender Rechte" entnommen und dieses Gebot bei § 531 SGB V a. F. nicht für verletzt gehalten, der den Kreis der Anspruchsberechtigten nur „in Andeutungen" umschrieb, dabei allerdings noch die „Mindestvoraussetzungen" erkennen ließ, die die Grenze der Anspruchsberechtigten zu den übrigen Versicherten markierte.

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scheidungsspielräume des Versicherungsträgers kontaminiert sein. So wie Ermessensleistungen Eigentumsschutz nicht zuerkannt wird, genügt umgekehrt der Gesetzgeber einer Pflicht zur Ausgestaltung von Rechtspositionen als Eigentum nicht, wenn er dem Leistungsträger Ermessen einräumt. Indes heißt dies nicht, daß die Leistungsträger keinerlei Spielräume bei der Erfüllung von Sozialleistungsansprüchen besitzen dürfen. Gerade Ansprüche auf Dienstleistungen sind notwendig von einer konkretisierungsbedürftigen Offenheit geprägt. Bei ihnen stellt sich dann aber die Frage nach funktionalen Äquivalenten. Jedenfalls ist die Subjektstellung bei der Konkretisierung des Anspruchs zu wahren.

(2) Verfahrensmäßige und organisatorische Vorkehrungen Die Verwirklichung von Grundrechtsschutz durch Verfahren ist vom BVerfG gerade im Hinblick auf die Eigentumsgarantie entwickelt worden. 141 Der Schutz sozialversicherungsrechtlicher Positionen durch Organisation und Verfahren ist bisher jedoch nicht entfaltet worden. 142 Wohl findet sich die Ansicht, Art. 14 GG gewährleiste mit dem „Schutz erworbener Sicherheitsanwartschaften auch ein Mitentscheidungsrecht über die gesetzmäßige Verwaltung dieser Anwartschaften", 143 und die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung lasse sich als „organisatorische Technik zum Schutz der Anwartschaften" deuten,144 systematisch wird dies aber nicht entwickelt. Die Offenheit der (sekundären) Leistungsansprüche verlangt nach verfahrensmäßigen Sicherungen. Der Versicherte muß bei der Anspruchskonkretisierung seine Interessen effektiv vertreten und durchsetzen können. Gerade weil der Anspruch auf medizinische Leistungen nicht abschließend gesetzlich bestimmt ist, ist dem Versicherten auf der Leistungsebene eine Subjektstellung einzuräumen, die auch gegenüber dem Vertragsarzt Bestand haben muß. Freilich hat die Leistungserbringung auch eine organisatorische Dimension; durch die Bereithaltung und Ausgestaltung eines Versorgungssystems wird gleichzeitig der im Einzelfall entstehende individuelle Anspruch des Versicherten vorgezeichnet. Es werden hier Elemente der Anspruchskonkretisierung vorweggenommen, die die Frage aufwerfen, wie ihr, der organisatorischen Vorwegnahme, gegenüber, die aus Art. 14GG geschützten Interessen des Versicherten gewahrt werden. 141

Vgl. BVerfGE 53, 30, 65. Auch nicht in BVerfGE 74,203, obwohl es dort um Meldepflichten von Leistungsberechtigten ging. 143 F. Hufen, Soziale Selbstverwaltung im demokratischen Rechtsstaat, SDSRV 34 (1991), S.43, 54. 144 J. Isensee, Privatautonomie der Individualversicherung und soziale Selbstverwaltung, 1980, S.24. 142

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1. Teil: Grundlagen

Diese Frage stellt sich noch mehr beim (primären) Versicherungsschutz. Auch hier besteht ein grundrechtlich gestütztes Interesse nach organisatorischer und verfahrensmäßiger Absicherung. Wenn die Versicherungsbedingungen offen sind und ein Ausscheiden aus einem System nicht möglich ist, das einheitliche Bedingungen aufweist, wenn also der einzelne keine (etwa marktmäßig zur Verfügung gestellten) Wahlmöglichkeiten hat, durch die er sich seinen Freiheitsraum gestalten und sichern kann, sondern auf ein von der Sozialversicherung gestaltetes System verwiesen ist, dann ist dem einzelnen zur Sicherung der privatnützigen Zuordnung ein Mitentscheidungsrecht bei der Organisation des Risikoausgleichs einzuräumen. Dabei kann die Zuerkennung des Mitgliedschaftsstatus allein nicht genügen. Vielmehr ist der Versicherte in die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse angemessen einzubinden. Präzisere Vorgaben lassen sich der Eigentumsgarantie kaum entnehmen. Entscheidend ist natürlich, wie weit der Gesetzgeber die Ausgestaltung des Versicherungsschutzes überhaupt noch den Versicherungsträgern überlassen hat.

IV. Beitragszahlerinteressen Das Beitragszahlerinteresse zielt nicht einfach auf niedrige Beiträge. Soweit es sich nicht überhaupt gegen die Beitragspflicht richtet,145 liegt ihm an einer optimalen Relation von Beitrag und Leistung. Dies kann daran anknüpfen, daß im Sozialversicherungsrecht der Beitragszahler nicht etwa „enteignet", sondern nur zwangsweise einer bestimmten Form der Konsumtion von Vermögenswerten unterworfen wird. Gebrochen wird seine Freiheit, über sein Vermögen frei disponieren zu können; die betroffenen Vermögenswerte bleiben jedoch im Grundsatz weiterhin in seinem Vermögen. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob der Beitragszahler einen angemessenen Gegenwert für seine Beiträge erhält. Grundrechtlich werden derartige Fragen nach der Äquivalenz von Abgaben im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes erörtert. Obschon die Beitragszahlerinteressen deutlicher als die Versicherteninteressen ökonomisch fundiert sind, werden diese doch verfassungsrechtlich im Grundsatz keinem der spezifisch ökonomischen Freiheitsrechte des GG zugeordnet. Nach der Rechtsprechung des BVerfG tangiert die Abgabenbelastung grundsätzlich weder die Berufsfreiheit noch die Eigentumsgarantie: Art. 14 GG sei nicht einschlägig, weil Beitragspflichten kein bestimmtes vermögenswertes Recht, sondern nur das vom Eigentumsschutz nicht erfaßte Vermögen betreffen, 146 und Art. 121 GG komme 145 Die 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG hat unlängst in einem Nichtannahmebeschluß ausgesprochen, die Zurückführung der Sozialversicherungsbeiträge gebe den Pflichtversicherten ein Stück Dispositionsfreiheit über ihr Einkommen zurück und könne deshalb möglicherweise verfassungsrechtlich geboten sein (BVerfG, NJW 1997, 2444, 2446). 146 BVerfGE 10, 354, 371; 75, 108, 154.-Es entspricht ständiger Rechtsprechung des BVerfG, daß Art. 14 GG nicht das Vermögen als solches gegen die Auferlegung von Geldleistungspflichten schützt (BVerfGE 4, 7, 17; 10, 89, 116; 14, 221, 241; 23, 288, 314f.; 75, 108,

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ebenfalls nicht in Betracht, weil (und solange) die Abgabenbelastung nicht die berufliche Tätigkeit als solche beschränke.147

1. Gleichheitssatz als Maßstab Die Rechtsprechung des BVerfG ist seit einigen Jahren um eine striktere Fassung des allgemeinen Gleichheitssatzes bemüht.148 Die von ihm seit seinem ersten Urteil 149 verwandte Formel, der Gleichheitssatz verbiete, wesentlich Gleiches ungleich, und gebiete, wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln, und das darauf aufbauende Verständnis des allgemeinen Gleichheitssatzes als Willkürverbot wird nicht mehr für ausreichend gehalten. In Abgrenzung dazu ist die sog. „neue Formel" entwickelt worden, nach der es gegen den Gleichheitsgrundsatz verstößt, eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obschon zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede solcher Art und von solchem Gewicht bestehen, daß diese eine ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.150 Damit soll, wie das BVerfG verschiedentlich ausgesprochen hat, ein Ansatz für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung innerhalb des Gleichheitssatzes geschaffen werden. Freilich soll diese nicht einfach die Willkürkontrolle ersetzen. Vielmehr geht das BVerfG davon aus, daß sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber ergeben, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. 151 Dabei sollen dem Gesetzgeber umso engere Grenzen gezogen sein, je stärker sich die Ungleichbehandlung auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken

154; 78,232,243; 81,108,122; 91,207,220; BVerfG NJW 1997,1975). Abgeschwächt wurde diese kategorische Ablehnung durch die „salvatorische Klausel" (J. Wieland, in: Dreier, GG, Art. 14 Rn.45), Geldleistungspflichten mit erdrosselnder, konfiskatorischer Wirkung könnten gegen die Eigentumsgarantie verstoßen (siehe nur BVerfGE 63, 343, 368). Im Vermögensteuerbeschluß hat der 2. Senat abweichend von der ständigen Rechtsprechung beider Senate die Eigentumsgarantie als verfassungsrechtlichen Maßstab der Steuergesetzgebung herangezogen und darauf ein grundsätzlich neues Konzept aufgebaut (BVerfGE 93,121,137). In der Literatur wurde denn auch von einer „Steuer- und Eigentumswende" gesprochen (W. Leisner, Steuerund Eigentumswende - die Einheitswert-Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, 2591 ff.). Unverkennbar gegen den Vermögensteuerbeschluß gerichtet, hat der 1. Senat in der LPG-Altschuldenentscheidung betont an der ständigen Rechtsprechung festgehalten (BVerfG NJW 1997, 1975). 147 BVerfGE 75, 108,153f.; 10, 354, 362f. 148 Dazu näher K. Hesse, Der allgemeine Gleichheitssatz in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtsetzungsgleichheit, in: Festschrift für P. Lerche, 1993, S. 121 ff.; L. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 13 ff. 149 BVerfGE 1,14, 52. 150 Erstmals BVerfGE 55, 72, 88. BVerfGE 93, 99,111; 92, 365,407; 89, 365, 375.

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1. Teil: Grundlagen

kann. 1 5 2 Intensität und Tragweite der Ungleichbehandlung sollen sich also in einer Abstufung der Anforderungen widerspiegeln. Daran knüpft in gewisser Weise der andere, ebenfalls in der Rechtsprechung des BVerfG anzutreffende Ansatz einer positiven Umformulierung des Willkürverbots an. 1 5 3 Nach diesem Ansatz erfährt der Gleichheitssatz dadurch eine Präzisierung, daß sich die sachliche Vertretbarkeit von Differenzierungen nur in bezug auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs feststellen läßt. 1 5 4 Der Gleichheitssatz verlange daher, daß für eine Ungleichbehandlung in bezug auf den konkreten Sachbereich ein vernünftiger, einleuchtender Grund besteht. 155 Die damit geforderte bereichsspezifische Ausdifferenzierung des Gleichheitssatzes ist nichts völlig Neues. Sie bleibt daher blasser und unspektakulärer als die „neue Formel", die sich von dem traditionellen Verständnis gerade dadurch hervorhebt, daß sie in die Gleichheitsprüfung eine Abwägung hineinbringt, die an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gemahnt. 1 5 6 Ob diese aber strukturell einer Verhältnismäßigkeitsprüfung entspricht wird mit guten Gründen bezweifelt. 1 5 7 Überhaupt stellt sich die Frage, ob es nicht Vorzugs würdig ist, die 152 BVerfGE 88,87,96; 82,126,146; 74,9,24. - Danebenfindet sich auch eine Abstufung der Anforderungen nach der Personen- oder Sachverhaltsbezogenheit der Differenzierungsmerkmale (siehe nur BVerfG NJW 1997, 2101), die an die ältere Unterscheidung zwischen sachlicher und persönlicher Rechtsgleichheit anknüpft (dazu nähert. Hesse, in: Festschrift für P. Lerche, S. 121, 124 und 128f.). 153 Siehe BVerfGE 90, 145, 195 f.; 90, 226, 239. - Dazu Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn.439 Fn. 88. 154 BVerfGE 93, 319, 348f.; 79, 223, 236. 155 BVerfGE 93, 319, 349; 90, 145, 196; 90, 226, 239. 156 Für eine Gleichsetzung mit der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat sich zuerst der Richter Katzenstein in einer abweichenden Meinung ausgesprochen (BVerfGE 74, 9, 30); inzwischen spricht auch das Gericht selbst davon (BVerfGE 93, 99, 111; 92, 365, 407; 89, 365, 375). 157 Dagegen hat Huster daran erinnert, daß Verhältnismäßigkeit und Gleichheit im Grundsatz völlig verschiedene Strukturen aufweisen: Während das Verhältnismäßigkeitsprinzip auf Rechtsgüterkonflikte bezogen sei, gehe es dem Gleichheitssatz um den Vollzug von Gerechtigkeitsmaßstäben. Allerdings könnten sich in der Ungleichbehandlung auch Rechtsgüterkonflikte ausdrücken. Es müsse daher nach den verfolgten Zwecken differenziert werden: Ob mit der Ungleichbehandlung nur der jeweilige Gerechtigkeitsmaßstab umgesetzt oder ob dieser mit Rücksicht auf exteme Zwecke durchbrochen werden solle, ob mit ihr also „interne" oder „externe" Zwecke verfolgt werden. Welche Gerechtigkeitsmaßstäbe der Gesetzgeber wählen, welche „internen" Zwecke er verfolgen dürfe, unterliege nur den Schranken des Willkürverbots. Verfolge er aber „externe" Zwecke, sei dagegen eine Verhältnismäßigkeitsprüfung geboten (S. Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541ff.). - Fraglich erscheint allerdings, ob der Gerechtigkeitsmaßstab, die Scharnierstelle dieser Konzeption, auch die ihm zugeschriebene Funktion erfüllen kann: Huster überläßt es dem Gesetzgeber zu bestimmen, was Gerechtigkeit ist, und unterwirft ihn bei der Verfolgung seiner Gerechtigkeitsvorstellungen nur einem um ein Konsequenzgebot angereichertem Willkürverbot. Interessant wird seine Konzeption erst, wo „interne" von „externen" Zwecke unterschieden und daran Folgerungen geknüpft werden. Für die Unterscheidung zwischen beidem kommt es auf die Gerechtigkeitsmaßstäbe an, die der Gesetzgeber gesetzt hat. Hier tauchen aber zwei praktische Probleme auf: Erstens ist ihre Identifizierung keineswegs immer einfach. Zweitens kommt es nicht selten vor, daß das Gesetz verschiedene Zwecke verfolgt, die gegenseitig zum Ausgleich zu bringen sind.

§ 2 Interessenlagen

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Gleichheitsbindung umso strikter zu fassen, je „mehr eine Ungleichbehandlung Grundvoraussetzungen menschlicher Existenz und Betätigung verkürzt". 158

2. Belastungsgleichheit und Äquivalenzgebot Im Abgabenrecht hat das BVerfG dem Gleichheitssatz durch eine bereichsspezifische Ausdifferenzierung längst mehr Stringenz verschafft. 159 Für den Bereich des Steuerrechts wurde aus dem Gedanken der Belastungsgleichheit das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit entwickelt, für den Bereich des Gebühren- und Beitragsrechts der Gedanke der Äquivalenz, des kosten- oder vorteilsorientierten Ausgleichs von Lasten. Daß Äquivalenz ein Gleichheitsproblem darstellt, ist indes nicht unproblematisch, werden doch hier nicht (horizontal) Sachverhalte, sondern (vertikal) Zweck und Mittel verglichen. Weil aber bei der Gebühren- und Beitragserhebung nicht alle Inländer zur Tragung öffentlicher Lasten herangezogen werden, stellen diese Sonderformen der Abgabenerhebung ein Gleichheitsproblem dar und bedürfen einer besonderen Rechtfertigung. 160 Unter diesen Sonderformen lassen sich die Vorzugslasten, die durch ihre kosten- oder vorteilsorientierte Ausgleichsfunktion legitimiert werden, und die Sonderabgaben, die die Angehörigen einer bestimmten Gruppe besonders belasten, ohne ihnen eine Gegenleistung zu gewähren, von den Sozialbeiträgen abgrenzen, die auf einem besonderen Kompetenztitel beruhen, der auf die Finanzierung einer Sachaufgabe bezogen ist. 161 Wenn das BVerfG die Sozialversicherungsbeiträge für „unbedenklich" hält, weil sie auf einem Kompetenztitel beruhen, der bereits „aus sich heraus" auf die Finanzierung einer Sachaufgabe bezogen ist, 162 so könnte dies zu der Annahme verleiten, Je mehr Gerechtigkeitsmaßstäbe gleichzeitig verfolgt werden, je mehr Zwecke internalisiert werden, desto mehr wird die Gleichheitsprüfung auf ein bloßes Willkürverbot zurückgenommen. Weil es aber Sache des Gesetzgebers ist, die Gerechtigkeitsmaßstäbe auszuwählen, gewinnt er umso mehr Gestaltungsfreiheit je mehr Zwecke er gleichzeitig verfolgt. Will man dies verhindern, so erlangt die Bewertung der Gerechtigkeitsmaßstäbe eine entscheidende Bedeutung. Dies führt dann aber dazu, daß die Ergebnisse doch nicht so streng formalisierbar sind, wie es diese Konzeption zunächst erscheinen läßt. 158 K. Hesse, in: Festschrift für P. Lerche, S. 121, 131. 159 Zusammenfassend BVerfGE 93, 319, 342ff. 160 BVerfGE 93,319, 343. 161 Zusammenfassend BVerfGE 93, 319, 343 f. mwN. - Neben diesen drei Abgabentypen kennt das BVerfG auch noch die Residualkategorie der „sonstigen atypischen Abgaben" (BVerfGE 93,319,344; 92,91,114). - Viel Aufmerksamkeit haben die Sonderabgaben gefunden; das BVerfG stellt an sie wegen ihrer Ähnlichkeit mit Steuern strenge Anforderungen (näher dazu BVerfGE 93, 319, 342ff.; 92, 91, 113ff.; 91, 186, 201 ff.). - Sozialversicherungsbeiträge werden ausdrücklich nicht zu den Sonderabgaben gezählt (BVerfGE 75,108,147 f.). Bemerkenswerterweise hat aber BVerfGE 92, 91, 114 die Künstlersozialversicherung den „sonstigen atypischen Abgaben" zugeordnet. 162 BVerfGE 93,319, 344.

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1. Teil: Grundlagen

es handle sich hierbei um einen Abgabentyp eigener Art, der auch gegenüber den Grundrechten seine Rechtfertigung in sich trägt. 163 Eine Freizeichnung von allen grundrechtlichen Bindungen kann jedoch nicht angehen. Die Offenheit des „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffs" der Sozialversicherung, 164 von der das BVerfG ausgeht, mag aus kompetenzrechtlicher Sicht vorzugswürdig erscheinen, weil sie die Einbeziehung neuer Lebenssachverhalte in die Sozialversicherung ermöglicht. Doch wird man dann nicht einfach die grundrechtlichen Anforderungen an die Sozialversicherung damit kurzschließen können. Nicht alles, was unter den Kompetenztitel Sozialversicherung fällt, nicht schon jeder beitragsfinanzierte Ausgleich sozialer Bedarfe ist in jeder Hinsicht vor den Grundrechten gerechtfertigt. Trägt der Sozialversicherungsbeitrag folglich seine verfassungsrechtliche Rechtfertigung nicht schon in sich, so ist diese in der Gegenleistung zu suchen, die die Sozialversicherung auf die Beitragsleistung hin erbringt. Der Blick auf die Gegenleistungsstruktur der Sozialversicherung wurde allerdings durch zweierlei getrübt: - Zum einen durch den Arbeitgeberbeitrag, der in der Krankenversicherung als fremdnützige Abgabe erscheint, da nur der Versicherte, nicht aber der Arbeitgeber Versicherungsschutz erlangt. Gerechtfertigt wurde er mit dem Fürsoigegedanken.165 Dies hat aber dazu geführt, den Sozialversicherungsbeitrag vom Äquivalenzgedanken wegzurücken. Freilich ist schon die Grundannahme unzutreffend, daß der Arbeitgeber einen Teil der Beitragslast trägt; hier schlägt in der verfassungsrechtlichen Debatte eine sozialpolitische Illusion durch, der sich der Sozialgesetzgeber noch immer hingibt. 166 - Zum andern durch Elemente des Solidarausgleichs, die Folge der nach Leistungsfähigkeit und nicht nach Risikoäquivalenz erfolgenden Beitragserhebung im Recht der sozialen Krankenversicherung sind. Darin ist freilich nur dann eine Umverteilung zu sehen, wenn der individuelle Vorteil maßgeblich und dieser je nach (Erkrankungs-) Risiko unterschiedlich groß ist. Andernfalls könnte man das Gebot der Belastungsgleichheit gerade dadurch gewahrt sehen, daß die Beitragspflichtigen allein nach ihrer individuellen Leistungsfähigkeit und damit relativ gleichmäßig herangezogen werden. Gerade weil die Beitragspflicht immer eine Durchbrechung der Belastungsgleichheit ist, da nicht alle Bürger dieser Sonderbelastung unterworfen werden, 163 So ging etwa das BSG jüngst davon aus, gesetzliche Regelungen, die sich „sachlich-gegenständlich im Kompetenzbereich des Art. 741 Nr. 12 GG bewegen", seien nicht nur kompetenzrechtlich, sondern auch grundrechtlich unbedenklich (BSGE 78, 201, 204f.). 164 Zu deren wesentlichen Strukturmerkmalen zählt das BVerfG „die gemeinsame Deckung eines möglichen, in seiner Gesamtheit schätzbaren Bedarfs durch Verteilung auf eine organisierte Vielheit", nicht jedoch die Beschränkung auf Arbeitnehmer und auf eine Notlage, vielmehr genüge ein „soziales Bedürfnis nach Ausgleich besonderer Lasten" (BVerfGE 88, 203, 313; 75, 108,146). 165 J. Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, 1973, S. 19 mit Fn.6. 166 Siehe dazu oben § 2 III 1 b.

§ 2 Interessenlagen

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kann sie nur aus dem Vorteil gerechtfertigt werden, den der Beitragspflichtige für seine Beiträge erhält. 167 Auch das BVerfG spricht inzwischen in bezug auf Sozialversicherungsbeiträge von Äquivalenz:168 Dem Versicherungsprinzip, das durch eine „im Grundsatz" bestehende Äquivalenz von Beitrag und Leistung gekennzeichnet sei, entspreche es, bei gleichem Beitrag und gleichem Bedarf gleiche Leistungen zu erhalten. 169 Neben dem Versicherungsprinzip stehe aber das Prinzip sozialer Fürsorge 170 oder sozialer Gerechtigkeit 171, das Abweichungen von der Äquivalenz zulasse. Dabei wird soziale Gerechtigkeit als intern wirkendes Prinzip verstanden und mit dem Gedanken der Solidarität gleichgesetzt.172 Das Solidarprinzip rechtfertigt eine Beitragsbemessung nach Leistungsfähigkeit bei gleichzeitiger Ausrichtung der Leistungen am Bedarf. 173 Freilich ist das Verhältnis von Versicherungs- und Solidarprinzip noch wenig herausgearbeitet. Vor allem entspricht Individualäquivalenz gar nicht so sehr dem Grundgedanken der Versicherung, wie dies zunächst erscheint. Individualäquivalenz im Sinne einer wertmäßigen Entsprechung von Beiträgen und Leistungen ist bei Risikoversicherungen ausgeschlossen.174 Denn dies würde bedeuten, daß der Versicherte das versicherte Risiko voll vorfinanzieren müßte; dann aber brauchte er überhaupt keinen Versicherungsschutz, sondern würde die Vorsorge selbst durch individuelles Sparen treffen. 175 Auch zur technischen Durchführung der Versicherung ist Individualäquivalenz nicht erforderlich. Denn der von dieser zu organisierende Risikoausgleich setzt kein bestimmtes wertmäßiges Verhältnis zwischen den einzelnen Beiträgen und den einzelnen Leistungen voraus, sondern nur die Deckung der Gesamtheit der Leistungen durch die Gesamtheit der Beiträge. 176 Es genügt also eine globale Äquivalenz. Die in der Privatversicherung dominierende Individualäquivalenz ist denn auch nicht ein zur Durchführung der Versicherung unerläßliches Organisationsprinzip, sondern nur ein intern wirkendes Verteilungsprinzip. Die Ver167

F.Rulandy HDR, B.19 Rn. 61; F. Kirchhof\ Finanzierung der Sozialversicherung, HStRIV, §93 Rn. 17. 168 So BVerfGE 69,272, 302f.; 76,256, 301 für die Rentenversicherung; BVerfGE 76,220, 236f.; 72,9,19f. für die Arbeitslosenversicherung; BVerfGE 92,53,71 f. für die Krankenversicherung. 169 BVerfGE 90, 226, 239f.; 79, 87, 101. - Bei Geldleistungen spricht das BVerfG inzwischen sogar von einer von Art. 31 GG gebotenen „vollen Äquivalenz" zwischen Beitrag und Leistungen, die allerdings nicht im Sinne „versicherungsmathematischer Äquivalenz" zu verstehen sei und Abweichungen bei „hinreichendem sachlichem Grund" zulasse (so BVerfGE 92, 53, 71 zum Krankengeld - anders noch BVerfGE 90, 226, 240 für das Arbeitslosengeld). 170 BVerfGE 79, 87,101. 171 BVerfGE 79, 223, 236. 172 Vgl. BVerfGE 79, 223, 236. 173 BVerfGE 89, 365, 378; 79, 223, 236f. 174 J. Denck, BB 1987, 1597, 1599. 175 So schon W. Bogs, Zur Rechtsnatur der Versorgungseinrichtungen freier Berufe, in: Festschrift für J. Krohn, 1954, S. 35,40. 176 Denck,, BB 1987, 1597, 1599.

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1. Teil: Grundlagen

teilung der Beitragslast unter die Versicherten ist sekundär gegenüber der Globaläquivalenz, die jede Versicherung aufweisen muß. Individualäquivalenz ist keineswegs versicherungsimmanent; vielmehr handelt es sich dabei um einen internen Maßstab der Lastenverteilung. 177 An welchen Gerechtigkeitsvorstellungen sich diese zu orientieren hat, ergibt sich nicht bereits aus dem Versicherungsgedanken. In der Privatversicherung hat sich die versicherungstechnisch nicht gebotene risikoäquivalente Festlegung der Beitragshöhe denn auch aus Wettbewerbsgründen durchgesetzt.178 In ihr kann insoweit eine wertmäßige Entsprechung gesehen werden, als der Versicherungsschutz für die Versicherten je nach individuellem Risiko einen unterschiedlichen wirtschaftlichen Wert hat. Vollständig durchführbar ist sie allerdings nicht, vielmehr wird sie in der Praxis durch die Bildung von Risikogruppen ersetzt, innerhalb derer dann - folgt man dem individualistischen Ansatz - auch in der Privatversicherung Umverteilung stattfindet. Bei der Suche nach Gerechtigkeitsmaßstäben für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen empfiehlt es sich, zwischen externen und internen Verteilungswirkungen zu unterscheiden: (1) Externe Effekte Unzulässig ist auf jeden Fall, weil mit keinem internen Gerechtigkeitsmaßstab begründbar, eine Beitragserhebung zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs des Staates.179 Nicht allein aus kompetenzrechtlichen Gründen ist es dem Gesetzgeber verwehrt, sich der Sozialversicherung zu bedienen, um dadurch allgemeine Staatsaufgaben zu finanzieren. 180 Auch grundrechtlich läge darin eine nicht zu rechtfertigende Durchbrechung des Grundsatzes der Belastungsgleichheit. Freilich stellt sich dann die Frage nach der Abgrenzung der Aufgaben des Staates von denen der Sozialversicherung. Einer Sichtweise, die in der Sozialversicherung den »„verlängerten Arm' des Staates" sieht, der nicht die Interessen der Versicherten wahrnimmt, sondern eine sozialstaatliche Aufgabe im Interesse der Allgemeinheit durchführt, 181 und die Versicherungsträger als „dem Staat eingegliederte Körperschaften" begreift, „die Aufgaben in mittelbarer Staatsverwaltung wahrnehmen", eine „detaillierte Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe" vollziehen,182 dürfte diese Abgrenzung schwer fallen. Worin die spezifischen Aufgaben der Sozialversicherung bestehen, läßt sich allerdings ansatzwei177

Siehe nur R. Eisen, „Versicherungsprinzip" und Umverteilung, in: Rolf/Spahn/Wagner, Sozialvertrag und Sicherung, 1988, S. 117ff., insb. S. 123f. 178 W. Müller, Das Versicherungsprinzip, in: Rolf/Spahn/Wagner, Sozialvertrag und Sicherung, 1988, S. 129, 134ff. 179 F. Ruland, HDR, B.19 Rn.63; F. Kirchhof, HStRIV, § 93 Rn. 20. 180 BVerfGE 75, 108, 145. 181 BVerfGE 21, 362, 378. 182 BVerfGE 39, 302, 313.

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se den Strukturmerkmalen des „verfassungsrechtlichen Gattungsbegriffs" entnehmen: Es geht immer um soziale Bedarfe und ihren organisierten, beitragsfinanzierten Ausgleich. 183 Auch wenn sich daraus noch nicht ergibt, wie der Personenkreis abzugrenzen ist, der in die Sozialversicherung einbezogen werden kann, 184 so läßt sich doch sagen, daß so nur ein sozialer Ausgleich unter den an der Sozialversicherung Beteiligten gerechtfertigt werden kann. Die Verfolgung weiterer Ziele - seien sie auch sozialpolitisch motiviert - ist nicht zulässig. Eine Umverteilung zugunsten Dritter läßt sich nicht rechtfertigen. Sozialversicherung darf insbesondere nicht zur allgemeinen Wirtschaftsförderung, zur Mittelstands- oder Industrieförderung eingesetzt werden. Die Abgrenzung ist freilich nicht trennscharf. So fragt sich etwa, ob die Bereithaltung einer bestimmten Versorgungsinfrastruktur nicht - zumal dann wenn sich der Staat diesbezüglich Planungskompetenzen vorbehält - vorrangig im Allgemeininteresse steht.185 Nur zum Teil zu diesen externen Effekten zählen die „versicherungsfremden Leistungen", 186 weil sie auch - ja schwerpunktmäßig - an Beteiligte und nicht an Dritte erbracht werden. Bei ihnen stellt sich in erster Linie die Frage nach dem zulässigen internen Maßstab. (2) Interne Effekte Art. 31 GG steht unter keinem allgemeinen sozialen Vorbehalt, der jede Umverteilung rechtfertigen würde. Art. 31 GG schließt aber auch nicht jede Umverteilung aus. Dementsprechend sieht das BVerfG im Gedanken des sozialen Ausgleichs ein Strukturelement der Sozialversicherung 187 und geht zugleich davon aus, daß der Solidaritätsgedanke nicht jede sozialpolitisch motivierte Regelung zu rechtfertigen vermag. 188 Wohl läßt sich sagen, daß das Solidarprinzip nicht zu unbegrenztem Ausgleich und unbegrenzten Transfers führen darf. 189 Doch sind damit nur äußerte Grenzen aufgezeigt, aber keine konkreten Maßstäbe bezeichnet. 183

BVerfGE 88, 203, 313; 75,108,146. Siehe dazu BVerfGE 75,108,157. - Gruppenhomogenität verlangen dagegen J. Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 18f., 49ff.; W.Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S.88ff. 185 Denn die Kapazitäten kommen auch denen zugute, „die nur potentielle, aber keine aktuellen Nutzer sind" (J. Wasem, Gesundheitsökonomie und Versicherung, ZVersWiss 82 [1993], 123, 135). 186 Siehe dazu F. Ruland, Versicherungsfremde Leistungen in der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1995, 28 ff.; B. Behrends! J. Brunkhorst, Fremdlasten und Beitragssatzunterschiede in der gesetzlichen Krankenversicherung ausfinanzverfassungsrechtlicher Sicht, SGb 1987, 226ff. - Kritisch K.-J. Bieback, Der Umbau der Arbeitsförderung, KritJ 30 (1997), 15, 27. 187 BVerfGE 79,87,101 ; 59,36,49 f. - Das BVerfG hat hier noch vom „Prinzip sozialer Fürsorge" bzw. vom „fürsorgerischen Prinzip des sozialen Ausgleichs" gesprochen. 188 BVerfGE 79, 87, 101 f. - S. a. aaO S. 98. 189 F. Kirchhof, HStRIV, § 93 Rn. 20. 184

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1. Teil: Grundlagen

Wieweit sozialer Ausgleich sich noch im Rahmen zulässiger Solidarität bewegt, läßt sich aus der Verfassung schwer ablesen. Die Suche nach natürlichen Solidargemeinschaften, nach homogenen Bevölkerungsgruppen, innerhalb derer ein versicherungsmäßiger und sozial geordneter Ausgleich bestimmter Lebensrisiken durchgeführt wird, ist wenig hilfreich. 190 Das Sozialversicherungsrecht baut nicht auf der natürlichen Solidarität kleiner Gruppen auf; es faßt Personen erst zu Solidargemeinschaften zusammen.191 Auch das Sozialstaatsprinzip enthält kaum Anhaltspunkte. Im Gegenteil: Aus seiner Sicht gerät ein auf die Gemeinschaft der Versicherten beschränkter sozialer Ausgleich zunehmend in Kritik. 192 Einem Ausgleich nur zwischen den sozial Schutzbedürftigen wird vorgeworfen den Auftrag des Sozialstaatsprinzips zu verfehlen: „Dieser zielt nicht auf den Ausgleich zwischen den Armen, sondern auf den zwischen arm und reich." 193 Das Soziale der Sozialversicherung allein in der Zusammenfassung guter und schlechter Risiken in einer Zwangsversicherung, in der Statuierung einer Versicherungspflicht und Wegtypisierung des individuellen Risikos zu sehen,194 erscheint jedoch zu eng. Eine Beschränkung auf einen nutzenproportionalen Beitrag mit „sachgerechten" Pauschalierungen und Nivellierungen 195 versteht sich nicht von selbst; denn die Festlegung des Verhältnisses von Beiträgen und Leistungen ist Gegenstand normativer Bewertung, der Festlegung von Gerechtigkeitsmaßstäben. Obwohl ein auf die Versicherten beschränkter sozialer Ausgleich aus sozialstaatlicher Sicht nicht völlig unproblematisch ist, so ist er doch im Grundsatz nicht zu beanstanden. Bedenklich ist es aber, wenn empirische Untersuchungen ergeben, daß die Umverteilung in der sozialen Krankenversicherung zwar insgesamt „in die »richtige Richtung4 (von höheren zu niedrigeren Einkommen, von Alleinstehenden zu Familien, von Männern zu Frauen) stattfindet, der Umverteilungssaldo aber nicht durchgehend das »erwünschte4 Vorzeichen aufweist" - vor allem gilt als noch nicht abschließend geklärt, inwieweit die freiwilligen Mitglieder von den Pflichtversicherten subventioniert werden. 196

190 In diese Richtung aber J. Isensee, Umverteilung durch Sozialversicherungsbeiträge, S. 17ff., 49ff.; W. Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, S.88ff. 191 Die Einführung der allgemeinen Kassenwahlfreiheit hat zwar diesbezüglich zu einem Wandel geführt - freilich wurden die Krankenkassen dadurch mehr zu Versicherungsunternehmen und gerade nicht zu auf natürlicher Verbundenheit der Mitglieder beruhenden Gemeinschaften (s. u. § 3 V). 192 M. Wallerath, Rentenversicherung und Verfassungsrecht, HDR, B . l l Rn. 15. 193 F. Ruland, HDR, B.19 Rn.65. 194 So F. Ruland, HDR, B.19 Rn.67. 195 So Ai. Wallerath, HDR, B . l l Rn.35f. 196 J. Wasem, Gesundheitsökonomie und Versicherung, ZVersWiss 82 (1993) 123, 148 ff. - Bemerkenswert ist jedenfalls, „daß die freiwillig versicherten Mitglieder der GKV im Durchschnitt 1,1 Familienmitglieder »mitbringen', während es bei den Pflichtversicherten im Durchschnitt 0,65 Familienmitglieder sind." (W. Gitter/P. Ο be render, Möglichkeiten und Grenzen des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, 1987, S.23).

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3. Organisatorische Anforderungen Die Gliederung der Krankenkassen ist nach Ansicht des BVerfG zwar „als solche" verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, sie kann jedoch Beitragssatzunterschiede „nur im Grundsatz" rechtfertigen: „Je stärker sich im Lauf der Zeit die Leistungen der Krankenkassen annäherten, desto mehr wuchs die Verpflichtung des Gesetzgebers, die Beitragssatzunterschiede zu begrenzen." 197 Dabei hat das BVerfG den Weg, den der Gesetzgeber im GSG beschritten hat, für ausreichend gehalten: den der Einführung einer allgemeinen Kassenwahlfreiheit für alle Versicherten. Dem Gedanken der Belastungsgleichheit kann, wie sich daran zeigt, nicht allein durch die Implementation materieller Gerechtigkeitsmaßstäbe genügt werden, sondern auch durch Organisation der Sozialversicherung. Dieser Gedanke liegt im Grunde nahe, wenn man die Versicherungsträger wirklich als Solidargemeinschaft ansieht. Und auch das einfache Recht scheint dem nachzukommen, wenn es die Krankenkassen als Selbstverwaltungskörperschaften ausgestaltet. Verfassungsrechtlich spielt dieser Aspekt aber kaum eine Rolle. Eher im Gegenteil: Zwar hat das BSG die Krankenkassen in einer „Treuhänderfunktion" ihren Mitgliedern gegenüber gesehen und diese deshalb für verpflichtet gehalten, ihre Aufgaben mit dem geringstmöglichen Aufwand wahrzunehmen.198 Damit hat es allerdings keineswegs den Versicherten eine einklagbare Rechtsposition einräumen wollen. Selbst die verfassungswidrige Verwendung von Versicherungsbeiträgen könne die Verfassungswidrigkeit der Beitragspflicht zur Krankenversicherung nicht begründen. 199 Steht aber dem einzelnen Versicherten ein gerichtlich durchsetzbares Recht auf Kontrolle der Mittel Verwendung durch die Versicherungsträger nicht zu, so sind andere, effektive organisatorische Vorkehrungen erforderlich, die ihre Funktion als Treuhänder der Versicherten sichern. Gerade weil die Sozialversicherung bei der Beitragsbemessung nicht auf eine individualistische Lösung setzt, kann sie nicht in gleicher Weise wie die Privatversicherung sich für ein distanziertes Verhältnis zwischen Versicherer und Versicherten entscheiden. Allgemein läßt sich sagen: Je weniger die Versicherung von einer an individuellen Eigenheiten ausgerichteten Äquivalenz geprägt ist, desto größere Bedeutung kommt der (effektiven) Mitsprache der Versicherten in der Versicherung zu - dies gilt umso mehr, wenn den Versicherten kein Austritt möglich ist.

V. Professionsinteressen Wenn hier die ärztlichen Interessen zusammenfassend als Professionsinteressen bezeichnet werden, so scheint damit das Ergebnis vorweggenommen und auch in 197 198 199

BVerfGE 89, 365, 377 ff. BSGE 56, 197, 199; 55, 277, 279. BSGE 57, 184, 189ff.; 60, 248, 249ff. - S. a. BVerfGE 78, 320, 329ff.

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1. Teil: Grundlagen

gewisser Weise verkürzt zu werden: Für den grundrechtlichen Sitz der ärztlichen Interessen wird zumindest eine Vermutung für Art. 121 GG aufgestellt, womit zugleich Einkommensinteressen Priorität eingeräumt zu sein scheint-jedenfalls sofern man Beruf in erster Linie mit Erwerbsstreben verbindet. Sicherlich stößt man bei den Ärzten nicht anders als bei den Versicherten auf durchaus verschiedene Interessen. Freilich kulminieren diese immer in der Berufsrolle und sind Ausdruck deren spannungsvoller Anlage. Das Interesse der Ärzte an der Versorgung sozialversicherter Patienten läßt sich nicht allein auf Einkommenserzielung reduzieren. Doch wird man ihnen ein Interesse an möglichst guten Erwerbsbedingungen nicht absprechen können. Die Berufsinteressen reichen allerdings weiter, gehen über die bloße wirtschaftliche Verwertung des individuellen Arbeitsvermögens hinaus. Neben dem Einkommensinteresse steht das Interesse an der inhaltlichen Ausgestaltung der Tätigkeit, an der Identifikation mit den Arbeitsinhalten und der Sinnhaftigkeit der Arbeit. Daß hier die ärztlichen Interessen als Professionsinteressen bezeichnet werden, rührt daher, daß sich die Einkommensinteressen von den Interessen an der inhaltlichen Ausgestaltung der ärztlichen Tätigkeit, an der Identifikation mit den Arbeitsinhalten und der daraus erwachsenden Motivation, in grundrechtlicher Hinsicht nicht trennen lassen. Wenn Art. 121 GG den Beruf als Lebensgrundlage und als Lebensaufgabe schützt,200 so sind der ökonomische und personale Gehalt der Berufsfreiheit derart ineinander verwoben, daß eine völlige rechtliche Sonderung dieser Schichten nicht möglich ist. Damit ist indes nicht gesagt, daß diese Schichten innerhalb der Gewährleistung des Art. 121 GG nicht zu unterscheiden wären. Andererseits stellt sich ärztliche Tätigkeit auch in der sozialen Realität nicht allein als selbstlose Erfüllung einer für die Allgemeinheit wichtigen Aufgabe dar, vielmehr erwartet der Arzt mit Recht eine Vergütung für sein Tätig werden. Der Arztberuf ist eben auch Beruf. In ihm verbinden sich die verschiedenen Dimensionen beruflicher Tätigkeit, die sich zwar analytisch trennen lassen, immer aber Teil der Berufsrolle bleiben. Werden die ärztlichen Interessen als Professionsinteressen entfaltet, fallen indes andere Aspekte aus.201 Dies gilt insbesondere für die Wissenschaftsfreiheit, in der bisweilen die verfassungsrechtliche Grundlage der Therapiefreiheit des Arztes gesehen wird. 202 Gleichgültig, ob man mit dem BVerfG unter Wissenschaft alles versteht, was „nach Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung der Wahr200

BVerfGE 7, 377, 397. Zur Frage des Eigentumsschutzes der Vertragsarztzulassung zutreffend H.-J. Papier, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf das Sozialrecht, SRH, B.3 Rn.54: Die Zulassung sei Voraussetzung für den Leistungsaustausch zwischen Arzt und Krankenkasse, nicht aber Gegenleistung für die auf ihrer Grundlage erbrachten Leistungen des Arztes. Eine frühe Entscheidung des BSG, in der der Kassenarztzulassung Eigentumsschutz zuerkannt worden war, weist genau an diesem Punkt einen Bruch auf: Die Zulassung sollte deshalb Eigentumsschutz genießen, weil der Kassenarzt auf seiner Grundlage seine Kassenpraxis entwickelt und dabei Kapital und Arbeit investiert (BSGE 5,40, 44). 202 So BSGE 73, 66,71. 201

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heit anzusehen ist", 203 oder ob man in ihr einen institutionalisierten Kommunikations- und Handlungszusammenhang zur Generierung wissenschaftlichen Wissens sieht,204 so fällt das praktische Handeln des akademisch ausgebildeten Arztes doch nie unter den Schutz des Art. 5 III GG. Denn als Wissenschaft geschützt ist nicht die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern nur ihre Gewinnung. Für die ärztliche Tätigkeit gilt nichts anderes als für andere akademische Berufe: Sie ist nicht Wissenschaft, sondern Praxis. 205 Im folgenden soll zunächst auf den Inhalt der Berufsfreiheit, auf ihr Schutzgut näher eingegangen werden ( 1.), bevor Zulassungsbeschränkungen (2.), Vergütungs- (3.) und Therapieregelungen (4.) das Augenmerk geschenkt wird.

1. Freiheit des Berufs Ungeachtet der Differenzierungen des Verfassungstexts sieht das BVerfG seit jeher in Art. 121 GG ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit gewährt, das Berufsausübung und Berufswahl als besondere Ausprägungen beruflicher Tätigkeit umfaßt. 206 Die vom BVerfG entwickelte Stufenfolge von Rechtfertigungsanforderungen bei Ausübungs-, subjektiven und objektiven Zulassungsregeln207 korrespondiert allerdings auffällig mit dem für den Schutzbereich als irrelevant verworfenen Textbefund. 208 Die Forderung nach einer „Rückbesinnung" auf den Verfassungstext nimmt daher nicht wunder, 209 diente doch allem Anschein nach die Betonung der Einheitlichkeit des Schutzbereichs allein der Ausdehnung des Regelungsvorbehalts des Art. 1212 GG. Freilich hat das BVerfG nicht einfach den Verfassungstext „geradegebogen". 210 Vielmehr war dies nicht nur eine folgenreiche, sondern auch vor203

BVerfGE 90, 1, 11 f.; 47, 327, 367; 35, 79,113. H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994, S.81f. 205 BVerfGE 57, 70, 96ff. hat selbst die Krankenbehandlung durch Hochschullehrer in Hochschulkliniken nicht als wissenschaftliche Tätigkeit angesehen und nur deshalb die Wissenschaftsfreiheit nicht gänzlich ausgeklammert, weil sich in der Hochschulklinik Forschung und Lehre, Ausbildung und Krankenversorgung überschneiden. - In einer späteren Entscheidung hat das BVerfG den Sitz der ärztlichen Entscheidungsfreiheit in dem „durch das ärztliche Berufsbild geprägten Persönlichkeitsrecht (Art. 21 i. V. m. Art. 121 GG)" gesehen (BVerfGE 88, 203, 294). 206 BVerfGE 7, 377, 401 f.; 33, 303, 329f.; 41, 251, 261; 59, 172, 205. - S. a. H.-P. Schneider, Freiheit des Berufs - Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S. 7, 18; R. Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, 1983, S.32ff., 36ff. 207 BVerfGE 7, 377,405. 208 Das BVerfG hat dies wohl später als Ergebnis strikter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bezeichnet (BVerfGE 13,97,104). - In der Literatur wird verbreitet gefordert, die Stufenlehre überhaupt durch eine allgemeine Verhältnismäßigkeitskontrolle zu ersetzen (I. Ipsen, „Stufentheorie" und Übermaßverbot, JuS 1990, 634, 636ff.; S. Langer, Strukturfragen der Berufsfreiheit, JuS 1993, 203,209f.). 209 So der Untertitel von J. Lücke, Die Berufsfreiheit, 1994. 210 So J. Schwabe, Anmerkungen zum Verfassungshandwerk, ZRP 1991, 361, 362. 204

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1. Teil: Grundlagen

aussetzungsvolle Entscheidung, die freilich zu einer alles andere als widerspruchsfreien Konzeption geführt hat. a) Berufe als soziale Konstrukte Als Beruf sieht das BVerfG jede wirtschaftliche Tätigkeit von gewisser Dauer an, die der Schaffung oder Erhaltung der Lebensgrundlage dient. 211 Der Begriff des Berufs wird weit verstanden; er umfaßt nicht nur traditionell oder rechtlich fixierte Berufsbilder, sondern auch alle vom einzelnen frei gewählte untypische Betätigungen. 212 Auch wenn Beruf danach mit Erwerbstätigkeit gleichgesetzt wird, hat das BVerfG doch das Schutzgut in mehrfacher Hinsicht dimensioniert: „Wohl zielt das Grundrecht auf den Schutz der - wirtschaftlich sinnvollen - Arbeit, aber es sieht sie als »Beruf, d. h. in ihrer Beziehung zur Persönlichkeit des Menschen im ganzen, die sich erst darin voll ausformt und vollendet, daß der Einzelne sich einer Tätigkeit widmet, die für ihn Lebensaufgabe und Lebensgrundlage ist und durch die er zugleich seinen Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung erbringt." 213 In personaler Hinsicht entfaltet, ja bildet sich im Beruf die individuelle Persönlichkeit aus. Ökonomisch dient er dazu, die Mittel für die Lebensführung zu schaffen. Neben diesen aus individueller Perspektive entwickelten Bedeutungen taucht kurz die soziale Funktion von Beruf auf, wenn von „wirtschaftlich sinnvoller" Arbeit und vom b e i trag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung" die Rede ist. Trotzdem seine sozialen und personalen Bezüge angesprochen wurden, blieb der Beruf doch im Kern individualistisch und ökonomisch konzipiert. Durch die mehrfache Dimensionierung wurde die Berufsfreiheit von der Gewerbefreiheit abgegrenzt, der damit Bedeutung „für alle sozialen Schichten" abgewonnen werden sollte. Mehr noch aber diente sie der Begründung der Stufenlehre: Wegen ihres Zusammenhangs mit der Entfaltung der Persönlichkeit müsse die Berufsfreiheit stärker geschützt sein als die bloße Gewerbefreiheit. 214 Die Stufenlehre setzt nun allerdings mit ihrer Unterscheidung zwischen Berufsausübung und Berufszulassung einen gehaltvolleren Berufsbegriff als den bloßer Erwerbstätigkeit voraus. Denn andernfalls könnte jede Tätigkeit zum Beruf erklärt und so jede Regelung beruflicher Betätigung als Einschränkung des Berufszugangs gedeutet werden. Wenn die Unterscheidung von Zugang zum und Ausübung des Berufs Sinn machen soll, ist die Bildung von Komplexen wirtschaftlich relevanter Betätigungen und Befähigungen erforderlich. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zu der These, Art. 121 GG schütze auch die vom einzelnen frei gewählten untypischen Betätigungen. Das BVerfG sah sich denn auch genötigt festzustellen, die Befugnis des Gesetzgebers, Berufsbilder rechtlich zu fixieren, sei von ihm nicht ge211 212 213 214

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

7, 377, 397; 50, 290, 362; 54, 301, 313; 75, 284,292; 82, 209, 223. 7, 377, 397. 7, 377, 397. 7, 377,400.

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leugnet, sondern vorausgesetzt worden. Für diese Komplexbildung hat das BVerfG jedoch keine sachlichen Kriterien entwickelt, sondern greift auf „traditionelle und gesetzlich ausgeprägte Berufsbilder" sowie die „allgemeine Anschauung" zurück, 216 weist also die Kompetenz der Gesellschaft und dem Gesetzgeber zu. Dabei soll die Kompetenz des Gesetzgebers über die Nachvollziehung sozialer Gegebenheiten hinausgehen.217 Trotz eines betont individualistischen Ansatzes ist damit der einzelne letztlich auf die Wahl vorgeformter Berufsrollen beschränkt. 218 Obwohl der Beruf zunächst ungesellschaftlich gedacht wird, kehrt er doch als soziales Konstrukt wieder und bestimmt so über die Schutzintensität. Dieser doppelte Berufsbegriff erscheint dogmatisch inkonsistent. Nicht von ungefähr hat die Berufsbildfixierungskompetenz des Staates immer wieder Kritik hervorgerufen. Stellt sie doch einen Bruch mit der betont individualistischen Konzeption des Berufsbegriffs im Apothekenurteil dar. 219 Denn obschon das Apothekenurteil die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes bemühte,220 wies es doch eine - durch das BVerwG vorbereitete 221 - dezidiert wirtschaftsliberale Stoßrichtung auf. 222 Ungeachtet der Frage nach deren Berechtigung, 223 so ist der Bruch mit ihr doch schon im Apothekenurteil angelegt. Die dort rezipierten gewerberechtlichen Figuren erwiesen sich als nur beschränkt leistungsfähig. Die Rechtsprechung ist damit pragmatisch umgegangen. Sie hat zwar immer die Leitentscheidung beschworen, zugleich aber ihre starre Stufenfolge verlassen. So wurde dem BVerfG schließlich bescheinigt, längst bei einer schlichten Verhältnismäßigkeitsprüfung angelangt zu sein, „auch wenn man in Karlsruhe weiterhin großen Wert darauf zu legen... [scheine], lieber auf, Stufen 4 zu stolpern, als auf einer schiefen Ebene abzurutschen/ 4224 Daß in der verfassungsgerichtlichen Praxis Art. 121 GG eher als Grundrecht des Mittelstands erscheint, ist vielfach beobachtet worden. 225 Ebenso wurde die Voror215 BVerfGE 13,97, 106. - Zu den Voraussetzungen der Berufsbildfixierung zusammenfassend BVerfGE 75,246, 265 ff. 216 BVerfGE 77, 84, 105. 217 Näher dazu BVerfGE 75,246,265 f. mwN. 218 Dies erklärt auch die Bemühungen, die Berufsgestaltung dem Schutz des Art. 121 GG unterzuordnen (etwa bei H. A. Hesse, Der Einzelne und sein Beruf, AöR 95 [1970], 448,468ff.). 219 R. Breuer, Freiheit des Berufs, HStR VI, § 147 Rn. 36. 220 BVerfGE 7, 377,400. - S. a. BVerfGE 50, 290, 336ff. 221 Siehe hierzu M. Baring , Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, JöR nF 9 (1960), 93, 125 und 148 f. 222 B.-O. Bryde, Artikel 12 - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, NJW 1984, 2177,2179; H.-J. Papier, Art. 12 - Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, DVB1 1984, 801,802. 223 Kritisch dazu H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1961), S. 53, 92ff.; W. Hoffmann-Riem, Die grundrechtliche Freiheit der arbeitsteiligen Berufsausübung, in: Festschrift für Η. P. Ipsen, 1977, S.385, 394f. 224 H.-P. Schneider, Freiheit des Berufs - Grundrecht der Arbeit, VVDStRL 43 (1985), S.7, 37. 225 B.-O. Bryde, NJW 1984, 2177, 2178f. und 2179; H. Rittstieg, AK-GG Art.12 Rn.45.

1*

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1. Teil: Grundlagen

dungsschwäche der Konzeption des BVerfG für arbeitsteilige Verhältnisse mehrfach beschrieben.226 Der Grund dafür liegt in dem verkürzten Berufsbegriff, der sich auf Erwerbstätigkeit beschränkt und Beruf als Phänomen (gesellschaftlicher wie betrieblicher) Arbeitsteilung nicht wirklich entwickelt. Sicher hat das BVerfG die Berufe als ein Ergebnis der Arbeitsteilung bezeichnet, ebenso hat es die Dimensionen des Berufs aufgezählt, 227 aber wirklich produktiv wurde dies nicht. Obwohl Beruf mehr als bloße Erwerbstätigkeit ist, 228 bleibt doch das BVerfG bei seinem individualistischen erwerbswirtschaftlichen Konzept, das die soziale Bedingtheit des Berufs ausblendet. Damit kann die Berufsfreiheit, obwohl sie eine arbeitsteilige Gesellschaft voraussetzt, als vorgesellschaftliche Freiheit des isolierten Individuums gedacht werden. 229 Die Literatur folgt im wesentlichen trotz Kritik im Detail der Grundkonzeption des BVerfG. Freilich hat es auch an abweichenden Ansätzen keinen Mangel gegeben. Dabei haben die Forderungen nach einer Rückbesinnung auf den Verfassungstext und sonstige Erinnerungsarbeit 230 wenig zum Verständnis von Berufen beigetragen. Fruchtbarer sind Neukonzeptionen, die den Schutz beruflicher Fähigkeiten als personalen Kern des Grundrechts hervorheben 231 bzw. die Berufsfreiheit als Freiheit zur Statuschance begreifen. 232 - Erstere bekennt sich zu einem „subjektbezogenen Ansatz" 233 und begreift Berufe in erster Linie als strukturiertes Arbeitsvermögen und nicht als Tätigkeitsbündel. 234 Damit werden die beruflichen Fähigkeiten - der „erlernte Beruf 4 - in den Vordergrund gerückt und die berufliche Tätigkeit - der „ausgeübte Beruf 4 - für sekundär gehalten.235 Personaler Kern der Berufsfreiheit hat danach der Schutz beruflicher Fähigkeiten zu sein.236 Im Gegensatz zum herkömmlichen Konzept der Berufsfreiheit als Betätigungsfreiheit eigebe erst die Anknüpfung an berufliche Fähigkeiten ein angemessenes personales Verständnis.237 Damit könne insgesamt ein dem Befund arbeitsteiliger Grundrechtsausübung adäquateres Konzept 226 W. Hoffmann-Riem, in: Festschrift für H. P. Ipsen, 1977, S. 385 ff.; G. Hoffmann, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, 1981, S. 13ff. 227 Siehe BVerfGE 7, 377, 397. 228 J. Wieland, in: Dreier, GG, Art. 12 Rn. 42. 229 So kritisch H. Rittstieg, AK-GG, Art. 12 Rn. 56. 230 F. Hufen, Berufsfreiheit - Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, 2913ff. 231 So G. Hoffmann, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, 1981; ders. y Die objektivrechtliche Einwirkung der Berufsfreiheit auf arbeits-, sozial- und ausbildungsrechtliche Freiheitsprobleme, AöR 107 (1982), 177ff. 232 R. Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, insb. S. 477 ff. 233 G. Hoffmann, AöR 107 (1982), 177,180. 234 U. Beck/M. Brater, Problemstellungen und Ansatzpunkte einer subjektbezogenen Theorie der Berufe, in: dies., Die Soziale Konstitution der Berufe, Bd. 1,1977, S. 14,15 ff. 235 G. Voß, Berufssoziologie, in: Kerber/Schmieder, Spezielle Soziologien, S. 128,134. 236 G. Hoffmann, AöR 107 (1982), 177,191 ff. 237 G. Hoffmann, Berufsfreiheit als Grundrecht der Arbeit, S.36ff., 231 ff.

§ 2 Interessenlagen

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entwickelt werden. Der Fähigkeitsschutz verdränge den einmaligen Willensakt der Berufswahl aus dem Zentrum des Grundrechtsschutzes. Gerade in dem „Willensdogma" wird die Komponente der herkömmlichen Konzeption gesehen, die zur Absicherung sozialer Privilegien beitragen kann. Schütze nämlich die Berufsfreiheit die Chance auf Durchsetzung des Willens innerhalb sozialer Beziehungen, so werde zugleich soziale Macht geschützt.238 Habe aber die „Arbeit als »Beruf ... für alle gleichen Wert und gleiche Würde", 239 so müsse es der Berufsfreiheit um den Schutz gleicher Entfaltungschancen im Beruf gehen.240 - Die zweite Konzeption geht von dem Befund aus, daß Berufe komplexe soziale Institutionen sind, in denen personale Selbstverwirklichung, wirtschaftliche Entfaltung und existentielle Angewiesenheit miteinander verwoben sind und in ihrer Gesamtheit den sozialen Status des einzelnen begründen.241 Dabei schütze die Berufsfreiheit die „Chance zur individuellen Statusbegründung, -Sicherung und -entfaltung", über deren Inanspruchnahme der „Berufsbürger" selbst entscheidet. Die als „Freiheit zur Statuschance" verstandene Berufsfreiheit ist danach allerdings „regulierte Freiheit"; sie „erwächst aus der Realität als situatives Maß an sozialen Entfaltungschancen". 242 Mit einem solchen Verständnis des Berufs als sozialem Status wird die soziale Dimension in den Berufsbegriff integriert. Berufsverwirklichung kann dann nicht mehr etwas grundsätzlich Privates sein, an das gesellschaftliche Erwartungen wie von außen herantreten. Vielmehr sind diese bereits Bestandteil des Berufs. Der Berufstätige befindet sich dann nämlich in einem „strukturell vordefinierten Handlungsfeld"; berufliche Entscheidungen vollziehen sich nicht in einer vorgeblichen Privatheit, sondern stellten sich vielfach als Ergebnis eines kooperativen Entscheidungsprozesses von Staat und betroffenem einzelnen dar. 243 Folglich habe an die Stelle von Privatautonomie „Sozialautonomie" zu treten - mit der freilich Berufsentscheidungen nicht der Gesellschaft statt dem einzelnen zugewiesen werden, die vielmehr als Chiffre für die sozialen Verflechtungen dient, denen der einzelne bei der Ausübung seiner Berufsfreiheit unterliegt. 244 Die soziale Verflochtenheit wird mit dem Begriff des sozialen Status aufgenommen. Strukturelle Bindung der Berufsverwirklichung und staatliche Teilhabe an Berufsentscheidungen setzen der Berufsfreiheit einen inhaltlichen Rahmen, in dem die Vorbedingungen beruflicher Freiheit auf der Basis 238

G. Hoffmann, AöR 107 (1982), 177, 178 ff. BVerfGE 7, 377, 397. 240 G. Hoffmann, AöR 107 (1982), 177, 192f. 241 R. Pitschas, Berufsfreiheit und Berufslenkung, S.477ff. - Selbstredend begreift Pitschas Art. 121 GG als einheitliches, gleichwohl intern gegliedertes Grundrecht. Nicht nur Berufswahl und Berufsausübung erscheinen als Modalitäten einheitlicher Berufsverwirklichung ( Gesetzliche Grundlagen der Honorarverteilung, MedR 1996, 148. Zwar betont das BSG, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen die Gesamtvergütung nicht als Vertreterinnen der in ihnen zusammengeschlossenen Vertragsärzte, sondern aus eigenem Recht erlangen (BSGE 76,120,122). Damit ist aber (nur) gemeint, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht bloße Durchlaufstationen sind, die gleichsam wie Zahlungsstellen der Krankenkassen für letztere Verbindlichkeiten gegenüber den Vertragsärzten erfüllen. Vielmehr sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen bei der Verteilung der Gesamtvergütung „einen eigenen Leistungszweck" verfolgen. Das Gesetz sehe nämlich keine unmittelbaren Rechtsbeziehungen zwischen den Vertragsärzten und den Krankenkassen vor, sondern habe die Gewährleistung einer den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entsprechenden vertragsärztlichen Versorgung den Kassenärztlichen Vereinigungen auferlegt (§ 751 SGB V). Die Vertragsärzte bildeten insoweit eine Haftungsgemeinschaft und hätten als solche für die Rückerstattung rechtsgrundlos empfangener Vergütungen zu haften (BSGE 76, 120, 121 f.). 158 Näher dazu unten § 6 II 1 b. 159 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 980. - Das GKV-SolG hat allerdings, indem es insbesondere im Hinblick auf die Einzelleistungs vergütung die Festlegung eines Aus157

§

iee der Kooperation

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Vergütungsformen kann auch eine Ausprägung des Prinzips angemessener Vergütung gesehen werden, gerade weil sie alle trotz verschiedener Risikoverteilung prinzipiell vom Gesetz als gleichwertig betrachtet werden. 160 Während das in § 72 Π SGB V verankerte Prinzip angemessener Vergütung nur auf Gesamtvergütungsebene wirkt, enthält das Gesetz für die Honorarverteilung mit dem Grundsatz leistungsproportionaler Honorierung (§ 85IV 3 SGB V) einen eigenständigen Maßstab, der allerdings als Ausprägung eines allgemeinen Gedankens angemessener Vergütung angesehen werden kann.

b) Gesamtvergütung Das in § 72 I I SGB V verankerte Gebot angemessener Vergütung richtet sich allein an die Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen. Diese haben dieses Gebot bei der Gestaltung der Bundesmantel- und Gesamtverträge zu berücksichtigen. Da Gegenstand der Gesamtverträge nur eine Vergütung für die Gesamtheit der ärztlichen Leistungen ist (§ 851 SGB V), kann mit dem Gebot der angemessenen Vergütung kein individueller Anspruch des einzelnen Vertragsarztes auf eine bestimmtes Honorar verbunden sein. Die Gesamtvergütung hat danach angemessen zu sein; ob das Verteilungshonorar angemessen ist, ist damit nicht gesagt. Das BSG sieht in dem Gebot angemessener Vergütung ein „zwingendes gesetzliches Gebot". 161 Es faßt das Gebot aber als ein rein objektiv-rechtliches auf, das sich nur an die Vertragsparteien richtet. 162 § 72 I I SGB V gibt danach den Vertragsparteien eine Vergütung ärztlicher Leistungen auf, die für ein „funktionierendes Versorgungssystem" sorgt, „indem es den Ärzten ausreichende Anreize bietet, sich für die Zulassung zur kassenärztlichen Tätigkeit wirtschaftlich zu interessieren". 163 Dient das Gebot angemessener Vergütung allein der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung, so garantiert es nicht nur nicht die Angemessenheit der Vergütung einzelner Leistungen oder eines einzelnen Arztes, sondern enthält vor allem auch kein dahingehendes subjektives Recht.164 gabenvolumens vorgeschrieben hat (§ 85 112, 3 SGB V1999), die dieser Vergütung innewohnende Risikoverteilung deutlich modifiziert. 160 Allerdings hat der Gesetzgeber in jüngster Zeit deutliche Präferenzen erkennen lassen: Während das 2. GKV-NOG arztgruppenbezogene Regelleistungsvolumina in den Vordergrund gerückt hatte, ohne sie zwingend vorzuschreiben (§ 85 II 2-9 SGB V 1997), stellt das GKVSolG nunmehr zwar wieder die herkömmlichen Vergütungsformen gleichrangig nebeneinander, verlangt aber in jedem Fall die Festlegung eines Ausgabenvolumens (§ 85 II 2, 3 SGB V 1999) und nähert damit vor allem die Einzelleistungsvergütung den anderen Vergütungsformen an. 161 BSGE 75,187,189; 68, 291, 296; 20, 73,77. 162 BSGE 75, 187,189, bestätigt von BSGE 77,279,288; SozR 3-5533 Nr. 763 Nr. 1. 163 BSGE 75, 187, 191. 164 BSGE 75, 187, 190f.; 68, 291, 296.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Freilich hat das Gebot angemessener Vergütung nach Ansicht des BSG nur „ i m allgemeinen" lediglich eine objektiv-rechtliche Bedeutung; ausnahmsweise, „beim Hinzutreten besonderer, das Gebot der angemessenen Vergütung qualifizierender und individualisierender Umstände" sollen ihm subjektive Rechtspositionen entnommen werden können - etwa wenn eine zu niedrige Vergütung das System der vertragsärztlichen Versorgung und in der Folge auch die berufliche Existenz der Vertragsärzte gefährden würde. 1 6 5 Bei einer zu niedrigen Bewertung einzelner Leistungen komme dies freilich regelmäßig nicht in Betracht. 1 6 6 Gegen dieses Verständnis als rein objektiv-rechtliches Gebot mit gewissen subjektiv-rechtlichen Wirkungen ist mit Recht eingewandt worden, auch wenn § 72 Π SGB V sicherlich nicht als Anspruchsgrundlage ausgestaltet sei und auch nicht als solche ausgelegt werden könne, so lasse sich doch die individuelle Schutzrichtung des Gebots angemessener Vergütung nicht abstreiten. 167 Wenn Angemessenheit als objektiv-rechtliches Gebot die Vertragsparteien verpflichtet, aber die Vertragsunterworfenen die Einhaltung dieses Gebots nicht einklagen können, so wird durch dieses Zusammenspiel den Vertragsparteien bei der Konkretisierung des Gebots ein Beurteilungsspielraum zugestanden. Sachgerechter wäre es gewesen, einen solchen auch ausdrücklich anzuerkennen und ihn nicht hinter dem Wechselspiel von zwar zwingendem, aber eben objektiv-rechtlichem Gehalt 165 BSGE 75,187,191 ; 77,279,288; SozR 3-5533 Nr. 763 Nr. 1. - Diese Figur ist offenkundig dem baurechtlichen Gebot der Rücksichtnahme nachgebildet. Ungeachtet der Problembehaftetheit des Rücksichtnahmegebots fragt es sich doch, ob das Subjektivierungskriterium „qualifizierender und individualisierender" Umstände im Vertragsarztrecht trägt. Denn hier hat es eine ganz andere Funktion als im Baurecht: Es geht im Vertragsarztrecht nicht darum aus der Vielzahl potentiell von einem individualisierbaren Vorhaben Betroffener einen engeren Kreis von Personen herauszuschälen, die dieses Vorhaben gerichtlich überprüfen lassen dürfen. Im Vertragsarztrecht ist der Betroffenenkreis nicht potentiell mit der Allgemeinheit identisch; betroffen von Vergütungsregelungen können nur die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte sein. Dieser Kreis ist sicher insgesamt recht groß, es besteht aber gleichwohl nicht die Gefahr, daß er mit der Allgemeinheit in eins fällt. Innerhalb dieses Kreises geht es dem BSG in erster Linie um den qualifizierenden Aspekt: Ziel ist es nicht, die Zahl der Kläger gering zu halten, sondern diesen erst bei qualifizierten Verletzungen Rechtsschutz zu gewähren. Dabei ist der Gegenstand, um dessen gerichtliche Überprüfbarkeit es geht, auch von ganz anderer Art: Es geht nicht um konkrete Vorhaben, sondern um generelle Regelungen. Und deren Hauptzweck - und nicht nur ihr Begleitumstand - ist die Einwirkung auf die Vertragsärzte. Außerdem ist die Interessenlage nicht vergleichbar: Für das BVerwG war - jedenfalls in der Geburtsstunde des Rücksichtnahmegebots - der Schutz des Bauherrn ausschlaggebend. Daß sich normsetzende Körperschaften dem Normunterworfenen gegenüber auf ein Interesse an Ungestörtheit sollen berufen können, mutet merkwürdig an - zumal dann, wenn das Vorhaben gerade auf Einwirkung auf den Betroffenen gerichtet ist. Ein Bauvorhaben verfolgt demgegenüber nicht primär den Zweck, die Nachbarn zu stören. 166 Denn der Arzt, der sich auf wenige Leistungen spezialisiert, müsse das Risiko der mangelnden Rentabilität seiner Praxis tragen, wenn ihm infolge seiner Spezialisierung ein wirtschaftlicher Ausgleich zwischen einer größeren Zahl von Leistungen nicht mehr möglich ist (BSG SozR 3-5533 Nr. 763 Nr. 1). 167 W. Spoerr, Haben Ärzte ein Recht auf angemessenes Honorar, MedR 1997, 342, 343 f.

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und engerer subjektiv-rechtlicher Rügefähigkeit zu verstecken. Dann hätte auch § 72 I I SGB V als Abwägungsvorschrift ernst genommen und der Stellenwert des Abwägungsgesichtspunkts angemessener Vergütung benannt werden müssen. Die Konstruktion des BSG verhüllt, daß § 72 I I SGB V kein konkretes Programm, sondern nur eine Zielvorgabe enthält. Die Rede von dem primär objektiv-rechtlichen Gehalt suggeriert, daß es eine eindeutige Lösung gibt bei der Frage, wie eine angemessene Vergütung auszusehen hat, daß es sich hierbei um eine schlichte Subsumtionsfrage handelt, die keinerlei Wertungen voraussetzt. Dann ist es rechtfertigungsbedürftig, warum die Gerichte dieses eindeutig feststellbare Ergebnis nicht auch feststellen. Die Rücknahme ihrer Kontrolle auf den Bereich qualifizierter Verletzungen versteht sich dann keineswegs von selbst. Die Angemessenheit der Vergütung stellt jedoch alles andere als ein konkretes gesetzliches Programm dar, dessen Anwendung von den Gerichten von besonderen Voraussetzungen abhängig gemacht wird; vielmehr bereitet gerade die Frage, was angemessen ist, Probleme. Die Gerichte sollen dem entgehen, indem sie nur dann Rechtsschutz gewähren, wenn die Unangemessenheit zum Greifen nah liegt. Statt aber die Vergütungsregelung derart als schlichte Vollzugsaufgabe zu behandeln, erscheint es doch Vorzugs würdig, sie als Gestaltungsaufgabe zu begreifen und als solche auch rechtlich zu strukturieren. 168 Es gibt inzwischen einige Ansätze zu einer solchen Stukturierung: - Die Praxis läßt sich von dem Gedanken leiten, daß eine einmal vereinbarte Vergütung die Vermutung der Angemessenheit für sich hat. Auf das Gesetz läßt sich das direkt nicht stützen. § 85 I I I SGB V zählt zwar Parameter auf, die bei der Veränderung der Gesamtvergütung zu berücksichtigen sind. Das Gesetz verweist aber hier auch über den in bezug genommenen Grundsatz der Beitragssatzstabilität auf Wirtschaftlichkeitsreserven, die einer Angemessenheitsvermutung widersprechen. 169 Das BSG hat denn auch diese Vermutung im Hinblick auf die Schwierigkeiten entwickelt, die mit der Bestimmung der Angemessenheit verbunden sind: Wäre diese Aufgabe „losgelöst von dem Ergebnis langjähriger vertraglicher Beziehungen" zu bewältigen, so wären „Ermittlungen schwierigster Art in einem außergewöhnlichen Umfang" erforderlich. Weil auf die Frage nach der gerechten Vergütung eine Vielzahl vertretbarer Antworten möglich und jede dieser Antworten von der Person des Wertenden abhängig sei, habe der Gesetzgeber der übereinstimmenden Wertung derer, die es unmittelbar angehe, den Vorrang eingeräumt. Soweit vertragliche Regelungen bestünden, komme ihnen die Vermutung der Angemessenheit zu; bei Vertragsanpassungen könne in aller Regel an sie angeknüpft werden. 170 Die bloße Fortschreibung des bisher Vereinbar168

Dahingehend auch W. Spoerr, MedR 1997, 342, 345 f. J. Isensee, Das Recht des Kassenarztes auf angemessene Vergütung, VSSR 1995, 321, 323 spricht denn auch nur von einer „pragmatischen Vermutung" dafür, „daß in der Regel die hergebrachten Vergütungsregelungen im Prinzip angemessen sind". 170 BSGE 20, 73, 84. 169

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

ten, der solchermaßen die Weihen einer Angemessenheitsvermutung verliehen wurden, erscheint aber nicht einmal sonderlich sinnvoll.171 - In Anknüpfung an die in § 85 ΠΙ 1 SGB V genannten Praxiskosten sind betriebswirtschaftliche Ansätze ins Spiel gebracht worden, denen aber schon im Hinblick auf die Schwierigkeit der Ermittlung der Kosten wenig Aussagekraft zugesprochen wird. 172 Dies trifft auch den Ansatz einer verfassungsrechtlichen Fundierung der Kostendeckung. 173 Ausgehend von dem Gedanken, aus verfassungsrechtlichen Gründen müsse die Vergütung äquivalent zur Leistung des Arztes sein und sich nach deren Wert bemessen, wird, weil im Vertragsarztrecht das „marktwirtschaftliche Regulativ von Angebot und Nachfrage" ausfällt, die Geltung des „finanzwirtschaftlichen Gebots der Kostendeckung" proklamiert. 174 Das Honorar dürfe sich allerdings nicht in der Kostendeckung erschöpfen, sondern müsse auch die „Chance des Gewinns" enthalten.175 Obwohl im Grundsatz die individuelle Leistung rentierlich zu honorieren sei, trage der Arzt dennoch ein Risiko, weil das Äquivalenzprinzip sich am „Durchschnittsfall einer ausgelasteten, dem Stand der Medizin entsprechenden, wirtschaftlich betriebenen Praxis" orientiere. Angemessen ist danach eine Vergütung, „die im gesetzlich intendierten Normalfall einer ausgelasteten, ordnungsgemäß geführten vertragsärztlichen Praxis die Kosten der Leistungen deckt und die Möglichkeit des Gewinns offenhält." 176 Ungeachtet dessen daß die verfassungsrechtliche Fundierung dieses Ansatzes doch sehr dünn ist - eine Verantwortung des Staates für die „wirtschaftliche Subsistenz des Vertragsarztes" 177 läßt sich nur schwerlich grundrechtlich begründen - , so gilt auch aus ökonomischer Sicht Kostendeckung als problematisch, weil sie einen Anreiz für verschwenderischen Ressourceneinsatz bildet. 178 Sicherlich läßt sich im öffentlichen Bereich Kostendeckung vielfach (noch) entdecken. Dies aber nur, weil es dort andere Mechanismen der Einwirkung auf das zufinanzierende Verhalten

171

P. Krause, Zur Leistungsfähigkeit des Schiedsverfahrens im Kassenarztrecht, in: Festschrift für W. Thieme, 1993, S. 769,776. 172 E. Fiedler, Angemessenheit der Vergütung - angemessenes Arzthonorar, VSSR 1995, 355,360f.; H. J. Kretschmer, Kassenarztrecht und Krankenversicherung, NZS 1995,260,263. 173 J. Isensee, VSSR 1995, 321, 340ff. 174 J. Isensee, VSSR 1995, 321, 340. 175 J. Isensee, VSSR 1995, 321, 341. 176 J. Isensee, VSSR 1995, 321, 341. - Ähnlich hatte schon B. Schulin, Vergütungen für zahntechnische Leistungen, S. 117 ff. vom Grundsatz leistungsgerechter Vergütung gesprochen und eine Honorierung der persönlichen Leistungen und Betriebskosten einschließlich des kalkulatorischen Unternehmerlohnes und des kalkulatorischen Gewinns verlangt, wobei er hinsichtlich der Gewinnspanne einen gewisser Einschätzungsspielraum anerkannte, für dessen Ausfüllung er Zumutbarkeit und Gleichbehandlung als Kriterien nannte. Die unterste Grenze der Angemessenheit war für ihn aber auf jeden Fall die Kostendeckung ohne Gewinn. 177 J. Isensee, VSSR 1995,321, 342. 178 Siehe nur W. Gitter/P. Oberender, Möglichkeiten und Grenzen des Wettbewerbs in der Gesetzlichen Krankenversicherung, 1987, S.24f.

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gibt. Ohnehin läßt sich aus dem Gedanken der Kostendeckung kein Maßstab für den Gewinn und damit letztlich für das Einkommen des Arztes entnehmen. - Denkbar ist daher eine Orientierung am Einkommen anderer Berufe. Es wird auch durchaus vertreten, daß sich die Angemessenheit der Vergütung (auch) am allgemeinen Einkommensniveau orientieren soll, wobei etwa auf die Veränderung aller Nominaleinkommen, der Einkünfte aller Erwerbstätigen ähnlicher Berufe oder der Realeinkommen abgestellt werden kann. 179 Komparative Ansätze erscheinen gerade bei schwierigen Bewertungen vorzugswürdig. Und in gewisser Weise hat das Gesetz mit dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität eine solche Orientierung am Einkommen anderer Berufe angeordnet, weil dadurch die Vergütung direkt an der Entwicklung der Einkommen der Versicherten anknüpft. Diese Abhängigkeit des Arzteinkommens vom Einkommen der Versicherten, die noch immer überwiegend Arbeitnehmer sind, ist indes auf Kritik gestoßen, weil sie nicht die besonderen Kosten-, Bedarfs- und Risikofaktoren Selbständiger berücksichtige. 180 Die Ansätze sind durchweg mit Fragezeichen versehen. Immerhin läßt sich im Hinblick auf die übergreifende Leitlinie des gesamten Leistungserbringungsrechts - und auch des § 72 Π SGB V - sagen, daß eine Vergütung unangemessen ist, die die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung in Frage stellt, weil sie etwa zur Abwendung vom Arztberuf überhaupt oder von erforderlichen Leistungen führt. 181 Solange allerdings der Zustrom zur vertragsärztlichen Praxis hoch ist, kann von einer unangemessenen Vergütung in diesem Sinne nicht ausgegangen werden. 182 Der Kostendeckungsansatz ist dagegen nicht nur in seiner rechtlichen Fundierung, sondern auch ökonomisch fragwürdig. Vorzugswürdig erscheint dagegen eine Vergütung, die nicht an den Kosten, sondern am Nutzen der ärztlichen Versorgung ansetzt.183 Eine derartige ergebnisorientierte Vergütung kann daran anknüpfen, daß es dem Krankenversicherungsrecht immer um die Deckung sozialer Bedarfe und damit um die Bewirkung von Folgen geht, um derentwillen Leistungen zur Verfügung gestellt werden.

c) Honorarverteilung Für die Honorarverteilung schreibt das Gesetz vor, daß Art und Umfang der Leistungen des Arztes zugrunde zu legen seien (§ 85IV 3 SGB V), gleichzeitig aber eine 179 P. Krause, Zur Leistungsfähigkeit des Schiedsverfahrens im Kassenarztrecht, in: Festschrift für W. Thieme, 1993, S.769, 778 f. 180 Isensee, VSSR 1995, 321, 324. 181 BSGE 68, 291, 297. 182 So zutreffend E. Fiedler, Angemessenheit der Vergütung - angemessenes Arzthonorar, VSSR 1995, 355, 356. 183 Siehe dazu aus verfassungsrechtlicher Sicht oben § 2 I V 4b.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

übermäßige Ausdehnung verhindert werden solle (§ 84IV 5 SGB V 1999) 184 und eine Differenzierung nach Arztgruppen und Versorgungsgebieten zulässig sei (§ 85IV 8 SGB V 1999).185 Mit dem GSG hat vorübergehend der gesetzgeberische Zugriff auf die Vergütungsverteilung eine ungewöhnliche Dichte erlangt. 186 Nichts geändert hat sich aber daran, daß nach § 85IV 3 SGB V im Grundsatz eine der Leistung proportionale Verteilung der Gesamtvergütung vorgeschrieben ist. Dieser Grundsatz leistungsproportionaler Verteilung ist letztlich eine Ausprägung des Gedankens der Gleichbehandlung, der prinzipiell gleichmäßigen Vergütung aller ärztlichen Leistungen.187 Sachlich gerechtfertigte Abweichungen sind damit freilich nicht ausgeschlossen.188 Das Gesetz kennt mit der Verhütung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Kassenarztes (§ 85IV 5 SGB V1999) selbst eine solche Abweichung. Die Rechtsprechung akzeptiert darüber hinaus, daß über die Honorarverteilung strukturelle Entscheidungen, die in den Gesamtverträgen getroffen worden sind, an die Ärzte weitergegeben werden. 189 Neben dem dem Gesetz entnehmbaren Grundsatz leistungsproportionaler Verteilung findet sich in der neueren Rechtsprechung ein aus Art. 121 mit Art. 31 GG abgeleitetes „iGebot der Verteilungsgerechtigkeit " 1 9 ° Dieses Gebot soll dann verletzt sein, „wenn vom Prinzip der gleichmäßigen Vergütung abgewichen wird, obwohl zwischen den betroffenen Ärzten bzw. Arztgruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß eine ungleiche Behandlung gerechtfertigt ist. Eine von Fachgruppe zu Fachgruppe unterschiedliche Vergütung gleicher Leistungen ist verfassungsrechtlich nur zu begründen, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt, zur Erreichung dieses Zweckes geeignet und notwendig ist sowie dem Gebot der Verhältnismäßigkeit genügt."191 Das BSG nimmt hier auf der Grundlage der „neuen Formel" des BVerfG eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor. Eine Intensivierung des Gleichbehandlungsgebots hätte sich allerdings auch im Rahmen des § 85IV 3 SGB V bewerkstelligen lassen. Daher nimmt es nicht wunder, daß an dem Gebot der Verteilungsgerechtigkeit Kritik laut wurde - zumal diesem Gebot eine Sichtweise des verfassungsrechtlichen Rahmens der vertragsärztlichen Vergütung 184

Zur gleichlautenden Vorgängerbestimmung siehe BVerfGE 33, 171, 184. Daneben bestimmte § 85 IV 4 SGB V1989 noch, daß eine Verteilung nur nach Zahl der Behandlungsfälle (Fallpauschalierung) nicht zulässig ist. 186 In umfänglichen neuen Absätzen der §§ 85,87 SGB V wurden Abstaffelungsvorschriften eingeführt, die das Ziel einer Verteilungslenkung deutlich zu erkennen geben. Insbesondere mit der Neustrukturierung des Labors (§ 87 IIb SGB V) und der Verlagerung des dadurch freiwerdenden Honorarvolumens auf die Hausärzte (§ 85IV a 1 SGB V) sind deutliche Steuerungswirkungen verbunden, die die Kassenärztlichen Vereinigungen zur Bildung von Teilbudgets, also zu einer bestimmten (formalen) Gestaltung des Honorarverteilungsmaßstabes zwingen. 187 BSGE 81,213,217f.; 77,279,283; 77,288,291; 75,187,191; 73,131,136.- Siehe auch BVerfGE 33,171, 184. 188 BSGE 77, 279, 283; 77,288, 291 f. 189 BSGE 73, 131, 136f. 190 BSGE 73,131, 138; 75,187, 191; 77, 288, 294; SozR 3-2500 §85 Nr. 12. 191 BSGE 77, 288, 294. 185

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zugrunde liegt, nach der die Berufsfreiheit als Eingriffsabwehrrecht ausfällt. 192 Zwar ist der teilhaberechtliche Ansatz zu begrüßen.193 Doch muß es auch bei ihm darum gehen, aus der Berufsfreiheit Maßstäbe zu entwickeln; der Grundrechtsschutz darf nicht völlig auf Art. 31 GG zurückgenommen werden, der Beruf muß maßstabsbildend bleiben. Der Aufgabe, bereichsspezifische Maßstäbe für die Honorarverteilung zu entwickeln, hat sich das BSG aber ohnehin gewidmet. Als legitimen Zweck hat das BSG die Begrenzung von Anreizen für eine medizinisch nicht indizierte Mengenausweitung angesehen. Zu diesem Zweck können leistungsbezogene Teilbudgets gebildet werden, die verhindern, daß sich überproportionale Mengenausweitungen in einem Leistungsbereich auf die Vergütung in anderen Leistungsbereichen auswirken. 194 Eine solche Aufteilung der Gesamtvergütung in Teilbudgets hat zur Folge, daß Leistungen abhängig von der Mengenentwicklung im jeweiligen Leistungsbereich unterschiedlich hoch vergütet werden. Zulässig ist auch die Bildung von fachgruppenbezogenen Honorarkontingenten zum Schutz von Ärztegruppen, die bei budgetierten Gesamtvergütungen einer Punktwertminderung nicht durch Mengenausweitung begegnen können,195 sowie von arztgruppenübergreifenden einheitlichen Vergütungstöpfen für bestimmte Leistungen, die verhindern, daß bei Budgetierung das Leistungsgeschehen in einem Bereich zu Punktwertminderungen in anderen, weniger stark expandierenden Bereichen führen kann. 196 Für unzulässig gehalten werden dagegen Regelungen, die den Zulassungsstatus des Vertragsarzts betreffen. 197 Auf jeden Fall wird aber bei Verteilungsregelungen, die in Verfolgung bestimmter Ziele vom Grundsatz gleichmäßiger Honorarverteilung abweichen, eine dahingehende Beobachtungspflicht angenommen, daß diese Regelungen regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern sind, sobald sich herausstellt, daß ihr Zweck verfehlt wird oder sie für die Betroffenen unzumutbar geworden sind. 198

192 Dahingehend die Kritik von P. Axer , Der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit im Kassenarztrecht, NZS 1995, 536, 540f. 193 Siehe oben §2 V3. 194 BSGE 73, 131, 134. 195 BSGE 77, 288, 294. 196 BSG SozR 3-2500 § 85 Nr. 16. 197 G. Schneider, Die vertragsärztliche Vergütung im Spannungsfeld von EBM und HVM, MedR 1997, 1, 4. - So auch BSGE 78, 91, 93 ff. zum Bewertungsmaßstab. - Der Begriff des Zulassungsstatus wird überdehnt, wenn man zu ihm auch die wirtschaftliche Bedeutung der beruflichen Fähigkeiten und der Initiative des Arztes zählt (so aber F. -J. Dahm, MedR 1996,148, 150 f.). 198 BSG SozR 3-2500 § 85 Nr. 12.

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V. Gesetzliche Leitlinien als Regelungsdirektiven Für das Verhältnis der Leitlinien gilt, daß sie grundsätzlich in eine Abwägung einzustellen sind. 199 Die Leitlinien vermitteln nicht das Bild eines geschlossenes Systems. Sie überschneiden sich vielfach, sind wechselseitig verschränkt, betreffen teils engere Ausschnitte oder konfligieren. So lenkt das Gebot humaner Krankenbehandlung die Sicherstellung der Qualität in eine bestimmte Richtung. Und Wirtschaftlichkeit verfolgt als Effektivität (Wirksamkeit) Anliegen der Qualitätssicherung, scheint dieser aber als Effizienz, als Gebot der Kostenminimierung - zumal in der Zurichtung des Ziels Beitragssatzstabilität - entgegenzulaufen. Beitragssatzstabilität setzt wiederum so formal am status quo an, daß es den Kostenminimierungsgedanken des Wirtschaftlichkeitsgebots aus dem Auge zu verlieren scheint - die in § 141 I I 3 SGB V ausdrücklich angeordnete Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven müßte sich für eine Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsprinzips eigentlich von selbst verstehen. Der Konflikt zwischen Kostenminimierung und Angemessenheit der Vergütung ist offenkundig und auch nicht dadurch wegzuinterpretieren, daß man die Schnittstelle beider - möglichst kostengünstiger und möglichst einträglicher Vergütung - als Maß der Angemessenheit und Wirtschaftlichkeit ausgibt. Zielkonflikte sind freilich unvermeidlich. Wohl ist es möglich, gleichgerichtete Ziele zusammenzufassen und in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu entfalten. Zielkonflikte wird es aber immer geben, weil die vertragsärztliche Versorgung im Spannungsfeld verschiedener, teils gegenläufiger, teils gleichgerichteter Interessenlagen angesiedelt ist. Versicherte und Ärzte haben ihre je eigenen Interessen; die Versicherten sind zugleich als Beitragszahler und damit in doppelter Weise tangiert. Das Krankenversicherungsrecht verfolgt in diesem Spannungsfeld ein eigenes soziales Ziel, zu dessen Verwirklichung es den Versicherten Leistungsansprüche gegen die Krankenkassen einräumt, denen es die Bereitstellung der zu beanspruchenden Leistungen zur Pflicht macht und die es dazu auf die Kooperation mit den Verbänden der Vertragsärzte verweist. Die kooperative Gestaltung der Leistungsstruktur spiegelt die Komplexität dieser Bezüge wider. Das Gesetz vertraut freilich nicht (mehr) ausschließlich darauf, daß die Zielkonflikte von den den verschiedenen Interessen verbundenen Organisationen schon richtig klein gearbeitet werden. Es gibt stattdessen vermehrt Ziele verschiedener Konkretheit vor, die nicht nur Orientierung bieten sollen, sondern als zwingende rechtliche Gebote die Gestaltung der Leistungsstruktur dirigieren sollen. Sie sind zwar in erheblichem Umfang ausfüllungsbedürftig, doch geht es zu weit, sie insgesamt als inhaltsleer zu verwerfen. 200 Dem Gesetz läßt sich sehr wohl ein System ent199

In diese Richtung auch M. v. Wulffen, Besondere Therapiemethoden in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, SGb 1996, 250, 251. 200 So aber N. Wimmer, Rechtsstaatliche Defizite im vertragsärztlichen Berufsrecht, NJW 1995,1577,1582f., der noch immer die vom Kassenarztsenat in BSGE 67,256 entwickelte ei-

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nehmen, aus dem differenzierte Leitlinien entwickelt werden können. Freilich setzt dies voraus zuzugestehen, daß die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung nicht trivial, sondern eine komplexe Regelungsaufgabe ist. Das Leistungserbringungsrecht darf nicht nur als schlichter organisatorischer Vollzug des Leistungsrechts ohne jeden gestalterischen Anteil begriffen werden. Vielmehr müssen die tatsächlich vorhandenen Regelungsaufgaben auch als solche anerkannt werden. Akzeptiert man, daß das Gesetz hier nur eingeschränkt materielle Steuerungswirkungen entfaltet, so sind die Steuerungswirkungen, die es entfalten will, so ist der Gehalt der Direktiven für die Gestaltung der Leistungsstruktur durch Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen fruchtbar zu machen. Als Abwägungsleitlinien vermögen sie zusammen mit Verfahrens-, Begründungs- und Abwägungspflichten den Gestaltungsspielraum zu strukturieren. Gerade weil die Sicherstellung der Versorgung dann nicht als bloßer Vollzug eines materiellen Programms begriffen werden kann, ist daraus mehr Ertrag zu erwarten, als aus dem punktuellen Zugriff einer Rechtsprechung, die volle Justitiabilität reklamiert, wo sie doch nur nachvollziehen kann, was an organisatorischen Entscheidungen bereits getroffen worden ist. Die Rechtsprechung kann zwar im Einzelfall eingreifen und dabei durchaus Unruhe in die Strukturen bringen und sie auch verändern; sie wirklich gestalten, wird sie aber nie können. Das Gesetz setzt dagegen noch immer auf eine kooperative Gestaltung und vertraut darauf, daß diese innerhalb des gesetzlich definierten Rahmens durch Interessenausgleich zu einem ausgewogenen Ergebnis gelangt. In dem durch Regelungsdirektiven gesetzlich niedergelegter Leitlinien materiell vorstrukturierten Rahmen überläßt das Gesetz die Findung sachgerechter Lösungen den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen. Institutionell ist dieses Feld schon seit langem strukturiert durch Verfahren, Organisationen und Formen, die Arenen konstituieren, in denen im Vertragsarztrecht die Leistungsstruktur gestaltet wird. Ihnen wird im folgenden nachzugehen sein (§6 und § 7).

gentümliche Dogmatik des Parlamentsvorbehalts bemüht, die derselbe Senat längst wieder stillschweigend fallengelassen hat (dazu näher unten § 8 III 5 c 3). 201 Daß dies möglich ist, zeigt die Rechtsprechung zur Wirtschaftlichkeitsprüfung (dazu oben II 2 b) auch wenn sie - zumal in Anbetracht ihrer ganz anders strukturierten Aufgabe - nicht in jeder Hinsicht als Vorbild dienen kann.

§ 6 Organisation und Verfahren der Kooperation I. Prozedurales Konzept des Vertragsarztrechts Der prozedurale oder „im weitesten Sinne »verfahrensrechtliche"' Weg, den das Recht der sozialen Krankenversicherung bei der Konkretisierung des Rahmenrechts auf Krankenbehandlung beschreitet, wird beherrscht von verbandlicher Kooperation. Das Gesetz überläßt durch die nur rahmenmäßige Fassung des Krankenbehandlunganspruchs,1 die gleichwohl den Krankenkassen auferlegte Pflicht, die entsprechenden Sach- und Dienstleistungen den Versicherten als solche zur Verfügung zu stellen,2 und die Überantwortung des daraus folgenden Auftrags zur Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung an Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen3 die Gestaltung der Leistungsstruktur in weitem Umfang der Kooperation dieser Verbände.4 Zwar ist die Sicherstellung auf Verwirklichung des Leistungsrechts gerichtet und hat insoweit eine dienende Funktion,5 doch ist sie nicht rein mechanischer Vollzug, sondern eröffnet durchaus gestalterische Spielräume. Das Gesetz verzichtet zwar nicht darauf, dem Interessenausgleich und der Problemlösung materielle Ziele vorzugeben. Bei diesen handelt es sich jedoch um offene Zielvorgaben, die erhebliche Spielräume offenlassen. 6 Der Bezeichnung „Vertragsarztrecht" könnte entnommen werden, daß Verträge das wichtigste, wenn nicht einzige Instrument zur kooperativen Gestaltung der Leistungsstruktur sind. Die Kooperation würde in Verhandlungen stattfinden und sich 1

S.o. § 114. S.o. §1111. 3 S.o. §4 II la. 4 Dem Satzungsrecht, das ursprünglich bei der Fixierung der Leistungsansprüche eine zentrale Rolle gespielt hatte, wird heute bei dessen Konkretisierung keinerlei Bedeutung mehr beigemessen, obwohl § 1941 Nr. 3 SGB V durchaus dahingehend interpretiert werden könnte, daß, gerade weil die Leistungsansprüche im Gesetz nicht subsumtionsfähig bestimmt gefaßt sind (BSGE 73,271,279 f.), die weitere Konkretisierung als (nähere) Bestimmung von Art und Umfang der Leistungen durch die Kassensatzung erfolgen kann. Der früher vorherrschenden Auffassung von einer abschließenden gesetzlichen Fixierung der Leistungsansprüche war ein solche Interpretation verschlossen; leichter war es vor ihrem Hintergrund, die faktischen Konkretisierungsleistungen dem Leistungserbringungsrecht zu überlassen, weil sie so als rechtlich irrelevant begriffen werden konnten (s. o. § 5 13). Die Folge ist freilich die Überantwortung der gesamten Gestaltung der Leistungsstruktur an die Kooperation von Leistungsträgem und Leistungserbringern. Ob dies interessengerecht ist, erscheint durchaus fraglich (s.u. § 8 III5c 1). 5 S.o. §51. 6 S.o. §5 V. 2

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in Verträgen auskristallisieren. Doch geht das Vertragsarztrecht sowohl über das gewöhnliche Verständnis von Verträgen als auch über eine rein vertragliche Kooperation hinaus: - Die kollektivrechtliche Natur der Beziehungen, die wesentlich durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen als Verbände der Vertragsärzte bewirkt wird, erfordert eine Bindung der jeweiligen Verbandsmitglieder, vor allem der Vertragsärzte als Erbringer der ambulanten ärztlichen Leistungen, und damit eine Breitenwirkung der kooperativen Festlegungen, die die Frage nach der Leistungsfähigkeit der Vertragsform aufwirft. - Mit dem Vertrag sind gemeinhin auch Vorstellungen von Vertragsfreiheit verbunden, die ungeachtet der Frage nach ihrer Übertragbarkeit auf das öffentliche Recht doch zumindest auch hier die Freiheit umfassen, einen Vertrag nicht abzuschließen. Wenn das Gesetz aus sozialstaatlichen Gründen Sicherstellung zur beiderseitigen Pflicht von Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen macht, so kann eine solche Freiheit indes nicht bestehen. Dies macht, zumal eine gewisse Gegenläufigkeit der Interessen besteht, Vorkehrungen erforderlich, die ein Zustandekommen kooperativer Festlegungen trotz Meinungsverschiedenheiten gewährleisten. Der Frage nach der Ausgestaltung der formalisierten Festlegungen, in denen die verbandliche Kooperation mündet, damit sie auch effektiv werden kann, wird später nachzugehen sein.7 Zunächst soll das Augenmerk auf die Strukturierung der Kooperation gelenkt werden. Hier sucht das Vertragsarztrecht vor allem über Gremien die Leistungsfähigkeit der Kooperation sicherzustellen. Die Einrichtung eines Systems paritätisch besetzter Ausschüsse wird als bedeutendster Struktureffekt des Berliner Abkommens angesehen.8 Diese haben sich bis heute erhalten, auch wenn sie nicht mehr die Kollektivierung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten bewirken, 9 sondern nurmehr abstützen. Diese gemeinsam bestellten Gremien stellen die Kooperation auf Dauer und dienen zugleich der Konfliktlösung. Die Pflicht zur Kooperation schafft im Vertragsarztrecht einen Handlungszusammenhang, der sich in eine Vielzahl von Arenen aufspaltet, deren Resultate von generellen Festlegungen bis zu Einzelfallentscheidungen reichen. Diese besonderen Handlungsabläufe sind in unterschiedlicher Weise institutionalisiert. Es hat sich ein ganzes Geflecht von Instituten und Institutionen entwickelt, das dem Interessenausgleich dient und zugleich die vertragsärztliche Versorgung sicherstellen soll: - Auf einer ganz allgemeinen Ebene, die gesamte Leistungsstruktur im Blick, sind die Bundesmantel- (§ 821 SGB V) und (mit Abstrichen) die Gesamtverträge (§ 83 7

S.u. §7. M. Döhler/Ph. Manow-Borgwardt, Gesundheitspolitische Steuerung zwischen Hierarchie und Verhandlung, PVS 33 (1992), 571, 574. 9 Siehe dazu oben § 41. 8

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SGB V) sowie die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (§ 92 SGB V) angesiedelt.10 Ihnen geht es um die Regelung der vertragsärztlichen Versorgung (§ 72 I I SGB V), wobei jedenfalls dem Gesetzestext nach die Richtlinien auf einen Ausschnitt, nämlich die Implementation des Wirtschaftlichkeitsgebots beschränkt sind (§ 921 SGB V). - Dagegen sind im Zulassungswesen (§§ 96,97 SGB V) und in der Wirtschaftlichkeitsprüfung (§ 106 SGB V) Einzelfallentscheidungen anzutreffen, die Kooperationsgremien zugewiesen sind. - Zwischen allgemeinen Festlegungen und Einzelfallentscheidungen ist die Bedarfsplanung angesiedelt, bei der nach § 101 SGB V die Bundesausschüsse in Richtlinien (§ 921 Nr. 9 SGBV) insbesondere einheitliche Verhältniszahlen für den allgemeinen bedarfsgerechten Versorgungsgrad beschließen, auf deren Grundlage die Landesausschüsse Unter- bzw. Überversorgung feststellen und Zulassungsbeschränkungen anordnen (§ 100, § 1031 SGB V), die dann im Einzelfall von den Zulassungsausschüssen umgesetzt werden. Planerische Funktionen nehmen aber auch die Kassenärztlichen Vereinigungen wahr, die im Einvernehmen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen Bedarfspläne aufzustellen haben (§ 9911 SGB V). Verfahren und Organisation gehen dabei ineinander über. Einzelne Handlungszusammenhänge weisen so starke institutionelle Ansätze auf, daß sie selbst Organisationscharakter annehmen. So wird das Regime der Mantel- und Gesamtverträge institutionell abgesichert durch Schiedsämter, die den Inhalt von Verträgen festsetzen, über die sich die Vertragsparteien nicht einigen können (§ 8911 SGB V), ohne diesen dadurch deren originäre Regelungsbefugnis streitig zu machen. Dagegen haben allein die Bewertungsausschüsse den einheitlichen Bewertungsmaßstab als Teil der Bundesmantelverträge zu vereinbaren (§8711 SGB V), werden also - in einem Segment - für die Vertragsparteien tätig. Da das Gesetz Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen Kooperation zur dauerhaften Pflicht macht, liegt es nicht fern, die Vertragsverhandlungen paritätisch besetzten Ausschüssen zu überlassen, und so dem ohnehin auf Dauer gestellten Handlungszusammenhang ein institutionelles Gerüst zu geben. Solange in diesen Ausschüssen Verträge nur vorbereitet werden, mag dies wenig bedeutsam erscheinen. Sobald aber der Vertragsschluß selbst in den Ausschuß verlagert wird, treten offenbar die Vertragsparteien als Akteure hinter die gemeinsame Einrichtung zurück. Solange dabei die vertragsersetzenden Beschlüsse nur einstimmig ergehen können, ändert sich in der Sache gegenüber der vertraglichen Kooperation nicht viel. Anders verhält es sich, sobald der Ausschuß zu Mehrheitsbeschlüssen befugt 10

Die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen weist dagegen über den Rahmen des Themas der vorliegenden Arbeit hinaus. Sie beschränkt sich vor allem nicht auf das Vertragsarztrecht, spielt hier aber als Forum gemeinsamer Empfehlungen der Parteien der Bundesmantelverträge (§ 8611 SGB V) eine gewisse Rolle (zu den Empfehlungsvereinbarungen s. u. II 1 c).

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ist. Im Vertragsarztrecht sind all diese verschiedenen Ansätze einer Institutionalisierung der Kooperation anzutreffen. Die verbandliche Kooperation im Vertragsarztrecht erweist sich damit als eine eigentümliche Mischung aus Verfahren und Organisation, die der Selbständigkeit der verbandlichen Akteure Grenzen setzen. Allein schon die Dauerhaftigkeit der Beziehungen, die Verselbständigung der Kooperation, die Orientierung auf gemeinsames Handeln und die Begründung von Mitgliedschaften hebt sie von bloßen Verfahren ab.11 Wenn im folgenden dem prozeduralen Konzept des Vertragsarztrechts nachgegangen wird, so wird sich herausstellen, daß die Gremien, in denen hier Kooperation stattfindet, den Schwerpunkt bilden (III-V). Wenn die nicht gremienvermittelte Kooperation (II) eher den Ausnahmefall darzustellen scheint, so ist das im wesentlichen der stärkeren rechtlichen Strukturierung von Organisationen geschuldet.

II. Verträge An prominenter Stelle, ganz zu Beginn des Vertragsarztrechts, trägt § 72 I I SGB V den Kassenärztlichen Vereinigungen und Verbänden der Krankenkassen auf, die vertragsärztliche Versorgung durch schriftliche Verträge zu regeln. § 72 I I SGB V enthält zugleich gewisse Vorgaben für den Inhalt der vertraglichen Regelungen und schreibt fest, daß diese den durch Gesetz und Richtlinien gezogenen Rahmen einzuhalten haben. In diesem Rahmen ist vertraglicher Regelung die gesamte vertragsärztliche Versorgung überantwortet. Der Name des Vertragsarztrechts scheint sich damit zu bestätigen: Die Verträge stellen den Modus dar, in dem das von § 721 SGB V Ärzten und Krankenkassen aufgegebene Zusammenwirken stattfindet. Nicht zufällig findet sich beides, Kooperationsgebot und Kooperationsform in einer Bestimmung. Der Vertrag bietet sich als Zusammenarbeitsform schon deshalb an, weil sein Zustandekommen vom Willen beider Seiten abhängt. Der Vertrag setzt die Kooperationsbereitschaft beider Seiten voraus und aktualisiert zugleich den Willen beider Seiten zur Zusammenarbeit. Allerdings spricht § 72 I I SGB V mit den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zugleich eine andere Form der Kooperation an, die nicht nur mit den Verträgen konkurriert, sondern ausweislich dieser Bestimmung einen Vorrang gegenüber vertraglicher Regelung reklamiert. Obwohl die Verträge auf den ersten Blick als zentrale Kooperationsform erscheinen mögen, relativiert sich doch ihre Bedeutung bei näherem Zusehen. So ist beobachtet worden, daß Verträge weitgehend das Gesetz nur wiederholen oder sich doch eng an das Gesetz anlehnen.12 11 Vgl. H.-H. Trute, Funktionen der Organisation und ihre Abbildung im Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1996, S.249, 268. 12 G. Borchers Die Gestaltungsspielräume der Selbstverwaltung im Vertragsarztrecht, SGb 1997, 201 ff.

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1. Arten von Verträgen Das Vertragsarztrecht kennt - wie überhaupt das SGB V 1 3 - verschiedene Typen von Verträgen. Es lassen sich grob Gesamtverträge (§ 831 SGB V), Bundesmantelverträge (§ 821 SGB V) und Empfehlungsvereinbarungen (§ 86 SGB V) unterscheiden. Diese Unterscheidung ist zunächst eine der Ebenen, auf denen Verträge geschlossen werden: Die Gesamtverträge sind auf Landesebene,14 die Bundesmantelverträge, wie der Name schon sagt, auf Bundesebene abzuschließen. Der Bundesebene gehören auch die Empfehlungsvereinbarungen an, sie unterscheiden sich von den Bundesmantelverträgen (und den Gesamtverträgen) jedoch in ihrem Wirkungsmodus: Sie enthalten nur „Empfehlungen", die freilich beim Abschluß der Gesamtverträge berücksichtigt werden sollen (§ 86 I I SGB V). Offenbar um Verbindlichkeitsvorstellungen entgegenzutreten, die die Vertragsform hervorruft, spricht das Gesetz in § 8611 SGB V nicht von der Vereinbarung, sondern von der gemeinsame Abgabe einer Empfehlung; daß gemeinsame Abgabe aber nichts anderes als Vereinbarung ist, scheint in § 8612 SGB V kurz auf und entspricht auch dem gängigen Sprachgebrauch. 15 All diese Vertragstypen sind Kollektivverträge, also Verträge zwischen den Kassenärztlichen Vereinigungen und den jeweiligen Kassenverbänden, nicht Einzelverträge zwischen Vertragsarzt und Krankenkasse. Zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung schlossen die Krankenkassen ursprünglich Verträge mit einzelnen Ärzten ab. Erst das Kassenarztrecht von 1931/32 hat die einzelvertraglichen Beziehungen durch kollektivvertragliche ersetzt.16 Mit der Bezeichnung als „Gesamtvertrag" - die auf das Kassenarztrecht von 1931/32 zurückgeht - wird auf die Funktionsweise der Verträge hingewiesen, in ihr drückt sich die kollektivrechtliche Natur der vertraglichen Vereinbarung aus, die sie in erster Linie im Hinblick auf die Vertragsärzte haben - denn bis zum KVKG von 1977 wurden die Gesamtverträge von den einzelnen Krankenkassen geschlossen. Eine Sonderrolle spielt in diesem Zusammenhang der einheitliche Bewertungsmaßstab, der Bestandteil der Bundesmantelverträge ist, aber von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenversicherung durch den Bewertungsausschuß vereinbart wird (§ 8711 SGB V). Hier kombiniert das Ge13

Siehe nur/. Ebsen, Rechtsquellen, HS-KV, § 7 Rn. 1 lOff.; M. Heinze, Die Vertragsstrukturen des SGBV, SGb 1990,173ff. 14 Genauer: Auf Ebene der Bezirke der Kassenärztlichen Vereinigungen (vgl. § 831 SGB V), die grundsätzlich für den Bereich eines Landes zuständig sind, soweit es nicht historisch bedingte Abweichungen gibt (§ 771 SGB V). Die Bezirke der Kassenärztlichen Vereinigungen weichen noch immer in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen von den Ländergrenzen ab (siehe nur D. Krauskopf, in: Krauskopf, § 77 SGB V Rn. 2). 15 Vgl. J. Meydam, Rechtscharakter und Wirkungen der Empfehlungsvereinbarungen der Spitzenorganisationen der gesetzlichen Krankenversicherung, VSSR 1983, 360ff. 16 Zu der von ärztlicher Seite vorangetriebenen Kollektivierung der Rechtsbeziehungen siehe oben §41.

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setz die Kooperationsform des Vertrags mit der Schaffung eines Kooperationsgremiums. Dieses ungewöhnliche Arrangement wirft eine Reihe von Fragen auf, vor allem nach der Natur des durch ,3eschluß" (§ 87IV SGB V) des Bewertungsausschusses „vereinbarten" (§ 8711 SGB V) Bewertungsmaßstabs.

a) Verhältnis der Bundesmantel- zu den Gesamtverträgen Der Grundtyp des Kollektivvertrags ist der Gesamtvertrag. Dies kommt sowohl in seiner Bezeichnung und der des Bundesma/zte/vertrags, als auch in § 821 SGB V zum Ausdruck, wenn dort davon die Rede ist, daß der „allgemeine Inhalt der Gesamtverträge" in Bundesmantelverträgen geregelt wird. Damit nimmt das Gesetz für die Qualifizierung der Mantelverträge auf die Gesamtverträge bezug und reserviert einen Teil des gesamtvertraglicher Regelung offenstehenden Bereichs für die Bundesmantelverträge. Zwar ist der Gesamtvertrag Grundtyp des Kollektivvertrags, doch bedeutet dies nicht, daß auch der Schwerpunkt der Vertragsbeziehungen bei ihm liegt. Weil der „allgemeine Inhalt" der Gesamtverträge in den Bundesmantelverträgen geregelt werden kann, werden die Gesamtverträge stark von den Bundesmantelverträgen beeinflußt. Erst von diesen her ergibt sich der Raum, der gesamtvertraglicher Regelung offensteht. Indem § 8211 SGB V den Bundesmantelverträgen vorbehält, den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge zu regeln, wird diesen ein weites Regelungsfeld eröffnet. Unter allgemeinem Inhalt werden Regelungen verstanden, die im Interesse einer gleichmäßigen vertragsärztlichen Versorgung einheitlich für das gesamte Bundesgebiet ergehen müssen.17 In der Vorläuferbestimmung zu § 72 I I SGB V, in § 368 g I RVO war die „gleichmäßige" noch direkt neben der „ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen" Versorgung aufgeführt. Diese heute in § 7011 SGB V enthaltene Zielsetzung, wurde als Aufforderung zur Vereinheitlichung der Versorgungsstruktur verstanden. Als Instrument zur Sicherung der Einheitlichkeit der Versorgung scheinen in erster Linie die Bundesmantelverträge angesprochen. Sie leisten schon durch ihren Geltungsbereich einen Beitrag zur Wahrung der Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und sichern die „berufliche und private Mobilität der Bevölkerung" durch ein länderübergreifendes Versorgungssystem. 18 Ist Gleichmäßigkeit in diesem Sinne Ziel kollektivvertraglicher Regelung, so ist damit eine deutlich unitarisierende Tendenz angelegt. Der allgemeine Inhalt der Gesamtverträge wurde folglich immer denkbar weit verstanden. So sprach das BSG davon, in Abgrenzung zu dem den Mantelverträgen vorbehaltenen „allgemeinen Inhalt" enthielten die Gesamtverträge deren „besonderen Inhalt", also das, was eine individuelle, örtlich verschiedene Wertung erfordert, wozu in er17 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, 1994, Rn.698; J. Siewert, Das Vertragsarztrecht, 5. Aufl. 1994, S.81. 18 Vgl. BSG, NZS 1997, 228, 229.

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ster Linie die Regelung der Vergütungshöhe gezählt wurde. 19 Heute ist letzteres ausdrücklich in § 82 I I SGB V festgehalten. Dagegen sind die Bewertungsmaßstäbe schon früh zum allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge gezählt worden, 20 womit ein wesentliches Element des Vergütungsrechts mantelvertraglicher Regelung zugänglich gemacht wurde. Auch dies ist inzwischen ins Gesetz übernommen worden (§ 87 Π SGBV). Die Dominanz der Bundesmantelverträge ist so selbstverständlich geworden, daß das BSG meinte betonen zu müssen, ein Gesamtvertrag könne „durchaus einen Gegenstand regeln, der bisher vom Bundesmantelvertrag nicht erfaßt worden ist." 21 In einer anderen Entscheidung stellte das BSG fest, eine gesamtvertragliche Regelung verstoße nicht schon deswegen gegen höherrangiges Recht, weil es sich um die einzige derartige Vereinbarung im Bundesgebiet handele; denn die den Parteien der Gesamtverträge zugewiesene Kompetenz zur vertraglichen Regelung der Gesamtvergütung mache nur dann Sinn, „wenn auch den regionalen Besonderheiten der Versorgungsstruktur in den Gesamtverträgen Rechnung getragen werden kann." 22 Die Abgrenzung zwischen Mantel- und Gesamtverträgen erfolgt mithin eher negativ: Sofern den Bundesmantelverträgen einzelne Fragen nicht entzogen sind - wie im Bereich der Vergütung (§ 82 Π mit § 85 SGB V), der Abrechnungs- (§ 83 I I SGB V - siehe aber § 295 ΠΙ, V SGB V) und Wirtschaftlichkeitsprüfung (§ 106 Π 3, I I I mit § 296IV SGB V) - , können in ihnen grundsätzlich alle Einzelheiten der vertragsärztlichen Versorgung geregelt werden. Die Gegenstände der Bundesmantelverträge folgen dagegen nicht abschließend aus dem Gesetz, das allerdings eine Reihe von Regelungsaufträgen enthält (§ 73 Ic, § 8712-5, §§135 II, 135IV, §§ 291 III, 295 III, IV SGB V). Zwar läßt sich § 8211 SGB V ein Appell an die Parteien der 19 BSGE 20, 73, 82; ähnl. Th. Siebeck, Der Bundesmantelvertrag über die kassenzahnärztliche Versorgung, WzS 1962,189,197. - Daß die Vergütung Sache der Gesamtverträge ist, war ursprünglich zwingende Folge des Umstandes, daß die Krankenkassen und nicht ihre Verbände die Gesamtvergütung zu zahlen hatten: Wenn die Krankenkassen nach § 368 f 11 RVO 1955 eine Gesamtvergütung mit befreiender Wirkung an die Kassenärztliche Vereinigung entrichteten, so mußten die Gesamtverträge, die die Krankenkassen mit den Kassenärztlichen Vereinigungen nach § 368 g II 1 RVO 1955 schlossen, dazu dienen, die Gesamtvergütung festzulegen. Das KVKG hat diesen Zusammenhang durchbrochen, indem es den Krankenkassen die Kompetenz zum Abschluß der Gesamtverträge nahm und ihren Landesverbänden zuwies (§ 368 II 1 RVO 1977). Folgerichtig wurde § 368 i 11 RVO um die Worte ergänzt, die Gesamtvergütung sei „nach Maßgabe des Gesamtvertrags" zu entrichten und in § 368 II 1 RVO ausdrücklich die Bindung der Krankenkassen an die Gesamtverträge festgeschrieben. Vor dem KVKG hatte sich jedoch bereits die Praxis entwickelt, die Gesamtverträge nicht von den einzelnen Krankenkassen gesondert, sondern von ihrem jeweiligen Landesverband auszuhandeln, der entweder selbst die Gesamtverträge in Vertretung seiner Mitgliedskassen abschloß oder eine Rahmenvereinbarung mit der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung traf, die dann durch mit den einzelnen Krankenkassen abzuschließende Gesamtverträge umgesetzt wurde (vgl. BSGE 36,151, 153). 20 BSGE 20, 73,81. 21 BSGE 55, 18, 22. 22 BSGE 76, 6, lOf.

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Bundesmantelverträge entnehmen, ihren umfassenden Regelungsspielraum nicht so auszuschöpfen, daß „den Bedürfnissen regionaler Verhältnisse entsprechend Ergänzungen zu Einzelregelungen auf Landesebene offenbleiben." 23 Doch ist dies genausowenig rechtlich faßbar, wie der Begriff des „allgemeinen Inhalts" in einem vom Gleichheitsgedanken so stark geprägten Rechtsgebiet wie dem Sozialrecht. 24

b) Einheitlicher Bewertungsmaßstab Der einheitliche Bewertungsmaßstab bestimmt nach § 87 I I SGB V den Inhalt der abrechnungsfähigen Leistungen und ihr wertmäßiges, in Punkten ausgedrücktes Verhältnis. Er wurde durch das KVKG 1977 zur Vereinheitlichung der ärztlichen Versorgung eingeführt. Nicht ohne Grund wird er vom Gesetz als einheitlicher bezeichnet: Der Bewertungsmaßstab ist für alle Kassenarten gemeinsam aufzustellen. Geschaffen wurde er zu einer Zeit, in der die Ersatzkassen noch einen Sonderstatus besaßen und mit ihrem Vertragsarztrecht ein (rechtlich) eigenständiges Versorgungssystem unterhielten. Der Gesetzgeber wollte an die Stelle der im Ersatzkassen- und Primärkassenbereich entstandenen Gebührenordnungen (Ε-GO und BMÄ) einen einheitlichen Bewertungsmaßstab setzen.25 Dies spiegelt sich in dem eigenwilligen Verfahren wider, in dem der Bewertungsmaßstab zustande kommt. Darauf wird noch zurückzukommen sein.26 Der einheitliche Bewertungsmaßstab legt zunächst fest, welche Leistungen überhaupt im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung vergütet werden. Leistungen, die in diesem Verzeichnis nicht enthalten sind, dürfen nicht zulasten der Krankenkassen berechnet werden. 27 Als „Leistungsspiegel" sind in ihm sämtliche ärztliche Leistungen aufzulisten und inhaltlich zu beschreiben. Damit stellt der Bewertungsmaßstab klar, welche Leistungen überhaupt zur vertragsärztlichen Versorgung zählen, aber auch, welche Leistungen im Grundsatz ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind.28 Der Bewertungsmaßstab ist aber nicht nur Leistungs-, sondern 23

So H. D. Schirmen in: Hauck/Haines, § 82 SGB V Rn. 5. Ein anderes Verhältnis zwischen Gesamt- und Bundesmantelverträgen schreibt das Gesetz nunmehr für Strukturverträge vor: Nach § 73 a II SGB V1997 können in den Bundesmantelverträgen nur „Rahmenvereinbarungen" getroffen werden. Wieweit dies der im Sozialrecht allgegenwärtigen unitarisierenden Tendenz entgegenwirkt, bleibt indes abzuwarten. 25 Der Dualismus konnte allerdings nicht vollständig beseitigt werden: Mit Zusatzvereinbarungen zum einheitlichen Bewertungsmaßstab bestehen Ε-GO und BMÄ auch heute noch. Das BSG hat es gebilligt, daß die Partner des Bundesmantelverträge ergänzende Abrechnungsbestimmungen zu einzelnen Ziffern des einheitlichen Bewertungsmaßstabs treffen können, solange dadurch nicht dessen Bewertungsgefüge verändert wird (BSGE 78, 191, 200f.; 70, 240, 243 f.). 26 S.u.II2b. 27 BSGE 71, 42, 47; R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 6. 28 G. Schneiden Die vertragsärztliche Vergütung im Spannungsfeld von EBM und HVM, MedR 1997, 1, 3. 24

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

auch Bewertungsverzeichnis. 29 Er hat nicht nur die abrechnungsfähigen Leistungen aufzulisten, sondern auch ihr wertmäßiges Verhältnis auszuweisen. Bei den dafür anzustellenden Bewertungen ist bisher die Lenkungswirkung der Vergütung wenig zur Kenntnis genommen worden; ihr wurde nur die Funktion einer Kostendeckung, nicht die eines Verhaltensanreizes zugeschrieben.30 Von den tatsächlichen Steuerungswirkungen des Bewertungsmaßstabs zeugt das Debakel des EBM 1996.31 Inzwischen spricht auch das BSG gerade dem Bewertungsmaßstab Steuerungscharakter zu: Die Aufgabe des Bewertungsausschusses erschöpfe sich nämlich nicht in einer Leistungsbewertung nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten, sondern schließe die Möglichkeit ein, über die Beschreibung und Bewertung ärztlicher Verrichtungen das ärztliche Leistungsverhalten zu steuern.32 Diese Steuerungsfunktion gehe über das in § 87 I I 2 SGB V niedergelegte Gebot hinaus, den Bewertungsmaßstab in bestimmten Zeitabständen daraufhin zu überprüfen, ob die Leistungsbeschreibungen und ihre Bewertungen noch dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik entsprechen.33 Der Steuerungskompetenz entspricht nach Ansicht des BSG auch eine gewisse Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Aufnahme bisher nicht abrechenbarer Leistungen.34

c) Empfehlungsvereinbarungen Nach § 8611 SGB V haben die Parteien der Bundesmantelverträge gemeinsam Empfehlungen über die angemessene Veränderung der Gesamtvergütungen abzugeben. Diese „Empfehlungsvereinbarungen" 35 lassen sich bis in die 1960er Jahre zu29 Weil der Bewertungsmaßstab keine absoluten Preise, sondern nur Wertrelationen zwischen einzelnen Leistungen ausweist - das Gesetz spricht von „wertmäßigem, in Punkten ausgedrücktem Verhältnis" (§ 87 II 1 SGB V) - ist er keine Gebührenordnung. 30 Siehe oben §5 IV. 31 Zum gerichtlichen Nachspiel der rückwirkenden Inkraftsetzung von Teilbudgets zum 1.1.1996 durch Beschluß des Bewertungsausschusses vom 13.6.1996: LSG Niedersachsen, NZS 1997, 137 (verfassungswidrig); LSG Nordrhein-Westfalen, MedR 1996, 571, LSG Baden-Württemberg, MedR 1997,428 und dem LSG Berlin, MedR 1997,381 (nicht verfassungswidrig); BSGE 81, 86 (verfassungswidrig). 32 BSG SozR 3-1500 § 96 Nr. 3; BSGE 78,98,105. 33 BSG, MedR 1997, 372, 373. 34 BSG, MedR 1997, 372, 373 f. - Problematisch wird dann freilich die Abgrenzung der Kompetenzen zum Bundesausschuß, der nach § 1351 SGB V über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Empfehlungen abzugeben hat - zumal wenn aus „der Perspektive des abrechnenden Arztes" den Entscheidungen des Bewertungsausschusses „die maßgebliche Bedeutung" zukommt. Das BSG geht freilich von einem „Ineinandergreifen" der Entscheidungen beider Gremien aus; die Anerkennung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden durch den Bundesausschuß und deren Umsetzung in abrechnungsfähige und punktmäßig bewertete Leistungen durch den Bewertungsausschuß werden in der Praxis nicht oft auseinanderfallen. 35 Zum Begriff: /. Meydam, VSSR 1983, 360, 361.

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rückverfolgen. 36 Anfangs war von „Ergänzungsvereinbarungen" die Rede, die zwar von den Parteien der Bundesmantelverträge abgeschlossen wurden, aber nicht an der normativen Wirkung der Bundesmantelverträge teilnahmen, sondern zu ihrem Wirksamwerden des Beitritts der einzelnen Krankenkassen bedurften. 37 Dahinter stand das Bestreben der Parteien der Bundesmantelverträge, nach Möglichkeit die gesamten kassenärztlichen Rechtsbeziehungen zu regeln. Weil aber die Vergütungshöhe nicht durch Bundesmantelvertrag festgelegt werden konnte, wurde mit den Empfehlungsvereinbarungen ein anderer Weg bundeseineitlicher Festlegung beschritten. 38 § 8611 SGB V geht auf das KVKG 1977 zurück. Auch wenn es solche Empfehlungen schon vordem gegeben hatte, so steht diese Regelung in einem Zusammenhang mit der Schaffung der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen. Dies ist noch heute dem Mechanismus abzulesen, den das Gesetz für das Zustandekommen der Empfehlung vorsieht. Es fließen hierbei zwei Regelungstechniken zusammen: Das auf Verträge aufruhende vertragsärztliche Regime und die Globalsteuerung durch Konzertierung. Ersterem ist § 8611 Hs. 1 SGB V verpflichtet. Obwohl das Gesetz nicht von „Vereinbarung", sondern von „gemeinsamer Abgabe" einer Empfehlung spricht und damit offenbar die Vertragsform vermeiden will, so ist doch gemeinsame Abgabe nichts anderes als Vereinbarung. Dies scheint in § 8612 SGB V kurz auf, wenn dort von „Vertragspartnern" die Rede ist, und entspricht auch dem gängigen Sprachgebrauch. Der Sinn solcher Empfehlungen wird darin gesehen, „den autonomen Entscheidern Orientierungsdaten für ihre weiterhin selbstverantwortlichen Entscheidungen zu geben, nicht aber diese rechtlich zu binden."39 Insoweit sind sie „gesundheitsund sozialpolitisch wirkender Tatbestand",40 aber nicht rechtlich verbindlich. Für die Empfehlungen über die Veränderung der Gesamtvergütung ordnet freilich § 86 I I 1 SGB V eine darüber hinausgehende Wirkung an, wenn es ihre Berücksichtigung beim Abschluß der Gesamtverträge verlangt. 41 Auch wenn das Maß der rechtlichen Bindung in der Schwebe bleibt, so rechtfertigen doch nur besondere Gründe, namentlich die im Gesetz erwähnten besonderen regionalen Verhältnisse und besonderen Verhältnisse der Kassenarten (§ 86 I I 2 SGB V), ein Abweichen. Diese Empfehlungen sind daher „nicht nur ein politisches Druckmittel", 42 „nicht nur

36

D. Krauskopf

y

Die Bedeutung der Schiedsämter für die kassenärztliche Versorgung, WzS

1973, 65,65. WzS 1962,189,193. WzS 1962,189, 197. 39 1.Ebserty HS-KV §7 Rn. 11. 40 R. Hessy in: Kasseler Kommentar, § 141 SGB V Rn. 3. 41 1. Ebseriy HS-KV § 7 Rn. 11. - So schon G. Lüke y Beiträge zum neuen Kassenarztrecht, 1980, S. 91 f. zum Recht der RVO. 42 B. BehrendSy Grenzen des Privatrechts in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1986, S. 175. 37

Th. Siebecky

38

Th. Siebecky

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

eine unverbindliche Hilfestellung", sondern erweisen sich als „sowohl rechtlich als auch faktisch... flexibles Gestaltungsinstrument".43

2. Zustandekommen von Verträgen Die Verträge des Vertragsarztrechts kommen im Regelfall durch Vereinbarung, durch übereinstimmende Erklärungen der Vertragsparteien zustande. Das Gesetz schreibt ferner die Schriftform vor (§ 72 I I SGB V). Daß das Gesetz Konsens als Grundlage vertraglicher Regelung voraussetzt, ist alles andere als ungewöhnlich. Dem Gesetz ist dies so selbstverständlich, daß es dies nicht eigens betont. Obwohl auch im Vertragsarztrecht die Einigung der vertragschließenden Parteien Grundlage vertraglicher Regelung ist, so sind diese in ihrer Willensbildung doch nicht völlig frei. So formulieren die Aufgabenzuweisungen an die Akteure bereits inhaltliche Schranken. Anders als Privatrechtssubjekte können Verwaltungsträger ihre Zwecke nicht selbst setzen. Das Gesetz weist aber nicht nur den öffentlich-rechtlich verfaßten Akteuren Aufgaben zu und setzt damit ihrer Willensbildung Schranken, sondern gibt ihrer Kooperation auch Ziele vor. 44 Dennoch verbleibt ihnen ein erheblicher Spielraum zur eigenverantwortlichen Gestaltung. Freilich ist nicht nur inhaltlich der Wille der Vertragsparteien rechtlich konditioniert, ohne daß die Vertragsform als bloßes Instrument zur Umsetzung eines (abschließenden) gesetzlichen Programms angesehen werden könnte. Es besteht vor allem auch ein Zwang zum Vertragsschluß, der für die Krankenkassen aus ihrer Naturalleistungsverantwortung und für die Kassenärztlichen Vereinigungen aus ihrem Sicherstellungsauftrag folgt. Prozedural abgestützt wird dies durch institutionelle Vorkehrungen, vor allem durch die Schiedsämter. Der Aufgabe, vertragslose Zustände zu verhindern, hat sich das Kassenarztrecht seit jeher gewidmet. Wo Kooperation vertragsförmige Ergebnisse schaffen soll, finden Verhandlungen „im Schatten" von Schiedsämtern statt, die Konsens zwar nicht schaffen, aber doch indirekt erzwingen können (a). Einen Schritt weiter geht die Vereinbarung durch Kooperationsgremien, wie sie im Gesetz für den Bewertungsmaßstab vorgesehen ist. Hier treten die Vertragsparteien hinter eine gemeinsame Einrichtung zurück, in der Verhandlungen stattfinden und (Binnen-) Organisationscharakter annehmen (b).

a) Sonderfall: Festsetzung durch Schiedsämter Kommt ein Vertrag über die vertragsärztliche Versorgung nicht durch Vereinbarung der Vertragsparteien zustande, so setzt das Schiedsamt den Vertragsinhalt fest (§ 8911 SGB V). In der RVO hieß es außerdem noch, die Festsetzung habe die 43 44

J. Meydam, VSSR 1983, 360, 362f. S.o. §5.

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„Rechtswirkung einer vertraglichen Vereinbarung" (§ 368 h 13 RVO). Der Gesetzgeber des GRG hielt dies für so selbstverständlich, daß er auf eine Übernahme in das SGB V verzichtet hat.45 In rechtlicher Hinsicht ist zwischen der Festsetzung und ihren Rechtswirkungen zu unterscheiden: Festsetzung ist etwas anderes als Vereinbarung des Vertragsinhalts. Sie ist einseitige Festlegung der vertraglichen Regelungen durch eine dritte Stelle. Aus diesem Grunde wird die Festsetzung den Vertragsparteien gegenüber als Verwaltungsakt angesehen.46 Insoweit ähnelt die Situation derjenigen, die bei im Wege der Aufsicht vorgenommenen Rechtsakten entsteht. Allerdings wird kaum erörtert, inwieweit das Schiedsamt wirklich als den Vertragsparteien gegenüber übergeordnet begriffen werden kann. Dies berührt sich mit der später noch zu erörternden 47 Frage nach der Rechtsnatur der Schiedsämter: Sieht man in ihnen Organe der Vertragsparteien, so müßte mangels Außen-(rechts-)wirkung dem Schiedsspruch die Qualifikation als Verwaltungsakt versagt werden. Dies würde nicht zum Ausfall des Rechtsschutzes führen, da auch im sozialgerichtlichen Verfahren Organstreitigkeiten ausgetragen werden können. Nichtsdestotrotz ist, obwohl sie alles andere als selbstverständlich ist, die Auffassung völlig vorherrschend, daß die Schiedssprüche als Verwaltungsakte zu qualifizieren sind. Verwaltungsakt ist die Festsetzung freilich nur im Verhältnis zu den Vertragsparteien, über deren Willen hinweg dadurch der Inhalt der Verträge festgeschrieben wird (§ 89 I 1 SGB V). 48 Nur soweit der Wille der Vertragspartner gebrochen wird, stellen die Schiedssprüche Verwaltungsakte dar. Nur hinsichtlich der Ersetzung der Willenserklärungen kommt ihnen einseitig hoheitlicher Charakter zu; die inhaltliche Regelung hat dagegen Vertragscharakter und ist wie dieser rechtlich zu qualifizieren. 49 Insofern hat der Schiedsspruch einen Doppelcharakter.

45

Vgl. BT-Drs. 11/2237, S. 194 zu § 97 des Entwurfs. BSGE 71, 42, 49; 20, 73, 75. - Ebenso G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 775; F. Schnapp, Organisation der gesetzlichen Krankenversicherung, HS-KV, § 49 Rn. 223; R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 1992, S. 111 ff., 120; P. Krause, Möglichkeiten, Grenzen und Träger des Autonomen Sozialrechts, VSSR 1990,107,117; G. Lüke> Beiträge zum neuen Kassenarztrecht, S. 12. - So nunmehr auch I. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 152 (anders noch ders., Autonome Rechtsetzung in der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR 1990, 57, 66). 47 S.u. VI. 48 Vgl. BSGE 20, 73, 76. 49 Zur Rechtsnatur des Vertragsinhalts s. u. § 7 II. - Die Qualifikation der Festsetzung als Verwaltungsakt hatte ursprünglich auch prozessuale Bedeutung: Das BSG hat Klagen gegen Kollektivverträge des Kassenarztrechts für unzulässig gehalten, weil sie Normwirkung entfalten und das SGG keine Normenkontrolle kennt (siehe nur BSGE 28,224,225 f.). Den Parteien der Gesamtverträge wurde dagegen durch die Qualifikation des Schiedsspruchs als Verwaltungsakt die Anfechtungsklage eröffnet. 46

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

b) Sonderfall:

Beschluß des Bewertungsausschusses

Nach § 8711 SGB V wird der einheitliche Bewertungsmaßstab von den Parteien der Bundesmantelverträge durch Bewertungsausschüsse vereinbart. Anders als die Schiedsämter, die nach § 8911 SGB V den Inhalt der Verträge „festsetzen", „vereinbaren" nach § 8711 SGB V die Vertragsparteien „durch Bewertungsausschüsse" vertragliche Regelungen. Dabei handelt es sich keineswegs ein redaktionelles Versehen: Eine Vereinbarung kann nämlich im (einfachen) Bewertungsausschuß nur durch „übereinstimmenden Beschluß" getroffen werden (§ 87IV 1 SGB V). Beschlüsse des (einfachen) Bewertungsausschusses müssen also einvernehmlich gefaßt werden. 50 Eine einzige Gegenstimme, ja sogar eine Enthaltung führt zum Scheitern der Beschlußfassung. 51 Da im (einfachen) Bewertungsausschuß das Einstimmigkeitsprinzip gilt, hat der Beschluß durchaus vertraglichen Charakter. Und durch ihre Zusammensetzung gleichen die Bewertungsausschüsse einem „verlängerten Arm der Vertragspartner". 52 In erster Linie wurden sie geschaffen, um die Einheitlichkeit des Bewertungsmaßstabs für alle Kassenarten sicherzustellen.53 Ihre rechtliche Konstruktion, die Zusammensetzung aus Vertretern aller Kassenarten und die Verpflichtung zu „übereinstimmenden Beschlüssen" führt dazu, daß nur ein Bewertungsmaßstab für alle Kassenarten, eben ein einheitlicher Bewertungsmaßstab vereinbart werden kann. Die Bewertungsausschüsse habe daher zunächst die Funktion einer Zwangsarbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Krankenkassen und entsprechen insoweit den gemeinsam und einheitlich zu treffenden Entscheidungen.54 Sie gehen allerdings darüber hinaus. Genau besehen sind beim einheitlichen Bewertungsmaßstab drei Techniken kombiniert: das gemeinsame und einheitliche Entscheiden der Spitzenverbände der Krankenkassen, das Entscheiden durch eine verselbständigte Stelle und der Kollektiv vertrag mit Zwangsschlichtung.55 Aber es handelt sich eben um eine echte Kombination, die dem „Beschluß" des (einfachen) Bewertungsausschusses seinen Vertragscharakter nicht nimmt. Mit dem erweiterten Bewertungsausschuß (§ 87IV SGB V) besteht für den einheitlichen Bewertungsmaßstab ein besonderes Bundesschiedsamt.56 Dies mag auf den ersten Blick überflüssig erscheinen, sind doch heute alle Kassenarten in die Bundesschiedsämter einbezogen (§ 89IV SGB V1993). Freilich war dies nicht immer so. Die Ersatzkassen sind erst mit dem GSG in die Schiedsämter einbezogen worden. 57 Bei Einführung des einheitlichen Bewertungsmaßstabs durch das KVKG 50

U. Hencke, in: Peters, § 87 SGB V Rn. 19. R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 19. 52 So R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 18. 53 R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 18. 54 Dazu oben § 3 IV 4. 55 1. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 164. 56 S.u.IV3. 57 Vgl. § 89 IV SGB V1989. - Dies war auch folgerichtig, denn die Vorschriften über die Bundesmantelverträge galten ebenfalls nicht für die Ersatzkassen (vgl. § 82 11 SGB V1989). 51

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1977 war dies noch nicht der Fall; die erweiterten Bewertungsausschüsse damals stellten die Schiedsfähigkeit der Bewertungsmaßstäbe sicher. Insoweit stellen die erweiterten Bewertungsausschüsse ein Stück - freilich noch sehr lebendiger - Geschichte dar.

III. Schiedsämter Die Schiedsämter haben die Aufgabe, den Inhalt der Verträge über die vertragsärztliche Versorgung festzusetzen, die mangels Einigung der Vertragsparteien nicht zustande kommen (§ 8 9 1 1 SGB V). M i t den Schiedsämtern hat das Gesetz einen Konfliktlösungsmechanismus institutionalisiert, der schon durch sein bloßes Vorhandensein der Konsensbildung und damit der Funktionsfähigkeit des Vertragsregimes dient. Schiedsfähig sind alle Verträge über die vertragsärztliche Versorgung. Darunter fallen jedenfalls die Bundesmantel- (§ 82 I SGB V ) und Gesamtverträge (§ 83 SGB V ) und damit grundsätzlich auch alle Vereinbarungen, die Teil dieser Verträge sind. 58 Der Differenzierung zwischen den Bundesmantelverträgen und den Gesamtverträgen entsprechend existieren mit dem Bundesschiedsamt und den Landesschiedsämtern auf Bundes- und auf Landesebene 59 je eigene Schiedsämter (§8911, I V I SGBV).

Allerdings waren die vertraglichen Beziehungen der Ersatzkassen ansatzweise bereits in Anlehnung an die der Primärkassen geregelt (vgl. § 83 III, § 72 III SGB V1989), so daß das Fehlen einer Regelung über die Schiedsämter schon merkwürdig war. Einen gewissen Ersatz für die gesetzlich nicht vorgesehenen Schiedsämter bot die Arbeitsgemeinschaft Ärzte/Ersatzkassen nach §32 AEV 1990. 58 Dies gilt allerdings nicht für den einheitlichen Bewertungsmaßstab und die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Obgleich diese nach § 87 11, § 92 VIII SGB V Bestandteil des Bundesmantelvertrags sind, kommen sie in Verfahren zustande, die ihre Schiedsamtsfähigkeit ausschließen: So besteht für den einheitlichen Bewertungsmaßstab mit dem erweiterten Bewertungsausschuß ein besonderes Schiedsamt, das an die Stelle des Bundesschiedsamts tritt (dazu II2b und IV 3), und die Richtlinien werden nicht vereinbart, sondern (mehrheitlich) im Bundesausschuß beschlossen, so daß es schon gar kein Bedürfnis nach einer Ermöglichung von Mehrheitsentscheidungen durch das Bundesschiedsamt gibt. 59 Genauer: Auf Ebene der Bezirke der Kassenärztlichen Vereinigungen, die grundsätzlich für den Bereich eines Landes zuständig sind, soweit nicht historisch bedingte Abweichungen - wie in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen - bestehen (§ 771 SGB V). Daß die Landesschiedsämter nicht immer für das Gebiet eines Landes zu bilden sind, mag sich aus § 89 II 1 SGB V nicht zweifelsfrei ergeben, folgt aber daraus, daß die Verträge, die die Landesschiedsämter festzusetzen haben, durchweg solche mit den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen sind, und wird von § 1IV SchAVO bestätigt (s. a. G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 744).

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1. Funktion der Schiedsämter Die Schiedsämter sind ein Instrument der (Zwangs-)Schlichtung; sie sollen vertragslose Zustände verhindern. Das Gesetz stellt Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen den Abschluß von Verträgen nicht frei, sondern verpflichtet sie zu vertraglicher Regelung ihrer Beziehungen und schafft durch Schiedsämter, die bei Scheitern von Verhandlungen zur Zwangsschlichtung berechtigt sind, Druck zum Abschluß der Verträge. 60 Daß sich Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen nicht auf eine vertragliche Regelung ihrer Beziehungen einigen können, soll nicht dazu führen können, daß die ärztliche Versorgung der Versicherten nicht mehr gewährleistet ist. Die Zwangsschlichtung dient damit der Gewährleistung der Naturalleistungserbringung - die vom Krankenversicherungsrecht den Versicherten versprochene Bedarfsdeckung soll nicht infolge vertragsloser Zustände ausfallen. Die Zwangsschlichtung dient zugleich der Aufrechterhaltung des Kollektivvertragssystems mit seiner Bindung der Krankenkassen an die Kassenärztlichen Vereinigungen als exklusivem Vertragspartner. Denn die Erbringung von Naturalleistungen ist in vertragslosen Zuständen nur dann ausgeschlossen, wenn die Krankenkassen keine Eigeneinrichtungen unterhalten und auch keine Verträge mit einzelnen Ärzten oder anderen Einrichtungen abschließen können. Die Zwangsschlichtung stellt damit ein zentrales Instrument zur Stabilisierung der (vertragsförmigen) Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts dar. Die Schiedsämter haben im Kassenarztrecht eine lange Tradition. 61 Im Laufe der Zeit hat sich freilich ihre Funktion durchaus gewandelt: So kannte schon das Berliner Abkommen vom 23.12.191362 vertragsfestsetzende Schiedsämter. Die Verträge, über die diese zu beschließen hatten, waren Einzelverträge zwischen Krankenkasse und Arzt. Diese Schiedsämter waren Teil eines Geflechts von gemeinsamen Einrichtungen, mit denen die einzelvertraglichen Beziehungen kollektivrechtlich überwölbt wurden. Seitdem das Kassenarztrecht von 1931/3263 den Einzelvertrag praktisch durch Kollektivverträge verdrängt hat,64 haben die Schiedsämter nur noch im Fall der Nichteinigung den Inhalt der Gesamt- und Mantelverträge festzusetzen 60

1. Ebsen, VSSR 1990, 57, 65; P. Krause, VSSR 1990,107,115. Siehe D. Krauskopf, WzS 1973,65,67 f.; A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, 1955, S.23,35 ff.; L. Richter, Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung, 1927, S.64ff., 72ff. 62 Abgedruckt in ArbVers 1914,50ff. 63 Fünfter Teil, Kapitel I, Abschnitt 1 der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens vom 8.12.1931 (RGBl. I S. 699) und Verordnung über kassenärztliche Versorgung vom 14.1.1932 (RGBl. I S. 19). 64 Der Einzel vertrag war bereits durch das Kassenarztrecht von 1931/32 praktisch vom Kollektivvertrag verdrängt worden. Zwar hatte es noch formal an den Einzelverträgen zwischen Krankenkassen und Ärzten festgehalten (vgl. § 368 III, § 368 bl RVO 1932). Doch waren diese funktionslos geworden und wurden alsbald beseitigt (näher dazu G. Schneider, Handbuch das Kassenarztrechts, Rn.80ff., 100ff.). 61

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(§ 368 c Π, ΠΙ RVO 1932). Daneben nahmen sie früher allerdings auch rechtsprechende Befugnisse wahr, wenn sie über Streitigkeiten aus Einzel-, Gesamt- und Mantelverträgen zu entscheiden hatten (§ 368 η I, § 368 ρ I RVO 1932).65 Das GKAR, das bewußt an das Kassenarztrecht von 1931/32 anknüpfte, wollte ursprünglich den Landes- und Bundesschiedsämter nicht nur die Festsetzung des Inhalts der Gesamt- und Mantelverträge, sondern auch deren verbindliche Auslegung zuweisen; außerdem sollten die Vertragsparteien gegen Entscheidungen der Landesschiedsämter das Bundesschiedsamt anrufen können. In der Begründung hieß es dazu: Von der Eröffnung eines besonderen Rechtswegs gegen Entscheidungen der Schiedsämter könne abgesehen werden, da die Festsetzung und die verbindliche Auslegung der Verträge im Wege der gemeinsamen Selbstverwaltung erschöpfend erfolge. 66 Dies rückte die Schiedsämter in das Zentrum der Kontroverse um das GKAR. 67 Im Laufe der parlamentarischen Beratungen wurde zunächst die Kompetenz zur verbindlichen Auslegung68 und später der Instanzenzug69 gestrichen. Die Schiedsämter sind seit dem GKAR nur noch zur Vertragsfestsetzung befugt; für Streitigkeiten über die Wirksamkeit oder Auslegung von Verträgen sind sie nicht zuständig. Das BSG spricht deshalb davon, daß die Festsetzung des Vertragsinhalts durch das Schiedsamt eine „Form der Schlichtung, nicht der Rechtsfindung" ist. Dabei ersetzt der Schiedsspruch die Regelung, die die Vertragsparteien in freier Vereinbarung hätten treffen können.70 Vielfach ist diesbezüglich davon die Rede, die Schiedsämter hätten hinsichtlich des Vertragsinhalts dieselbe „Gestaltungsfreiheit" wie die Vertragsparteien, 71 ihnen stünde ein „der Vertragsfreiheit der Parteien entsprechendes Gestaltungsermessen" zu.72 Von „Freiheit" hier zu sprechen, ist freilich irreführend: Die Vertragsparteien genießen nicht Vertragsfreiheit wie Privatpersonen, sondern sind bei der vertraglichen Regelung vielfach rechtlich gebunden.73 Diese rechtlichen Bindungen gelten auch für das Schiedsamt. Freilich bedeutet dies 65

Diese Verknüpfung von Vertragsfestsetzung und Streitentscheidung geht auf die Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30.10.1923 (RGBl. IS. 1051) zurück (§ 10 III, § 121 dieser Verordnung = § 368 k III, § 368 m I RVO 1924). - Dagegen hatte das Berliner Abkommen noch zwischen vertragsfestsetzenden Schiedsämtern (Nr. 5 des Berliner Abkommens) und Schiedsgerichten für Streitigkeiten aus abgeschlossenen Verträgen (Nr. 6 des Berliner Abkommens) unterschieden. 66 BT-Drs. 1/3904, S. 22. 67 Vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik, BT-Drs. 2/1313, S. 1. - Ähnlich umstritten war nur noch die Natur der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (dazu oben § 4 IV). 68 § 368 h IV in der Fassung des Entwurfs BT-Drs. 2/528. 69 BT-Drs. 2/1492, S.2 Nr. 1 lit.a. 70 BSGE 20, 73, 76; 36,151, 153f.; 37, 74, 79; 56, 215, 216 und 220. 71 BSGE 20,73,76. - U. Hencke, in: Peters, § 89 SGB V Rn. 6; D. Krauskopf, in: Krauskopf, § 89 SGB V Rn. 10; R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 89 SGB V Rn. 16. 72 BSGE 51, 58, 62; 36, 151,153. 73 So auch B. Schulin, Vergütungen für zahntechnische Leistungen, 1992, S.30.

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nicht, daß ihm keinerlei Spielräume zustünden. Vielmehr können die Gerichte, weil dem Schiedsamt die gleiche „Gestaltungsfreiheit" zukommt wie den Vertragsparteien, die Schiedsämter auch nicht zum Erlaß eines bestimmten Schiedsspruchs mit einem bestimmten Vertragsinhalt verurteilen. 74

2. Bildung und Zusammensetzung der Schiedsämter Die Schiedsämter werden von den Kassenärztlichen Vereinigungen und den Verbänden der Krankenkassen gebildet (§ 89Π1, I V 1 SGB V). Wenn das Gesetz von einer Bildung der Schiedsämter durch die Vertragsparteien spricht, so rückt es diese nicht von ungefähr in deren Nähe. Auch wenn das Gesetz die Schaffung der Schiedsämter nicht dem Belieben der Vertragsparteien überläßt und auch deren Kompetenzen selbst festlegt, so sieht es doch in ihnen Gremien, die gemeinsam von den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen errichtet werden. Mit dieser rechtlichen Zuschreibung hat es allerdings nicht sein Bewenden. Die Schiedsämter sind vom Gesetz auch faktisch als gemeinsame Einrichtungen der Vertragsparteien konzipiert: Ihre Handlungsfähigkeit beziehen sie ausschließlich von diesen her. Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Verbände der Krankenkassen entsenden in gleicher Zahl Vertreter in die Schiedsämter, zu denen ein unparteiischer Vorsitzender und zwei weitere unparteiische Mitglieder hinzutreten, über die sich beide Seiten einigen sollen (§ 89 III 1 SGB V). Eine staatliche Beteiligung sieht das Gesetz nicht vor. Die Schiedsämter unterliegen lediglich der Rechtsaufsicht des Staates (§ 89 V 3 SGB V). 7 5 74

BSGE 52, 253, 254; 36, 151,153; 20, 73, 76. Das GSG hat damit an die Stelle einer auf die Geschäftsführung beschränkten Aufsicht eine uneingeschränkte Rechtsaufsicht gesetzt. - Die Aufsicht über die meisten gemeinsamen Einrichtungen des Vertragsarztrechts wird - soweit überhaupt vorgesehen - noch heute im Gesetz als eine über die Geschäftsführung der jeweiligen Einrichtung bezeichnet (für die Bundesausschüsse: § 91IV SGB V - siehe aber auch §§ 93 II, 941 SGB V; für die Landesausschüsse: § 90 IV 2 SGB V; für die Zulassungs- und Berufungsausschüsse: § 97 V SGB V). Bei der Geschäftsführungsaufsicht handelt es sich um eine auf die Einhaltung formellen Rechts beschränkte Rechtsauf sieht; die von der jeweiligen Einrichtung zu treffenden Sachentscheidungen fallen nicht darunter (J. Teigelack, Zwei- und dreiseitige Verträge nach SGB V, 1994, S. 144 für § 114IV SGB V). Daß das Ziel der Geschäftsführungsaufsicht die Sicherstellung der Handlungsfähigkeit des Kooperationsgremiums ist, zeigt am augenfälligsten § 97 V SGB V: Dort wird nach der Zuweisung der Zuständigkeit für die Aufsicht über die Geschäftsführung der Zulassungsgremien bestimmt, daß die Aufsichtsbehörden die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen berufen können, soweit diese von den zuständigen Körperschaften nicht bestellt worden sind. Die damit ermöglichte Ersatzvornahme zielt gerade darauf, die Arbeitsfähigkeit der Zulassungsgremien herzustellen, ohne in die Sacharbeit einzugreifen. Ist Geschäftsführung als nur technische Vor- und Nachbereitung der Sachentscheidung zu verstehen, und beschränkt sich die Aufsicht auf dieses enge Segment, dann ist sie weder Fachaufsicht noch Rechtsaufsicht, da der Kern der Tätigkeit der gemeinsamen Einrichtungen überhaupt aus der Aufsicht herausfällt. Bei den Schiedsämtern hielt der Gesetzgeber des GSG diese Form der Aufsicht für ungenügend. 75

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Die Anzahl der Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen ist im Gesetz selbst - anders als die der unparteiischen Mitglieder - nicht festgelegt. Nach der Schiedsamtsverordnung sind in die Schiedsämter je sieben Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen zu entsenden (§ 111, ΠΙ 1 SchAVO 1998). Durch diese erst jüngst 76 erfolgte Änderung können nunmehr alle Kassenarten (§4 Π SGB V) in den Schiedsämtern repräsentiert sein.77 Ist über einen Vertrag zu entscheiden, der nicht alle Kassenarten betrifft, wirken nur Vertreter der betroffenen Kassenarten mit; die Anzahl der Vertreter der Ärzte verringert sich entsprechend (§ 89 Π 3 SGB V1993, § 1Π SchAVO 1998).78 Diese Regelung ist in doppelter Weise eine Folge des GSG: Zum einen reagiert sie auf die volle Einbeziehung der Ersatzkassen in die Kooperationsstrukturen des in Vertragsarztrecht umbenannten Kassenarztrechts. Zum andern antwortet sie auf die wettbewerbliche Umorientierung, die eigenständige Wege der Kassenarten im Vertragsbereich erwarten läßt. Denn bisher bestand die Praxis der Primärkassen, auf Bundesebene durchweg und auf Landesebene meist gemeinsam mit den Kassenärztlichen (Bundes-) Vereinigungen Verträge abzuschließen.79 Die Ersatzkassen hielten es dagegen nach dem GSG nicht für erforderlich, ihr eigenständiges Vertragsrecht aufzugeben. Nachdem bereits das GRG einen ersten Schritt zu einer differenzierenden Zusammensetzung der Schiedsämter gemacht hatte,80 kam dies im Gefolge des GSG nunmehr zum Abschluß. Daran zeigt sich deutlich, daß das Gesetz die Vertreter der Krankenkassen nicht als „unparteiische" begreift, sondern selbst unter den Krankenkassen „parteiische" Interessen anerkennt und in die Schiedsämter integriert. Für die Bestellung des Vorsitzenden und der weiteren unparteiischen Mitglieder sieht das Gesetz als Regelfall die Einigung der beteiligten Verbände der Ärzte und Krankenkassen vor (§ 89 ΠΙ 1, IV 2 SGB V). Können sich diese über die unparteiischen Mitglieder nicht einigen, so haben sie zunächst eine gemeinsame Liste 76

3. Verordnung zur Änderung der Schiedsamtsverordnung vom 7.4.1998 (BGBl. IS. 719). Vorher waren in die Landesschiedsämter je zwei und in die Bundesschiedsämter je fünf Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen zu entsenden. 78 Weil die See-Krankenkasse nur dann als „betroffene" Kassenart im Sinne des § 1 II SchAVO 1998 gelten kann, wenn tatsächlich für sie Verträge existieren (vgl. § 165IV 3 SGB V), werden jedenfalls die Landesschiedsämter regelmäßig höchstens aus je sechs Vertretern der Krankenkassen und Ärzte bestehen. 79 Die SchAVO erkannte nur auf Landesebene ein Interesse an gesteigerter Vertretung im Schiedsamt an. Nach § 1 II SchAVO 1989 konnte bei Entscheidungen, die nur eine Kassenart betrafen, diese einen der beiden Kassenvertreter im Landesschiedsamt bestellen; über den anderen Vertreter sollten sich die übrigen Kassenarten einigen. Für die Bundesebene kannte die Schiedsamtsverordnung eine entsprechende Regelung nicht (vgl. § 1 III SchAVO 1989). 80 Während § 1 II SchAVO 1978 noch bestimmt hatte, daß einer der beiden Kassenvertreter von den Ortskrankenkassen bestellt wird, während sich die anderen Kassenarten über den weiteren Kassenvertreter zu einigen haben, sah der durch das GRG neugefaßt § 1 II SchAVO 1989 vor, daß die Kassenart, für die durch das Landesschiedsamt der Vertragsinhalt festgesetzt werden soll, einen Vertreter bestellt, während sich die übrigen Kassenarten über den anderen Vertreter zu einigen haben. 77

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

aufzustellen, die getrennt nach den zu besetzenden Ämtern mindestens die doppelte Anzahl an Kandidaten enthalten muß (§ 89 I I I 4 SGB V). Wer von den darin aufgeführten Kandidaten das jeweilige Amt ausüben kann, entscheidet dann das Los (§ 89ΙΠ 5 SGB V). Die Amtsdauer der durch Los bestimmten unparteiischen Mitglieder beträgt nur ein Jahr (§ 89 I I I 6 SGB V); dagegen amtierten die unparteiischen Mitglieder, auf die sich die Beteiligten geeinigt haben, vier Jahre (§ 89 ΠΙ 3 SGB V). Diese Differenzierung zwischen unparteiischen Mitgliedern unterschiedlicher Legitimation zeigt deutlich, daß die einvernehmliche Bestellung Leitbild des Gesetzes ist. Jedenfalls werden die unparteiischen Mitglieder allein durch die beteiligten Körperschaften bestimmt; eine staatliche Mitwirkung sieht das Gesetz nicht vor. Daß das Gesetz die Schiedsämter als Einrichtung der beteiligten Verbände ansieht, zeigt sich auch daran, daß die unparteiischen Mitglieder als bestellt gelten, sobald sie sich sämtlichen beteiligten Körperschaften gegenüber zur Amtsübernahme bereit erklärt haben (§ 2 SchAVO). Auch die Niederlegung des Amtes eines unparteiischen Mitglieds ist den beteiligten Körperschaften gegenüber zu erklären, der Aufsichtsbehörde jedoch nur mitzuteilen (§ 5 S. 3 SchAVO). Die Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen werden dagegen von den entsendungsberechtigten Körperschaften ernannt; eine Erklärung gegenüber den anderen beteiligten Verbänden ist nicht erforderlich. Während die Ärzte- und Kassenvertreter jederzeit vom entsendenden Verband abberufen werden können, ohne daß dafür ein Grund erforderlich wäre, 81 ist die Abberufung der unparteiischen Mitgliedern nur aus wichtigem Grund möglich und erfolgt durch die zuständige Aufsichtsbehörde nach Anhörung der beteiligten Verbände (§41 SchAVO). Die Mitglieder der Schiedsämter sind an Weisungen nicht gebunden (§ 89 ΙΠ 8 SGB V). Dies gilt nicht nur für die unparteiischen Mitglieder, sondern auch für die Ärzte- und Kassenvertreter. Dennoch bezeichnet das Gesetz letztere nicht ohne Bedacht (auch) als „Vertreter". Es geht davon aus, daß sie ungeachtet ihrer Weisungsfreiheit als Repräsentanten der beteiligten Verbände die Gruppeninteressen deren Mitglieder artikulieren werden. Ihre Parteilichkeit ist nicht als Mangel, sondern als „Strukturmoment paritätischer Selbstverwaltung" bezeichnet worden; die Aufgabe der unparteiischen Mitglieder bestehe darin, zwischen den solchermaßen in die Schiedsämter eingeschlossenen konfligierenden Gruppeninteressen zu vermitteln. 82 Auch wenn die Interessenverbundenheit kein Defizit ist, so wendet sich doch das Gesetz gegen allzu strikte Rückbindungen an innerverbandliche Festlegungen. Die Weisungsfreiheit richtet sich nicht gegen die Interessenvertretung als solche, aber gegen verbandliche Vorzeichnungen. Die Weisungsfreiheit dient dazu, die Arbeit der Schiedsämter zu versachlichen und in ihnen einen eigenständigen, an der Sachaufgabe orientierten Kommunikationszusammenhang durch Abschirmung gegen 81

Allerdings bleibt ihre Mitgliedschaft solange bestehen, bis ein Nachfolger bestimmt ist (§ 4 II SchAVO 1998). Früher war ihre Abberufung nur zum Schluß eines Kalenderhalbjahres möglich (§4 II SchAVO 1957). 82 Ρ Krause, VSSR 1990,107, 109.

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unmittelbare verbandliche Einflüsse zu konstituieren. Von einem wirklich „freien Mandat" im überkommenen Sinne kann indes keine Rede sein.83 Denn die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen bleiben von ihren Verbänden durchaus persönlich abhängig: Diese haben es nicht nur in der Hand, sie nach Ablauf ihrer Amtszeit erneut zu ernennen, sondern können sie jederzeit abberufen (§411 SchAVO 1998). Dennoch dämmt die Weisungsfreiheit den Verbandseinfluß und damit die Orientierung an Verbandspositionen ein. Sie verhindert zwar nicht, daß die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen die Interessen ihrer Gruppe zur Geltung bringen, sie verlangt aber, daß sie sich als Mitglieder des Schiedsamts in erster Linie an dessen Auftrag orientieren und will dies auch begünstigen. Man wird es zu den Bedingungen verbandlicher Interessenrepräsentation" zählen können, daß Personen, die als Vertreter von Gruppeninteressen in ein Gremium entsandt werden, dort aber keine partikularen Interessen zur Geltung bringen sollen, eine schwierige Rollendifferenzierung abverlangt wird, die sich rechtlich allenfalls begünstigen, nicht aber garantieren läßt - und zwar weder durch eine Verpflichtung auf ein Gesamtinteresse noch dadurch, daß sie von Weisungen und Aufträgen unabhängig gestellt werden. Denn durch die Weisungsfreiheit erlangt zwar derjenige eine temporär unangreifbare Position, der interessenunabhängig entscheiden will, eine freiwillige Interessenbindung und erst recht die Betrachtung des Gesamtinteresses unter partikularen Gesichtspunkten läßt sich dadurch aber nicht verhindern. 84 Dennoch ist das „freie Mandat", das mit der Weisungsfreiheit eingeräumt wird, nicht sinnlos. Zwar vermag es eine Gemeinwohlorientierung allein nicht zu gewährleisten. Doch stabilisiert es den in den Schiedsämtern institutionalisierten Kommunikationszusammenhang. Daß die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen die Interessen ihrer Verbände einbringen, ist kein Mangel, sondern verleiht dem Kommunikationszusammenhang gerade einen kooperativen Grundzug.

3. Schiedsamts verfahren Das Schiedsamtsverfahren ist im SGB V nur in geringem Umfang und im wesentlichen aber in der nach § 89 V I SGB V ergangenen Verordnung geregelt. Daneben können ergänzend die Vorschriften des SGB X über das Verwaltungsverfahren herangezogen werden, wenn mit der vorherrschenden Auffassung der Schiedsspruch im Verhältnis zu den Vertragsparteien als Verwaltungsakt qualifiziert wird. 85 § 8911 SGB V könnte entnommen werden, daß Verfahren vor dem Schiedsamt von Amts wegen eingeleitet werden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Nach §131 SchAVO ist dann, wenn ein Vertrag ganz oder teilweise nicht zustande kommt, ein 83 Kritisch zur Statuierung freier Mandate bei Kooperativorganisationen: W. Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, 1969, S. 122. 84 BVerfGE 83,228, 334f. « S. ο. II 2 a.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Antrag erforderlich; nur wenn ein Vertrag gekündigt wurde, wird nach § 13 I I SchAVO ein Schiedsamtsverfahren von Amts wegen eingeleitet.86 Die SchAVO hält damit an einer Unterscheidung fest, die früher in § 368 h I, I I RVO das Gesetz noch selbst gemacht hatte. Wenn das Schiedsamtsverfahren von einem Antrag der Vertragsparteien abhängig gemacht wird, entsteht allerdings das Problem, daß diese trotz Regelungsbedürftigkeit eine Regelung verhindern können. Um hier die Autonomie der Vertragsparteien einzuschränken, läßt § 89 Ia SGB V auch die Anrufung durch die Aufsichtsbehörde zu. Von der Initiativfunktion des Antrags ist zu unterscheiden, ob dieser den Verfahrensgegenstand beschränken oder gar der Sachentscheidung einen Rahmen setzen kann. Dabei ist davon auszugehen, daß das Schiedsamt bei der Festsetzung des Vertragsinhalts den gleichen Gestaltungsspielraum wie die Vertragsparteien hat. Wenn Inhalt des Schiedsspruchs nur sein kann, was die Vertragsparteien in freier Vereinbarung hätten regeln können,87 so deckt sich die Kompetenz des Schiedsamts genau mit der der Vertragsparteien. Sicherlich beschränkt der Antrag den Gegenstand des Schiedsverfahrens, wenn er die vertraglichen Regelungen bezeichnet, hinsichtlich derer es einer Schlichtung bedarf. Regelungen über die sich die Parteien geeinigt haben, sollen durch das Schiedsamt nicht in Frage gestellt werden. Das Schiedsamt soll schlichten, nicht aber als übergeordnete Stelle den Vertragsparteien seinen Gestaltungswillen aufzwingen. Insoweit gehen auf das Schiedsamt keineswegs die vollen Kompetenzen der Vertragsparteien über. Eine Bindung an Sachanträge in dem Sinne, daß die Entscheidung des Schiedsamts sich nur innerhalb der von den Beteiligten geforderten Regelungen bewegen darf, kann es aber nicht geben. Die Funktion der Schiedsämter gebietet eine Orientierung an den von den Parteien beantragten Regelungen nicht - eher im Gegenteil: Soll Schlichtung Sinn machen, so muß sie die Streitpunkte strukturieren und in entscheidbare Fragen umformulieren, wobei sie sich in erster Linie an den gesetzlichen Maßstäben für die Vertragsgestaltung auszurichten hat. Auf deren Grundlage ist ein rationaler Entwurf für die Konfliktlösung zu erarbeiten, der - soweit möglich - mit gesicherten Erkenntnissen arbeitet. Dieser Strukturierungsaufgabe entzögen sich die Schiedsämter, wenn sie sich darauf beschränkten, einen Vorschlag zu unterbreiten, der in der Mitte zwischen dem von den Vertragsparteien Geforderten liegt. Für das Schiedsamtsverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. 88 Das Gesetz geht gleichwohl davon aus, daß das Schiedsamt einen Vertrag innerhalb von drei Monaten festsetzen kann (§ 8911 SGB V). Auch wenn dies als Ordnungsfrist inter86 Näher zur Unterscheidung der beiden Fälle: R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 100ff. 87 BSGE 52, 253, 254; 36,151,153. 88 Von seiner Geltung gehen gewisse Bestimmungen der SchAVO aus (R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 109 f.), sie folgt aber auch aus §20 SGBX.

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pretiert wird, 89 so scheinen dem Gesetz doch umfangreiche Sachverhaltsermittlungen entbehrlich. Aus der Schiedsamtspraxis wird berichtet, die entscheidenden Daten seien häufig so umstritten, daß sie eigentlich als untauglich ausscheiden müßten; weil die Schiedsämter aber gleichwohl eine Entscheidung zu treffen hätten, legten sie dieser nicht selten Mittelwerte zugrunde oder entschieden nach Beweislast, die es zwar eigentlich nicht geben könne, doch gelange der Untersuchungsgrundsatz an seine Grenzen, wenn ein hinreichend praktikables Verfahren zur Sachverhaltsermittlung nicht zur Verfügung stehe.90 Für die Schiedsstelle nach dem KHG wurde aus ihrer Funktion als „Vertragshilfeorgan" gefolgert, daß sie sich nur im Rahmen der von den Vertragsparteien vorgetragenen Tatsachen bewegen dürfe. Sie verlöre diesen Charakter und würde zu „übergeordneten Kontrollinstanz", wenn sie weitergehende Ermittlungen anstellen und die „angeblich »falschen4 Vorstellungen und Wünsche der Parteien" auf eine vermeintlich sichere Grundlage stellen würde. 91 Auch wenn dies für das Schiedsamt im Vertragsarztrecht zu weit gehen dürfte, so macht dies doch darauf aufmerksam, daß der Untersuchungsgrundsatz mit der Schlichtungsfunktion nicht unbedingt kompatibel ist. Dies nimmt nicht wunder: Anliegen des Verwaltungsverfahrensrecht, für das § 20 SGB X den Untersuchungsgrundsatz festschreibt, ist nicht die Beilegung von Konflikten, sondern der Vollzug von Normprogrammen. Doch spricht dies letztlich nicht gegen die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes: Soll das Schiedsamt anstelle der Vertragsparteien den Vertragsinhalt festsetzen, so bedarf es all der Informationen, über die die Vertragsparteien verfügen; es muß wie diese in der Lage sein, Inhalt und Folgen seines Tuns abschätzen zu können. Um seine Aufgabe erfüllen zu können, darf das Schiedsamt nicht durch selektive Information instrumentalisiert oder durch Informationsverweigerung boykottiert werden können. Das Verfahren vor dem Schiedsamt selbst ist von der SchAVO als förmliches Verfahren mit obligatorischer mündlicher Verhandlung ausgestaltet. Zur mündlicher Verhandlung, aufgrund derer das Schiedsamt entscheidet, sind die Vertragsparteien zu laden (§ 16 S. 1 SchAVO). Damit ist eine Beteiligtenöffentlichkeit vorgeschrieben. Beratung und Beschlußfassung des Schiedsamts dagegen erfolgen unter Ausschluß der Vertragsparteien (§1811 SchAVO). Diese Ausgestaltung des Verfahrens stützt zum einen die Rollendifferenzierung der Vertreter der Ärzte und Krankenkassen ab, die als Mitglieder des Schiedsamts in der mündlichen Verhandlung den Vertragsparteien gegenübersitzen; zum andern betont sie die kooperative Natur der Materie. Dies gilt noch mehr für den vom früheren Recht zwingend vorgeschriebenen Einigungsversuch und Vermittlungsvorschlag (§ 368 h I RVO), der der Straffung des Gesetzestexts durch das GRG zum Opfer gefallen ist. Das BSG hatte freilich schon

89

D. Krauskopf i in: Krauskopf, § 89 SGB V Rn. 12. Β. Schulin, Vergütungen für zahntechnische Leistungen, 1992, S. 123 f. 91 M. Heinze, Verfahren und Entscheidung der Schiedsstelle, in: Heinze/Wagner, Die Schiedsstelle des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, 1989, S.61, 63 ff. 90

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

früher die Folgen von Verstößen gegen diese Pflicht eingegrenzt.92 Nichtsdestotrotz ist das Schiedsamt, weil die Einigung der Parteien Vorrang hat, gehalten, Hilfe bei der Einigung zu leisten. Ohnehin bleibt die Dispositionsbefugnis der Parteien erhalten, da sie das Schiedsverfahren jederzeit durch eine Einigung erledigen können, wie es ihnen unbenommen ist, nach dem Schiedsspruch eine von diesem abweichende Regelung zu vereinbaren. 93

IV. Bewertungsausschuß Nach § 8711 SGB V vereinbart die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen durch einen Bewertungsausschuß als Bestandteil der Bundesmantelverträge einen einheitlichen Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen. Das hier vorgeschriebene institutionelle Arrangement ist in mehrfacher Hinsicht eigentümlich: Zum einen beschränkt es sich mit der Aufstellung eines Bewertungsmaßstabs auf ein enges Segment des Vertragsrechts. Zum andern geht das Gesetz davon aus, daß hier in einem Ausschuß Verträge geschlossen werden. 94

1. Funktion des Bewertungsausschusses Der Bewertungsausschuß ist im Vergleich zu den Schiedsämtern - aber auch zu dem noch zu behandelnden Bundesausschuß - wesentlich jüngeren Datums. Geschaffen wurden er durch das KVKG 1977, wenn er auch Vorläufer in vertraglich vereinbarten Ausschüssen hatte. Nach Art. 2 § 9 KVKG sollte der Bewertungsausschuß erstmals bis zum 1.7.1978 einen einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen aufstellen. Dieser einheitliche Bewertungsmaßstab gilt für alle Kassenarten - und zwar von Anfang an auch für die Ersatzkassen. Dabei ist im Auge zu behalten, daß bei seiner Einführung das Kassenarztrecht für die Ersatzkassen nicht galt. Sie konnten vielmehr ihre Beziehungen zu den Ärzten weitgehend frei von gesetzlichen Vorgaben regeln. Das von den Ersatzkassen geschaffene Vertragsarztrecht glich zwar von seiner Grundstruktur her dem Kassenarztrecht, dies war aber keineswegs vom Gesetz vorgeschrieben. Mehr noch: Das Gesetz verpflichtete die Ersatzkassen anders als die Primärkassen nicht dazu, überhaupt mit den Kassenärztlichen Vereinigungen Verträge über die ärztliche Versorgung ihrer Versicherten abzuschließen, es ermächtigte sie nur dazu.95 92

BSGE 51, 58, 59ff. BSGE 51, 58,61. 94 Dazu oben II 2 b. 95 P. Wigge, Die Stellung der Ersatzkassen im gegliederten System der gesetzlichen Krankenversicherung, 1992, S.21 f.; E. StoltiE . Vesper, Die Ersatzkassen der Krankenversicherung, 7. Aufl. 1973, S. 131 f. 93

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Die durch das KVKG erfolgte Zuständigkeitsverlagerung von den Vertragsparteien auf den Bewertungsausschuß diente daher zuvörderst der Schaffung einer bundeseinheitlichen Regelung für alle Kassenarten.96 Die Bewertungsausschüsse sind nur deshalb vom Gesetz als Einrichtung vorgesehen, um eine einheitliche, kassenartenübergreifende Regelung zu erreichen. Die Bewertungsausschüsse sind insoweit funktionelles Äquivalent zu den gemeinsamen und einheitlichen Entscheidungen der Spitzenverbände der Krankenkassen,97 sie schließen diese in einer Art Zwangsarbeitsgemeinschaft zusammen, ändern aber nichts an der Natur des Bewertungsmaßstabes als einer den Vertragsparteien zuzurechnenden vertraglichen Vereinbarung. 98 Die konkrete Ausgestaltung, die dies im Gesetz gefunden hat, weist freilich eine weitere Eigentümlichkeit auf: Der Bewertungsausschuß ist danach nicht nur ein Gremium, in dem sich die Kassenarten einigen sollen, sondern zugleich ein Forum, auf dem diese mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Vereinbarungen treffen. Dies ist freilich auch nichts völlig Neues: Schon vor dem KVKG wurden die Bewertungsmaßstäbe von Vertragsausschüssen erarbeitet. Kontinuierliche Arbeit verlangte offenkundig nach einem stärker institutionalisierten Rahmen. Neu ist nur, die Kombination zweier Techniken: Der kassenartenübergreifenden Zusammenarbeit und der gremienvermittelten Kooperation von Ärzten und Krankenkassen.

2. Einfacher Bewertungsausschuß Der einfache Bewertungsausschuß besteht ausschließlich aus Vertretern der Kassen - und Ärzteverbände. Er kennt keine unparteiischen Mitglieder. Der Vorsitz wechselt daher zwischen den Vertretern der Ärzte und den Vertretern der Krankenkassen (§ 87 I I I SGB V). Das Gesetz bestimmt nicht - wie bei den Schiedsämtern - , daß die Mitglieder des Bewertungsausschusses weisungsfrei sind.99 Mangels anderweitiger Regelung wird davon ausgegangen, daß sie jederzeit abberufen werden können und an Weisungen gebunden sind. 100 Sie sind daher nicht allein Repräsentanten von Gruppeninteressen, sondern Vertreter der sie entsendenden Verbände. Der Bewertungsausschuß wird deshalb auch als „verlängerter Arm der Vertragspartner" bezeichnet.101 96

BSGE 73, 131, 133. Dazu oben § 3 I V 4. 98 S.o.II2b. 99 U. Hencke, in: Peters, § 87 SGB V Rn. 18; R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 18. 100 BSGE 78,191,194; 73,131,133; SozR 3-2200 § 368 g Nr. 2 \R.Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 18 (Stand 1994). - Anderer Ansicht P. Schellen, Die Bewertungsausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen, 1982, S. 231 ff. 101 R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 87 SGB V Rn. 18; U. Hencke, in: Peters, § 87 SGB V Rn.4. 97

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Dies ist auch aus einem anderen Grund zutreffend: Da das Gesetz übereinstimmende Beschlüsse, also Einstimmigkeit verlangt (§ 87IV 1 SGB V), ist selbst die Überstimmung einer Kassenart nicht möglich. Aufgrund des Einstimmigkeitsprinzips gleichen die Beschlüsse des Bewertungsausschusses sehr stark Vertragsschlüssen.102 Der von den Bewertungsausschüssen zu vereinbarende Bewertungsmaßstab hat daher nicht nur formal den Charakter einer vertraglichen Regelung.103 Der Bewertungsausschuß hat mithin Stellung und Funktion eines Vertragsorgans, durch das die Parteien der Bundesmantelverträge einen einheitlichen Bewertungsmaßstab für die ärztlichen Leistungen vereinbaren. 104

3. Erweiterter Bewertungsausschuß Kann im (einfachen) Bewertungsausschuß kein übereinstimmender Beschluß erzielt werden, so wird der Bewertungsausschuß auf Antrag um einen unparteiischen Vorsitzenden und vier weitere unparteiische Mitglieder erweitert (§ 87IV1 SGB V). Dieser erweiterte Bewertungsausschuß setzt mit der Mehrheit seiner Mitglieder die Vereinbarung fest (§ 87 V 1 SGB V). Der erweiterte Bewertungsausschuß hat damit die Funktion eines Schiedsamts.105 Allerdings bestehen gewisse Abweichungen gegenüber den Schiedsämtern - vor allem was die Bestellung der Mitglieder betrifft: Die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen werden unmittelbar dem vertragschließenden einfachen Bewertungsausschuß entnommen, was eine Rollendifferenzierung nicht begünstigen dürfte. Und bei den unparteiischen Mitglieder gilt nur für den Vorsitzenden das Verfahren nach § 89 III SGB V, ist also eine Einigung der Beteiligten herbeizuführen (§ 87IV 2 SGB V); die weiteren unparteiischen Mitglieder werden einseitig von den beteiligten Verbänden benannt (§ 87IV 3,4 SGB V). Über die Rechtsstellung der Mitglieder des erweiterten Bewertungsausschusses schweigt das Gesetz wie über die des einfachen. In Ermangelung anderweitiger Bestimmungen wird auch hier jederzeitige Abberufbarkeit und Weisungsgebundenheit der Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen anzunehmen sein. 102 1. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 165, hält auch im Falle der Einstimmigkeit die „Vereinbarungen" des Bewertungsausschusses für keine „echten" Verträge. 103 Dazu bereits oben II 2 b. 104 BSGE 73,131,133. - Die Praxis, Arbeitsausschüsse einzusetzen, die die Entscheidungsfindung für das Plenum des Bewertungsausschusses vorbereiten, ist vom BSG gebilligt worden: „Sofern mit einer einheitlichen Willensbildung... jedenfalls hinsichtlich aller Streitfragen nicht gerechnet werden kann, ist es sinnvoll, wenn ein Ausschuß den Streitstoff ordnet, ihn nach konsensfähigen und nicht konsensfähigen Punkten strukturiert und für die voraussichtlich nicht einstimmig zu klärenden Fragen abstimmungsfähige Alternativen vorbereitet" (BSGE 78,191, 193). 105 Der Grund für die Schaffung eines besonderen Bundesschiedsamts war die Einbeziehung der Ersatzkassen in den Bewertungsausschuß. Denn die Ersatzkassen sind erst mit der Abschaffung ihres (alten) Vertragsarztrechts durch das GSG den Schiedsämtern unterworfen worden (s.o. III 2).

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Nach Auffassung des BSG handelt es sich beim einfachen und erweiterten Bewertungsausschuß um einen einheitlichen Ausschuß, der seine Entscheidungen lediglich in verschiedener Zusammensetzung und nach unterschiedlichen Regeln (Einstimmigkeits- oder Mehrheitsprinzip) trifft. 106 Daher sei es belanglos, wenn statt des einfachen Bewertungsausschusses der erweiterte Bewertungsausschuß verhandelt und entschieden hat. Das Gesetz schreibe nicht vor, wie lange im einfachen Bewertungsausschuß beraten werden muß, bis festgestellt werden kann, daß ein einstimmiger Beschluß nicht erreichbar ist. Wird im Vorfeld einer Sitzung des Bewertungsausschusses deutlich, daß ein Konsens nicht erreichbar sein wird, soll es nicht nur zulässig, sondern sachgerecht sein, so schnell wie möglich den erweiterten Bewertungsausschuß zu bemühen. Weil das Gesetz den erweiterten Bewertungsausschuß als Konfliktlösungsgremium für den Fall einer fehlenden Einigungsfähigkeit vorgesehen hat, sei nichts dagegen einzuwenden, wenn das Beratungs- und Entscheidungsverfahren bei unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten weitgehend auf ihn übertragen werde. 107

V. Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen Nach § 911 SGB V bilden die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesverbände der Krankenkassen sowie die Verbände der Ersatzkassen108 einen Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen. Die wichtigste Aufgabe des Bundesausschusses ist es, Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche ärztliche Versorgung der Versicherten zu beschließen (§ 9211 SGB V). Der Bundesausschuß kann wie die Schiedsämter auf eine lange Geschichte zurückblicken. In dieser war seine Funktion, seine Zusammensetzung und institutionelle Anbindung deutlichen Wandelungen unterworfen.

1. Funktion des Bundesausschusses Ganz im Mittelpunkt der Arbeit des Bundesausschusses steht die Schaffung von Richtlinien. Der diesbezüglich allgemein in § 921 SGB V enthaltene Auftrag wird ergänzt durch eine Reihe speziellerer Richtlinienaufträge. Die weiteren Aufgaben des Bundesausschusses,109 wie die Zusammenfassung ausgeschlossener Arzneimit106

BSGE 78, 191, 192. BSGE 78, 191,193. 108 Die See-Krankenkasse, die zwar den Status eines Spitzenverbands (§2131 SGB V), aber nicht den eines Bundesverbands hat, ist somit nicht beteiligt. 109 Vom GSG bis zum 5. SGB V-ÄndG vom 18.12.1995 (BGBl. IS. 1986) war der Bundesausschuß Träger des Instituts „Arzneimittel in der Krankenversicherung" (näher zu diesem kurzlebigen Institut: G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.563ff.). 107

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

tel (§ 93 SGB V) 1 1 0 und die Gruppeneinteilung im Vorfeld der Festsetzung von Arzneimittelfestbeträgen (§ 351, I I SGB V), 1 1 1 verblassen daneben; sie bleiben daher im folgenden außer Betracht.

a) Vom Zentralausschuß zum Bundesausschuß Ein Vorläufer des Bundesausschusses war der durch das Berliner Abkommen errichtete Zentralausschuß,112 der freilich keine besondere Wirksamkeit entfaltet hatte. Ihm war nur die Durchführung des Berliner Abkommens, nicht aber die Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen aufgegeben, was als sein Mangel angesehen worden war. 113 Als das unter staatlicher Vermittlung zustande gekommene Berliner Abkommen von den Vertragsparteien nicht mehr verlängert zu werden drohte, wurde es 1923 - freilich nicht ohne Modifikationen - als staatliches Recht fortgeschrieben. 114 Dabei wurde zur Regelung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten ein Reichsausschuß gebildet (§ 368 a I RVO 1924), dessen Hauptaufgabe es war, Richtlinien zur Sicherstellung gleichmäßiger und angemessener Vereinbarungen zwischen Ärzten und Krankenkassen aufzustellen (§ 368 e I RVO). 115 Damit war dem Reichsausschuß im Gegensatz zum Zentralausschuß gerade die Weiterentwicklung der vertraglichen Beziehungen aufgegeben. Daß dem Reichsausschuß hierbei eine maßgebliche Rolle zukam, lag angesichts der die gesetzgeberische Intervention auslösenden Blockade der Kassen- und Ärzteverbände nahe. Der Reichsausschuß ordnete in der Folge seinem gesetzlichen Auftrag entsprechend das ärztliche Vertragswesen neu, erließ eine Zulassungsordnung, Vertragsrichtlinien, Richtlinien für wirtschaftliche Arzneiverordnung und für die Tätigkeit der Prüfungsausschüsse. 116 Nicht das therapeutische Geschehen, sondern die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen stand im Mittelpunkt seiner Arbeit. Die Rechtsnatur seiner Richtlinien war umstritten; 117 allerdings hatte das Gesetz sie mit mehr als nur faktisch 110

Zur Rechtsnatur der Übersicht: BSGE 79,41,44f. Zur Rechtsnatur der Festbeträge BSG, NZS 1995, 502, 508ff. 112 Nr. 12 des Berliner Abkommens vom 23.12.1913 (ArbVers 1914, 50). 113 G. Heinemann, Die Regelung des Kassenarztvertrages, LZ 1925,1038, 1044. 114 Verordnung über Ärzte und Krankenkassen vom 30.10.1923 (RGB1.I S. 1051), die im Zuge der Neubekanntmachung der RVO vom 15.12.1924 (RGBl. IS. 779) ins Gesetz übernommen wurde. 1,5 Daneben konnte er auch Rechtsverordnungen erlassen (G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.49 Fn.20). 116 Wiedergegeben und erläutert bei G. Heinemann, Kassenarztrecht, 1929, S. 38 ff., 84ff., 119ff., 128 ff. 117 Siehe nur B. Kühne, Kann der Reichsausschuß für Ärzte und Krankenkassen zwingendes Recht schaffen?, ArbVers 1926, 161 ff.; L. Richter, Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung, S.43ff.; G. Heinemann, Kassenarztrecht, §368 e RVO Anm. 3. 111

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wirkender Verbindlichkeit ausgestattet, wenn es die - damals auch rechtsprechende Funktionen ausübenden118 - Schiedsämter verpflichtete, bei ihren Entscheidungen die Richtlinien des Reichsausschusses zugrunde zu legen (§ 368 m Π 1 RVO 1924). Das Kassenarztrecht von 1931/32 hat zwar einige Gegenstände, die bisher den Reichsausschuß beschäftigt hatten, einer gesetzlichen Regelung zugeführt, zugleich aber dessen Stellung gestärkt, indem es diesem nunmehr die Kompetenz zum Erlaß von unmittelbar verbindlichen Ausführungsbestimmungen zuwies (§ 368 i I RVO 1932).119 Diese Bestimmungen bedurften dafür aber der Zustimmung des Reichsarbeitsministers (§ 368 i I I RVO 1932), der diese selbst erlassen konnte, wenn sie nicht zustande kamen oder nicht seine Zustimmung fanden (§ 368 i ΠΙ RVO 1932). Die Stärkung des Reichsausschusses ist indes nicht weiter wirksam geworden, denn bereits 1933 war er durch den - auf Anweisung der Reichsregierung erfolgten - Auszug der Ärztevertreter stillgelegt worden, wodurch dessen Kompetenzen auf den Reichsarbeitsminister übergingen, der von ihnen in der Folge auch Gebrauch gemacht hat. 120 Bei der Neugestaltung des Kassenarztrechts durch das GKAR sollte der Bundesausschuß ursprünglich die dem Reichsausschuß zugebilligte starke Stellung wieder erhalten und Bestimmungen über die ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche kassenärztliche Versorgung der Versicherten erlassen dürfen. 121 Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens ist davon Abstand genommen und die Zuständigkeit des Bundesausschusses auf den Erlaß von „Richtlinien" beschränkt worden, die nach § 368 ρ III RVO 1955 nicht mehr - wie ursprünglich vorgesehen - auf Grund von Satzungsbestimmung „verbindlich" sein, sondern nur noch „beachtet werden sollten". 122 b) Aufwertung des Bundesausschusses Als Gegenstände der Richtliniengebung bezeichnete § 368 p I RVO 1955 insbesondere die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die Gewährung ärztlicher Sachleistungen, die Versorgung mit Zahnersatz, die Verordnung von Arznei, Heilmitteln und Krankenhauspflege, die Bescheinigung von Arbeitsunfähigkeit. Das GKAR hat die Regulierung des therapeutischen Geschehens, die nur eine untergeordnete Funktion des Reichsausschusses gewesen war, so zur eigentlichen Aufgabe des Bundesausschusses gemacht. Damit scheint er von einer politi118

S.ο.IUI. Dazu L. Richter, Das Kassenärzterecht von 1931/32, 1932, S. 110, der insoweit von Rechtsverordnungen sprach. 120 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.95. 121 § 368 ο I in der Fassung des Fraktionsentwurfs (BT-Drs. 2/528). - Noch deutlicher in der Tradition des Kassenarztrechts von 1931/32 stand der § 368 ml in der Fassung des Regierungsentwurfs (BT-Drs. 1/3904). 122 Näher zur Reduktion der Funktion des Bundesausschusses im Laufe des Gesetzgebungsprozesses: A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, § 368 p RVO, Anm. III 1. 119

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

sehen Arena zu einem eher unpolitischen Gremium technischen Sachverstands geworden zu sein. 1 2 3 Dem sind zwar die Beratungsrechte entgegenzuhalten, die der Bundesausschuß nach dem G K A R beim Erlaß bestimmter Rechtsverordnungen besaß; 1 2 4 zuzustimmen ist aber, daß der Bundesausschuß durch seinen Aufgabenzuschnitt mehr den Charakter eines sachkundigen Gremiums erhielt. Dennoch wuchs er i m Laufe der Zeit immer mehr in eine zentrale Rolle bei der Gestaltung des Vertragsarztrechts hinein. Es läßt sich insoweit ein kontinuierlicher Aufwertungsprozeß ausmachen, 125 der allerdings weniger auf gesetzgeberische Maßnahmen, weniger auf die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen, als auf eine stärkere Ausfüllung der vorhandenen Kompetenzen zurückzuführen ist. Sicher blieb der Gesetzgeber nicht untätig und erschloß dem Bundesausschuß neue Gegenstände, 1 2 6 eröffnete ihm neuartige Instrumente 127 oder präzisierte bereits vorhandene Aufträge. 128 Die in der Literatur beobachtete Umfunktionierung des Bundesausschusses zu einem Instrument der Kostendämpfung, 129 fand aber innerhalb der Aufgabe statt, Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche ärztliche Versorgung der Versicherten zu schaffen. Daß dem Bundesausschuß die Indienstnahme für die Kostendämpfung leichter fiel als der eigens zu diesem Zweck ge-

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So Ph. Genschel, Variationen des Wandels, PVS 37 (1996), 56, 70. § 363c 12 RVO 1955 (Zulassungsordnung), § 368i VII 1 RVO 1955 (Schiedsamtsordnung). - Dagegen sah § 368 ο IV 3 RVO 1955 beim Erlaß der BA/LAVO eine Anhörung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesverbände der Krankenkassen vor. 125 Freilich verlor der Bundesausschuß auch Kompetenzen: So wurden in das SGBV weder die Vertragsrichtlinien des § 368 ρ IV RVO noch die Beratungsrechte beim Erlaß von Zulassungs- und Schiedsamtsordnung (§§368cl, 368 i VII RVO) übernommen. Diese Beratungsrechte erinnerten an entsprechende Beschlußrechte, die dem Reichsausschuß noch zugestanden hatten und ursprünglich auch dem Bundesausschuß eröffnet werden sollten. 126 Wie etwa durch den im Zuge der Einführung von Früherkennungsmaßnahmen durch das 2. KVÄndG vom 21.12.1970 (BGB1.I S. 1770) dem Bundesausschuß erteilte Richtlinienauftrag (§ 386p V RVO 1970, nunmehr § 921 Nr. 3 mit §§ 25 IV2, 26 II SGB V). 127 Wie etwa der durch das KVWG dem Bundesausschuß aufgegebene Erlaß von Bedarfsplanungsrichtlinien (§ 368 ρ VII RVO 1976, nunmehr § 921 Nr. 9 mit § 1011, II SGB V). - Hierzu können auch die Großgeräterichtlinien gezählt werden (näher G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.487ff): 1985 beschloß der Bundesausschuß diese gestützt auf seine allgemeine Richtlinienkompetenz. Das GRG hat dies in §921 Nr. 9, V I SGB V durch einen speziellen Richtlinienauftrag abgestützt - freilich ohne das BSG davon abhalten zu können, die noch nach dem Recht der RVO ergangenen Großgeräterichtlinien zu kassieren (BSGE 67, 256). Wahrend die nach dem Recht des SGB V ergangenen Großgeräterichtlinien vor dem BSG Bestand hatten (BSGE 70, 285), strich das GSG den speziellen Richtlinienauftrag des §921 Nr. 9 SGBV wieder. 128 Eine Präzisierung fand im Bereich der Arzneimittelrichtlinien statt, die zu beschließen seit dem GKAR Aufgabe des Bundesausschusses ist. So hat das KVKG 1977 die Schaffung von Preisvergleichslisten als Gegenstand von Arznei- und Heilmittelrichtlinien bezeichnet (§ 368 ρ 12 RVO 1977). Und das GRG hat im Rahmen seiner Festbetragsregelung dem Bundesausschuß die Aufgabe zugewiesen, die Festbetragsgruppen zusammenzustellen (§ 35 SGBV). 129 Ph. Genschel, PVS 37 (1996), 56, 71 f. ,24

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gründeten Konzertierten Aktion, wird auf seine exklusivere Zusammensetzung und die damit verbundene Möglichkeit zur Externalisierung negativer Effekte, vor allem aber auf die ihm eigene Definition aller Probleme als technische und nicht als politische und die dadurch mögliche Ablenkung von Verteilungsfragen zurückgeführt. Die Inszenierung des Bundesausschusses als Gremium technischen Sachverstandes - die sich im übrigen bis in die Rechtsprechung hinein verfolgen läßt 130 - hat zugleich vor seiner Öffnung für andere Gruppen geschützt: „Niemand konnte einen vergleichbaren Grad an »Expertise* und ,Nähe zum Patienten' vorweisen." 131 Trotz dieses Bedeutungszuwachs blieb doch bis in die jüngste Zeit hinein eines konstant: Der Bundesausschuß kümmerte sich vorrangig um Probleme an der Peripherie des (Vertrags-) ärztlichen Tuns und klammerte deren Kern, die kurativen ärztlichen Leistungen, weitgehend aus. Während die ärztliche Verordnungsweise Gegenstand der Arzneimittel-, Heil- und Hilfsmittel-, Krankenhauspflege- und Arbeitsunfähigkeitsrichtlinien ist, fehlen bis heute Richtlinien zur ärztlichen Behandlung. 132 Bezeichnend dafür ist die Geschichte der Richtlinien über die Einführung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Einen Auftrag, solche Richtlinien zu schaffen, enthielt bereits das GKAR (§ 368 p I RVO 1955); indes kamen sie unter Geltung der RVO nicht zustande. Gleichwohl bestand sehr wohl eine diesbezügliche Regulierung - nur erfolgte diese nicht durch Richtlinien des Bundesausschusses, sondern durch Empfehlungen eines Ausschusses, der auf vertraglicher Grundlage arbeitete, nämlich des Ausschusses für Untersuchungs- und Heilmethoden nach § 23 BMV-Ä 1978 bzw. § 14 BMV-Ä 1959.133 Erstaunlicherweise wurde ein ausdrücklich im Gesetz als Gegenstand der Richtliniengebung bezeichneter Bereich lange Zeit allein auf (bundesmantel-) vertraglicher Grundlage geregelt. Daß sich dies mit dem GRG geändert hat, dürfte auch mit der (vollen) Einbeziehung der Ersatzkassen in den Bundesausschuß zusammenhängen, läßt sich aber kaum allein damit erklären. 134 Ausschlaggebend scheint eher gewesen zu sein, daß dieser Richtlinienauftrag gerade auf die diagnostische und therapeutische Tätigkeit der Ärzte 130 Wenn etwa das BSG von dem „mit den Versorgungsbedürfnissen des ambulanten Bereichs besonders vertrauten und sachverständigen Bundesausschuß" spricht (BSGE 70, 285, 297) oder von dem „mit besonderer Sachkunde versehenen Bundesausschuß" die Rede ist (BSGE 73, 271, 287 f.). 131 Ph. Genschel, PVS 37 (1996), 56, 72. 132 R. Busse/F. W. Schwartz , ArbuSozPol 11-12/97, 51, 56. - Eine Ausnahme stellen insoweit die - vor dem Psychotherapeutengesetz ergangenen - Psychotherapie-Richtlinien dar, die aber gerade durch ihren Gegenstand den Befund bestätigen. 133 Für die vertragsärztliche Versorgung der Ersatzkassen nahm die Arbeitsgemeinschaft nach § 19 EKV1963 entsprechende Funktionen wahr. - Zu den Empfehlungen dieser Vertragsausschüsse: BSGE 63, 102, 103; 52, 134, 137f. 134 Sicher ist allerdings, daß § 1351 SGB V rechtlich dadurch einen Zwang zur Schaffung von NUB-Richtlinien geschaffen hat, daß die Abrechnungsfähigkeit von neuen Behandlungsund Untersuchungsmöglichkeiten an Empfehlungen in Richtlinien des Bundesausschusses geknüpft wurde. Die korporativen Akteure konnten dem nicht mehr durch eigenständige Ausschüsse entgehen.

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zielte, auch wenn er sich dabei dank seiner Beschränkung auf „neue" Methoden mit einem schmalen Segment begnügen mußte. Hier trat durch das 2. GKV-NOG ein entscheidender Wandel ein: Der Bundesausschuß ist nun nicht mehr auf neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden beschränkt, sondern hat auch bereits erbrachte Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen, ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit zu überprüfen (§ 1351 SGB V 1997).135 Die ständige Überprüfung des vertragsärztlichen Leistungsspektrums ist ihm damit ausdrücklich aufgegeben. Der Bundesausschuß, der sich bislang eher der ärztlichen Verordnungstätigkeit gewidmet hatte, ist dadurch gehalten, dem Kern der ärztlichen Behandlungstätigkeit Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings geht es dabei nicht nur um die Regulierung der Behandlungstätigkeit selbst, sondern in gewisser Weise auch um die Definition des Leistungskatalogs der sozialen Krankenversicherung. Vor dem Hintergrund der politischen Auseinandersetzung um die 3. Stufe der Gesundheitsreform ist denn auch behauptet worden, dem Bundesausschuß sei nunmehr das „Geschäft der Leistungsausgrenzung" zugewiesen.136 Jedenfalls kann darüber, daß der Bundesausschuß das Leistungsspektrum der sozialen Krankenversicherung überprüfen und dabei gegebenenfalls auch um bisher erbrachte Leistungen bereinigen soll, angesichts des Gesetzestexts (§ 13513 SGB V1997) nunmehr kein Zweifel bestehen.137

c) Regulierung der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise Nach § 9211 SGB V hat der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten zu beschließen.138 § 921 SGB V sieht damit - anders als § 368 p RVO - nur noch 135 Soweit die Gesetzesbegründung diesbezüglich von einer Klarstellung spricht (BT-Drs. 13/6087, S. 29) ist dies unzutreffend. 136 Ygi ψ Noftz, Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht nach Inkrafttreten des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, VSSR 1997, 393,436 Fn.359. 137

Dabei wird den Ärzten inzwischen ein Interesse an einer strengen Beurteilung der Behandlungs- und Untersuchungsmethoden unterstellt, weil vom Bundesausschuß abgelehnte Methoden von den Ärzten außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung erbracht werden können (F. 7. Oldiges, VSSR 1997,439,446). 138 Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen ist nicht die einzige Institution, die nach dem Recht des SGB V „Richtlinien" erläßt: So ermächtigt §75 VII SGB V die Kassenärztliche Bundesvereinigung zur Aufstellung von Richtlinien, die zur Durchführung der von ihr geschlossenen Verträge erforderlich sind. Ebenso enthält § 135 III SGB V einen an die Kassenärztliche Bundesvereinigung gerichteten Richtlinienauftrag. Diese Richtlinien sind zwar in den Gesamtzusammenhang der Kooperation eingestellt, stellen aber kein spezifisches Instrument des Interessenausgleichs dar und werden deshalb im folgenden nicht erörtert. Dagegen kennt § 135 a SGB V Richtlinien, die von den Parteien der Bundesmantelverträge und den Bun-

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Wirtschaftlichkeitsrichtlinien vor und kennt keine Vertragsrichtlinien mehr. 139 Die Richtlinien dienen ausweislich § 9211 SGB V zuvörderst der Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit der Krankenbehandlung. Es ist daher von einem „unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang" der Richtliniengebung mit dem allgemein in § 121 SGB V festgehaltenen Wirtschaftlichkeitsgebot gesprochen worden. 140 Allerdings hat § 1351 SGB V der Richtliniengebung deutlich eine andere Richtung gegeben, indem es sie - zumal in der Fassung des 2. GKV-NOG - in Richtung Qualitätssicherung lenkte. 141 Einen grundsätzlich anderen Charakter haben jedoch die Richtlinien, die unmittelbar den Leistungsanspruch regeln sollen (etwa § 22 V, § 25IV 2, § 26 II, § 27 a IV SGB V). In § 9212 SGB V wird beispielhaft aufgeführt, was Gegenstand von Richtlinien sein kann. Weitere Gegenstände sind in einer Reihe anderer Vorschriften enthalten. 142 Der Katalog des § 9212 SGB V entspricht in weiten Teilen dem Katalog des § 73 Π SGB V, der den Umfang der vertragsärztlichen Versorgung definiert. Der Richtliniengebung ist damit die Regulierung der gesamten ärztlichen Behandlungs- und Versorgungsweise zugänglich. Die Ausrichtung auf das Wirtschaftlichkeitsgebot schränkt dies im Verhältnis zu anderen Gestaltungsformen, insbesondere den Bundesmantelverträgen, nicht ein. Denn nicht nur für die Verträge (§ 72 I I SGB V), sondern auch für die anderen Instrumente des Vertragsarztrechts gilt die Orientierung am Wirtschaftlichkeitsgebot (§7012 SGB V). Auch daß nach § 9211 SGB V nur erforderliche Richtlinien erlassen werden dürfen, bewirkt keine wirkliche Begrenzung der Richtliniengebung. Zwar wird dies teilweise dahin verstanden, daß nur regelungsbedürftige, aber nicht schon anderweitig - etwa durch Bundesmantelverträge - geregelte Sachverhalte Gegenstand von Richtlinien sein dürfen; 143 doch läuft dies leer, wenn im Katalog des § 9212 SGB V eine Auflistung von Aufträgen zum Richtlinienerlaß gesehen wird. Für die Stellung gegenüber dem Regime der Mantel- und Gesamtverträge ist vieleher § 72 I I SGB V signifikant, wonach sich die vertragsförmige Regelung an den durch die Richtlinien gezogenen Rahmen zu halten hat. desverbänden von Leistungserbringern im Bereich ambulanter Vorsorgeleistungen und Rehabilitationsverfahren erlassen werden; hierbei handelt es sich um vertraglich vereinbarte Richtlinien. Auch weisen § 282 S. 3 und § 302 II SGB V den Spitzenverbänden der Krankenkassen die Aufgabe zu, bestimmte Fragen gemeinsam und einheitlich durch Richtlinien zu regeln. 139 Zu den Vertragsrichtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen nach dem Recht der RVO siehe D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, 1988, S. 12 ff. - Wenn im folgenden von Richtlinien die Rede ist, so sind für das Recht der RVO ausschließlich die Wirtschaftlichkeitsrichtlinien gemeint. 140 B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, 1992, S.80. 141 Daran ändert sich auch nichts dadurch, daß das Wirtschaftlichkeitsgebot seit jeher dem Gedanken der Qualitätssicherung gegenüber offen war (dazu oben § 1 13b und § 5 112). 142 Siehe § 22 V, § 25IV 2, § 26 II, § 27 a IV, § 29IV, § 30 II 2, § 33 III 2 und IV 2, § 351, § 101, § 1351 und VI, § 136112, § 138 SGB V. 143 H. D. Schirmer, in: Hauck/Haines, §92 SGB V Rn.5.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Die Richtliniengebung unterscheidet sich insoweit vom Vertragsregime als sie weniger auf Interessenausgleich - wie er für die Verträge von § 72 Π SGB V ins Zentrum gerückt wird - denn auf Problemlösung gerichtet ist. Den Richtlinien geht es mehr um die Optimierung der ärztlichen Versorgung und weniger um Verteilungsfragen - wenn auch sicherlich über solche mitzubefinden ist. Freilich ist der Bundesausschuß nicht nur ein Sachverständigengremium. Schon durch das nicht von ungefähr in § 9211 SGB V aufgeführte Wirtschaftlichkeitgebot wird die Tätigkeit des Bundesausschusses deutlich in einer Weise konditioniert, die sich nicht allein medizinisch-sachverständig begreifen läßt.

2. Bildung und Zusammensetzung Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen wird von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Bundesverbänden der Krankenkassen sowie den Verbänden der Ersatzkassen gebildet (§ 911 SGB V), die auch in gleicher Zahl Vertreter in ihn entsenden sowie sich über die unparteiischen Mitglieder zu einigen haben. Der Bundesausschuß unterscheidet sich darin deutlich von seinen Vorläufern, vor allem vom Reichsausschuß. Daher soll zunächst ein kurzer Blick auf die historische Entwicklung geworfen werden.

a) Historische Entwicklung Im Gegensatz zu dem vertraglich vereinbarten und paritätisch von den Vertragsparteien beschickten Zentralausschuß, dessen Vorsitzender von der Reichsregierung ernannt wurde, war der 1923 geschaffene Reichsausschuß der Ärzte und Krankenkassen nicht nur eine gesetzliche, sondern auch eine deutlich von den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen abgehobene Institution. Der Reichsausschuß bestand aus je fünf von den Spitzenverbänden der Ärzte und Krankenkassen gewählten Vertretern und drei weiteren, vom Reichsarbeitsminister ernannten unparteiischen Mitglieder (§ 368 a II, I I I RVO 1924). Welche Verbände wahlberechtigt waren, bestimmte der Reichsarbeitsminister (§ 368 a I I 3 RVO 1924). Die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen wurden auf fünf Jahre gewählt (§ 368 a Π 2 RVO 1924), woraus in Ermangelung anderweitiger Bestimmungen gefolgert wurde, daß sie weder von den Spitzenverbänden noch vom Reichsarbeitsminister abberufen werden konnten.144 Mehr noch: Sie sollten an Weisungen der sie entsendenden Verbände nicht gebunden sein können, da sie zwar im Ausschuß die Interessen ihrer Gruppe vertreten sollten, „das Ergebnis der Ausschußtätigkeit jedoch im Namen des Reiches hinausgeht und über dem Ausgleich der ärztlichen und Kasseninteres144

G. Heinemann, Kassenarztrecht, 1929, § 368 a Anm. 1; L. Richter, Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung, S.34.

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sen hinaus dem öffentlichen, allgemeinen Interesse zu dienen bestimmt ist." Dagegen ist für die unparteiischen Mitglieder angenommen worden, daß sie als Beauftragte des Reichsarbeitsministers an dessen Weisungen gebunden sind. 145 Der Staat trat hier nicht mehr nur als Vermittler, sondern als Beteiligter auf. Der Reichsausschuß war daher deutlich der staatlichen Verwaltung angenähert. Gleichwohl war er nicht wirklich eine staatliche Einrichtung, sondern ein Gremium, das eine gemeinwohldienliche Regelung der Beziehungen von Ärzten und Krankenkassen durch die Gemeinwohlbindung deren Vertreter und über seine Beschlußfassung bewerkstelligen sollte. 146 Daran hat sich durch das Kassenarztrecht von 1931/32 nichts geändert (vgl. § 368 f RVO 1932). Der Bundesausschuß war im Gegensatz dazu von Anfang an ohne staatliche Beteiligung konzipiert: Über die unparteiischen Mitglieder sollten sich Kassenärztliche Bundesvereinigung und Bundesverbände der Krankenkassen einigen; nur wenn eine Einigung nicht zustande kam, sollte der Bundesarbeitsminister diese - auf Vorschlag der beiderseitigen Spitzenverbände - ernennen (§ 368 ο ΠΙ RVO 1955). Das Gesetz sprach denn auch davon, daß die beiderseitigen Spitzenverbände den Bundesausschuß bilden (§ 368 ο IRVO 1955). Darin klingt der Regierungsentwurf an, der den Bundesausschuß noch als „oberste beschließende Einrichtung der gemeinsamen Selbstverwaltung" bezeichnen wollte. 147 Das GKAR hat im Vergleich zum früheren Recht die Unabhängigkeit der unparteiischen Mitglieder gestärkt und die der Vertreter der Ärzte und Krankenkassen geschwächt;148 überhaupt wurde der staatliche Einfluß zurückgedrängt und der der Verbände intensiviert. Zwar weicht dies vom Kassenarztrecht von 1931/32 ab, an dem sich der Gesetzgeber des GKAR orientiert hatte, doch erscheint diese Abweichung angesichts der vollständigen Kollektivierung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen sowie der mit der Publifizierung der beiderseitigen Verbände erfolgten direkten Gemeinwohlbindung nur konsequent. In der Folgezeit änderte sich die Zusammensetzung des Bundesausschusses durch die sukzessive Einbeziehung der Ersatzkassen, die erst durch das GRG abgeschlossen wurde. 1970 wurden die Ersatzkassen im Zuge der Einführung von Früherkennungsmaßnahmen erstmals in die Bundesausschüsse einbezogen.149 Bis zum 145 L. Richter, Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung, S.29ff. (Zitat S.35f.). 146 M. Döhler/Ph. Manow-Borgwardt, PVS 33 (1992), 571,576 f. - Dies wird vor allem daran deutlich, daß der Reichsausschuß als engerer und als weiterer Ausschuß tagen konnte: Der nur aus den von den Spitzenverbänden gewählte engere Ausschuß nahm regelmäßig die Aufgaben des Reichsausschusses wahr (§ 368 c S. 1 RVO 1924); der um die drei unparteiischen Mitglieder erweiterte Ausschuß wurde dagegen in Fragen von grundsätzlicher Bedeutung sowie dann tätig, wenn im engeren Ausschuß keine Einigung erzielt werden konnte (§ 368 c S. 2 RVO 1924). 147 §3681 (BT-Drs. 1/3904). 148 M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 1975, S. 18. 149 2. KVÄndG vom 21.12.1970 (BGB1.I S. 1770).

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GRG wirkten Vertreter der Ersatzkassen in den in § 368 ο V I I 1 RVO genannten Fällen an der Beschlußfassung des Bundesausschusses mit. Aber erst das GRG integrierte die Ersatzkassen voll in den Bundesausschuß: Ihre Vertreter wirken seither immer bei dessen Beschlußfassung mit; dementsprechend mußte sich auch ihr Vertragsrecht an den durch die Richtlinien gesetzten Rahmen (§ 72ΙΠ, I I SGB V1989) halten.150 Erstaunlich ist dies insoweit, als die Ersatzkassen ihr Vertragsarztrecht noch bis zum GSG beibehalten konnten.151 Mit ihrer „Vertragsfreiheit" - d. h. mit ihrer Freiheit die ärztliche Versorgung der Ersatzkassenversicherten auch ohne Rückgriff auf die Kassenärztlichen Vereinigungen sicherzustellen - war die Einbeziehung in den Bundesausschuß zwar kaum kompatibel, aber mit den von den Ersatzkassen gewählten Vertragsstrukturen sehr wohl. b) Gegenwärtiger Befund Daß die Bundesausschüsse nach § 911 SGB V von Verbänden der Ärzte und der Krankenkassen gebildet werden, spiegelt sich in ihrer Zusammensetzung wider: Sie bestehen aus Vertretern der Ärzte und Vertretern der Kassen in gleicher Zahl, zu denen noch ein unparteiischer Vorsitzenden und zwei weitere unparteiische Mitglieder hinzutreten, über die sich die beteiligten Verbände einigen sollen (§ 91 I I 1 SGB V). Insoweit gleicht das Bild dem der Schiedsämter. Eine Ausnahme besteht allerdings für den Fall, daß keine Einigung über die unparteiischen Mitglieder möglich ist: Hier sieht das Gesetz bei den Bundesausschüssen eine Berufung durch den Bundesgesundheitsminister vor, die freilich im Benehmen mit den beteiligten Verbänden zu erfolgen hat (§91Π 3 SGB V). Die Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen werden von den entsendungsberechtigten Verbänden bestellt (§91114 SGB V) und können von diesen ohne Angabe von Gründen zum Schluß jedes Kalenderhalbjahres abberufen werden (§ 3 I I BA/ LAVO). Auch über den Vorsitzenden und die unparteiischen Mitglieder sollen sich die Verbände der Ärzte und Krankenkassen einigen (§ 91112 SGB V); ihre Abberufung ist allerdings nur aus wichtigem Grund durch die Aufsichtsbehörde möglich (§31BA/LAVO). Als Regelfall sieht das Gesetz die einvernehmliche Bestellung der unparteiischen Mitglieder durch die beteiligten Verbände vor. Nur wenn eine Einigung der primär zuständigen Verbände nicht zu erreichen ist, kann der Bundesgesundheitsminister sie berufen. Freilich hat diese Berufung im Benehmen mit den primär zuständigen Verbänden zu erfolgen; das Gesetz versucht so auch im Falle der gegenseitigen Blockierung der Ärzte- und Kassenseite diesen eine Mitwirkung an der Personalentscheidung zu sichern. Zwar kann so gegen den Willen der beteiligten Verbände die Funktionsfähigkeit der Bundesausschüsse hergestellt werden, gleichwohl bleiben diese gemeinsame Einrichtungen der beteiligten Verbände. 150 Vor dem GRG galten nach § 525 c III 1,2 RVO für die vertragsärztliche Versorgung der Ersatzkassen unmittelbar nur die Richtlinien nach § 368 p 11 und 3, V bis VII RVO. 151 Zum Vertragsarztrecht der Ersatzkassen s.o. § 1IV5.

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Die besondere Sachkunde, die dem Bundesausschuß immer wieder zugesprochen wird, ist keine Voraussetzung für die Bestellung von Mitgliedern. Die Auswahl der Vertreter der Ärzte und Krankenkassen ist den beteiligten Verbänden überlassen. Durch deren Bezeichnung als Vertreter der Ärzte und Krankenkassen ist nicht eine bestimmte persönliche Qualifikation, insbesondere nicht vorgeschrieben, daß Vertreter der Ärzte selbst Ärzte sind, sondern nur verlangt, daß sie als Vertreter der Interessen der Ärzte bzw. Krankenkassen fungieren können. Die Mitglieder der Bundesausschüsse sind an Weisungen nicht gebunden (§ 91 I I 5 mit §901112 SGB V). Dies gilt nicht nur für die unparteiischen Mitglieder, sondern auch für die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen. Bei letzteren könnte man wegen der Weisungsfreiheit an der Berechtigung ihrer Bezeichnung als „Vertreter" zweifeln. 152 Gleichwohl ist die Bezeichnung durchaus zutreffend. Das Gesetz meint damit keine (Stell-) Vertretung der beteiligten Verbände, sondern eine Repräsentation von Gruppeninteressen im Bundesausschuß. Dafür daß die Vertreter die jeweiligen Gruppeninteressen repräsentieren, sorgt die Art ihrer Bestellung und die Möglichkeit ihrer Abberufung. Die Weisungsfreiheit schließt nur ein imperatives Mandat aus, führt aber nicht dazu, daß die Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen den Interessen ihrer Gruppen nicht mehr verpflichtet wären. Hätte die Weisungsfreiheit die Folgen, daß die Mitglieder sich nurmehr am Gemeinwohl orientieren würden, so hätte der Gesetzgeber auf die Parität zwischen Ärzten und Kassen verzichten können. Wirft man einen Blick auf die Geschichte des Bundesausschusses, so bestätigt sich dies: Die unparteiischen Mitglieder des Reichsausschusses wurden nach § 368 a ΙΠ RVO 1924 vom Reichsarbeitsminister ernannt; sie waren nach damaliger Ansicht an dessen Weisungen gebunden und konnten von ihm jederzeit abberufen werden. 153 Die Vertreter der Ärzte und der Krankenkassen wurden dagegen nach § 368 a I I RVO 1924 auf fünf Jahre gewählt und konnten nicht abberufen werden. 154 Im Vergleich dazu hat das GKAR die Position der unparteiischen Mitglieder durch die Weisungsfreiheit gefestigt, die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen aber durch die Abberufbarkeit stärker an ihre Verbände rückgebunden. Vor diesem Hintergrund richtet sich die Weisungsfreiheit mehr gegen den zuständigen Bundesminister und sorgt gegenüber den bestellenden Verbänden nur für das Maß an Unabhängigkeit, das eine sachliche Arbeit ermöglicht. 155

152

So etwa M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 16f. G. Heinemann, Kassenarztrecht, 1929, § 368 a Anm. 1 ; L. Richter, Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung, S.30 ff. 154 G. Heinemann, Kassenarztrecht, § 368 a Anm. 1; L. Richter, Die Einrichtungen der kassenärztlichen Selbstverwaltung, S. 33 ff. 155 So auch M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 18. 153

21*

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

3. Entscheidungsfindung des Bundesausschusses Das bei der Entscheidungsfindung des Bundesausschusses, beim Beschluß der Richtlinien zu beobachtende Verfahren ist nur in geringem Umfang im Gesetz geregelt. In letzter Zeit haben vermehrt Anhörungsrechte betroffener Kreise eine gesetzliche Regelung erfahren. Im übrigen enthält sich das Gesetz einer Aussage darüber, welches Verfahren die Bundesausschüsse zu beachten haben. Auch die Verordnung zu § 91 I I I 2 mit §901114 SGB V enthält keine nennenswerten diesbezüglichen Bestimmungen.156 Das Verfahren ist daher wesentlich in der Geschäftsordnung des Bundesausschusses geregelt. a) Anhörung betroffener

Kreise

Das 2. GKV-NOG hat die Beteiligung der von Richtlinien (mittelbar) betroffenen Kreise stark erweitert. Während das GRG nur für die Arzneimittelrichtlinien vorschrieb, daß vor deren Erlaß Sachverständigen und wirtschaftlichen Interessenverbänden Gelegenheit zu einer Stellungnahme zu geben ist, die in die Entscheidung einzubeziehen ist (§ 92 I I 4,5 SGB V), 1 5 7 hat dies das 2. GKV-NOG in § 92 IHa, V1, V12, V I I 2 sowie § 30 a I I SGB V 1 5 8 auf eine Reihe anderer Richtlinien ausgedehnt. Nach den Gesetzesmaterialien soll es sich bei diesen „qualifizierten Anhörungsrechten" weder um Vetorechte noch um eine „materielle Beteiligung" handeln. Der Bundesausschuß müsse sich aber mit den vorgetragenen Argumenten auseinandersetzen und aus seiner Entscheidung müsse erkennbar sein, daß dies geschehen ist und warum der Bundesausschuß ihnen gegebenenfalls nicht gefolgt ist. Das Letztentscheidungsrecht verbleibe jedoch beim Bundesausschuß. Die „qualifizierten Anhörungsrechte" sollen sicherstellen, daß die Sachkenntnis der Erbringer nichtärztlicher Leistungen bei der Erarbeitung der sie betreffenden Richtlinien berücksichtigt wird. 159 Der Gesetzgeber sah darin einen Ausdruck einer partnerschaftlichen Gestaltung der Beziehungen zu den sonstigen Leistungserbringern. 160 Für diese gesetzlich vorgeschriebenen Anhörungen hat der Bundesausschuß ein besonderes Verfahren entwickelt: Danach hat zunächst ein vom Bundesausschuß beauftragter Arbeitsausschuß161 einen Richtlinienentwurf zu erstellen, der sodann 156 Freilich beschränkt sich die Verordnungsermächtigung auch auf die Amtsführung. So nimmt es nicht wunder, wenn sich die Β A/LAVO damit begnügt, in ihrem § 5 die Mitglieder des Bundesausschusses zur Teilnahme an dessen Sitzungen zu verpflichten. 157 Dies ging auf einen Vorschlag des Bundesrats zurück (BT-Drs. 11/3480, S. 59 zu § 100 II des Entwurfs). 158 § 30 a SGB V ist allerdings durch das GKV-SolG bereits wieder gestrichen worden. 159 BT-Drs. 13/7264, S.59 und 64f. - Siehe zu dem ähnlichen Fall des § 35 II 1 SGB V: BSG, NZS 1995, 502, 512. 160 BT-Drs. 13/7264, S.3 und 54. 161 Das Gesetz spricht immer vom Bundesausschuß als Einheit. Eine innere Gliederung wird nicht erwähnt. In der Realität werden aber die Beschlüsse des Bundesausschusses von einer

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dem Bundesausschuß vorzulegen ist. Soweit in diesem keine Einwände gegen die Einleitung des Verfahrens erhoben werden, ist dieser Entwurf den anzuhörenden Organisationen zur schriftlichen Stellungnahme zuzuleiten (§2.1 VfO-BA). Die fristgerecht eingehenden Stellungnahmen hat der Arbeitsausschuß auszuwerten; dabei sind die in die Erörterung einbezogenen Stellungnahmen, die Ergebnisse der Ausschußberatung zu ihnen und die Gründe für die Nichtberücksichtigung von Einwänden oder Änderungswünschen in einer Niederschrift festzuhalten (§ 2.2 VfOBA). Statt dieser als Regelfall konzipierten schriftlichen Anhörung kann auch eine mündliche Anhörung vor dem Arbeitsausschuß durchgeführt werden (§ 3 VfO-BA). Nach der Durchführung der Anhörung hat der Arbeitsausschuß eine erweiterte Beschlußvorlage zu erstellen, der Niederschriften über die Anhörung beizufügen sind und aus der hervorgehen muß, welche Änderungen der Arbeitsausschuß an der Beschlußvorlage aufgrund der eingegangenen Stellungnahmen empfiehlt und mit welcher Begründung er geforderte Änderungen nicht befürwortet (§ 4 VfO-BA). Auf der Grundlage dieser erweiterten Beschlußvorlage entscheidet der Bundesausschuß dann über die Richtlinie. Vor dem Bundesausschuß, der ebenfalls in einer Niederschrift festhalten muß, ob und wie die Stellungnahmen der anzuhörenden Organisationen in die Entscheidung einbezogen wurden (§ 4.2 VfO-BA), kann eine ergänzende Anhörung stattfinden (§4.1 VfO-BA).

b) Beschlußfassung im Bundesausschuß Die Richtlinien kommen nach § 9211 SGB V durch Beschluß des Bundesausschusses zustande. Beschlüsse werden grundsätzlich in Sitzungen, nur ausnahmsweise schriftlich gefaßt (§21 GO-ΒΑ). An diesen Sitzungen können grundsätzlich nur Mitglieder des Bundesausschusses teilnehmen. Andere Personen können nur als Sachverständige mit auferlegter Schweigepflicht zu den Sitzungen zugelassen werden (§2111 GO-ΒΑ); dies gilt auch dann, wenn das Gesetz die Anhörung von Sachverständigen vorschreibt (§ 2IV GO-ΒΑ). Der Bundesgesundheitsminister kann dagegen an allen Sitzungen des Bundesausschusses teilnehmen oder sich durch einen Beauftragten vertreten lassen (§ 2 V GO-BA). Die Beratungen und die Beschlußfassung des Bundesausschusses sind nicht öffentlich; der Hergang der Beratungen und das Stimmenverhältnis bei der Beschlußfassung sind vertraulich zu behandeln (§ 81 GO-ΒΑ). Über die Beratungen ist eine Niederschrift zu fertigen, die das wesentliche Ergebnis der Beratungen wiederzugeben und die Beschlüsse im Wortlaut aufzuführen hat, dem aber nicht entnommen werden darf, wie die einzelnen Mitglieder abgestimmt haben (§91 GO-BA). Reihe von Arbeitsausschüssen erarbeitet (dazu § 11 GO-BA). Nach Inkrafttreten der Neuordnungsgesetze wurde auch die Arbeit des Bundesausschusses neu strukturiert und die Anzahl der Arbeitsausschüsse auf neun reduziert (vgl. R. Bussel F. W. Schwartz , ArbuSozPol 11-12/97, 51, 52 und 57).

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Die Beschlüsse des Bundesausschusses sind grundsätzlich mit der Mehrheit der anwesenden Stimmberechtigten zu fassen (§ 101 GO-ΒΑ). Auf Antrag muß vor einer Abstimmung die Sitzung zum Zweck gesonderter Beratung unterbrochen werden (§ 10 I I 1 GO-ΒΑ). Damit kann nur die gesonderte Beratung von Gruppenvertretern gemeint sein, was der Beschlußfassung des Bundesausschusses mehr den Charakter von Verhandlungen verleiht. Weiter ist der Bundesausschuß zwar grundsätzlich nur beschlußfähig, wenn alle seine Mitglieder anwesend sind (§611 GOBA). Konnte aber eine Sitzung mangels Beschlußfähigkeit nicht stattfinden, so ist auf einer innerhalb von 14 Tagen einzuberufenden erneuten Sitzung Beschlußfähigkeit schon gegeben, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder anwesend ist, wobei allerdings nicht mehr als ein unparteiisches Mitglied abwesend sein darf (§ 6 ΠΙ GOBA). Damit soll offenkundig zweierlei erreicht werden: Einerseits soll der Bundesausschuß grundsätzlich nur in vollständiger Besetzung Beschlüsse fassen können - alles andere würde die Gruppenparität stören; andererseits soll ein Boykott durch eine Seite verhindert werden.

4. Aufsicht des Bundesgesundheitsministers Der Bundesausschuß ist verpflichtet, beschlossene Richtlinien dem Bundesminister für Gesundheit vorzulegen (§ 9411 SGB V); dieser kann die Richtlinien sodann binnen zweier Monate beanstanden (§ 9412 SGB V). Werden Beanstandungen nicht innerhalb einer gesetzten Frist behoben, so kann der Bundesminister die Richtlinien erlassen; gleiches gilt, wenn für die Sicherstellung der ärztlichen Versorgung erforderliche Richtlinien vom Bundesausschuß gar nicht erst beschlossen werden (§ 9413 SGB V). Eine ähnliche Regelung enthält § 93 Π SGB V für die Zusammenstellung der Übersicht über ausgeschlossene Arzneimittel. 162 Diese Befugnis wird gemeinhin als Ersatzvornahme bezeichnet.163 Ungeklärt ist, ob Beanstandung und Erlaß von Richtlinien nach § 941 SGB V Maßnahmen der Rechts- oder Fachaufsicht sind, ob Beanstandungen auf Rechtsverletzungen beschränkt sind oder auch aus Zweckmäßigkeitserwägungen erfolgen können.164 § 941 SGB V benennt nicht den Aufsichtsmaßstab. 165 Gegen eine Fach162

Dazu BSGE 79,41,47 f. BSGE 81,73, 84; 79,41,48; 78,70, 84; G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.631; R. Hess, in: Kasseler Kommentar, §94 Rn.4 (Stand 1994); /. Ebsen, VSSR 1990, 57, 68; B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGBV, S. 108 f.; M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 121 f. 164 H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 1994, S. 93 f.; M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 116 f. 165 § 91 IV SGB V ist nicht hilfreich: Danach führt der Bundesminister für Gesundheit die Aufsicht über die Geschäftsführung der Bundesausschüsse. Die Aufsicht ist als eine solche über die Geschäftsführung eine auf die Einhaltung formellen Rechts beschränkte Rechtsauf163

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aufsieht wird eingewandt, sie könne zusammen mit dem Ersatzvornahmerecht eine „inhaltlich eigenständige Richtliniengebung" durch den Bundesausschuß praktisch verhindern. 166 Dennoch hat das BSG diesbezüglich von einer „übergeordneten Regelungsbefugnis" des zuständigen Bundesminister gesprochen,167 was nicht nur die Annahme einer fachaufsichtlichen Maßnahme,168 sondern eines kondominialen Aktes nahelegt.169 Auch wenn Genehmigungsvorbehalte heute im Selbstverwaltungsbereich oft als bloße (präventive) Rechtsaufsicht gedeutet werden, so können sie doch auch fachaufsichtliche Kontrolle ermöglichen oder sogar ein Kondominium begründen. 170 In § 941 SGB V ist indes weder von Genehmigung noch von Zustimmung die Rede, sondern allein von Beanstandung. Schon dem Wortsinn nach, ist Beanstandung etwas anderes als Genehmigung oder Zustimmung. Beides unterscheidet sich nicht bloß im Vorzeichen: Auch ins Negative gewandt ist Nicht-Beanstandung etwas anderes als Zustimmung oder Genehmigung. Wer das Handeln eines anderen nicht beanstandet, muß diesem nicht schon zustimmen. Daher ist zutreffend festgestellt worden: „Mit der bloßen Nicht-Beanstandung nimmt der Bundesminister den Inhalt der Richtlinie nicht positiv in seinen Willen auf." 171 Bestätigt wird dies auch von der Regelungstradition, in der der Bundesausschuß steht: Das Kassenarztrecht von 1931/32 kannte eine Zustimmungspflicht (§ 368 i I I RVO 1932); wenn das GKAR davon abweicht, so ist das angesichts seiner restaurativen Tendenz beredt. Die Ersetzung der Zustimmungspflicht durch ein Beanstandungsrecht liegt ganz auf der Linie der Stärkung der Selbstverwaltung und kann nicht anders als Rücknahme der Kompetenzen des aufsichtführenden Ministers gewertet werden.

sieht; die von der jeweiligen Einrichtung zu treffenden Sachentscheidungen fallen nicht darunter (s. o. Fn. 75; s. a. B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 105; M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 111ff.). Zu diesen Aufsichtsmaßnahmen kann zwar die Bestellung der unparteiischen Mitglieder nach § 91 II 3 SGB V gezählt werden (so B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 105 Fn. 19 - die früher in § 368 IV 3 mit § 368b VIII2 RVO vorgesehene Möglichkeit, die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen im Wege der Ersatzvornahme zu bestellen, hat keine Aufnahme in das SGB V gefunden), aber sicher nicht das gerade die Sachentscheidungen betreffende Beanstandungs- und Ersatzvornahmerecht der §§93 II, 941 SGB V. 166 B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 108 f. 167 BSGE 64, 78, 85. 168 So wohl I. Ebsen, VSSR 1990, 57, 68. - Allerdings ist aus der „übergeordneten Regelungsbefugnis" auch das Gegenteil gefolgert worden: Weil auch danach die Richtliniengebung in die Primärzuständigkeit des Bundesausschusses falle und die Beanstandung zu keiner Kompetenzverschiebung führen dürfe, setze sie eine Rechtsverletzung durch den Bundesausschuß voraus (U. Hencke, in: Peters, § 94 SGB V Rn. 4). 169 Vgl. M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 117 f. 170 Siehe dazu Th. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 61 ff. 171 G. Schwerdtfeger, Verfassungsrechtliche Grenzen der Freiheit und Bindung bei der Leistungserbringung im Gesundheitswesen, SDSRV 38 (1994), S.27,47.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß anders als im Aufsichtsrecht der §§ 87 ff. SGB IV die Kontrolle der Richtlinien durch § 9411 SGB V verstetigt und nicht nur anlaßbezogen ist, so macht dies doch aus einer Nichtbeanstandung keine Zustimmung. Daß durch diese der Bundesgesundheitsminister eine Verantwortung für den Inhalt der Richtlinien übernimmt, läßt sich nicht sagen.172 Schon angesichts der knapp bemessenen Beanstandungsfrist erscheint dies ausgeschlossen - ungeachtet des Umfangs und der Komplexität der jeweiligen Materie beträgt sie zwei Monate. Dies deutet daraufhin, daß der Kontrollumfang nicht umfassend angelegt sein kann. Es bedeutet zwar nicht, daß das Gesetz mit einem völligen Ausfall der Prüfung rechnet. Doch räumt das Gesetz ihr keinen so hohen Rang, daß es ihren positiven Abschluß in jedem Fall verlangen würde. Wenn Nichtbeanstandung keine Zustimmung darstellt, so ist damit freilich nicht gesagt, welcher Maßstab für die Beanstandung gilt. Das Gesetz formuliert die Entscheidungsmaßstäbe des Bundesausschusses nicht derart, daß eine an der Unterscheidung zwischen Ermessens- und strikten Programmen orientierte Sicht einfach implementiert werden könnte. Hier stellt sich die Frage, wem die Ausfüllung der Regelungsspielräume obliegt: Ob dies eine Sache der Aufsicht - und letztlich der Gerichte - ist, oder ob es der Bundesausschuß ist, in dessen Zuständigkeit die Ausfüllung allein liegt. Die Rede von einer „übergeordneten Regelungsbefugnis" des aufsichtführenden Bundesministers deutet auf ersteres. Allerdings erweist sie sich bei näherem Zusehen als nicht haltbar: Das BSG hielt ihretwegen die Beiladung der Bundesrepublik Deutschland in Verfahren für notwendig, in denen die Änderung von Richtlinien begehrt wird. 173 Es sah sich freilich bald genötigt, diese Entscheidung, die ohnehin an Mängeln litt, 174 dahingehend klarzustellen, daß nur dann, wenn die Rechtmäßigkeit von Richtlinien zweifelhaft sein könne, im Hinblick auf die dann notwendige Änderung dieser Richtlinien die Beiladung der Bundesrepublik Deutschland notwendig sei, nicht aber dann, wenn dies von vornherein ausscheidet.175 Die Notwendigkeit der Beiladung von den Erfolgsaussichten der Klage abhängig zu machen, ist nicht sonderlich überzeugend, entsprach aber einer zu vertraglichen Regelungen 172

In diese Richtung aber E. Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", 1981, S. 29 ff., der davon spricht, die inhaltliche Gestaltung der Richtlinien läge zwar beim Ausschuß, die Letztverantwortung für die Rechtmäßigkeit aber beim aufsichtführenden Bundesministerium, weshalb die Richtlinienkompetenz eine abhängige Befugnis sei, die der Beanstandungsbefugnis und damit letztlich der Genehmigungspflicht unterliege, in deren Grenzen der Bundesausschuß selbständig tätig werde. Die dabei unterstellte Genehmigungspflicht enthält das Gesetz aber nicht. 173 BSGE 64, 78, 84f. (6. Senat). 174 Der 14a-Senat hat später daraufhingewiesen, daß der 6. Senat hier implizit eine Anfechtungsklage gegen Richtlinien für zulässig gehalten hat, obwohl diese weder nach früherer noch damaliger oder späterer Auffassung als Verwaltungsakte angesehen wurden (BSGE 71, 42, 48 f.). - Zur Rechtsnatur der Richtlinien s. u. § 7 III. 175 BSGE 67,251,252f.

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entwickelten Rechtsprechung.176 Gerade diese Rechtsprechung ist jedoch vom BSG inzwischen aufgegeben worden. 177 Sie basierte auf dem Gedanken, daß ohne die über die Beiladung zu erzielende Verbindlichkeit der gerichtlichen Entscheidung die Funktionsfähigkeit des kassenärztlichen Systems gefährdet sei. Diesen Gedanken verwarf das BSG inzwischen mit dem Argument, auch durch die Beiladung der Vertragsparteien sei keine Bindung inter omnes hinsichtlich der Wirksamkeit der vertraglichen Regelung zu erzielen. 178 Obwohl vor diesem prozeßrechtlichen Hintergrund die Entscheidung zur „übergeordneten Regelungsbefugnis" in einem ganz anderen Licht steht, scheint sie noch immer wirkmächtig zu sein. So hat das BSG unlängst - obwohl es § 941 SGB V ausdrücklich als Recht zur Ersatzvornahme bezeichnet und so als Aufsichtsmaßnahme qualifiziert hatte - eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Klage für zulässig gehalten, in der es um eine im Wege der Ersatzvornahme vom Bundesgesundheitsminister erlassene Übersicht über die ausgeschlossenen Arzneimittel (§ 93 SGB V) ging. 179 Einerseits von Ersatzvornahme zu sprechen, andererseits aber eine gegen die Aufsichtsbehörde gerichtet Klage eines Dritten (hier: Arzneimittelherstellers) für zulässig zu halten, paßt nicht zusammen. Freilich hatte das BSG bereits in der Entscheidung zur „übergeordneten Regelungsbefugnis" zutreffend darauf hingewiesen, daß das Beanstandungsrecht nicht ausreicht, um die Beschlüsse des Bundesausschusses allgemein dem aufsichtführenden Bundesminister zuordnen zu können.180 Die „übergeordnete Regelungsbefugnis" kann folglich nicht soweit gehen, daß alle Richtlinien dem Bundesgesundheitsminister zuzurechnen wäre. Dies spricht gegen die Annahme eines kondominialen Akts und letztlich für eine echte Aufsichtsmaßnahme. Damit aber ist die Rede von der „übergeordneten Regelungsbefugnis" hinfällig. Für das Verständnis als Aufsichtsmaßnahme trifft sie nicht zu, allenfalls für einen kondominialen Akt könnte sie Sinn machen, gegen den aber entscheidend spricht, daß Nichtbeanstandung nicht Zustimmung heißt. Dem Gesetz entspricht allein die Qualifikation als Aufsichtsmaßnahme und dabei spricht im Hinblick auf Primärzuständigkeit des Bundesausschusses mehr für Rechtsaufsicht. 181 Sicherlich unterliegt die inhaltliche Ausfüllung der Richtlinienkompetenz der Aufsicht des Bundesgesundheitsministers - einer Aufsicht, deren Maßstäbe im Gesetz offen bleiben. Dennoch geht es nicht an, die Beanstandungsbefugnis in eine Genehmigungspflicht 182 176

BSGE 67, 256, 258 f.; 66, 24, 25; 62, 124, 125. BSGE 70,240, 241 f. 178 BSGE 70, 240,241. 179 BSGE 79,41, 42ff. 180 BSGE 64, 78, 84. 181 So auch U. Hencke, in: Peters, § 94 SGB V Rn.4; M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 116ff. 182 So aber E. Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", S. 32; Ρ Krause, VSSR 1990, 107, 120. 177

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

umzudeuten und die Richtlinien letztlich zum kondominialen Akt zu machen.183 Allerdings ist zuzugeben, daß gerade in so schwach normativ vorgezeichneten Agenden wie der Regelung der vertragsärztlichen Versorgung die Grenze zwischen Rechts- und Fachaufsicht ins Schwimmen geraten kann. 184

VI. Rechtsnatur der Kooperationsgremien Die Rechtsnatur von Schiedsämtern, Bewertungsausschüssen, Bundesausschüssen und der anderen Gremien, in denen die Kooperation von Ärzten und Krankenkassen institutionell auf Dauer gestellt wird, bereitet seit jeher Schwierigkeiten. Das Gesetz gibt keine befriedigende Auskunft. Das SGB V schweigt sich insoweit ganz aus. Das SGG faßt die Bundesausschüsse mit den anderen Ausschüssen und den Schiedsämtern immerhin unter dem Oberbegriff „gemeinsame Gremien" zusammen (§ 51 I I 1 Nr. 2 SGG) und erklärt diese „Entscheidungsgremien" für beteiligtenfähig (§70 Nr. 4 SGG). Die Rechtsprechung hat lange Zeit der Frage nach der Rechtsnatur der Kooperationsgremien keine Aufmerksamkeit geschenkt. Es war die Literatur, in der sich immer wieder Versuche einer Aufklärung des „im rechtsdogmatischem Halbdunkel angesiedelten Ausschußwesens"185 finden ließen. Die Zurückhaltung der Rechtsprechung deutet auf die geringe praktische Relevanz der Fragestellung hin. Immerhin hat das BSG schon vor der Änderung des § 70 Nr. 4 SGG durch das GRG den Bundesausschuß für beteiligtenfähig gehalten.186 Zwar waren damals nur der Berufungsausschuß und das Schiedsamt in § 70 Nr. 4 SGG ausdrücklich genannt. Doch wurde diese Bestimmung nicht als Ausnahmevorschrift verstanden. 187 Daher sah sich das BSG nicht gehindert, anderen Ausschüssen des Kassenarztrechts Beteiligtenfähigkeit zuzubilligen, wenn sie Zuordnungssubjekt der streitgegenständlichen Rechte und Pflichten sein können.188 Eine solche Teilrechtsfähigkeit hat das BSG für den Bundesausschuß angenommen, weil die mit dem Richtlinienerlaß verbundenen Rechte und Pflichten keinem anderen Rechtssubjekt zugeordnet werden könnten. Insbesondere sei der Bundesausschuß kein „unselbständi183

Zu überzeugen vermag auch nicht, wenn eine Fachaufsicht mit Defiziten in der Beteiligung der Versicherten begründet wird (dahingehend H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S.93ff.). 184 Zur normativen Vorzeichnung der Regelung der vertragsärztlichen Versorgung s. o. § 5. - Solange man allerdings den Mythos der vollständigen Ableitbarkeit des gesamten Leistungsgeschehens aus dem Gesetzesrecht (dazu s. ο. § 11) nicht aufgibt, müßte sich jedoch Rechts- von Fachaufsicht sauber trennen lassen. 185 F. Schnapp, Zum Behördenbegriff im Kassenarztrecht, ZSR 30 (1984), 140,141. 186 BSGE 64, 78, 83 f. 187 Denn mit ihr sollte der Meinungsstreit darüber beendet werden, wer in Zulassungssachen der richtige Beklagte ist (A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, § 368 b Anm. I I ) . 188 BSG SozR 1500 § 70 Nr. 3 mwN.

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ger Ausschuß" der beteiligten Verbände. Denn diesen sei lediglich aufgegeben, den Bundesausschuß zu bilden; eine weitergehende Einflußmöglichkeit hätten sie nicht. Vor allem seien die Mitglieder des Bundesausschusses an Weisungen nicht gebunden. Eine Einwirkung auf die Beschlüsse des Bundesausschusses sei nur dem zuständigen Bundesminister möglich; dessen Beanstandungsrecht reiche aber nicht aus, um die Beschlüsse des Bundesausschusses allgemein der Bundesrepublik Deutschland zurechnen zu können. Durch die gesetzliche Regelung, die BA/ LAVO und die Geschäftsordnung des Bundesausschusses sei auch das Mindestmaß an Organisation vorhanden, das für die Beteiligtenfähigkeit einer Personenvereinigung zu fordern sei. 190 Hier werden die zwei Fragen angesprochen, die die gesamte Debatte um die Rechtsnatur der Kooperationsgremien beherrschen: Wem die Handlungen und Maßnahmen dieser Gremien zuzurechnen sind, und wie deren Verselbständigung rechtlich zu bewerten ist. Eine klare Einordnung des Bundesausschusses (und der anderen Kooperationsgremien) in den tradierten Formenbestand des Verwaltungsorganisationsrechts hat das BSG nicht vorgenommen. Für die praktische Fragestellung war dies freilich auch gar nicht erforderlich. Bloßes klassifikatorisches Bemühen um seiner selbst willen ist eher Sache der Literatur. Freilich wird auch dort die Frage nach der Rechtsnatur der Kooperationsgremien durchaus folgenorientiert aufgeworfen: Vor allem verfassungsrechtliche Anforderungen sollen durch die Zuordnung zu den überkommenen Organisationsformen aufgerufen werden. 191 Im folgenden sollen zunächst die verschiedenen Deutungsansätzen dargestellt werden (1), bevor sie auf ihre Sachangemessenheit befragt werden (2). Die festzustellende Unsicherheit läßt Rückschlüsse auf den Zustand des Verwaltungsorganisationsrechts zu (3).

1. Deutungsansätze In der Literatur finden sich die verschiedensten Deutungen der Kooperationsgremien: So werden die Schiedsämter teils als (teilrechtsfähige) Anstalten angesehen; 192 teils wird dies abgelehnt und, weil auch eine Qualifikation als Körperschaft nicht in Betracht komme, von Rechtssubjekten sui generis gesprochen.193 Ferner findet sich die Bezeichnung als kollegiale Verwaltungseinrichtungen besonderer 189 Dagegen ist in BSGE 67,256,263 der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen als Organ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Bundesverbände der Krankenkassen bezeichnet worden. 190 BSGE 64, 78, 84f. 191 Vgl. G. Schwerdtfeger, SDSRV 38 (1994), S.27,43 ff. 192 /. Ebsen, VSSR 1990, 57,65; ders, HS-KV, § 7 Rn. 154. 193 R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S.60f.

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Art 1 9 4 oder als teilrechtsfähige Einrichtungen der gemeinsamen Selbstverwaltung. 195 Ähnlich verhält es sich beim Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen: Teils wird er als (teilrechtsfähige) Körperschaft, 196 teils als (teilrechtsfähige) Anstalt angesehen,197 teils aber auch als verselbständigte Einrichtung ohne Rechtspersönlichkeit, 198 als dem zuständigen Bundesministerium nebengeordneter Ausschuß199 oder als unabhängiger Fachausschuß neben den ihn errichtenden Verbänden 200 bezeichnet; gelegentlich wird auch die Qualifikation als Arbeitsgemeinschaft erwogen. 201 Beim Bewertungsausschuß ist der Befund vergleichbar, wenn er auch nicht so viel Aufmerksamkeit findet wie die Schiedsämter und der Bundesausschuß.202 Auf den ersten Blick mag die Vielzahl der Deutungsansätze verwirrend wirken. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber als durchgehendes Grundmuster das Bemühen, die Kooperationsgremien im Verhältnis zu den Verbänden der Ärzten und Krankenkassen und der (unmittelbaren) Staatsverwaltung mit dem vom Verwaltungsorganisationsrecht bereitgestellten Instrumentarium dingfest zu machen. Systematisiert man die Deutungsansätze, ergibt sich folgendes Bild: - Die Eigenschaft eines Organs wird den Kooperationsgremien meist abgesprochen: Ihnen gehe die dafür erforderliche „transitorische Wahrnehmungszuständigkeit" 203 ab, weil ihre Entscheidungen weder den Kassenärztlichen Vereinigungen noch den Krankenkassen zugerechnet werden könnten.204 Eine Zurechnung 194 B. Tiemann/S. Tiemann, Kassenarztrecht im Wandel, 1983, S. 73. - S. a. G. Kiichenhoff, Gesamtverträge und Schiedssprüche im Kassenarztrecht, in: Festschrift für E. Molitor, 1962, S.253, 278. 195 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.773. 196 M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 39ff.; A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, 1989, S.8ff., 14. 197 1. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 29; H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 106ff., 117. 198 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.620ff. 199 E. Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", S. 31 f. 200 H.-J. Papier, VSSR 1990, 123,131. 201 M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. S .43; D. Krauskopf,; in: ders., § 90 SGB V Rn. 5. 202 Siehe nur I. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 28 f. - Ausnahmen stellen G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 719 und 722 sowie P. Schellen, Die Bewertungsausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen, 1982, S. 134ff. dar. Letzterer hält den Bewertungsausschuß für eine den Vertragsparteien nebengeordnete Staatsbehörde; als Gemeinschaftsoigan der Vertragsparteien könne er nicht qualifiziert werden, weil er nicht Aufgaben der beteiligten Verbände, sondern des Staates wahrnehme (aaO S. 197). 203 H. J. WolfflO. Bachof Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1976, S.48 (§ 74 If). 204 F. Schnapp, HS-KV, §49 Rn.220; ders., Das Verwaltungsverfahren im Kassenarztrecht, SGb 1985,89,90; ders., ZSR 30 (1984), 140,145 ff.; G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 619 und 770; I. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 29.

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zu den beteiligten Verbänden sei nicht möglich, weil sie weder in deren Namen noch in deren Auftrag handeln,205 weil sie nicht in Wahrnehmung von Zuständigkeiten der beteiligten Verbände, sondern im eigenen Namen aufgrund spezieller gesetzlicher Ermächtigung tätig würden. 206 So seien allein die Schiedsämter für die Vertragsfestsetzung zuständig; diese Aufgabe könne weder von der Kassenärztlichen Vereinigung noch von einem Krankenkassenverband und auch nicht gemeinsam von diesen, sondern ausschließlich vom Schiedsamt wahrgenommen werden. 207 Ferner bestehe, sind die Kooperationsgremien erst errichtet, keine rechtliche Bindung an die Verbände, die auf eine Organqualität hinweisen könnte, insbesondere seien jedenfalls die Mitglieder des Bundesausschusses und der Schiedsämter an Weisungen der beteiligten Verbände nicht gebunden.208 Es wird also einerseits die unmittelbare rechtliche Zuordnung von Rechten und Pflichten zu den Kooperationsgremien hervorgehoben, die die beteiligten Verbände von den betreffenden Handlungen ausschließt, und andererseits die Weisungsfreiheit ihrer Mitglieder betont. Wegen ihres eigenständigen Tätigkeitsbereich, weil ihnen ihre Aufgaben kraft Gesetzes zugewiesen und nicht von den Verbänden delegiert sind, und aufgrund der weisungsfreien und unabhängigen Stellung ihrer Mitglieder könne es sich bei ihnen nicht um Organe der sie bestellenden Verbände handeln.209 - Wird es abgelehnt in den Kooperationsgremien Organe der sie bildenden Verbände zu sehen, liegt die Annahme einer eigenen Rechtspersönlichkeit nahe. Jedenfalls eine Teilrechtsfähigkeit wird überwiegend bejaht.210 Damit ist allerdings noch nicht gesagt, welcher Rechtsform des Verwaltungsorganisationsrechts die Kooperationsgremien entsprechen. - Teilweise werden die Kooperationsgremien als teilrechtsfähige, den beteiligten Verbänden (und dem zuständigen Bundesministerium) nebengeordnete Körperschaften angesehen.211 Nur gelegentlich wird dagegen schon eingewandt, der 205 A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, S. 9; M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 39. 206 R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 58. 207 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.769f. 208 //.-/. Papier, VSSR 1990,123, 131; B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 211 f.; A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, S. 10; M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S.39. 209 Weiterhin wird gegen die Qualifikation des Schiedsamts als Organ der Vertragsparteien eingewandt, diese ließe sich nicht damit vereinbaren, daß die Vertragsparteien Anfechtungsklage gegen Schiedssprüche erheben können (R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 59). Freilich könnte man darin eine Art Organstreit sehen. 210 Siehe nur G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 621 ff., 772; H. TempelKromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S.89ff. 211 M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 39ff.; A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, S. 8 ff., 14.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Körperschaftsstatus setze Vollrechtsfähigkeit voraus. 212 Überwiegend wird das Vorliegen einer körperschaftlichen Struktur vermißt: 213 Zwar könnten Verbände Mitglieder von Körperschaften sein,214 doch sei dies bei den Kooperationsgremien nicht möglich, weil diese nahezu selbständig gegenüber den sie errichtenden Verbänden seien - wobei auf die unparteiischen Mitglieder und die fehlenden Weisungsbefugnisse hingewiesen und daraus die fehlende Prägung durch die Verbände abgeleitet wird. 215 Ob Weisungsbefugnisse und damit imperative Mandate tatsächlich der bei einer Körperschaft erforderlichen Beherrschung durch die Mitglieder entsprechen, erscheint fraglich. Zuweit geht es aber, wenn bemängelt wird, die Verbände könnten noch nicht einmal über die Existenz und die Mehrheitsverhältnisse disponieren; 216 denn letzteres ist typisch für gesetzlich vorgeschriebenen Paritäten und ersteres für öffentlich-rechtliche Körperschaften überhaupt. - Fehlt den Kooperationsgremien die körperschaftliche Struktur, so könnte es sich bei ihnen doch um (teilrechtsfähige) Anstalten handeln. Und in der Tat erfreut sich in jüngerer Zeit die Residualkategorie der Anstalt als Erklärungsmodell einer gewissen Beliebtheit;217 selbst das BSG hat sich ihm angeschlossen.218 Dagegen ist freilich längst eingewandt worden, als alleiniger Anstaltszweck reichten die Aufgaben der Kooperationsgremien nicht aus.219 Weil ein Benutzungsverhältnis nicht bestünde, könnten die Kooperationsgremien nicht als Anstalten qualifiziert werden. 220 Dem dahinter stehenden Leitbild der nutzbaren Anstalt ist freilich ent212

B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 206 ff. - Das dem zugrunde liegende Junktim zwischen Vollrechtsfähigkeit und Körperschaftsstatus ist zwar durchaus noch heute im allgemeinen Verwaltungsrecht anzutreffen (W. Rudolf \ Organisationsrecht, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 53 Rn. 10 mit Fn. 25), vermag allerdings angesichts des Befunds der Relativität der Rechtsfähigkeit namentlich im öffentlichen Recht (F. Schnapp, Zur Dogmatik und Funktion des staatlichen Oiganisationsrechts, Rechtstheorie 9 [1978], 275, 283f.; O.Bachof\ Teilrechtsfähige Verbände des öffentlichen Rechts, AöR 83 [1958], 208, 259ff.) nicht zu überzeugen. 213 H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 106ff.; /. Ebsen, VSSR 1990, 57, 65 Fn.32; H.-J. Papier, VSSR 1990, 123, 131; G.Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 619, 770; R.Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 59 f. 214 Dagegen geht offenkundig H.-J. Papier, VSSR 1990,123,131 davon aus, daß nur die von den Richtlinien Betroffenen als Mitglieder in Betracht kommen. 215 H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 106ff.; D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, 1988, S.80f. 216 Dahingehend D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, S. 80 f. 217 I. Ebsen, Rechtsquellen, HS-KV, § 7 Rn. 29; ders., VSSR 1990, 57, 65 mit Fn. 32; H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 109 ff. 218 BSGE 78, 70, 80f. 219 D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, S. 82 ff. 220 R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S.59f.

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gegengehalten worden, diese sei ein Sondertyp; die Funktion der Anstalt sei in erster Linie die Verselbständigung von Verwaltungseinheiten.221 Wenn allerdings betont wird, die Kooperationsgremien könnten als intermediäre Anstalten begriffen werden, weil ihre Zusammensetzung ein körperschaftliches Element beinhalte, 222 so stellt sich die Frage, wie stichhaltig die Ablehnung ihrer körperschaftlichen Struktur ist. Offenkundig sind die beteiligten Verbände nicht nur passiv von den Entscheidungen der Kooperationsgremien betroffen, sondern durchaus in deren Organisation eingegliedert - wenn auch nicht so aktiv, wie dies einer echten körperschaftlichen Struktur entsprechen soll. - Neben der Deutung als Körperschaft oder Anstalt sind noch weitere Erklärungsversuche mit unterschiedlicher Akzentsetzung anzutreffen: So werden in den Kooperationsgremien unabhängige Fachausschüsse neben den sie errichtenden Verbänden gesehen.223 Teils werden die Beziehungen zum Staat stärker akzentuiert und die Kooperationsgremien als dem zuständigen Bundesministerium und den Verbänden nebengeordnete Ausschüsse bezeichnet, die selbständig gegenüber den Verbänden und unselbständig gegenüber den Staatsorganen, und doch weder integraler Teil des Staatsapparates noch der Verbände, wenn auch gemeinsames Gremium letzterer sind. 224 Damit wird - wie auch mit der Qualifikation als verselbständigte, teilrechtsfähige Einrichtung ohne Rechtspersönlichkeit 225 - der von Körperschaft und Anstalt beherrschte Kosmos des Verwaltungsorganisationsrechts verlassen. Gleiches gilt für die Deutung als (Zwangs-) Arbeitsgemeinschaft, 226 die zwar für vertretbar gehalten wird, 227 gegen die aber ein-

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H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 109ff. 222 H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 115 ff. 223 H.-J. Papier, Der Wesentlichkeitsgrundsatz - am Beispiel des Gesundheitsreformgesetzes, VSSR 1990, 123, 131. - In dieser Richtung auch M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 39ff., der im Anschluß an O. Bachhof\ AöR 83 (1958), 208, 245 ff. den Bundesausschuß zur Gruppe der nebengeordneten Ausschüsse zählt, die ohne Eingliederung in den Staatsapparat zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben gebildet werden. Allerdings möchte Andreas den Bundesausschuß dabei als teilrechtsfähige, den beteiligten Verbänden und dem zuständigen Bundesministerium nebengeordnete Körperschaft ansehen, wogegen Bachof der traditionellen Dogmatik verpflichtet, nur vollrechtsfähige Körperschaften anerkannt hat, und deshalb von teilrechtsfähigen Verbänden gesprochen hat (aaO 252, 270ff.). 224 E. Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", S.26ff. -Denninger hält die Bundesausschüsse am ehesten für eine Hilfseinrichtung des Staates bei der Aufgabe der Gesundheitsvor- und -fürsorge; diese Aufgabe hält er scheinbar in erster Linie für eine des Staates und nicht der Krankenversicherungsträger. 225 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 619ff., der den körperschaftlichen Charakter mit der Begründung ablehnt, dem Bundesausschuß fehlten die Oigane. 226 Allerdings scheint die Arbeitsgemeinschaft als Figur des Oiganisationsrechts nicht immer bekannt zu sein. So wird gegen sie eingewandt, es handle sich bei ihr um keinen organisationsrechtlichen Begriff (so B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

gewandt wird, die Kooperationsgremien hätten nicht nur anregende, vorbereitende und beratende Tätigkeit auszuüben, sondern Entscheidungsfunktion. 228 Damit wird auf ein Verständnis der Arbeitsgemeinschaft als weicher Kooperationsform angespielt. Nach alldem stellt sich die Frage nach dem Sinn dieser Bemühungen. Neben die Klassifikation um ihrer selbst willen 229 ist in jüngerer Zeit das Anliegen getreten, über die organisationsrechtliche Einordnung der Kooperationsgremien zur verfassungsrechtlichen Aufklärung ihrer Tätigkeit beizutragen. Dies zeigt sich deutlich an der Rechtsprechung des BSG, das vor kurzem die Deutung der Kooperationsgremien als teilrechtsfähiger Anstalten für den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen aufgegriffen hat, weil es meinte, so dessen Rechtsetzungsautonomie und damit die Qualifikation seiner Richtlinien als Rechtsnormen vor der Verfassung besser rechtfertigen zu können.230 Dahinter steht der Gedanke, daß von Verfassungs wegen nur bestimmte verselbständigte Verwaltungseinheiten - eben Körperschaften und Anstalten - mit der Setzung autonomen Rechts betraut werden können. Inwiefern dies zutreffend ist, kann an dieser Stelle noch offen bleiben.231

2. Kooperationsgremien als Kooperationsform Die Kooperationsgremien passen offenbar schlecht in das traditionelle Organisationsrecht mit der juristischen Person als zentralem Bezugspunkt: Einerseits läßt sich ihr Handeln schwerlich den sie bildenden Verbänden, sondern nur ihnen selbst zurechnen. Andererseits sind sie aber nicht so sehr verselbständigt, daß bei ihnen von Vollrechtsfähigkeit gesprochen werden könnte. Soll diese aber erforderlich sein, um von einem „Zurechnungsendsubjekt" sprechen zu können, so befindet man sich in einem Zirkel, aus der kein Entkommen ist. Im folgenden soll beides, die Zurechnung ihrer Entscheidungen und die Einordnung ihrer Verselbständigung, nochmals näher betrachtet werden.

SGB V, S. 209), was sich indes schon mit der - freilich nur rudimentären - Regelung des § 94 SGB X nicht vereinbaren läßt. 227 M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S.43; D. Krauskopf \ in: ders., §90 SGBVRn.5. 228 A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, S. 11. 229 Kritisch dazu F. Schnapp, HS-KV, § 49 Rn. 222. 230 BSGE 78, 70, 80f. im Anschluß an I. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 29 und H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 109ff. sowie unter Bezugnahme auf BVerfGE 37,1,24ff. 231 Dazu näher unten § 8 12, III 5.

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a) Zurechnung der Entscheidungen Obwohl gelegentlich die Kooperationsgremien als dem Staat nebengeordnete Ausschüsse bezeichnet werden, 232 kann doch als gesichert gelten, daß ihr Handeln nicht dem Staat, nicht dem Bund oder den Ländern, zurechnet werden kann, sie also nicht als dessen Organe zu qualifizieren sind. 233 Daß die Rechtsordnung keine Zurechnung vornimmt, scheint auch im Verhältnis zu den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen unschwer feststellbar zu sein. So sicher ist dies freilich nicht, behält man im Auge, daß das Gesetz Schiedssprüchen, Bewertungsmaßstäben und Richtlinien - wenn auch in unterschiedlicher Weise - die Eigenschaft von Vertragsrecht zuspricht (§ 8711, § 8911, § 92 V m SGB V). Insoweit könnte durchaus von Zurechnung zu den Verbänden als Vertragsparteien gesprochen werden: - Am ehesten gilt dies für den Bewertungsausschuß, für den das BSG festgehalten hat, die Verlagerung der Zuständigkeit für den Vertragsschluß von den Vertragsparteien auf ihn ändere nichts an der Rechtsnatur des Bewertungsmaßstabes als einer „den Partnern der gemeinsamen Selbstverwaltung zuzurechnenden vertraglichen Vereinbarung." 234 Den „verlängerten Arm der Vertragsparteien", als welcher der Bewertungsausschuß auch bezeichnet wird, als deren Organ zu begreifen, drängt sich geradezu auf. - Bei den Schiedsämtern ist dies schon schwieriger. Der Schiedsspruch setzt nicht nur den Vertragsinhalt fest, sondern hat gegenüber den Vertragsparteien nach gängiger Ansicht den Charakter eines Verwaltungsakts.235 Der Doppelcharakter des Schiedsspruchs hebt jedenfalls hervor, daß er mehr ist als nur eine besondere Art des Vertragsschlusses. - Noch problematischer muß die Zurechnung bei den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen erscheinen. Nicht nur wurden sie erst durch das GRG zum Bestandteil der Bundesmantelverträge erklärt (§ 92 V I I SGB V 1989 = § 92 VIII SGB V1997), vielmehr werden sie auch noch heute in § 72 I I SGB V von den Verträgen abgehoben. Immerhin kann aber bei formaler Betrachtungsweise - gestützt auf § 92 VIII SGB V1997 - von einer Zurechnung zu den Vertragsparteien gesprochen werden.

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E. Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", S. 31 f. Anders nur P. Schellen, Die Bewertungsausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen, S. 192 ff., dessen entscheidendes Argument, der Bewertungsausschuß nehme keine Aufgaben der Verbände, sondern staatliche Aufgaben wahr, nicht zu überzeugen vermag. Selbst wenn er sich dabei auf BVerfGE 39,302,313 beruft, so sind doch seine Folgerungen unzutreffend. Die Durchführung der Sozialversicherung in (unmittelbarer) Staatsverwaltung ist dem Bund durch Art. 87 II GG verwehrt; damit kann auch der Bewertungsausschuß nicht Aufgaben der unmittelbaren Bundesverwaltung wahrnehmen. 234 BSGE 73, 131,133. 235 S.o.II2a. 233

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Eine Zurechnung zu den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen ist freilich nicht nur über den den Entscheidungen der Kooperationsgremien vom Gesetz zugeschriebenen Charakter vertraglicher Regelungen möglich. Denkbar ist auch eine Zurechnung dieser Entscheidungen als solcher. Es läßt sich nämlich durchaus vertreten, daß in den einseitigen Akten der Kooperationsgremien ein Handeln für die Verbände kraft gesetzlichen Auftrags zu sehen ist. 236 Allerdings kann nie von Zurechnung zu den einzelnen Verbänden, sondern nur zu ihnen gemeinsam gesprochen werden. Dies entspricht zwar der Lage bei den Verträgen, die auch nicht von den einzelnen Verbänden mit sich selbst, sondern nur im Zusammenwirken mit den anderen Verbänden, also gemeinsam abgeschlossen werden können und ihnen dennoch zugerechnet werden. Gerade für die Entscheidungen der Kooperationsgremien ist aber die Qualifikation als gemeinsames Organ der Verbände der Ärzte und Krankenkassen und damit eine gemeinsame Zurechnung zu diesen, immer wieder aufgeworfen und beständig verworfen worden. Eingewandt wird vor allem, eine doppelte Organstellung sei zwar möglich, wie die Organleihe zeige; eine solche liege aber bei den Kooperationsgremien gerade nicht vor, weil bei diesen die Organstellung nicht je nach ausgeübter Tätigkeit trennbar sei. 237 Weithin unbeachtet bleibt die Figur der Organgemeinschaft, unter der die Errichtung und Verwendung eines Organs durch mehrere juristische Personen zu verstehen ist, und bei der das gemeinsame Organ zwar in der Regel gesondert für die einzelnen juristischen Personen tätig werden, jedoch ausnahmsweise auch für die nichtrechtsfähige Gemeinschaft handeln können soll. 238 Daran ist kritisiert worden, es werde nicht deutlich, wieso ausnahmsweise eine nichtrechtsfähige Gemeinschaft Träger eines Organs sein soll, obwohl sonst Organe die Aufgaben lediglich einer juristischen Person wahrnehmen. Zwar könnte man insoweit an eine Gemeinschaft zur gesamten Hand denken, also daran daß Befugnisse den Trägerorganisationen gemeinschaftlich zustehen und nur gemeinsam ausgeübt werden können. Dies sei aber zu verwerfen, weil Rechtsträger eines Organs nicht eine nichtrechtsfähige Gemeinschaft sein könne. 239 Angesichts des zentralen Stellenwerts der juristischen Person für das Verwaltungsorganisationsrecht erscheint das folgerichtig. Freilich bleiben damit die Kooperationsgremien gewissermaßen zwischen den Verbänden „hängen". 240 236

So sprachen etwa Λ. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, § 368 b Anm. 11 hinsichtlich der Zulassungsgremien von „gemeinsamen Einrichtungen der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Landesverbände der Krankenkassen, die kraft gesetzlichen Auftrags die Verwaltungsaufgaben der Zulassung mit unmittelbar verbindlicher Wirkung für die beteiligten Selbstverwaltungskreise durchführen." 237 F. Schnapp, ZSR 30 (1984), 140,150f.; B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 210ff.; R. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S. 58 f. 238 H. J. Wolff/O. Bachof Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1976, S. 115 (§ 77 IVb). 239 P. Schellen, Die Bewertungsausschüsse der Ärzte (Zahnärzte) und Krankenkassen, S. 173 ff. 240 F. Schnapp, ZSR 30 (1984), 140,151.

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Es fragt sich allerdings, welchen Sinn die Zurechnung zu den beteiligten Verbänden machen soll. Die Möglichkeit, gegen die kooperativen Festlegungen zu klagen, wird ihnen bei den Schiedssprüchen schon immer zugebilligt 241 und ist als Organstreitigkeit auch sonst denkbar. 242 Die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Entscheidungen werden dagegen von den Kooperationsgremien getroffen - und zwar ausschließlich von ihnen.243 Im Hinblick darauf spricht mehr dafür, die organisatorische Verselbständigung der Kooperationsgremien auch als rechtlich relevant anzusehen, und diese als eigenständige rechtliche Einheiten zu betrachten. Freilich gilt auch dann: Die Kooperationsgremien treten wohl nicht im Namen der sie errichtenden Verbände auf. Sie treten diesen aber auch nicht als „andere", als „fremde" gegenüber, sondern stellen eine institutionelle Verfestigung des „Gemeinsamen", des Zusammenwirkens dar. Dieses Zusammenwirken ist nicht deshalb als etwas ihnen „Fremdes" anzusehen, weil es ihnen vom Gesetz aufgegeben und dementsprechend institutionell abgesichert ist. 244 Die Zurechnungsfrage läßt sich eindeutig nicht lösen, da die gemeinsamen Einrichtungen sowohl zurechenbare Ergebnisse hervorbringen, als auch deutliche rechtliche Selbständigkeit aufweisen. Der Grund für die Probleme, die dies bereitet, ist die in diesen Gremien stattfindende Kooperation. Die Dogmatik des Verwaltungsorganisationsrechts ist zu sehr an der hierarchischen Geschlossenheit der Verwaltung ausgerichtet, als daß sie diese Form der Kooperation angemessen bewältigen könnte. Der Vorrat an organisationsrechtlichen Erklärungsmustern ist schnell erschöpft, weil ihm bei aller Ausdifferenzierung der Verwaltung immer der Gedanke einheitlicher Aufgabenzuordnung zugrunde liegt, einer Exklusivität, die der Ko241

S.o. II 2 a. So wird etwa zur Abwehr von Kompetenzübergriffen des Bewertungsausschusses für die Anerkennung einer „Quasi-Organstreitigkeit" plädiert (siehe F. Schnapp, Kompetenzkonflikte durch Normerlaß im Kassenarztrecht, NZS 1997,152,154). 243 Wobei sicher Unterschiede bestehen: So sind zwar allein die Schiedsämter für Schiedssprüche zuständig. Doch nehmen diese den Vertragsparteien damit nicht das Recht zur vertraglichen Gestaltung ihrer Rechtsbeziehungen. Vielmehr können diese jederzeit wieder ihre Kompetenz zur Schaffung von Vertragsrecht „an sich ziehen". 244 Dahingehend aber/. Ebsen, VSSR 1990,57,65, für den die vertragliche Normsetzung im Vertragsarztrecht schon deshalb nicht „materielle Autonomie" darstellt, weil jede Vertragspartei aufgrund der Zwangsschlichtung durch die Schiedsämter damit rechnen muß, bei Nichteinigung einen Vertragsinhalt aufgezwungen zu bekommen. Aus diesem Grunde würden sie sich schon im Vorfeld an dem orientieren, was als Resultat eines Schiedsamtsverfahrens erwartet wird. Damit wird freilich die Leistungsfähigkeit der Schiedsämter überbewertet. Zu echten Innovationen sind diese nicht fähig. Ihnen wird sogar die Befugnis zu tiefgreifenden strukturellen Eingriffen abgesprochen, wiewohl den Vertragsparteien derlei unbenommen ist. Die Schiedsämter orientieren sich in der Praxis eher an dem Hergebrachten und an vergleichbaren anderen Gestaltungen, weil letztlich die unparteiischen Mitglieder mit mehr überfordert wären - aber auch ihre Funktion nicht darin sehen. Und zwar - wie oben (III 3) dargelegt - zurecht: Das Schiedsamt kann letztlich nur den Streitgegenstand strukturieren und auf der Grundlage der Überlegungen, die die Vertragsparteien bereits angestellt haben, eine Lösung des Konflikts entwerfen. 242

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

operation gerade abgeht. Die prozessuale Behandlung der Kooperationsgremien 245 weist dagegen einen pragmatischen Umgang mit den Erscheinungsformen auf, ohne selbst systembildend zu sein. Sie zeigt, daß die Rechtsordnung in kooperativen Strukturen eher rechtlich verselbständigt als zurechnet.

b) Einordnung der Verselbständigung Sicherlich sind die Kooperationsgremien nicht vollrechtsfähig. Eine ausdrückliche Verleihung des Status einer juristischen Person findet sich im Gesetz nirgendwo. Auch ist die Organisation der Kooperationsgremien zu schlicht, als daß sie der Vollrechtsfähigkeit bedürften. Denn Vollrechtsfähigkeit wird immer noch in erster Linie als Rechtsfähigkeit im Bereich des Privatrechts verstanden. 246 Einen eigenständigen Apparat, den eine Teilnahme am Privatrechtsverkehr erforderte, besitzen die Kooperationsgremien aber nicht. 247 Allerdings ist ohnehin jede Rechtsfähigkeit relativ. 248 Denn erst die Rechtsordnung bringt mögliche Adressaten von Rechtssätzen in rechtliche Beziehungen und macht sie für diese aufnahmefähig - und zwar in je unterschiedlicher Intensität. Rechtsfähigkeit ist daher nicht Aufnahmebereitschaft für Rechtssätze schlechthin, sondern Folge der Zuordnung von Rechten und Pflichten durch die Rechtsordnung.249 Dies gilt vor allem im Bereich des öffentlichen Rechts: Die öffentlich-rechtliche Rechtsfähigkeit ist „nie eine totale, sondern immer nur eine partielle Rechtsfähigkeit." 250 Die Teilrechtsfähigkeit der Kooperationsgremien ist daher im Hinblick ihre öffentlich-rechtliche Tätigkeit kein Defizit. Die auf die Alternative Körperschaft oder Anstalt zugespitzte Debatte spiegelt den sehr begrenzten Formenvorrat des Verwaltungsorganisationsrechts wider. Obschon im organisationsrechtlichen Schrifttum vielfach eine Verbesserung dieser Formentypik gefordert wird, 251 ist im Vertragsarztrecht nichts davon zu spüren. Beschränkt man sich dementsprechend auf die Alternative Körperschaft oder Anstalt, so ist im Auge zu behalten, daß sich Körperschaft und Anstalt auf verschiedenen Ebenen unterscheiden. Gemeinhin wird die Körperschaft als mitgliedschaftlich verfaßte Verwaltungseinheit verstanden und die Anstalt als Verwaltungseinheit, die

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S.o. bei Fn. 186ff. W. Krebs, Verwaltungsorganisation, HStRIII, §69 Rn.35. 247 Ihre Geschäfte werden durchweg von einem der beteiligten Verbände geführt (siehe für die Schiedsämter § 11 SchAVO, für den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen § 1 II GO-BA). 248 H.-U. Erichsen, Verwaltungshandeln und Verwaltungsrechtsverhältnis, in: ders., Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, § 11 Rn. 11. 249 F. Schnapp, Rechtstheorie 9 (1978), 275, 283 f. 250 O. Bachof, AöR 83 (1958), 208, 268. 251 R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd.2, 1995, S. 129f. mwN. 246

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keine Mitglieder, sondern Benutzer hat. 252 Die der Abgrenzung zugrunde gelegten Kriterien widersprechen sich freilich nicht notwendig: Personen, die an der Willensbildung einer Verwaltungseinheit als deren Mitglieder beteiligt sind, können auch Nutzer der Leistungen dieser Einheit sein, wie umgekehrt auch den Nutzern auf die Willensbildung der Verwaltungseinheit Einfluß eingeräumt sein kann. 253 Es ist daher davon gesprochen worden, mit Sicherheit lasse sich nur sagen, „daß die Anstalt nicht körperschaftlich organisiert sein muß; der Umkehrschluß erscheint begriffslogisch schon nicht mehr zwingend."254 Behält man im Auge, daß die Nutzbarkeit nicht notwendiges Merkmal der Anstalt ist, ihre Funktion vielmehr in der die Verselbständigung als solcher zu sehen ist, 255 so stellt sie keineswegs ausschließlich einen Organisationstyp der Leistungsverwaltung dar, 256 sondern erweist sich als Residualkategorie. In der Residualkategorie Anstalt sind die Kooperationsgremien sicherlich ohne Probleme unterzubringen. Doch stellt sich die Frage, ob dies auch ihrer (Rück-) Bindung an die Verbände der Ärzte und Krankenkassen entspricht. Vor dem Hintergrund dieser Rückbindung ist die weit verbreitete Ablehnung ihrer körperschaftlichen Struktur durchaus fragwürdig. Wenn ihr die Weisungsfreiheit der Mitglieder der Kooperationsgremien entgegengehalten wird - die noch nicht einmal bei allen Kooperationsgremien gegeben, aber bei allen durch die Abberufbarkeit der Vertreter der Ärzte und Krankenkassen kontaminiert ist 257 - , so erstaunt dies schon, weil imperative Mandate sonst keineswegs als Begriffsmerkmal von Körperschaften angesehen werden. Oft wird die Weisungsfreiheit der Mitglieder in einem Atemzug mit dem Vorhandensein unparteiischer Mitglieder genannt und zudem deren ausschlaggebende Bedeutung hervorgehoben. 258 Damit soll die fehlende Prägung durch die Verbände belegt werden. Freilich vermag auch dies nicht zu überzeugen. Denn eines ist sicher: Ohne die Stimme der „parteiischen" Mitglieder ist in den Kooperationsgremien überhaupt keine Entscheidung möglich. Die unparteiischen Mitglieder können nur dann den Ausschlag geben, wenn zumindest ein Teil der Vertreter der Ärzte und Krankenkassen mit ihnen abstimmt. Außerdem erscheint es anders als bei den Schiedsämtern, die erst bei von den Vertragsparteien nicht lösbaren Meinungsverschiedenheiten eingreifen, bei den anderen Kooperationsgremien keineswegs ausgeschlossen, daß die Vertreter der Ärzte und Krankenkassen auch ohne die unparteiischen Mitglieder zu einer einvernehmlichen Lösung gelangen. In Anbetracht dessen kann den beteiligten Verbänden ein maßgeblicher Einfluß auf die Entscheidungen der Kooperationsgre252 Siehe nur W. Rudolf \ Organisationsrecht, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, §53 Rn. 11 und 15. 253 W. Krebs, HStR III, § 69 Rn. 33. 254 W. Krebs, Die öffentlichrechtliche Anstalt, NVwZ 1985, 609, 614. 255 K. Lange, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL 44 (1986), S. 169, 188 ff. 256 R. Breuer, Die öffentlichrechtliche Anstalt, VVDStRL 44 (1986), S.211, 231. 257 S.o.III2, IV2, 3, V2b. 258 Siehe nur I. Ebsen, VSSR 1990, 57, 65 mit Fn. 32.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

mien nicht abgesprochen werden. Aus diesem Grunde ist denn auch gerade bei nebengeordneten Ausschüssen eine körperschaftliche Struktur ehedem ohne weiteres angenommen worden. 259 Wenn die Kooperationsgremien zu den „intermediären Anstalten" gezählt werden, 260 so spiegelt dies ihre deutliche Nähe zu Körperschaften wider. Und es bestätigt sich zugleich der alles andere als neue Befund, daß für Kooperationsorganisationen Körperschaft und Anstalt jeder Aussagekraft entbehren. 261 Die Formen des Verwaltungsorganisationsrechts verlieren ihre Differenzierungskraft, je umfassender sie angelegt sind - die Residualkategorie der Anstalt belegt dies eindrucksvoll. Sinnvoller erscheint es daher, eine stärker ausdifferenzierte Formentypik zu entfalten, die die realen Unterschiede der organisatorischen Ausgestaltungen nicht planiert, sondern aufnimmt. Schiedsämter, Bewertungsausschuß und Bundesausschuß stellen Organisationsformen dar, in denen Kooperation zwischen den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen stattfindet. Daher wurden sie hier als Kooperationsgremien bezeichnet. Kooperationsorganisationen sind dem Verwaltungsrecht nicht unbekannt. Das Recht der kommunale Zusammenarbeit hat hier eine abgestufte Typik entfaltet, aber auch das Sozialrecht enthält mit Verbänden, Arbeitsgemeinschaften und Aufträgen eine eigenständige - wenn auch nicht in einem Gesetz konzentrierte - Typik. 262 Innerhalb dieser Typik zählen die Kooperationsgremien eher zu den Arbeitsgemeinschaften. In dieser Richtung liegt es auch, wenn das BSG die nach § 213 SGB V einheitlich und gemeinsam handelnden Spitzenverbände als „gesetzlich gegründete öffentlich-rechtliche Gesellschaft von öffentlich-rechtlichen Verbandskörperschaften" bezeichnet.263 Der Nachteil der Arbeitsgemeinschaften ist, daß diese keine entfaltete dogmatische Struktur aufweisen.264 Das SGB X enthält nur eine rudimentäre Regelung (§ 94 SGB X). In den besonderen Teilen des Sozialgesetzbuchs benutzt der Sozialgesetzgeber die Arbeitsgemeinschaften aber vermehrt als Kooperationsform unterhalb des Verbandes. Auch wenn die Kooperationsgremien sich als Arbeitsgemeinschaften bezeichnen lassen, weil bei ihnen die Vergemeinschaftung nicht soweit geht, daß die funktionale Eigenständigkeit der Verbände der Ärzte und Krankenkassen tangiert würde, 265 259 O. Bachof AöR 83 (1958), 208,270ff. - Vorsichtig in diese Richtung: F. Schnapp, ZSR 30 (1984), 140,151, dahingehend wohl auch/?. Düring, Das Schiedswesen in der gesetzlichen Krankenversicherung, S.60, die beide diesen von Bachof geprägten Begriff noch am ehesten für sachangemessen halten. 260 H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 115 ff. - Zum Begriff: K. Lange, VVDStRL 44 (1986), S. 169,194ff. 261 W. Brohm, Strukturen der Wirtschaftsverwaltung, S. 122f. 262 Zu Auftrag und Arbeitsgemeinschaften s. §§ 88ff., § 94 SGB X. 263 BSGE 73,146, 149. 264 Siehe aber B. Linnebacher, Die Arbeitsgemeinschaft nach § 94 SGB X, 1994, insb. S.86ff. und 160ff. 265 Verbände werden im Sozialrecht nur bei funktionaler Identität, also aus Verwaltungseinheiten mit derselben Aufgabenstellung gebildet. Dementsprechend würde der Zusammenschluß der Verbände der Ärzte und Krankenkassen zu einem gemeinsamen Verband mehr als eine nur partielle Aufgabenvergemeinschaftung voraussetzen.

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so liegt doch sicher ein Unterschied darin, daß in ihnen nicht bloße Abstimmung, sondern echte Beschlußfassung mit Wirkung für die beteiligten Verbände erfolgt. 266 Dies war mit ein Grund dafür, warum im älteren Schrifttum die durchaus erörterte Qualifikation als Arbeitsgemeinschaft letztlich doch nicht vertreten wurde. Auch wenn die Kooperationsgremien eine große Nähe zu den Arbeitsgemeinschaften aufweisen, so erscheint es doch angesichts deren wenig herausgearbeiteter dogmatischer Struktur wenig hilfreich, sie diesen zuzuschlagen. Noch unergiebiger ist es aber, sie in eine der Großformen des Verwaltungsorganisationsrechts zu pressen. Am sinnvollsten ist es, die Kooperationsgremien als eigenständige Organisationsform, als organisatorisch verfestigte Form der Kooperation der Verbände der Ärzte und Krankenkassen zu akzeptieren.

c) Kooperationsorganisationen

als eigenständige Organisationsform

Will man die Kooperationsorganisationen als eigenständige Organisationsform erfassen, so dürfen nicht die Zurechnung von Handlungen und die wenig aussagekräftigen Rechtsformen des überkommenen Verwaltungsorganisationsrechts im Mittelpunkt stehen, sondern der mit den Kooperationsorganisationen strukturierte Handlungszusammenhang: die Kooperation. Die Kooperation ist der Grund für die Schwierigkeiten, mit denen die traditionelle Dogmatik zu kämpfen hat: Wem das Handeln der Kooperationsorganisationen zuzurechnen ist, läßt sich nicht eindeutig sagen. Eine Zurechnung zu den beteiligten Verbänden ist durchaus denkbar, läßt sich aber mit einer an der hierarchisch integrierten Verwaltung orientierten Dogmatik nur schwer vereinbaren; sie wird aber auch nicht unbedingt der organisatorischen Verfestigung der Kooperation gerecht, die wiederum nicht soweit geht, daß dem überkommenen Organisationsrecht die Zurechnung zu den Kooperationsorganisationen selbst leicht fiele. Die beteiligten Verbände sind ferner nicht derart in den Kooperationsorganisationen eingeschmolzen, daß von einer homogenen Mitgliederschaft die Rede sein könnte; gleichwohl bestehen ausgeprägte Rückbindungen zu den Verbänden. Die Kooperation ist aber auch das, was die Kooperationsorganisationen von anderen Organisationsformen abhebt und ihnen genügend Konturen verleiht, um sie zu einer eigenständigen dogmatischen Figur weiterzuentwickeln. Anhand der Kooperation läßt sich die interne Differenzierung der Kooperationsorganisationen entfalten. Sind diese organisatorischen Verfestigungen von Kooperation, so unterscheiden sie sich voneinander nach dem Grad dieser Verfestigung, danach, wie weit hier der Handlungszusammenhang der Kooperation den beteiligten Verbänden enthoben 266

Die lediglich inteme Koordinierung wird vielfach als Merkmal der Arbeitsgemeinschaft angesehen (vgl. H. J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht II, 4. Aufl. 1976, S. 286 [§ 92 Ic]). Freilich kann dies für die sozialrechtlichen Arbeitsgemeinschaften nicht gelten, wie spätestens an Art. II § 25 VI SGB X - 3. Kapitel - deutlich wird.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

und verselbständigt ist: So lassen sich Gremien, in denen kooperative Lösungen nur vorbereitet werden (Arbeitsausschüsse), von Gremien unterscheiden, in denen über kooperative Lösungen verbindlich entschieden wird, wobei es dann noch einen Unterschied macht, ob diese Entscheidungen nur einvernehmlich (einfacher Bewertungsausschuß), also in der Art eines Vertrages, zustande kommen, oder ob Mehrheitsbeschlüsse möglich sind (Bundesausschuß, Schiedsämter). Aber selbst in der Gruppe der zu Mehrheitsbeschlüssen fähigen Gremien lassen sich verschiedene Grade der Verfestigung anhand der Verstetigung ihrer Tätigkeit ausmachen: So prägen Gremien, die nur im Einzelfall zur Überwindung von Entscheidungsblockaden tätig werden (Schiedsämter), den Handlungszusammenhang der Kooperation in ganz anderer Weise als Gremien, die ständig arbeiten (Bundesausschuß), und folglich in ihrem Zuständigkeitsbereich die gesamte Kooperation an sich ziehen.

3. Zustand des (Verwaltungs-)Organisationsrechts Die Schwierigkeiten der Qualifikation der Kooperationsgremien werfen ein bezeichnendes Licht auf den Zustand des (Verwaltungs-)Organisationsrechts: - Die Kooperationsgremien müssen der traditionellen Dogmatik zwangsläufig Schwierigkeiten bereiten, soweit es um die Zurechnung ihrer Entscheidungen geht. Das überkommene Organisationsrecht ist mit seinem Dogmenbestand zu sehr am Modell der hierarchisch integrierten Verwaltung ausgerichtet, als daß ihm die Erfassung aller Erscheinungsformen von Kooperation in der Verwaltung möglich wäre. Immerhin bestätigt sich daran aber, daß es nicht Sinn eines zeitgemäßen Organisationsrechts sein kann die Zurechnung von Handlungen ins Zentrum zu stellen, sondern daß es zuvörderst um die Erfassung der Gestaltung von Handlungszusammenhängen gehen muß. 267 - Körperschaft und Anstalt, die sich im Verwaltungsrecht vorwerfen lassen müssen, derart konturenlos zu sein, „daß sie als rechtsnormative Begriffe kaum taugen", 268 werden im Vertragsarztrecht zu den Fixpunkten einer formalen Kategorisierung, deren Sinn jedenfalls nicht in der Erfassung der organisatorischen Zusammenhänge liegt. Daß die formale Ordnung trügt, die durch die Alternative Körperschaft oder Anstalt vorgespiegelt wird, daß die Verwaltungspraxis ganz allgemein ständig neue hybride Formen ausprägt mit der Folge, daß sich hinter Körperschaft und Anstalt ganz verschiedene Organisationsformen verbergen, 269 wird nicht zur Kenntnis genommen. Daß sich die Kooperationsgremien gegen 267 H.-H. Trute, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, S.249,257. 268 W. Krebs, Neue Bauformen des Organisationsrechts und ihre Einbeziehung in das Allgemeine Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1996, S.339, 343. 269 R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 130.

§ 6 Organisation und Verfahren der Kooperation

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eine einfache Zuordnung sperren, wird eher als Beleg für die mangelnde dogmatische Durchdringung des Sozialrechts angesehen, denn als ein Zeichen für den eher beklagenswerten Zustand des Verwaltungsorganisationsrechts. Sollen die Organisationsrechtsformen unterschiedlich aufnahmefähig für je spezifische Steuerungsimpulse sein, 270 soll das „Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource" 271 taugen, so kann die traditionelle Formentypik von Körperschaft, Anstalt und Stiftung nicht genügen. Erforderlich ist vielmehr eine differenziertere Typik, die die real anzutreffenden Ausdifferenzierungen zur Kenntnis nimmt. Erst dann werden die Organisationsrechtsformen die Funktion eines „Anforderungsprofils" mit einer „bestimmten Speicherleistung für das Rechtssystem" 272 auch wirklich erfüllen.

27 0

R. Loeser, System des Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 80 und 98. Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1996. 27 2 E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren, HStR III, §70 Rn.6. 271

§ 7 Handlungsformen der Kooperation I. Kollektivierung und Breitenwirkung Nachdem die besonderen institutionellen Verdichtungen der verbandlichen Kooperation erörtert worden sind, ist im folgenden auf die Formen das Augenmerk zu richten, in denen sich die Ergebnisse der Kooperation zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen auskristallisieren. Bereits aus der Eigenart der Kooperationsstrukturen folgen gewisse Anforderungen an die Handlungsformen der Kooperation: Die vor allem durch die Zwischenschaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen bewirkte Kollektivierung der Rechtsbeziehungen erfordert eine Breitenwirkung der kooperativen Festlegungen. Denn die in der verbandlichen Kooperation gefundenen Lösungen müssen auch gegenüber den Verbandsmitgliedern zur Geltung gebracht werden. Jedenfalls die Vertragsärzte müssen an die Kooperationsergebnisse gebunden sein, wenn die Kooperation ihr Ziel, die Regelung der vertragsärztlichen Versorgung, nicht verfehlen will. Dieses Ziel läßt sich auf unterschiedliche Weise erreichen. Die erforderliche Breitenwirkung legt aber den Rechtsnormcharakter der kooperativ gefundenen Lösungen nahe. Denn gerade Breitenwirkung gilt als konstituierendes Merkmal von Rechtsnormen.1 Ob die formalisierten Festlegungen, in denen die verbandliche Kooperation im Vertragsarztrecht mündet, in dieser Weise effektiv werden, dem wird im weiteren nachzugehen sein. Dabei werden nur die Formen erörtert, die die Gestaltung der gesamten Leistungsstruktur im Auge haben: die Verträge (II.) und die Richtlinien (ΠΙ.). Die Verträge, die bereits im Rahmen der prozeduralen Ausgestaltung der Kooperation erörtert wurden,2 sind nun unter einem anderen Blickwinkel erneut zu betrachten: nicht mehr als Kennzeichnen des Modus des Zusammenwirkens von Ärzten und Krankenkassen, sondern als Form, in der sich dieses Zusammenwirken aktualisiert.

II. Verträge Die Mantel- und Gesamtverträge des Vertragsarztrechts enthalten nicht nur Regelungen, die zwischen den Vertragsparteien wirken sollen, sondern auch und gerade solche, die darauf abzielen, Rechtswirkungen für Dritte und für eine Vielzahl von 1 2

Vgl. F. Kirchhof,\ S.o. §611.

Private Rechtsetzung, 1987, S.59ff.

§ 7 Handlungsformen der Kooperation

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Fällen zu entfalten. Dies ist kein Zufall, sondern entspricht ihrem Zweck, der Regelung der vertragsärztlichen Versorgung (§ 72 Π SGB V). Sollen die Verträge diesen Zweck erfüllen, so müssen sie zumindest die Rechte und Pflichten der die Versorgungsleistungen erbringenden Ärzte festlegen. Damit müssen sie Bestimmungen enthalten, die nicht nur die rechtlichen Beziehungen der Vertragsparteien ordnen, sondern auf die rechtlichen Verhältnisse Dritter in einer Vielzahl von Fällen einwirken. Daher wird den Mantel- und Gesamtverträgen fast einhellig Rechtsnormcharakter zugesprochen.3 Obwohl die (Kollektiv-) Verträge des Vertragsarztrechts eine lange Tradition haben, bereitet ihre Einordnung in das System der Rechtsquellen noch immer Schwierigkeiten. Zur Erklärung des normativen Charakters der Vertragsbestimmungen wird oft auf das Tarifvertragsrecht bezug genommen.4 So sprach das BSG etwa unlängst davon: „Die Normsetzung durch Vertrag hat eine lange Tradition. Sie ist insbesondere zum Tarifvertrag anerkannt."5 Freilich sind die Kollektivverträge des Vertragsarztrechts im eigentlichen Sinne keine Tarifverträge - weder sind die Kassenärztlichen Vereinigungen Gewerkschaften noch die Vertragsärzte Arbeitnehmer der Krankenkassen.6 Dennoch bestehen historisch gesehen gewisse Parallelen: Die Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Krankenkassen, aus 3

BSGE 78, 70, 78; 75, 37, 39; 72, 227, 235; 71, 42, 45ff.; 70, 240, 244; 38, 201, 202; 29, 254, 255ff.; 28, 73, 75; 28, 224, 225f.; 20, 73, 81; G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.728ff., 738; /. Ebsen, Rechtsquellen, HS-KV, § 7 Rn. 1 lOff.; W. Funk, Vertragsarztrecht, HS-KV, § 32 Rn. 97; R. Hess, in: Kasseler Kommentar, § 82 SGB V Rn. 7 und 9; U. Hencke, in: Peters, § 82 SGB V Rn. 5; E. Eichenhofer, Sozialrecht, Rn. 370, 372; H. Sodan, Normsetzungsverträge im Sozialversicherungsrecht, NZS 1998, 305, 307f.; H. D. Schirmen Verfassungsrechtliche Probleme der untergesetzlichen Normsetzung im Kassenarztrecht, MedR 1996, 404, 405; Th. Clemens, Normstrukturen im Sozialrecht, NZS 1994, 337, 343f.; P. Wigge, Die Stellung der Ersatzkassen im gegliederten System der gesetzlichen Krankenversicherung, 1992, S. 310f.; I. Ebsen, Autonome Rechtsetzung in der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR 1990, 57, 64; H.-J. Papier, Der Wesentlichkeitsgrundsatz - am Beispiel des Gesundheitsreformgesetzes, VSSR 1990, 123, 124f.; P. Krause, Möglichkeiten, Grenzen und Träger des Autonomen Sozialrechts, VSSR 1990,107, 115 ff.; G. Küchenhoff, Gemeinsame Selbstgestaltung (Autonomie) im Kassenarztrecht, in: Festschrift für W. Weber, 1974, S. 833,841 f.; A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, 1955, § 368 g Anm. 14 a. - Gegen einen Rechtsnormcharakter: K. Sieg, Einige Probleme zu den Gesamtverträgen zwischen Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkassen, SGb 1965,289 ff.; B. v. May de II, Die Entwicklung der Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen, ZfS 1983, 148, 151 f.; S.Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, 1989, S. 182f. und 265Fn.69. 4

Siehe nur H. D. Schirmen MedR 1996, 404, 406ff.; H. Reiten Die Selbstverwaltung als Organisationsprinzip der Sozialversicherung, DRV 1993, 657, 662; P. Krause, VSSR 1990, 107, 115. 5 BSGE 71,42,48. - S. a. BSG, NZS 1995, 502, 512: „Das Institut der von Verbänden der Beteiligten vereinbarten Preise entspricht dem Modell des Tarifvertrags und hat im Kassenarztrecht eine lange Tradition." 6 Vgl. BSGE 81, 73, 83.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

denen das Kassenarztrecht entstanden ist, wiesen gewisse Ähnlichkeiten mit Arbeitskämpfen auf. 7 Auch funktional bestehen Ähnlichkeiten: Auch im Vertragsarztrecht legen Kollektive der Anbieter von und der Nachfrager nach (ärztlichen) Arbeitsleistungen „kartellartig" die Bedingungen fest, die nicht dem individuellen Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen werden können oder sollen.8 Eine arbeitsrechtliche Deutung der Beziehungen zwischen Ärzten und Krankenkassen, die schon immer Brüche aufwies, ist aber spätestens seit deren Publifizierung nicht mehr möglich. In der Bezugnahme auf das Tarifvertragsrecht findet vor allem die Erklärungsbedürftigkeit der normativen Wirkung der Gesamt- und Mantelverträge ihren Ausdruck. Diese sieht sich in letzter Zeit zunehmend Kritik - namentlich verfassungsrechtliche Provenienz - ausgesetzt. So wird etwa bemängelt, daß dadurch die vertragschließenden Verbände Rechtsetzungsmacht über die jeweils andere Seite erhielten.9 Diese Kritik erfolgt von einem Konzept autonomer Rechtsetzung öffentlich-rechtlicher Körperschaften aus, das ganz auf deren Mitglieder beschränkt ist und sich schwer damit tut, die Normenverträge des Vertragsarztrechts zu akzeptieren. Auf diese eher verfassungsrechtlichen Einwände, die gegen ein bis vor wenigen Jahren praktisch unangefochtenes Regelungsinstrument zunehmend erhoben werden, soll erst später eingegangen werden. 10 Im folgenden wird es allein um die einfachrechtliche Begründung des Rechtsnormcharakters der Kollektivverträge des Vertragsarztrechts gehen, wobei zunächst je ein gesonderter Blick auf Rechtsprechung und Literatur geworfen wird.

1. Standpunkt der Rechtsprechung In den ersten Entscheidungen, in denen das BSG den Mantel- und Gesamtverträgen Normcharakter zuerkannt hat, geschah dies ohne sonderlichen argumentativen Aufwand: Den normativen Charakter mantelvertraglicher Regelungen leitete das BSG aus deren gesetzlich angeordneten Wirkung her, den allgemeinen Inhalt der Gesamtverträge festzusetzen, ohne daß es darüber einer besonderen Vereinbarung der Partner der Gesamtverträge bedurfte. 11 Den Gesamtverträgen wurde mit der ähnlich apodiktischen Begründung Rechtsnormcharakter zugesprochen, daß diese die Kassenärzte zu einem bestimmten Verhalten verpflichteten. 12 Das BSG sprach von einer den Vertragspartnern „gemeinsam erteilten Rechtsetzungsermächtigung",

7

Siehe oben §41. Ρ Krause, VSSR 1990, 107,115. 9 So /. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 119. 10 Unten §8. 11 BSGE 20, 73,81. 12 BSGE 28, 224, 225 f. 8

§ 7 Handlungsformen der Kooperation

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kraft derer sie für die ihrer Rechtsetzungsmacht Unterworfenen bindendes Recht schaffen könnten.13 Eine ausführliche Begründung erfolgte erst, als sich in der Literatur Widerspruch regte und behauptet wurden, die intendierten Wirkungen der Kollektivverträge ließen sich auch ohne Annahme eines Normcharakters vertretungsrechtlich begründen.14 Das BSG hielt dem entgegen, der Normcharakter der Verträge folge schon aus dem Gesetzestext, der den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen die „Regelung", mithin die „Normierung" der kassenärztlichen Versorgung aufgebe (heute §7211 SGB V). Die Vertragsform diene in diesem Zusammenhang nur dazu, die gleichberechtigte Beteiligung der gleichermaßen in ihren Interessen berührten Kassenärzte und Krankenkassen an der Rechtsetzung sicherzustellen.15 Rechtsetzung durch Verträge sei nicht ungewöhnlich - wobei nicht nur auf den Tarifvertrag, sondern auch auf die verwaltungsrechtliche Rechtsvereinbarung hingewiesen wurde.16 Die in der Literatur vertretene Ansicht, die Kassenärztliche Vereinigung handle bei Abschluß der Gesamtverträge als gesetzliche Vertreterin der Kassenärzte,17 lasse sich mit dem Gesetzestext kaum vereinbaren und vermöge in der Sache nicht zu überzeugen. Sie würde zu unmittelbaren vertraglichen Beziehungen zwischen Kassenarzt und Krankenkasse führen, die das geltende Recht nicht (mehr) kenne, und könne nicht erklären, warum die Kassenärztlichen Vereinigungen nicht nur mit Wirkung für die ihr bei Vertragsschluß angehörenden, sondern mit Wirkung für ihre jeweiligen Mitglieder handeln.18 Die intendierten Wirkungen der Kollektivverträge ließen sich vertretungsrechtlich nur dann abbilden, wenn der freie Wille des einzelnen Vertragsarztes, sich binden zu lassen, der Rechtsmacht der Kassenärztlichen Vereinigungen, ihn binden zu können, vollständig weiche. Dann stellte sich allerdings die Frage, welchen Sinn vertretungsrechtliche Konstruktionen überhaupt machen sollten.19 Ziel und Inhalt der vertraglichen Bestimmungen bestätigten deren Normcharakter: Die vertraglichen Bestimmungen zielten nicht auf die Regelung der Rechtsbeziehungen der Vertragsparteien, sondern auf die Dritter; ihnen komme mithin eine „für Normen kennzeichnende ,Drittwirkung*" zu. Außerdem entspreche ihre inhaltliche Struktur der von Normen: Mit ihnen würden nicht nur für einen Einzelfall konkrete Rechte und Pflichten, sondern für eine unbestimmte Vielzahl von Fällen abstrakt formulierte Rechtsfolgen festgelegt. 20 13

BSGE 28, 73, 75. K. Sieg, SGb 1965,289 ff. - In jüngerer Zeit wird eine solche Konzeption von S. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 265 ff. vertreten. 15 BSGE 29, 254, 254 f. 16 BSGE 29, 254, 255. 17 K. Sieg, SGb 1965, 289, 289f. 18 BSGE 29, 254, 257. 19 BSGE 29, 254, 257. 20 BSGE 29, 254, 258. 14

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

In der Folge dieser Entscheidung sah das BSG lange Zeit keine Notwendigkeit die Normwirkung vertraglicher Regelungen näher zu begründen. Wie selbstverständlich leitete es etwa aus dem normativen Charakter der Kollektivverträge des Vertragsarztrechts die Unanwendbarkeit des § 571 SGB X ab.21 Erst in einer Entscheidung zum einheitlichen Bewertungsmaßstab sah es sich erneut zu längeren Ausführungen genötigt. Streitig war dabei die Rechtsnatur des durch den erweiterten Bewertungsausschuß festgesetzten Bewertungsmaßstabs. Der Ansicht, jedenfalls dieser stelle eine Allgemeinverfügung dar, trat das BSG entgegen und qualifizierte den Beschluß als „Teilakt der Normsetzung". 22 Die Alternative Allgemeinverfügung oder Rechtsnorm beherrscht die ganze Entscheidung. Die Qualifikation als Allgemeinverfügung war weniger dadurch veranlaßt, daß der erweiterte Bewertungsausschuß Schiedsamtsfunktionen wahrnimmt und Schiedssprüche allgemein als Verwaltungsakte angesehen werden - denn dies sind sie nur im Verhältnis zu den Vertragsparteien. 23 Die Qualifikation als Allgemeinverfügung wurde vor allem durch einige Bestimmungen des SGB V nahegelegt, in denen vergleichbare Gestaltungsmittel als Allgemeinverfügung angesehen und Anfechtungsklagen für zulässig gehalten wurden. 24 Das BSG argumentierte zweigleisig: Der einheitliche Bewertungsmaßstab sei schon deshalb als Rechtsnorm einzustufen, weil er in einem auf die Schaffung untergesetzlicher Normen ausgerichteten Verfahren unter Beachtung der hierfür vorgeschriebenen Formen erlassen wurde. 25 Angesichts des rudimentären Charakters der Regelung administrativer Normsetzungsverfahren 26 ist dies eine zumindest überraschende Aussage. Der einheitliche Bewertungsmaßstab sei aber, so das BSG weiter, auch seinem Inhalt nach eine Rechtsnorm: Unter Berücksichtigung der großen Zahl der Vertragsärzte und der großen Zahl der geregelten vertragsärztlichen Leistungen sei er in einem solchen Maße generell-abstrakt, daß die Form einer normativen Regelung sachgerecht erscheine.27 Verunsichert durch den Gesetzgeber, der ähnlich wirkende Gestaltungsinstrumente offenbar als Allgemeinverfügung ansah, ging das BSG vorrangig formal vor. Entsprechend der bisherigen 21

BSGE 70, 240, 244. - Freilich ist schon die Anwendbarkeit der §§ 53 ff. SGB X fraglich, weil durch Normsetzung keine Rechtsverhältnisse begründet oder gestaltet werden. Dies wurde in prozeßrechtlicher Hinsicht vom BSG auch immer so gesehen (siehe nur BSGE 72, 15, 18 f.; 71,42,45 ff.; 28, 224, 225 f.). 22 BSGE 71,42,45. 23 Siehe nur /. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 152. - Allerdings ist die Qualifikation als Verwaltungsakt nicht unproblematisch (näher dazu oben § 6 II 2 a). 24 Nach § § 35 VII 2,36 III SGB V haben Klagen gegen die Festbetragsfestsetzung keine aufschiebende Wirkung und § 92 III SGB V ordnet für Klagen gegen die Zusammenstellung der Arzneimittel in den Arzneimittel-Richtlinien die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Anfechtungsklage an. - Zum Rechtsnormcharakter der Festbetragsfestsetzung siehe BSG, NZS 1995, 502, 508 ff. 25 BSGE 71,42, 45 f. - Ebenso formal ansetzend: BSGE 72, 15,18. 26 Siehe nur E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren, HStR III, § 70 Rn. 11. 27 BSGE 71,42,50f. - Ebenso BSG, NZS 1995,502,509f. für die Festbetragsfestsetzung, die vom Gesetz als Allgemeinverfügung angesehen wird.

§ 7 Handlungsformen der Kooperation

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Rechtsprechung zum Normcharakter der Kollektivverträge sah das BSG den im Bewertungsausschuß vereinbarten Bewertungsmaßstab als Rechtsnorm an und lehnte es ab, zwischen diesem und dem im erweiterten Bewertungsausschuß beschlossenen Bewertungsmaßstab einen Unterschied zu machen.28 Beide hätten dieselbe Rechtsnatur und seien als Rechtsnorm einzustufen. 29

2. Erklärungsansätze in der Literatur In der Literatur findet die Qualifikation der Verträge als Normenverträge weitgehend Zustimmung.30 Kritik findet weniger die einfachrechtliche Qualifikation, erst am Maßstab des Verfassungsrecht scheidet sich Kritik von Zustimmung. Ein Grund für die breite Zustimmung zum Rechtsnormcharakter der Kollektivverträge des Vertragsarztrechts dürfte die Parallelität zum Tarifvertrag sein, der mit seinen normativen Regelungen ein Vorbild für die Kollektivverträge des Vertragsarztrechts abgibt. Allerdings bedarf es zur Begründung der Rechtsnormwirkung mantel- und gesamtvertraglicher Regelungen keines Rückgriffs auf das Tarifvertragsrecht. Vielmehr kann sie einer Reihe von Bestimmungen des SGB V entnommen werden: Ein erstes Indiz wird bereits in § 72II SGB V gesehen, nach dem die vertragsärztliche Versorgung durch Verträge zu regeln ist. Entscheidend soll aber sein, daß, wie aus § § 821, 831,81 ΠΙ Nr. 1,95 ΠΙ, IV, 210Π SGB V folgt, die Mantel- und Gesamtverträge nicht nur für die Vertragsparteien, sondern auch für alle an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen sowie für alle Krankenkassen verbindlich sind.31 Die Verbindlichkeit für die Vertragsärzte wird in der Tat in § 95 I I I 2 SGB V ausdrücklich angeordnet; für die Krankenkassen läßt sie sich § 8311 SGB V entnehmen.32 Daß diese Wirkung auch noch - allerdings nur für die Bundesmantelverträge - in den Satzungen der Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 81 ΙΠ Nr. 1 SGB V) und in denen der Landesverbände der Krankenkassen (§21011 SGB V) festgehalten werden soll, erscheint auf den ersten Blick überflüssig. Daraus ist in der Literatur nur gelegentlich ein Argument gegen eine Normwirkung der Verträge abgeleitet worden. 33 Eher wird mit einem kritischen Unterton festgehalten, der 28

BSGE 71,42,46. BSGE 71,42,49. - Eine Differenzierung danach, daß zwar der vereinbarte Bewertungsmaßstab als Rechtsnorm, der vom erweiterten Bewertungsausschusses beschlossene Bewertungsmaßstab dagegen als Verwaltungsakt anzusehen ist, der über die §§ 8212,95 III 2, 81 III Nr. 1 SGB V den Vertragsärzten gegenüber eine Tatbestandswirkung entfalte, sei „zwar rechtlich möglich", könne „indes dem Gesetz nicht entnommen werden" (BSGE 71,42,50). 30 Siehe die Nachweise in Fn. 2. 31 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.728. 32 Dabei ist zwischen den Gesamtverträgen, deren Wirkung für die beteiligten Krankenkassen in § 8311 SGB V angeordnet wird, und den Bundesmantelverträgen zu unterscheiden, die an dieser Wirkung über § 8212 SGB V teilnehmen. 33 So S. Hertwigy Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 182 f. 29

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Gesetzgeber habe sich, was die normative Wirkung der Mantel- und Gesamtverträge angeht, einigermaßen schwer getan; ihre schlichte Anordnung hätte ausgereicht.34 Allerdings sind diese Bestimmungen keineswegs so sinnlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: Man kann ihnen „Erinnerungs- und Mahnungsfunktion", aber auch die Aufgabe zusprechen, die Beachtung der in bezug genommenen Pflichten zum Gegenstand satzungsrechtlicher, d. h. binnenorganisatorischer Kontroll- und Sanktionsmechanismen zu machen.35 Jedenfalls wird allgemein davon ausgegangen, dem Gesetz lasse sich, auch ohne daß es ausdrücklich vertraglichen Regelungen Rechtsnormcharakter zuspricht, entnehmen, daß die Mantel- und Gesamtverträge normative Wirkung entfalten können. Denn mit ihnen würden nicht nur Rechte und Pflichten der Vertragsparteien gestaltet. Ihre eigentliche Funktion bestehe vielmehr in der Gestaltung der Rechte und Pflichten anderer, nämlich der einzelnen Vertragsärzte und der einzelnen Krankenkassen. In dieser unmittelbaren Drittwirkung wird gerade die Eigenart von Normenverträgen gesehen.36 Die unmittelbare Verbindlichkeit für Dritte sei das Wesensmerkmal einer Rechtsnorm und der Vertrag nur das rechtstechnische Mittel, um die gleichberechtigte Teilhabe an der Entscheidung und um einen Ausgleich der widerstreitenden Interessen herbeizuführen. 37 In der Tat kann die Breitenwirkung als ein konstitutives Merkmal von Rechtsnormen38 bei den Kollektivverträgen des Vertragsarztrechts nicht in Zweifel gezogen werden. Schon daraus, daß sie der Regelung der vertragsärztlichen Versorgung dienen, folgt, daß sie für eine Vielzahl von Adressaten, vor allem für die Vertragsärzte, gelten müssen. Probleme muß aber bei Verträgen die Heteronomität, die einseitige Auferlegung von Regelungen, als weiteres konstitutives Merkmal von Rechtsnormen bereiten. Richtigerweise können aber, weil die Heteronomität nicht gegenüber allen Rechtsgebundenen bestehen muß, es vielmehr genügt, wenn sie nur einen Teil dieser erfaßt, Rechtsnormen auch vertraglich vereinbart werden. Sobald ein Vertrag Dritte bindet, können seine Regelungen für diese Dritte zur Rechtsnorm werden. Die Entstehung durch Vertrag stellt 34

Ρ Krause, VSSR 1990,107, 116. So H. Bauer, Die negative und die positive Funktion des Verwaltungsvertragsrechts, in: Festschrift für F. Knöpfle, 1996, S. 11,23 f., für vergleichbare Bestimmungen in Verwaltungsverträgen. 36 M. Heime, Die Vertragsstrukturen des SGB V, SGb 1990, 173, 178; H.-J. Papier, VSSR 1990, 123, 124f.; B. Schulin, Vergütungen für zahntechnische Leistungen, 1992, S.52. - Begriffsprägend ist insoweit Λ. Hueck, Normenverträge, JherJb 73 (1923), 33,36, der- seiner zivilistischen Fragestellung entsprechend - als Normenverträge alle Verträge bezeichnete, in denen Normen vereinbart werden, die für schuldrechtliche Einzelverträge maßgeblich sein sollen. Im Hinblick auf die Kollektivverträge des Krankenversicherungsrechts ist vorgeschlagen worden, unter Normenverträgen alle Verträge zu verstehen, „in denen Normen vereinbart werden, die für eine Vielzahl von wie auch immer gearteten Beziehungen zwischen Rechtssubjekten maßgebend sein sollen" (J. Teigelack, Zwei- und dreiseitige Verträge nach SGB V, 1994, S.83f.). 37 G. Küchenhoff, in: Festschrift für W. Weber, 1974, S. 833, 848. 38 Siehe dazu F. Kirchhof.\ Private Rechtsetzung, S.57ff. 35

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dann nur ein besonderes Verfahren der Normsetzung dar, in dem zwei (oder mehr) Organisationen zusammen eine Regel erzeugen.39 Freilich ist die Annahme einer Normwirkung mantel- und gesamtvertraglicher Regelungen vereinzelt auch auf Kritik gestoßen.40 So wurde gegen sie eingewandt: Ihre Unhaltbarkeit folge für das Verhältnis zu den Versicherten schon daraus, daß die gesetzlichen Bestimmungen, die allein als Grundlage einer solchen Rechtsetzungskompetenz dienen könnten, solche des Vertragsarztrechts seien und dieses allein das Verhältnis der Krankenkassen zu den Vertragsärzten regle, das Verhältnis zu den Versicherten jedoch unberührt lasse. Zudem enthalte das Gesetz weder im Verhältnis zu den Versicherten noch in dem zu den Vertragsärzten eine dahingehende Rechtsetzungsermächtigung. Eine solche ließe sich dem Gesetz nur dann entnehmen, wenn dadurch die Vertragsparteien Regelungskompetenzen erhielten, die über die ihnen jeweils bereits eingeräumte Autonomie hinausginge. Das sei aber nicht der Fall. Vor allem seien den Kassenärztlichen Vereinigungen vom Gesetz alle Rechtsetzungsbefugnisse verliehen, die sie brauchten, um ihren besonderen Sicherstellungsauftrag gegenüber den Krankenkassen erfüllen zu können.41 Diese von dem Bestreben, alle Rechtsbeziehungen des Krankenversicherungsrechts mitgliedschaftlich zu konstruieren, getragene Argumentation hat freilich mit dem Problem zu kämpfen, daß § 92 ΠΙ 2 SGB V die Bindung der Vertragsärzte an die Bestimmungen der Mantel- und Gesamtverträge statuiert. Um in Anbetracht dessen einer Normwirkung zu entgehen, wird dies als Fall gesetzlicher Stellvertretung gedeutet, was schon deshalb vorzugswürdig sein solle, weil die Rechtsetzung durch Vertrag eine verfassungsrechtlich problematische heteronome Komponente in die Selbstverwaltung bringen würde. 42 Freilich will dies nicht mit einem Ansatz zusammenpassen, der sich anschickt, die gesamten Beziehungen des Krankenversicherungsrechts mitgliedschaftlich zu deuten. Denn nunmehr müssen unmittelbare vertragliche Beziehungen zwischen Vertragsärzten und Krankenkassen angenommen werden. Daß die auf kollektiver Ebene zustande gekommenen (individual-)vertraglichen Regelungen auch noch durch Satzungsrecht für verbindlich erklärt und dadurch (wohl) selbst Satzungsrecht werden sollen, macht diese Konzeption nicht überzeugender. Dagegen bewegt sich die Deutung der Mantel- und Gesamtverträge des Vertragsarztrechts als „Normsetzungsverträge" so sehr auf dem Boden der vorherr39

F. Kirchhof \ Private Rechtsetzung, S. 91 f. - S. a. ders., Die eigenständige Rechtsetzung der gesetzlichen Krankenkassen, VSSR 1983, 175,195. 40 K. Sieg, SGb 1965,289ff.; B. v.Maydell, ZfS 1983,148,151 f.; S. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, 1989, S. 182f. und 265Fn.69. 41 S. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 182f. und S. 265 Fn. 69. 42 S. Hertwig, Das Verwaltungsrechtsverhältnis der Mitgliedschaft Versicherter in einer gesetzlichen Krankenkasse, S. 265 Fn. 69. 23 Wahl

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

sehenden Auffassung, daß die Akzentverschiebung nur schwer erkennbar ist, obwohl sie doch schon in der Bezeichnung angelegt ist. Die Mantel- und Gesamtverträge sollen danach ein „Instrument vertraglicher Ingeltungsetzung genereller Regelungen"43 darstellen. Insoweit sind sie zwar „echte Rechtsquelle", entfalten also unmittelbare Normwirkung, ohne daß es einer Umsetzung durch autonomes Satzungsrecht bedarf. 44 Doch wird dies in einer folgenreichen Weise begründet: Der Gesetzgeber könne in dem gleichen Umfang, in dem er einen Selbstverwaltungsträger zur Rechtsetzung ermächtigen kann, diesem auch die Befugnis einräumen, mit anderen Selbstverwaltungsträgern über die Gegenstände seiner Rechtsetzungskompetenz Verträge zu schließen. In solchen Fällen sei kein Grund ersichtlich, warum der Gesetzgeber gehindert sein sollte, Koordination durch Vertrag und Rechtsetzung gegenüber den Satzungsunterworfenen in einem Rechtsakt zu vereinigen.45 Dahinter ist das Bemühen erkennbar, die Normenverträge aus dem Gedanken der Autonomie heraus zu erklären. Mit der gleichen Intention ist in der Literatur auch von „Kollektivverträgen mit Satzungscharakter" gesprochen worden. 46 Dem ist freilich entgegengehalten worden: „Normsetzungsverträge der hier diskutierten Art beanspruchen nicht, Satzungen zu sein, und sie sind es auch nicht." 47 Und in der Tat will der Begriff der Autonomie als Bezeichnung für die einem Verwaltungsträger verliehene Rechtsetzungsbefugnis auf den Fall der Normsetzung durch Vertrag nicht so richtig passen.48

3. Vertraglich vereinbartes Recht Daß die Kollektivverträge Regelungen enthalten, die normative Wirkung entfalten sollen, läßt sich nicht bestreiten. Ihre Breiten- und Drittwirkung 49 legen dies nicht nur nahe, sondern lassen keinen anderen Schluß zu. Wenn die Verträge die vertragsärztliche Versorgung regeln sollen, so können sie sich nicht auf die Rechtsbeziehungen unter den vertragschließenden Parteien beschränken, sondern müssen insbesondere die Rechtsstellung der Vertragsärzte gestalten. Die Drittwirkung der Verträge ist Folge der Kollektivierung der Vertragsbeziehungen bei gleichzeitiger 43

1. Ebsen, HS-KV § 6 Rn. 112. /. Ebsen, HS-KV § 6 Rn. 110 und 116. 45 /. Ebsen, HS-KV § 6 Rn. 118. 46 Th. Clemens, Normenstrukturen im deutschen Recht, in: Festschrift für E.-W. Böckenförde, 1995, S. 259,266; ders., Normstrukturen im Sozialrecht, NZS 1994,337,345; D. Umbach/ Th. Clemens, Sozialrecht und Verfassungsrecht, VSSR 1992, 265, 292. 47 R. Wimmer, Verfassungsrechtliche Anforderungen an untergesetzliche Rechtsetzung im Vertragsarztrecht, MedR 1996,425,426. 48 F. Kirchhof, Die eigenständige Rechtsetzung der gesetzlichen Krankenkassen, VSSR 1983, 175,195. 49 Zu diesen beiden Kriterien siehe F Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 57 ff., insb. 64ff., 91 f. 44

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Beibehaltung individueller Leistungserbringung. In der Kollektivierung gründet aber nicht nur die Drittwirkung, sondern auch die Breitenwirkung der vertraglichen Regelungen: Sie betreffen nicht bestimmte (Dritt-)Rechtsverhältnisse, sondern eine unbestimmte Anzahl gegenwärtiger und künftiger rechtlicher Beziehungen. Die intendierte Wirkung der Verträge entspricht daher der von Rechtsnormen. Ungewöhnlich ist nur ihre Entstehung. Die konstruktiven Alternativen zur Normwirkung, mit denen sich die Rechtsprechung auseinanderzusetzen gehabt hat, Stellvertretung und Allgemeinverfügung, machen nicht nur darauf aufmerksam, daß die intendierten Wirkungen auch anders begründet werden können, sondern zugleich auch auf die Besonderheiten kollektivvertraglicher Regelungen. Die Qualifikation als Allgemeinverfügung verläßt die Vertragsform soweit, daß sie auf den ersten Blick abwegig erscheinen mag. Ganz abgesehen davon, daß sie keineswegs eine überzeugende Form für die Bewirkung abstrakt-genereller Regelungen ist, 50 so weist sie doch daraufhin, daß die Unterworfenheit anderer als der Vertragsparteien unter die vertraglichen Regelungen nicht alles sein kann. Das BSG hatte insoweit schon früh darauf aufmerksam gemacht, daß der Vertrag eine spezielle Form des Interessenausgleichs ist. 51 Die damit angesprochene real stattfindende Kooperation kann bei einer Deutung als Allgemeinverfügung nicht erklärt werden. Die vertretungsrechtliche Konzeption behält dagegen zwar die Vertragsform bei, löst aber die Mediatisierung der Vertragsärzte auf. Einzelvertragliche Beziehungen lassen sich so wohl rechtskonstruktiv begründen, damit wird aber die Wirklichkeit kollektiver Vereinbarungen nicht richtig erfaßt. Daß zwischen Vertragsarzt und Krankenkassen kein einzelvertragliches Band mehr besteht, ist kein Zufall, sondern Funktionsimperativ des vertragsärztlichen Systems. Wirkt dies aber auf kollektiver Ebene und zeitigt durch die dort geschlossenen Verträge unmittelbare Wirkungen für alle Systembeteiligten, dann ist es vorzugswürdig, diese abstrakt-generellen Wirkungen auch als solche zu akzeptieren. Die realen kollektivvertraglichen Wirkungen können überzeugend nur mit dem Normcharakter der Verträge erklärt werden. Das Tarifvertragsrecht sah sich schon immer vor ähnliche Probleme gestellt. Mit der T W O 1919 hat sich die Ansicht von einer normativen Wirkung gegenüber rechtsgeschäftlichen Konstruktionen durchgesetzt. Auch das TVG räumt tariflichen Regelungen ausdrücklich Rechtsnormcharakter ein (§ 11, § 4 TVG). Angesichts der Schwierigkeiten, die eine privatautonome Erklärung tariflichen Normen bereitet, scheint es folgerichtig, wenn die Rechtsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien

50

Siehe nur BSG, NZS 1995, 502, 508 ff. BSGE 29, 254, 254f. - Bei den Festbeträgen spielt dieser Aspekt keine Rolle, da diese nicht von Gegenspielern vereinbart, sondern von den Krankenkassen festgesetzt werden (so BSG, NZS 1996,502,512-dagegen sprach BSGE 71,42,48 diesbezüglich von „Gesamtvereinbarung"). 51

23*

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aus dem Gesetz hergeleitet wird. 52 Dagegen sind immer wieder privatautonome Konstruktionen der Tarifwirkung vorgeschlagen worden, die immer vor dem Problem standen, bei individuellem Leistungsaustausch die Durchsetzbarkeit kollektiver Regelungen erklären zu können.53 Im Arbeitsrecht tritt der Kollektivvertrag nur neben den Individualvertrag und legt als kollektiver Rahmenvertrag die Bedingungen des Leistungsaustausches fest, wodurch die Austausch- und Regelungsfunktion zwischen Individuum und Kollektiv aufgeteilt und ein funktionaler Zusammenhang durchschnitten wird. 54 Als Alternative zur Normwirkung der Tarifverträge gilt eine vertretungsrechtliche Konstruktion als ungeeignet.55 Stattdessen werden Kombinationen aus satzungsrechtlichen und schuldrechtlichen Konstruktionen vorgeschlagen, die letztlich im Austauschverhältnis zwischen den Tarifgebundenen den Durchgriff auf die tarifvertraglichen Regelungen begründen sollen.56 Solche Konstruktionen erscheinen rechtstechnisch nicht ausgeschlossen, doch fragt sich, ob die Aufspaltung kollektiver Gestaltungsmittel in individuelle Beziehungen die Sachlage adäquat widerspiegelt. Auf das Vertragsarztrecht läßt sich dies ohnehin nur schwer übertragen. Probleme bereitet schon, daß Einzelverträge zwischen Vertragsärzten und Krankenkassen nicht bestehen, in die sich die kollektiven Festlegungen transportieren ließen. Doch könnte auf diesen Durchgriff verzichtet werden und der längere Weg über Satzungsrecht und Kollektivverträge beschritten werden. Es fragt sich aber, welchen Gewinn es in der Sache bringt, wenn die Satzung die Mitglieder an die Kollektivverträge bindet. Es liegt näher, direkt den Verträgen die Drittwirkung zu entnehmen, und diese nicht erst als ihnen von den Satzungen verliehen anzusehen. Denn nicht erst die Satzungen treffen die Regelungen; darf doch in ihnen, soll das System funktionieren, vom Kollektivvertrag nicht abgewichen werden. Damit können die Satzungen allenfalls die Geltung fremder Regelungen festhalten. Die materielle Regelung jedoch wird auf kollektiver Ebene getroffen - und nicht in (Satzungs-)Autonomie. Insoweit ist es unzutreffend von „vertraglicher Ingeltungsetzung" zu sprechen; vielmehr wird die Regelung selbst vertraglich geschaffen. Ist die Normwirkung der Kollektivverträge des Vertragsarztrechts vom Gesetz beabsichtigt, und erheben die vertraglichen Regelungen selbst den Anspruch, die rechtlichen Beziehungen einer Vielzahl von Personen in einer Vielzahl von Fällen zu ordnen, so ist es daher sachnäher, aus den Verträgen selbst heraus die intendierten Wirkungen zu erklären. Die Deutung als Normenverträge ist möglich und hat nicht 52 So BAGE 4, 240, 251. - Zu dieser auch als „Delegationstheorie" bezeichneten Ansicht: befürwortend F. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Bd.I, 1997, S.554ff. (insb. 557ff.); kritisch F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 181 ff. 53 Dazu jüngst V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, 1996, S. 228 ff. 54 V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, S. 229. 55 V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, S. 237. 56 V. Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, S.234f.

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allein im Tarifvertragsrecht, sondern gerade auch im öffentlichen Recht Tradition. 57 Sie spiegelt besser als andere Konstruktionen die kooperative Grundlage der Vertragsnormen wider und entspricht damit mehr den realen Verhältnissen.58

III. Richtlinien Rechtsnatur und Bindungswirkung der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen sind seit je umstritten. Daß diese Kontroverse seit Verabschiedung des GKAR andauert, ist weniger auf die fehlende praktische Relevanz der Fragestellung zurückzuführen, 59 sondern eher darauf, daß sich das BSG selbst nicht sicher war, welche Verbindlichkeit es den Richtlinien zubilligen sollte und deshalb lange Zeit zu dogmatischen Lösungen griff, die ihm ein erhebliches Maß an Flexibilität eröffneten. Erst unlängst hat sich das BSG dazu durchringen können, den Richtlinien Rechtsnormcharakter zuzuerkennen.60 Dieser Schritt ist in der Literatur auch schon vorher vollzogen worden. 61 Vorbereitet worden war er durch den Gesetzgeber des GRG, der sich zwar zu einer echten Klarstellung nicht durchringen konnte, aber immerhin in § 92 V I I SGB V 1989 (nun § 92 V m SGB V 1997) die Richtlinien zum Bestandteil der Bundesmantelverträge erklärt hatte und damit an deren Rechtsnatur teilhaben ließ. Auch wenn sich vor diesem Hintergrund die Erkenntnis des Rechtsnormcharakters der Richtlinien immer mehr durchsetzt, so bedeutet dies noch lange nicht, daß ihr auch zugestimmt wird. Es mehren sich vielmehr die verfassungsrechtlichen Einwände, die geradezu das Ende des Rechtsstaats heraufbeschwören. 62 57

Siehe zu letzterem M. Sachs, Die normsetzende Vereinbarung im Verwaltungsrecht, VerwArch 74(1983), 25 ff. 58 Dies ist nicht nur in prozessualer Hinsicht folgenreich (BSGE 76, 48, 50; 71, 42, 51 f.), sondern hat auch für das Verfahren Konsequenzen: Wenn die vertraglichen Regelungen Rechtsnormcharakter haben, gelten für sie die §§ 53 ff. SGB X nicht, weil Rechtsnormen selbst kein Rechtsverhältnis begründen. Demnach ist weder § 571 SGB X (siehe dazu BSGE 76, 48, 52) noch § 581 SGB X anwendbar. Die Anforderungen an die Wirksamkeit der normativen Regelungen sind vielmehr allein dem materiellen Recht, also dem Krankenversicherungsrecht zu entnehmen. 59 Daß die Rechtsprechung sich erst in den 1970er Jahren mit den Richtlinien zu beschäftigen begann, hängt auch mit der Aufwertung des Bundesausschusses und seines Instrumentariums zusammen (dazu oben § 6 V 1 a). 60 BSGE 78,70,74ff.(6. Senat); 81,54,63f.; 81,73,80ff.; 81,240,242 (1. Senat); 81,182, 187 f. (3. Senat). 61 /. Ebsen, HS-KV, § 7 Rn. 158 ff.; ders., VSSR 1990, 57, 67f.; W. Funk, HS-KV, § 32 Rn. 12 f. H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 1994, S. 48 ff.; M. Heinze, Die Rechtsbeziehungen der Leistungserbringer von Heil- und Hilfsmitteln zu den Krankenkassen, VSSR 1991,1, 15. 62 So W. Noftz, Leistungsrecht und Leistungserbringungsrecht nach Inkrafttreten des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, VSSR 1997, 393,424, der den verfassungsrechtlichen Bedenkenträgem vorhält, über die verfassungsrechtlichen Bezüge des Sozialstaatsprinzips und dringenden Bedürfnisse der Rechtspraxis und der Tatsachengerichte hinwegzugehen.

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Im folgenden soll zunächst auf die Entwicklung der Rechtsprechung eingegangen werden, in der sich schon seit einiger Zeit eine Tendenz zur Annahme normativer Wirkung beobachten ließ.63 Die von ihr in immer rascherer Folge entwickelten Deutungsansätze sind keineswegs nur von rechtshistorischem Interesse, sondern verweisen auf tatsächliche Probleme der Funktionsweise der Richtlinien hin. Mit der Entscheidung für ihren Rechtsnormcharakter sind keineswegs alle Probleme gelöst. Eher ist das Gegenteil der Fall: Die bislang durch die letztlich fruchtlose Debatte über den Rechtscharakter der Richtlinien verdeckten Probleme stellen sich nun in voller Schärfe - vor allem die Frage nach dem Verhältnis der Richtlinien zu den Leistungsansprüchen der Versicherten. 64 Insoweit hat die Ablehnung des Rechtsnormcharakters beruhigend gewirkt: Die Richtlinien stellten als Nichtnormen insoweit kein rechtliches Problem dar. Allerdings waren sie über andere Gestaltungsformen seit je doch normativ wirksam, so daß die Verneinung ihres (unmittelbaren) Rechtsnormcharakters in der Sache wenig hilfreich war.

1. Entwicklung der Rechtsprechung Die Rechtsprechung des BSG zu den Richtlinien des Bundesausschusses setzte erst zu Beginn der 1970er ein, 65 was insofern bemerkenswert ist, als die ersten Richtlinien bereits in den frühen 1960er Jahren ergangen sind. Die Mitte der 1970er Jahre entwickelte Dogmatik hatte Bestand, bis Ende der 1980er Jahre eine Fülle von neuen Deutungsversuchen einen Wandel signalisierten. Gewisserweise überholt wurden diese Bemühungen durch das GRG, das allerdings erst mit Zeitverzögerung seinen Niederschlag in der Rechtsprechung fand und schließlich zur Anerkennung des Rechtsnormcharakters der Richtlinien führte.

a) Verwaltungsvorschriften und Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung In der ersten Entscheidung des BSG zu den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen stand ganz allein Frage im Mittelpunkt, ob die Richtlinien auf die Leistungsansprüche der Versicherten Auswirkungen haben können. Der 3. Senat des BSG stellte fest, daß Richtlinien das gesetzliche Leistungsrecht 63 R. Schmidt, in: Peters, vor § 27 Rn. 185 ff., der dabei drei Phasen unterschied: eine erste Phase, in der eine unmittelbare („aus sich heraus" bestehende) Verbindlichkeit der Richtlinien abgelehnt wurde, eine ambivalente Phase und eine Phase der Neuorientierung, in der von „normkonkretisierenden Rechtsvorschriften" die Rede war. 64 Diese Frage stellte sich auch schon hinsichtlich der Mantel- und Gesamtverträge, hat dort aber bezeichnenderweise nie eine Rolle gespielt. 65 Mit BSGE 35,10,14. - BSGE 26,16,20f.; 29,254,255 gingen über Andeutungen nicht hinaus.

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nicht ändern könnten, weil ihnen keine normative Bedeutung zukäme, sie vielmehr allenfalls insofern Bedeutung erlangen könnten, als sich die Verwaltung durch sie selbst bindet.66 Ohne es näher zu begründen, ging der 3. Senat davon aus, daß die Richtlinien Verwaltungsvorschriften sind. Diese Deutung hatte den Vorzug, den Richtlinien normative Kraft absprechen zu können, wenn sie die Rechte der Versicherten begrenzen, jedoch wie verbindliches Recht behandeln zu können, wenn sie Leistungen ausweiten.67 Aus einem anderen Blickwinkel hat sich der Kassenarztsenat wenig später mit der Rechtsnatur der Richtlinien beschäftigt. Er hielt die Richtlinien nicht schon für „aus sich heraus" verbindlich; vielmehr bedürften sie zu ihrer Verbindlichkeit einer Geltungsanordnung, 68 Dies wurde aus § 368 p I I I RVO, der Vorgängerbestimmung zu § 81 m Nr. 3, §§ 210Π, 216 SGB V, abgeleitet. Der Sinn der dort an Kassenärztliche Vereinigungen und Verbände der Krankenkassen adressierten Pflicht, in ihren Satzungen zu bestimmen, daß die Richtlinien von ihren Mitgliedern beachtet werden sollen, ergebe sich aus ihrer Vorgeschichte: Der Reichsausschuß der Ärzte und Krankenkassen habe noch neben Richtlinien „Ausführungsbestimmungen" erlassen können, die unmittelbar normativ verbindlich waren. Die Entwürfe des GKAR hätten auf diese beiden Gestaltungsformen zurückgreifen und den Bundesausschuß als rechtsetzende Einrichtung zum Erlaß von „Bestimmungen" ermächtigen wollen. Dies sei jedoch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens aufgegeben und die Zuständigkeit des Bundesausschusses auf den Erlaß von „Richtlinien" beschränkt worden, die nach § 368 ρ ΠΙ RVO nicht mehr - wie ursprünglich vorgesehen - auf Grund von Satzungsbestimmung „verbindlich", sondern nur noch „beachtet werden sollen". Daran zeige sich, daß die Richtlinien nicht schon „aus sich heraus" autonomes Recht seien, sondern zu ihrer Verbindlichkeit eines rechtsetzenden Akts bedürften. 69 Weil sie nicht schon „aus sich heraus" Rechtsnormen seien, stellten sie allerdings auch für die Vertragsparteien nur „Empfehlungen" dar, die zu deren Disposition stünden, und denen es daher unbenommen sei, den Richtlinien eine über §368 ρ I I I RVO hinausgehende Verbindlichkeit beizulegen. Geschehe dies, so seien die Richtlinien zu beachten, soweit sie nicht ihrem Text nach einen geringeren Grad an Verbindlichkeit beanspruchten und sofern sie nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht verstießen.70 In dieser vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte des Gesetzes entfalteten Systematik hatte § 368 g I RVO (= § 7211 SGB V), der die Vertragsparteien an einen durch Gesetz und Richtlinien gezogenen Rahmen bindet, keinen richtigen 66

BSGE 35, 10, 14. P. Krause, VSSR 1990, 107, 119 meint überhaupt eine dahingehende Tendenz in der Rechtsprechung des BSG ausmachen zu können. 68 BSGE 38, 35, 37. 69 BSGE 38, 35, 38. 70 BSGE 38, 35, 38 f. 67

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Platz. Mehr noch wird aber der Blick auf Funktion und Eigenart der Richtlinien verstellt. Nur kurz am Ende der Entscheidung scheinen sie kurz auf, wenn betont wird, daß die Richtlinien schon ihrem Text nach Vorgaben mit unterschiedlichem Verbindlichkeitsgrad enthalten. Daß möglicherweise die Regelungsmaterien eine solche weiche Verbindlichkeit bedingen, wurde nicht erörtert. Daß sich das BSG nicht bemühte, die in ihrem Text zum Ausdruck kommende Eigenart der Richtlinien mit der Entstehungsgeschichte und dem Gesetzestext in Einklang zu bringen, sondern stattdessen (formal) die Geltungsanordnung in den Mittelpunkt stellte, mag auf den ersten Blick bestechend schlicht wirken. Das BSG hat damit aber eine sicher nicht beabsichtigte Kritik an der Zulässigkeit dieser Verweisungstechnik hervorgerufen. 72 Die Konstruktion einer erst über Geltungsanordnungen wirkenden Verbindlichkeit gegenüber Kassenärzten und Krankenkassen blieb lange Zeit herrschend. 73

b) Durchführungsbestimmungen, Erfahrungssätze, Normkonkretisierung Ende der 1980er Jahre trat eine Akzentverschiebung ein, als ein Krankenversicherungssenat die Richtlinien als Durchführungsbestimmungen bezeichnete, die die Grundsätze des Leistungs- und Leistungserbringungsrechts konkretisieren und verwirklichen, nicht aber verdrängen sollen.74 Dabei ging es allerdings nicht um die Normativität der Richtlinien, sondern um ihr Verhältnis zum Leistungsrecht - was sich deutlich daran zeigte, daß neben den Richtlinien auch die Verträge als Durchführungsbestimmungen bezeichnet wurden. Die Bezeichnung als Durchführungsbestimmung besagt für die Rechtsnatur der Richtlinien nichts, zeigt aber, daß die entscheidende Frage nicht die nach der Begründung ihrer Verbindlichkeit, sondern die nach ihren Grenzen ist. Das BSG sprach in diesem Zusammenhang dem Leistungsrecht einen Vorrang vor dem Leistungserbringungsrecht zu: Weil das Leistungserbringungsrecht die Erfüllung der Leistungsansprüche bezwecke, könne aus ihm eine Verkürzung der Ansprüche nicht hergeleitet werden. 75 Auch wenn Durchführungsbestimmungen mitunter den Anschein erweckten, die Rechte der Versicherten zu beschränken, so blieben sie doch dem Leistungsrecht untergeordnet: „Soweit sie den gesetzlichen Anspruchsrahmen nicht ausfüllen, kommt ihnen keine den Leistungsanspruch des Versicherten einschränkende Bedeutung zu." 76 71 Das BSG argumentierte auch insoweit historisch: Das GKAR habe den Vertrag zum entscheidenden Regelungsinstrument des Kassenarztrechts machen wollen (BSGE 38, 35, 37 f.). 72 Siehe nur H. Hill, Zur Verweisung auf Richtlinien im Kassenarztrecht, NJW 1982, 2104 ff. 73 Siehe nur BSGE 52,70,73. 74 BSGE 63, 102, 103. - Die „Durchführungsbestimmung" kommt der „Ausführungsbestimmung" doch sehr nahe, die die Richtlinien nach BSGE 38,35,37f. gerade nicht sein sollen. 75 BSGE 63,102,103. 76 BSGE 63, 102, 105.

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Diese noch auf den Versicherten bezogene Argumentation wurde wenig später in das Kassenarztrecht übertragen: Zwar könne in den Bundesmantelverträgen angeordnet werden, daß die „aus sich heraus" nicht verbindlichen Richtlinien vom Kassenarzt zu beachten sind. Doch könnten sie auch dann dem Kassenarzt gegenüber nicht in der Weise verbindlich sein, daß diesem der Einwand der Wirtschaftlichkeit seiner Behandlungs- oder Verordnungsweise verwehrt ist. Denn die Richtlinien konkretisierten als Bestimmungen zur Durchführung der kassenärztlichen Versorgung das gesetzliche Wirtschaftlichkeitsgebot, das nicht nur im Leistungserbringungsrecht gelte, sondern auch den Leistungsanspruch des Versicherten begrenze. Weil aber der Umfang der im Kassenarztrecht zu gewährenden Krankenbehandlung nicht anders sein könne als im Verhältnis des Versicherten zur Krankenkasse, könne auch nicht dem Arzt eine Behandlung oder Verordnung untersagt sein, auf die der Versicherte einen Anspruch habe.77 Weil die Parteien der Bundesmantelverträge nicht ermächtigt seien, Richtlinien in einer Weise für verbindlich zu erklären, die zu einer Einschränkung der Ansprüche der Versicherten führe, könne eine mantelvertraglich angeordnete Pflicht zur „Beachtung" der Richtlinien nicht ausschließen, daß der Arzt im Einzelfall eine andere Entscheidung treffe. Zudem seien in Richtlinien schon ihrer Eigenart nach keine strikten Gebote und Verbote zu erwarten. Denn ihre Verbindlichkeit beruhe darauf, daß sie Erfahrungssätze wiedergäben. Soweit der einer Richtlinienbestimmung zugrunde liegende Erfahrungssatz aber nicht dem Erkenntnisstand entspreche, könne diese auch keine Bindung entfalten. 78 Hier zeigt sich deutlich, daß mit dem Erfordernis einer Geltungsanordnung nichts gewonnen ist, wenn sie pauschal und strikt in den Bundesmantelverträgen enthalten ist. Nur folgerichtig rückte die Funktion der Richtlinien in den Mittelpunkt. Nicht zu genügen schien es dem BSG, die Richtlinien (wie auch die Verträge) als Durchführungsbestimmungen dem übergeordneten Zweck des Leistungsrecht zu unterwerfen. Das BSG wollte dem Bundesausschuß bei der Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots keinen Beurteilungsspielraum zubilligen,79 sondern den Gerichten durch die Charakterisierung der Richtlinien als Erfahrungssätze gekoppelt mit beweisrechtlichen Grundsätzen ein flexibles Intervenieren ermöglichen. Die Parallele zur Rechtsprechung des BVerwG zur Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften als antizipierte Sachverständigengutachten80 liegt auf der Hand, auch wenn sie vom BSG nicht ausdrücklich gezogen wurde. Trotz des Ausgangs bei einer Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung lag darin ein Ansatz zur Begründung einer eigenständigen rechtsnormähnlichen Wirkung. 77

BSGE 63, 163, 165 f. BSGE 63, 163, 166. 79 BSGE 63,163,166. - Den Prüfungsgremien ist dagegen von der Rechtsprechung gerade bei der Auslegung und Anwendung des Wirtschaftlichkeitsgebots schon immer ein Beurteilungsspielraum zugebilligt worden (BSGE 11, 102, 117f.; 55, 110, 114f.). 80 BVerwGE 55,250,256 im Anschluß an R. Breuer, Die rechtliche Bedeutung der Verwaltungsvorschriften nach §48 BImSchG, DVB1 1978, 28, 34ff. 78

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Einen Schritt weiter ging BSG wenig später: Die Bundesausschüsse seien durch die Richtlinienermächtigung des § 368 p I RVO (= § 921 SGB V) befugt, die Gesetzesbegriffe der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit näher zu konkretisieren. Bei den Richtlinien handle es sich insoweit um normkonkretisierende Rechtsvorschriften) 81 Offenbar wurde nunmehr eine aus der Konkretisierungsaufgabe folgende Befugnis zur Normsetzung angenommen. Diese wurde zugleich dahingehend eingeschränkt, daß mit ihr nicht „ganz generell", d. h. „oberhalb" der (unbestimmten) Gesetzesbegriffe der Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit bestimmt werden dürfe, was ein gesetzliches Krankenbehandlungsmittel sein solle.82 Denn das sei Aufgabe des Gesetzgebers. Zulässig sei aber die deklaratorische Beschreibung des Mittels und damit zugleich der Grenzen seiner Verordnungsfähigkeit. 83 Kurz darauf wurde es sogar für zulässig erachtet, daß in Richtlinien Ausnahmen von einer dem Gesetz nach fehlenden Verordnungsfähigkeit gemacht werden. 84 Die Ausdehnung, nicht aber die Einschränkung des Leistungsumfangs sollte also zulässig sein.85 In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang damit wurde vom Kassenarztsenat für die Richtlinien eine eigenwillige Konzeption von Anforderungen an untergesetzliche Normsetzung entwickelt - wobei ohne nähere Begründung die Richtlinien als Rechtsnormen behandelt wurden. Nach dieser Konzeption setzt die Ermächtigung zur untergesetzlichen Normsetzung voraus, daß der Gesetzgeber „wenigstens gewisse Grundstrukturen des Normgefüges" vorgegeben hat, „aus denen der Ermächtigungsrahmen derart konkret hervorgeht", daß „zwischen den normativen Vorgaben und dem vom »Sekundärnormgeber 4 (weiter) zu konkretisierenden Rahmeninhalt kein derart unbestimmtes Umsetzungsfeld verbleibt, daß der verfassungsrechtliche Zweck der Rechtssicherheit vereitelt würde". 86 Demnach besteht die Aufgabe jeden untergesetzlichen Normgebers in nichts anderem als „Normkonkretisierung". Zugleich wird der Gestaltungsspielraum untergesetzlicher Normgebung derart minimiert, daß sie ungefährlich erscheint. Der Kassenarztsenat hat sich hier eine rechtstheoretische Konzeption eines seiner Mitglieder zu eigen gemacht,

81

BSGE 66, 163, 164. BSGE 66,163,164; 67, 36,36f. - Maßgeblich zu dieser Umorientierung hat ein Aufsatz eines Mitglieds des Kassenarztsenats beigetragen (E. Baader, Zum normlogischen Zusammenhang von rechtlicher Regel und rechtlicher Ausnahme, JZ 1990,409ff. - zum Zusammenhang siehe R. Schmidt, in: Peters, vor § 27 Rn. 188, 192). 83 BSGE 66,163,164. - Dies gilt - ungeachtet der inzwischen den Richtlinien zugesprochenen Normwirkung-noch immer (BSGE 81, 240, 242). 84 BSGE 67, 36, 38. 85 Anders soll es nur sein, soweit „Ausnahmekonkretisierungen" ihrerseits Einschränkungen enthalten, etwa verlangen, daß ausnahmsweise verordnungsfähige Arzneimittel als solche nach dem AMG zugelassen sein müssen: Zu einer derartigen „generellen Eigenbestimmung" gebe es keine gesetzliche Ermächtigung; das Gesetz knüpfe im Krankenversicherungsrecht gerade nicht an den Arzneimittelbegriff des AMG an (BSGE 67,36,38 insoweit inzwischen überholt, vgl. BSG SozR 3-2500 § 31 Nr. 3). 86 BSGE 67, 256, 266. 82

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die sich aufgrund ihrer Rigidität noch heute zitiert findet, 87 aber selbst vom Kassenarztsenat längst nicht mehr verwandt wird und vor allem die erhoffte Wirkung auf das BVerfG 88 völlig verfehlt hat. Mehr 89 oder weniger 90 deutlich daran anknüpfend wurde in der Folge von einer normativen Wirkung der Richtlinien ausgegangen, ohne daß sie näher begründet worden wäre. Nachdem das GRG das Krankenversicherungsrecht der RVO durch das SGB V abgelöst hatte, unternahm der 4. Senat des BSG den Versuch einer grundlegenden (Neu-)Interpretation der rechtlichen Beziehungen im Recht der sozialen Krankenversicherung: Er erblickte in § 27 SGB V ein bloßes „Rahmenrecht", das nur die Rahmenbedingungen für die Entstehung konkreter Ansprüche enthält; um aus ihm konkrete Ansprüche herzuleiten, beschreite das Gesetz einen „im weitesten Sinne »verfahrensrechtlichen 4 Weg".91 Der Bundesausschuß habe in diesem Zusammenhang die Funktion, durch Richtlinien „abstrakt-generelle Maßstäbe" aufzustellen, fortzuschreiben und zu korrigieren, nach denen das im Einzelfall medizinisch Notwendige sowie dessen Wirtschaftlichkeit, Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit zu beurteilen ist. 92 Seine Richtlinien seien nicht bloß antizipierte Sachverständigengutachten; vielmehr handle es sich bei ihnen um ,3undesrecht", das für die Krankenversicherungsträger und die Kassenärzte verbindlich sei.93 Es sei zwar dem „Innenrechtsbereich" der am Leistungserbringungsrecht beteiligten Rechtssubjekte zuzuordnen, also „Verwaltungsbinnenrecht" und könne die parlamentsgesetzlich garantierten Rechte der Versicherten weder einschränken noch erweitern. Doch sei dieses Verwaltungsbinnenrecht „als Ausdruck des vom parlamentarischen Gesetzgeber zur näheren Bestimmung des Inhalts und der Formen kassenärztlicher Versorgung bestellten, außerdem mit besonderer Sachkunde versehenen Bundesausschusses im Streit um Leistungen zur Krankenbehandlung vor den Sozialgerichten/wr die Sachentscheidung grundsätzlich maßgeblich" 9* Wohl seien die Richtlinien für die Ge87

R. Wimmer, Rechtsstaatliche Defizite im vertragsärztlichen Berufsrecht, NJW 1995, 1577,1580 mit Fn.35 und 1583 mit Fn.69. 88 Vgl. E. Baader, Thesen zur praktischen Abgrenzung zwischen Parlamentsvorbehalt und untergesetzlicher Rechtsetzung, SGb 1992,241,244. 89 BSGE 69, 154,155 f. 90 BSGE 73,66,69f.; SozR 3-2500 § 106 Nr. 18. 91 Näher zu diesem Konzept oben § 114. 92 BSGE 73, 271,280. 93 BSGE 73, 271,287. 94 BSGE 73, 271, 287 f. - Hier klingt die Entscheidung desselben Senats zu den von den Spitzenverbänden der Krankenkassen nach § 53 III SGB V1989 erlassenen Schwerpflegebedürftigkeitsrichtlinien an, in der diese Richtlinien als zwar für die Gerichte rechtlich nicht bindend, aber (im Anschluß an P. Kirchhof \ Gleichheit in der Funktionenordnung, HStR V, § 125 Rn. 18) „als (verwaltungsinterne) Gesetzeskonkretisierung durch den ,Erstinterpreten des Rechtssatzes'" bezeichnet worden waren, die zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen für die Gerichte beachtlich sein sollen - allerdings nur „soweit sie mit dem Gesetz vereinbar und gemessen an allgemeinen Erfahrungssätzen und generellen Tatsachen - sachlich vertretbar sind" (BSGE 73, 146,150f.).

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richte „maßgeblich", doch seien diese an sie „rechtlich nicht gebunden". Die Gerichte hätten daher nicht nur zu überprüfen, ob die Richtlinien mit höherrangigem Recht vereinbar sind; Gegenstand gerichtlicher Kontrolle könne bei hinreichendem Anlaß auch sein, ob der Inhalt der Richtlinien sachlich vertretbar ist. 95 Diese „Maßgeblichkeit" beruhe darauf, daß die Gerichte nicht dazu berufen seien, in medizinisch-wissenschaftlichen Streitfragen ihre im Einzelfall mittels ausgewählter Sachverständigen gefundene Auffassung an die Stelle des Regelwerkes des besonders sachkundigen Bundesausschusses zu setzen, der heterogen zusammengesetzt und fähig sowie gesetzlich dazu bestellt sei, die gesamte Breite und Tiefe der ärztlichen Erfahrung sowie die allgemein anerkannten medizinischen Erkenntnisse und jeweils den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen.96 Ein Mitglied des 4. Senats des BSG hat zu dieser Rechtsprechung betont, die Richtlinien des Bundesausschusses könnten die Leistungsansprüche der Versicherten nicht einschränken; denn im Interesse der Rechte der Versicherten sei den Gerichten die Kontrolle der Richtlinien auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht anvertraut, was die Prüfung ihrer „sachlichen Vertretbarkeit" einschließe. Problematisch sei nämlich, daß die Versicherten selbst keine Möglichkeit hätten, zur Änderung der Richtlinien initiativ zu werden; an deren Stelle seien die Gerichte zur Kontrolle berufen. 97

c) Rechtsnormen Der Kassenarztsenat hat unlängst einen Schlußstrich unter die bisherige Rechtsprechung gezogen: Die bisherige Auffassung, nach der die Richtlinien, Verwaltungsvorschriften vergleichbar, wohl eine Selbstbindung der beteiligten Körperschaften erzeugten, Verbindlichkeit gegenüber Ärzten und Krankenkassen aber nur aufgrund entsprechender satzungsrechtlicher oder mantelvertraglicher Geltungsanordnungen erlangten, und auch die Auffassung, bei den Richtlinien handle es sich zwar um Verwaltungsbinnenrecht, das aber grundsätzlich als maßgeblich bei der Sachentscheidung zu beachten sei, könne unter der Geltung des SGB V nicht mehr 95 BSGE 73,271,288. - Die Gerichte hätten - neben der immer vorzunehmenden Kontrolle der Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht - nur „bei hinreichendem Anlaß" die Richtlinien darauf zu überprüfen, ob sie „schlechthin sachlich unvertretbar sind. Ist der Inhalt der Richtlinien, wenn auch nicht unumstritten, so doch sachlich vertretbar, so ist dieses „Regelwerk" für die gerichtliche Entscheidung maßgeblich. - Hier scheint die prinzipielle Ablehnung von Spielräumen der Verwaltung durch, die in BSGE 73,146 mit der Privatschulentscheidung des BVerfG (BVerfGE 88,40,58 ff.) begründet worden war. Es zeigt sich freilich auch in BSGE 73, 271, wie prägend die dortigen Ausführungen des BVerfG zum Beurteilungsspielraum waren, obschon es hier um die Schaffung eines „Regelwerks" und nicht um eine Einzelfallentscheidung ging. 96 BSGE 73, 271,288. 97 RiBSG Meyer nach H. J. Kretschmer, NZS 1995, 260, 261.

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aufrechterhalten werden. 98 Das Gesetz inkorporiere nämlich die Richtlinien unmittelbar in Bundesmantelvertrag und Gesamtverträge (§ 92 V I I SGB V1989 = § 92 V I I I SGB V1997). Die vertraglichen Regelungen seien aber auch für den einzelnen Vertragsarzt verbindlich (§ 95 III 2 SGB V). Durch die Einbeziehung der Richtlinien in das Vertragsrecht käme ihnen die gleiche rechtliche Wirkung wie den Bundesmantel- und Gesamtverträgen zu. Wie diese begründeten die Richtlinien unmittelbar - „aus sich heraus" - Rechte und Pflichten der Vertragsunterworfenen, setzten mithin außenwirksames Recht. Für das Recht des SGBV sei daher die Rechtsnormqualität der Richtlinien zu bejahen.99 Auch in einem weiteren Punkt setzte sich das BSG nunmehr entscheidend von der bisherigen Rechtsprechung ab: Die Richtlinien stellten nicht nur im Verhältnis zu den Vertragsärzten und Krankenkassen autonomes Recht dar, sondern könnten auch Regelungen über die Leistungsansprüche der Versicherten treffen. In den Fällen, in denen das SGB V dies - wie etwa bei den Früherkennungsmaßnahmen (§§25IV 2, 26 I I SGB V) - ausdrücklich bestimme, sei dies nicht zweifelhaft. Aber auch ohne eine solche ausdrückliche Bestimmung könne ihnen Rechtswirkung gegenüber den Versicherten zukommen. Dies folge unmittelbar aus § 9211 SGB V, wonach die Richtlinien der Koordination der Verpflichtung der Vertragsärzte zu einer wirtschaftlichen Behandlungs- und Verordnungsweise mit den Ansprüchen der Versicherten dienten. Denn § 9211 SGB V und die leistungsrechtliche Vorschrift des § 121 SGB V stünden „in einem unmittelbaren sachlogischen Zusammenhang".100 In den Richtlinien sei das leistungsrechtliche Wirtschaftlichkeitsgebot umzusetzen und damit zugleich der Umfang der Leistungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Versicherten zu präzisieren. 101 Der Umfang der Krankenversorgung könne im Verhältnis zu den Versicherten kein anderer sein als gegenüber den Vertragsärzten. Eine ausdrückliche Verbindlicherklärung gegenüber den Versicherten sei „rechtstechnisch nicht erforderlich", weil diese - anders als Vertragsärzte und Krankenkassen - nicht aktiv in die Leistungserbringung einbezogen sind, sondern nur passiv die Leistungen entgegennehmen.102 Dies korrespondiert mit der in dieser Entscheidung übernommenen anstaltlichen Deutung der Bundesausschusses:103 Die Versicherte sind nur passive Empfänger einer Versorgungsapparatur und haben deren Leistungen so hinzunehmen, wie diese bereitgestellt werden. 98 BSGE 78, 70, 74f. - Eine Vorlage an den Großen Senat wurde für entbehrlich gehalten, weil die früheren Entscheidungen anderer Senate entweder zum Recht der RVO ergangen sind oder zu keinem anderen Ergebnis geführt hätten (aaO 77). 99 BSGE 78, 70, 75 im Anschluß an I. Ebsen, VSSR 1990, 57, 67f.; ders., HS-KV, § 7 Rn. 158; H.-J. Papier, VSSR 1990, 123, 128; H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S.48ff. 100 BSGE 78, 70,76f. in Anlehnung an B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, 1992, S. 80. 101 BSGE 78, 70, 77. 102 BSGE 78, 70, 77. 103 BSGE 78, 70, 80ff.

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Der 1. Senat hat sich inzwischen dem Kassenarztsenat angeschlossen und spricht wie dieser den Richtlinien wegen ihrer durch § 92 V I I SGB V1989 (= § 92 V i l i 1997) erfolgten Eingliederung in das Vertragsrecht normative Wirkung zu. Die frühere Auffassung, die Richtlinien der Bundesausschüsse seien verwaltungsinterne Durchführungsbestimmungen ohne Außenwirkung wurde ausdrücklich aufgegeben. Der Rechtscharakter der Richtlinien habe sich mit Inkrafttreten des SGB V gewandelt. Nach dem Recht des SGB V seien sie nicht mehr bloße dem Innenrechtsbereich zuzuordnende Verwaltungsvorschriften, die lediglich nach Maßgabe der jeweiligen Satzung von Krankenkassen und Vertragsärzten beachtet werden sollen. Vielmehr seien sie nunmehr in die Bundesmantelverträge eingegliedert (§ 97 V I I I SGB V 1997) und nähmen an deren normativer Wirkung teil. Daher setzten sie für die vertragsunterworfenen Krankenkassen und Vertragsärzte unmittelbar verbindliches, außenwirksames Recht.104 Die Richtlinien seien Teil eines „umfassenden Gefüges untergesetzlicher Normen", das der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung diene. Ihren Grund habe dieses Gefüge einerseits im Naturalleistungsprinzip und andererseits in der Leistungserbringung durch selbständige Dritte; beides erfordere den Abschluß entsprechender Verträge. Das System kollektivvertraglicher Beziehungen zwischen Krankenkassen und Verbänden der Vertragsärzte setze die Zuweisung von Normsetzungsbefugnissen an die Vertragsparteien voraus, weil es seine Funktion nur erfüllen kann, wenn auch die durch die Vertragsparteien repräsentierten Vertragsärzte und Versicherten an sie gebunden seien.105 Die Richtlinien werden in diesem in erster Linie auf Kollektivverträgen beruhenden Gefüge als von gemeinsamen Gremien beschlossene „ergänzende Regelungen" bezeichnet,106 und der Sinn der Delegation von Regelungsbefugnissen an diese gemeinsame Gremien wird vor allem darin gesehen, Regelungen zu schaffen, die aus Sachgründen für den gesamten Bereich der vertragsärztlichen Versorgung und für alle Kassenarten einheitlich getroffen werden müssen.107 Zwar kommen beide Senate108 zu den gleichen Ergebnissen - auch nach Ansicht des 1. Senat regeln die Richtlinien als untergesetzliche Rechtsnormen Umfang und Modalitäten der vertragsärztlichen Versorgung mit verbindlicher Wirkung sowohl für die Vertragsärzte und Krankenkassen als auch für die Versicherten 109 - , in der Begründung bleiben aber deutliche Unterschiede: Im Gegensatz zum Kassenarztsenat, der zur Rechtfertigung des Rechtsnormcharakters der Richtlinien auf den Autonam/egedanken zurückgreift, sieht der 1. Senat dessen Grund im System kollektivvertraglicher Beziehungen, also in der spezifischen Ausprägung der Kooperation 104

BSGE 81, 54, 63; 81, 73, 80f. BSGE 81,54, 63f.;81,73, 83. 106 BSGE 81, 54, 64. 107 BSGE 81, 73, 84. 108 Ihnen hat sich inzwischen der 3. Senat angeschlossen (BSGE 81, 182, 188 f.). Dagegen zeigt sich der 8. Senat noch reserviert (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 25). 109 So nochmals jüngst BSGE 81, 240, 242. 105

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von Ärzten und Krankenkassen im Vertragsarztrecht wurzeln. Der Kassenarztsenat hat zwar jüngst seinen Ansatz ergänzt um einen Vergleich mit der vertraglichen Normsetzung. 110 Doch bleibt zwischen Autonomie und Kooperation eine Spannung, die sich durch einen bloße Vergleichsbetrachtung nicht auflösen läßt.

2. Beitrag der Literatur Die Literatur beschränkte sich über die meiste Zeit damit, die Deutungsansätze der Rechtsprechung nachzuvollziehen. Sicherlich wurde eine Vielzahl von verfassungsrechtlichen Einwänden formuliert und wurden auch immer wieder die Konstruktionen des BSG auf ihre Übereinstimmung mit den Dogmen des Verwaltungsrechts überprüft, und doch war immer die Rechtsprechung ein Datum, an dem man sich zumindest in sozialrechtlicher Hinsicht orientierte. Wenn die Literatur heute ein buntes Bild abgibt, so eher weil sie den jeweiligen Stand der Rechtsprechung konserviert, als weil sie eigene Konzepte entwickelt hat. Angesichts dessen von einem Beitrag der Literatur zu sprechen, scheint übertrieben. Nur an zwei legislatorisch herausgehobenen Punkten gab es eigenständige, nicht auf die Rechtsprechung reagierende Bemühungen um die Natur der Richtlinien: in der exegetischen Phase des GKAR und in der des GRG. Im folgenden soll auf diese Bemühungen ebenso wie auf die dazwischen liegende lange Phase der Rezeption eingegangen werden. a) Exegese des GKAR Die Entstehungsgeschichte des GKAR war ein wichtiger Baustein in der Argumentation des BSG. In der exegetischen Phase des GKAR besaß sie naturgemäß einen besonderen Stellenwert. Freilich ergibt sich aus den Materialien nicht eindeutig die vom BSG favorisierte Sicht. Das GKAR war ein zwischen Bundestag und Bundesrat besonders umstrittenes Gesetz; erst im zweiten Anlauf kam es zustande. Im Mittelpunkt der Kontroverse standen die Struktur der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und die Funktion des Schiedsämter. Die Richtlinien waren demgegenüber nur ein Randthema. Die Entwürfe des GKAR sahen vor, daß die Bundesausschüsse Bestimmungen und Richtlinien erlassen können sollten. Erstere sollten als „autonomes Recht der gemeinsamen Selbstverwaltung" für deren gesamten Bereich rechtsverbindlich sein, letztere sich dagegen nur an die Parteien der Gesamt- und Mantelverträge wenden und nur nach einer Transformation durch diese wirken. 111 Dieses Konzept wurde durch die erst zum Schluß der parlamentarischen Beratungen erfolgte Umbenennung der Bestimmungen in Richtlinien verändert, ohne daß die Tragweite der Veränderung dem Gesetz deutlich zu entnehmen wäre. Der Schriftliche 110 111

BSG, NZS 1999, 50, 53. Vgl. BT-Drs. 1/3904, S. 23.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

Bericht des federführenden Bundestagsausschusses führte zur Umbenennung lapidar aus: Der Bundesausschuß solle im Anschluß an eine Anregung des Rechtsausschusses aus „Rechtsgründen" nur noch zum Erlaß von Richtlinien und nicht mehr von Bestimmungen ermächtigt werden; nach der Abänderung der Ermächtigung auf den Erlaß von Richtlinien könne aber auch nicht mehr eine „verbindliche" Wirkung solcher Richtlinien vorgesehen werden. 112 Dies stieß in der Literatur auf Kritik: Durch die Abschwächung der Bestimmungen, die für die Versicherten und die Kassenärzte „verbindlich" sein sollten, zu (Wirtschaftlichkeits-)Richtlinien, die nur noch „beachtet werden sollen", sei nicht nur ihre rechtliche Bedeutung zweifelhaft, sondern auch ihr Verhältnis zu den (Vertrags-)Richtlinien verwässert worden. 113 Der vom Gesetzesentwurf vorsichtshalber als zusätzliche Grundlage für die Verbindlichkeit gewählte (Um-)Weg, daß die Satzungen der Verbände der Ärzte und Krankenkassen diese vorsehen sollten, sei zwar überflüssig gewesen, habe aber deutlich gezeigt, daß es sich bei den Bestimmungen um autonomes Recht handeln sollte. Daneben hätten die unverbindlichen (Vertrags-)Richtlinien gestanden. Dem Entwurf habe ein klares Konzept zugrunde gelegen: Einerseits habe der Bundesausschuß als „rechtsetzende Einrichtung der gemeinsamen Selbstverwaltung" autonomes Recht schaffen und andererseits mit den (Vertrags-)Richtlinien in der Funktion einer Arbeitsgemeinschaft Empfehlungen an die Vertragsparteien geben können sollen. Dieses klare Konzept sei durch das Gesetz verwischt worden, das auch in § 368 p I RVO von Richtlinien spreche, die zudem nach § 368 ρ I I I RVO nicht mehr durch Satzung für verbindlich zu erklären seien, sondern nur noch „beachtet werden sollen". Auf der Suche nach sachlichen Gründen für diese Abschwächung wurde zweierlei hervorgehoben: Zum einen erlaube es das Wirtschaftlichkeitsgebot, um deren Umsetzung es den (Wirtschaftlichkeits-)Richtlinien gehe, kaum, Vorschriften zu erlassen, die zwingend im jedem Einzelfall anzuwenden seien. Den Ausführungsvorschriften des Bundesausschusses sei daher der ihnen ursprünglich zugedachte zwingende Charakter genommen und nur der Charakter von Soll- oder Regelvorschriften belassen worden. Zum andern könnten die Richtlinien auf die Verträge keine zwingende Wirkung mehr haben, sondern nur noch eine dispositive. Das Schwergewicht der Regelung der kassenärztlichen Versorgung habe sich damit vom Bundesausschuß auf die vertragliche Regelung verlagert. 114 112 BT-Drs. 2/1313, S. 10. - Nach den bei H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, S. 21 f. berichteten Ausschußdrucksachen hielt es der Rechtsausschuß des Bundesrates für verfassungsrechtlich unzulässig, den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen, der weder selbst als Körperschaft noch als Organ einer Körperschaft angesehen werden könne, zum Erlaß von Bestimmungen zu ermächtigen, die Wirkungen gegenüber Dritten haben können. Gegen die Ermächtigung zum Richtlinienerlaß soll er demgegenüber nichts einzuwenden gehabt haben, weil man sich über deren Unverbindlichkeit im klaren gewesen sei. 113 A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, 1955, § 368 ρ Anm. I. 114 A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, § 368 p Anm. III 1.

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Auffallend an dieser Deutung115 ist, daß - anders als später beim BSG - die Geltungsanordnung einen ganz anderen Stellenwert hatte: Sie war nicht das Scharnier, das den Richtlinien erst normative Wirkung verschaffte; sie war im Grunde überflüssig. § 368 p ΠΙ RVO wies nur auf Wirkungen hin, die die Richtlinien „aus sich heraus" bereits hatten. Dies hatte für sich, daß das Gesetz entsprechende Bestimmungen auch für die Verträge enthielt (§§ 368 m II, 414b I I RVO), ohne daß deshalb an deren unmittelbarer Normwirkung gezweifelt worden wäre. Im Zentrum stand dagegen die Frage nach dem Grad der Verbindlichkeit. Daß dieser auch gegenüber den Parteien der Mantel- und Gesamtverträge abgeschwächt wurde, daran konnte angesichts der Entstehungsgeschichte nicht gezweifelt werden.

b) Rezeption und Kritik der Rechtsprechung Die Literatur folgte dem BSG darin, daß die Richtlinien nicht „aus sich heraus" verbindlich sind, sondern nur durch Geltungsanordnungen Rechtsverbindlichkeit erlangen können.116 Insoweit wurden sie auch als unselbständige Normbestandteile bezeichnet, die erst in Verbindung mit einem satzungsrechtlichen Verbindlichkeitsbefehl zu einer vollständigen (Satzungs-)Norm würden. 117 Allerdings gab es auch Gegenstimmen, die für eine unmittelbare Qualifikation als autonomes Satzungsrecht plädierten. 118 Der Weg über Geltungsanordnungen provozierte den verfassungsrechtlichen Einwand unzulässiger dynamischer Verweisung. 119 Dies macht auf Ungereimtheiten in 115 Nach ihr sind die (Wirtschaftlichkeits-)Richtlinien „nachgiebige Regelvorschriften" zur Ausführung des Wirtschaftlichkeitsgebots, die „die Rechte der Versicherten und sonstigen Anspruchsberechtigten (gegenüber der Krankenkasse) und die Pflichten des Kassenarztes (gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung) des näheren abgrenzen sollen" (A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, § 368 p Anm. III 2). 116 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.632ff.; B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGBV, S. 122; D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, 1988, S.25f.; A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, 1989, S.23; B. Schulin/W. Düe, Zur Einführung: Kassenarztrecht, JuS 1984, 920, 924; H. Hill y NJW 1982, 2104, 2105; E . Benningen Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", 1981, S. 32ff. - Diese Ansicht war auch schon vor BSGE 38, 35 verbreitet - siehe nur G. Kiichenhoff\ Arzneimittelrichtlinien für die kassenärztliche Versorgung, SGb 1974,265,268 ff. mwN. 117 E. Denninger, Arzneimittel-Richtlinien und „Verschreibungsfähigkeit", S.36. 118 M. Andreas, Die Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 1975, S.76ff., insb. 83 ff. 119 H. Hill, NJW 1982, 2104ff.; A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, S. 79ff. - Dagegen hält D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, S.94ff. die dynamische Verweisung für verfassungsmäßig. - Und jüngst hat F. Schnapp, Aktuelle Rechtsquellenprobleme im Vertragsarztrecht, SGb 1999, 62, 64f.; ders., Die Richtlinien im Kassenarztrecht (§92 SGBV) auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, in: Festschrift für O.-E. Krasney, 1997, S.437,442ff. für die Ver-

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

der Konzeption des BSG aufmerksam: Das Gesetz verlangte von den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen, in ihre Satzungen Bestimmungen aufzunehmen, nach denen die Richtlinien beachtet werden sollen (§ 368 p ΠΙ RVO). Die Satzungen und die Mantelverträge enthielten in Anlehnung an den Gesetzestext die lapidare Aussage, daß die Richtlinien beachtet werden sollen bzw. zu beachten sind. Darin wurde sogar eine doppelte Verweisung gesehen: Der Gesetzgeber ordne nicht an, welche Bestimmungen die Satzung konkret zu enthalten habe, formuliere also keine Regelungsaufträge, sondern verweise pauschal auf die jeweiligen Richtlinien des Bundesausschusses, und die Satzungen verwiesen in Umsetzung dieser Pflicht ebenso pauschal auf die jeweiligen Richtlinien. 120 Auch wenn sich so mehrfache Verweisungszusammenhänge konstruieren lassen, stellt sich doch die Frage, inwiefern es dem Gesetz hier wirklich um eine Verweisung geht. Ganz abgesehen davon, daß Verweisungen auch als verdeckte Ermächtigungen zumNormerlaß begriffen werden können,121 läßt der Gesetzestext auch eine ganz andere Deutung zu: Statt als Pflicht zur konstitutiven Geltungsverschaffung hätte in § 368 p ΠΙ RVO auch eine Pflicht zum deklaratorischen Hinweis gesehen werden können. Der Gesetzestext ließ dies zu. Nur wenn unterstellt wird, daß die Richtlinien „aus sich heraus" nicht wirksam sind, kann der Sinn des § 368 ρ ΙΠ RVO allein in der konstitutiven Geltungsverschaffung liegen. Als Hinweis auf den und Beschreibung des Grads der bereits „aus sich heraus" bestehenden Verbindlichkeit ist dies früh verstanden worden. 122 Dies läßt sich sogar besser mit der Entstehungsgeschichte des Gesetzes vereinbaren, in der auch für die (Ausführungs-) Bestimmungen des Bundesausschusses, die unstreitig unmittelbar verbindlich sein sollten, in § 368 ρ ΙΠ RVO eine entsprechende Regelung - nur mit höherem Verbindlichkeitsgrad - vorgesehen war. Dies stimmt ferner mit parallelen Bestimmungen für die Mantelverträge überein, die ebenfalls vorschrieben, deren Verbindlichkeit in den Satzungen festzuhalten (§§ 368m Π, 414b Π RVO), ohne daß darin je ein Indiz gegen ihre unmittelbare, „aus sich heraus" bestehende Verbindlichkeit gesehen worden wäre. Obschon die Interpretation der auf § 368 ρ ΠΙ RVO hin ergangenen Satzungsbestimmungen als Geltungsanordnung alles andere als selbstverständlich ist, so hält sie sich samt des verfassungsrechtlichen Einwands der (unzulässigen) dynamischen Verweisung hartnäckig. Dieser Einwand richtet sich freilich heute mehr gegen § 92 V n SGB V 1989 (= § 92 V i n SGB V 1997) selbst.123 Aus sozialrechtlicher Sicht war mit dem Weg über Geltungsanordnungen wenig gewonnen. Dadurch konnte zwar dem Gesetz eine Systematik unterlegt werden, die den Vertragsparteien einen deutlichen Gestaltungsspielraum gab. Diese nutzten ihn Weisungstechnik als verfassungsrechtlich gangbaren und dogmatisch vorzugswürdigen Weg plädiert. 120 H. Hill, NJW 1982, 2104, 2107. 121 M. Sachs, Die dynamische Verweisung als Ermächtigungsnorm, NJW 1981,1651 f. - Dahingehend wohl auch BSG, NZS 1995, 502,511 f. 122 Α. H essi R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, § 368 p Anm. III 1. 123 So etwa B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 146 f.

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aber nur dazu, die Verbindlichkeit der Richtlinien über das ihnen vom Gesetz zugesprochene Maß hinaus auszudehnen. An diesem Punkt setzte der von der Rechtsprechung entwickelte Vorbehalt an, Leistungserbringungsrecht dürfe Leistungsrecht nicht einschränken. 124 Als Vorrang des Leistungsrechts hat dieser Vorbehalt insbesondere bei den Außenseitermethoden eine Rolle gespielt.125 Freilich war er angesichts der verklammernden Wirkung des Wirtschaftlichkeitsgebots wenig hilfreich. Darauf reagierten Bemühungen, aus der Eigenart der Richtlinien auch bei Verbindlicherklärung zu einem geringeren Verbindlichkeitsgrad zu gelangen: So wurde etwa betont, die Richtlinien könnten schon ihrer Natur nach nur eine Richtschnur für typische Fälle darstellen. 126 Dies zeigt letztlich, daß das Konzept einer Verbindlichkeit über Geltungsanordnungen zur Lösung der eigentlichen Probleme nichts beitrug. Wie in einem Zirkel landete man schließlich bei der Frage, welche Wirkungen Richtlinien „aus sich heraus" den Ärzten gegenüber haben können, obschon sie ihnen gegenüber im Ansatz überhaupt keine Wirkungen entfalten können sollen. Auch die Deutung der Richtlinien als Verwaltungsvorschriften, die sich bereits in der ersten Entscheidung des BSG zu diesen finden läßt, paßt sich nicht so nahtlos in das Konzept der Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung ein. Hier ist in der Literatur herausgearbeitet worden, daß jedenfalls im Verhältnis zu den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen eine unmittelbare Verbindlichkeit bestehen muß. 127 Und in der Tat: auch wenn behauptet wurde, den Richtlinien käme „aus sich heraus" keinerlei Verbindlichkeit zu, so war doch klar, daß sie jedenfalls gegenüber den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen Rechtswirkungen haben mußten. Sie waren keineswegs bloße Empfehlungen, denen diese folgen konnten oder auch nicht; sie sollten vielmehr von diesen beachtet werden (§ 368 p ΠΙ RVO). Zumindest die Annahme bloßen Binnenrechts, von Verwaltungsvorschriften, lag somit nahe.128 Damit kam allerdings - nach heutigem Verständnis129 - den Richtlinien sehr wohl „aus sich heraus" Rechtsverbindlichkeit zu. Freilich läßt sich dies mit dem Konzept der Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung insoweit vereinbaren, als es diesem immer um die Verbindlichkeit gegenüber den Kassenärzten oder den Versicherten und somit im Außenverhältnis ging. 124

So schon BSGE 35,10,14. Siehe nur M. Estelmann/W. Eicher, Die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen vor dem Hintergrund der Pluralität ärztlicher Therapien, SGb 1991, 247, 256. 126 K.~J. Bieback/J. Schaller, Kassenarztrichtlinien und nicht-ärztliche Heilbehandler, 1989, S.20f. 127 D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, S.27ff.; A. Hiller, Verbindlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Richtlinien für Ärzte und Krankenkassen, S.25ff. 128 So denn auch D. Bredehorn, Die Rechtsnatur der Richtlinien im Kassenarztrecht, S. 85 ff. 129 Die Gleichung „Verwaltungsvorschriften = Nicht-Recht" gilt heute als überwunden (F. Ossenbühl, Arten der Rechtsquellen, in: Erichsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 10. Aufl. 1995, §6 Rn. 41). 125

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Bemühungen, den Richtlinien als Binnenrecht über die Verbände der Ärzte und Krankenkassen, mithin über den Binnenbereich hinaus Verbindlichkeit zuzusprechen, gab es in der Literatur nicht, obschon im Verwaltungsrecht das Wyhl-Urteil des BVerwG 130 eine lebhafte Debatte angestoßen hatte. Erst das BSG hat - vorbereitet durch Arbeiten eines seiner Mitglieder 131 - sich in diese Richtung bewegt. Allerdings geschah dies zeitgleich mit der Verabschiedung des GRG. Das BSG entwikkelte zwar auch noch nach Inkrafttreten des SGB V zum Recht der RVO diese neue Deutung der Richtlinien als grundsätzlich auch im Außenverhältnis maßgeblichen Verwaltungsbinnenrechts fort. Dies wurde durchaus in der Literatur - wenn auch nicht durchweg - rezipiert. 132 Angesichts der in kurzer Folge ergangenen Judikate mit ihren unterschiedlichen Akzentsetzungen ist es nicht verwunderlich, daß sich in der Literatur diese Vielfalt widerspiegelt, und auch nicht, daß sie in das von der älteren Rechtsprechung entwickelte Modell eingepaßt wurde. 133 Für letzteres sprach immerhin, daß das BSG seine ältere Rechtsprechung nicht aufgegeben hatte, obschon, wie in der Literatur sehr wohl bemerkt wurde, die Annahme einer auch nur im Binnenbereich bestehenden Verbindlichkeit nicht mit dem Satz vereinbar ist, die Richtlinien seien „aus sich heraus" unverbindlich. 134

c) Exegese des GRG Nach Inkrafttreten des SGB V hat bald die Ansicht Verbreitung gefunden, die Richtlinien seien nunmehr im Hinblick auf § 92 V I I SGB V 1989 (= § 92 V I I I SGB V 1997) als Vertragsrecht und damit als Rechtsnormen zu qualifizieren. 135 Wohl läßt sich in den Gesetzesmaterialien eine Begründung für diese Vorschrift nicht finden. 136 Doch vor dem Hintergrund der älteren Rechtsprechung des BSG lag es nahe, darin den Beleg dafür zu sehen, daß die Richtlinien nunmehr „aus sich heraus" verbindlich sein sollen. Neben § 92 V I I SGB V1989, der die Richtlinien zu Be130

BVerwGE 72, 300. E . Baader, JZ 1990,409ff., insb. 411 f. 132 Siehe nur U. Hencke, in: Peters, § 92 SGB V Rn 34; R. Schmidt, in: Peters, vor § 27 SGB V Rn. 211 ff., 225 f., 231 ff.; H. D. Schirmen Hauck/Haines, SGB V, § 92 Rn. 3. 133 So etwa G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.632ff. 134 M. Estelmann,, Die Einbindung unkonventioneller Behandlungsmethoden in das System der gesetzlichen Krankenversicherung, SGb 1991,515, 527. 135 /. Ebsen, VSSR 1990, 57, 67ff.; ders., HS-KV, § 7 Rn. 157ff.; M. Heime, Die Vertragsstrukturen des SGBV, SGb 1990, 173, 174; ders., VSSR 1991, 1, 15; W. Funk, HS-KV, § 32 Rn. 12f.; H. Tempel-Kromminga, Die Problematik der Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen, 1994, S.48ff.-Dahingehend wohl auch W. Gitter, SGb 1991,205, 206f.;H.-J. Papier, VSSR 1990,123,128\P. Krause, VSSR 1990,107,120mitFn.9;F.v.Zezschwitz, Verfassungswidrige Richtlinienkompetenz der Bundesausschüsse für Ärzte und Zahnärzte nach dem SGB V, in: Freundesgabe für A. Söllner, 1990, S. 645, 651 ff.; - Schwankend K.-J. BiebackU. Schaller, Kassenarztrichtlinien und nicht-ärztliche Heilbehandler, S.25f. 136 Siehe BT-Drs. 11/2237, S. 194 zu § 100 des Entwurfs. 131

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standteilen der Bundesmantelverträge erklärt, verlangen nunmehr § 81 I I I Nr. 2 und § 210 I I SGB V den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen ab, in ihre Satzungen Bestimmungen aufzunehmen, wonach die Richtlinien verbindlich sind. Das GRG hatte diamit den Grad der satzungsrechtlich festzuhaltenden Verbindlichkeit erhöht und die Richtlinien selbst in den Rang von (Mantel-) Vertragsrecht erhoben. Es sind zwar Versuche anzutreffen, dies in das von der älteren Rechtsprechung vertretene Konzept der Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung einzupassen,137 doch leiden sie daran, daß § 92 V I I SGB V 1989 auch ohne Umsetzung durch die Parteien der Bundesmantelverträge den Richtlinien den Status von Mantelvertragsrecht verleihen will, also selbst die Geltungsanordnung enthält. Obschon das BSG gerade daran war, ein Konzept normkonkretisierender Wirkung von Richtlinien zu entwickeln und damit auch Widerhall in der Literatur fand, so erscheint es doch eher als zwangsläufig, daß die Rechtsprechung sich schließlich der mit dem Text des SGB V begründeten neuen Deutung anschloß. Denn mit der Anerkennung einer - wenn auch zunächst auf den Binnenbereich der Verwaltung beschränkten - Normwirkung ließ sich angesichts § 92 V I I SGB V 1989 die Verbindlichkeit im Außenverhältnis auf Dauer nicht vermeiden. Zwar war es denkbar, die Vertragsärzte, für die die Richtlinien als Vertragsrecht nach § 95 I I I 2 SGB V nunmehr unmittelbar verbindlich waren, dem Binnenbereich zuzuschlagen,138 doch ist der Binnenbereich damit angesichts der Verflochtenheit von Leistungs- und Leistungserbringungsrecht bereits verlassen. Erscheint es daher nur folgerichtig, daß das BSG sich letztlich für einen radikalen Bruch mit seiner bisherigen Rechtsprechung entschieden hat, so ist damit die Debatte in der Literatur keineswegs zu einem Ende gelangt. Sie hat sich allerdings mehr in das Verfassungsrecht verlagert und stellt die Normsetzung durch den Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen überhaupt in Frage. Dieser verfassungsrechtlichen Debatte wird später noch nachzugehen sein.139

3. Richtlinien als kooperatives Recht Am Rechtsnormcharakter der Richtlinien kann unter Geltung des SGB V kein Zweifel mehr sein. Daß die Richtlinien „aus sich heraus" keine Verbindlichkeit besitzen, läßt sich mit § 92 VIII SGB V1997 nicht vereinbaren. Sind danach die Richtlinien Bestandteil der Bundesmantelverträge, 140 so bedeutet dies jedenfalls, daß sie - obschon nicht vereinbart - als Vertragsrecht zu betrachten sind. Soweit das SGB V über die Wirkung der Bundesmantelverträge Aussagen enthält, gelten diese auch für die Richtlinien. Sie sind daher als Vertragsrecht, das sie formal gesehen 137 138 139 140

Etwa B. Frieß, Die Steuerungsinstrumente der Selbstverwaltung im SGB V, S. 122ff. So denn auch BSGE 73, 271, 287. S.u. §8. Dies ist, wie § 8212 SGB V zeigt, keine ungewöhnliche Regelungstechnik.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

nach § 92 VIII SGB V sind, für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen (§ 95 III 2, IV 2 SGB V) sowie die Krankenkassen (§§8212,8311 SGB V) verbindlich. Daß die Satzungen der Verbände der Ärzte und Krankenkassen ferner Bestimmungen darüber enthalten müssen, nach denen die Richtlinien für die Vertragsärzte und Krankenkassen verbindlich sind (§ 81 ΠΙ Nr. 2, § 210 Π SGB V), widerspricht dem nicht. Darin ist keine Pflicht zur (konstitutiven) Geltungsverschaffung zu sehen, sondern zum (deklaratorischen) Hinweis auf eine bereits kraft Gesetzes bestehende Verbindlichkeit. Dies lag ohnehin schon für die Vorgängervorschrift nahe141 und ist im übrigen auch nicht sinnlos.142 Rechtskonstruktiv läßt sich dem Gesetz nunmehr deutlich entnehmen, daß die Richtlinien selbst die Rechte und Pflichten der Vertragsärzte und der Krankenkassen gestalten sollen. Sie überspringen damit, jedenfalls was die Vertragsärzte anbelangt, den Binnenbereich der Verwaltung. Auch ihrer gesetzlich intendierten Funktion nach sind die Richtlinien Rechtsnormen. Die Richtlinien dienen der Regulierung der ärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise und damit des Kerns des ambulanten medizinischen Versorgungsgeschehens in der sozialen Krankenversicherung. 143 Im Verhältnis zu den Verträgen liegt bei ihnen sogar der Schwerpunkt der Ausgestaltung des eigentlichen Leistungsgeschehens.144 Sollen die Richtlinien diese ihnen vom Gesetz zugeschriebene Aufgabe effektiv erfüllen, so müssen sie auf eine Vielzahl rechtlicher Beziehungen einwirken können. Die in ihrer Funktionslogik liegende Breitenwirkung läßt sich angemessen nur erklären, wenn man ihren Rechtsnormcharakter anerkennt. Gerade gegen die Anerkennung dieser Breitenwirkung sträubte sich aber lange Zeit die Rechtsprechung. Denn sie ist gleichbedeutend - wie das BSG in seiner jüngsten Rechtsprechung auch unumwunden zugibt 145 - mit der Anerkennung ihrer Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten. Der älteren Rechtsprechung lag dies auch deshalb fern, weil sie davon ausging, daß den Versicherten vom Gesetz Ansprüche auf konkrete Behandlungsleistungen eingeräumt sind. Daß die Anspruchsvoraussetzungen im Gesetz nur vage umschrieben sind, hinderte das BSG nicht daran anzunehmen, daß sie voller gerichtlicher Kontrolle zugänglich sind. Daran ist sicher richtig, daß das Recht der sozialen Krankenversicherung den Leistungsträgern keinerlei Ermessen einräumt - und zwar etwa im Gegensatz zum Recht der sozialen Unfallversicherung auch nicht hinsichtlich des Umfangs der Krankenbehandlung (§ 26 V SGB VÏÏ). Indes bedeutet dies nicht, daß die Anspruchsvoraussetzungen im Gesetz subsumtionsfähig bestimmt wären. Erst nach Inkrafttreten des SGB V hat das BSG zugegeben, daß das Gesetz nur einen Teil der Vorgaben enthält, die erforderlich sind, um feststellen zu können, 141 142 143 144 145

S.o. III 2 b. S.o. II 2. S.o. §6 V lb, c. S.o. §6111. BSGE 81, 54, 59ff.; 81, 73, 76ff.; 78,70, 76f.

§ 7 Handlungsformen der Kooperation

375

welche konkrete Behandlungsmaßnahme der Versicherte beanspruchen kann. 146 Daß der Krankenbehandlungsanspruch im Gesetz nur rahmenartig gefaßt ist, traf allerdings auch schon auf das Recht der RVO zu. Daß er nur ein Rahmenrecht ist, hängt mit seinem Gegenstand zusammen, mit der Eigenart von Sach- und Dienstleistungen, die sich gegen eine vollständige rechtliche Programmierung sträuben, 147 vor allem aber mit seiner Finalität, seinem ausgeprägten Bezug auf den jeweils zu befriedigenden Bedarf. 148 Die finale Struktur des gesetzlich fixierten Krankenbehandlungsanspruch erlaubt es, den medizinischen Fortschritt angemessen zu verarbeiten. Ihre Kehrseite ist aber die Notwendigkeit weiterer wertender Schritte, bevor feststeht, welche Leistung der Versicherte beanspruchen kann. 149 Diese Schritte sind prozeduraler oder „im weitesten Sinne" verfahrensrechtlicher Art. 1 5 0 Zu ihnen zählen insbesondere die kooperativen Festlegungen des Vertragsarztrechts und damit auch die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen. Daß sich aus § 92 V m mit § 95 ΠΙ2, IV 2 und § § 8212,8311 SGB V selbst nur die Verbindlichkeit der Richtlinien gegenüber den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen und gegenüber den Krankenkassen ableiten läßt, ist daher unschädlich. Denn die Richtlinien müssen auch gegenüber den Versicherten Wirkungen entfalten, weil der Umfang der Krankenbehandlung im Vertragsarztrecht nicht anders sein kann als im Leistungsrecht. 151 Mit der vertragsärztlichen Behandlungs- und Verordnungsweise haben die Richtlinien zugleich auch die Versorgung der Versicherten zum Regelungsgegenstand. Ihre Festlegungen betreffen nicht allein die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen, sondern auch die Versicherten. Daher können die Richtlinien nur entweder ein wirksames Instrument zur Steuerung des ärztlichen Handelns mit Auswirkung auf die Versicherten sein oder auch gegenüber den Vertragsärzten keine wirkliche Verbindlichkeit entfalten. Diese Alternative stellte sich immer schon. Erst in jüngster Zeit hat sich das BSG dafür entschieden, die Richtlinien als effektives Steuerungsmittel anzuerkennen. Folgt man dem, so löst sich auch eine Unstimmigkeit auf, die der früheren Rechtsprechung eigen war: Aus der Billigung der normativen Wirkung der Mantel- und Gesamtverträge folgt, daß sie als Rechtsnormen die Gerichte binden und sich daher grundsätzlich auch auf die Leistungsansprüche der Versicherten auswirken. Bezeichnenderweise hat das BSG aber auch die Mantel- und Gesamtverträge als „Durchführungsbestimmungen" bezeichnet und damit ihre Wirkungsweise zurückgenommen, ohne ihren Rechtsnormcharakter in Zweifel zu ziehen.152 Zwar stellt 146 147 148 149 150 151 152

BSGE 73, 271, 278 f. S.o. § 1 II2a. Zu letzterem s.o. §1 I I . Vgl. BSGE 73, 271, 279f. BSGE 73, 271,280. So bereits BSGE 63,163,165 f. S.o.IIIlb.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

sich bei den Verträgen aufgrund ihrer Regelungsgegenstände die Frage nach der Verbindlichkeit gegenüber den Versicherten weniger als bei den Richtlinien. Doch war es kaum folgerichtig, ihnen den Charakter von Rechtsnormen zuzubilligen, diesen den Richtlinien aber zu verweigern, um damit ein Problem zu lösen, das sich letztlich beidemal stellt. Nicht nur rechtskonstruktiv, sondern auch der Sache nach werden die Richtlinien daher heute zurecht als Rechtsnormen angesehen. Ihrer gesetzlich intendierten Wirkung nach enthalten sie Regelungen, die den Binnenbereich der Verwaltung überspringen, die nicht nur die Vertragsärzte binden, sondern sich auch auf die Rechte und Pflichten der Versicherten auswirken - und zwar nicht nur reflexhaft, sondern unmittelbar rechtlich gestaltend. Daß das Gesetz die Richtlinien zum Bestandteil der Bundesmantelverträge erklärt (§ 92 VIII SGB V) und ihnen damit formell den Charakter von Vertragsrecht verleiht, mag rechtskonstruktiv Ausgangspunkt für die Begründung des Rechtsnormcharakters der Richtlinien sein. Die Richtlinien werden dadurch zwar nicht wirklich Vertragsrecht, weil sie nicht von den Verbänden der Ärzte und Krankenkassen vereinbart werden. Allerdings hat die gesetzliche Zuschreibung des Charakters von Vertragsrecht einen sachlichen Grund, soweit dadurch hervorgehoben wird, daß die Richtlinien Ergebnis verbandlicher Kooperation sind und sich darin nicht von den Verträgen unterscheiden. In § 92 V m SGB V kommt insofern zum Ausdruck, daß es sich bei den Richtlinien um kooperatives Recht handelt. Gesteht man den Richtlinien den Charakter (kooperativen) Rechts zu, so stellen sich doch noch zwei Fragen: Zum einen ob die Eigenart der Richtlinien eine Differenzierung ihres Verbindlichkeitsgrads erfordert (a), und zum andern welche Auswirkungen dies auf die gerichtliche Kontrolldichte hat (b). a) Richtlinien, Leitlinien, Standards Bis in die jüngste Zeit sind Bemühungen anzutreffen, die vom Wort „Richtlinien" aus nach deren Eigenart und vor allem nach ihrem Verbindlichkeitsanspruch fahnden. 153 Vor diesem Hintergrund muß es erstaunen, wenn von ärztlicher Seite verlautbart wird, Richtlinien seien Verhaltensregelungen, „die von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht". 154 Dies dürfte zwar in erster Linie dem Einfluß des Rechts der sozialen Krankenversicherung geschuldet sein. Doch macht es die Grenzen philologischer Anstrengungen deutlich. Allerdings sollte es ohnehin entscheidend auf die Funktion der jeweiligen Regeln ankommen. 153

Siehe nur*. Wimmer, NJW 1995,1577,1579. Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung, Beurteilungskriterien für Leitlinien in der medizinischen Versorgung, DÄ 1997, A-2154f. 154

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Diesbezüglich sind in Deutschland in den letzten Jahren vermehrt Anstrengungen zur Erstellung von Leitlinien in Expertengremien von medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften, ärztlichen Berufsverbänden und Ärztekammern zu beobachten.155 An diese Leitlinien wird die Erwartung geknüpft, ärztliche Alltagsroutinen wirksam zu verändern, eine effektivere und wirtschaftlichere Versorgung zu ermöglichen und den Gesundheitszustand der Patienten zu verbessern. Der Grund für die Erstellung von Leitlinien und damit die regelgesteuerte Optimierung ärztlichen Handelns wird in der Entwicklung der modernen Medizin, ihrer Komplexität und ihrem für den einzelnen Arzt unüberschaubar gewordenen Wissensstand, ihrer Kostenintensität und der daraus erwachsenden Notwendigkeit sparsameren Ressourcenverbrauchs gesehen. Der Arzt soll sich deshalb heute nicht mehr allein auf klinische Erfahrung oder die Regeln der ärztlichen Kunst als implizite Standards berufen können, sondern explizite Standards benötigen.156 In diesem Zusammenhang sollen Leitlinien dazu beitragen, das medizinisch Notwendige zu definieren, Qualitätsziele zu begründen und den Versorgungsaufwand zu rechtfertigen. Dabei stellen Leitlinien systematische entwickelte, wissenschaftlich begründete Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche Vorgehensweise dar, die als Handlungsempfehlungen mit „Abweichungskorridoren" zu verstehen sind. 157 Standards, Leitlinien und Richtlinien sind Handlungsmaßstäbe unterschiedlicher rechtlicher Funktion und unterschiedlicher Verbindlichkeit. Der Begriff des Standards wird von der Ärzteschaft wegen seiner technisch-exakten Konnotationen in letzter Zeit vermieden und durch den der Leitlinie ersetzt. Diese soll eine Mittelstellung zwischen Empfehlung und Richtlinie einnehmen. Während Richtlinien rechtsverbindliche und zwingende Vorgaben enthalten, sollen Leitlinien zwar grundsätzlich befolgt werden, im Einzelfall aber ein Abweichen zulassen. Folglich wird davon gesprochen, daß Leitlinien dem Arzt eine Richtschnur für sein Handeln vorgeben, ohne sein Ermessen völlig zu beseitigen.158 Dennoch ist die Tendenz unverkennbar, daß dem behandelnden Arzt weniger Ermessen eingeräumt und mehr Verhaltensanweisung in die Hand gegeben wird. 159 Die Medizin leistet mit der Entwicklung von Leitlinien freilich ihrer eigenen Verrechtlichung Vorschub. 160 Dieser Befund kann für die Richtlinien des Bundesausschusses nicht ohne Belang sein. Die Tendenz zu einer regelgesteuerten Optimierung ärztlichen Handelns wi»» Vgl. SVR KAiG, Sachstandsbericht 1994, Tz. 252 ff. 156 E. Buchborn, Ärztlicher Standard, MedR 1993, 328, 329. 157 Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung, DÄ 1997, A-2154. S.a.D. Hart, Ärztliche Leitlinien, MedR 1998, 8,11. 158 A. Wienice, Leitlinien als Mittel der Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung, MedR 1998, 172f. 159 H. D. Schirmer, Rechtliche Anmerkungen zum Problem der Empfehlungen, Leitlinien, Richtlinien und Standards in der Medizin, in: Curriculum Qualitätssicherung, 1996, S. 187, 193. 160 E . Buchborn, MedR 1993, 328, 332.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

derspricht der Annahme, dieses widersetze sich seiner Natur nach der Standardisierung. Die Richtlinien der Bundesausschüsse sind in diesem Zusammenhang nur ein Instrument der Verhaltenssteuerung. Sie erlegen sich noch immer Zurückhaltung bei der Regulierung des Kerns der ärztlichen Behandlung auf 6 1 und überlassen so die Standardsetzung der Ärzteschaft. Dazu gehalten sind sie von Rechts wegen allerdings nicht. 162 b) Richtlinien und Gerichtskontrolle Der tiefere Grund für das lange Zögern der Rechtsprechung, den Richtlinien Rechtsnormcharakter zuzubilligen, ist in den Folgen zu sehen, die dies für die gerichtliche Kontrolldichte hat. Solange die Richtlinien als Nichtrecht oder doch als (Verwaltungs-) Binnenrecht angesehen wurden, waren sie grundsätzlich für die Sozialgerichte unbeachtlich. Allerdings führte der bereits früh gewiesene Weg der Verbindlichkeit kraft Geltungsanordnung letztlich zu einer Bindung der Gerichte. Vor diesem Hintergrund ist ihre spätere Deutung als Durchführungsbestimmungen, Erfahrungssätze und Normkonkretisierung eher als Rücknahme einer eigentlich schon anerkannten Verbindlichkeit anzusehen. Bei der Anfang der 1990er Jahre erfolgten Deutung der Richtlinien als „normkonkretisierende Rechtsvorschriften" 163 springt schon zeitlich der Zusammenhang mit dem Wyhl-Urteil des BVerwG ins Auge, das Mitte der 1980er Jahre den Begriff der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift geprägt hatte: Das BVerwG hatte in dieser Entscheidung der „Allgemeinen Berechnungsgrundlage für Strahlenexposition bei radioaktiven Ableitungen mit der Abluft oder in Oberflächengewässer", einer Verwaltungsvorschrift, nicht mehr nur als „antizipiertes Sachverständigengutachten" eine gewisse Beachtlichkeit im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zugesprochen, 164 sondern sie wegen ihrer „normkonkretisierenden Funktion" als „für die Verwaltungsgerichte innerhalb der von der Norm gesetzten Grenzen verbindlich" bezeichnet. Wie weit diese Bindung der Gerichte geht, wurde offen gelassen.165 Nicht weiter ausgeführt wurde auch, wie sich die Außenwirkung der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschrift eigentlich rechtfertigen läßt. Erkennbar steht diese Rechtsfigur, die in der Literatur viel Beifall fand, 166 im Kontext der Reduzierung 161

Näheroben §6 V l c . Zu der in diesem Zusammenhang relevanten Frage nach der Kompetenz für die Qualitätssicherung siehe oben § 5 II 1 c. 163 BSGE 66, 163,164. 164 So noch BVerwGE 55,250,256. 165 BVerwGE 72, 300, 320f. 166 F. Ossenbühl, Autonome Rechtsetzung der Verwaltung, HStR III, § 65 Rn. 26, 60; Ch. Gusy, Administrativer Völlzugsauftrag und justizielle Kontrolldichte im Recht der Technik, DVB1 1987, 497ff.; H.Hill, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, NVwZ 1989, 401 ff.; W.Erbguth, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, DVB1 1989, 473 ff.; U. Di Fabio , Verwaltungsvorschriften als ausgeübte Beurteilungsermächtigung, DVB1 1992, 162

§ 7 Handlungsformen der Kooperation

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(verwaltungs-) gerichtlicher Kontrolldichte: Indem sich die Gerichte an die in normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften enthaltenen naturwissenschaftlich-technischen Bewertungen für gebunden erklären, entlasten sie sich zugleich von schwierigen und umfangreichen Beweisaufnahmen. 167 Das praktische Bedürfnis, das in dieser Innovation zum Ausdruck kommt, kann sie freilich noch nicht rechtfertigen. Dem herkömmlichen Verständnis nach entbehren Verwaltungsvorschriften gerade der Außenwirkung. Sie sind darauf angelegt, nur im Binnenbereich der Verwaltung Wirkung zu entfalten, und können allein deshalb auch im Verhältnis zum Bürger Bedeutung erlangen, weil sie der Determinierung außengerichteten Verwaltungshandelns dienen. Rechtlich relevant sind sie dann freilich nur über die wesentlich vom Gleichheitssatz vermittelte Selbstbindung der Verwaltung. Dieses Konzept wird freilich brüchig, wenn das anzuwendende Gesetz von der Verwaltung erst noch vollzugsfähig gemacht werden muß. 168 Gibt das Gesetz zwar Ziele vor, enthält aber keine anwendungsreifen Maßstäbe und verlangt dennoch von der Verwaltung seinen Vollzug, so ist es zunächst Aufgabe der Verwaltung, seine Vollzugsreife herbeizuführen. Das muß nicht heißen, daß die Gerichte an die dabei erfolgenden Konkretisierungsleistungen der Verwaltung gebunden wären. Die Maßstabsarmut des Gesetzes droht aber auch die Kontrollfunktion der Gerichte leerlaufen zu lassen. Von daher ist es verständlich, wenn sich die Gerichte die Konkretisierungsleistungen der Verwaltung nutzbar machen wollen. Es spricht sogar viel dafür, daß dies in solchen Fällen der Intention des Gesetzes entspricht. Letztlich ist es also die Ausgestaltung des Gesetzes, in der sich die Besonderheiten des Regelungsgegenstandes widerspiegeln, die dafür sprechen kann, Verwaltungsvorschriften über den Binnenbereich der Verwaltung hinaus unmittelbare rechtliche Wirkungen zuzusprechen. Diese entsprechen allerdings nicht voll denen von Gesetzen oder Rechtsverordnungen, sondern sind letztlich wiederum durch die spezifische Leistungsfähigkeit der Verwaltung zur Normkonkretisierung beschränkt. Auf den ersten Blick mag die Erbringung von Sach- und Dienstleistungen in der sozialen Krankenversicherung wenig Gemeinsamkeiten mit Risikoentscheidungen im Umwelt- und Technikrecht aufweisen. Allerdings ist auch bei den Sach- und Dienstleistungen des sozialen Krankenversicherungsrechts eine deutliche finale Ausrichtung und geringe gesetzliche Vorzeichnung zu beobachten. Daher lag es nicht fern, den Gedanken der Normkonkretisierung auf das Vertragsarztrecht zu übertragen und ihn zu Grund und Grenze der Außenwirkung der Richtlinien des Bundesausschusses zu machen. Dafür sprach zudem, daß die Figur der normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften in der Rechtsprechung zu den beamtenrechtli1338 ff.; Th. v. Danwitz, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften und Gemeinschaftsrecht, VerwArch 84 (1993), 73, 92ff. 167 R. Hendler, Verwaltungsvorschriften zur Konkretisierung technischer Standards im Umweltrecht, JbUTR 1996, S.55,66f. 168 Dazu und zum folgenden siehe nur H. Hill, NVwZ 1989,401,405 ff.

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2. Teil: Sozialrechtliche Ausgestaltung der Kooperation

chen Beihilferichtlinien einen Vorläufer hat. 169 Neben erstaunlichen Parallelen im Sozialhilferecht 170 bestehen aber auch erhebliche Unterschiede: So hat das BSG die Schaffung außenwirksamen Rechts durch die Verbände der Ärzte und Krankenkassen nie für völlig unzulässig gehalten; selbst für die Richtlinien war über Geltungsanordnungen ein Weg zur Erlangung normativer Verbindlichkeit gewiesen. Dem BSG ging es daher weniger um die Begründung der Außenwirkung als um deren Grenzen. Während das BSG in seiner frühen Rechtsprechung davon sprach, daß vertragsoder satzungsrechtlich für verbindlich erklärte Richtlinien auch zu beachten sind, soweit sie nicht ihrem Text nach einen geringeren Grad an Verbindlichkeit beanspruchen und sofern sie nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht verstoßen, 171 so hat es mit ihrer Qualifikation als Durchführungsbestimmungen eine Reduktion ihres Geltungsanspruchs beabsichtigt: Weil die Vertragsparteien nicht ermächtigt seien, die Richtlinien in einer Weise für verbindlich zu erklären, die zu einer Einschränkung der Ansprüche der Versicherten führt, könnte eine vertragliche Pflicht zur Beachtung der Richtlinien nicht ausschließen, daß der Arzt im Einzelfall eine andere Entscheidung trifft. Hinzu trat der Gedanke, die Verbindlichkeit der Richtlinien beruhe darauf, daß sie Erfahrungssätze wiedergeben, weshalb eine Richtlinie keine Geltung beanspruchen könne, soweit der ihr zugrunde liegende Erfahrungssatz nicht dem Erkenntnisstand entspreche.172 Zusammengefaßt wurde dies schließlich dahingehend, daß die Richtlinien zwar als „Verwaltungsbinnenrecht" die den Versicherten vom Gesetz eingeräumten Rechte weder einschränken noch erweitern können, aber im Leistungsrechtsstreit für die Sachentscheidung grundsätzlich maßgeblich sind. 173 Denn die Gerichte seien nicht dazu berufen, in medizinisch-wissenschaftlichen Streitfragen ihre im Einzelfall mittels ausgewählter Sachverständigen gefundene Auffassung an die Stelle des Regelwerkes des besonders sachkundigen 169

H. Sendler, Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften im Umweltrecht, UPR 1993, 321, 325. - Allerdings handelt es sich dabei um einen Zusammenhang, der dem BSG nicht geläufig zu sein schien. Siehe BSG SozR 3-2500 § 75 Nr. 5, wo für die im Rahmen des § 75 III SGB V von Vertragsärzten erbrachte freie Heilfürsoige von Soldaten eine Verbindlichkeit der Beihilferichtlinien des Bundesministers für Verteidigung jedenfalls im Verhältnis zu den Vertragsärzten abgelehnt wurde. 170 So hat das BVerwG den Regelsätzen nach § 22 BSHG auch für den Fall rechtliche Außenwirkung zugesprochen, daß sie nicht durch Rechtsverordnung, sondern durch Runderlaß festgesetzt werden. Denn ihnen komme„kraft ihrer gesetzlich intendierten Funktion, unter Zurückdrängung des Grundsatzes der Individualisierung der Sozialhilfe feste schematisierte Sätze für den durch laufende Leistungen zum Lebensunterhalt abzudeckenden Regelbedarf zu bestimmen, ΒindungsWirkung auch gegenüber den Sozialhilfe begehrenden Bürgern zu." In der Ausgestaltung, die der Sozialhilfeanspruch im Gesetz gefunden hat, stellten die Regelsätze den „materiellrechtlichen ,Schlußstein'" dar, der von der Verwaltung „anspruchskonkretisierend" gesetzt wird, und kraft gesetzlicher Anordnung dem Anspruch des Sozialhilfeberechtigten die abschließende Gestalt geben (BVerwGE 94, 335, 339 f.). 171 BSGE 38, 35, 38 f. 172 BSGE 63,163,166. 173 BSGE 73, 271,287 f.

§ 7 Handlungsformen der Kooperation

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Bundesausschusses zu setzen, der heterogen zusammengesetzt und fähig sowie gesetzlich dazu bestellt ist, die gesamte Breite und Tiefe der ärztlichen Erfahrung sowie die allgemein anerkannten medizinischen Erkenntnisse und jeweils den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Maßgeblichkeit sei allerdings nicht mit rechtlicher Bindung gleichzusetzen. Die Gerichte hätten daher nicht nur zu überprüfen, ob die Richtlinien mit höherrangigem Recht vereinbar sind, sondern bei hinreichendem Anlaß auch, ob der Inhalt der Richtlinien sachlich vertretbar ist. 174 Dies läßt sich in dieser Weise nicht mehr aufrecht erhalten, wenn den Richtlinien der Charakter von (Außen-) Rechtsnormen zuerkannt wird. Das BSG geht gleichwohl davon aus, daß die Richtlinien nicht nur auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen sind, sondern auch auf ihre sachliche Vertretbarkeit. 175 Haltbar ist dies allenfalls in dem Sinne, daß die Sozialgerichte zu kontrollieren haben, ob die Richtlinien nach Inhalt und Zweck der Ermächtigung vertretbar sind. Denn Normsetzung ist nicht bloßer Nachvollzug gesetzlicher Vorgaben, sondern notwendig auch Gestaltung. Normsetzungsermächtigung ist daher mit der Einräumung von Gestaltungsspielräumen verbunden. Sache der Gerichte ist dabei allein zu kontrollieren, ob die Grenzen dieser Spielräume eingehalten werden, die in sachlicher Hinsicht in erster Linie vom Zweck der Ermächtigung bestimmt werden. Die schon früher vertretene Kontrolle der Richtlinien auf ihre sachliche Vertretbarkeit war nur eine andere Formulierung für die Gestaltungsspielräume des Bundesausschusses. Gleichwohl erscheint es sinnvoller, nicht mehr von Vertretbarkeitskontrolle zu reden und stattdessen die sachlichen Maßstäbe der Richtliniengebung in den Vordergrund zu stellen und die Regelungsdirektiven, die Zielvorgaben und Leitlinien, herauszuarbeiten, die das Gesetz enthält.176 Angesichts der auch dann noch verbleibenden nur begrenzten materiellen Determination der Richtliniengebung wird es aber in erster Linie darum gehen, prozedurale Anforderungen für die bei ihr zu beobachtenden Ermittlungs-, Berücksichtigungs- und Abwägungsvorgänge zu entwickeln. 177 Auf jeden Fall ist heute eine deutliche Zurückhaltung des BSG bei der gerichtlichen Kontrolle erkennbar. Es hält eine eigene medizinische Beurteilung von Behandlungsmethoden durch die Gerichte überhaupt für fragwürdig: „Abgesehen von dem Eingriff in Kompetenzen des Bundesausschusses können wissenschaftstheoretische Grundlagen im Streit sein oder es müssen neueste wissenschaftliche Forschungsergebnisse interpretiert und bewertet werden. Es kann aber - auch mit sachverständiger Unterstützung - nicht Sinn eines Gerichtsverfahrens sein, die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft voranzutreiben oder in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Positionen zu beziehen."178 174 175 176 177 178

BSGE 73, 271,288. Siehe BSGE 78, 70, 88. S.o. §5. W. Noftz, VSSR 1997, 393,431. BSGE 81, 54, 69.

Dritter Teil

Verfassungsrechtlicher Rahmen der Kooperation Die Kooperationsstrukturen der Vertragsarztrechts weichen deutlich vom vertrauten Bild der öffentlichen Verwaltung ab. Dies muß gerade aus verfassungsrechtlicher Sicht Aufmerksamkeit, wenn nicht Widerspruch hervorrufen. Dabei wirft noch am wenigsten Fragen die hier anzutreffende Selbstverwaltung auf. Diese mag zwar einer am Modell der hierarchischen Verwaltung ausgerichteten Sicht grundsätzlich defizitär erscheinen; gleichwohl zählt die Selbstverwaltung zum klassischen Bestand organisatorischer Erscheinungsformen der Verwaltung. Größere Schwierigkeiten muß die kooperative Struktur des institutionellen Gefüges bereiten. Das Leitbild der hierarchischen Verwaltung, bereits vom Phänomen der Selbstverwaltung irritiert, droht nun vollends ins Wanken zu geraten. Stellt die Selbstverwaltung schon die Einheit des Staates in Frage, weil sie dem Durchgriff der Staatsleitung Grenzen zieht, so tritt an die Stelle einer zwar gegliederten, aber den Verwaltungsträgern klar zugewiesenen Entscheidungszuständigkeit Verflechtung von Entscheidungsbeiträgen und Vergemeinschaftung von Entscheidungen. Notdürftig eingefangen wird die Ratlosigkeit, die diese Strukturen einem an der hierarchischen Verwaltung geschulten Blick bereiten müssen, mit dem Begriff der „gemeinsamen Selbstverwaltung".1 Dieser gliedert die Kooperationsstrukturen durch das Etikett „Selbstverwaltung" in das bekannte Repertoire des Verwaltungsrechts ein. Das eigentliche Problem wird im Attribut versteckt. Immerhin jedoch sind mit der Rede von der Selbstverwaltung Vorstellungen von Gestaltungsspielräumen verbunden, die freilich wiederum die Frage nach ihrer Legitimation aufwerfen. Hier setzt der vielfach anzutreffende Vorwurf zu großer Unbestimmtheit der gesetzlichen Ermächtigungen und zu geringer parlamentsgesetzlicher Vorzeichnung an.2 Dem Vorwurf der Unbestimmtheit kontrastiert in auffälliger Weise die Klage einer „detailbesessenen Regulierungsintensität" des Gesetzgebers,3 davon, daß das „immer dichter werdende soziale Netz" für die Selbstverwaltung „gleichsam zu einem Spinnennetz" werde, daß keine nennenswerten Freiräume mehr bestünden und 1

Näheru. §811. R. Wimmer, Rechtsstaatliche Defizite im vertragsärztlichen Berufsrecht, NJW 1995,1577, 1582 f. 3 H. Reiter, Die Selbstverwaltung als Organisationsprinzip der Sozialversicherung, DRV 1993, 657, 659. 2

3. Teil: Verfassungsrechtlicher Rahmen der Kooperation

383

die Autonomie „gegen Null" tendiere,4 daß in der Sozialversicherung im materiellen Sinn kaum von Selbstverwaltung gesprochen werden könne, weil alle wesentlichen Entscheidungen vom Staat bestimmt, Spielräume zu gestalterischen Entscheidungen kaum vorhanden seien,5 daß die Krankenversicherungsträger längst „zur Vollzugsstelle von staatlicherseits bereits getroffenen Vorentscheidungen ohne eigene essentielle Entscheidungsbefugnis" geworden sind.6 Dies scheint die - keineswegs kritisch gedachte - Stelle aus einer Entscheidung des BVerfG zu bestätigen, wonach die „Hauptaufgabe" der Sozialversicherungsträger im „Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe" bestehe, weshalb in diesem Bereich „nur bedingt von Selbstverwaltung" gesprochen werden könne.7 Träfe diese Aussage auf das Vertragsarztrecht zu, so dürften die hier in Rede stehenden Kooperationsstrukturen jedenfalls nicht in sachlich-inhaltlicher Hinsicht die Frage nach ihrer parlamentsvermittelten Legitimation aufwerfen, sondern eher die Frage nach ihrem Sinn. Eine solch rein mechanische Funktion müßte die Frage aufwerfen, ob sie nicht zu weit geht, ob nicht etwa Art. 87 I I GG ein gewisses Maß an materieller Selbständigkeit der Sozialversicherungsträger auch gegenüber dem Gesetzgeber gebietet. Indes stimmt, wie sich gezeigt hat, das Bild von der Krankenversicherung als bloßer Subsumtionsmaschine, als bloßem Ausführungsorgan einer detaillierten Sozialgesetzgebung nicht. Nicht allein sind die Entgelte für die von selbständigen Dritten erbrachten Dienst- und Sachleistungen im Gesetz nicht geregelt.8 Auch die Qualität dieser Leistungen und strukturelle Fragen der Leistungserbringung sind im Gesetz nur annäherungsweise umschrieben.9 Die Erbringung von Dienst- und Sachleistungen stellt eher ein Beispiel für Gestaltungsspielräume und Gestaltungsaufgaben dar. Sicher trifft es zu, daß der Gesetzgeber auch in diesem Bereich „mit dem Ziel der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse mit detailbesessener Regulierungsintensität immer weiter vorgedrungen" 10 ist. Vergleicht man das heutige Krankenversicherungsrecht mit dem „Urzustand" des KVG 1883, so springt die viel stärkere gesetzliche Regulierung ins Auge: Das Gesetz begnügt sich schon lange nicht mehr damit, den Krankenkassen vorzuschreiben, welche Leistungen ihre Satzungen den Versicherten mindestens anbieten müssen, sondern hat die Regelung des Leistungsumfangs selbst übernommen und gestattet den Krankenkassen nur in geringem Umfang darüber hinauszugehen. Auch wenn die Leistungen heute 4 D. Merten, Möglichkeiten und Grenzen der Selbstverwaltung, in: ders., Die Selbstverwaltung im Krankenversicherungsrecht, 1995, S. 11,20. 5 E. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, 1991, S. 275 ff. 6 F. Schnapp, Aufsicht und Finanzprüfüng, HS-KV, § 52 Rn. 12. 7 BVerfGE 39,302,313. - Fast wörtlich so schon W. Weber, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, SDSGV1 (1966), S. 27, 30. 8 S.o. §5 IV2. 9 S.o. §11, §5 II, III. 10 H. Reiter, DRV 1993,657,659.

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. Teil:

rechtliche

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der Kooperation

gesetzlich fixiert sind, so bedeutet dies jedoch keineswegs, daß ihr Inhalt damit im Gesetz „subsumtionsfähig bestimmt"11 wäre. Bei der Erbringung von Dienst- und Sachleistungen kann von einem rein mechanischen Vollzug detailliert gesetzlich vorgegebener Programme keine Rede sein. Die Gestaltungsspielräume der Selbstverwaltung sind hier viel größer als in anderen Sozialversicherungsbereichen. 12 Daher sind es weniger die Enge und Detailliertheit der gesetzlicher Vorgaben und mehr die Freiräume, die diese den Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen lassen, die sich verfassungsrechtlich zu legitimieren haben. Vor diesem Hintergrund soll im folgenden den Grenzen nachgegangen werden, die das Verfassungsrecht den Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts zieht. So wie sich die Rechtsprechung erst unlängst dazu durchringen konnte, dem einfachgesetzlichen Recht den Rechtsnormcharakter der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zu entnehmen, so konzentriert sich heute die verfassungsrechtliche Kritik gerade auf diesen Charakter und die damit einhergehende Wirkweise der kooperativ gefundenen Lösungen. Auch wenn sich damit die Kritik auf die Handlungsformen zu beschränkten scheint, so drückt sich doch in ihr ein gespanntes Verhältnis zur Kooperation überhaupt aus. Ob dies berechtigt ist und in welchem Rahmen die Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts vor dem Verfassungsrecht Bestand haben, ist Gegenstand des abschließenden 3. Teils dieser Untersuchung (§ 8).

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BSGE 73, 271, 279f. F. Knieps, Strukturprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und die Auswirkungen des Gesundheits-Reformgesetzes, in: v. Maydell, Probleme sozialpolitischer Gesetzgebung, 1990, S.78, 90. 12

§ 8 Kooperationsstrukturen und Verfassungsrecht I. Verdichtung verfassungsrechtlicher Anforderungen in besonderen Rechtsfiguren Bevor die Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts an den grundlegenden Prinzipien des Verfassungsrechts gemessen werden, soll zunächst zwei Figuren nachgegangen werden, die als für die Kooperation der Verbände der Ärzte und Krankenkassen relevante Verdichtungen verfassungsrechtlicher Anforderungen ausgegeben werden oder doch begriffen werden können: Gemeinsame Selbstverwaltung (1.) und Numerus clausus von Rechtsnormformen (2.).

1. Gemeinsame Selbstverwaltung Bis heute findet sich in Literatur und Rechtsprechung für die Kooperationsstrukturen des Vertragsarztrechts die Bezeichnung „gemeinsame Selbstverwaltung".1 Was man sich darunter vorzustellen hat, bleibt indes im vagen. Ein ausgearbeitetes Konzept gibt es nicht.2 In gewisser Weise ist es auch der Geschichte geschuldet: Der Regierungsentwurf des GKAR wollte „gemeinsame Selbstverwaltung" noch zum Rechtsbegriff machen, indem in § 36811 RVO bestimmt werden sollte, daß Ärzte und Krankenkassen „in gemeinsamer Selbstverwaltung zur Sicherstellung der ärztlichen Versorgung der Versicherten" zusammenwirken, und in § 368111 RVO der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen als „oberste beschließende Einrichtung der gemeinsamen Selbstverwaltung" bezeichnet werden sollte.3 Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wurde auf die Bezeichnung „gemeinsame Selbstverwaltung" schließlich mit der Begründung verzichtet, ihr gehe juristische Klarheit und Eindeutigkeit ab.4 In der Sache sind gleichwohl die damit umschriebenen Koopera1

Vgl. aus der Rechtsprechung BSGE 81,55,64; 81,73,82; 78,70,72 und 78f.; 78,91,96; 78, 98, 99; 76, 48,49; 75, 220, 223; 73, 131, 133; 72, 227, 234; 69, 154, 157 und aus der Literatur G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.204ff.; I. Ebsen, Rechtliche Instrumente der Freiheitssicherung und Steuerung bei der Leistungserbringung im Gesundheitswesen, SDSRV38 (1994), S.7,10,23ff.; G. Küchenhoff\ Gemeinsame Selbstgestaltung (Autonomie) im Kassenarztrecht, in: Festschrift für W. Weber, 1974, S. 833, 834f. 2 So auch B. Schulin, Rechtliche Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Probleme, HS-KV, § 6 Rn. 97. 3 BT-Drs. 1/3904. 4 A. Hess/R. Venter , Das Gesetz über Kassenarztrecht, 1955, S.97. 25 Wahl

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tionsstrukturen installiert worden,5 so daß es nicht wunder nimmt, daß der Begriff Eingang in Rechtsprechung und Literatur gefunden hat. Er scheint die Kooperationsstrukturen prägnant zusammenzufassen und die Gestaltungsspielräume, aber auch die Vergemeinschaftung der Aufgaben und die Parterschaftlichkeit des Handelns erklären zu können. Der Regierungsentwurf des GKAR hatte die „gemeinsame Selbstverwaltung" historisch begründet: Die Entwicklung des Kassenarztrechts habe gezeigt, daß das vertrauensvolle Zusammenwirken von Ärzten und Krankenkassen in einer „umfassenden Gemeinschaftsarbeit" im Interesse der ärztlichen Versorgung der Versicherten unerläßlich sei. Das Verdienst des Kassenarztrecht von 1931/32 sei es gewesen, den Konflikt zwischen Ärzten und Krankenkassen beendet und die verständnisvolle Zusammenarbeit nachhaltig gefördert zu haben, indem „der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen auf dem Boden der Gleichberechtigung weitgehend die Regelung ihrer Beziehungen in die Hand gegeben" worden war. An dieses Vorbild anknüpfend solle die Regelung der Beziehungen zwischen Krankenkassen und Ärzten aufbauend auf der Selbstverwaltung der Krankenkassen einerseits und der Kassenärztlichen Vereinigungen andererseits „auf dem Boden der Gleichberechtigung und der gleichen Verantwortung weitgehend der gemeinsamen Selbstverwaltung beider Partner anvertraut und zur Aufgabe gestellt" werden; das Gesetz solle sich auf die „notwendigen Rahmenbestimmungen" beschränken, im übrigen aber der gemeinsamen Selbstverwaltung den „notwendigen Spielraum zur ungehemmten Entfaltung und Entwicklung ihrer schöpferischen Kräfte" überlassen.6 Als Leitbild diente allerdings ein institutionelles Arrangement, das sich selbst nicht entfalten konnte. Denn schon 1933 war mit dem Reichsausschuß der Ärzte und Krankenkassen dessen Kernelement stillgelegt worden durch den - auf Anweisung der Reichsregierung erfolgten - Auszug der Ärztevertreter aus diesem Gremium, wodurch nach § 368 i I, I I I RVO 1932 dessen Kompetenzen auf den Reichsarbeitsminister übergingen.7 Bis 1934 war durch die Zuweisung des Zulassungswesens in die alleinige Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands und die Beseitigung des Mitspracherechts der Krankenkassen bei der Verteilung der Gesamtvergütung die Stellung der Krankenkassen soweit geschwächt, daß von einer „gemeinsamen Selbstverwaltung" kaum noch die Rede sein konnte. Die Krankenkassen waren eher auf die Rolle bloßer Stellen zur Finanzierung einer im übrigen von den Ärzten bestimmten kassenärztlichen Versorgung beschränkt worden.8 Daß das 5 Allerdings rückten mit der Zurückführung der Kompetenzen des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen auf den Erlaß von Richtlinien (dazu oben § 6 V 1 a) die Verträge mehr ins Zentrum. Der Verzicht auf die Bezeichnung der Kooperationsstrukturen als gemeinsame Selbstverwaltung spiegelt daher in gewisser Weise die stärkere Betonung von Verhandlungen und die Abschwächung der Entscheidungen gemeinsamer Gremien wider. 6 BT-Drs. 1/3904, S. 14ff. 7 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn.95. 8 G. Schneider, Handbuch des Kassenarztrechts, Rn. 110.

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GKAR an das Kassenarztrecht von 1931/32 anknüpfte, läßt sich kaum mit dessen praktischer Bewährung rechtfertigen. Vielmehr rückt das ordnungspolitische Anliegen in den Vordergrund, eine durch Konflikte geprägte Beziehung mithilfe einer paritätischen Ordnung zu pazifizieren. Durchaus zutreffend war später davon die Rede, mit Hinzutritt der Verbände der Leistungserbringer weite sich in der sozialen Krankenversicherung die Selbstverwaltung zu einer „