Kooperation und Effizienz im Dienste des Eroberungskrieges: Die Organisation von Arbeitseinsatz, Soldatenrekrutierung und Zwangsarbeit in der Region Chemnitz 1939 bis 1945 [1 ed.] 9783666369735, 9783525369739

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Kooperation und Effizienz im Dienste des Eroberungskrieges: Die Organisation von Arbeitseinsatz, Soldatenrekrutierung und Zwangsarbeit in der Region Chemnitz 1939 bis 1945 [1 ed.]
 9783666369735, 9783525369739

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Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann Band 61

Vandenhoeck & Ruprecht

Silke Schumann

Kooperation und Effizienz im Dienste des Eroberungskrieges Die Organisation von Arbeitseinsatz, ­Soldatenrekrutierung und Zwangsarbeit in der ­Region Chemnitz 1939 bis 1945

Vandenhoeck & Ruprecht

Umschlagabbildung: Torpedofertigung bei der Auto Union AG im Werk Horch (Zwickau), ca. 1941. Quelle: Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Chemnitz, 31050 Auto Union AG Chemnitz, Nr. 7716, Bl. 273 Das Werk wurde für diese Veröffentlichung überarbeitet. / This dissertation has been revised for publication. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2197–0971 ISBN 978–3–666–36973–5 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. Mit 10 Tabellen. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorheri­gen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden

Inhalt I.

Einleitung 1. Fragestellung und Forschungsstand 2. Quellenlage

II. Die Region Chemnitz 1. Abgrenzung und Binnenstruktur 2. Wirtschaftliche Entwicklung bis zum Kriegsbeginn III. Für die Arbeitskräftelenkung zuständige regionale Institutionen und Behörden 1. 2. 3.

Die Arbeitsämter Das Rüstungskommando Chemnitz und die Rüstungsinspektion IV/IVa Die Industrie- und Handelskammer Chemnitz

IV. Im Schatten des Krieges: Arbeitskräftelenkung und Industriearbeit bis zum Sommer 1942 1. 2.

Die regionale Industrie zwischen Export und Rüstungsfertigung Arbeitskräfteentzug durch Einberufungen und der Schutz der Rüstungsproduktion 2.1 Das Uk-Stellungsverfahren 2.2 Stillhalteabkommen und Spezialbetriebsschutz 2.3 Die „Freimachungsausschüsse“ 2.4 Bilanz der Einberufungen bis zum Sommer 1942 3. Arbeitskräftefluktuation: Versetzungen, Auskämmungen und Stilllegungen 3.1 Ängste vor Arbeitslosigkeit und Stilllegungen bei Kriegsbeginn 3.2 Die Arbeitsamtskommissionen in den Jahren 1939 und 1940 3.3 Soldaten auf „Arbeitsurlaub“

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Inhalt

3.4 Die misslungene Stilllegungskampagne im Frühjahr 1940 3.5 Die Tätigkeit der Todt’schen Auskämmungskommissionen bis Mitte 1941 3.6 Friedensburgs Kritik an der „Rüstungsumsteuerung“ 3.7 Stilllegungen in der Konsumgüterindustrie in den Jahren 1941 bis 1942 3.8 Bilanz der Auskämmungen und Stilllegungen 1939 bis 1942 4. Zwangsarbeit: Kriegsgefangene und zivile ausländische Arbeitskräfte 5. Frauenarbeit in der Industrie V.

„Industrieller Luftschutzkeller“: Arbeitskräftelenkung und Industriearbeit vom Sommer 1942 bis zum Sommer 1944 1. Die Entwicklung der Rüstungsfertigung 2. Umorganisationen in der Rüstungswirtschaft 2.1 Die Entstehung der Rüstungskommission IV/IVa 1942 2.2 Die Umstrukturierung der Rüstungslenkung 1943 3. Arbeitskräfteentzug: Einberufungen contra Intensivierung der Rüstung 3.1 Die Winterkrise 1942/43 und die Sondereinziehungsaktionen 1943/44 3.2 Die Rekrutierung von Frauen als Wehrmachtshelferinnen 3.3 Das „Kalender“-Aufgebot Ende 1943 4. Zwangsarbeit: Die Entwicklung des Ausländereinsatzes 5. Die Rassengesellschaft im Betrieb: Lebens- und Arbeitsverhältnisse ausländischer Zwangsarbeiter am Beispiel der „Ostarbeiter“ 5.1 Die sowjetische Bevölkerung in der NS-Ideologie 5.2 Der physische Bewegungsspielraum 5.3 Die materielle Versorgung 5.4 Arbeitsbedingungen und Löhne 5.5 Disziplinierung und Auflehnung 5.6 Geburt und Mutterschaft 6. „Bedarfsinflation“: Der Kampf um die Reduzierung des Arbeitskräftebedarfs

120 124 137 149 159 162 177

195 195 206 206 211 214 214 228 231 234

240 242 250 257 271 281 289 302

Inhalt



7. Die Mobilisierung von Frauen und die Meldepflichtverordnung 8. Stilllegungen und Auskämmungen 8.1 Der Schutz der regionalen Wirtschaft und die Stilllegungen im Frühjahr 1943 8.2 Die „Auskämmung des zivilen Sektors“ (AZS) 1943 8.3 Die Wissmann-Aktion 8.4 Die Entwicklung des Arbeitskräftebedarfs bis zum Sommer 1944 und der Facharbeitermangel 9. Kriegsbedingter Strukturwandel und soziale Folgen

VI. Allmähliche Auflösung und Kriegsende (Sommer 1944 bis Frühjahr 1945) 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Die militärische und kriegswirtschaftliche Situation im Sommer 1944 Konflikte auf der Mittelebene Einberufungen: Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“ Auskämmungen und Betriebsumsetzungen ab Sommer 1944 Zwangsarbeit: KZ-Häftlinge in der Rüstungswirtschaft Bombenkrieg und Verinselung: Kriegswirtschaft und Arbeitskräftelenkung im Zusammenbruch

7 310 319 319 323 328 349 354

361 361 363 367 372 376 383

VII. Resümee

395

VIII. Anhang

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1. 2. 3. 4. 5. 6.

411 414 416 433 434 436

Abkürzungsverzeichnis Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Tabellenverzeichnis Personenverzeichnis Danksagung

I.

Einleitung

1.

Fragestellung und Forschungsstand

Die menschliche Arbeitskraft war für das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg eine überaus knappe Ressource. Genügend Soldaten für die Front und ausreichend Arbeiter für die Rüstungsproduktion zu mobilisieren war eine notwendige Voraussetzung für den Raub- und Eroberungskrieg der Nationalsozialisten. Millionen Männer mussten ihre Arbeitsplätze verlassen, um zur Wehrmacht eingezogen zu werden. Um sie zu ersetzen und die Zahl der Beschäftigten in der Rüstungswirtschaft zu steigern, veranlasste das Regime die Stilllegung von weniger kriegswichtigen Unternehmen und versetzte Arbeiter von der Konsumgüterin die Rüstungsproduktion. Es versuchte verstärkt, Frauen für eine Tätigkeit in der Industrie zu gewinnen, und setzte schließlich Millionen von ausländischen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen ein.1 Die gleichzeitige Befriedigung des Kräftebedarfs der Front und der Kriegswirtschaft war eine entscheidende Herausforderung für das nationalsozialistische Regime. Gleichzeitig musste es die dadurch entstehenden Belastungen für die einheimische Bevölkerung dosieren, um deren Unterstützung zu erhalten. Die Analyse der Arbeitseinsatzpolitik und ihrer organisatorischen Umsetzung in der Region ist daher von zentraler Bedeutung für die Beantwortung der Frage, wie es den Nationalsozialisten gelang, den Krieg bis zur vollständigen Besetzung Deutschlands durch die alliierten Truppen fortzuführen. Die bisherige Literatur ist in dieser Hinsicht meist wenig aufschlussreich. Vielmehr steht das Bild der ausgeprägten organisatorischen Ineffizienz, das viele Studien von der Arbeitseinsatzpolitik zeichnen, in krassem Gegensatz zum Durchhaltevermögen des NS-Regimes. Die meisten Untersuchungen betonen, zumindest implizit an die Polykratiethesen Martin Broszats, Hans Mommsens und Peter Hüttenbergers anknüpfend,2 konkurrierende Führungsstrukturen, 1

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Vgl. Bernhard R. Kroener/Rolf-Dieter Müller/Hans Umbreit, Zusammenfassung. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Band 5/1: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1939–1941, Stuttgart 1988, S. 1003–1016, hier 1012–1015; dies., Zusammenfassung. In: ebd., Band 5/2: Organisation und Mobilisierung des deutschen Machtbereichs. Kriegsverwaltung, Wirtschaft und personelle Ressourcen 1942–1944/45, Stuttgart 1999, S. 1003–1022, hier 1018–1021; Michael Schneider, In der Kriegsgesellschaft. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1939–1945, Bonn 2014, S. 151 f. Dieses Werk konnte wie alle ab 2014 erschienenen Studien nur punktuell ausgewertet werden, da es erst während der Drucklegung erschien. Vgl. Martin Broszat, Der Staat Hitlers, 12. Auflage München 1989, S. 379, 438–442; Hans Mommsen, Hitlers Stellung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hg.), Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S. 43–72, insbes. 50–69; Peter Hüttenberger: Nationalsozialistische Polykratie. In: Geschichte und Gesellschaft, 2 (1976), S. 417–442.

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Einleitung

sich überschneidende Zuständigkeiten und sich zersetzende Verwaltungsstrukturen. Die Arbeitskräftelenkung im Krieg wird als eine Folge kampagnenartig organisierter Ad-hoc-Aktionen beschrieben, die jeweils von unterschiedlichsten Stellen eingeleitet wurden und sich im Gestrüpp der ungeklärten Zuständigkeiten verloren.3 Schwerpunkte der Darstellung liegen zumeist auf den Machtkämpfen an der Reichsspitze, der Entstehung immer neuer Sonderbehörden, der fortschreitenden Erosion der Reichsbehörden und den daraus entstehenden Dysfunktionen und Effizienzmängeln bei der Rekrutierung der notwendigen Arbeitskräfte für Militär und Rüstungsindustrie.4 Der Versuch, den Widerspruch zwischen der faktischen Überlebenskraft des Regimes und den Befunden für die Reichsebene aufzulösen, führt in die Region. Hier, „im Schnittpunkt von Struktur und Erfahrung“,5 lassen sich diejenigen Faktoren auffinden, die die Stabilität des Nationalsozialismus im Krieg erklären. Hier konnten anders als auf der Reichsebene kriegswirtschaftliche Streitfragen wie „Strümpfe oder Kanonen?“6 nicht mehr durch Formelkompromisse zwischen einzelnen Herrschaftsträgern beigelegt werden. Die unteren Verwal-

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Bernhard R. Kroener, Die personellen Ressourcen des Dritten Reiches im Spannungsfeld zwischen Wehrmacht, Bürokratie und Kriegswirtschaft 1939–1942. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/1, S. 693–1001; ders., „Menschenbewirtschaftung“, Bevölkerungsverteilung und personelle Rüstung in der zweiten Kriegshälfte (1942–1944). In: ebd., Band 5/2, S. 777–1001; Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Band I: 1939–1941, Berlin (Ost) 1969; ders., Band II: 1941–1943, Berlin (Ost) 1985; ders., Band III: 1943–1945, Berlin 1996; Walter Naasner, Neue Machtzentren in der deutschen Kriegswirtschaft 1942–1945. Die Wirtschaftsorganisation der SS, das Amt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition/Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Boppard am Rhein 1994; Marie-Luise Recker, Nationalsozialistische Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg, München 1985, insbes. S. 297–299; Wolfgang Franz Werner, „Bleib übrig“. Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Düsseldorf 1983; Schneider, Kriegsgesellschaft, S. 148–277, für den allerdings die Frage nach der Effektivität des Arbeitseinsatzes nachrangig ist (S. 150); für die Gau- bzw. Landesebene siehe Roland Peter, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer ­Grenzregion im Zweiten Weltkrieg, München 1995. Vgl. Bernhard R. Kroener, Der Kampf um den „Sparstoff Mensch“. Forschungskontroversen über die Mobilisierung der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1942. In: Wolfgang Michalka (Hg.), Der Zweite Weltkrieg. Analysen, Grundzüge, Forschungsbilanz, München 1989, S. 402–417, insbes. 415; ders., Ressourcen; ders., „Menschenbewirtschaftung“, insbes. S. 779, 893; Naasner, Machtzentren, insbes. S. 472. Andreas Wirsching, Nationalsozialismus in der Region. Tendenzen der Forschung und methodische Probleme. In: Horst Möller/Andreas Wirsching/Walter Ziegler (Hg.), Natio­nalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, München 1996, S. 25–46, hier 38; vgl. auch Michael Schwartz, Regionalgeschichte und NS-Forschung. Über Resistenz und darüber hinaus. In: Edwin Dillmann (Hg.), Regionales Prisma der Vergangenheit. Perspektiven der modernen Regionalgeschichte (19./20. Jahrhundert), St. Ingbert 1996, S. 197–218, hier 199 f. IHK Chemnitz, Linse, am 27.1.1943, Aktennotiz betr. Januar-Aktion 1943, S. 2 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.).

Fragestellung und Forschungsstand

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tungs- und Lenkungsinstanzen hatten die häufig wechselnden und selten klar formulierten Prioritäten des Regimes und seiner unterschiedlichen Sonderverwaltungen zu interpretieren und in einer Gemengelage widerstreitender lokaler und regionaler Interessen durchzusetzen. Letzten Endes entschieden Aushandlungsprozesse auf dieser Ebene darüber, ob das Regime seine Ressourcen effizient organisieren und die Weiterführung des Krieges sicherstellen konnte. Die vorliegende Studie untersucht daher am Beispiel der Region Chemnitz erstmals systematisch die Umsetzung der Arbeitskräftelenkung auf lokaler Ebene. Das Untersuchungsgebiet ist der Regierungsbezirk Chemnitz. Der industrielle Kernraum der Region, der das Gebiet der Stadt Chemnitz und auch der Stadt Siegmar-Schönau umfasst, steht dabei im Mittelpunkt.7 Zwar liegen einzelne Erkenntnisse aus der umfangreichen heimat- und lokalgeschichtlichen Forschung des Chemnitzer Raums 8 sowie aus der Unternehmensgeschichte9 vor, es fehlte jedoch bislang nicht nur für Chemnitz, sondern auch für andere Reichsgebiete eine Untersuchung, die die einzelnen Aspekte der Arbeitskräftelenkung systematisch zueinander in Beziehung setzt, die einzelne Informationen etwa über die Organisation von Arbeitsämtern oder über ein Treffen von Auskämmungskommissionen mit Unternehmensmanagern in den Gesamtzusammenhang der Arbeitskräftelenkung durch die unteren Verwaltungsebenen einordnet. Dabei bezieht die Untersuchung auch das bisher kaum untersuchte Wehrersatzwesen ein,10 da die Soldateneinberufung eine wesentliche Ursache für den  7 Vgl. zur Beschreibung und Abgrenzung der Region Kap. II. 1.  8 Karlheinz Schaller, Fabrikarbeit in der NS-Zeit. Arbeiter und Zwangsarbeit in Chemnitz 1933–1945, Gütersloh 2011; ders., Die Arbeiter der Auto Union AG (1933–1945). In: Jörg Feldkamp (Hg.), 75 Jahre Auto Union. Begleitbuch anlässlich der Ausstellung „Vier Ringe für Sachsen“. 75 Jahre Auto Union“ vom 9.6.–2.9.2007 im Industriemuseum Chemnitz, Chemnitz 2007, S. 107–121; Stephan Pfalzer, Aspekte des Einsatzes von Zwangsarbeitern in Chemnitz und seinem Umland 1939–1945. In: Chemnitz in der NS-Zeit. Beiträge zur Stadtgeschichte 1933–1945, o. Hg., Leipzig 2008, S. 197–218; Verlagerter Krieg. Umstellung der Industrie auf Rüstungsproduktion im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz während des Zweiten Weltkrieges. Hg. vom Heimatverein Niederfrohna e. V., o. O. [Niederfrohna] 2011; Wolfgang Uhlmann, Die Chemnitzer Rüstungsindustrie zwischen 1935 und 1945. In: Chemnitz in der NS-Zeit, S. 173–196; ders., Chemnitzer Industrie und Wirtschaft im 20. Jahrhundert. In: Chemnitz im 20. Jahrhundert. Hg. vom Chemnitzer Geschichtsverein e. V. in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Chemnitz, Band I: Indus­ trie – Stadtentwicklung – Verkehr, Chemnitz 2000, S. 17–40.  9 Michael C. Schneider, Unternehmensstrategien zwischen Weltwirtschaftskrise und Kriegswirtschaft. Chemnitzer Maschinenbauindustrie in der NS-Zeit 1933–1945, Essen 2005; Martin Kukowski, Einführung und Hinweise. In: Findbuch zu den Beständen Auto Union AG, Horchwerke AG, Audi-Automobilwerke AG und Zschopauer Motorenwerke J. S. Rasmussen AG. Hg. vom Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz, Halle (Saale) 2000, Band 1, S. X–CXVII; ders., Die Auto Union im Zweiten Weltkrieg, ihre Zerschlagung und Reorganisation. In: Feldkamp (Hg.), 75 Jahre Auto Union, S. 85–105; ders./ Rudolf Boch, Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2014. 10 Vgl. Armin Nolzen, Von der geistigen Assimilation zur institutionellen Kooperation: Das Verhältnis zwischen NSDAP und Wehrmacht. 1943–1945. In: Jörg Hillmann/John Zimmermann (Hg.), Kriegsende in Deutschland, München 2002, S. 69–96, hier 73; ausführlich zu diesem Thema lediglich Kroener, Ressourcen; ders., „Menschenbewirtschaftung“.

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Einleitung

Arbeitskräftemangel in der deutschen Rüstungsindustrie war und die Auseinan­ dersetzungen über die Anzahl sowie die Qualifikation der einzuberufenden Soldaten sich unmittelbar auf die Zusammenarbeit der Institutionen der Arbeitskräftelenkung auswirkten. Indem die vorliegende Studie die Beschreibung der verschiedenen Strategien der Arbeitskräfterekrutierung bzw. Arbeitskräfteversetzung mit der Frage verbindet, wie effizient die Verwaltungen dabei im Sinne des Regimes agierten, erhellt sie nicht nur einen wichtigen Bereich der Kriegswirtschaft und Kriegsverwaltung, sondern versteht sich darüber hinaus als Beitrag zur Beantwortung der zentralen Frage, wie nationalsozialistische Herrschaft funktionierte und was sie bis zum Kriegsende 1945 aufrechterhielt. Theoretische Modelle wie jenes der charismatischen Herrschaft Hitlers,11 das die Integrationskraft und besondere Ausstrahlung des Diktators in den Mittelpunkt stellt, oder der „Gefälligkeitsdiktatur“, welches den materiellen Nutzen der Rassenpolitik des Regimes für den Einzelnen betont,12 sind für die Behandlung der Arbeitskräftelenkung nur von begrenztem Nutzen, nehmen sie doch eher die Stimmungslage der Bevölkerung in den Blick und weniger die Organisation des Raub- und Eroberungskrieges. Hilfreicher sind Überlegungen von Ludolf Herbst: 1999 wies er auf den Widerspruch zwischen der faktischen Leistungsfähigkeit des NS-Regimes und der polykratietheoretischen Beschreibung seiner funktionalen Strukturen als defizitär hin.13 Der Schlüssel für die Effizienz des NS-Staates liegt aus seiner Sicht darin, dass die „totalitäre Bürokratisierung“14 im Wesentlichen nur den Parteiund Sicherheitsapparat erfasste. Gerade die polykratische Struktur, so Herbsts These, könnte dafür gesorgt haben, dass andere staatliche Bereiche ein gewisses Maß an Selbstorganisationskräften behalten oder entwickeln konnten, die das bürokratische System leistungsfähig hielten.15 In eine ähnliche Richtung weisen Impulse aus verwaltungsgeschichtlichen Studien der letzten Jahre, die die Überlebensfähigkeit des Regimes, nicht zu-

11 Vgl. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus. 1933– 1944, Frankfurt a. M. 1984, insbes. S. 114–130; Ian Kershaw, Hitler. 1889–1936, Stuttgart 1998; ders., Hitler. 1936–1945, Stuttgart 2000; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 4. Band: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten. 1914–1949, München 2003, insbes. S. 600–635. Grundsätzlich zum Konzept der charismatischen Herrschaft siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe. 5., revidierte Auflage, Tübingen 1972, S. 122–124, 140–148. 12 Vgl. Götz Aly, Hitlers Volksstaat, durchges. und erweiterte Auflage Frankfurt a. M. 2006. 13 Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Herrschaftssystem als Vergleichsgegenstand und der Ansatz der Totalitarismustheorien. In: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Totalitarismus. Sechs Vorträge über Gehalt und Reichweite eines klassischen Konzepts der Diktaturforschung, Dresden 1999, S. 19–26, hier 26. 14 Herbst, Herrschaftssystem, S. 26. 15 Ebd., S. 24–26. Vgl. auch in Bezug auf das Subsystem Wirtschaft Ludolf Herbst, Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Propaganda 1939–1945, Stuttgart 1982, insbes. S. 454.

Fragestellung und Forschungsstand

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letzt unter dem Einfluss neuerer Werke der Managementlehre,16 neu beleuchtet und die Reintegrationskraft nationalsozialistischer Steuerungs- und Führungstechniken vor dem Hintergrund der unbestrittenen Polykratiebefunde der älteren Forschung17 stärker betont haben.18 Für die kommunale Verwaltung in Augsburg hat beispielsweise Bernhard Gotto auf das geradezu „symbiotische“ Zusammenspiel der unteren Partei- und Verwaltungsebenen verwiesen, das zu einer „kaum zu erschütternden Stabilität“ des Nationalsozialismus vor Ort geführt habe19 und das trotz zahlreicher Meinungsverschiedenheiten zwischen den Protagonisten insbesondere in der Kriegszeit bürokratische Überregulierungen und Fehlleistungen lange korrigieren konnte.20 Wolf Gruner betont die intensive Vernetzung der kommunalen Verwaltungsfachleute untereinander, die sie unter anderem zu einer effizienten Verfolgung von Juden und anderer im Nationalsozialismus unerwünschten Volksgruppen nutzten.21 Bei einer Analyse der Arbeitseinsatzpolitik der Nationalsozialisten in der Region Chemnitz sind daher nicht nur die Effizienzdefizite zu beschreiben, die durch das polykratische Gegeneinander der Herrschaftsträger entstanden. Das Augenmerk ist vielmehr in besonderer Weise auf diejenigen Faktoren zu legen, die die Leistungs- und Funktionsfähigkeit der regionalen und lokalen Lenkungsinstanzen im Sinne der Regimeziele, also im Sinne der Führung eines Raub- und Eroberungskrieges, gewährleisteten. Es ist zu fragen, ob und inwiefern es den unteren Verwaltungs- und Parteiinstanzen gelang, die aus dem polykratischen Gegeneinander der Herrschaftsträger im Reich resultierenden Dysfunktionen zu reduzieren oder gar abzufangen, so zum Beispiel, wenn dringende Forderungen nach der Bereitstellung neuer Soldaten für die Front mit immer neuen, sich ständig ausweitenden Bestimmungen zum Schutz der Arbeitskräfte bestimmter Rüstungsfertigungen kollidierten. Dabei ist nach Kriegsphasen zu unterscheiden und 16 Vgl. den Überblick bei Sven Reichardt/Wolfgang Seibel, Radikalität und Stabilität. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus. In: dies. (Hg.): Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 2011, S. 7–27, hier 19. 17 Vgl. für die auf der klassischen Polykratiethese beruhende Verwaltungsgeschichte Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939–1945, Stuttgart 1989. 18 Vgl. ebd.; Christiane Kuller, „Kämpfende Verwaltung“. Bürokratie im NS-Staat. In: Dietmar Süß/Winfried Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“. Eine Einführung, München 2008, S. 227–245; zu den Anfängen dieser Neuausrichtung der Verwaltungsgeschichte siehe Wolf Gruner/Armin Nolzen, Editorial. In: dies. (Hg.), Bürokratien. Initiative und Effizienz, Hamburg 2001, S. 7–15. 19 Bernhard Gotto, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006, S. 442. 20 Vgl. ebd., S. 432–434; siehe auch Sabine Mecking/Andreas Wirsching, Stadtverwaltung als Systemstabilisierung? Tätigkeitsfelder und Handlungsspielräume kommunaler Verwaltung im Nationalsozialismus. In: dies. (Hg.), Stadtverwaltung im Nationalsozialismus. Systemstabilisierende Dimensionen kommunaler Herrschaft, Paderborn 2005, S. 1–19. 21 Vgl. Wolf Gruner, Die Kommunen im Nationalsozialismus: Innenpolitische Akteure und ihre wirkungsmächtige Vernetzung. In: Reichardt/Seibel (Hg.), Staat, S. 167–211.

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Einleitung

zu überlegen, ob es einen Zeitpunkt gegen Kriegsende gegeben hat, an dem Korrekturfunktionen der unteren Ebenen nichts mehr bewirken konnten, weil die Desintegration an der Spitze des Regimes bereits zu weit vorangeschritten war. Damit eng verknüpft stellt sich die Frage nach der Autonomie der regionalen Verantwortungsträger sowie nach ihrer Fähigkeit, sich im Sinne der Überlegungen Herbsts selbst zu organisieren. Diese Frage lässt sich verbinden mit Rüdiger Hachtmanns Vorstellung einer „Neuen Staatlichkeit“,22 die sich im Dritten Reich entwickelt habe. Mit ihr versucht er „die ungeheure Dynamik und Mobilisierungsfähigkeit“23 des Regimes zu erklären. Die „Neue Staatlichkeit“ sei gekennzeichnet gewesen durch als „charismatische Verwaltungsstäbe“ agierende Sondergewalten24 und neuartige besondere Kommunikationsformen des NS-Regimes: „interinstitutionelle Koordinationsgremien, formelle und informelle ,Querverbünde‘ sowie Klubs und (Herren)Gesellschaften“.25 Lassen sich solche formellen und informellen Netzwerke und Kommunikationsformen auch bei der Organisation der Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz finden? Und schließlich: Inwieweit waren die regionalen Verantwortungsträger bereit, etwaige Freiräume in der Ausübung ihrer Tätigkeit in den Dienst des Nationalsozialismus bzw. der Kriegsführung zu stellen, also „dem Führer entgegen[zu]arbeiten“?26 Eine solche Fragestellung verlangt nach der Explikation von Effizienzkriterien, an denen der Erfolg der NS-Arbeitseinsatzpolitik gemessen wird, auch wenn die methodischen Schwierigkeiten erheblich sind. Dabei ergibt sich unter anderem das Problem, dass sich kriegswirtschaftliche Effizienz eigentlich nur anhand ihrer Produktivität bestimmen lässt, also anhand der Menge der produzierten Rüstungsgüter in Relation zu den aufgewendeten Produktionsfaktoren. Abgesehen jedoch von den methodischen und quellenmäßigen Schwierigkeiten, die sich einer exakten Messung des Rüstungsgüterausstoßes entgegenstellen,27

22 Rüdiger Hachtmann, Elastisch, dynamisch und von katastrophaler Effizienz – zur Struktur der neuen Staatlichkeit des Nationalsozialismus. In: Reichardt/Seibel (Hg.), Staat, S. 29–73; vgl. auch ders., „Neue Staatlichkeit im NS-System – Überlegungen zu einer systematischen Theorie des NS-Herrschaftssystems und ihrer Anwendung auf die mittlere Ebene der Gaue. In: Jürgen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, S. 56–79. 23 Hachtmann, Elastisch, S. 33. 24 Vgl. ebd., S. 35–59. 25 Vgl. ebd., S. 60–67, Zitat siehe 60. 26 Vgl. Kershaw, Hitler 1889–1936, S. 665–667; Bernhard Gotto, Dem Gauleiter entgegen arbeiten? Überlegungen zur Reichweite eines Deutungsmusters. In: John/Möller/ Schaarschmidt (Hg.), NS-Gaue, S. 80–99. 27 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 36 f. Die Zahlen von Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, 2. Auflage Berlin (West) 1963, die lange Zeit als Grundlage der Forschung galten, sind in jüngerer Zeit in einer Reihe von Aspekten in Zweifel gezogen worden. Vgl. Adam Tooze, No Room for Miracles. German Industrial Output in World War II reassessed. In: GG, 31 (2005), S. 339–464.

Fragestellung und Forschungsstand

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ist dieser zudem nicht nur von der Anzahl der für die Produktion zur Verfügung stehenden Arbeitskräften, sondern genauso von den verfügbaren Rohstoffen und Maschinen sowie der Arbeitsorganisation, insbesondere dem Grad der Rationalisierung der Produktion, abhängig, sodass sich hieraus ein gültiger Maßstab für die Effizienz der Arbeitseinsatzverwaltung allein nicht ableiten lässt. In der hier vorliegenden Studie werden daher folgende, in historischen Darstellungen häufig verwendete, aber selten explizit gemachte Effizienzkriterien verwendet. Erstens wird ein den Quellen inhärenter Maßstab verwendet, den bereits die handelnden Zeitgenossen benutzten: Inwieweit und wie lange gelang es den Arbeitskräftelenkungsinstanzen vor Ort, Forderungen der nächsthöheren Ebene, beispielsweise bei der Stellung von Arbeitskräftekontingenten in andere Arbeitsamtsbezirke, zu erfüllen? Welchen Erfolg hatten die Chemnitzer Instanzen im Vergleich zu anderen Regionen mit ihren Maßnahmen? Dabei ist freilich im Auge zu behalten, dass dieser quellenimmanente zeitgenössische Maßstab wenig darüber aussagt, ob die den lokalen Institutionen gestellten Aufgaben im Sinne des Ziels eines Produktivitätszuwachses der Kriegswirtschaft überhaupt sinnvoll waren. Eine Annäherung an die Frage der Effizienz der Arbeitseinsatzpolitik ermöglicht, zweitens, die Feststellung der Anzahl Arbeitskräfte, die die Arbeitseinsatz­ instanzen des Chemnitzer Raums für die Rüstungsindustrie rekrutieren konnten sowie die Behandlung der Frage, in welchem Ausmaß sie das vorhandene Arbeitskräftepotenzial überhaupt für die Kriegswirtschaft mobilisieren konnten. Letzteres Thema wird in der Forschung vor allem in Bezug auf die Frauenarbeit intensiv diskutiert, wobei häufig die Rekrutierungsfähigkeiten in den Ländern der Alliierten als Vergleichsmaßstab dienen.28

28 Vgl. Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg, Hamburg 1995; Rüdiger Hachtmann, Industriearbeiterinnen in der deutschen Kriegswirtschaft. In: GG, 19 (1993), S. 332–366; ders., „… artgemäßer Arbeitseinsatz der jetzigen und zukünftigen Mütter unseres Volkes“. Industrielle Erwerbstätigkeit von Frauen 1933 bis 1945 im Spannungsfeld von Rassismus, Biologismus und Klasse. In: Werner Röhr/Brigitte Berlekamp (Hg.), „Neuordnung“ Europas. Vorträge vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus und Weltkriegsforschung 1992–1996, Berlin 1996, S. 233–250; Richard J. Overy, „Blitzkriegswirtschaft“? Finanzpolitik, Lebensstandard und Arbeitseinsatz in Deutschland 1939–1942. In: VfZ, 36 (1988), S. 379–435, hier 425–432; Recker, Sozialpolitik, insbes. S. 74–81, 180–186, 292; Dörte Winkler, Frauenarbeit im Dritten Reich, Hamburg 1977; Stefan Bajohr, Die Hälfte der Fabrik. Geschichte der Frauenarbeit in Deutschland 1914–1945, Marburg 1979; Ludwig Eiber, Frauen in der Kriegsindustrie. Arbeitsbedingungen, Lebensumstände und Protestverhalten. In: Martin Broszat/Elke Fröhlich/Anton Großmann (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Band III: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil B, München 1981, S. 569–644, insbes. 575–582; Kroener, Ressourcen, insbes. S. 770–774, 949; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, insbes. S. 835 f., 881–884; Karen Hagemann, „Jede Kraft wird gebraucht“. Militäreinsatz von Frauen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. In: Bruno Thoß/Hans-Erich Volkmann (Hg.), Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn 2002, S. 79–106, hier 993 f.

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Einleitung

Drittens, und dieses Effizienzkriterium steht bei den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt, wird nach Handlungsmustern gesucht, die auf der Reichs­ ebene entstehende Dysfunktionen auf der lokalen Ebene mildern oder gar aufheben konnten. Dabei ist insbesondere zu untersuchen, inwieweit die lokalen Instanzen trotz der Konkurrenz der einzelnen Herrschaftsträger, sachbezogen im Sinne der Regimeziele zusammenarbeiteten. Wie gestalteten sich die Kommunikationsbeziehungen der einzelnen lokalen Institutionen wie etwa dem Rüstungskommando Chemnitz, den Wehrersatzdienststellen, den Arbeitsämtern, der Industrie- und Handelskammer Chemnitz untereinander und wie waren die Verantwortlichkeiten verteilt? In welchem Ausmaß gelang es, die zwischen den Herrschaftsträgern auf Reichsebene häufig nicht abgestimmten adhoc-Aktionen an der Basis zu koordinieren? Zu berücksichtigen ist dabei auch die Rolle der unteren NSDAP-Gliederungen, deren Herrschaftspraxis lediglich für einige Regionen außerhalb Sachsens bereits systematisch untersucht worden ist.29 Wie stark etwa die Kreisleitungen oder Ortsgruppen in die Organisation der Arbeitskräftelenkung im Krieg involviert waren,30 ist eine Frage, die wegen der nur splitterhaften Parteiüberlieferung für das Untersuchungsgebiet und für Sachsen besonders schwierig zu beantworten ist. Obwohl die Mittelinstanz, etwa die Rüstungsinspektion und ihre Einbettung in die Landes- bzw. NSDAP-Gauverwaltung, nicht das eigentliche Thema dieser

29 Konflikte mit dem Verwaltungsapparat, vor allem in Auseinandersetzung mit den Land­ räten, berücksichtigen Claudia Roth, Parteikreis und Kreisleiter der NSDAP unter besonderer Berücksichtigung Bayerns, München 1997, S. 194–333; Christine Arbogast, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP: Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920–1960, München 1998, S. 37–73, 49–57, 99– 126; Michael Rademacher, Die Kreisleiter der NSDAP im Gau Weser-Ems, Marburg 2005, S. 344–346, 363; Sebastian Lehmann, Kreisleiter der NSDAP in Schleswig-Holstein. Lebensläufe und Herrschaftspraxis einer regionalen Machtelite, Bielefeld 2007, S. 236–313, insbes. 312 f. sowie 477–478; nicht sehr ergiebig für die hier vorliegende Studie wegen des stark gruppenbiografischen Ansatzes Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe. Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003; sowie Christine Müller-Botsch, „Den richtigen Mann an der richtigen Stelle“. Biographien und politisches Handeln von unteren NSDAP-Funktio­ nären, Frankfurt a. M. 2009. Übergreifend zur Geschichte der NSDAP vgl. Armin Nolzen, Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr, Band 9/2: Jörg Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft. 1939–1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München 2005, S. 99–193; Wolfgang Benz (Hg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009; für die Geschichte der Ortsgruppen einschlägig Carl-Wilhelm Reibel, Das Fundament der Diktatur. Die NSDAP-Ortsgruppen. 1932–1945, Paderborn 2002. 30 Vgl. dazu bisher Peter, Rüstungspolitik; Andreas Ruppert, „Der nationalsozialistische Geist lässt sich nicht in die Enge treiben, auch nicht vom Arbeitsamt“. Zur Auseinandersetzung zwischen dem Kreisleiter der NSDAP in Lippe und dem Leiter des Arbeitsamtes Detmold in den Jahren 1939 bis 1943. In: Lippische Mitteilungen, 62 (1993), S. 253–283.

Fragestellung und Forschungsstand

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Arbeit darstellt, so ist zur Lösung insbesondere der letztgenannten Frage eine Berücksichtigung dieser Ebene unerlässlich, vor allem angesichts des nahezu völligen Fehlens von Forschungsergebnissen zur politischen Geschichte des Gaues Sachsen während der Kriegszeit31 wie auch der ungünstigen Forschungslage zu anderen Ländern und Gauen.32 Um die Prozesse auf den unteren Verwaltungsebenen nicht isoliert und ohne Rückkoppelung an zentrale Entscheidungen zu schildern, nimmt in der vorliegenden Studie das Geschehen auf der Rüstungsbezirks- bzw. Landes- und Gauebene einen vergleichsweise großen Raum ein. Die Studie fragt nach der Bedeutung von Entscheidungsprozessen und institutionellen Veränderungen in den mittleren Verwaltungsinstanzen für die unteren Instanzen in der Region Chemnitz, nach den Kommunikationsbeziehungen zwischen beiden Ebenen und nach deren Veränderungen im Laufe des Zweiten Weltkrieges. Nützlich waren dafür die Untersuchung von Roland Peter zur Kriegswirtschaft in Baden, die allerdings noch stark der klassischen Polykratietheorie verpflichtet ist, und die Struktur- und Funktionsgeschichte des Gaues Thüringen, mit der Markus Fleischhauer die Impulse der neueren Verwaltungsgeschichte aufnimmt.33 Verwaltung und Gesellschaft stehen in einem engen Bezug zueinander. Das gilt insbesondere für die unteren Verwaltungs- und Lenkungsinstanzen. Zwar waren die lokalen Verwaltungen Teil des NS-Herrschaftsapparates. Sie waren aber auch Teil der lokalen Gesellschaft und ihre Mitarbeiter nicht selten Teil der lokalen Eliten. Darüber hinaus wurden sie immer wieder mit den Reaktionen einzelner Bevölkerungsgruppen auf staatliche Lenkungsmaßnahmen direkt konfrontiert. Sie waren daher in einem hohen Maße Vermittlungsinstanzen zwischen dem Herrschaftsapparat und der Kriegsgesellschaft. Deshalb lässt sich über ihr Handeln auch die Kriegsgesellschaft analysieren, die geprägt war von der Vorbereitung, dem Verlauf und den Konsequenzen der Kampfhandlungen sowie von der Tatsache, dass der Krieg das NS-Regime radikalisierte und ihm

31 Vgl. Andreas Wagner, Partei und Staat. Das Verhältnis von NSDAP und innerer Verwaltung im Freistaat Sachsen 1933–1945. In: Clemens Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002, S. 41–56, hier 53–56; ders., Martin Mutschmann. Der braune Gaufürst (1933–1945). In: Mike Schmeitzner/Andreas Wagner (Hg.), Von Macht und Ohnmacht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919–1952, Beucha 2006, S. 279–308, hier 302–306; Thomas Schaarschmidt, Die regionale Ebene im zentralistischen „Führerstaat“ – das Beispiel des NS-Gaus Sachsen. In: Michael Richter/Thomas Schaarschmidt/Mike Schmeitzner (Hg.), Länder, Gaue und Bezirke. Mitteldeutschland im 20. Jahrhundert, Dresden 2007, S. 125–140; Mike Schmeitzner, Der Fall Mutschmann. Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, Beucha 2011, insbes. S. 47. 32 Vgl. Thomas Schaarschmidt, Regionalität im Nationalsozialismus – Kategorien, Begriffe, Forschungsstand. In: John/Möller/Schaarschmidt (Hg.), NS-Gaue, S. 13–21, hier 19 f.; Jürgen John, Die Gaue im NS-System. In: ebd., S. 22–55, hier 26–29; Markus Fleischhauer, Der NS-Gau Thüringen 1939–1945. Eine Struktur- und Funktionsgeschichte, Köln 2010, S. 7–15. 33 Vgl. Peter, Rüstungspolitik; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen.

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Einleitung

die Umsetzung rassistischer nationalsozialistischer Gesellschaftsvorstellungen in einer vorher nicht vorstellbaren Konsequenz und Grausamkeit ermöglichte.34 Dies war auch in der Region Chemnitz zu spüren, selbst wenn der Kriegsalltag in der sächsischen Provinz im Vergleich zu den besetzten Gebieten Osteuropas oder den früh vom Luftkrieg betroffenen Reichsgebieten bis zu den ersten verheerenden Bombenangriffen im Sommer 1944 vergleichsweise normal verlief. Der Kriegsgesellschaft in der Region Chemnitz wird in der Studie, ausgehend von der Arbeitskräftelenkung in drei Aspekten nachgespürt: Erstens ist zu fragen, inwieweit die Praxis der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung von gesellschaftlichen Dimensionen geprägt war. Roland Peter hat bereits für die mittlere Verwaltungsebene darauf hingewiesen, dass die geschilderten poly­ kratischen Konkurrenzphänomene sowie Rücksichtnahmen auf regionale Gegebenheiten zwar ökonomische Ineffizienzen bewirkten, auf der gesellschaftlichen Ebene aber gerade dadurch zur Stabilisierung der „Heimatfront“ und damit des NS-Regimes beitrugen.35 Lassen sich solche Stabilisierungsmechanismen auch im Arbeitseinsatz der Region Chemnitz ausmachen? Wie gingen die mit der Arbeitskräftelenkung befassten Institutionen mit den Reaktionen aus der Bevölkerung oder aus den Unternehmen um? Waren Inkonsequenzen bei der Durchsetzung zentraler Vorgaben nicht mitunter nur auf den ersten Blick effizienzmindernd, auf den zweiten Blick aber in der Gemengelage widerstreitender lokaler Interessen und Traditionen nicht vielmehr der gangbarste und damit auch ökonomisch der Erfolg versprechendste Weg? Zweitens, und hier verlässt die Studie die Ebene des Verwaltungshandelns, ist zu prüfen, wie sich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft in der R ­ egion, in den einzelnen Wirtschaftsbranchen und ihren Unternehmen veränderte. Was war das Resultat des kriegsalltäglichen Handelns von Verwaltungen, Unternehmen und den betroffenen Arbeiterinnen und Arbeitern? Diese Frage wird modellhaft anhand der Mitarbeiter der maßgebenden industriellen Branchen in der Region, der Metall- bzw. Maschinenbauindustrie als Vertreter eines rüstungsrelevanten Industriezweiges und der Textilindustrie als klassischem Konsumgüterzweig behandelt. Drittens schließlich wird am Beispiel der sowjetischen Zwangsarbeiter in der Region Chemnitz die Radikalisierung der „Rassengesellschaft im Krieg“ veranschaulicht. Ohne das millionenfache Heer der Zwangsarbeiter, wären

34 Jörg Echternkamp, Der Kampf an der inneren und äußeren Front. Grundzüge der Gesellschaft im Zweiten Weltkrieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/1: ders. (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft 1939–1945. Politisierung, Vernichtung, Überleben, S. 1–92, hier 2–4; Dietmar Süß/Winfried Süß, „Volksgemeinschaft“ und Vernichtungskrieg. Gesellschaft im nationalsozialistischen Deutschland. In: dies. (Hg.), Das „Dritte Reich“, S. 79–100, hier 93–98; vgl. auch Karen Hagemann, Heimat – Front. Militär, Gewalt und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. In: dies./Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), Heimat – Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a. M. 2002, S. 12–52, hier 30–35. 35 Peter, Rüstungspolitik, S. 366.

Fragestellung und Forschungsstand

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alle Anstrengungen der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung sehr früh zum Scheitern verurteilt gewesen. Die Zwangsarbeit zählt inzwischen zu einem der am besten erforschten Themen der Geschichte des Zweiten Weltkrieges.36 Auch liegen zur Ausbeutung von zivilen ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen in der Region Chemnitz bereits einige Erkenntnisse aus der Lokalgeschichtsschreibung vor.37 Vergleichsweise intensiv erforscht ist überdies die 36 Vgl. die Literaturübersichten von Fabian Lemmies, „Ausländereinsatz“ und Zwangsarbeit im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Neuere Forschungen und Ansätze. In: AfS, 50 (2010), S. 395–444; Manfred Grieger, Industrie und Zwangsarbeitersystem. Eine Zwischenbilanz. In: Zwangsarbeiterforschung in Deutschland. Das Beispiel Bonn im Vergleich und im Kontext neuerer Untersuchungen. Hg. von Dittmar Dahlmann, Albert S. Kotowski, Norbert Schloßmacher und Joachim Scholtyseck, Essen 2010, S. 87–99; Constantin Goschler, Sklaven, Opfer und Agenten. Tendenzen der Zwangsarbeiterforschung. In: Norbert Frei/Tim Schanetzky (Hg.), Unternehmen im Nationalsozialismus. Zur Historisierung einer Forschungskonjunktur, Göttingen 2010, S. 116–132; Jens Binner, NS-Besatzungspolitik und Zwangsarbeit. Ideologie und Herrschaftspraxis. In: Zeitschrift für Weltgeschichte, 12 (2011) 1, S. 67–90. Siehe auch Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte. Ein Projekt der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum (http://www.zwangsarbeit-archiv.de; 17.2.2014); Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „AusländerEinsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, 2. Auflage Berlin 1986; Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart 2001, in überarbeiteter Form erschienen als ders., Die soziale Differenzierung der ausländischen Zivilarbeiter, Kriegsgefangenen und Häftlinge im Deutschen Reich. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2: Jörg Echternkamp (Hg.), Die deutsche Kriegsgesellschaft. 1939–1945. Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München 2005, S. 485–576, hier 488; Ela Hornung/Ernst Lang­thaler/ Sabine Schweitzer, Zwangsarbeit in der Landwirtschaft. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 577–666; Oliver Rathkolb, Zwangsarbeit in der Industrie. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 667–727. Zu den Kriegsgefangenen siehe Rüdiger Overmans, Die Kriegsgefangenenpolitik des Deutschen Reiches 1939–1945. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 729–875; zur wirtschaftlichen Ausbeutung von Konzentrationslagerhäftlingen siehe Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003; Jan Erik Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung. Das Wirtschaftsimperium der SS. Oswald Pohl und das Wirtschaftsverwaltungshauptamt 1933–1945, Paderborn 2001; Naasner, Kriegswirtschaft, S. 197–443; zum Land Sachsen vgl. Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen 1939–1945. Beiträge eines Kolloquiums in Chemnitz am 16. April 2002 und Begleitband einer Gemeinschaftsausstellung der sächsischen Staatsarchive. Hg. vom sächsischen Staatsministerium des Innern, Halle (Saale) 2002. 37 Vgl. Steffen Krannich, Die Ausbeutungs- und Unterdrückungspolitik des faschistischen deutschen Imperialismus gegenüber ausländischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen während des Zweiten Weltkriegs, dargestellt am Beispiel von Chemnitzer Betrieben. In: Beiträge zur Heimatgeschichte von Karl-Marx-Stadt, 22 (1978), S. 39–55; Pfalzer, Aspekte, S. 197–218; Klaus Müller, Zwangsarbeit im Werkzeugmaschinenbaubetrieb „Deutsche NILES-Werke AG“, Siegmar-Schönau. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, S. 63–72; Schaller, Fabrikarbeit, S. 118–131; Horst Kühnert, Ausländische Zwangsarbeiter in Mittweidaer Betrieben. In: Verlagerter Krieg, S. 50–54; zur Auto Union vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 239–318, 413–431; Franziska Hockert, Zwangsarbeit bei der Auto Union: Eine Fallstudie der Werke Audi und Horch in Zwickau, Hamburg 2012. Siehe auch die Lebenserinnerungen von Inge Auerbacher, die als Kind mit ihren Eltern in F ­ reiberg

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Einleitung

Zwangsarbeit der Konzentrationslagerhäftlinge in der Region.38 Doch hier werden die menschenverachtenden Auswirkungen des landläufig nicht selten als fachlich und damit mutmaßlich neutral eingestuften Verwaltungshandelns im rassistischen Unrechtsstaat besonders deutlich. Die Darstellung legt den Schwerpunkt auf einige bisher weniger ausgeleuchtete Aspekte des Themas: Neben den quantitativen Dimensionen der Zwangsarbeitereinsatzes in der Region steht vor allem die Einbettung der Zwangsarbeit in den Gesamtkontext der regionalen Arbeitskräftelenkung im Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeit gilt den „Ostarbeitern“, da sie die größte Gruppe unter den in der Region eingesetzten Zwangsarbeitern waren.39 Dabei verknüpft und Chemnitz Zwangsarbeit leisten musste; Inge Auerbacher/Bozenna Urbanowicz ­Gilbride, Verlorene Kindheit. 1938–1945, Chemnitz 2012, S. 29–44. Einen Überblick über die unternehmensbezogenen Archivbestände gibt Klaus Müller, Zwangsarbeit in Süd-Westsachen und ihre Widerspiegelung in den Wirtschaftsbeständen des Sächsischen Staatsarchivs Chemnitz. In: Reininghaus/Reimann, Zwangsarbeit, S. 236–242. Für eine Zusammenfassung der in dieser Arbeit behandelten quantitativen Aspekte des Zwangsarbeitereinsatzes in der Region Chemnitz vgl. Silke Schumann, Zivile ausländische Arbeiter und Kriegsgefangene in der Region Chemnitz. Zu den quantitativen Dimensionen des nationalsozialistischen Zwangsarbeitereinsatzes. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, S. 49–56. 38 Vgl. zu den Lagern der Region Ulrich Fritz, Chemnitz. In: Wolfgang Benz/Barbara Diestel (Hg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 4: Flossenbürg. Mauthausen. Ravensbrück, München 2006, S. 80–82; ders., Flöha. In: ebd., S. 109–112; ders., Hohenstein-Ernstthal. In: ebd., S. 147–149; ders., Mülsen St. Micheln. In: ebd., S. 203–206; ders., Oederan. In: ebd., S. 219–223; ders., Siegmar-Schönau. In: ebd. S. 256–258; ders., Venusberg. In: ebd., S. 263–266; ders., Wilischthal. In: ebd., S. 267–270; ders., Zschopau. In: ebd. S. 279–281; Pascal Cziborra, Frauen im KZ. Möglichkeiten und Grenzen der historischen Forschung am Beispiel des KZ Flossenbürg und seiner Außenlager, Bielefeld 2010; ders., KZ Oederan. Verlorene Jugend, Bielefeld 2008; ders., KZ Venusberg. Der verschleppte Tod, Bielefeld 2008; ders., KZ Wilischthal. Unter Hitlerauges Aufsicht, Bielefeld 2007; ders., KZ Zschopau. Sprung in die Freiheit, Bielefeld 2005; Hans Brenner/Michael Düsing, Zur Geschichte der Außenlager des KZ Flossenbürg in Freiberg und Oederan. In: Michael Düsing (Hg.), Wir waren zum Tode bestimmt. Lódz – Theresienstadt – Auschwitz – Freiberg – Oederan – Mauthausen. Jüdische Zwangsarbeiterinnen erinnern sich, Leipzig 2002, S. 21–37; Hans Brenner, Der „Arbeitseinsatz“ der KZ-Häftlinge in den Außenlagern des Konzentrationslagers Flossenbürg – ein Überblick. In: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Band II, Frankfurt a. M. 2002, S. 682–706; Karl-Heinz Gräfe/Hans-Jürgen Töpfer: Ausgesondert und fast vergessen. KZ-Außenlager auf dem Territorium des heutigen Sachsen, Dresden 1996; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 369–412; siehe zur Organisationsgeschichte der Konzentrationslager allgemein Benz/Diestel (Hg.), Ort, Band 1: Die Organisation des Terrors, München 2005; Herbert/Orth/Dieckmann (Hg.): Konzentrationslager; Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999. 39 Vgl. zum Thema „Ostarbeiter“ Jens Binner, „Ostarbeiter“ und Deutsche im Zweiten Weltkrieg. Prägungsfaktoren eines selektiven Deutschlandbildes, München 2008; Alexander Plato/Almut Leh/Christoph Thonfeld (Hg.), Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien 2008; Julia Hildt, Zwangsarbeiterinnen, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus der Sowjetunion in Bonn. In: Zwangsarbeiterforschung in Deutschland. Das Beispiel Bonn im Vergleich und im Kontext neuerer

Quellenlage

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die Darstellung die Bilder, welche die nationalsozialistische Propaganda vom sowjetischen Staat40 und seiner Bevölkerung zeichnete, mit der Arbeits- und Lebenswirklichkeit der in der Region Chemnitz eingesetzten Zwangsarbeiter. Eine Fallstudie zu zwei firmeneigenen Entbindungslagern für „Ostarbeiterinnen“ wirft darüber hinaus ein Schlaglicht auf bisher kaum beschriebene Unternehmensstrategien zur Sicherung von Arbeitskräften sowie das bisher weniger untersuchte Schicksal von schwangeren Müttern, Säuglingen und Kleinkindern.41

2. Quellenlage Die Quellenlage zum behandelten Thema ist komplex. Ein Teil der relevanten Bestände wie beispielsweise derjenige des Arbeitsamtes Chemnitz oder der Wehrersatzbehörden in der Region ist fast vollständig verloren gegangen. Daher stützt sich die Arbeit in wesentlichen Punkten auf zwei zentrale Bestände wichtiger Akteure der Arbeitskräftelenkung. Dies sind erstens die Unterlagen der Industrie- und Handelskammer Chemnitz im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden (SächsHStAD), heute im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz (StAC). Sie enthalten umfangreiche Überlieferungen zur NS-Arbeitskräftelenkung im gesamten Regierungsbezirk Chemnitz. Darunter sind die nahezu komplette Sammlung der monatlichen Berichte der Arbeitsämter der Region zwischen 1939 und 1943 sowie die umfangreichen Handakten des „Kräftebedarfsreferenten“ Walter Linse (1903–1953) zur Beteiligung der Kammer bei Stilllegungsund Auskämmungsaktionen besonders aufschlussreich. Der zweite für diese Arbeit zentrale Bestand besteht im Kriegstagebuch des Rüstungskommandos Chemnitz im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA Freiburg), das umfangreiche Informationen zur Organisation der Kriegswirtschaft im Rüstungsbereich Chemnitz (Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau) liefert. Ergänzende Informationen birgt der ebenfalls dort liegende Bestand der Rüstungsinspektion IV/IVa, die für Sachsen bzw. zeitweise auch für Teile Sachsen-Anhalts zuständig war. Außerdem wurden für Hintergrundinformationen vor allem der dortige Bestand des Wehrwirtschafts- und ­Rüstungsamtes des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) sowie einzelne Personalakten herangezogen. Für einzelne Fragestellungen enthielten die Firmenüberlieferungen im Sächsischen Staatsarchiv Chemnitz wichtige Quellen. Die Auswertung konzentrierte Untersuchungen. Hg. von Dittmar Dahlmann, Albert S. Kotowski, Norbert Schloßmacher und Joachim Scholtyseck, Essen 2010; Hans F. W. Gringmuth, Zwangsarbeit in Lippe. Zum Verhalten von Firmenleitungen lippischer Betriebe gegenüber „Ostarbeiterinnen“ (1942–1944). In: Ingo Kolboom/Andreas Ruppert (Hg.), Zeit-Geschichten aus Deutschland, Frankreich, Europa und der Welt. Lothar Albertin zu Ehren, Lage 2008, S. 305–318. 40 Vgl. Wolfram Wette, Das Russlandbild in der NS-Propaganda. Ein Problemaufriss. In: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Das Russlandbild im Dritten Reich, Köln 1994, S. 55–78. 41 Zum Forschungsstand vgl. Spoerer, Differenzierung, S. 565, Kap. V. 5. 6.

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Einleitung

sich dabei vor allem auf die für die Region zentralen Branchen des Maschinenund Kraftfahrzeugbau sowie der Textilfertigung. Besonders aufschlussreich waren die umfangreichen Akten der Auto Union AG, der Maschinenfabrik Kappel GmbH oder der Wanderer-Werke AG. Die Überlieferungen der oft kleineren Textilfirmen sind bruchstückhafter, dafür in Einzelaspekten teilweise sehr aussagekräftig, wie beispielsweise die Unterlagen zur Zwangsarbeit russischer und polnischer Arbeiterinnen der VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha bzw. ihrer Vorgängerfirmen. Demgegenüber haben sich die Bestände der Kreishauptmannschaft (des Regierungsbezirks) Chemnitz und der nachgeordneten Amtshauptmannschaften (Kreise) im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Chemnitz für das hier behandelte Thema als weitgehend unergiebig erwiesen. Weitere Bestände wie beispielsweise diejenigen des Gewerbeaufsichtsamtes Chemnitz, des sächsischen Wirtschaftsministeriums sowie eine splitterhafte Überlieferung zu den sächsischen Arbeitsämtern enthielten punktuell wichtige Informationen. Ergänzende Erkenntnisse konnten aus den Resten der Überlieferung des Arbeitsamtes Chemnitz und den Unterlagen des Rates der Stadt Chemnitz gewonnen werden, welche das Stadtarchiv Chemnitz aufbewahrt. Schließlich wurden im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde der Bestand des Reichsarbeits-, des Reichswirtschaftsministeriums und des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition bzw. für Rüstung und Kriegsproduktion (Ministerium Speer) und Bestände des ehemaligen Berlin Document Center (BDC) herangezogen. Bei den gedruckten Quellen ist vor allem die verwaltungsinterne Zeitschrift „Der Arbeitseinsatz in Sachsen“42 mit umfangreichen und detaillierten Statistiken bis hinunter auf die Ebene der Arbeitsämter zu erwähnen sowie das ebenfalls behördeninterne Pendant „Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich“43 für die Reichsebene. In diesen Zeitschriften findet sich, u. a. mit den Arbeitsbuchstatistiken, für die Zeit bis in das Jahr 1944 hinein lange unterschätztes Zahlenmaterial zur Arbeitskräfteentwicklung. Aufgrund der negativen Einschätzung der Arbeitsbuchstatistiken durch das USS Bombing Survey44 dominierten in der Forschung lange die als zuverlässiger geltenden Zahlen von Rolf Wagenführ, dem Statistiker im Planungsamt des Speerministeriums, die sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse der „kriegswirtschaftlichen Kräftebilanz“ sowie auf die „Kräftebilanz der Industrie“ des Statistischen Reichsamtes stützen.45 Adam Tooze, Jonas Scherner und Jochen 42 Der Arbeitseinsatz in Sachsen (bis 1934 erschienen als „Der Arbeitsmarkt in Sachsen“, 1934–1938 als „Mitteilungsblatt des Landesarbeitsamtes Sachsen“), 1930–1944. 43 Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich (ab 1943 erschienen als „Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich“), 1938–1945. 44 Vgl. The Effects of Strategic Bombing on the German War Economy. Hg. von der United States Strategic Bombing Survey, Overall Economic Effects Division am 31.10.1945, S. 199 (http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=mdp.39015017684799;view=1up;seq=7; 7.12.1015). 45 Vgl. Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945, 2. Auflage Berlin (West) 1963, S. 137.

Quellenlage

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Streb haben kürzlich durch eine umfassende quellenkritische Bewertung die Problematik dieses Zahlenmaterials offengelegt und seine oftmals unkritische Übernahme durch die historische Forschung bemängelt.46 Die Arbeitsbuchstatistiken fanden demgegenüber bisher wenig Verwendung.47 Doch anders als die USS Bombing Survey unterstellt,48 konnten die Arbeitseinsatzstatistiker im Zweiten Weltkrieg sehr wohl zwischen unselbstständigen Arbeitnehmern, Selbstständigen und mithelfenden Familienangehörigen unterscheiden, wenn auch seit 1940 nicht mehr zwischen Arbeitern und Angestellten derselben Berufsgruppe.49 Das beweisen auch die sehr detaillierten Anweisungen zur Auszählung der Arbeitsbuchkarteien. Für bestimmte Erfassungsformen wurden die Arbeitsämter sogar explizit dazu angehalten, lediglich Arbeiter und Angestellte zu zählen.50 Kleine Unschärfen werden von den Fachstatistikern in ihren Ergebnispublikationen sorglich dokumentiert.51 Sie dürften die Aussagekraft aber nur wenig geschmälert haben. Damit enthalten die Arbeitsbuchstatistiken in der Regel zuverlässiges Zahlenmaterial, das bis auf die Ebene der Arbeitsamtsbezirke hinunter Aussagen zu historischen Trends erlaubt.52

46 Vgl. Tooze, No Room; Jonas Scherner/Jochen Streb, Das Ende eines Mythos. Albert Speer und das so genannte Rüstungswunder. In: VSWG, 93 (2006), S. 172–196. 47 Als Ausnahme vgl. Mark Spoerer, NS-Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Eine Statistik vom 30.9.1944 nach Arbeitsamtsbezirken. In: VfZ, 49 (2001), S. 665–684. 48 Die Verantwortlichen hatten den Verdacht, dass die Arbeitsämter mitunter alle Arbeitsbuchinhaber gezählt und daher auch Arbeitgeber und angeblich sogar deren Familienmitglieder oder invalidisierte Arbeitnehmer in die Zahl der Arbeiter und Angestellten einbezogen hätten. Vgl. Effects, S. 199. 49 Vgl. 285/40 Umstellung des „Berufsverzeichnisses für die Statistik der Arbeitsvermittlung“ auf die Notwendigkeiten des Arbeitseinsatzes – Einordnung der Selbständigen und der mithelfenden Familienangehörigen in die Arbeitsbuchkartei. In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 2 (1940), S. 141–144, hier 143 f. (BA Berlin, R 3903, Berufskundliches Archiv, B13/176/10, unpag.). 50 Vgl. 687/40 Arbeitsbuchstatistik Abu 4. In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 2 (1940), S. 341–346 (ebd.); 575/41 Arbeitsbuchstatistik: Auszählung der beschäftigten Arbeiter und Angestellten nach Wirtschaftszweigen sowie Berufsgruppen und -arten am 15. August 1941. In: Rund­ erlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 3 (1941), S. 341–346 (ebd.); 82/42 Arbeitsbuchstatistik Abu 4b: Auszählung der beschäftigten Arbeiter und Angestellten nach Wirtschaftszweigen. In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 4 (1942), S. 44–46 (ebd.); 917/42 Anleitung für die Statistik Abu 4. In: ebd. 51 Vgl. z. B. Arbeitsbucherhebung vom 5.7.1940. Die Ergebnisse der Erhebung über die Arbeiter und Angestellten (ohne die zum Wehrdienst eingezogenen). Bearbeitet im RAM, S. 1 (BA Berlin, R 3903, Berufskundliches Archiv, B13/176/10, unpag.). Aufgrund der in Gang befindlichen Ausstellung von Arbeitsbüchern für Selbstständige und mithelfende Familienangehörige wurde hier eine geringe Anzahl dieser Personen als „Arbeiter und Angestellte“ gezählt. 52 Auf einzelne Probleme bei der Erstellung von Zahlenreihen wie abweichende Zuschnitte von Arbeitsamtsbezirken, die Miterfassung von Frontsoldaten als Arbeiter und Angestellte im ersten Kriegsjahr etc. wird bei der jeweiligen Tabelle hingewiesen.

II. Die Region Chemnitz In der historischen Fachliteratur ist der Begriff der Region nicht klar umrissen.1 Allgemein scheint sich ein Wortgebrauch durchgesetzt zu haben, der als „­ Region“ im Sinne eines Forschungsobjekts der Regionalgeschichte alle jene Gebiete bezeichnet, die größer sind als eine Kommune und kleiner als ein Staat. Dabei werden Reichs- oder Bundesländer teils mit einbezogen, teils aus der Definition auch ausgegrenzt.2 Vielfach bezieht sich der Begriff Region nicht so sehr auf die geografische Ausdehnung eines Untersuchungsgebietes, sondern wird im Hinblick auf bestimmte methodische Zugänge definiert: So werden Regionen etwa als „kleine(re), lebensweltliche, häufig wirtschaftsgeographisch umgrenzte Bereiche und Kulturräume“3 bezeichnet, bei deren Erforschung die Regionalgeschichte mit ihrer Kombination von Struktur-, Sozial- und Alltagsgeschichte ihre besonderen Stärken zur Geltung bringen kann.4 Oder die Region wird im Sinne der Kulturhistoriker als „mental map“ in den Köpfen der Menschen, also aus der Deutung der Einzelindividuen heraus konstruiert.5 Die Unschärfe des Begriffs „Region“ verweist auf das empirische Problem, für ein konkretes Forschungsvorhaben eine bestimmte Region von einer anderen abzugrenzen. Die folgende Bestimmung der Untersuchungsregion erfolgt daher pragmatisch, ausgehend von der Fragestellung der vorliegenden Studie.6

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Vgl. Otto Dann, Die Region als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: AfS, 23 (1983), S. 652–661, hier 658; Ulrike Albrecht, Zum Stellenwert der historischen Regionalforschung heute. In: Hans-Jürgen Gerhard, Struktur und Dimension. Festschrift für Karl-Heinrich Kaufhold zum 65. Geburtstag, Band 2: Neunzehntes und Zwanzigstes Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 597–608, hier 598; zu unterschiedlichen Raumdefinitionen siehe Gerd Schwerhoff, Historische Raumpflege. Der „spatial turn“ und die Praxis der Geschichtswissenschaft. In: Wilfried Reininghaus/Bernd Walter (Hg.), Räume – Grenzen – Identitäten. Westfalen als Gegenstand landes- und regionalgeschichtlicher Forschung, Paderborn 2013, S. 11–27; zum Abgrenzungs- und Methodenstreit zwischen Landes- und Regionalhistorikern vgl. Bernd Walter, Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung aus regionaler Perspektive. Bilanz und neue Herausforderungen. In: Reininghaus/Walter (Hg.), Räume, S. 29–52, hier 43–45. Vgl. Dann, Region, S. 659; Kurt Düwell, Die regionale Geschichte des NS-Staates zwischen Mikro- und Makroanalyse. Forschungsaufgaben zur „Praxis im kleinen Bereich“. In: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, 9 (1983), S. 287–344, hier 291–294; Ulrich von Hehl, Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, 56 (1993), S. 111–129, hier 125–128. Von Hehl, Nationalsozialismus, S. 117. Ebd. Vgl. Jürgen Reulecke, Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte. In: Geschichte im Westen, 6 (1991), S. 202–208, hier 205 f.; Werner K. Blessing, Diskussionsbeitrag. Nationalsozialismus unter „regionalem Blick“. In: Möller/Wirsching/Ziegler (Hg.), Nationalsozialismus, S. 47–56, hier 47 f. Vgl. Axel Flügel, Chancen der Regionalgeschichte. In: Dillmann (Hg.), Prisma, S. 25–47, hier 26.

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1.

Die Region Chemnitz

Abgrenzung und Binnenstruktur

Ziel der Studie ist es, die Umsetzung der Arbeitseinsatzpolitik des NS-Regimes durch die unteren Verwaltungsinstanzen am Beispiel einer Region zu analysieren und damit einen Beitrag zur Herrschaftsgeschichte des NS-Regimes zu leisten. Daher liegt es nahe, sich bei der Wahl der Untersuchungsregion an den dafür zuständigen administrativen Einheiten zu orientieren. Definiert man in einem ersten Zugriff den Regierungsbezirk Chemnitz als Untersuchungsregion und prüft die geografische Zuständigkeit der wichtigsten mit der Arbeitskräfteverteilung in diesem Gebiet befassten Institutionen und Behörden, so ergibt sich ein uneinheitliches Bild: Die Bezirke der Arbeitsämter waren offenbar von anderen administrativen Einheiten unabhängig strukturiert worden. 1939 befanden sich sechs Arbeitsamtsbezirke im Gebiet des Regierungsbezirks, nämlich Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau, deren Grenzen sich aber nicht mit den Kreisgrenzen deckten. Bei zwei weiteren, nämlich Burgstädt und Freiberg, gehörten Randgebiete ebenfalls zum Regierungsbezirk Chemnitz.7 Das für die Arbeitskräftelenkung zentrale Rüstungskommando Chemnitz war für ein sehr viel größeres Gebiet als das des Regierungsbezirks Chemnitz zuständig. Es betreute die Rüstungsunternehmen in den Regierungsbezirken Chemnitz und Zwickau sowie bis 1942 auch im Kreis Freiberg.8 Bei der Industrie- und Handelskammer Chemnitz, der im Verlauf des Krieges eine wichtige Rolle in der Arbeitskräftelenkung zuwuchs, deckte sich die geografische Zuständigkeit im Wesentlichen mit dem Regierungsbezirk Chemnitz, allerdings zuzüglich der zum Regierungsbezirk Leipzig gehörenden Landkreise Döbeln und Rochlitz einschließlich der Stadtkreise Döbeln und Mittweida.9 Weitere für die Arbeitskräftelenkung von Fall zu Fall wichtige Behörden und Institutionen wiesen wiederum andere geografische Zuständigkeiten auf: Bei den Wehrersatzbehörden zum Beispiel, die die Musterung und Einberufung von Soldaten für die Front durchführten, betreuten die Wehrmeldeämter jeweils ein bis zwei Stadt- oder Landkreise. Sie unterstanden den Wehrbezirkskommandos, von denen vier das Gebiet des Regierungsbezirks Chemnitz abdeckten. Diese gehörten wiederum zur Wehrersatzinspektion Chemnitz, deren

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Vgl. die Karte zur Arbeitslosigkeit im Bezirke des Landesarbeitsamts Sachsen am 31.3.1939. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, 18 (1939), ungez. Blatt zwischen S. 44 und 45. Vgl. Gebietseinteilung W In IV. Karte. Stand 31.8.1938 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/27, Bl. 24). Die Rüstungskommandos hießen bis zum November 1939 Wehrwirtschaftsstellen und die Rüstungsinspektionen Wehrwirtschaftsinspektionen. Zur Ausgliederung des Kreises Freiberg siehe RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (RW 21–11/12, Bl. 4RS-19, hier 17RS). IHK Chemnitz am 31.12.1940, Die wirtschaftsgeographische und die wirtschaftliche Struktur des Chemnitzer Kammerbezirks (BA Berlin, R 3101/9454, Bl. 23–32, hier 23).

Abgrenzung und Binnenstruktur

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Wehrersatzbezirk ganz Südwestsachsen sowie Teile des angrenzenden Sudetenlandes umfasste.10 Lediglich die Organisation der NSDAP-Kreisleitungen orientierte sich weitgehend am gängigen administrativen Muster, indem die Parteikreise im Wesentlichen den Verwaltungskreisen entsprachen. Freilich umfassten die Parteikreise, anders als die Verwaltungskreise, auch die kreisfreien Städte, mit Ausnahme von Chemnitz, das eine eigene NSDAP-Kreisleitung besaß.11 Angesichts einer Vielzahl von Behörden und Institutionen mit je unterschiedlichen Zuständigkeitsgebieten lässt sich also die Untersuchungsregion nur annäherungsweise abgrenzen. Gleich welchen Zuschnitt man wählt, müssen bei Forschungsergebnissen immer wieder Ausfransungen über den eigentlichen Untersuchungsraum hinaus in Kauf genommen werden. Das folgende Porträt des Regierungsbezirks Chemnitz, bis 1939 als Kreishauptmannschaft Chemnitz bezeichnet,12 zeigt, warum dieser als Untersuchungsgebiet für eine Studie über die NS-Arbeitskräftelenkung von besonderem Interesse ist. Das Gebiet mit seinen rund 2 000 Quadratkilometern lag zwischen dem Freiberger Raum im Osten und der tschechoslowakischen Grenze im Süden. Es grenzte im Westen an den Regierungsbezirk Zwickau und im Nordosten an das Land Thüringen. Im Norden verlief die Grenze südlich der Städte Burgstädt und Mittweida, die zum Regierungsbezirk Leipzig zählten. Dem Regierungsbezirk Chemnitz nachgeordnet waren sechs Kreise, bis 1939 als Amtshauptmannschaften bezeichnet. Die beiden südlich gelegenen Kreise Annaberg und Marienberg erstreckten sich entlang des Erzgebirgskammes, der hier eine natürliche geografische Grenze zur Tschechoslowakei bzw. nach deren Zerschlagung und teilweisen Einverleibung ins Deutsche Reich zum Reichsgau Sudetenland bildete. Nördlich von ihnen lagen die Kreise Stollberg, Chemnitz-Land und Flöha. Sie umfassten die Ausläufer des Erzgebirges sowie Teile des Chemnitz-Zwickauer Beckens. Der nordwestlich des Kreises Stollberg gelegene Kreis Glauchau markiert den allmählichen Übergang des Hügellandes in die Leipziger Tieflandbucht. Die Großstadt Chemnitz im Norden der Kreishauptmannschaft besaß ebenso wie die Mittelstädte Glauchau und Meerane den Sonderstatus einer kreisfreien Stadt.13 10 Vgl. OKW am 9.11.1938 betr. Wehrbezirkseinteilung für das Deutsche Reich, gültig ab 10.11.1938 (BA-MA Freiburg, RH 15, Bl. 3–37, hier 9 f.); VO über die Wehrbezirkseinteilung für das Deutsche Reich vom 15.9.1939. In: RGBl. I (1939), S. 1777–1820, hier 1785 f.; VO über die Wehrbezirkseinteilung für das Deutsche Reich vom 17.7.1941. In: RGBl. I (1941), S. 391–434, hier 399. 11 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München 1936, S. 130, 218. 12 In Sachsen wurden bis 1939 die Regierungsbezirke als Kreishauptmannschaften und die Kreise als Amtshauptmannschaften bezeichnet. Da der Untersuchungszeitraum dieser Studie im Wesentlichen die Zeit ab 1939 umfasst, wird im Folgenden die Bezeichnung Kreis- bzw. Amtshauptmannschaft nur dann verwendet, wenn sich eine Aussage ausschließlich auf die Zeit vor 1939 bezieht. 13 Vgl. Grundriss zur Deutschen Verwaltungsgeschichte 1815–1945. Hg. vom Johann-Gottfried-Herder-Institut, Reihe B, Band 14: Sachsen. Bearb. von Thomas Klein, Marburg/

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Die Region Chemnitz

Die vergleichsweise dominante Stellung von Industrie und Handwerk in der Region Chemnitz lässt sich an den Ergebnissen der Volks- und Betriebszählung 1925 ablesen. Diese Zählung wird als Grundlage des Porträts der Region verwendet, weil sie ihre gewachsenen Strukturen besser abbildet als die Zählungen von 1933 und 1939, bei denen verzerrende Effekte der Wirtschaftskrise bzw. der vom NS-Regime forcierten Aufrüstung zu erwarten sind. Während 1925 im Deutschen Reich etwa 40 Prozent aller Erwerbstätigen ihren Lebensunterhalt in Industrie und Handwerk erwirtschafteten,14 waren es in Sachsen, das sich in der NS-Zeit mit dem Beinamen „Die Werkstatt Deutschlands“ schmückte,15 gut 60 Prozent. In der Kreishauptmannschaft Chemnitz erfuhr dieser Prozentsatz nochmals eine Steigerung: Dort gaben bei der Volkszählung im Jahr 1925 mehr als 70 Prozent aller Erwerbstätigen an, hauptberuflich in Industrie und Handwerk tätig zu sein. Ähnliche Werte fanden sich in Sachsen nur in der benachbarten Kreishauptmannschaft Zwickau. Die Struktur der übrigen Regierungsbezirke war etwas ausgeglichener: In Leipzig und Dresden spielten Handel und Verkehr, in Bautzen die Landwirtschaft eine größere Rolle.16 Daher eignet sich der Regierungsbezirk Chemnitz besonders gut, um das Vorgehen und die Auswirkungen der NS-Arbeitskräftelenkung hinsichtlich des industriellen Sektors zu untersuchen. Es war charakteristisch für die skizzierte Wirtschaftsstruktur, dass 1925 der Anteil der Arbeiter an allen Erwerbstätigen im Chemnitzer Raum höher lag als überall sonst in Sachsen, die Kreishauptmannschaft Zwickau ausgenommen: Fast 60 Prozent waren Arbeiter, dazu kamen weitere fünf Prozent, die sich als Hausgewerbetreibende oder Heimarbeiter in einem prekären Zwischenstatus zwischen unternehmerischer Selbstständigkeit und abhängiger Arbeit befanden.17 Die Gesellschaft der Chemnitzer und auch der Zwickauer Region war damit, rein quantitativ gesehen, proletarischer geprägt als in Sachsen insgesamt, wo Arbeiter und Hausgewerbetreibende zusammen nur 57 Prozent der

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Lahn 1982, S. 287–311 sowie die Karte im hinteren Umschlag: Ravensteins Bürokarte Nr. 14: Das Land Sachsen, o. J. Siehe auch Lutz Maerker/Helge Paulig, Kleine Sächsische Landeskunde, Dresden 1993, S. 25 sowie geografische Karte im hinteren Umschlag. Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S. 21 f. (hauptberuflich Erwerbstätige nach Wirtschaftszweigen: Abteilung B sowie Abteilungen A–F insgesamt). Vgl. Max Selbach, Die Werkstatt Deutschlands, Berlin 1940. Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 2–5, 80, 86, 92, 99, 110 (hauptberuflich Erwerbstätige der Abteilungen A–F; Zahlen für Sachsen bzw. die Amtshauptmannschaften). Die Volkszählung von 1925 zählte die Hausangestellten, die im Haushalt ihres Arbeitgebers lebten, nicht als hauptberuflich Erwerbstätige, sondern wie die Familienangehörigen als Berufszugehörige. Sie sind in diesen und den nachfolgenden Berechnungen daher nicht enthalten. Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 2–5, S. 80, 86, 92, 99, 110 (hauptberuflich Erwerbstätige der Abteilungen A–F mit der Bezeichnung Arbeiter [Kürzel c] bzw. mit der Bezeichnung Hausgewerbetreibende [Kürzel afr]).

Abgrenzung und Binnenstruktur

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Erwerbstätigen stellten.18 Im gesamten Deutschen Reich umfasste diese Gruppe sogar weniger als die Hälfte aller Erwerbstätigen.19 Ein Drittel der Erwerbstätigen der Kreishauptmannschaft Chemnitz verdiente 1925 seinen Lebensunterhalt in der Textilindustrie, dem nach Beschäftigten gerechnet größten Industriezweig der Region.20 Die Kreishauptmannschaft stellte zu dieser Zeit mit gut 180 000 Berufstätigen fast die Hälfte aller sächsischen Textilbeschäftigten. Sie gehörte zum großen südwestsächsischen Textilbezirk, der neben Chemnitz und dem Erzgebirge auch die Gegend um Zwickau, Plauen und das Vogtland umfasste.21 In der benachbarten Kreishauptmannschaft Zwickau war daher mit einem Viertel aller Berufstätigen ein ähnlich hoher Erwerbstätigenanteil in der Textilindustrie zu verzeichnen wie in Chemnitz.22 In den übrigen Landesteilen spielte dieser Wirtschaftszweig mit Ausnahme der Lausitz eine deutlich geringere Rolle.23 Am Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau des Freistaates hatte die Kreishauptmannschaft Chemnitz ebenfalls starken Anteil: Hier arbeitete mehr als ein Viertel aller sächsischen Beschäftigten in dieser Branche. Ein Zehntel der Erwerbstätigen in der Kreishauptmannschaft Chemnitz verdiente damit seinen Lebensunterhalt. Wie in Sachsen insgesamt, so war auch in der Kreishauptmannschaft Chemnitz der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, nach Beschäftigten gerechnet, der zweitgrößte Industriezweig.24 Damit stellten allein zwei Branchen, die Textilfertigung und der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, fast die Hälfte aller Erwerbstätigen der Region. Während die Textilindustrie als klassische Konsumgüterindustrie in der

18 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 2–5. 19 Eigene Berechnungen nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S. 24 f. (Erwerbstätige im Deutschen Reich, Stellung im Beruf, c: Arbeiter, afr: mithelfende Familienangehörige). Obwohl in der Tabelle nicht erwähnt, handelt es sich bei diesen Zahlen ebenfalls um die hauptberuflich Erwerbstätigen. 20 Eigene Berechnung nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, H. 10, S. 92, 94 (hauptberuflich Erwerbstätige, Kreishauptmannschaft Chemnitz insgesamt [A–F] und Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie). 21 Vgl. Friedrich H. Walter, Die sächsische Textilindustrie. Dargestellt auf Grund der Betriebszählung vom 16. Juni 1925. In: Sächs. St. LA Z, 74/75 (1928/1929), S. 248–279, hier 255 f.; zur Konstanz der Gebiete von der Vorindustrialisierung bis ins frühe 20. Jahrhundert vgl. Karin Zachmann, Die Kraft traditioneller Strukturen. Sächsische Textilregionen im Industrialisierungsprozeß. In: Uwe John/Josef Mazerath (Hg.), Landesgeschichte als Herausforderung und Programm. Karlheinz Blaschke zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1997, S. 509–535, hier 410 f., 534 f. 22 Eigene Berechnung nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, H. 10, S. 99, 101 (hauptberuflich Erwerbstätige, Kreishauptmannschaft Zwickau insgesamt [A–F] und Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie). 23 Vgl. Walter, Textilindustrie, S. 255 f. 24 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 8, 94 (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsgruppe VII. Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, für Sachsen und die Kreishauptmannschaft Chemnitz) sowie S. 4, 92 (hauptberuflich Erwerbstätige insgesamt [A–F] für Sachsen und die Kreishauptmannschaft Chemnitz).

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Die Region Chemnitz

­ riegszeit eher das Ziel von Arbeitskräfteabzügen und FertigungseinschränkunK gen war, hatte der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau eher die Möglichkeit, sich in die Rüstungsfertigung einzuschalten und sich damit Arbeitskräftezuweisungen zu sichern. Die Frage nach dem Ausmaß der Verschiebung von Arbeitskräften von der Konsumgüter- zur Rüstungsindustrie lässt sich wegen der Dominanz dieser beiden Branchen im Regierungsbezirk Chemnitz daher besonders gut verfolgen. Über 60 Prozent der Berufstätigen in der Textilindustrie waren weiblich,25 daher erklärt die zentrale Rolle der Textilindustrie den hohen Frauenanteil an den Berufstätigen in der Industrie des Chemnitzer Raums insgesamt: 38 Prozent aller Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk waren Frauen,26 auf ganz Sachsen bezogen betrug dieser Anteil lediglich 33 Prozent, im Gesamtreich gar nur 22 Prozent.27 Auch bezogen auf die Wohnbevölkerung war die Zahl der erwerbstätigen Frauen in der Kreishauptmannschaft Chemnitz traditionell besonders hoch: Die allgemeine Erwerbsquote lag 1925 mit 43 Prozent deutlich über dem sächsischen Durchschnitt von 39 Prozent. Nur in der Kreishauptmannschaft Bautzen war mit 44 Prozent ein noch höherer Wert zu verzeichnen.28 Im Reich betrug er dagegen nur 36 Prozent.29 Dieser hohe Frauenanteil unter der erwerbstätigen Bevölkerung ist bei der Behandlung der in der Forschung stark diskutierten Frage zu berücksichtigen, inwieweit Frauen als Arbeitskräftepotenzial für die Kriegswirtschaft durch das Regime mobilisiert werden konnten. Die bisherige Schilderung der Kreishauptmannschaft Chemnitz verdeutlichte wesentliche Unterschiede ihrer Wirtschafts- und Sozialstruktur zu den Kreishauptmannschaften Leipzig, Dresden und Bautzen, außerdem ergab sich daraus eine gewisse strukturelle Ähnlichkeit mit der Kreishauptmannschaft Zwickau, die allerdings aus arbeitstechnischen Gründen nur punktuell berücksichtigt werden kann.

25 Eigene Berechnung nach Statistik des Deutschen Reiches, Band 403, Heft 10, S. 94 (hauptberuflich Erwerbstätige, Kreishauptmannschaft Chemnitz, Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie). 26 Ebd., S. 92 (hauptberuflich Erwerbstätige der Wirtschaftsabteilung B [Industrie und Handwerk], Kreishauptmannschaft Chemnitz). 27 Ebd., S. 2 (hauptberuflich Erwerbstätige der Wirtschaftsabteilung B [Industrie und Handwerk]), Land Sachsen; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S. 24 f. (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsabteilung B). 28 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reiches, Band 403, Heft 10, S. 4, 80, 86, 92, 99, 110 (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsabteilungen A-F, Sachsen und Kreishauptmannschaften); Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S. 5 f. (Wohnbevölkerung Sachsen und Kreishauptmannschaften); vgl. auch Georg Lommatzsch, Die Ergebnisse der Volkszählungen im Freistaat Sachsen in den Jahren 1834 bis 1925. In: Sächs. St. LA Z, 72/73 (1926/27), S. 2–62, hier 61. 29 Eigene Berechnung nach Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929), S. 5 (Wohnbevölkerung) und 25 (hauptberuflich Erwerbstätige, Wirtschaftsabteilungen A–F).

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Für die Untersuchung von Bedeutung sind darüber hinaus einige Merkmale der Binnenstruktur der Region Chemnitz, die auf der Ebene der Amtshauptmannschaften bzw. Kreise hervortreten. Dabei fällt erstens die für die Kreishauptmannschaft relativ untypische Struktur der Amtshauptmannschaft Marienberg auf: Anders als in allen anderen Teilgebieten der Region spielte hier die Textilindustrie keine überragende Rolle. Ihr Erwerbstätigenanteil lag mit knapp 14 Prozent weit unter dem Durchschnitt des Erwerbstätigenanteils der Textilindustrie der gesamten Kreishauptmannschaft. Überdies musste sie ihre Vorrangstellung mit dem Holz- und Schnittstoffgewerbe teilen, das rund 12 Prozent aller Erwerbstätigen in der Amtshauptmannschaft beschäftigte.30 Zweitens wird eine extreme räumliche Konzentration des Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbaus in der Stadt Chemnitz und dem unmittelbaren Umland sichtbar: In Chemnitz verdiente ein knappes Fünftel aller Erwerbstätigen sein Brot in diesem Wirtschaftszweig, in der umliegenden gleichnamigen Amtshauptmannschaft immerhin mehr als ein Zehntel. Zusammen stellten die Stadt und die sie umgebende Amtshauptmannschaft mehr als 80 Prozent aller Beschäftigten der Kreishauptmannschaft in dieser Branche.31 In den drei unmittelbar benachbarten Orten Chemnitz, Siegmar und Schönau konzentrierten sich die wichtigsten Betriebe: Zu nennen sind hier beispielsweise die Wanderer-Werke AG sowie die Audi AG Rasmussen, die 1932 mit Teilen der Wanderer-Werke, DKW und Horch zur Auto Union verschmolzen wurde.32 Im Gegensatz zum Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau verteilte sich das Textilgewerbe eher flächig über Kreishauptmannschaft und besaß Standorte nicht nur in den Städten, sondern auch in vielen kleinen Siedlungen, sodass die Region eine Ansammlung von Industriedörfern bildete.33 Dabei lassen sich jedoch, und dies ist ein drittes wesentliches Merkmal der Binnenstruktur der Chemnitzer Region, Zonen mit sehr unterschiedlich geprägter Textilfertigung unterscheiden. In Chemnitz selbst und seinem unmittelbaren Umland herrschte neben der Textilveredelungsindustrie34 vor allem die Strickerei und Wirkerei

30 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10, S. 98, 100 (hauptberuflich Erwerbstätige insgesamt (A–F), Wirtschaftsgruppe X. Textilindustrie und XIV. Holz- und Schnittstoffgewerbe; Amtshauptmannschaft Marienberg und Stadtgemeinde Olbernhau). 31 Eigene Berechnungen nach ebd., S. 92 f. (hauptberuflich Erwerbstätige insgesamt, Kreishauptmannschaft Chemnitz, Stadt Chemnitz, Amtshauptmannschaft Chemnitz [eingerechnet Landgemeinden Limbach und Siegmar]) sowie S. 94 f. (hauptberuflich Erwerbstätige in der Wirtschaftsgruppe VII. Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau, Kreishauptmannschaft Chemnitz, Stadt Chemnitz und Amtshauptmannschaft Chemnitz [eingerechnet Landgemeinden Limbach und Siegmar]). 32 Zu den Wanderer-Werken siehe Schneider, Unternehmensstrategien; zur Auto Union vgl. Kukowski, Einführung; Feldkamp (Hg.), 75 Jahre Auto Union; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft. 33 Vgl. Walter, Textilindustrie, S. 256. 34 Vgl. ebd., S. 271 f.

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vor. Dieses Gebiet reichte im Westen, wo vor allem Strickhandschuhe und Trikotagen produziert wurden, mit den Orten Hohenstein-Ernstthal, Oberlungwitz und Lichtenstein-Callnberg in die Amtshauptmannschaft Glauchau hinein. Mit der Strumpfwarenfertigung im Süden umfasste es große Teile der Amtshauptmannschaft Stollberg und stieß, beispielsweise mit den Orten Thum, Gelenau und Geyer, in die nördlichen Randgebiete der Amtshauptmannschaft Annaberg vor. Nördlich von Chemnitz lagen die Zentren Limbach, Oberfrohna und Burgstädt, die hauptsächlich Stoffhandschuhe und Trikotagen herstellten. Die Stadt Burgstädt befand sich bereits in der Kreishauptmannschaft Leipzig, sodass hier die politisch-administrativen Grenzen der Kreishauptmannschaft ein historisch gewachsenes Wirtschaftsgebiet durchschnitten.35 Eine grenzübergreifende Lage besaß auch das Wollspinnerei- und Wollwebereigebiet, zu dem große Teile der Amtshauptmannschaft Glauchau einschließlich ihrer kreisfreien Städte Meerane und Glauchau gehörten. Es erstreckte sich über Crimmitschau in die Zwickauer Kreishauptmannschaft hinein; mitunter wird sogar das sächsisch-thüringische Grenzgebiet um Reichenbach und Greiz sowie der Geraer Raum dazugerechnet und die Region als sächsisch-thüringischer Wollindustriebezirk bezeichnet.36 Die Beziehung der Glauchauer und Meeraner Textilunternehmer dürfte nach Thüringen und in den Zwickauer Raum hinein ähnlich intensiv oder sogar intensiver gewesen sein als nach Chemnitz. Zumindest sprachen sie sich im August 1945 dafür aus, den von den amerikanischen Besatzern in den vergangenen Monaten neu geschaffenen Handelskammerbezirk Zwickau beizubehalten. Die Unternehmer begründeten das damit, „dass um den Mittelpunkt Zwickau herum die Städte Glauchau, Meerane, Crimmitschau, Werdau, Kirchberg, Reichenbach, Mylau, Netzschkau und der große Mülsengrund, der zwischen Glauchau und Zwickau liegt, ein geschlossenes Textilzentrum bilden, und zwar ein Textilzentrum, welchem die Weberei, Spinnerei, Kämmerei den Stempel als Textilzentrum aufdrückt“.37 Die Baumwollweberei war innerhalb der Kreishauptmannschaft Chemnitz ebenfalls vor allem in der Amtshauptmannschaft Glauchau, daneben in der Stadt Chemnitz und der Amtshauptmannschaft Flöha vertreten, allerdings überall von geringerer Bedeutung als andere Zweige der Textilproduktion.38 Wich-

35 Vgl. ebd., S. 264–267; Gerhard Röllig, Die Wirtschaft Sachsens. Eine geographische Studie, Leipzig 1928, S. 129–132; Gerhard Große, Die Wirtschaftsgeographische Struktur des Mittelsächsischen Hügellandes, Zwickau, Univ. Diss. Leipzig 1938, S. 34–38. 36 Vgl. Röllig, Wirtschaft, S. 123; W. Klein, Die Überwindung der Arbeitslosigkeit in Sachsen. In: Sächs. St. LA Z, 83/84 (1937/38), S. 145–222, hier 149 f.; Walter, Textilindustrie, S. 257. 37 Ernst Funke, Privatkontor, an Wirtschaftskammer Sachsen am 2.8.1945, ohne Betreff (StAC, Fa. Bößneck & Meyer und Nachf., 22, unpag.). 38 Vgl. Walter, Textilindustrie, S. 259, 262.

Abgrenzung und Binnenstruktur

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tiger ist, dass die Amtshauptmannschaft Flöha den Beschäftigten nach eines der wichtigsten Zentren der sächsischen Baumwollspinnerei darstellte.39 Die Stickerei-, Spitzen-, Tüll- und Gardinenindustrie, deren Zentrum im Vogtland lag, spielte in der Kreishauptmannschaft Chemnitz dagegen keine große Rolle. Hier entsprachen die Grenzen des Produktionsgebietes im Großen und Ganzen den politisch-administrativen Grenzen zwischen den Kreishauptmannschaften Chemnitz und Zwickau.40 Insgesamt verdichteten sich in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht im Regierungsbezirk Chemnitz jene Charakteristika, die gemeinhin als typisch für ganz Sachsen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten:41 erstens die Dominanz der Industrie gegenüber dem Handels- und Dienstleistungsbereich sowie der Landwirtschaft und damit eine zahlenmäßig große Arbeiterschaft, zweitens die zentrale Rolle der Textilindustrie, eines klassischen Konsumgüter­ industriezweiges, der als traditionell weiblicher Beschäftigungszweig zu hohen Frauenanteilen unter den Berufstätigen in Industrie und Handwerk führte, und drittens die im Vergleich zu anderen Regionen Deutschlands überdurchschnittlich hohe Beschäftigtenzahl im Maschinenbau, dem nach der Textilbranche zweitgrößten Industriezweig Sachsens, der im Verlauf des Krieges besonders wichtig für die Rüstungsfertigung wurde. Damit kann der Regierungsbezirk Chemnitz als ein Modellfall für die sächsische Entwicklung studiert werden. Besondere Aufmerksamkeit widmet die Studie dem industriellen Kernraum des Regierungsbezirks, der in etwa die Grenzen des Arbeitsamtsbezirks Chemnitz umfasst und in dem die Stadt Chemnitz sowie das damals noch selbstständige, später von Chemnitz eingemeindete Siegmar-Schönau liegen. Der Blick auf das ländlichere und stärker durch die Textilindustrie geprägte Umland ist zum einen durch die größeren regionalen Zuständigkeitsbereiche von IHK und Rüstungskommando gegeben, ermöglicht aber auch interessante Vergleichsperspektiven innerhalb der Untersuchungsregion. Quantitative Auswertungen werden darüber hinaus mitunter auch auf den gesamten südwestsächsischen Raum bezogen, bestehend aus den Regierungsbezirken Chemnitz und Zwickau, wenn das Handeln von Behörden wie dem Rüstungskommando diesen Raum so konstituiert.

39 Vgl. ebd., S. 259. 40 Vgl. ebd., S. 268–270. 41 Vgl. z. B. Ulrich Heß, Rüstungs- und Kriegswirtschaft in Sachsen (1935–1945). In: Werner Bramke/Ulrich Heß (Hg.), Sachsen und Mitteldeutschland. Politische, wirtschaftliche und soziale Wandlungen im 20. Jahrhundert, Weimar 1995, S. 73–91, hier 82.

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2. Wirtschaftliche Entwicklung bis zum Kriegsbeginn Die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1933 traf Sachsen besonders hart: Schon Zeitgenossen sahen kleine Betriebsgrößen, die weite Entfernung der Unternehmen von Rohstofflagern sowie von internationalen Seehäfen, steigende Löhne und die enorme Exportabhängigkeit der sächsischen Unternehmen als Ursachen dafür an.42 In der Region Chemnitz mit ihren Arbeitsamtsbezirken Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau, Olbernhau und Thalheim stieg die Zahl der Arbeitssuchenden von knapp 34 000 im März 1929 bis zum Höhepunkt der Krise im Mai 1932 auf über 150 000.43 Besonders stark litt das industrielle Zentrum der Region mit den Orten Chemnitz, Siegmar und Schönau. „Die Not ist zur Katastrophe geworden“, charakterisierte das Chemnitzer Jugend- und Wohlfahrtsamt bereits Anfang 1931 die Situation.44 Im Mai 1932 suchten im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz 185 von 1 000 Einwohnern Arbeit. Das entsprach der höchsten Arbeitslosenrate in ganz Sachsen.45 Hintergrund dafür war die besonders hohe Krisenanfälligkeit des in diesem Bezirk stark konzentrierten Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbaus: Allein in der Stadt Chemnitz gingen zwischen 1928 und 1932 zwei Drittel aller Arbeitsplätze in dieser Branche verloren, während die Textilindustrie knapp die Hälfte ihrer Arbeitnehmer einbüßte. Insgesamt verlor die Stadt bis 1932 rund 60 000 Industriearbeitsplätze, davon allein 22 000 im Maschinen-, Apparateund Fahrzeugbau.46 Auch die meisten anderen Arbeitsamtsbezirke der Region lagen deutlich oberhalb des sächsischen Durchschnitts von 142 Arbeitssuchenden je 1 000 Einwohnern. Lediglich der Arbeitsamtsbezirk Lugau mit seiner international auch während der Krise noch vergleichsweise konkurrenzfähigen Strumpfindustrie verzeichnete Arbeitslosenzahlen unter dem sächsischen Durchschnitt.47

42 Vgl. Michael C. Schneider, Die Wirtschaftsentwicklung von der Wirtschaftskrise bis zum Kriegsende. In: Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, S. 72–84, hier 73; Rainer Karlsch/Michael Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter, Leipzig 2006, S. 182–184. 43 Eigene Berechnungen nach Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 8 (1929), S. 68; sowie ebd., 11 (1932), S. 56. Zusammengerechnet wurden die Arbeitssuchendenzahlen der Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau, Olbernhau und Thalheim, die grob der Kreishauptmannschaft Chemnitz entsprechen. 44 Die Katastrophe, o. V. In: Blätter des Jugend- und Wohlfahrtsamts der Stadt Chemnitz, (1931) 19, S. 257–259, hier 257 (Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 7002, Bl. 6 f., hier 6). 45 Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 11 (1932), S. 48; vgl. auch Karlheinz Schaller, Arbeitslosigkeit und Arbeitsverwaltung in Chemnitz von 1890 bis 1933, Chemnitz 1993, S. 79 f. 46 Die Industrie der Stadt Chemnitz nach den Arbeitnehmerzählungen am 1. August 1928 und 1932, o. D. (Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1524, Band 2, Bl. 89); vgl. auch Helmut Bräuer und Gert Richter (Leitung des Autorenkollektivs), Karl-Marx-Stadt, Berlin 1988, S. 165. 47 Vgl. Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 11 (1932), S. 48.

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Der Höhepunkt der Krise war in der Region, gemessen an den Arbeitslosenzahlen, bereits im Sommer 1932 überschritten.48 Trotz des propagandistischen Getöses um die nationalsozialistischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab 1933 waren weltwirtschaftliche Erholung und nationalsozialistische Rüstungspolitik die eigentlich ausschlaggebenden Faktoren für den wirtschaftlichen Aufschwung im Deutschen Reich während der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre.49 Freilich war Sachsen und insbesondere die Region Chemnitz dadurch besonders benachteiligt, dass das NS-Regime die hier vorherrschende Textilindustrie systematisch deckelte, um die knappen Devisen in die Rüstungsindustrie umzulenken. Die Überwachung der Preisbildung, Einkaufsverbote oder -beschränkungen für Rohstoffe, Investitionseinschränkungen und die Kontingentierung der Verarbeitungsmengen bremsten die wirtschaftliche Erholung dieses Industriezweiges während der gesamten 1930er-Jahre.50 Besonders die staatlich angeordnete Kurzarbeit im Gefolge der Faserstoffverordnung von September 1934 löste in Sachsen allgemeine Empörung aus: Die Faserstoffverordnung finde weder bei Unternehmern noch bei den Arbeitern Anklang, berichtete die sächsische Gestapo, die Stimmung sei insbesondere bei den Arbeitern wegen der mit der Kurzarbeit verbundenen Lohnkürzungen sehr gedrückt.51 Die Betriebe klagten darüber, nicht rentabel produzieren zu können, die Arbeiter seien der Meinung, dass die Löhne bei einer Obergrenze von 36 Wochenstunden den Lebensunterhalt nicht sichern könnten.52 Ende August 1935 waren im Reichsdurchschnitt noch 26 von 1 000 Einwohnern arbeitslos, im sächsischen Durchschnitt 49 und in den Arbeitsamtsbezirken Annaberg, Chemnitz, Glauchau und Olbernhau jeweils zwischen 54 und 62 je 1 000 Einwohner ohne Arbeit.53 Den Bezirken Flöha, Lugau und Thalheim ging es allerdings erheblich besser. Dort lag die Arbeitslosenrate dagegen sogar unter dem sächsischen Wert. Vor allem der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz litt noch lange unter der Krise. Während sachsenweit und im ländlicheren Umland von Chemnitz die Zahl der

48 Vgl. Die Arbeitsmarktlage in Sachsen im Jahre 1932, o. V. In: Der Arbeitsmarkt in Sachsen, 12 (1933), S. 5 f.; Schaller, Arbeitslosigkeit, S. 83. 49 Vgl. Adam Tooze, Ökonomie des Terrors. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, München 2007, S. 59–200; Michael C. Schneider, Rüstung, „Arisierung“, Expansion. Wirtschaft und Unternehmen. In: Süß/Süß (Hg.), Das „Dritte Reich“, S. 185–203, hier 186 f. 50 Vgl. Gerd Höschle, Die deutsche Textilindustrie zwischen 1933 und 1939. Staatsinterventionismus und ökonomische Rationalität, Stuttgart 2004, S. 34–66. 51 Sächsisches Ministerium des Innern an Wirtschaftsministerium am 31.8.1934, auszugsweise Abschrift aus dem Monatsbericht Juli 1934 des Geheimen Staatspolizeiamts Sachsen (SächsHStAD, Sächsisches Arbeits- und Wirtschaftsministerium, 1557 Film, Bl. 4). 52 Sächsisches Ministerium des Innern am 18.9.1934, auszugsweise Abschrift. Lagebericht im Freistaat Sachsen für den Monat August 1934 (SächsHStAD, Sächsisches Arbeitsund Wirtschaftsministerium, 1557 Film, Bl. 12–14, hier 13). 53 Mitteilungsblatt des Landesarbeitsamtes Sachsen, 14 (1935), ungez. Bl. zwischen S. 89 und 90.

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Arbeitslosen sich langsam wieder der Vorkrisenzeit näherte, lag sie im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz im Sommer 1935 mit fast 28 000 noch immer fast dreimal so hoch wie im Frühjahr 1929.54 Dementsprechend besserte sich die Stimmung auch nur langsam: Viele Rentner seien verzweifelt, so berichtete die NS-Frauenschaft aus dem Kreis Chemnitz im September 1935, weil sie mit ihrer Rente nicht auskämen. Auch bei den Erwerbslosen könne man noch viel Elend sehen. An Schuhwerk, Kleidung und Feuerung fehle es überall. Überdies klagten die Kurzarbeiterinnen und Kurzarbeiter darüber, dass der Kurzarbeiterausgleich zu spät gezahlt würde. Auch die Kurzarbeiter „hätten gern vom Winterhilfswerk etwas an alten Kleidungsstücken oder Esswaren, damit ihre Not etwas gelindert würde“.55 Mit dem Spinnstoffgesetz von Ende 1935 wurde zwar die verordnete Kurzarbeit aufgehoben, die immer weiter um sich greifende Kontingentierung von Verarbeitungsmengen behinderte die unternehmerische Entfaltung und damit die Erhöhung der Arbeiterverdienste jedoch weiterhin.56 Die Entwicklung der Region zeigt, dass die forcierte Aufrüstung den Lebensstandard der Verbraucher überall im Reich senkte. Dabei verlangte sie denjenigen Regionen, in denen vor allem Konsumgüter produziert wurden, einen besonders hohen Preis ab, weil diese in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stark benachteiligt wurden. Die Metallindustrie einschließlich des Maschinen-, Apparate und Fahrzeugbaus erholte sich schneller von der Krise als die Textilindustrie und verzeichnete bereits 1936 „reichlich Aufträge“.57 Gestützt von hohen Exportsubventionen des Reichs, stiegen die Ausfuhren etwa von Büromaschinen und Werkzeugmaschinen, wie sie die Wanderer-Werke in Chemnitz produzierten, aus dem Reich ab 1934 wieder an und erreichten 1937 wieder Vorkrisenniveau. Auch der Binnenmarkt entwickelte sich positiv. Bei den Büromaschinen wurde er durch besondere Abschreibungsmöglichkeiten gestützt, die Werkzeugmaschinen waren wiederum für die Ausweitung der Produktionsanlagen für die Rüstungsfertigung wichtig.58

54 Ebd., S. 93. 55 Stimmungsbericht der NS-Frauenschaft, Kreis Chemnitz, für Monat September 1935 (Sonderarchiv Moskau 519–4-99, unpag.). Den Hinweis auf dieses Dokument verdanke ich Michael C. Schneider. 56 Vgl. z. B. Gendarmerie-Inspektor [Name unbekannt] an Amtshauptmann zu Flöha am 24.7.1936, Bericht über die innenpolitischen Verhältnisse im Bezirke der Amtshauptmannschaft Flöha im Juli 1936 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Flöha 2373, Bl. 10); sowie Gendarmerie-Inspektor [Name unbekannt] an Amtshauptmann zu Flöha am 24.9.1936, Bericht über die innenpolitischen Verhältnisse im Bezirke der Amtshauptmannschaft Flöha im September 1936 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Flöha 2373, Bl. 33–35, hier 34); Amtshauptmann zu Flöha an Kreishauptmann in Chemnitz am 1.9.1936, Bericht über den Monat August 1936 (SächsHStAD, Amtshauptmannschaft Flöha 2373, Bl. 27 f., hier 27). 57 Bericht der W In IV an Reichskriegsministerium vom 16.5.1936 (BA-MA Freiburg, RW 19/13, Bl. 48–54, hier 50). 58 Vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 98–101, 128–136.

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Erst seit 1938, und damit deutlich später als andere Regionen, profitierten auch Chemnitz und das Umland spürbar vom nationalsozialistischen Rüstungsaufschwung.59 Das Arbeitsamt Chemnitz notierte im April 1938 die geringste Erwerbslosenzahl seit zehn Jahren.60 Ein Jahr später erreichte diese mit 1 540 Arbeitslosen einen Tiefststand, „wie er im hiesigen Bezirk noch nie zu verzeichnen war“.61 Mehr als die Hälfte der in den Jahren 1938 und 1939 noch regis­ trierten Arbeitslosen galt als „nicht voll einsatzfähig“.62 Die Arbeitslosigkeit ging in der gesamten Region in einen Arbeitskräftemangel über, von dem insbesondere die Bezirke Flöha und Chemnitz betroffen waren.63 Die einzige Ausnahme bildete das Gebiet um Burgstädt, Limbach Hartmannsdorf und Mühlau, das sehr einseitig von der Stoffhandschuhindustrie geprägt war. Es galt auch 1938 noch als schwer betroffenes Notstandsgebiet mit hoher Arbeitslosigkeit, da die Stoffhandschuhindustrie im Verlauf der 1930er-Jahre einen „vollkommenen Verlust des Exportes“ 64 zu erleiden hatte. Erst 1939 besserte sich dort die Lage. In der übrigen Region bestand ab 1938 ein permanenter Mangel an Textilfachkräften,65 für den die verbesserte Wirtschaftslage, das neu eingeführte Pflichtjahr in der Land- und Hauswirtschaft sowie insbesondere im Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz die Konkurrenz zwischen Metall- und Textilindustrie verantwortlich waren. So konnte etwa die Chemnitzer Textilindustrie im Frühjahr 1938 lediglich 40 Prozent der von ihr angebotenen 850 Lehrlings- oder Anlernplätze besetzen, und zwar in der Regel mit solchen Mädchen, die das Arbeitsamt wegen ihrer körperlichen Schwäche vom Pflichtjahr befreit oder zurückgestellt hatte, die also auch im industriellen Bereich weniger belastbar waren.66

59 Vgl. auch Bräuer/Richter, Karl-Marx-Stadt, S. 181. 60 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im April 1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 61 Ebd. 62 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Bezirk im Mai und Juni 1938 sowie April 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 63 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit 1938 und 1939, passim (SächsHStAD, IHK Chemnitz 3, unpag.); AA Flöha, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit 1938 und 1939, passim (ebd.); für Glauchau sind entsprechende Bemerkungen in der Berichten des AA seit März 1939 überliefert; vgl. AA Glauchau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März, April und Mai und Juni 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 64 IHK Chemnitz an die Wirtschaftskammer Sachsen am 2.6.1938 betr. neue gewerbliche Anlagen in Notstandsgebieten (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 1, unpag.); vgl. auch W In IV an das OKW am 18.10.1938 betr. Wirtschaftsbericht der W.In. (BAMA Freiburg, RW 19/38, Bl. 39–49, hier 39). 65 Vgl. etwa AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Februar 1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli 1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 66 AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im April 1938 sowie ­Januar 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); entsprechend auch AA Glauchau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).

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Gleichzeitig entbrannte zwischen Textil- und Metallbetrieben bis zum Kriegsbeginn ein zäher Kampf um die besonders begehrten jüngeren Arbeitskräfte. Dieser betraf nicht nur männliche Textilfacharbeiter. Vielmehr stellten die Metallbetriebe angesichts des Arbeitskräftemangels immer häufiger auch junge Arbeiterinnen ein. Ebenso wie für viele Männer war für kräftige Frauen, die eine vorwiegend im Stehen zu verrichtende und meist mit einseitigen körperlichen Belastungen verbundene Arbeit nicht scheuten, eine Tätigkeit im Metallbereich attraktiver als in der Textilindustrie, weil die Stundenlöhne höher waren. Überdies hatten sie hier häufiger die Gelegenheit, durch Überstunden hinzuzuverdienen, da die Metallindustrie weniger unter Materialmangel und stockender Rohstoffanlieferung litt als das Textilgewerbe.67 Selbst in männerdominierten Branchen wie dem Maschinenbau kam es deshalb in den Jahren 1938 und 1939 zu einer Erhöhung des Frauenanteils in der Arbeiterbelegschaft: Er stieg beispielsweise beim Siegmarer Werkzeugmaschinenbaubetrieb Niles zwischen Februar 1938 und Juli 1939 von 0,8 auf 2 Prozent,68 bei den Wanderer-Werken in Siegmar-Schönau zwischen Dezember 1938 und August 1939 von 15,2 auf 17,2 Prozent.69 Unter diesen Umständen nimmt es nicht Wunder, dass die Chemnitzer Textilunternehmer bereits im November 1938 die Sicherung des Arbeiternachwuchses als „eine der brennendsten Fragen“70 ihres Industriezweiges empfanden. Die reichsrechtliche Verordnung über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels im März 1939, die eine nicht einvernehmliche Lösung von Arbeitsverhältnissen in bestimmten Branchen von einer Zustimmung des Arbeitsamtes abhängig machte,71 brachten sie weiter ins Hintertreffen. Das Textilgewerbe gehörte im Gegensatz zur Metallindustrie nicht zu den begünstigten Industriezweigen. Außerdem wurde in diesem Zusammenhang die seit Herbst 1938 in Sachsen unter anderem für Textilunternehmen bestehende dreimonatige Kündigungsfrist aufgehoben, sodass wechselwillige Textilarbeiter und -arbeiterinnen ihre Unternehmen noch schneller verlassen konnten als vorher.72 Da die Landes67 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Mai, Juli und August 1938 sowie im Februar, März und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 68 Ohne Lehrlinge. Eigene Berechnungen nach Gefolgschaftsentwicklung 1938 und 1939, o. D. (StAC, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar, 127, unpag.). 69 Ohne Lehrlinge. Eigene Berechungen nach Belegschaftsstärke am 15.12.1938 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe 3, 417/1, unpag.) und Belegschaftsstärke am 15.8.1939 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe 3, 417, unpag.). 70 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im November 1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. auch Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Februar 1939 (ebd.). 71 Zweite Durchführungsanordnung zur VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels). Vom 10.3.1939. In: RGBl. I (1939), S. 444–448; vgl. auch Rüdiger Hachtmann, Industriearbeit im „Dritten Reich“, Göttingen 1989, S. 47. 72 Vgl. Dreimonatige Kündigungsfrist aufgehoben. Übergangsregelung für bestimmte Berufsgruppen. In: Dresdner Anzeiger vom 16.3.1939, o. V. (SächsHStAD, Staatskanzlei, NachrSt, ZAS, 1208, unpag.); Dreimonatige Kündigung in Sachsen wieder aufgehoben, o. V. In: Der Freiheitskampf vom 17.3.1939 (ebd.).

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arbeitsämter die Möglichkeit besaßen, über die von der Verordnung über den Arbeitsplatzwechsel begünstigten Branchen hinaus weitere Betriebe in deren Bestimmungen einzubeziehen,73 überschütteten die Textilunternehmer unter Hinweis auf die Wichtigkeit ihrer Produktion für den Export die örtlichen Arbeitsämter mit entsprechenden Anträgen, denen zumindest teilweise auch stattgegeben wurde. Verschärft wurde die Situation schließlich dadurch, dass die Region bis zum Kriegsbeginn ständig Arbeitskräfte an andere Bezirke abgab, sehr häufig auch in Gebiete außerhalb Sachsens. Seit Jahren schon vermittelten die Arbeitsämter Arbeitskräfte an Werkstätten innerhalb und außerhalb Sachsens, in denen diese zu Metallarbeitern umgeschult wurden. Das war nicht nur der Notwendigkeit geschuldet, Arbeitslose oder Kurzarbeiter in Vollzeitbeschäftigungen zu bringen. Dahinter stand auch das Bestreben des Regimes, möglichst viele Arbeitskräfte in rüstungsrelevante Arbeitsstellen zu vermitteln.74 Zu weiteren Abwanderungen aus der Region kam es, weil die Bereitwilligkeit der Metallunternehmen zu wünschen übrig ließ, die meist nicht voll einsatzfähigen Umgeschulten einzustellen.75 Überdies wurde die Region ab Sommer 1938 intensiv zu den Dienstverpflichtungen76 für den Westwallbau und andere als staatspolitisch bedeutend angesehene Aufgaben herangezogen. Besonders problematisch war dabei aus Sicht der Arbeitgeber die Tatsache, dass es sich dabei durchwegs um junge, besonders belastbare und daher sehr begehrte Arbeitskräfte handelte, während ältere und kränkere der örtlichen Industrie erhalten blieben.77 Im Jahr 1939 konnte den oft voll ausgelasteten Firmen immer häufiger gar kein Ersatz mehr für die bei ihnen abgezogenen Arbeitskräfte gestellt werden,78 ein kleiner Vorgeschmack auf das, was die Unternehmen während des Krieges erwartete.

73 Zweite Durchführungsanordnung zur VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung (Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels). Vom 10.3.1939, § 10, S. 445. 74 Vgl. Höschle, Textilindustrie, S. 59. 75 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im August 1938 sowie Januar, Februar und März 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); Glauchauer Arbeitslose werden Metallwerker, o. V. In: Glauchauer Zeitung vom 23.7.1937 (SächsHStAD, NachrSt, ZAS 298, unpag.). 76 Vgl. VO zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung. Vom 22.6.1938. In: RGBl. I (1938), S. 652; sowie die sie ersetzende gleichnamige Verordnung vom 13.2.1939. In: RGBl. I (1938), S. 206 f.; vgl. auch Hachtmann, Industriearbeit, S. 46 f. 77 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli, August und September 1938 sowie im April und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). Vgl. auch AA Glauchau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli 1938 sowie März und April 1939, (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 78 Vgl. z. B. AA Flöha, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juni 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. AA Olbernhau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli und August 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.).

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Sobald der Arbeitskräftemangel als neues Problem erkennbar wurde, begannen die Arbeitsämter der Region mit Maßnahmen, die der Industrie zusätzliche Arbeitnehmer zuführen sollten: Ab 1938 überprüften sie, zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Gewerbeaufsichtsamt, immer wieder Besitzer von Wandergewerbe- und Stadthausierscheinen, um sie zu einer Arbeitnehmertätigkeit in einem Industriebetrieb zu bewegen.79 Auch unter den wenigen noch verbliebenen Kurzarbeitern, die es 1938 noch gab, versuchten die Arbeitsämter Arbeitskräftereserven auszumachen.80 Mittels der Drohung, die Kurzarbeiterunterstützung zu streichen, veranlasste etwa das Arbeitsamt Chemnitz ab Herbst 1938 Kurzarbeiter dazu, von kurz arbeitenden zu voll arbeitenden Betrieben zu wechseln.81 Wie verzweifelt die Arbeitsämter nach Arbeitskräften suchten, lässt sich an dem Versuch erkennen, durch sogenannte Herbergskontrollen durchreisenden Arbeitslosen habhaft zu werden und sie Chemnitzer Firmen zuzuweisen.82 Schließlich gingen die Ämter gezielt ihre Arbeitsbuchkarteien durch, um im Augenblick nicht aktive Arbeitsbuchinhaber ansprechen zu können.83 Verheiratete Frauen, die das Regime in der Krisenzeit mittels der Doppelverdienerkampagne aus dem Arbeitsprozess auszusondern versucht hatte,84 wurden wieder gesuchte Arbeitskräfte. Mittels Anzeigenkampagnen in den Tageszeitungen versuchten die Arbeitsämter seit 1938 sie für eine Berufstätigkeit in der Industrie zu werben.85 Das Arbeitsamt Glauchau registrierte seit 1938 einen Zustrom verheirateter Frauen aus der unsichtbaren Arbeitslosigkeit insbesondere auf die Textilarbeitsplätze.86 Auch das Arbeitsamt Chemnitz machte

79 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli, August, September, Oktober und November 1938 sowie im Januar, Februar, März und Juli 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Dezember 1938 und Januar 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz Berichte 4, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1939 (ebd.); AA Flöha, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Januar und Juni 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 80 Vgl. AA Glauchau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 81 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 82 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September, Oktober und November 1938 sowie im August 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. AA Flöha, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juni 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 83 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im August 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 84 Vgl. für Sachsen Silke Schumann, „Die Frau aus dem Erwerbsleben wieder herausnehmen“. NS-Propaganda und Arbeitsmarktpolitik in Sachsen 1933–1939, Dresden 2000. 85 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. auch AA Flöha, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März 1939 (ebd.). 86 AA Glauchau, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März 1938 und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).

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zwischen Juni 1938 und Mai 1939 einen Zuwachs von 4 800 weiblichen Arbeitsbuchinhabern aus und prognostizierte daraufhin, dass künftig wohl keine verheirateten Frauen mehr zu gewinnen seien.87 Betrachtet man den gegenüber dem Jahr 1925 nur leicht in seinem Zuschnitt veränderten Regierungsbezirk Chemnitz im Spiegel der Volkszählung vom Sommer 1939, so fällt auf, dass die wirtschafts- und sozialstrukturellen Rahmendaten denen von 1925 auffällig gleichen: Der im sächsischen und Reichsvergleich hohe Anteil von Erwerbstätigen in Industrie- und Handwerk, einhergehend mit einem vergleichsweise hohen Arbeiteranteil, prägte weiterhin die Region.88 Die Branchenverteilung zwischen Textilindustrie sowie Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau ähnelte 1939 stark der von 1925: Ein Drittel des Personals gewerblicher Niederlassungen beschäftigte die Textilindustrie, ein Zehntel der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau. 89 Auch wenn diese Zahlen wegen der etwas unterschiedlichen Erhebungsgrundlagen nicht vollständig vergleichbar sind,90 so bestätigen sie doch das Bild einer soziostrukturellen Konstanz. Erhalten geblieben war ebenfalls die regionale Strukturierung mit dem industriellen Mittelpunkt Chemnitz-Siegmar-Schönau und seinem Schwerpunkt im Maschinen-, Fahrzeug- und Apparatebau.91 Die weibliche Erwerbsquote lag leicht unter derjenigen von 1925, was aber möglicherweise auf die Nichtzählung der sich im Reichsarbeitsdienst (RAD) befindlichen Mädchen zurückging.92 Auch 1939 lag sie wie 1925 rund 3 Prozent über der sächsischen und der Reichsquote.93 87 AA Chemnitz, Berichte über Arbeit und Arbeitslosigkeit im März, Mai sowie August 1938 sowie im Februar und Mai 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 88 Die Prozentzahlen entsprachen fast denjenigen von 1925: 68 % der Erwerbspersonen arbeiteten hauptberuflich 1939 in Industrie- und Handwerk, 64 % waren Arbeiter. Kleinere Abweichungen können mit geringen Änderungen der Erhebungsgrundlagen zusammenhängen. Z. B. wurden anders als 1925 die Hausangestellten 1939 zu den Erwerbstätigen und nicht zu den Familienzugehörigen gerechnet. Vgl. eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 557, Heft 7, S. 2 (Summe der Erwerbspersonen in Beziehung gesetzt zur Summe der Erwerbspersonen der Wirtschaftsabteilung 2/4 sowie der Summe der Arbeiter aller Wirtschaftsabteilungen). 89 Für 1925 eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 415, Heft 4b, S. 31, 35, 37 (Personal der gewerblichen Niederlassungen, technische Betriebseinheiten, gesamt und Gruppen VII und X) sowie für 1939 eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 568, Heft 6, S. 6 (Personal der nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstätten, technische Betriebseinheiten, insgesamt sowie in den Gruppen 08.00.00 und 12.00.00). 90 Zur Vergleichbarkeit der Zählung der gewerblichen Niederlassungen 1925 mit der nichtlandwirtschaftlichen Arbeitsstättenzählung 1939 vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Band 566, S. 16–18. 91 Vgl. Statistik des Deutschen Reichs, Band 568, Heft 6, S. 17–22. 92 Die Volkszählung 1939 ging für alle regionsbezogenen Zahlen allein von der ständigen Bevölkerung (Wohnbevölkerung ohne Soldaten sowie Frauen und Männer im RAD) aus. Auch für die Untersuchung der Zahl der Erwerbspersonen wurde die ständige Bevölkerung zugrunde gelegt. Das hatte für 1939 das „Verschwinden“ ganzer RAD-Jahrgänge aus der Statistik zufolge. Vgl. St DR 552, Heft 1, S. 15 f. 93 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 552, Heft 2, S. 112 (Ständige Bevölkerung Reich insgesamt/Frauen) und S. 166 (Ständige Bevölkerung

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Die Region Chemnitz

Dies alles spricht für die Beharrungskraft regionaler Strukturen auch angesichts wirtschaftlicher Erschütterungen wie der Weltwirtschaftskrise und politischer Eingriffe wie der NS-Privilegierung der Rüstungswirtschaft. Dieses Beharrungsvermögen ist bei der Analyse des Erfolgs oder Misserfolgs der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung in der Region im Blick zu behalten.

Reg.-Bez. Chemnitz/Frauen); Statistik des Deutschen Reichs, Band 556, Heft 1, S. 2 f. (ständige Bevölkerung nach der Erwerbstätigkeit Reich insgesamt/Frauen); sowie Statistik des Deutschen Reichs, Band 557, Heft 7, S. 2 f., 58 (Ständige Bevölkerung nach der Erwerbstätigkeit Sachsen, Erwerbspersonen Reg.-Bez. Chemnitz/jeweils Frauen).

III. Für die Arbeitskräftelenkung zuständige regionale Institutionen und Behörden Das nationalsozialistische Regime verwandelte den freien Arbeitsmarkt der Weimarer Republik, in dem Nachfrage und Angebot das Geschehen bestimmten, im Verlauf der 1930er-Jahre in den „Arbeitseinsatz“. Nach einer Definition von 1939 handelte es sich dabei um „die planmäßige Lenkung der Arbeitskräfte des Volkes nach den übergeordneten Gesichtspunkten der Staatspolitik“.1 Der NS-Staat schränkte die Freizügigkeit der Arbeitnehmer sukzessive ein und erhob schließlich den Anspruch, alle Arbeitskräfte planmäßig auf bestimmte Wirtschaftszweige oder sogar bestimmte Unternehmen zu verteilen.2 Waren in der Weimarer Republik vor allem die Arbeitsämter für die Vermittlung von Arbeitern und Angestellten zuständig, so beschäftigte sich im Zweiten Weltkrieg ein ganzes Bündel von Behörden und Institutionen damit, zusätzliche Arbeitskräfte ausfindig zu machen sowie vorhandene den Unternehmen zu entziehen oder zuzuweisen. Bei der Darstellung der Arbeitskräftelenkung lässt sich eine untere und eine mittlere Verwaltungsebene unterscheiden. Zur unteren Verwaltungsebene werden in dieser Studie alle jene Behörden und Institutionen gezählt, die keinen weiteren Verwaltungsunterbau besaßen. Geografisch gesehen konnten sie je nach Aufgabenzuschnitt lokale oder regionale Zuständigkeit besitzen. Zur mittleren Ebene werden alle Behörden und Institutionen gerechnet, deren Zuständigkeit sich auf das Land Sachsen oder den Wehrkreis IV/IVa bezog. Gemeinsam ist allen Behörden und Institutionen, dass sich ihre Zuordnung zu einzelnen Instanzensträngen aufgrund der polykratischen Struktur des Regimes immer wieder veränderte. Die für die Alltagspraxis der Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz wichtigsten Behörden und Institutionen waren die Arbeitsämter, das Rüstungskommando Chemnitz und die IHK Chemnitz. Das folgende Kapitel gibt deshalb einen Überblick über ihre organisatorische Entwicklung während des Krieges sowie über die in der Arbeitskräftelenkung handelnden Abteilungen und Personen. Da auch die Mittelinstanz dafür zum Teil von erheblicher Bedeutung war, wird diese Ebene bei der Darstellung mit berücksichtigt. Eine Vielzahl weiterer Behörden und Institutionen, die in die praktische Arbeit von Fall zu Fall involviert waren, wird in den Kapiteln zur Arbeitskräftelenkung zum gegebenen Zeitpunkt vorgestellt.

1

2

Der nationalsozialistische Arbeitseinsatz, bearbeitet von Oberregierungsrat Dr. Letsch. In: W. Sommer (Hg.), Die Praxis des Arbeitsamtes. Eine Gemeinschaftsarbeit von Angehörigen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin 1939, S. 35–44, hier 35. Vgl. ebd.

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1.

Institutionen und Behörden für Arbeitskräftelenkung

Die Arbeitsämter

Ursprünglich eingerichtet, um die einzelnen Arbeitnehmer bei der Stellensuche zu unterstützen und im Falle ihrer Arbeitslosigkeit die Höhe der Arbeitslosenunterstützung zu bestimmen und auszuzahlen, wandelten sich die Arbeitsämter im Verlauf der 1930er-Jahre zu Instrumenten der staatlichen Lenkungspolitik.3 Dies ging für die Arbeitsverwaltung mit einem institutionellen Umbau einher: Ihre organisatorische Spitze, die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, war als selbstständige Körperschaft öffentlichen Rechts gegründet worden und beruhte auf dem Selbstverwaltungsprinzip. Ihr nachgeordnet waren 13 Landesarbeitsämter sowie über 350 Arbeitsämter.4 Nach dem Herrschaftsantritt der Nationalsozialisten 1933 verlor die Reichsanstalt ihre Selbstverwaltungsbefugnisse, auch wenn sie ihre organisatorische Selbstständigkeit zunächst wahren konnte. Sie wurde ebenso wie die ihr nachgeordneten Ämter nach dem Führerprinzip gegliedert und personellen Säuberungen unterworfen.5 Institutionengeschichtlich ist die Arbeitsverwaltung bisher wenig erforscht worden.6 Die Forschungen zur Kriegszeit konzentrieren sich auf den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel (1894–1946), die Rolle der Arbeitsämter beim Einsatz der Zwangsarbeiter und der Verfolgung der Juden sowie auf einige Spezialfragen.7 Für den Raum Chemnitz ist zur Gliederung und personellen Besetzung der Arbeitsämter nur wenig Quellenmaterial erhalten. Am deutlichsten ist das Bild noch für das Arbeitsamt Chemnitz, das aufgrund seiner Lage im industriellen Zentrum der Region in der Kriegszeit offenbar eine gewisse informelle Vorrangstellung vor den anderen fünf Arbeitsämtern im Regierungsbezirk, nämlich den Arbeitsämtern Annaberg, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau,

3 Vgl. Volker Herrmann, Vom Arbeitsmarkt zum Arbeitseinsatz. Zur Geschichte der Reichsanstalt für Arbeitslosenvermittlung 1929 bis 1939, Frankfurt a. M. 1993. 4 Vgl. ebd., S. 7. 5 Vgl. ebd., S. 47–50. 6 Vgl. ebd.; Horst Kahrs, Die ordnende Hand der Arbeitsämter. Zur deutschen Arbeitsverwaltung 1933–1939. In: Arbeitsmarkt und Sondererlass. Menschenverwertung, Rassenpolitik und Arbeitsamt. Hg. von Götz Aly, Matthias Hamann, Susanne Heim und Ahlrich Meyer, Berlin 1990, S. 9–61; Dieter G. Maier, Arbeitsverwaltung und nationalsozialistische Judenverfolgung in den Jahren 1933–1939. In: Arbeitsmarkt und Sonder­ erlass, S. 62–136; zum Arbeitsrecht siehe Andreas Kranig, Arbeitsrecht im NS-Staat. Texte und Dokumente, Köln 1984; ders., Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983; zur Geschichte des Chemnitzer Arbeitsamtes Schaller, Fabrikarbeit, S. 21–31, 104–111. 7 Vgl. Dieter G. Maier, Arbeitseinsatz und Deportation. Die Mitwirkung der Arbeitsverwaltung bei der nationalsozialistischen Judenverfolgung in den Jahren 1938–1945, Berlin 1994; Ruppert, Geist, S. 253–283; Stefanie Oppel, Die Rolle der Arbeitsämter bei der Rekrutierung von SS-Aufseherinnen, Freiburg 2006; Naasner, Machtzentren, S. 30–51; Herbert, Fremdarbeiter, insbes. S. 149–154; zum Leben Sauckels Steffen Raßloff, Fritz Sauckel. Hitlers „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“, Erfurt 2007.

Die Arbeitsämter

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genoss. Auch das Arbeitsamt Chemnitz war im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten personell gesäubert worden. Nachdem jedoch der Bedarf an Fachleuten immer offenkundiger wurde, blieben mindestens 60 nichtpolitische Verwaltungsexperten im Amt, die sich der NSDAP offenbar im Verlauf der 1930er-Jahre mehr oder weniger zögerlich annäherten. Insgesamt gehörten 1939 90 Prozent der Beamten, 77 Prozent der Angestellten und 31 Prozent der Arbeiter des Chemnitzer Arbeitsamtes der NSDAP an.8 Weitere bis in den lokalen Verwaltungsunterbau hineinwirkende Organisationsveränderungen beschloss die NS-Regierung in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre. Ein Führerbefehl vom Dezember 1938 gliederte die Reichsanstalt als Abteilung „Arbeitseinsatz“ in das Reichsarbeitsministerium ein. Ihr bisheriger Präsident, Friedrich Syrup (1881–1945), erhielt dort die Position eines Staatssekretärs. Die nachgeordneten Landesarbeits- und Arbeitsämter verwandelten sich im Frühjahr 1939 in dem Reichsarbeitsministerium nachgeordnete Reichsbehörden.9 Außerdem wurden die Arbeitsämter mit mehreren neugeschaffenen Sonderbehörden verzahnt: Bereits 1936 wurde Syrup zu einem der beiden Leiter der Geschäftsgruppe „Arbeitseinsatz“ in der Vierjahresplanbehörde ernannt und die Reichsanstalt damit indirekt den Weisungen von dessen Leiter Hermann Göring (1893–1946) unterworfen.10 Seit 1937 waren die Leiter der Arbeitsämter außerdem Beauftragte der „Treuhänder der Arbeit“.11 Das Tätigkeitsfeld der Arbeitsämter als Beauftragte des sächsischen Treuhänders Ernst Stiehler schlägt sich in den Arbeitsamtsquellen zur Region Chemnitz allerdings kaum nieder. Der sich mit dem Russlandfeldzug im Herbst 1941 zuspitzende Arbeitskräftebedarf des Regimes führte über Umwege im Frühjahr 1942 zu einer Lösung, die das institutionelle Gefüge der Arbeitsamtshierarchie erneut grundsätzlich veränderte. Als im Frühjahr 1942 der thüringische Gauleiter Fritz Sauckel zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA) im Rahmen des Vierjahresplans ernannt wurde, wurden ihm zur Erfüllung seiner Aufgaben die für die Lohnpolitik und den Arbeitseinsatz zuständigen Abteilungen des Reichsarbeitsministeriums unterstellt und damit das Reichsarbeitsministerium fachlich geradezu entkernt. Gleichzeitig löste Göring die Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz des Vierjahresplans auf und übertrug ihre Funktionen an den Generalbevollmächtigten. Sauckel konnte zur Umsetzung seiner weitreichenden Vollmachten im Bereich des Arbeitseinsatzes auf den Instanzenzug der Arbeitsämter und der Reichstreuhänder zurückgreifen. Er selbst bestimmte die Gauleiter zu seinen

 8 Vgl. Schaller, Fabrikarbeit, S. 28–30.  9 Vgl. Herrmann, Arbeitsmarkt, S. 159; Naasner, Machtzentren, S. 31; Recker, Sozialpolitik, S. 20 f. 10 Vgl. Andreas Kranig, Lockung und Zwang. Zur Arbeitsverfassung im Dritten Reich, Stuttgart 1983, S. 68; Herrmann, Arbeitsmarkt, S. 159; Naasner, Machtzentren, S. 31. 11 Vgl. Hachtmann, Industriearbeit, S. 120.

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Institutionen und Behörden für Arbeitskräftelenkung

Bevollmächtigten, mit denen die Landesarbeitsämter und Reichstreuhänder eng kooperieren sollten.12 Leiter des Chemnitzer Arbeitsamtes war die gesamte Kriegszeit über Oberregierungsrat Martin Geidel, ein 1882 geborener Verwaltungsbeamter, der erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Partei eintrat. Seine ursprünglich zwei Stellvertreter scheinen bis spätestens Ende 1941 auf einen reduziert worden zu sein.13 Nach einem Organisationsplan von Juli 1942 besaß das Arbeitsamt Chemnitz vier Abteilungen, deren wichtigste für den hier behandelten Zusammenhang die Abteilung „II A – Arbeitseinsatz“ darstellte. Hier war auch dasjenige Sachgebiet angesiedelt, das die Verbindung zu „Wehrmachts- und ähnlichen Stellen“ zu halten hatte sowie für Betriebsüberprüfungen und Lageberichte zuständig war.14 1944 besaß das Arbeitsamt 303 Mitarbeiter, davon 179 Frauen und 124 Männer. 98 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren „Kriegshilfsangestellte“, also ungelernte Kräfte.15 1943 wurden die Landesarbeitsämter in Gauarbeitsämter umgewandelt und die Reichstreuhänderverwaltung angegliedert,16 eine Veränderung, die in Sachsen von geringerer Tragweite war als in anderen Reichsteilen, da hier der Gau schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in seiner geografischen Ausdehnung dem Land entsprochen hatte. In Sachsen war seit 1938 der 1888 geborene Jurist Dr. Martin Möbius Chef des Landes-, und ab Mitte 1943 des Gauarbeitsamtes.17 Für die Arbeitsämter der Region Chemnitz blieb die Umbenennung des Landes- in Gauarbeitsamt, zumindest im Bereich der Arbeitskräftelenkung, allem Anschein nach folgenlos.

12 Vgl. Naasner, Machtzentren, S. 32–39; Kroener, Ressourcen, S. 779–782; Eichholtz, Geschichte II, S. 74–79; Recker, Sozialpolitik, S. 166, spricht von Weisungsbefugnissen der Gauleiter gegenüber den LAÄ. 13 Nachweisung über die Stellenbesetzung beim Arbeitsamt Chemnitz nach dem Stand vom 1.7.1939 (Stadtarchiv Chemnitz, Arbeitsamt, 116, Bl. 75–81); Arbeitsamt Chemnitz vom 6.12.1941, Übersicht über die Dienstpostenbesetzung im Arbeitsamt Chemnitz (ebd., Bl. 310); Arbeitsamt Chemnitz vom 3.2.1943, Liste der Amtsleiter, Stellvertreter usw. (ebd., Bl. 165). 14 Organisationsplan des Arbeitsamtes Chemnitz, Stand vom 1.7.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.). 15 Schaller, Fabrikarbeit, S. 110. 16 VO des GBA vom 27.7.1943 über die Gauarbeitsämter. In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 5 (1943), S. 511–513; vgl. auch Walter Stothfang, Zur Errichtung der Gauarbeitsämter. In: Der Arbeitseinsatz, (1943) 1, S. 11 f. Zu den Auswirkungen in Thüringen siehe Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 280 f. 17 Möbius, Martin, o. A., o. S. In: Wer leitet? Die Männer der Wirtschaft und der einschlägigen Verwaltung einschließlich Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte 1941/42, Berlin 1942.

Rüstungskommando und Rüstungsinspektion

2.

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Das Rüstungskommando Chemnitz und die Rüstungsinspektion IV/IVa

Die Organisationsgeschichte der Rüstungskommandos und Rüstungsinspektionen ist bislang kaum systematisch erforscht worden.18 Der folgende Überblick stellt die wichtigsten Daten zur Organisationsentwicklung des Rüstungskommandos Chemnitz und der Rüstungsinspektion IV/IVa vor. Seit 1935 bestanden im Deutschen Reich auf der regionalen Ebene sogenannte Wehrwirtschaftsstellen, die zusammen mit den ihnen auf Wehrkreisebene übergeordneten Wehrwirtschaftsinspektionen die wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen auf lokaler bzw. regionaler Ebene vorantreiben sollten und in den Instanzenzug des Reichskriegsministeriums gehörten. Bei Kriegsbeginn führte sie der beim OKW angesiedelte Wehrwirtschaftsstab unter Leitung von General Georg Thomas (1890–1946). Außerdem waren die Oberbefehlshaber der drei Wehrmachtsteile und der jeweilige Wehrkreisbefehlshaber den Wehrwirtschaftsinspektionen gegenüber weisungsberechtigt.19 Im November 1939 wurden die Wehrwirtschaftsstellen in Rüstungskommandos und die Wehrwirtschaftsinspektionen in Rüstungsinspektionen umbenannt. Der Wehrwirtschaftsstab hieß jetzt Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt.20 Wehrwirtschaftsinspektionen und Wehrwirtschaftsstellen hatten vor dem Krieg die Vorbereitungen der Rüstungsbetriebe auf den Mobilmachungsfall zu leiten und die Friedensproduktion von Waffen, Munition und anderem Kriegsgerät zu überwachen und sicherzustellen.21 Nach der Umsetzung der Mobilmachungspläne in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn trat die Überwachung und Förderung der Rüstungsproduktion in den Betrieben in den Vordergrund ihrer Tätigkeit.22 Das Rüstungskommando Chemnitz betreute die Rüstungsunternehmen der Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau bis September 1942 auch des Kreises Freiberg.23 18 Vgl. bisher lediglich Einleitung. In: Findbuch Rüstungsinspektionen des BA-MA Freiburg, RW 20. 1937–1945, bearbeitet von Julia Henrichs und Antje Niebergall, Koblenz 2005, unpag. (http://startext.net-build.de:8080/barch/MidosaSEARCH/RW201– 30899/index.htm; 2.8.2012). Auf dem Findbuch beruht weitgehend auch der Artikel von Jens Hummel, Das Rüstungskommando Chemnitz. In: Verlagerter Krieg, S. 5–17. 19 Vgl. Vortrag des Major G., Abt. L[uft]w[affe] der W. In. II, gehalten im März 1939 in Wismar, Neustrelitz und Schwerin vor Res[erve-]Offizieren der L[uft]w[affe], Das Aufgabengebiet einer WehrwirtschaftsInspektion (BA-MA Freiburg, RW 19/1289, Bl. 70–87, hier 79). 20 Vgl. Einleitung Findbuch Rüstungsinspektionen, unpag. Im Folgenden wird die Bezeichnung Rüstungsinspektion und Rüstungskommando gewählt, wenn von den die Umbennung übergreifenden Zeiträumen die Rede ist. 21 Vgl. Vortrag des Major G., gehalten im März 1939, Das Aufgabengebiet einer Wehrwirtschaftsinspektion (BA-MA Freiburg, RW 19/1289, Bl. 70–87). 22 Vgl. RüIn IV, Geschichte der RüIn IV vom Kriegsbeginn bis zum 30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/8, Bl. 72). 23 Vgl. Gebietseinteilung W in IV. Karte. Stand 31.8.1938 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/27, Bl. 24). Zur Ausgliederung des Kreises Freiberg siehe RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (RW 21–11/12, Bl. 17RS).

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Institutionen und Behörden für Arbeitskräftelenkung

Der 1888 geborene Leiter, Fritz Paul Spangenberg, stammte aus Thüringen und trat 1908 in die Armee ein. An der militärtechnischen Akademie in Berlin-Charlottenburg zum Berufsoffizier mit „Befähigung zum Ingenieurs­ dienst“24 ausgebildet, nahm er am Ersten Weltkrieg während dessen gesamter Dauer teil. Nach der Demobilisierung absolvierte er ein rechtswissenschaftliches Studium und war als Gewerbeaufsichtsbeamter in leitenden Positionen tätig. Dabei hatte er sich intensiv mit arbeitsrechtlichen Fragen befasst. 1936 trat Spangenberg, immerhin schon 48-jährig, wieder in den Militärdienst. Die Positionen des Leiters der Wehrwirtschaftsstelle bzw. des Rüstungskommandos bekleidete er von Ende 1937 bis 1945, derweil wurde der Major zum Oberst befördert.25 Beurteilungen charakterisierten ihn als ruhigen, etwas pedantischen Menschen mit bescheidenem Auftreten. Sie bescheinigten ihm, das Rüstungskommando gut zu führen und sein Arbeitsgebiet zu beherrschen. Insbesondere hoben sie Spangenbergs gute Beziehungen zu den örtlichen Unternehmern hervor.26 Der Chef des Rüstungskommandos war zwar ein Auswärtiger, es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass einige der ihm nachgeordneten Offiziere den örtlichen Unternehmensleitungen entstammten. Beispielsweise war sein Adjutant, Hauptmann Lemke,27 im zivilen Leben stellvertretender Betriebsführer der Chemnitzer Wirkmaschinenfirma Hilscher.28 Die daraus entstehenden personellen Verbindungen zur Industrie wurden mindestens in Einzelfällen aktiv genutzt, beispielsweise bei der Einarbeitung von Offizieren, für die sich Hilscher als Übungsunternehmen zur Verfügung stellte.29 Es ist nicht immer einfach zu umreißen, was sich aus der Betreuung von Rüstungsunternehmen für die Tätigkeit der Rüstungsinspektionen und -kommandos im Einzelnen ergab, teils weil entsprechende Quellen fehlen, teils weil die Kompetenzen vielfach zwischen den einzelnen Institutionen umstritten waren. In Bezug auf die Arbeitskräftelenkung lassen sich beim Rüstungskommando Chemnitz für 1940 folgende Tätigkeitsfelder grob unterscheiden: Erstens war es federführend bei der Uk-Stellung von Wehrpflichtigen. Zweitens

24 Spangenberg am 8.7.1936, Lebenslauf (BA-MA Freiburg, PERS 6/6999, unpag.). 25 Vgl. Personalnachweis: Spangenberg, Fritz Paul, o. D. (ebd.); Hauptmann a. D. Spangenberg am 8.7.1936, Lebenslauf (ebd.). 26 Vgl. Wehrwirtschaftsinspektion IV, Witting, am 10.3.1939, Ergänzungsoffizier-Beurteilung zum 15.4.1939 über den Major Paul Spangenberg, Leiter der Wehrwirtschaftsstelle Chemnitz (BA-MA Freiburg, PERS 6/6999, unpag.); RüIn IV am 20.2.1941, Beurteilung über den Oberstleutnant Spangenberg, Paul (ebd.); RüIn IV am 1.4.1942, Beurteilung zum 1.5.1942 über den Oberstleutnant Spangenberg, Paul (ebd.); RüIn IVa des RMfRuK am 1.3.1944, Beurteilung zum 1.4.1944 über den Oberst Spangenberg, Paul (ebd.). 27 Vorname nicht zu ermitteln. 28 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 4.4.1940– 30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 3–11, hier 9). 29 Ebd.

Rüstungskommando und Rüstungsinspektion

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beteiligte es sich an Betriebsüberprüfungen, die die Umsetzung von Arbeitskräften von weniger kriegswichtigen Arbeitsplätzen in die Rüstungsproduktion zum Ziel hatten. Sein dritter Aufgabenbereich war die Spionageabwehr in den Rüstungsbetrieben, der vierte die Kontrolle über die Einhaltung der Luftschutzvorschriften durch die Unternehmen. Da es die Bearbeitung von Rüstungsaufträgen in den Betrieben von der Auftragsvergabe bis zur Abnahme durch die Wehrmacht mit Rat und Kontrolle zu begleiten hatte, geriet ihm schließlich fünftens eine Vielzahl von arbeitsorganisatorischen und sozialpolitischen Fragen in den Blick, deren Regelung es in seinem Interesse zu beeinflussen suchte. Dabei ging es beispielsweise um die Aus- und Fortbildung von Arbeitnehmern, die Frauenbeschäftigung, die Arbeitszeitgestaltung oder die zusätzliche Lebensmittelversorgung von Rüstungsbetrieben.30 Im Zuge des polykratischen Machtkampfes auf der Reichsebene veränderte sich die institutionelle Zuordnung des wehrwirtschaftlichen Instanzenstranges. Darauf soll in den folgenden Kapiteln genauer eingegangen werden, soweit die Arbeitskräftelenkung davon betroffen war. An dieser Stelle genügt es daher, die organisatorischen Veränderungen überblicksartig zu skizzieren. Im Mai 1942 wurde im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen dem Minister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer (1905–1981), auf der einen und General Thomas auf der anderen Seite das diesem unterstehende Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt geteilt: Das Rüstungsamt ging mitsamt den Rüstungsinspektionen und den ihnen nachgeordneten Rüstungskommandos an das Ministerium für Bewaffnung und Munition, ab 1943 Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion, über. Das Personal gehörte jedoch weiterhin zur Wehrmacht und war nur abgeordnet. Das Wehrwirtschaftsamt blieb beim OKW und behielt als Unterbau sogenannte Wehrwirtschaftsinspekteure mit ihren Dienststellen. Die Wehrwirtschaftsinspekteure waren allerdings gleichzeitig die Rüstungsinspekteure, und ihre Dienststellen blieben räumlich sowie in der Personal- und Haushaltsorganisation in die Rüstungsinspektion inkorporiert, bis sie im Februar 1943 zu den Wehrkreiskommandos wechselten.31 Zahlenmäßig handelte es sich um kleine Einheiten, in Dresden umfasste sie sieben Mitarbeiter.32 Beide Ämter, das Rüstungsamt und das Wehrwirtschaftsamt, leitete zunächst noch Thomas, bis ihn Speer im Herbst 1942 endgültig aus dem Munitionsministerium hinausmanövrierte und durch Generalmajor Kurt Waeger (1893–1952)

30 Vgl. Arbeitsplan des Rüstungsbereichs Chemnitz [mit Stempeldatum 15.10.1940] (BAMA Freiburg, RW 21–11/5, Bl. 33–37). 31 Vgl. Rolf-Dieter Müller, Albert Speer und die Mobilisierung der Rüstungspolitik im totalen Krieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 5/2, S. 275–773, hier S. 286 f.; Hans-Joachim Weyres-von Levetzow, Die deutsche Rüstungswirtschaft von 1942 bis zum Endes des Krieges. Univ. Diss. München 1975, S. 29; Gregor Janssen, Das Ministerium Speer. Deutschlands Rüstung im Krieg, Berlin (West) 1968, S. 50 f.; Einleitung Findbuch Rüstungsinspektionen (BA-MA Freiburg, unpag.). 32 Vgl. RüIn IV, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 3 f.).

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Institutionen und Behörden für Arbeitskräftelenkung

ersetzte. Auch das Rüstungsamt im OKW höhlte Speer durch die Übernahme von immer weiteren Tätigkeitsbereichen in seinen Machtbereich aus, bis es nach dem Abgang von Thomas ab Frühjahr 1943 zum Torso verkam.33 Da die dem Rüstungskommando Chemnitz übergeordnete Rüstungsinspektion IV/IVa für die Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz eine wichtige Rolle spielt, wird im Folgenden auf einige Aspekte ihrer Entwicklung eingegangen. Für die Rüstungsinspektion hatte der Übergang ins Ministerium Speer einige Veränderungen in der geografischen Zuordnung der Rüstungskommandos zur Rüstungsinspektion IV zur Folge. Bisher hatte die Rüstungsinspektion IV den gesamten Wehrkreis IV betreut, der neben dem Land bzw. Gau Sachsen auch Teile der preußischen Provinz Sachsen sowie des Sudetenlandes umfasste.34 Im September 1942 veranlasste Speer eine weitgehende Anpassung der Rüstungsinspektionsgrenzen an die Gaugrenzen. Für die Rüstungsinspektion in Dresden bedeutete das, dass sie den zum Gau Halle-Merseburg gehörenden Rüstungskommandobereich Halle verlor. Allerdings behielt sie zunächst die Zuständigkeit für die Rüstungskommandobereiche Reichenberg und Karlsbad, die ebenfalls nicht zum Gau Sachsen gehörten.35 Am 1. Mai 1943 schieden die Rüstungskommandos Reichenberg und Karlsbad aus der Betreuung durch die Dresdner Rüstungsinspektion aus. Diese führte nunmehr die Bezeichnung Rüstungsinspektion IV a, während in Reichenberg eine Rüstungsinspektion IV b eingerichtet wurde.36 Nacheinander leiteten drei Generäle der Luftwaffe die Rüstungsinspektion IV bzw. IV a: Der bei Kriegsausbruch bereits 60-jährige Generalmajor Walter Witting führte die Rüstungsinspektion bis Ende September 1940, bis er ins Reichsluftfahrtministerium wechselte.37 Sein Nachfolger, Generalmajor Walter

33 Vgl. Müller, Speer, S. 287–289 mit Anm. 42; Janssen, Ministerium, S. 51 f. 34 Vgl. Gebietseinteilung W In IV. Karte. Stand 31.8.1938 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/27, Bl. 24); RüIn IV, RüIn IV, Geschichte der RüIn IV vom Kriegsbeginn bis zum 30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/8, Bl. 3). 35 Vgl. Gebietseinteilung der Rüstungsdienststellen des RMfBuM ab 1.10.1942. In: Nachrichten des RMfBuM (1942) 12, S. 123; Weyres-von Levetzow, Rüstungswirtschaft, S. 31 f. Das Rüstungskommando Karlsbad ist möglicherweise erst im Februar 1943 aus Teilen des Rüstungskommandos Reichenberg entstanden, siehe Vortrag Hauptmann Dr. Klippgen vom RüKdo Dresden am 19.11.1942, Die Organisation eines deutschen Rüstungskommandos (BA-MA Freiburg, RW 19/537, Bl. 7–23, hier 7), der nur Reichenberg als zugehöriges Rüstungskommando aufführt, sowie RüIn IV, Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 12), wo die Ausgliederung zweier Kreise aus dem Bereich der Zuständigkeit des RüKdos Reichenberg und ihr Übergang zum RüKdo Karlsbad beschrieben wird. 36 Vgl. Gebietseinteilungen der Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos. In: Nachrichten des RMfBuM (1943) 22, S. 234; RüIn IVa, Kriegstagebuch 1.4.1943–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 6). 37 Vgl. Karl Friedrich Hildebrand, Die Generale der deutschen Luftwaffe 1935–1945. Die militärischen Werdegänge der Flieger-, Flakartillerie-, Fallschirmjäger-, Luftnachrichtenund Ingenieur-Offiziere einschließlich der Ärzte, Richter, Intendanten und Ministerialbeamten im Generalsrang, Band 3: Odebrecht-Zoch, Osnabrück 1992, S. 532 f.

Industrie- und Handelskammer Chemnitz

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Friedensburg, der die Arbeit der Rüstungsinspektion am stärksten prägte, war bereits im Ersten Weltkrieg Flugzeugführer gewesen.38 Während der Weimarer Republik hatte er lange Zeit als Flugkapitän und Auslandssachbearbeiter für die Junkers-Werke39 gearbeitet. Er blieb Rüstungsinspekteur bis Mitte August 1943 und wechselte dann zum Luftgaukommando III. Die letzten beiden Kriegsjahre übernahm schließlich Generalleutnant Wolfgang Weigand das Amt des Rüstungsinspekteurs, ein Offizier, der bis 1933 noch in der Marine tätig gewesen war und erst relativ spät zur Luftwaffe wechselte.40

3.

Die Industrie- und Handelskammer Chemnitz

In der Weimarer Republik waren die Industrie- und Handelskammern Anstalten des öffentlichen Rechts, die die Industrie- und Handelsunternehmen in ihrem jeweiligen geografischen Bereich organisierten. Sie unterstützten die Unternehmen mit ihren Dienstleistungen und vertraten ihre wirtschaftspolitischen Interessen.41 Auf der mittleren Ebene existierten rein privatrechtlich organisierte Regionalverbände. Als Spitzenverband übergeordnet war ihnen der Deutsche Industrie- und Handelstag.42 Nach der Machtübernahme besetzten die Nationalsozialisten zunächst wichtige ehren- und später auch wichtige hauptamtliche Positionen der Industrie- und Handelskammern (IHK) mit Gefolgsleuten.43 In Sachsen wurden die Industrie- und Handelskammern im Juni 1933 formell aufgelöst und neu gegründet.44 1934 legte die NS-Reichsregierung für die Industrie- und Handelskammern auch offiziell das Führerprinzip fest und unterstellte sie dem Reichswirtschaftsministerium.45 Die Aufsicht behielten jedoch zunächst die Landesregierungen. In Sachsen gab es ab 1934 offenbar Konflikte zwischen Reich und Landesregierung über die Unterstellung der Kammern, die noch weitgehend unerforscht sind.46

38 Vgl. ebd., Band 1, S. 320–322. 39 Zur Geschichte von Junkers vgl. Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918–1945, Düsseldorf 1997. 40 Vgl. Hildebrand, Generale, Band 3, S. 490 f. 41 Vgl. Ralf Stremmel, Kammern der gewerblichen Wirtschaft im „Dritten Reich“. Allgemeine Entwicklungen und das Fallbeispiel Westfalen-Lippe, Dortmund 2005, S. 151; Jacqueline Schmaltz, Die Entwicklung der Industrie- und Handelskammern. Zwischen Pflicht und Kür, Frankfurt a. M. 2010, S. 89–94. 42 Vgl. Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus. 1933– 1944, Frankfurt a. M. 1984, S. 288, 291. 43 Vgl. Stremmel, Kammern, S. 92–105. 44 Hagen Markwardt, Georg Bellmann. Hauptgeschäftsführer der IHK Dresden. In: Christine Pieper/Mike Schmeitzner/Gerhard Naser (Hg.), Braune Karrieren. Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus, Dresden 2012, S. 187–192, hier 188. 45 Stremmel, Kammern, S. 118. 46 Vgl. Markwardt, Bellmann, S. 188.

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Institutionen und Behörden für Arbeitskräftelenkung

Alle Industrie- und Handelskammern waren in der ebenfalls 1934 geschaffenen Reichswirtschaftskammer Mitglied sowie in der mit dieser eng verbundenen Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern als Nachfolgerin des Deutschen Industrie- und Handelstages. Mitte der 1930er-Jahre neu geschaffen wurde eine mittlere Ebene, die Wirtschaftskammern. Deren Abteilung Indus­ trie- und Handelskammern sollten die Tätigkeit der Kammern in ihrem regionalen Zuständigkeitsbereich koordinieren.47 In Sachsen wurde die IHK Dresden in die Wirtschaftskammer Sachsen umgewandelt und erhielt damit nicht nur zusätzliche Abteilungen, sondern auch eine Vorrangstellung gegenüber den übrigen sächsischen Industrie- und Handelskammern.48 Die IHK Chemnitz war zuständig für das Gebiet der Kreishauptmannschaft bzw. des Regierungsbezirks Chemnitz zuzüglich der Amtshauptmannschaften bzw. Kreise Döbeln und Rochlitz. Auch sie war 1933 aufgelöst und neu gegründet worden.49 Laut Satzung von 1935 bestand ihre Aufgabe darin, die „Gesamtbelange der Unternehmungen der Industrie, des Handels, des Verkehrs, der Versicherungen und der Banken des Kammerbezirks“50 zu vertreten. Außerdem diente sie den Behörden als „sachverständiges Organ in Wirtschaftsfragen“. Die wichtigsten Organe der Kammer waren der Präsident und seine Stellvertreter sowie der Beirat, der aus örtlichen Unternehmensleitungen bestand und somit eine wichtige Verbindung in die Region darstellte. Alle Personen in diesen Ämtern übten ihre Funktion ehrenamtlich aus. Eine besondere Rolle spielte daher der Geschäftsführer, später Hauptgeschäftsführer, als oberster hauptamtlicher Funktionär der Kammer.51 Die nationalsozialistische Neubesetzung wichtiger Positionen der Kammer führte zu langjährigen Personalquerelen, unter denen die Kammer bis 1938 litt. Sie betrafen das Amt des Geschäftsführers, in dem bis 1935 ein revolutio­närer alter Kämpfer ohne ausreichende fachliche Qualifikationen den Dienstbetrieb offenbar kräftig durcheinander brachte,52 sowie bis 1938 das Amt des Präsiden-

47 Neumann, Behemoth, S. 295 f.; vgl. auch Stremmel, Kammern, S. 150 f., 159–178. 48 Vgl. Markwardt, Bellmann, S. 188. 49 Vgl. Mitscherling an RWM am 16.5.1936 (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 261–270, hier 265). 50 Satzung der Industrie- und Handelskammer [Chemnitz] vom 25.1.1935, genehmigt durch RWM am 21.2.1935, § 2 (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 2–4, hier 1). 51 Vgl. ebd.; 3. Nachtrag zur Satzung der Industrie- und Handelskammer Chemnitz vom 25.10.1938 (BA Berlin, R 3101/9451, Bl. 196 f.). 52 Vgl. insbesondere Mitscherling an RWM am 16.5.1936 (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 261–270, hier 265–267); M. S. an die DAF am 22.11.1936 (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 345 f.); Mitscherling an RWM am 19.3.1937, Entlassung des Pg. M. S. aus dem Dienstverhältnis bei der Industrie- und Handelskammer Chemnitz (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 347–353); Schöning an Präsidium der IHK Chemnitz am 12.3.1937, Betrifft den früheren Geschäftsführer der Kammer (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 354–364); generell BA Berlin, R 3101/9450, passim.

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ten. Wegen der Aufsichtspflichten des Landes- und Reichswirtschaftsministeriums zogen die Querelen bis nach Dresden und Berlin ihre Kreise.53 Nach mehreren Personalwechseln trat schließlich am 1. April 1938 Hans Schöne das Amt als oberster Repräsentant der IHK an, ein 1890 geborener Chemnitzer, der Mitinhaber einer Textilfabrik war.54 1931 der NSDAP beigetreten, war er in den Jahren 1933 bis 1937 bei der Stadt Chemnitz Kreisbearbeiter für die Arbeitsschlacht gewesen. Noch nach seinem Amtsantritt als IHK-Präsident übte Schöne bis in den Krieg hinein das Amt eines „Sonderbeauftragten für Arbeitseinsatz“ in der Chemnitzer NSDAP-Kreisleitung aus.55 Als Ratsherr der Stadt Chemnitz bereits in den 1930er-Jahre eine wichtige Person in der Stadt, stieg er im Verlauf des Krieges zum stellvertretenden bzw. kommissarischen NSDAP-Kreisleiter auf,56 nachdem der amtierende Kreisleiter Oskar Zschake-Papsdorf im Mai 1940 in die Wehrmacht eingetreten war und seit Juli 1944 als vermisst galt.57 Er war zumindest ein guter Bekannter des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann (1879–1947), was ihn nicht hinderte, nach dem Krieg gegen diesen vor den sowjetischen Untersuchungsbehörden auszusagen.58 Inwieweit Schöne allerdings tatsächlich in die praktische Arbeit der Kammer eingriff, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Sicher ist nur, dass die beiden Vizepräsidenten wenig mit dem Tagesgeschäft zu tun hatten.59 Für die praktischen Tagesfragen war seit 1935 als Hauptgeschäftsführer der 1891 geborene Jurist Dr. Fritz Hillig zuständig, ein Fachmann in Außenhandelsund Zollfragen, der sich zu Beginn seiner Kammertätigkeit nach dem Ersten

53 Vgl. z. B. Lenk an RWM am 23.3.1935 (BA Berlin, R 3101/9450, Bl. 76 f.); RWM, Frielinghaus, am 3.4.1935, Vermerk betr. den Präsidenten der IHK Chemnitz, Herrn Schöning (BA Berlin, R 3901/9450, Bl. 99 f.); Sächsisches Wirtschaftsministerium, Dr. Florey, an RWM, Dr. Pohl, am 19.1.1937, ohne Betreff, mit Anlagen (BA Berlin, R 3901/9450, Bl. 400–404); Vermerk für Dr. Pohl am 22.1.1937 (BA Berlin, R 3901/9450, Bl. 405); generell BA Berlin, R 3101/9450 und R 3101/9451, passim. 54 Niederschrift über die Präsidialsitzung am 23.5.1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 17, unpag.); IHK Chemnitz an die Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern am 11.10.1939, Verzeichnis der Mitglieder des Vorstands, des Beirats und der Geschäftsführung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 17, unpag.). 55 IHK Chemnitz an die Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern am 11.10.1939, Verzeichnis der Mitglieder des Vorstands, des Beirats und der Geschäftsführung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 17, unpag.). 56 Vgl. Schöne, Hans. In: Wer leitet?, o. V., o. S.; Schöne an RWM am 5.4.1938 betr. IV 5994/38 – Personalien und Werdegang (BA Berlin, R 1301/9451, Bl. 13); vgl. Schmeitzner, Fall Mutschmann, S. 92–96, 158. 57 Personalfragebogen für die Anlegung der SA-Personalakte, ausgefüllt von Oskar Zschake­-Papsdorf am 18.12.1941 (BA Berlin, ehem. BDC, PK Oskar Zschake-Papsdorf, 12.1.1902, unpag.); NSDAP-Gau Sachsen, Gauschatzamt, Personalstelle an den Reichsschatzmeister der NSDAP, Hauptamt III Zentralpersonalamt am 21.9.1944 betr. Fernschreiben Nr. 1293: Weiterzahlung der Dienstbezüge an vermisste hauptberufliche Beschäftigte (ebd.). 58 Vgl. Schmeitzner, Fall Mutschmann, S. 92–96. 59 Vgl. Niederschrift über die Präsidialsitzung am 14.6.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 17, unpag.).

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Weltkrieg auch mit Arbeitsrechts- und Tarifvertragsfragen beschäftigt hatte. Hillig, der bereits seit 1919 in der Kammer arbeitete, war im Mai 1933 der NSDAP beigetreten.60 Eine Satzungsänderung im Jahr 1938 ermöglichte es dem Präsidenten, die Kompetenzen seines Hauptgeschäftsführers noch auszuweiten, vor allem in Personalfragen.61 Mehrfach verändert wurde schließlich auch die Zusammensetzung des ehrenamtlichen Beirats. Wie in Württemberg und Bayern62 spielten auch in Südwestsachsen bei dessen Berufung die NSDAP-Kreisleitungen eine wesentliche Rolle: So holte der Präsident der IHK 1938 vor jeder Berufung eines Beiratsmitgliedes bei der zuständigen NSDAP-Kreisleitung ein politisches Leumundszeugnis über ihn ein.63 Kurz vor Kriegsbeginn wurden die Kammern in vielerlei Hinsicht den bei den Wehrkreisen neu geschaffenen Bezirkswirtschaftsämtern unterstellt. Diese waren die Nachfolgebehörden der „wehrwirtschaftlichen Abteilungen“ des Generalbevollmächtigten für die Wirtschaft und als solche die „Außenstellen“ des Reichswirtschaftsministeriums bei den jeweiligen Landesregierungen.64 Sie sollten für die Vorbereitung der sogenannten kriegs- und lebenswichtigen, also nicht direkt in die Waffen-, Geräte- und Munitionsfertigung involvierten Betriebe auf den Kriegsfall sorgen.65 Die 1939 neugeschaffenen Bezirkswirtschaftsämter hatten die Versorgung der Zivilbevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern (außer Lebensmitteln) zu gewährleisten und die Produktion der kriegs- und lebenswichtigen Betriebe in Handel, Handwerk und Gewerbe zu überwachen.66 Die eigentlichen Rüstungsbetriebe bzw. Rüstungsfertigungen fielen allerdings in die Kompetenz der Rüs-

60 Vgl. Personalbogen zu Fritz Hillig vom 9.12.1940 (BA Berlin, R 3101/9454, Bl. 2). 61 Vgl. 3. Nachtrag zur Satzung der Industrie- und Handelskammer Chemnitz vom 25.10.1938 (BA Berlin, R 3101/9451, Bl. 196 f.). 62 Vgl. Christine Arbogast, Herrschaftsinstanzen der württembergischen NSDAP. ­Funktion, Sozialprofil und Lebenswege einer regionalen NS-Elite 1920–1960, München 1998, S. 50 f.; Roth, Parteikreis, S. 269–286. 63 Vgl. Schöne an die NSDAP-Kreisleitungen Marienberg, Stollberg, Annaberg, Flöha, Glauchau, Döbeln am 25.4.1938 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 17, unpag.); Schöne an die NSDAP-Kreisleitung Chemnitz betr. Beirat der IHK Chemnitz am 26.4.1938 (ebd.). Die Antworten der Kreisleitungen siehe ebd., passim. 64 Vgl. zu den wehrwirtschaftlichen Abteilungen (1934 Statistische Abteilungen des RWM, ab 1935 Außenstellen des RWM bzw. des G.B. für die Kriegswirtschaft, spätestens 1939 wehrwirtschaftliche Abteilungen) Zusammenarbeit der W In mit den Außenstellen des G.B., o. V., o. D. [1937] (RW19/907, Bl. 3–18, hier 13–15); Vortrag des Major G., gehalten im März 1939, Das Aufgabengebiet einer WehrwirtschaftsInspektion (BA-MA Freiburg, RW 19/1289, Bl. 78 f.). 65 Vgl. Zusammenarbeit der W In mit den Außenstellen des G. B., o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 19/907, Bl. 3–18); Vortrag des Major G., gehalten im März 1939, Das Aufgabengebiet einer WehrwirtschaftsInspektion (BA-MA Freiburg, RW 19/1289, Bl. 78 f.). 66 Vgl. VO über die Wirtschaftsverwaltung vom 27.8.1939. In: RGBl. I (1939), S. 1496– 1498.

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tungskommandos. Während die Versorgungsaufgaben auf lokaler Ebene von den städtischen Wirtschaftsämtern wahrgenommen wurden, oblag die Produktionsüberwachung der kriegs- und lebenswichtigen Industriebetriebe den Industrie- und Handelskammern, die in diesem Arbeitsbereich ihre Weisungen von den Bezirkswirtschaftsämtern bekamen.67 Das Bezirkswirtschaftsamt des Wehrkreises IV leitete der sächsischen Arbeits- und Wirtschaftsminister und NSDAP-Gauwirtschaftsberater Georg Lenk (1888–1946),68 ein alter Kampfgefährte Mutschmanns.69 Die Bezirkswirtschaftsämter wurden 1941 in Landeswirtschaftsämter umgewandelt und in ihrer Zuständigkeit auf die Länder bzw. Gaue beschränkt.70 In Sachsen erfolgte die Umbenennung im Frühjahr 1941.71 In seiner Funktion als IHK-Präsident wurde Schöne wie alle IHK-Präsidenten mit Kriegsbeginn zusätzlich zum „Reichskommissar“ bestellt.72 Seine diesbezüglichen Aufgaben definierte Schöne zunächst dahingehend, dass Verhandlungen wegen Betriebsschließungen und -zusammenlegungen sowie der Versetzungen von betroffenen Mitarbeitern in andere Unternehmen zu führen seien.73 Die Kompetenzen des „Reichskommissars“ gingen nicht über die den IHK-Leitungen im Rahmen des Aufbaus des zivilen Teils der Kriegswirtschaftsverwaltung ohnehin zugesprochenen Aufgaben hinaus. Die Bestimmung löste aber deshalb bei vielen Industrie- und Handelskammern Widerstand aus, weil sie ihre Rechtsstellung zu verändern drohte: Die Kammerpräsidenten wurden in ihrer Eigenschaft als „Reichskommissare“ den Bezirkswirtschaftsämtern direkt unterstellt. Viele ihrer Mitglieder fürchteten daher eine Verstaatlichung

67 Vgl. ebd.; VO zur Durchführung der VO über die Wirtschaftsverwaltung (Erste DurchführungsVO) vom 27.8.1939, Art. IV. In: RGBl. I (1939), S. 1519 f.; Peter, Rüstungspolitik, S. 56. 68 Vgl. RüIn IV, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 24.8.1939–31.12.1939 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 15). 69 Zur Biografie vgl. Thomas Grosche, Georg Lenk. Wirtschaftsminister Sachsens. In: Pieper/Schmeitzner/Naser (Hg.), Karrieren, S. 180–186; Sachsen in der Kriegswirtschaft. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 6.12.1939; Lenk, Georg. In: Wer leitet? o. V., o. S.; siehe auch Schmeitzner, Fall Mutschmann, passim. 70 Vgl. Fleischer, NS-Gau Thüringen, S. 157 f.; Stremmel, Kammern, S. 200. 71 Eines der ersten Schreiben mit Briefkopf „Landeswirtschaftsamt Sachsen“ stammt vom Mai 1941; vgl. Landeswirtschaftsamt an IHK Chemnitz vom 8.5.1941 betr. Überprüfung der Firma J. Förster, Siegmar-Schönau (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 8, unpag.). 72 Vgl. VO über die Wirtschaftsverwaltung vom 27.8.1939, § 4. In: RGBl. I (1939), S. 1496 f.; VO zur Durchführung der VO über die Wirtschaftsverwaltung (Erste DurchführungsVO) vom 27.8.1939, Art. IV. In: ebd., S. 1520; Der Präsident der IHK Chemnitz an die Firmen des Kammerbezirks am 16.9.1939, ohne Betreff (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 391, unpag.). 73 Vgl. Präsident der IHK Chemnitz als Reichskommissar an die Vizepräsidenten sowie die Mitglieder des Beirats der IHK am 13.9.1939, ohne Betreff (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 17, unpag.).

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der Kammern. Wohl vor allem deshalb unterblieb eine weitere Ausgestaltung des Amtes, bis es 1941 auch formell wieder abgeschafft wurde.74 Auch in Chemnitz scheint die Ernennung ohne Konsequenzen geblieben zu sein, jedenfalls tritt Schöne als Reichskommissar in der Folge in den Quellen nicht mehr in Erscheinung. In die regionale Arbeitskräftelenkung wurde die Kammer sukzessive immer stärker einbezogen. Die Dynamik dieses Prozesses ist einer der Gegenstände der folgenden Kapitel. Der in der Überlieferung am häufigsten in diesem Zusammenhang auftauchende Mitarbeiter der Kammer ist Walter Linse, ein 1903 geborener Jurist, der später im „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen“ aktiven Widerstand gegen den DDR-Sozialismus leistete. Linse wurde nach seiner Flucht nach Westberlin vom sowjetischen Geheimdienst nach Moskau entführt und ermordet. Seine Verstrickung in die Untaten des Nationalsozialismus wurde bisher nur teilweise ausgeleuchtet und unzureichend in die Funktionszusammenhänge des NS-Regimes eingeordnet. Fest steht immerhin, dass Linse als „Referent“ der Kammer an der Enteignung jüdischer Firmeninhaber mitarbeitete.75 Während die „Arisierung“ in einer Zusammenstellung der Aufgabenbereiche der einzelnen Referenten der Kammer von Dezember 1940 als regulärer Arbeitsbereich Linses auftaucht, ist von Aufgaben in der Arbeitskräftelenkung noch nicht die Rede. „Fragen des Arbeitseinsatzes“ hatte als eines seiner Arbeitsgebiete der Diplom-Kaufmann Walter G. zu bearbeiten.76 Im Jahr 1941 nehmen verschiedene Weisungen Bezug auf sogenannte Kräftebedarfsreferenten der Industrie- und Handelskammern, welche den Arbeitskräftebedarf der von ihnen betreuten Firmen überprüfen sollen.77 1942 wurde Walter Linse als Kammermitarbeiter in den Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter involviert und spätestens ab 1943 war er als Mitglied der Kammer in verschiedenen Kommissionen tätig, die sich mit Stilllegung von Betrieben oder Auskämmungen, also der Versetzung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus einem Betrieb in einen anderen, befassten.78 Nach einer jahrelangen Diskussion über die Neuordnung des regionalen Aufbaus der Wirtschaft, über den das Reichswirtschaftsministerium vergeb-

74 Vgl. Stremmel, Kammern, S. 200–202. 75 Vgl. Klaus Bästlein, Vom NS-Täter zum Opfer des Stalinismus. Dr. Walter Linse. Ein Jurist im 20. Jahrhundert, Berlin 2008, S. 49–63; Benno Kirsch, Walter Linse. 1903 – 1953 – 1996, Dresden 2007, S. 22–25. 76 „Industrie- und Handelskammer Chemnitz“ vom 14.12.1940, o. V. (BA Berlin, R 3101/9454, Bl. 4 f.). 77 Vgl. RWK an Wirtschaftskammern, IHKen und Reichsgruppen am 12.3.1941 betr. Umsetzung von Arbeitskräften (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); Der Leiter der RWK an RWM, RAM, RMfBuM sowie den Beauftragten für den Vierjahresplan, Göring, am 20.5.1941, ohne Betreff, S. 3 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); Der Leiter der RWK an RWM am 18.11.1941 betr. Arbeitseinsatzmäßige Sicherung der zivilen Fertigung, S. 6 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.). 78 Vgl. Kap. V. 8.

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lich den Rückgang seines Einflusses auf die Kriegswirtschaft aufhalten wollte, dekretierte es 1942 die gauweise Zusammenfassung der Industrie- und Handelskammern sowie der Handwerkskammern zu Gauwirtschaftskammern. Sie wurden direkt der Aufsicht des Reichswirtschaftsministers unterstellt, der diese Funktion freilich an die Landeswirtschaftsämter delegierte. Die bisherigen Industrie- und Handelskammern wurden teilweise aufgelöst, in Sachsen etwa die IHK Plauen und die IHK Zittau, durften aber bis zur Umsetzung des neuen Erlasses weiterarbeiten.79 Wegen des Widerstands der Handwerkskammerorganisation und der Reichsgruppe Industrie, die gegen die Eingliederung ihrer regionalen Untergliederungen in die Gauwirtschaftskammern waren, sowie der NSDAP-Parteikanzlei unter Martin Bormann, die sich gegen Personalunionen von Gauwirtschaftsberatern und Gauwirtschaftskammerspitze wandte, zog sich die Gründung der Gauwirtschaftskammern noch bis 1943 hin. Sie wurde erst umgesetzt, nachdem Bormann durchgesetzt hatte, dass die Gauleiter direkten Einfluss auch auf die Gauwirtschaftskammern erhielten und eine ­Personalunion zwischen Gauwirtschaftsberater und Gauwirtschaftskammerpräsident ausgeschlossen wurde.80 Die Gauwirtschaftskammer Sachsen wurde im April 1943 gegründet.81 Die bisherige IHK Zittau wurde ihr als Zweigstelle zugeordnet. Plauen erhielt wie Leipzig, Chemnitz und Zwickau den Status einer „Wirtschaftskammer“. Diese Wirtschaftskammern entsprachen vom Aufbau her den Gauwirtschaftskammern, hatten also auch eine Abteilung Handwerk, blieben aber weitgehend selbstständig und waren mit der Gauwirtschaftskammer „eher locker verzahnt“.82 Auf die praktische Tätigkeit der nunmehrigen Wirtschaftskammer Chemnitz in der Arbeitskräftelenkung hatte die Umorganisation offenkundig wenig Einfluss. Die bisherige Zweiteilung der Fertigungen in wehrwirtschaftlich und zivil betreute Betriebe wurde im September 1943 zumindest an der Spitze per Führererlass aufgelöst: Das nunmehr in Ministerium für Rüstung und Kriegsproduktion umbenannte Munitionsministerium übernahm vom Wirtschaftsministerium auch ein Großteil der Zuständigkeiten für die bisher als zivil eingestufte

79 VO des GBW über die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Organisation der gewerblichen Wirtschaft vom 20.4.1942. In: RGBl. I (1942), S. 189; Erste VO zur Durchführung der VO über die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Organisation der gewerblichen Wirtschaft (GauwirtschaftskammerVO) des RWM vom 20.2.1942. In: RGBl. I (1942), S. 189; Zweite VO des RWM zur Durchführung der VO über die Vereinfachung und Vereinheitlichung der Organisation der gewerblichen Wirtschaft. In: RGBl. I (1942), S. 190. 80 Vgl. Stremmel, Kammern, S. 204–210; Peter, Rüstungspolitik, S. 57. 81 Vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 378. 82 Zitat Stremmel, Kammern, S. 210. Diese Wirtschaftskammern sind nicht zu verwechseln mit der Wirtschaftskammer Sachsen, der Vorgängerin der Gauwirtschaftskammer Sachsen; vgl. Stremmel, Kammern, S. 210, der sie als Wirtschaftskammern „neuen Typs“ bezeichnet, sowie die Unterscheidung von Naasner, Machtzentren, S. 178–180, der Wirtschaftskammern „alter Art“ und „neuer Art“ unterscheidet.

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Produktion in Industrie und Handwerk, die aber immer stärker eingebunden wurde in die Fertigung von Vorprodukten oder Zulieferartikeln zur Waffen- und Gerätefertigung sowie in die Produktion von Ausrüstungsgegenständen für die Wehrmacht.83 Die Wirtschaftskammer Chemnitz dürfte damit wie die Gauwirtschaftskammer Sachsen hinsichtlich ihrer Funktionen in der Arbeitskräftelenkung zum Machtbereich des Speerministeriums gehört haben, wenn sich das auch in der lokalen Chemnitzer Praxis kaum sichtbar auswirkte. Insgesamt lässt sich bei der IHK Chemnitz eine im Verlauf des Krieges immer stärkere Einbindung in die kriegswirtschaftliche Arbeitskräftelenkung erkennen. Mit ihrer Bindung zur regionalen Wirtschaft einerseits und der Indienstnahme für kriegswirtschaftlichen Aufgaben andererseits, wandelte sich die IHK Chemnitz von einem Vertreter regionaler Wirtschaftsinteressen zu einem der wichtigen Akteure der Umsetzung der NS-Wirtschafts- und Kriegspolitik in die Praxis vor Ort. Rollenkonflikte waren diesem Feld programmiert, wie die späteren Kapitel, insbesondere zur zweiten Kriegshälfte zeigen werden.

83 Vgl. Erlass des Führers über die Konzentration der Kriegswirtschaft vom 2.9.1943. In: RGBl. I (1943), S. 529 f.; RWM und RMfRuK, 1. DurchführungsVO vom 6.9.1943 zum Erlass des Führers über die Konzentration der Kriegswirtschaft. In: RGBl. I (1943), S. 531 f.; RMfRuK, Erlass über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft vom 29.10.1943. In: Nachrichten des RMfRuK (1943), Anlage zu Nr. 31; Herbst, Krieg, S. 255–261; Janssen, Ministerium, S. 134–139.

IV. Im Schatten des Krieges: Arbeitskräftelenkung und Industriearbeit bis zum Sommer 1942 1.

Die regionale Industrie zwischen Export und Rüstungsfertigung

Welche Bedeutung kam der Region Chemnitz als Rüstungsstandort zu und wie entwickelte sich diese im Laufe der ersten Kriegshälfte? Das folgende Kapitel behandelt diese Frage, da die Arbeitskräftelenkung wesentlich von der Bedeutung der örtlichen Gewerbebetriebe für die Kriegswirtschaft bestimmt war, insbesondere von deren Einbindung in die Rüstungsfertigung des Reichs. Dabei muss zunächst der Begriff „Rüstungsfertigung“ definiert werden. Bereits 1935 wurden die kriegswirtschaftlich relevanten Unternehmen im Reichsgebiet in „Rüstungsbetriebe“, „kriegs- und lebenswichtige“ Betriebe unterteilt. Alle zusammen galten ab Juni 1939 als „Wehrbetriebe“.1 In Anlehnung an eine Definition von 1937 lassen sich diese Betriebs- oder Fertigungstypen wie folgt unterscheiden: Demnach umfasste die Rüstungsproduktion im engeren Sinne die Endfertigung von Waffen, Kriegsgeräten, Munition und Ausrüstungsgegenständen unmittelbar für die Wehrmacht. Als „kriegswichtige“ Fertigungen galten alle Zulieferindustrien für die Rüstungsendfertigung, ob sie nun Rohstoffe, Fertigungseinrichtungen, Werkzeuge und Werkzeugmaschinen oder Halbfertigprodukte herstellten. Auch die Produktion für den Export war grundsätzlich ein Teil der kriegswichtigen Fertigung, da das Deutsche Reich trotz aller Autarkiebestrebungen bestimmte zur Kriegführung notwendige Rohstoffe nur auf dem Weltmarkt erwerben und nur der Export die dafür notwendigen Devisen bereitstellen konnte. Die „lebenswichtigen“ Fertigungen schließlich zielten auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung, vor allem Ernährung, Bekleidung und Wohnung.2 Die „Wehrbetriebe“ wurden keineswegs einheitlich betreut und gelenkt. Vielmehr führte der Streit zwischen Wehrmacht und Reichswirtschaftsministerium um die Gesamtleitung für die wirtschaftliche Mobilmachung zu einem für das polykratische NS-System typischen Herrschaftskompromiss. Während sich das OKW um die reine Rüstungsproduktion kümmern sollte, war der

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Vgl. Zusammenarbeit der W In mit den Außenstellen des GB, o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 19/907, Bl. 3–18, hier 14 f.); Dr. Ing. Würth, Aufgaben der Außenstelle des Reichs- und Preussischen Wirtschaftsministeriums und ihre Zusammenarbeit mit der W In. Entwurf für Vortrag am 5.10.1937 bei W. In. V. (BA-MA Freiburg, RW 19/907, Bl. 49–66, hier 51, 54); Bericht des OKW vom 10.7.1939 über die 2. Sitzung des Reichsverteidigungsrats vom 23.6.1939. In: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 1. November 1945 – 1. Oktober 1946. Amtlicher Text. Deutsche Ausgabe, Band 33: Urkunden und anderes Beweismaterial. Nr. 3729-PS-Nr. 3993-PS, Nürnberg 1949, S. 144–160, hier 150. Vgl. Dr. Ing. Würth, Aufgaben der Außenstelle des Reichs- und Preussischen Wirtschaftsministeriums und ihre Zusammenarbeit mit der W In (BA-MA Freiburg, RW 19/907, Bl. 51, 53–55).

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Im Schatten des Krieges

­ eichswirtschaftsminister als Generalbevollmächtigter für die Wirtschaft für die R kriegs- und lebenswichtigen Betriebe zuständig.3 Eine dritte, für die Kriegsvorbereitung bedeutende Institution wurde 1936/37 mit dem Vierjahresplan unter der Leitung Hermann Görings geschaffen. Eigentlich dafür zuständig, Deutschland bei der Rohstoffversorgung so weit als möglich autark zu machen, führte ihre zunehmende Verflechtung mit dem Reichswirtschaftsministerium schließlich dazu, dass der Reichswirtschaftsminister in entscheidenden Fragen von Görings Weisungen abhing.4 Auch wenn die Unterscheidung zwischen Rüstungsfertigungen, kriegswichtigen und lebenswichtigen Fertigungen im Verlauf des Krieges keinesfalls konsequent verwendet wurde und zudem immer wieder Änderungen unterworfen war, lässt sich die Einbindung der Chemnitzer Region in die Kriegswirtschaft auf dieser Basis skizzieren, soweit dies für das Verständnis der Arbeitseinsatzpolitik des NS-Regimes nötig ist. Weil Produktionszahlen für die Rüstungsfertigung insgesamt bzw. die Produktion einzelner Branchen unterhalb der Gau­ ebene nicht vorliegen, stützt sich die folgende Darstellung zu einem großen Teil auf qualitative Quellen. Diese Analyse wird im weiteren Verlauf der Arbeit zu den Abläufen und Ergebnissen der Arbeitskräftelenkung in Beziehung gesetzt. Die Umstellung der Friedenswirtschaft auf die Kriegswirtschaft seit September 1939 verlief in der Region wie überall im Reich stockend. Dabei spielten die getrennten Zuständigkeiten ebenso eine Rolle wie die Tatsache, dass Hitler die militärische Mobilisierung einige Tage vor der wirtschaftlichen Mobilisierung befahl.5 Die Wehrwirtschafts- bzw. Rüstungsinspektion IV in Dresden, die für ganz Sachsen sowie Teile des mitteldeutschen sowie des sudetendeutschen Raums zuständig war, machte für den holprigen Start vor allem die zivilen Instanzen verantwortlich: Der örtliche Verwaltungsunterbau der zivilen Organisation der Kriegswirtschaft sei vielfach unvollständig gewesen. Bei Kriegsausbruch habe mancherorts nicht einmal eine Liste der kriegswichtigen Betriebe zur Verfügung gestanden. Überdies sei eine Vielzahl von zivilen Instanzen mit Kriegsbeginn ins Geschehen involviert gewesen, habe eine Vielzahl sich zum Teil widersprechender Weisungen erteilt und mitunter auch in Wehrmachtsbelange eingegriffen.6 Dabei waren auch die Instanzenwege innerhalb der Wehrmacht keineswegs klar und eindeutig: So gaben die Materialbeschaffungsämter der Wehrmacht ihre rüstungswirtschaftlichen Anweisungen wie auch ihre Bestellungen für

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Vgl. Herbst, Krieg, S. 111–113; Müller, Mobilisierung, S. 351–369, Peter, Rüstungswirtschaft, S. 119 f. Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 288; Herbst, Krieg, S. 112 f. Vgl. Rudolf Absolon, Die Wehrmacht im Dritten Reich, Band 5: 1. September 1939 bis 18. Dezember 1941, München 1988, S. 43, 47; Müller, Mobilisierung, S. 364 f. W In IV am 21.9.1939 betr. Wirtschaftsbericht September 1939 (BA-MA Freiburg, RW 19/54, Bl. 47–54, hier 52–54, Zitat 53); für Thüringen bzw. den Bereich der W In IX vgl. Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 295–298: Anders als die W In IV kommentierte die WiIn IX die militärische Organisation durchaus selbstkritisch; vgl. ebd., S. 297.

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Kriegsgeräte, Waffen und Munition unter Umgehung der Rüstungskommandos direkt an die Unternehmen, und zwar nicht nur an solche, mit denen sie durch die Planung der Aufrüstung zum Teil bereits seit Jahren in Kontakt standen.7 Das Rüstungskommando Chemnitz beschwerte sich daher im Dezember 1939, dass es vom Informationsfluss abgeschnitten sei und Kenntnisse über die Auftragslage nur zufällig erhalte. Dies beeinträchtige sein Ansehen bei den Unternehmen und führe überdies dazu, dass nicht die von ihm bereits auf ihre Fertigungsmöglichkeiten überprüften Unternehmen Rüstungsaufträge erhielten. Vielmehr würden die Aufträge beliebigen Firmen zugeteilt, die sich bei den Wehrmachtsteilen direkt bewerben würden, zum Teil aber weder vom Maschinenpark und der Betriebsorganisation noch von der Betriebsleitung und der Anzahl ihrer Arbeiter her für solche Fertigungen geeignet seien.8 Die Informations­ defizite blieben teilweise auch während der nächsten Jahre bestehen, zumindest hinsichtlich der Zulieferindustrie. Die Unternehmen der Rüstungsendfertigung beauftragten häufig selbstständig andere Firmen mit Zulieferungen.9 Das Rüstungskommando wurde darüber nur sehr lückenhaft unterrichtet, wie seine wiederholten Bitten an die Firmen um Information zeigen.10 Behindert wurde die Umstellung auch durch Konflikte in der Reichsspitze, die bereits seit Längerem bestanden und nach Kriegsbeginn eine neue Brisanz bekamen. Sie drehten sich vor allem um die Frage, ob das Reich auf einen kurzen oder auf einen langen Krieg setzen sollte, sowie darum, welcher Kurs in der Rüstungswirtschaft angemessen sei. Hitler drängte nach Abschluss des Polenfeldzugs auf eine schnelle Weiterführung des Krieges. Das OKW aber zögerte, weil es mangels Rohstoffen und Rüstungsverzögerungen auf einen langen Krieg setzen wollte.11  7 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 743.  8 Vgl. Beiträge der Zentralgruppe [des RüKdo Chemnitz] zum Kriegstagebuch, o. D. [Dezember 1939] (BA-MA Freiburg, RW 21–11/1, Bl. 29–33, hier 29); Beitrag zum Kriegstagebuch des RüKdo Chemnitz von Gruppe Heer. Erfahrungen der Monate September/Dezember 1939, o. D. [ca. Dezember 1939] ebd., Bl. 34–38, hier 34 f.); Beitrag zum Kriegstagebuch des RüKdo Chemnitz von Gruppe Marine, o. D. [Dezember 1939] (ebd., Bl. 39 f.).  9 Vgl. Bericht über die am 19.10.1939 im Gaujägerhof Grillenburg abgehaltene Besprechung des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis IV (BA-MA Freiburg, RW 204/1, Bl. 199–208, hier 201); OKW am 20.9.40 betr. Kennzeichnung der Dringlichkeit der Aufträge (BA Berlin, R 3901 [alt R 41], 182, Bl. 4); OKW, RMfBuM, RWM am 21.12.1940, Durchführungsbestimmungen (ADFW) zu dem Erlass des Vorsitzenden des Reichsverteidigungsrates, Göring, über Dringlichkeit der Fertigungsprogramme der Wehrmacht vom 20.9.1940 (ebd., Bl. 32–35, hier 32). 10 Vgl. RüKdo Chemnitz an die auf dem Umschlag genannte Firma am 7.10.1940, Rundschreiben Nr. 118/40 betr. Dringlichkeit der Fertigungsprogramme der Wehrmacht (BA-MA Freiburg, RW 2111/5, Bl. 28); RüKdo Chemnitz an die auf dem Umschlag genannte Firma am 14.2.1941, Rundschreiben Nr. 184/41 betr. Stillhalteabkommen für besondere Vorhaben im Interesse der Reichsverteidigung (BA-MA Freiburg, RW 2111/6, Bl. 35); Bericht über die Zentralgruppenleiterbesprechung bei RüIn IV am 12.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21/11–8, Bl. 53–45, hier 43). 11 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 382–385, 388–397.

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Ob Hitler einen „Blitzkrieg“12 plante, um in Erinnerung an den ersten Weltkrieg die Heimatfront zu schonen, oder ob ein solcher aus Sachzwängen, Zufällen und polykratischen Machtkämpfen entstand, ob die deutsche Wirtschaft in der ersten Kriegshälfte eine „friedensähnliche Kriegswirtschaft“13 war, weil sie maßgeblich von innen- und sozialpolitischen Faktoren geprägt war,14 oder ob die Mobilisierung angesichts eines forcierten Aufrüstungswillens in den 1930er-Jahren nicht schon vor dem Krieg weit fortgeschritten war,15 darüber ist in der Forschung heftig gestritten worden. Erst in den letzten Jahren scheint sich die Meinung durchzusetzen, dass das Deutsche Reich bereits in den 1930er-Jahren seine Wirtschaft entschieden auf Kriegskurs brachte und diesen Kurs nach Kriegsbeginn fortsetzte, soweit es seine Ressourcen erlaubten.16 Blickt man auf die Region, dann bestand eine Auswirkung der Konflikte auf der Reichsebene darin, dass immer wieder kurzfristig Herstellungsprogramme für Waffen und Geräte geändert wurden.17 In Chemnitz wurden daher häufiger Aufträge zurückgezogen, obwohl die Firmen die angeforderten Waffen und Geräte bereits produzierten. Dazu kamen technische Schwierigkeiten wie die verspätete Anlieferung von Fertigungszeichnungen, Werkzeugen und Lehren.18

12 Vgl. Alan Milward, The German Economy at War, London 1965, S. 7 f.; siehe auch Eichholtz, Geschichte I, S. 20 f., der das Thema unter den Stichworten „Breitenrüstung“ versus „Tiefenrüstung“ diskutiert. 13 Vgl. zum Begriff Wagenführ, Industrie, S. 25; Eichholtz, Geschichte I, S. 103; Rolf-Dieter Müller, Grundzüge der deutschen Kriegswirtschaft 1939 bis 1945. In: Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, 2., erg. Auflage Bonn 1993, S. 357–376, hier 360; Müller, Mobilisierung, S. 349 f., S. 366–375; Nutzung des Konzepts auch in sozialgeschichtlichen Arbeiten: Recker, Sozialpolitik, S. 14; Winkler, Frauenarbeit, S. 85; Werner, Bleib übrig, S. 80; die Diskussion zusammenfassend Kroener, Ressourcen, S. 694–697. 14 Vgl. Timothy W. Mason, Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, 2. Auflage Opladen 1978, S. 299–302, 306–312. 15 Overy, „Blitzkriegswirtschaft“; Christoph Buchheim, Der Mythos vom „Wohlleben“. Der Lebensstandard der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. In: VfZ, 58 (2010), S. 299–238; Jonas Scherner, Nazi Germany’s Preparation for War. Evidence from Revised Industrial Investment Series. In: European Review of Economic History, 14 (2010), S. 433–468, hier 442; Tooze, Ökonomie, S. 72, 196–200, 243–590, 755–757. 16 Ein kurzer Forschungsüberblick bei Marcel Boldorf, Neue Wege zur Erforschung der Wirtschaftsgeschichte Europas unter nationalsozialistischer Hegemonie. In: Christoph Buchheim/Marcel Boldorf (Hg.), Europäische Volkswirtschaften unter deutscher Hegemonie 1938–1945, München 2012, S. 1–23, hier 1–4. 17 Vgl. Burkhard Müller-Hillebrand, Das Heer. 1933–1945. Band 2: Die Blitzfeldzüge 1939–1941. Das Heer im Kriege bis zum Beginn des Feldzuges gegen die Sowjetunion im Juni 1941, Darmstadt 1956, S. 50; Müller, Mobilisierung, S. 369; Tooze, Ökonomie, S. 394–397. 18 Vgl. Beitrag zum Kriegstagebuch des RüKdo Chemnitz von Gruppe Heer. Erfahrungen der Monate September/Dezember 1939, o. D. [ca. Dezember 1939] (BA-MA Freiburg, RW 21–11/1, Bl. 36 f.); Beitrag zum Kriegstagebuch des RüKdo Chemnitz von Gruppe Marine, o. D. [Dezember 1939] (ebd., Bl. 39); zum Wehrkreis insgesamt siehe Zusam-

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Viel entscheidender aber war, dass bereits im Oktober 1939 die in Teilen der Wehrmacht verfochtene Konzeption aufgegeben wurde, die Rüstungsfertigung auf wenige Großbetriebe zu konzentrieren und diese auf Kosten stillgelegter Klein- und Mittelbetriebe mit Arbeitskräften zu versorgen. Stattdessen wählte Wirtschaftsminister Walther Funk, der noch bis Dezember 1939 als Generalbeauftragter für die Wirtschaft agierte, den Weg der Integration möglichst vieler, auch kleiner Unternehmen zumindest in die Zulieferproduktion.19 Nun bestand die Industrie in der Region Chemnitz vielfach aus solchen kleinen und mittelständischen Unternehmen: Laut der Gewerbezählung im Jahr 1938 gab es in der ganzen Kreishauptmannschaft bzw. dem Regierungsbezirk Chemnitz rund 1 200 Betriebe mit mindestens 50 Mitarbeitern, denen rund 13 000 Betriebe mit 1 bis 49 Mitarbeitern gegenüber standen sowie eine in der Zusammenstellung nicht genannte Zahl von Betrieben, deren Inhaber gar keine Mitarbeiter beschäftigte.20 Von den sogenannten Großbetrieben mit 50 Mitarbeitern oder mehr dürften die meisten höchstens einige Hundert Arbeiter und Angestellte gehabt haben.21 Die Kehrtwende in der Rüstungspolitik ersparte der Region großflächige Stilllegungen22 und dürfte in vielen Fällen eine Involvierung der örtlichen Unternehmen in die Wehrmachtsfertigung erst ermöglicht haben, auch wenn sie zunächst einmal zu einer weiteren Verzögerung der Umstellung von Firmen auf die Rüstungsproduktion sowie die Zulieferungsfertigung führte. Die meisten Metallbearbeitungs-, Maschinenbau- und Kraftfahrzeugbaufirmen der Region Chemnitz brauchten dafür mehrere Monate. In den Arbeitsamtsbezirken Olbernhau, Lugau und Glauchau hatten nahezu alle Metallbetriebe bis Anfang Dezember Aufträge oder Unterlieferaufträge für die Wehrmacht

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menhängender Überblick über die rüstungswirtschaftliche Entwicklung für die Zeit vom Kriegsbeginn bis 31.12.1939, o. D. (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 143–166, hier 143–145). Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 385–389; Kroener, Ressourcen, S. 767 f.; für die Region siehe z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); für Sachsen siehe Protokoll der Besprechung des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis IV am 19.10.1939 im Gaujägerhof Grillenburg (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 199–208, hier 201 f.). Statistisches Jahrbuch für das Land Sachsen, 51 (1935/38), S. 191 (Angaben ohne die der Bergaufsicht unterstellten Betriebe). Genaue Zahlen ließen sich nicht auffinden. Eine freilich nur auf Sachsen insgesamt bezogene Untersuchung des Sächsischen Statistischen Landesamtes aus dem Jahr 1930, die die Erhebungsdaten der Volkszählung von 1925 verwendet und sich auf die Unternehmen als Ganzes bezieht, geht davon aus, dass 41 % aller Unternehmen in Sachsen Alleinbetriebe ohne Mitarbeiter darstellten. Zwei Drittel der Unternehmen mit über fünfzig Mitarbeitern hatten nicht mehr als 200 Mitarbeiter. Lediglich 135 Unternehmen in Sachsen, also weniger als 0,1 % aller Unternehmen, beschäftigten mehr als 1 000 Mitarbeiter; vgl. Albert Zahn, Die gewerblichen Unternehmungen in Sachsen, ihre Rechtsformen und ihre betriebswirtschaftliche Verflechtung. In: Sächs. St. LA Z, 76 (1930), S. 78–86, hier 80. Vgl. Kap. IV.3.4.

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erhalten und waren teilweise sogar schon bei der Produktion.23 Im industriellen Kernraum des Bezirks, in den Städten Chemnitz und Siegmar-Schönau, begannen viele Metallbetriebe erst Ende Januar 1940 mit der Rüstungsfertigung.24 Zu dieser Zeit arbeitete überdies im Raum Flöha ein Teil der Metallbetriebe immer noch verkürzt, weil die für die Rüstungsproduktion erforderlichen Werkzeuge nicht schnell genug geliefert wurden.25 Vor allem die Munitionsfertigung, der Hitler im Dezember 1939 erhebliche Produktionssteigerungen vorschrieb,26 kam nicht im gewünschten Maße in Gang. Ende März 1940 konstatierte die Arbeitsgruppe Heer des Rüstungskommandos Chemnitz, dass von den 88 betreuten Firmen mit Aufträgen zur Munitionsfertigung 73 lediglich „Papierfirmen“ darstellten.27 Spätestens seit Frühjahr 1940 waren schließlich jedoch nahezu alle metallverarbeitenden Betriebe in irgendeiner Form für die Wehrmacht tätig,28 sei es als Rüstungsendfertiger oder als Unterlieferant. Die Chemnitzer Entwicklung entsprach der gesamtsächsischen: Anfang März 1940 notierte das Landesarbeitsamt, dass nunmehr rund 95 Prozent aller sächsischen Metallunternehmen „mit dringlichsten Wehrmachtsaufträgen“ versehen seien.29 Die Fertigungsstreuung ermöglichte es auch typischen Konsumgüterherstellern, sich um eine Fertigung für Wehrmachtszwecke zu bemühen. Sie produzierten vor allem Ausrüstungsgegenstände für die Wehrmacht, zum Teil aber auch Zulieferartikel. Die im Erzgebirge um die Städte Marienberg und Olbernhau beheimatete holzverarbeitende Industrie fertigte beispielsweise Möbel und Einrichtungsgegenstände für das Heer sowie Packkisten als Unterlieferant für Munitionsfirmen an. Gerade Kleinbetriebe, so das Arbeitsamt Olbernhau be-

23 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.11.1939 (ebd.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939, (ebd.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 24 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 25 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.12.1939 (Sächs.HStA Dresden, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.1.1940 (ebd.). 26 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 396. 27 RüKdo Chemnitz, Gruppenleiter Heer, am 31.3.1940, Erfahrungsbericht der Gruppe Heer für I/1940 (BA-MA Freiburg, 21–11/2, Bl. 14–19, hier 17). 28 Vgl. z.  B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.– 15.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 29 LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.).

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reits im November 1939, seien über ihre Leistungsfähigkeit hinaus mit Wehrmachtsaufträgen eingedeckt.30 Die gleichfalls im Erzgebirge konzentrierte, vorwiegend kleinbetrieblich strukturierte Spielzeugindustrie versuchte sich ebenfalls in die Rüstungswirtschaft einzuschalten: Mithilfe des örtlichen Arbeitsamtes, des Bürgermeisters sowie des Rüstungskommandos Chemnitz schlossen sich beispielsweise Unternehmer der Spielzeugstadt Seiffen nach längeren Vorarbeiten im Frühjahr 1940 zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammen, die für die Wehrmacht unter anderem Granatenstiele produzierte.31 In unterschiedlichem Ausmaß wurde die in sich stark differenzierte Textilindustrie in die Wehrmachtsfertigung eingebunden: Viele der über den ganzen Chemnitzer Raum verteilten Strickereien und Trikotagenfirmen begannen bereits im Oktober 1939 für die Wehrmacht zu produzieren32 und blieben auch in der Folgezeit mit solchen Aufträgen kontinuierlich ausgelastet. Im Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz arbeitete beispielsweise die Strickhandschuh- und Trikotagenindustrie im Herbst 1940 „fast ausschließlich“ an Heeresaufträgen, im Lugauer Bezirk verwendeten die Strickereien nach Schätzungen des Arbeitsamtsleiters zur gleichen Zeit etwa 70 Prozent ihrer Kapazität für Wehrmachtsaufträge.33 Die starke Einbindung in die Wehrmachtsfertigung wird auch daraus deutlich, dass die Rüstungsinspektion des Wehrkreises IV im Frühjahr 1941 vorschlug, die Wehrmachtsfertigung in der Chemnitzer Wirkwarenindustrie zu drosseln bzw. in andere Regionen zu verlagern, um die dadurch frei werdenden Arbeitskräfte den metallgebundenen Rüstungsfertigungen zuführen zu können.34

30 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.11.1939 (ebd.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 31 Vgl. ebd.; AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.1.1940 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.2.1940 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.4.1940 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (ebd.). 32 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–30.11.1939 (ebd.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.– 31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (ebd.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 33 Vgl. z.  B. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (ebd.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Dezember 1941 (ebd.). 34 RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 35–59, hier 58).

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Bei Spinnereien und Webereien war der Einstieg in die Wehrmachtsproduktion komplizierter, doch beteiligten auch sie sich im Verlauf der Jahre 1940 und 1941 in erheblichem Ausmaß daran.35 Annaberger Posamentenhersteller produzierten vor allem Bänder und Gurte, z. B. für Tropenausrüstungen.36 Am wenigsten involviert in die Rüstungsindustrie waren Teppich- und Möbelstoff­ fabriken, die zumindest bis ins Jahr 1940 hinein über einzelne Aufträge zur Fertigung von Strohsackstoffen und Schlafdecken nicht hinauskamen.37 Auch die sich im Raum Lugau und Thalheim konzentrierten Unternehmen, die feinere Strumpfqualitäten herstellten, hatten Schwierigkeiten. Ihre einzige Möglichkeit zur schnellen Übernahme von Wehrmachtsaufträgen bestand darin, ihre Reparaturabteilungen praktisch als metallverarbeitende Betriebe für Rüstungsaufträge einzusetzen.38 Im Dezember 1940 stellte das Rüstungskommando Chemnitz fest, dass „die Wehrmachtsfertigung allgemein durch die Heranziehung von Unterlieferern außerordentlich weit in kleine und kleinste Betriebe der Industrie eingedrungen ist, und zwar in einem Umfange, der vorher nicht bekannt war“.39 Insbesondere die Luftwaffenfertigung hatte sich in den letzten Monaten ausgedehnt, nicht nur aufgrund der wegen des Luftkrieges gegen England reichsweit verfügten Fertigungssteigerungen.40 Die gesteigerte Bombardierungsgefahr führte gegen Ende 1940 bereits zu ersten Produktionsverlagerungen südwestdeutscher Firmen in das Erzgebirge.41 Dies darf allerdings nicht den Eindruck erwecken, als hätten die Firmen der Region ausschließlich oder auch nur zum größten Teil Kriegsmaterialien hergestellt. Viele Unternehmer verfolgten die Taktik, sich einerseits mit kleineren Rüstungsaufträgen zu versehen, um sich auf diese Weise vor Stilllegungen und

35 Vgl. z.  B. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 36 Vgl. z.  B. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (ebd.). 37 Vgl. z.  B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 38 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.– 31.3.1940 (ebd.). 39 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, 21–11/5, Bl. 4–22, hier 20). 40 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 507, 515–521. 41 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–11/5, Bl. 6).

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Arbeitskräfteabzügen zu schützen, andererseits aber die bisherige Produktion weiterzuführen. Vor allem die Exportfertigung, die sowohl vom Wirtschaftsministerium unter Funk als auch vom Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt unter Thomas als wichtiges Element der Kriegswirtschaft angesehen wurde,42 spielte in den ersten Kriegsjahren im Chemnitzer Raum weiterhin eine wichtige Rolle.43 Ende 1939 betrug beispielsweise der Exportanteil der Metallindustrie im Gebiet des Arbeitsamtes Glauchau trotz der Involvierung in die Rüstungsproduktion 15 bis 25 Prozent.44 Die Textilindustrie verzeichnete nach Einbrüchen zu Kriegsbeginn spätestens ab November 1939 in allen Arbeitsamtsbezirken der Region ein erneutes Ansteigen von Exportaufträgen, für die nach Aufhebung oder Milderung der Beschlagnahmeanordnungen bei Kriegsbeginn auch wieder Material zur Verfügung stand. Insbesondere die Strumpfindustrie registrierte im ersten Kriegswinter einen erheblichen Anstieg der Auslandsnachfrage, vor allem aus den nordeuropäischen Staaten, die, so die Vermutung des Arbeitsamtes Lugau, sich als Zwischenhändler für Abnehmer in den Ländern der Kriegsgegner betätigten.45 Das Urteil des Landesarbeitsamtes Sachsen im Mai 1940, dass der Umfang der sächsischen Textilausfuhr trotz des Krieges bislang kaum zurückgegangen sei,46 dürfte auch für den Chemnitzer Raum eine gewisse Gültigkeit besessen haben.47 Erst im Winterhalbjahr 1940/41 ging der Export erheblich zurück. In der Lugauer Strumpfindustrie beispielsweise spielten Exportaufträge eine immer geringere Rolle, weil die Betriebe in erster Linie den Inlandsbedarf decken sollten.48 Auch die Metallindustrie belieferte noch ein Jahr nach Kriegsbeginn fast ganz Europa mit ihren Erzeugnissen.49 Erst danach nahm die Bedeutung von Exportaufträgen offenbar stark ab.50

42 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 393 f., 498–500. 43 Vgl. durchgängig die Berichte der AÄ Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau, Olbernhau über den Arbeitseinsatz ab September 1939, passim (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, 3–6, unpag.). 44 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 45 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.– 30.4.1940, (ebd.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 46 LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 47 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juli und im September 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 48 Vgl. AA Lugau, Berichte über den Arbeitseinsatz im November 1940, im Juni 1941 und im Juli 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 49 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 50 Zumindest spielen sie in den Berichten der Arbeitsämter eine immer geringere Rolle, bis im Winter 1941/42 von ihnen fast keine Rede mehr ist; vgl. z. B. die Berichte des AA Chemnitz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, passim).

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Der Blick auf einzelne Firmenbeispiele bestätigt das Bild. Der Automobilkonzern Auto Union AG, das größte Unternehmen des südwestsächsischen Raums, hatte zwar bereits 1934 mit der Entwicklung und Produktion von Fahrzeugen, Motoren und Krafträdern für militärische Zwecke begonnen, den Großteil seines Gewinns vor Kriegsbeginn jedoch mit seiner zivilen Produktion erwirtschaftet. Die zivile Fahrzeugherstellung umfasste im Jahr 1940 noch ein Drittel der Vorkriegsproduktion. Im Jahr 1941 produzierte die Auto Union Zivilfahrzeuge ausschließlich für den Export, der jedoch in den Folgejahren erheblich zurückging.51 Bei den Chemnitzer Wanderer-Werken, die in Friedenszeiten Fahrräder, Schreib-, Rechen- und Fräsmaschinen sowie Werkzeugmaschinen herstellten, machte die direkte Produktion von Wehrmachtsgeräten noch 1940 lediglich ein Sechzigstel des Umsatzes aus, stieg bis 1942 allerdings auf 25 Prozent. Zudem stieg die ebenfalls kriegswichtige Werkzeugmaschinenproduktion während der ersten beiden Kriegsjahre deutlich an und machte 1941 und 1942 40 Prozent des Umsatzes aus.52 Die Astrawerke AG in Chemnitz, ein Konkurrent von Wanderer auf dem Gebiet der Büro- und Rechenmaschinenfertigung, bemühte sich ebenfalls aktiv um Rüstungsaufträge mit dem Ziel, den Abzug von Arbeitskräften oder gar die Stilllegung von Betriebsteilen zu verhindern. Indem es vielfältige Wehrmachtsaufträge aus unterschiedlichsten Bereichen akquirierte, versuchte es gleichzeitig, die durch die häufigen Umsteuerungen bei der Rüstungsfertigung entstehenden Risiken eines Auftragsentzugs zu mindern. Aber noch 1941/42 erzielte die Astrawerke AG lediglich ein Drittel ihres Umsatzes in der Rüstungsfertigung.53 Eine gewisse Annäherung an das quantitative Ausmaß der Rüstungsfertigung der Region bieten die vom Rüstungskommando in seinen Kriegstagebüchern niedergelegten Arbeitskräftezahlen für die Fertigungen der einzelnen Wehrmachtsteile. Dabei handelte es sich wahrscheinlich nur um die Beschäftigten derjenigen „W-Betriebe“, die vom Rüstungskommando Chemnitz betreut wurden.54 Wichtige Bereiche der Wehrmachtsfertigung wie mindestens ein Teil der Zulieferfirmen und vor allem die Lieferanten von Kleidungs- und Ausrüstungsgegenständen dürften mit diesen Zahlen nicht erfasst sein.55 Daher ist davon

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Vgl. Kukowski, Einführung. S. LXXXVI f., XCII–XCIV. Vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 237. Vgl. ebd., S. 333. Ursprünglich galten als W-Betriebe wohl nur diejenigen Betriebe, die als Endfertiger vom Rüstungskommando betreut wurden, vgl. W In IV am 12.9.1939 betr. Maßnahmen für die Wirtschaft. Schonbetriebe (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 230). In der Folgezeit scheint die Abgrenzung aber dadurch verwässert worden zu sein, dass offenbar auch einige Unterlieferanten in die Betreuung durch die Rüstungskommandos aufgenommen wurden, vgl. Besprechung am 10.11.1939, o. V. (BA-MA Freiburg, RW 19/1890, Bl. 1–8, hier 5–7). 55 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, 21–11/5, Bl. 20); im November 1940 wird zwischen „W-Betrieben ‚Wehrmacht‘“, die von den Rüstungsdienststellen betreut werden, und „W-Betrieben ‚Wirtschaft‘“, die von den Bezirkswirtschaftsämtern bzw. Industrie- und Handelskam-

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auszugehen, dass sie als Mindestzahlen der in der Region mit Wehrmachtsaufträgen beschäftigten Arbeitskräfte anzusehen sind. Ende 1940 arbeiteten im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz, das die Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau umfasste, mindestens 81 000 Arbeitskräfte in der Wehrmachtsfertigung der W-Betriebe.56 Gut die Hälfte davon war für Heeresaufträge tätig, rund 29 000 für die Luftwaffe und etwa 11 000 für die Marine. Im Verlauf des Jahres 1941 stieg die Anzahl der Arbeitskräfte langsam, aber stetig auf mindestens 92 000 an.57 Dem absoluten Anstieg der Zahl der Arbeitskräfte in den Wehrmachtsfertigungen entsprach ein relativer Anstieg gemessen an der Zahl aller Arbeitnehmer der Region. Am Jahresende 1940 verdiente nach den Unterlagen des Rüstungskommandos ungefähr jeder achte Arbeitnehmer sein Brot direkt durch Heeres-, Marine- oder Luftwaffenaufträge, am Jahresende 1941 dürfte es etwa jeder siebte gewesen sein.58 Dennoch dürfte das Gewicht der Region in der Rüstungsfertigung eher gering gewesen sein. Dafür spricht auch, dass innerhalb des Wehrkreises IV die Großstädte Leipzig, Dresden und Halle im Herbst 1941 als sogenannte Engpassorte galten, die bereits überproportional mit vorrangigen Wehrmachtsaufträgen ausgelastet waren, während Chemnitz nicht dazu zählte.59 Größere Bedeutung besaß der Raum Chemnitz zwar im Hinblick auf die Fertigung von militärischen Ausrüstungsgegenständen, vor allem bei M ­ ilitärtextilien

mern betreut werden, unterschieden. Außerdem werden noch „,Nicht‘-W-Betriebe“ genannt, die aber laut Merkblatt ebenfalls „erhebliche Wehrwichtigkeit“ besitzen können, etwa Textil- oder Schuhhersteller; Merkblatt vom November 1940 für die als militärische Begleiter der „Reichskommissionen des Reichsarbeitsministers zur Überprüfung industrieller Betriebe“ beigegebenen Offiziere (BA-MA Freiburg, RW 19/2048, Bl. 165–175, hier 172 f.). Zur Quellenproblematik der W-Betriebe siehe auch Scherner/Streb, Ende, 180 f., die darauf verweisen, dass die Beschäftigtenzahlen der von den Rüstungsdienststellen betreuten Betriebe (hier A-Betriebe genannt) nicht nur die Zulieferer, sondern auch die wehrmachtseigenen Betriebe nicht erfassen. Von Letzteren scheint es jedoch im Untersuchungsraum keine gegeben zu haben. 56 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 3–23RS, hier 23RS). 57 Zum Teil eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 4RS-34RS, hier 33RS). 58 Eigene Berechnungen nach ebd. und nach Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 4, S. 6; ebd., (1942) 1, S. 3 (jeweils die Rubrik Beschäftigte insges.). Für die zum Bezirk des RüKdos gehörenden Arbeitsamtsbezirke vgl. RüKdo Chemnitz am 3.10.1941, Protokoll der Besprechung mit den SPK- und Arbeitsamtsleitern am 3.10.1941 über die Umsetzung von Arbeitskräften (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 33–36, hier 35). Eine gewisse Unschärfe der Zahlen ergibt sich erstens daraus, dass die Grenzen der AA-Bezirke und des Rüstungskommandos nur annäherungsweise übereinstimmen, zweitens daraus, dass die Gesamtzahl der Arbeitskräfte der Region nur Arbeitnehmer, die Statistik der W-Betriebe aber möglicherweise auch die Inhaber erfasst. Dennoch lässt sich über die Zahlen eine Tendenz verdeutlichen. 59 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 116–137, hier 123).

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sowie im Olbernhauer Arbeitsamtsbezirk bei Holzgegenständen.60 Die Produktion militärischer Ausrüstungsgegenstände wurde jedoch, anders als die eigentliche metallgebundene Rüstungsfertigung und die Grundstoffindustrie, bei der Zuweisung von Arbeitskräften von den NS-Einsatzbehörden nicht privilegiert. Insgesamt war die Region bis zum Sommer 1942 angesichts ihres Indus­ trialisierungsgrades von eher geringerer Bedeutung für die Rüstungswirtschaft, sodass die Bezeichnung „friedensähnliche Kriegswirtschaft“61 in Bezug auf die regionale Wirtschaft nicht ganz unangebracht sein dürfte. Wie sich dies in der Arbeitskräftelenkung niederschlug, zeigen die folgenden Kapitel.

2.

Arbeitskräfteentzug durch Einberufungen und der Schutz der Rüstungsproduktion

Wie jede Kriegswirtschaft musste auch die nationalsozialistische Wirtschaft mit erheblichen Arbeitskräfteeinbußen fertig werden, die sich durch die Einberufung von Soldaten und Offizieren zur Armee ergaben. Eine der zentralen Aufgaben der Arbeitskräftelenkung im Krieg stellte daher die Verteilung der Arbeitskräfte zwischen Rüstungswirtschaft und Wehrmacht dar. Das Wehrersatzwesen war überdies die Grundlage der sozialen Struktur der Wehrmachtseinheiten und damit ihrer Leistungsfähigkeit. Dennoch ist dieses Thema bisher von der langjährigen intensiven Wehrmachtsforschung zumeist vernachlässigt worden,62 sieht man einmal von Bernhard R. Kroeners grundlegenden Ausführungen und Armin Nolzens Aufsatz für die Zeit ab 1943 ab.63 Die lokale Einberufungspraxis

60 Vgl. z. B. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); RüIn IV, Vierteljahrsbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 102–120, hier 118). 61 Vgl. zur Diskussion des Begriffs Kap. IV. 1. 62 Vgl. die Einschätzung von Nolzen, Assimilation, S. 73; zur Wehrmachtsforschung siehe den 2002 entstandenen Literaturbericht von Rolf Dieter Müller, Die Wehrmacht – Historische Last und Verantwortung. Die Historiographie im Spannungsfeld von Wissenschaft und Vergangenheitsbewältigung. In: ders./Hans Erich Volkmann (Hg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, Sonderausgabe, München 2012, S. 3–35. Grundlegend nach wie vor: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Hg. vom militärgeschichtlichen Forschungsamt, 10 Bände, München 1979–2008. An neueren Arbeiten vgl. Andreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 und 1945, 2. Auflage München 2007, mit einer Literaturübersicht S. 3–14; Jürgen Förster, Die Wehrmacht im NS-Staat. Eine strukturgeschichtliche Analyse, München 2007. Der neueste handbuchartige Überblick zur Gesamtgeschichte der Wehrmacht vernachlässigt das Thema ebenfalls vollständig, vgl. Rolf-Dieter Müller, Hitlers Wehrmacht 1935–1945, München 2012. 63 Vgl. Kroener, Ressourcen; ders.,„Menschenbewirtschaftung“; ders., Sparstoff Mensch; Nolzen, Assimilation; für die letzte Phase auch Janssen, Ministerium, S. 78 f., 267–281. Sonst in der Forschung nur einzelne kurze Hinweise: Werner, „Bleib übrig“, S. 58–61, 81 f., 274 f., 338 f.; Eichholtz, Geschichte II, S. 198, 226 f., 232; Recker, Sozialpolitik, S. 77.

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

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ist bisher nicht beleuchtet worden. Für die Gauebene hat sich Roland Peter mit den Sondereinziehungen im Jahr 1943 in Baden auseinandergesetzt,64 während das Wehrersatzwesen bei Fleischhauers Arbeit zum Gau Thüringen völlig unberücksichtigt bleibt. Die hier vorliegenden Kapitel behandeln die Einberufungspraxis vor Ort unter der Fragestellung, wie die lokalen Behörden damit umgingen, dass sich bereits kurz nach Kriegsbeginn wie auf vielen anderen Gebieten auch hier die Vorkriegsplanungen des NS-Regimes als unzureichend erwiesen. Ein einheitliches übergreifendes Konzept, das den Bedarf der einzelnen Bereiche kalkulierte und gegeneinander abwog, existierte nicht. Die statistische Erfassung der Bevölkerung war zu wenig fortgeschritten, die Kompetenzkämpfe zwischen der zivilen und militärischen Verwaltung ließen Einigungen auf der Reichsebene über konkrete Zahlen nicht zu, und die für die Mobilmachungsvorbereitung zuständigen zivilen Außenstellen waren organisatorisch noch zu wenig ausgereift, um umfassende Maßnahmen einleiten zu können. Die Auswirkungen dieser Planungsmängel wurden überdies dadurch verstärkt, dass Wehrmacht und Rüstungsindustrie primär um dasselbe Arbeitersegment konkurrierten, nämlich junge gut ausgebildete Metallfacharbeiter.65 Wie entwickelte sich unter diesen Umständen die lokale Einberufungspraxis? Wie arbeiteten die lokalen Behörden zusammen, um einen Interessenausgleich zwischen Wehrmacht und Unternehmen zu erzielen? Gerade die erwähnten Planungsmängel, so viel sei zu den folgenden Kapiteln bereits verraten, waren der Ausgangspunkt für erste Übereinkünfte zu einer eigenständigen Zusammenarbeit zwischen regionalen Behörden. Die Schilderung vielfältiger bürokratischer Details lässt sich in diesem Zusammenhang nicht vermeiden. Um dem Leser eine bessere Übersicht zu ermöglichen, werden bei der folgenden Darstellung zwei idealtypische Prinzipien unterschieden, mit denen die Behörden der Rüstungswirtschaft trotz der Einberufungen die unterschiedlichen Arbeitskräfte zu erhalten suchten. Das eine mehr personenbezogene Prinzip zielte darauf ab, die einzelne Arbeitskraft mit ihrer Funktion vor einer Einberufung zu schützen. Beim anderen eher fertigungsbezogenen Prinzip sollte die Produktion eines bestimmten Rüstungsgutes möglichst umfassend vor einem Abzug von Arbeitskräften geschützt werden. In der Praxis gab es zwischen beiden Prinzipien allerdings enge Verbindungen, Kombinationen und Überschneidungen. Welche Folgen hatte die Einberufungspraxis für die betroffenen Betriebe? Und wie lässt sie sich unter Effizienzgesichtspunkten beurteilen? Das ist die zweite Leitfrage des folgenden Kapitels. Bis fast zum Kriegsende wurde den zuständigen Behörden vorgeworfen, die Rüstungsindustrie über Gebühr zu schonen und den Unternehmen weniger Mitarbeiter zu entziehen als möglich und notwendig. Die Einschätzungen der Forschung sind kontrovers: Während 64 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 202–207. 65 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 748–755.

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Im Schatten des Krieges

­ olzen den von ihm zitierten zeitgenössischen Wertungen folgt und die RückN sichtnahmen auf die Rüstungsindustrie bis zum Eingreifen der NSDAP im Sommer 1944 betont66 und Kroener mindestens für die Zeit bis 1943 nicht gehobene Reserven ausmacht,67 verweisen Wolfgang Franz Werner und Roland Peter mit Blick auf die gesamte zweite Kriegshälfte auf einen ihrer Meinung nach sehr hohen Mobilisierungsgrad der Bevölkerung für die Wehrmacht.68 Wie sieht das Bild aus der Perspektive der Region Chemnitz aus? Die Überlieferung der Wehrersatzbehörden in Sachsen ist verloren. Wertvolle Einblicke erlauben aber die Ersatzüberlieferungen in den Akten des Rüstungskommandos und der Rüstungsinspektion sowie der IHK Chemnitz sowie der kleine Bestand der Arbeitsämter, da diese Institutionen im Laufe des Krieges immer stärker mit der Auswahl einzuberufender Soldaten befasst wurden. 2.1

Das Uk-Stellungsverfahren

Bei Kriegsbeginn herrschte mit dem Uk- und Sicherstellungsverfahren das eher personenbezogene Verfahren vor. Bereits in der Vorkriegszeit waren in der Region Chemnitz wie überall namentlich genannte Arbeitskräfte, die in bestimmten Schlüsselpositionen arbeiteten, auf Antrag der Unternehmen von den Wehrersatzdienststellen für „unabkömmlich“ (uk oder u) erklärt worden. Diese hatte das Arbeitsamt „sichergestellt“ sowie gegebenenfalls weitere Arbeitskräfte, die die kriegs- und lebenswichtigen bzw. die Rüstungsbetriebe voraussichtlich brauchen würden, um die ihnen für den Kriegsfall zugewiesene sogenannte Mob.-Aufgabe zu bewältigen. Die Unternehmen erstellten auf Anweisung der Wehrwirtschaftsstelle Chemnitz oder des Mob.-Beauftragten der Industrie- und Handelskammer Chemnitz sogenannte Mob.-Kalender, die unter anderem die Mob.-Aufgabe sowie das dafür Uk- und sichergestellte Personal festhielten.69 Zumindest in diesem Bereich fungierten die Industrieund Handelskammern bereits vor dem Krieg als organisatorischer Unterbau der „wehrwirtschaftlichen Abteilungen“ bei den Landesregierungen,70 die im Sommer 1939 zu den Bezirkswirtschaftsämtern umgestaltet wurden.71

66 Vgl. Nolzen, Assimilation, S. 79, 82. 67 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“; z. B. S. 847, wo er die ersten Einbrüche in die Rüstungsindustrie erst für 1943 konstatiert, und S. 958, wo er den Schutz der Rüstungswirtschaft durch Speer betont. 68 Werner, „Bleib übrig“, S. 275; Peter, Rüstungspolitik, S. 207. 69 Vgl. Zusammenarbeit der W In mit den Außenstellen des GB, o. V. (BA-MA Freiburg, RW 19/907, Bl. 3–18, hier 15 f.); Vortrag des Major G., gehalten im März 1939, Das Aufgabengebiet einer WehrwirtschaftsInspektion (BA-MA Freiburg, RW 19/1289, Bl. 85 f.). 70 Vgl. Fragebogen über den Stand des U- und S-Verfahrens in Kl-Betrieben, ausgefüllt von Josef Witt, Spinnerei Chemnitz am 20.6.1939 (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.); IHK Chemnitz an die Kl-Betriebe, ohne Betreff, o. D. [Frühsommer 1939] (StAC, Fa.

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Doch die getrennte Mobilmachung erfasste bei Kriegsbeginn zunächst nur die sogenannten W-Betriebe, also diejenigen Unternehmen, die von der Wehrwirtschaftsstelle Chemnitz, dem späteren Rüstungskommando, betreut wurden. Daher konnte das Militär bei kriegs- und lebenswichtigen Unternehmen auch das uk-gestellte Personal einberufen. Dies führte in Südwestsachsen genauso wie in anderen Teilen des Reiches dazu, dass uk-gestellte Beschäftigte von Rüstungsunterlieferanten, die sich häufig in ziviler Betreuung befanden, einberufen wurden. Dadurch verzögerte sich die Lieferung von Materialien und Vorprodukten an die eigentlichen Rüstungsfirmen, was den Anlauf der Waffen-, Geräte und Munitionsproduktion zusätzlich zu den bereits geschilderten Problemen behinderte.72 Da dieses Problem im gesamten Wehrkreis IV bestand, vereinbarte die Wehrwirtschaftsinspektion, ab November 1939 Rüstungsinspektion genannt, mit den übrigen militärischen und den zivilen Behörden des Wehrkreises im September 1939, die Unterlieferanten von Rüstungsfertigungen zu „Schon-Betrieben“ zu erklären. Diese Unternehmen bekamen damit bei der Stellung von Personal und Transportkapazitäten den gleichen Rang zugebilligt wie die W-Betriebe.73 Damit war, offenbar auf Initiative der Mittelinstanz und damit auf Wehrkreisebene, eine erste fertigungsbezogene Ergänzung zu dem vorhandenen personenbezogenen Uk-Verfahren geschaffen worden. Nahezu gleichzeitig widmete sich die Regierung endlich den Uk-Stellungen, da einheitliche Regelungen dazu bei Kriegsausbruch noch nicht vorlagen. Ende September 1939 erließ Göring als Vorsitzender des Reichsverteidigungsrates erste vorläufige Anweisungen, die in der Folgezeit durch eine Vielzahl weiterer Anordnungen differenziert wurden.74 Sie brachten vor allem zwei wesentliche Neuerungen: Erstens wurden die Wehrwirtschafts- bzw. Rüstungskommandos in das Uk-Stellungsverfahren für die gesamte gewerbliche Wirtschaft einbezogen.75 Zweitens führte das Verordnungsbündel das sogenannte Facharbeiter-Mangel-Verfahren (FM-Verfahren) ein. Ihm zufolge mussten die ­Wehrersatzbehörden Arbeitnehmer der Rüstungsindustrie auf jeden Fall uk

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Josef Witt, 02/356, unpag.); Karteiblatt Aufbau der Betriebsgemeinschaft, ausgefüllt von Josef Witt, Spinnerei Chemnitz, für den Stichtag 20.7.1937 (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.). Vgl. Kap. III.3. Vgl. Beiträge der Zentralgruppe [des RüKdo Chemnitz] zum Kriegstagebuch, o. D. [Dezember 1939] (BA-MA Freiburg, RW 21–11/1, Bl. 29–33, hier 29 f.). Vgl. W In IV am 21.9.1939 betr. Wirtschaftsbericht September 1939 (BA-MA Freiburg, RW 19/54, Bl. 47–54, hier 47); RüIn IV, Geschichte der RüIn IV vom Kriegsbeginn bis 30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/8, Bl. 3–113, hier 7 f.). Anders als Werner, Bleib übrig, S. 60, annimmt, handelte es sich hierbei anscheinend um eine regionale, nur den Wehrkreis IV betreffende Bestimmung. Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 759 f. Vgl. OKW, AHA, am 27.9.1939 betr. Unabkömmlichkeit während des Krieges. Mit Anlage 6 vom 27.9.1939 betr. U[k]-Stellung von Facharbeitern der Rüstungsindustrie (BAMA Freiburg, RH 15/217, Bl. 28, 31); eine Übersicht über das gesamte Verfahren siehe bei Kroener, Ressourcen, S. 763.

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stellen, wenn die Wehrwirtschafts- bzw. Rüstungskommandos durch den sogenannten FM-Stempel auf dem Uk-Antrag bestätigten, dass der Betreffende für die Rüstungsindustrie vor Ort unverzichtbar war. Das Verfahren galt auch für bereits Einberufene, die die Wehrmacht den Rüstungsbetrieben wieder zur Verfügung zu stellen hatte.76 Konfliktfelder zwischen den beteiligten Behörden lassen sich bei der Uk-Stellung auf mehreren Feldern ausmachen. Innerhalb der Militärbürokratie bestand ein gleichsam natürlicher Gegensatz zwischen den Wehrersatzdienststellen, die den Soldatennachschub für die Wehrmacht zu stellen hatten, und der militärischen Wirtschaftsbürokratie, die der Kriegswirtschaft die Arbeitskräfte erhalten sollte. Auf der Wehrkreisebene kam es deshalb im Frühjahr 1940 zwischen dem stellvertretenden Generalkommando, das für das gesamte Ersatzwesen im Wehrkreis IV zuständig war, und der Rüstungsinspektion zu Auseinandersetzungen. Das stellvertretende Generalkommando weigerte sich unter Hinweis auf die „Ersatzmangellage“, zeitlich unbefristete Uk-Stellungen auszusprechen. Es sei sogar sein Ziel, so die Rüstungsinspektion IV gegenüber dem Wehrwirtschaftsund Rüstungsamt, Uk-Stellungen im Allgemeinen generell auf drei Monate zu befristen.77 Eine Aufhebung unbefristeter Uk-Stellungen hatten die Wehrersatzdienststellen mehrere Wochen vorher anzukündigen. Befristet Uk-Gestellte konnten sie direkt nach Ablauf der Befristung einziehen, sodass die Einberufung hier schneller und unter geringerem Bürokratieaufwand für die Wehrersatzdienststellen erfolgen konnte. Für die Rüstungskommandos bedeutete dieses Verfahren jedoch wegen der periodischen Erneuerung des Uk-Antrags, wie die Rüstungsinspektion auch geltend machte, zusätzlichen Arbeitsaufwand. Auch das Rüstungskommando Chemnitz war von diesem Problem betroffen.78 Freilich scheinen sich Rüstungsinspektion und Rüstungskommandos trotz der Einschaltung des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes und des Allgemeinen Heeresamtes mit ihren Beschwerden nicht durchgesetzt zu haben; die Praxis des stellvertretenden Generalkommandos blieb offenbar auch in der Folgezeit die Gleiche.79

76 Vgl. OKW, AHA, am 26.10.1939 betr. Uk-Stellung von Facharbeitern der Rüstungsindustrie (ebd., Bl. 62); OKW, AHA, am 11.11.1939 betr. Herausziehung von Facharbeitern der Rü-Industrie aus der Wehrmacht gemäß Führerbefehl (ebd., Bl. 81); zum FM-Verfahren insgesamt siehe Kroener, personelle Ressourcen, S. 762–766. 77 Vgl. RüIn IV an OKW, WiRüAmt am 24.2.1940 (BA-MA Freiburg, RW 19/2097, Bl. zwischen 49 RS); OKW, WiRüAmt, am 21.2.1940, Aktenvermerk (ebd., Bl. 67); RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 37–59, hier 39 f.). 78 „RüKdo Chemnitz“. Anlage 1 [zu einem Schreiben der RüIn IV vom 9.3.1940] (BA-MA Freiburg, R 19/2097, Bl. 134). 79 Vgl. RüIn IV, Geschichte der RüIn IV von Kriegsbeginn bis 30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/8, Bl. 3–113, hier 11).

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Auch in der Region Chemnitz gab es zwischen dem Rüstungskommando Chemnitz und der Wehrersatzinspektion wiederholt kleinere Konflikte, etwa weil die Wehrersatzbehörden nicht auf dem vorgeschriebenen Dienstweg eingegangene Uk-Anträge dem Rüstungskommando weiterleiteten, statt sie den Absendern zurückzuschicken,80 oder eigenmächtig die Bearbeitung von Anträgen für solche Personen verzögerten oder gar ablehnten, deren Antrag nicht vom Rüstungskommando mit dem „FM-Stempel“ gekennzeichnet war.81 Aber dennoch waren Rüstungskommando und Wehrersatzdienststellen fähig, konstruktiv zusammenzuarbeiten. Beispielsweise entstanden im Winter 1939/40 Unklarheiten darüber, für welche Personengruppen Unabkömmlichkeitsanträge überhaupt bearbeitet werden dürften. Das Reichswirtschaftsministerium bestritt im Februar 1940 die Richtigkeit der Aussage einiger Rüstungskommandos, dass die 1906 und später geborenen Jahrgänge nicht uk-gestellt werden könnten.82 Das Rüstungskommando Chemnitz nannte zur gleichen Zeit das Geburtsjahr 1910 als Grenze für eine Antragstellung,83 während sich mehrere Wehrbezirkskommandos in Südwestsachsen unter Bezug auf die geltenden Bestimmungen weigerten, noch nicht erfasste und gemusterte Männer uk zu stellen.84 Von Bedeutung waren diese unterschiedlichen Auslegungen deshalb, weil Deutschland zwischen 1919 und 1936 keine allgemeine Wehrpflicht hatte. Daher erfolgte die Erfassung und Musterung der zum Einsatz in der Wehrmacht vorgesehenen Jahrgänge zum Teil schrittweise im Verlauf des Krieges.85 Im Frühjahr 1940 mussten in Chemnitz die neu erfassten Jahrgänge 1904 und 1905 zum Teil sofort nach der Musterung ihren Dienst als Soldaten aufnehmen. Eine Uk-Stellung der Betroffenen vor der Einberufung war damit unmöglich, wenn das entsprechende Verfahren erst nach der Musterung eingeleitet wurde. Die Unternehmen, von denen einige sich deshalb besonders düpiert sahen, weil sie bereits vorsorglich Anträge auf Uk-Stellung für nichtgemusterte Mitarbeiter gestellt und diese unbearbeitet zurückerhalten hatten, überhäuften das Rüstungskommando mit Einsprüchen gegen die Einberufungen. Um die Uk-Regelungen künftig praxisnäher zu gestalten, vereinbarten Rüstungskommando

80 RüKdo Chemnitz an WEI Chemnitz am 27.4.1940 betr. Bearbeitung von U[k]-Anträgen (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 28). 81 RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, Wochenbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 28.4.–4.5.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 29RS). 82 RWM an die Ober- und Regierungspräsidenten und entsprechenden Behörden BWÄ mit Nebenabdrucken für die IHKen am 14.2.1940, Runderlass Nr. 98/40 BWA betr. Unabkömmlichstellung von Arbeitskräften aus NichtWBetrieben (BA-MA Freiburg, RW 19/2048, Bl. 50 RS). 83 Auto Union AG vom 14.2.1940, Vorstandsmitteilung Nr. 251 vom 15.2.1940 (StAC, Auto Union AG, 861, unpag.). 84 RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe Ia, am 30.3.1940, Bericht (BA-MA Freiburg, RW 21– 11/2, Bl. 11). 85 Vgl. Absolon, Wehrmacht, Band 5, S. 119–126.

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und ­Wehrersatzinspektion ohne Rücksicht auf vorgegebene zentrale Regelungen kurzerhand, dass in Südwestsachsen künftig die Geburtsjahrgänge 1901 bis 1905 in die Uk-Verfahren mit einbezogen werden sollten, gleich ob sie bereits gemustert waren oder nicht.86 Eine Zusammenarbeit entwickelte sich bei den Uk-Stellungen auch zwischen den Rüstungskommandos und zivilen Instanzen wie den Arbeitsämtern und den Industrie- und Handelskammern seit spätestens Mitte 1940: Auf Initiative der Rüstungsinspektion und des Landesarbeitsamtes bildeten sich auf Arbeitsamtsbezirksebene eigene Kommissionen, in denen neben Vertretern der Arbeitsämter und des Rüstungskommandos auch die Industrie- und Handelskammern vertreten waren.87 Die Kommissionen, die eigentlich nicht unmittelbar rüstungsrelevante Betriebe oder Betriebsteile daraufhin überprüften, ob sie Arbeitskräfte für die Rüstung zur Verfügung stellen konnten, nahmen über den Vertreter des Rüstungskommandos spätestens seit Juni 1940 auch Überprüfungen der Uk-Stellungen vor.88 Im ersten Monat hob das Rüstungskommando 190 von 3 200 Uk-Stellungen auf.89 Das entspricht etwa 6 Prozent. Von Juli bis September waren es bei etwa 34 000 überprüften Uk-Stellungen etwa 870, also 2,5 Prozent.90 Ob die Strategie, die Infrastruktur der Auskämmungskommissionen auch für die Überprüfungen der Uk-Stellungen zu nutzen, eine Erfindung der sächsischen Mittelebene oder des Rüstungsbereichs Chemnitz darstellt, lässt sich mangels Quellen nicht zweifelsfrei erweisen. Tatsache ist, dass erst im Juli 1940, also einige Wochen nach dem Beginn der Arbeiten in Chemnitz das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt entsprechende Anweisungen an alle Rüstungsinspektionen gab.91 Möglicherweise war dies ein taktisch bedingtes Manöver, stritten doch Reichswirtschaftsministerium und Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt um die Federführung bei den Uk-Stellungen von Mitarbeitern ziviler kriegswichtiger Unternehmen,92 die im Herbst 1939 den Rüstungskommandos zugesprochen 86 Vgl. RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, Wochenbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 28.4.–4.5.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 29). 87 Vgl. Kap. IV.3.2. 88 Vgl. RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, Übersichtsbericht über das 2. Vierteljahr 1940 vom 1.4.–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 55 f., hier 55); RüKdo Chemnitz, Gruppe Ia, am 13.6.1940, Bericht über die Einteilungen der Betriebsüberprüfungen im IHK-Bezirk Chemnitz (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 44 f., hier 45). 89 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 4.4.1940– 30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 11). Bei der Überprüfung von 32 weiteren Betrieben, bei denen von ca. 3 600 Uk-Stellungen rund 170 aufgehoben wurden, ist unklar, ob sie den Arbeitsamtskommissionen zuzurechnen sind. 90 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 3–24RS, hier 20RS). 91 OKW, WiRüAmt, am 11.7.1940 (BA-MA Freiburg, RW 19/2048, Bl. 126). 92 Vgl. Landfried an Thomas am 27.1.1940 (BA-MA Freiburg, RW 19/2048, Bl. 83–85, hier 84); OKW, WiRüAmt, am 14.3.1940 betr. Richtlinien für die Bearbeitung von Uk-Anträgen durch die Rü-Dienststellen (ebd., Bl. 54–57, hier 55); OKW und RWM am 11.6.1940 betr. Einschaltung der Kommandos der Rüstungsbereiche in das U[k]-Verfahren der ge-

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worden war.93 Auch die Mahnung des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes an das Rüstungskommando Chemnitz, es möge doch bitte künftig im Hinblick auf die Uk-Stellungen noch enger mit der IHK zusammenarbeiten,94 dürfte vor diesem Hintergrund zu sehen sein. Eingebunden in die beschriebene regionale Zusammenarbeit wurden sogar die Wehrersatzdienststellen, mit denen es immer wieder Auseinandersetzungen gegeben hatte: Das Rüstungskommando unterrichtete gemäß einer Absprache mit der Wehrersatzinspektion Chemnitz die Wehrersatzdienststellen rund 14 Tage vor den Prüfungen der Uk-Stellungen. So nahmen auch immer wieder Offiziere des zuständigen Wehrbezirkskommandos daran teil.95 Dafür freilich handelte sich das Rüstungskommando im August 1940 einen Verweis des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes ein. Dessen Vertreter glaubte in dieser Teilnahme eine Kontrolle der Tätigkeit der Rüstungskommandos durch die Wehrersatzdienststellen zu erkennen.96 Das Rüstungskommando überprüfte im Sommer 1940 auch die von ihm selbst betreuten, unmittelbar rüstungsrelevanten Unternehmen, nachdem das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt eine systematische und flächendeckende Nachprüfung der Uk-Stellungen befohlen hatte.97 So hoben die Firmen im Rüstungsbereich Chemnitz im Sommer 1940 knapp 600 Uk-Stellungen freiwillig

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werblichen Wirtschaft (ebd., Bl. 103–105); Landfried an Thomas am 13.9.1940 (ebd., Bl. 159 f.); Thomas an Landfried, am 27.9.1940 (ebd., Bl. 162 f.); OKW, WiRüAmt, im März 1940 betr. U[k]-Stellungsverfahren. Entwurf (BA-MA Freiburg, RW 19/2097, Bl. 102, 166–168); OKW und RWM am 11.6.1940 betr. Einschaltung der Kommandos der Rüstungsbereiche in das U[k]-Verfahren der gewerblichen Wirtschaft (BA-MA Freiburg, RW 19/2048, Bl. 103–105); OKW, WiRüAmt, am 14.3.1940 betr. Richtlinien für die Bearbeitung von Uk-Anträgen durch die Rü-Dienststellen (ebd., Bl. 54–57, hier 55); Bestimmungen für Unabkömmlichstellung bei besonderem Einsatz (D 3/14) vom 11.11.1940 mit Anlage 5: Lauf der Uk-Anträge, S. 49 (BA-MA Freiburg, RHD 8/3/14, unpag.). OKW, AHA, am 27.9.1939 betr. Unabkömmlichkeit während des Krieges mit Anlage 6 vom 27.9.1939 betr. U[k]-Stellung von Facharbeitern der Rüstungsindustrie (BA-MA Freiburg, RH 15/217, Bl. 28, 31). Sonderbericht betr. Überprüfung des U[k]-Stellungsverfahrens beim RüKdo Chemnitz durch Hauptmann Freiherr v. Biedermann vom WiRüAmt am 23.8.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 42). Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 4.4.1940 bis zum 30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 9); RüKdo Chemnitz, Spangenberg, am 10.6.1940, Verwendung der dem RüKdo für Sonderaufgaben der Zentralgruppe zugewiesenen sechs Offiziere (ebd., Bl. 43); RüKdo Chemnitz am 13.6.1940, Bericht über die Einteilung der Betriebsüberprüfungen im IHK-Bezirk Chemnitz (ebd., Bl. 44 f., hier 45); RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, Übersichtsbericht über das 2. Vierteljahr 1940 vom 1.4.–30.6.1940 (ebd., Bl. 55 f.); Vgl. RüKdo Chemnitz an die AÄ am 29.6.1940, Rundschreiben Nr. 80/40 (ebd., Bl. 52). Sonderbericht betr. Überprüfung des U[k]-Stellungsverfahrens beim RüKdo Chemnitz durch Hauptmann Freiherr v. Biedermann vom WiRüAmt am 23.8.1940 (RW 21–11/4, Bl. 42). OKW, WiRüAmt, am 19.5.1940 betr. Nachprüfung der Uk-Stellungen (BA-MA Freiburg, RW 19/2048, Bl. 184).

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Im Schatten des Krieges

auf, nachdem sie das Rüstungskommando auf die strafrechtlichen Konsequenzen ungerechtfertigter Uk-Stellungen aufmerksam gemacht hatte.98 Die Prüfungen hatten neben der Verminderung der Anzahl der unabkömmlich gestellten Beschäftigten auch den Nebeneffekt, dass deren bestimmungsgemäßer Einsatz im Betrieb überprüft werden konnte, denn es kam vor, dass Unternehmer ihre für die Rüstungsproduktion freigestellten Mitarbeiter im zivilen Produktionsbereich einsetzten.99 Insgesamt lassen sich aus der regionalen Perspektive im Chemnitzer Raum bereits 1940 Tendenzen einer lösungsorientierten Zusammenarbeit zwischen Wehrersatzdienststellen, Rüstungskommando, IHK und den Arbeitsämtern erkennen. Dabei ist, dies wird später bei den Auskämmungen genauer zu beschreiben sein, eine Rollenfindung erkennbar, die die weitere Zusammenarbeit während des Krieges prägen sollte. Nachdem die Zahl der Uk-Stellungen reichsweit nahezu die Fünfmillionenmarke erreicht hatte und die Ersatzlage der Wehrmacht alles andere als günstig war, kamen das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt sowie das allgemeine Heeresamt überein, mit einer neuen Überprüfungsaktion die Zahl der Uk-Gestellten deutlich zu verringern.100 Diese begann im Januar 1941. Der Weisung der Rüstungsinspektion Dresden zufolge hatten zwei Offizieren des Rüstungskommandos alle Uk-Stellungen der gewerblichen Kriegswirtschaft zu überprüfen, bei Betrieben, die von der IHK oder anderen Institutionen betreut wurden, hatten sie diese hinzuzuziehen.101 In der regionalen Praxis bedeutete dies, dass das im Jahr 1940 praktizierte Verfahren, dass die Sachbearbeiter zum Teil eigenständig, zum Teil aber auch innerhalb der Auskämmungskommissionen des Arbeitsamtes die Uk-Stellungen überprüften, einfach weitergeführt wurde.102 Dies galt auch dann noch, als die Arbeitsamtskommissionen in die Sonderprüfungskommissionen bzw. Unterprüfungskommissionen unter der Regie des Ministers für Bewaffnung und Munition, Fritz Todt (1891–1942), übergeleitet wurden.103 Laut Bericht des Rüstungskommandos Chemnitz, überprüften die Sonder- und Unterprüfungskommissionen von April bis Juni 1941 allein mindestens 16 150 Uk-Stellungen.104 Auch dies verdeutlicht, wie sich auf lokaler Ebene, unabhängig

 98 Vgl. RüKdo Chemnitz an die auf dem Umschlag genannte Firma am 5.6.1940, Rundschreiben Nr. 63/40, ohne Betreff (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 54); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 4.4.1940–30.6.1940 (ebd., Bl. 12).  99 RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, Übersichtsbericht über das 2. Vierteljahr 1940 vom 1.4. bis 30.6.1940 (ebd., Bl. 55 f., hier 55RS). 100 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 798. 101 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 3, 5). 102 Ebd., Bl. 8 f. 103 Vgl. Kap. IV.3.5. 104 Eigene Berechnung nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 3–21, hier 3–6, 8–16).

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

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von den jeweiligen Konflikten auf der Zentralebene, die einzelnen Institutionen zur praktischen Lösung von Problemen zusammenfanden. Allein im zweiten Viertel des Jahres 1941 mussten sich etwa 870 Betriebe mit über 80 000 Mitarbeitern, von denen 27 Prozent uk-gestellt waren, einer Nachprüfung unterziehen. Nur 3,5 Prozent der Uk-Stellungen konnten jedoch gelöscht werden.105 Freilich war die Löschungsausbeute ungleichmäßig verteilt. Die etwa 150 überprüften Textilunternehmen im Bereich der IHK Chemnitz hatten einen Verlust von 15 Prozent ihrer Uk-Stellungen hinzunehmen, und das, obwohl der Ausgangswert von 17 Prozent Uk-Gestellten in der Belegschaft schon deutlich unter dem Durchschnitt der überprüften Unternehmen lag.106 Für die Zeit von Juli bis Dezember 1941 liegen nur die Ergebnisse der Überprüfungen der Todt’schen Kommissionen vor: Bei rund 26 500 Uk-Stellungen lag hier die Ausbeute bei 0,3 Prozent.107 Insgesamt blieb das Ergebnis mager, gemessen daran, dass das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt im Winter eine Löschung der Hälfte aller Uk-Stellungen reichsweit noch für durchaus möglich angesehen hatte.108 Wie schon im Vorjahr dienten auch diese Überprüfungen dazu, festzustellen, ob die Unternehmen ihr uk-gestelltes Personal auch bestimmungsgemäß beschäftigten. Die entsprechende Dienstanweisung sah bei Verstößen die Einziehung des falsch eingesetzten Mitarbeiters vor.109 Im Chemnitzer Rüstungsbereich stellten die Überprüfenden hin und wieder Verstöße fest, behandelten die Unternehmen jedoch eher milde, wohl weil sie auf ihre Zusammenarbeit ja grundsätzlich angewiesen waren. Meist wurden „die Betriebe veranlasst, für den richtigen Einsatz Sorge zu tragen“,110 nur in wenigen Fällen erhielten die Unternehmensleiter auch schriftliche Verwarnungen und nur in einem Fall ist eine Geldstrafe von 300 RM überliefert, die an das Rote Kreuz zu zahlen war.111 2.2

Stillhalteabkommen und Spezialbetriebsschutz

So wichtig das Uk-Verfahren in der Anfangsphase des Krieges war, so verlor es in dessen Verlauf zumindest für die Rüstungsindustrie an Bedeutung. In dem

105 Ebd., Bl. 17. 106 Ebd., Bl. 13. 107 Eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Gesamtergebnis der Betriebsüberprüfungen durch SPK und UPK im 3. Vierteljahr 1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 52) und nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 4–28RS, hier 23). 108 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 798, Anm. 190. 109 Vgl. Bestimmungen für Unabkömmlichstellung bei besonderem Einsatz (D 3/14) vom 11.11.1940, S. 24 (BA-MA Freiburg, RHD 8/3/14, unpag.). 110 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BAMA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 11RS). 111 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (ebd., Bl. 10 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 4–27, hier 5).

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Im Schatten des Krieges

Maße, in dem sich die Ersatzlage der Wehrmacht verschlechterte und sich ihr Bedarf an kämpfenden Soldaten erhöhte, trat der Schutz ganzer ­Belegschaften im Hinblick auf die Produktion einzelner Rüstungsgüter zunehmend in den Vordergrund. Dieser Schutz umfasste freilich in der Regel nur diejenigen Produktionsabteilungen, die an der geschützten Fertigung mitarbeiteten. Seine Handhabung wurde deshalb durch die Dezentralisierung der Rüstungsproduktion erschwert, die dazu geführt hatte, dass in der Region Chemnitz wie woanders auch sehr viele Unternehmen mit der Rüstungsfertigung beschäftigt waren, diese jedoch zumindest in der ersten Kriegshälfte oft nur einen Teil ihrer Produktion ausmachte. Das erste überregionale fertigungsbezogene Verfahren war das sogenannte Stillhalteabkommen vom Frühjahr 1940. Es war eine Reaktion auf Defizite des Uk-Verfahrens. Der neue Minister für Bewaffnung und Munition, Fritz Todt, vereinbarte am 19. April 1940 mit dem Allgemeinen Heeresamt, dass die Belegschaften von Rüstungsbetrieben, die an bestimmten, als vorrangig eingestuften Fertigungen arbeiteten, nicht zum Wehrdienst eingezogen werden sollten.112 Dieses eigentlich fertigungsbezogene Verfahren enthielt allerdings auch personenbezogene Elemente insofern, als unter 30 Jahre alte Männer auch aus diesen Fertigungen einberufen werden konnten, wenn sie nicht uk-gestellt waren.113 Das Stillhalteabkommen galt zunächst für drei Monate, wurde dann aber mit Modifikationen, was die Einberufungen der jüngeren Jahrgänge sowie die Art der geschützten Fertigungen anging,114 mehrmals verlängert.115 Auch beim Stillhalteabkommen arbeiteten Rüstungskommando und Wehrersatzinspektion Chemnitz gut zusammen und verhinderten durch Eigeninitiative Reibungsverluste bei der Umsetzung. Wenn der Fertigungsschutz nämlich angesichts der zunächst ins Auge gefassten kurzen Geltungsdauer den Unternehmen irgendetwas nützen sollte, dann musste er an der Basis zügig verwirklicht werden. Dem stand jedoch die Tatsache entgegen, dass wegen der personenbezogenen Elemente des Einberufungsschutzes den Wehrersatzdienststellen nicht einfach nur die Betriebe bzw. Betriebsteile mit geschützten Fertigungen genannt werden konnten, damit sie aus diesen niemand einzögen. Die Betriebe hatten vielmehr namentliche Listen derjenigen Belegschaftsmitglieder einzureichen, die dem Abkommen zufolge nicht einberufen werden durften – ein Verfahren, das zwar einen deutlich geringeren Verwaltungsaufwand als

112 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 765 f.; Recker, Sozialpolitik, S. 78; Werner, „Bleib übrig“, S. 86–88. 113 Vgl. RüKdo Chemnitz an die auf dem Umschlage genannte Firma am 6.5.1940, Rundschreiben 40/40 betr. Stillhalteabkommen für besondere Vorhaben im Interesse der Reichsverteidigung (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 27). 114 Vgl. RüKdo Chemnitz an die auf dem Umschlage genannte Firma am 13.9.1940, Rundschreiben 107/40 betr. Stillhalteabkommen für besondere Vorhaben im Interesse der Reichsverteidigung (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 53). 115 Vgl. ebd.; Kroener, Ressourcen, S. 765 f.; Recker, Sozialpolitik, S. 78.

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

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die regelrechte Uk-Stellung bedeutete, aber dennoch eine gewisse Zeit in Anspruch nahm, in der es zu dem Abkommen widersprechenden Einberufungen kommen konnte. Um dieses Problem zu beheben, vereinbarte das Rüstungskommando mit der Wehrersatzinspektion Chemnitz im Frühsommer 1940, dass die Wehrersatzdienststellen bis zum Eintreffen der namentlichen Listen niemanden aus den betroffenen Betrieben einberufen sollten.116 Dieses Abkommen scheint eingehalten worden zu sein. Ihm zuwiderlaufende Entzüge aus den Betrieben blieben Einzelfälle, die nach Einspruch des Rüstungskommandos rückgängig gemacht wurden.117 Vor welche Probleme sich die regionalen Behörden durch die häufig sehr kurzfristigen Entscheidungen an der Spitze des Regimes gestellt sahen und wie sie versuchten, diese durch Engagement an der Basis auszugleichen, demonstriert ein weiterer Vorgang im Zusammenhang des Stillhalteabkommens. Da das Rüstungskommando Chemnitz zunächst nicht mit einer Fortdauer des Stillhalteabkommens über den 30. September 1940 hinaus rechnete, wies es die davon betroffenen Firmen Mitte August 1940 an, die von ihnen benötigten Mitarbeiter wieder auf herkömmlichem Wege unabkömmlich stellen zu lassen.118 Als das Rüstungskommando am 30. August 1940 die Nachricht erhielt, dass das Stillhalteabkommen um drei Monate verlängert worden sei, hatten seine Mitarbeiter bereits 200 Uk-Anträge bearbeitet.119 Das Rüstungskommando kam daraufhin mit der Wehrersatzinspektion überein, den Betrieben die Anträge zurückzugeben und sie zu bitten, sie kurz vor dem Auslaufen des Stillhalteabkommens erneut einzureichen.120 Eine weitere verwaltungsmäßige Schwierigkeit ergab sich daraus, dass die während der Geltungszeit des Stillhalteabkommens neu eingestellten Arbeiter bei den Wehrersatzdienststellen zunächst nicht als einem geschützten Betrieb zugehörig erfasst waren und daher Gefahr liefen, trotz des Abkommens jederzeit einberufen zu werden.121 Wehrersatzdienststellen und Rüstungskommandos hatten in der Anfangsphase überdies damit zu kämpfen, dass n ­ achträglich

116 Vgl. RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, am 6.5.1940, Wochenbericht für die Zeit vom 28.4.–4.5.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 29). 117 Vgl. die Stellungnahme der Zentralgruppe des RüKdo Chemnitz zum Übersichtsbericht des RüKdo Chemnitz, Gruppe Marine, über das 2. Vierteljahr 1940 vom 1.4.–4.6.1940 (ebd., Bl. 62). 118 RüKdo Chemnitz an die auf dem Umschlag bezeichnete Firma am 19.8.1940, Rundschreiben Nr. 96/40 betr. U[k]-Stellung (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 35 f.). 119 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (ebd., Bl. 15). 120 Vgl. ebd; RüKdo Chemnitz am 13.9.1940 an die auf dem Umschlag genannte Firma, Rundschreiben Nr. 107/40 betr. Stillhalteabkommen für besondere Vorhaben im Interesse der Reichsverteidigung (ebd., Bl. 53) und RüKdo Chemnitz am 14.9.1940, Rundschreiben Nr. 108/40 (ebd., Bl. 54). 121 RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, Übersichtsbericht über das 2. Vierteljahr 1940 vom 1.4.–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 55 f., hier 55).

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Im Schatten des Krieges

i­mmer neue Fertigungen, auch von zivil betreuten Betrieben, in das Stillhalteabkommen einbezogen wurden.122 Da die Industrie- und Handelskammer die entsprechenden Informationen über das Stillhalteabkommen Anfang Mai 1940 noch nicht besaß, verloren die nachträglich einbezogenen Betriebe bis in den Mai 1940 hinein eine ganze Reihe wichtiger Fachkräfte.123 Solche kleineren Pannen konnten die insgesamt positiven Auswirkungen des Stillhalteabkommens für die Produktion der betroffenen Betriebe nicht schmälern. Es brachte aus Sicht des Rüstungskommandos „fühlbare Erleichterungen“.124 Ende August 1940 waren im Rüstungsbereich Chemnitz 573 Betriebe in das Stillhalteabkommen einbezogen. Davon betreute das Rüstungskommando nur knapp die Hälfte, der Rest stand in ziviler Betreuung,125 was angesichts der Involvierung der Chemnitzer Textilindustrie in die Lieferung von Wehrmachtsausrüstungen möglicherweise gerechtfertigt war. Beim Auslaufen des Stillhalte­ abkommens im März 1941 unterlagen ihm schließlich 597 Betriebe im Rüstungsbereich.126 Das Stillhalteabkommen führte freilich auch dazu, dass ein Teil der geschützten Unternehmen zumindest zeitweise Arbeitskräfte im Überfluss besaß,127 während Wehrersatzdienststellen und auch die Arbeitsämter den Zugriff auf die ungesicherten Unternehmen bzw. Unternehmensteile verstärkten. So gab beispielsweise die Wanderer-Werke AG in einem internen Protokoll im Juni 1940 zu, dass ihr durch das Stillhalteabkommen „viel mehr Leute – auch ungelernte – gesichert sind, als wir brauchen“. 128 Allerdings erwartete die Firma dafür Auskämmungsforderungen des Arbeitsamtes. Deshalb forderte ihr technischer Direktor, Werner Kniehahn,129 vorsichtshalber seine Betriebsleiter auf, interne Listen mit Leuten aufzustellen, die nicht unbedingt benötigt würden. Ein weiterer Effekt der Überbesetzung bestand darin, dass die von der Wanderer-Werke AG sehr bewusst betriebene Werbung von Frauen, und damit die Rekrutierung neuer Arbeitskräfte, im Vertrauensrat nun auf Widerstand stieß. Die Vertrauensmänner vertraten die Ansicht, „dass ja für die Männer nicht genug zu tun sei“. Zum großen Teil würden sie nicht einmal mehr Überstunden machen, und

122 Ebd. 123 Vgl. RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, am 6.5.1940, Wochenbericht für die Zeit vom 28.4.–4.5.1940 (ebd., Bl. 29); RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe Ia, am 20.5.1940, Wochenbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 13.5.–19.5.1940 (ebd., Bl. 33). 124 RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe, am 6.5.1940, Wochenbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 28.4.–4.5.1940 (ebd., Bl. 29). 125 Vgl. RüIn IV, Geschichte der RüIn IV von Kriegsbeginn bis zum 30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/8, Bl. 14). 126 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BAMA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 16). 127 RüKdo Chemnitz, Zentralgruppe Ia, am 20.5.1940, Wochenbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 13.5.–19.5.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 33). 128 Protokoll der Besprechung der Vertrauensmänner mit Ak. Professor Dr. Kniehahn am 27.6.1940, S. 4 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 682, unpag.). 129 Zu Kniehahn vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, passim.

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

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wenn jetzt noch mehr Frauen eingestellt würden, „würde sich die Arbeit immer mehr verteilen“.130 Daher scheint die Einschätzung Kroeners plausibel, dass das Stillhalteabkommen nur so lange als eine Lösung des Arbeitskräfteproblems gelten konnte, solange es, wie während des Frankreichfeldzuges, keine größeren blutigen Verluste auf den Schlachtfeldern gab.131 Ende März 1941 lief das Stillhalteabkommen zwar aus. Mit dem ursprünglich bis Ende Juni befristeten „Spezialbetriebsschutz“ schloss sich jedoch ein weiteres fertigungsbezogenes Schutzverfahren nahtlos an, das sich auf die sogenannte Sonderstufenfertigung, also auf als besonders vorrangig eingestufte Rüstungsproduktionen bezog.132 Wie beim Stillhalteabkommen hatten die Unternehmen Namenslisten der in diesen Fertigungen eingesetzten Mitarbeiter über die Rüstungskommandos an die Wehrersatzdienststellen zu melden. Der Spezial­ betriebsschutz bezog von Anfang an noch erheblich mehr Unternehmen ein als das Stillhalteabkommen, ist also entgegen der ursprünglichen Intention als Ausweitung der fertigungsbezogenen Schutzmechanismen zu betrachten. Ende Juni 1941 befanden sich im Chemnitzer Rüstungsbereich 830 Spezialbetriebe, während sich zuletzt nur knapp 600 Betriebe am Schutz des Stillhalteabkommens erfreut hatten. Weniger als 200 Spezialbetriebe wurden vom Rüstungskommando betreut und gehörten damit zum Kern der Waffen-, Munitions- und Geräteproduktion. Die Inflation der zu schützenden Fertigungseinheiten mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass, anders als beim Stillhalteabkommen, nicht nur die regionalen firmenbetreuenden Dienststellen, sondern auch das OKW selbst Firmen mit bestimmten Fertigungen benennen konnte.133 Die Zielgenauigkeit des Schutzes von Facharbeitern vor Einziehung wurde damit weiter gesenkt, und die Gefahr, dass Mitarbeiter statt in geschützten in zivilen Fertigungen arbeiteten, weiter erhöht. Das OKW verbot deshalb im Mai, künftig weitere Spezialbetriebe zu benennen.134 Das Rüstungskommando versuchte auf seiner Arbeitsebene, einen Missbrauch des Spezialbetriebsschutzes dadurch zu verhindern, dass es bei Betriebsbesuchen nicht nur die Uk-Stellungen prüfte, sondern auch die Tätigkeit der Mitarbeiter kontrollierte, die sich auf den wegen des Spezialbetriebsschutzes eingereichten Listen befanden. Die Todt’schen Sonder- und Unterprüfungskommissionen bezogen diesen Gegenstand ebenfalls in ihre Überprüfungen mit ein.135 Im November 1941 ­widmete

130 Protokoll der Besprechung der Vertrauensmänner mit Ak. Professor Dr. Kniehahn am 27.6.1940, S. 4 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 682, unpag.). 131 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 766. 132 Vgl. ebd., S. 798, 802. 133 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 16 f.). 134 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 802. 135 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 10 f., 16 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 5).

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sich das Rüstungskommando schließlich 29 Unternehmen des IHK-Bezirks Chemnitz, die von keiner Behörde betreut wurden und damit eigentlich nicht zu den kriegswichtigen Betrieben gehörten. Dass sie dennoch ihren Weg in die Gruppe der spezialgeschützten Fertigungen gefunden hatten, beweist zusätzlich, wie bedenkenlos die Spezialbetriebe benannt wurden. Das Rüstungskommando erkannte 13 von ihnen den Spezialbetriebsschutz ab, weil sie Einmannbetriebe waren, keine wehrpflichtigen Männer beschäftigten oder nur über eine sehr kleine Sonderstufenfertigung verfügten.136 Auch der Spezialbetriebsschutz brachte bürokratische Schwierigkeiten mit sich, vor allem weil er mehrmals im Sommer 1941 jeweils kurzfristig um einen Monat verlängert wurde. Im Hinblick auf das geplante Ende des Spezialbetriebsschutzes gestellte Verlängerungen der Uk-Stellungen wurden dadurch gegenstandslos und entpuppten sich im Nachhinein als unnötiger zusätzlicher Verwaltungsaufwand. Als Anfang September 1941 schließlich in Verkennung des Personalbedarfs des Russlandfeldzuges137 die Verlängerung des Spezialbetriebsschutzes bis Ende des Jahres 1941 erfolgte, traf das Rüstungskommando eigenmächtig mit der Wehrersatzinspektion folgende Vereinbarung: Alle befristeten Uk-Stellungen, die für Mitarbeiter von Spezialbetrieben seit Juli 1941 ausgesprochen worden waren, sollten ohne weitere Maßnahmen so lange gelten, bis nach Erlöschen des Spezialbetriebsschutzes drei Monate vergangen waren. Das ermöglichte dem Rüstungskommando und den Unternehmen die Verlängerungsanträge für Uk-Stellungen so lange aufzuschieben, bis sie wieder sinnvoll waren, weil andere Schutzmechanismen aufgehoben waren. Auch in diesem Fall gelangten regionale Instanzen eigenmächtig zu Übereinkünften, um Reibungen und Hemmnisse aus der NS-Kriegswirtschaft zu entfernen. 138 2.3

Die „Freimachungsausschüsse“

Eine zahlenmäßige Bilanz der Einberufungen in der Region Chemnitz bis zum Ende des Jahres 1941 zu ziehen, ist wegen fehlender Zahlen nicht möglich. Für den Wehrkreis insgesamt liegen Zahlen bis zum Mai 1940 vor: Aus der dortigen Industrie wurden bis dahin rund 185 000 Männer eingezogen, das entsprach 17 Prozent der männlichen Beschäftigten des Sommers 1939.139 Damit lag der Wehrkreis in etwa im Reichstrend. 136 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 13). 137 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 877–888. 138 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 16 f., 21); RüKdo Chemnitz am 15.9.1941, Rundschreiben Nr. 262/41 betr. Spezialbetriebsschutz, Uk-Stellungen (ebd., Bl. 46). 139 Vgl. Statistisches Reichsamt, Abteilung VI, Volkswirtschaftliche Kräftebilanz. Kräftebilanz der Industrie. Männer Wehrkreis IV, o. D. (beides BA-MA Freiburg, RW 19/2124,

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

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Einen weiteren Schub erhielten die Einberufungen im Vorfeld des Russlandfeldzuges. Auch hier liegen nur wehrkreisweite Zahlen vor: Zwischen Januar und Juni 1941 verlor die Wirtschaft des Wehrkreises knapp 120 000 Männer an die Wehrmacht, weitere 25 000 zog der RAD ein.140 Für das gesamte Deutsche Reich hat die Forschung in den letzten Jahren herausgearbeitet, dass für das Unternehmen Barbarossa das Reservoir der 20- bis 30-jährigen Männer zum großen Teil ausgeschöpft wurde, dass überdies bereits viele Jugendliche zwischen 16 und 19 Jahren durch eine Grundausbildung auf den Krieg vorbereitet wurden. Schon vor Beginn des Russlandfeldzugs war also die Generation unter 30 Jahren nahezu komplett mobilisiert. Hier bestanden keine Reserven mehr. Die über 30-Jährigen waren diejenigen Jahrgänge, bei denen die Uk-Gestellten noch die Hälfte oder gar zwei Drittel der in Wehrüberwachung stehenden Männer ausmachten. 141 Auf der regionalen Ebene fehlen entsprechende Zahlen. Der Blick auf einzelne Unternehmen wirft einige Schlaglichter. So verloren beispielsweise die in Chemnitz und Umgebung gelegenen Werke der Auto Union bereits bis Februar 1940 17 Prozent ihrer männlichen Lohnempfänger an die Wehrmacht.142 Von den Mitarbeitern der Spinnerei Josef Witt in Chemnitz dagegen befanden sich im Juli 1940 weniger als 10 Prozent der männlichen Vorkriegsbelegschaft bei der Armee.143 Das Werkzeugmaschinenunternehmen Niles Werke AG verzeichnete für sein Werk in Siegmar unmittelbar nach Kriegsbeginn, bezogen auf die gesamte männliche Belegschaft von rund 1 100 Arbeitern und Angestellten, eine Quote von 9 Prozent Militärdienstleistenden. Diese Quote blieb bis zum Frühjahr 1941 unverändert und stieg dann bei in etwa gleichbleibender Gesamtbelegschaftszahl bis Dezember 1941 sehr deutlich auf 14 Prozent an,144 was dem Anstieg der Einberufungen im ersten Halbjahr 1941 auf Wehrkreis­ ebene entspricht. Gegen Ende des Jahres 1941 kündigte sich ein grundsätzlicher Wandel im Wehrersatzwesen an. Der ursprünglich als Blitzkriegsunternehmen gedachte

unpag.); Statistisches Reichsamt, Abteilung VI, Volkswirtschaftliche Kräftebilanz, Kräftebilanz der Industrie. Männer Wehrkreise I-XVIII, o. D. (ebd.). 140 Eigene Berechnung nach RüIn IV, Vierteljahresbericht zum Kriegstagebuch des 1. Quartals 1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 35–59, hier 37); sowie nach RüIn IV, Überblick über die rüstungswirtschaftliche Entwicklung, o. D. (ebd., Bl. 93–104 RS, hier 100). 141 Vgl. Kroener, Ressourcen, Schaubild zwischen S. 882 und 883. Eine Textauswertung und Bewertung des Schaubildes durch Tooze, Ökonomie, S. 503 f. 142 Eigene Berechnungen nach „Stand der Lohnempfänger (ohne Lehrlinge) am 1.8.1939 vergl. mit 15.2.1940“, o. V. (StAC, Auto Union AG, 906, unpag.). 143 Übersichtsblatt der Prüfungskommission für den Betrieb Josef Witt, Spinnerei Chemnitz, ausgefüllt am 31.7.1940 (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.). 144 Eigene Berechnungen nach: Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar, Statistik 1939 (StAC, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar, 112); Niles Werke AG, Werk Siegmar, Statistik 1941. Werk Siegmar (ebd.). Die Auflistung berücksichtigt nicht die vor den Stichtagen als Soldaten gefallenen Mitarbeiter.

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Feldzug gegen die Sowjetunion zog sich in die Länge. Überdies forderte er mehr Gefallene und Verwundete, als die deutsche Führung in ihrem übergroßen Optimismus angenommen hatte.145 Zunächst versuchte die Wehrmacht über die Verringerung der Personalstärken, durch die Ausdehnung der Standorte des Ersatzheeres über des Reichsgebiet hinaus und den Austausch zwischen Ersatzheer und Feldheer diese Probleme in den Griff zu bekommen. Außerdem veranlasste sie Nachmusterungen bereits gemusterter Jahrgänge, bei denen weniger strenge Maßstäbe für die Verwendungsfähigkeit und strengere für die Uk-Stellung angelegt wurden.146 Mit der sowjetischen Gegenoffensive bei Moskau zeichnete sich im Dezember 1941 das Scheitern des Unternehmens Barbarossa ab.147 Daher gab Hitler die Anweisung aus, möglichst viele gediente und damit bereits ausgebildete Wehrpflichtige aus der Kriegswirtschaft in die Wehrmacht einzuziehen. Sogenannte Wehrkreis- oder Freimachungsausschüsse148 sollten die Wehrpflichtigen aus der gewerblichen Kriegswirtschaft herauslösen und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Rüstungsproduktion keinen Schaden nahm.149 Wie verzweifelt sich die Lage darstellte, ist auch daran zu erkennen, dass der Befehlshaber des Ersatzheeres, Friedrich Fromm (1888–1945), im Januar 1942 in einer Denkschrift für Hitler vorschlug, bereits die 19-Jährigen einzuziehen, in der er die letzte Reserve sah.150 Flankiert wurden die Einberufungsmaßnahmen durch einen bereits Anfang Dezember ergangenen Befehl Hitlers zur Rationalisierung der Wehrmachtsfertigung151 sowie Maßnahmen Todts zur Straffung und Ausdehnung der von ihm ini­ tiierten unternehmerischen Organisation der Heeresrüstung. Ebenso gelang es ihm, eine Änderung des Preissystems bei Rüstungsgütern zu erwirken, das den Firmen nicht mehr ihren tatsächlichen Fertigungsaufwand ersetzte, sondern ihnen über feste Abnahmepreise einen Anreiz zur rationelleren Fertigung bot.152 Im Wehrkreis IV besaß der stellvertretende Generalkommandeur als Wehrkreisbefehlshaber die Oberaufsicht über den neu zu bildenden Wehrkreis- oder Freimachungsausschuss. Die eigentliche Leitung übernahm Friedensburg als 145 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 561–568, 575–577; vgl. zur Fülle der Literatur zum Ostfeldzug den umfassenden Forschungsbericht von Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Überschär, Hitlers Krieg im Osten 1941–1945. Ein Forschungsbericht, erweiterte und vollständig überarbeitete Neuausgabe Darmstadt 2012. 146 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 871–890. 147 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 575–585; Ernst Klink, Heer und Kriegsmarine. In: Der Angriff auf die Sowjetunion. Hg. von Horst Boog/Jürgen Förster/Joachim Hoffmann/Ernst Klink/Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Überschär, Frankfurt a. M. 1991, S. 541–736, hier 685–704; Bernhard R. Kroener, Generaloberst Friedrich Fromm. Eine Biographie, Paderborn 2005, S. 422–426. 148 Die Bezeichnung ist in den Quellen nicht einheitlich. 149 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 936 f.; RüIn IV, Geschichte der RüIn IV vom 1.10.1940– 31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/9, Bl. 16). 150 Kroener, Fromm, S. 429. 151 Vgl. Herbst, Krieg, S. 174; Milward, Economy, S. 65. 152 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 49–54, 300; Kroener, Ressourcen, S. 939 f.

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Rüstungsinspekteur. Außerdem waren alle Institutionen vertreten, die auf Wehrkreis- bzw. Landesebene mit der Arbeitskräftelenkung zu tun hatten. Dazu zählten die Vertreter der zuständigen Wehrersatzinspektionen, die Landesarbeitsamtspräsidenten sowie die Leiter der Landeswirtschaftsämter, der Vorsitzende des zum Munitionsministerium gehörenden Rüstungsausschusses des Wehrkreises und der ebenfalls zum Munitionsministerium gehörende Wehrkreisbeauftragte Gotthard Böttger, der gleichzeitig Leiter des NSDAP-Gauamtes für Technik war und hauptberuflich den Elektrizitätsverband Gröba leitete.153 Zu den zuständigen Freimachungsunterausschüssen (FUA), die die eigentliche Arbeit zu machen hatten, wurden kurzerhand die bereits bestehenden, eigentlich für die Auskämmungen zuständigen, Todt’schen Unterprüfungskommissionen154 ernannt, zu denen noch ein Vertreter des für den Sitz des zu prüfenden Betriebes zuständigen Wehrbezirkskommandos, also der entsprechenden Wehr­ ersatzdienststelle, trat.155 Zumindest in der Region Chemnitz sollte auch der Vertreter des Wehrkreisbeauftragten des Munitionsministeriums, Anacker,156 gleichzeitig Leiter des NSDAP-Kreisamtes für Technik, dabei sein.157 Vonseiten der IHK Chemnitz nahm Walter Linse teil. Im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz traten die einzelnen Unterausschüsse bei den Wehrmeldeämtern des Rüstungsbereichs zusammen.158 Den Vorsitz führte der Leiter des zuständigen Arbeitsamtes.159 Der Freimachungsausschuss auf der Wehrkreisebene bekam bestimmte Sollzahlen für die Einberufungen vorgegeben. Dieses Soll wurde bis auf die untersten Ebenen der Wehrersatzdienststellen, den Wehrmeldeämtern, immer weiter aufgeteilt. Das Rüstungskommando Chemnitz sollte aus seinem Bereich in drei Raten zwischen Ende 1941 und Februar 1942 knapp 4 700 Männer aus der gewerblichen Kriegswirtschaft zur Einberufung freigeben.160 Das Neue an dem jetzt gewählten Verfahren war eine ungleich engere Verzahnung zwischen Wehrersatz- und Wehrwirtschaftsdienststellen beim Ausgleich des Arbeitskräftebedarfs zwischen Wehrmacht und Rüstungswirtschaft. Einerseits wurden Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos in die Erfüllung eines konkreten Einberufungssolls eingebunden und waren jetzt mit dafür

153 Zur Person Böttgers vgl. Persönliches. Gauamtsleiter Böttger 50 Jahre alt, o. A. In: Technische Mitteilungen an die Umstellungsbeauftragten des Wehrkreises IV (1943) 117, S. 5 (SächsHStAD, Gauamt für Technik, ohne Signatur, unpag.). 154 Vgl. Kap. IV.3.5. 155 Vgl. RüIn IV, Geschichte der RüIn IV vom 1.10.1940–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/9, Bl. 16). 156 Vorname nicht zu ermitteln. 157 Vgl. RüKdo Chemnitz am 26.2.1942, Rundschreiben 33/42 (BA-MA Freiburg, RW 21– 11/10, Bl. 65). 158 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (ebd., Bl. 4RS f.). 159 Vgl. ebd. Bl. 10. 160 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 24).

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verantwortlich, dass die Wehrmacht das von ihr benötigte Personal zugewiesen bekam,161 während vorher die Bedürfnisse der Rüstungsfertigung den Vorrang gehabt haben dürften. Zum anderen, und das hat Bernhard R. Kroener besonders hervorgehoben,162 konnten sich das Allgemeine Heeresamt und seine nachgeordneten Wehrersatzdienststellen bei der Überprüfung der Abkömmlichkeit von Arbeitskräften der gewerblichen Wirtschaft einschalten, weil die Einberufungen auch aus den Reihen der uk-gestellten Arbeitskräfte zu erfolgen hatten. Der Spezialbetriebsschutz, der an sich bis Ende März 1942 verlängert war, wurde für diese Aktion ebenfalls eingeschränkt.163 Im Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt befürchteten dadurch manche Verantwortliche eine schleichende Übergabe der Verantwortung bei der Überwachung der Uk-Stellungen an die Wehrersatzdienststellen. Jedenfalls wies das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt die Sachbearbeiter der Rüstungskommandos bei einer eigens nach Berlin einberufenen Tagung darauf hin, dass sie darauf achten müssten, die Führung in den Freimachungsunterausschüssen zu behalten. Die Wehrersatzdienststellen hätten sich den Entscheidungen des Rüstungskommandos zu fügen und dürften auf keinen Fall selbstständige Einberufungen Uk-Gestellter vornehmen.164 Doch bei allen Neuerungen überwogen auf der regionalen Ebene die Kontinuitäten. Diese äußerten sich vor allem in der beschriebenen organisatorischen Anknüpfung der Freimachungsunterausschüsse an die Todt’schen Unterprüfungskommissionen, aber auch in der Tätigkeit der Ausschüsse selbst. Die von Kroener so stark hervorgehobene Neuerung, die Teilnahme der Wehrersatzdienststellen an der Überprüfung der Uk-Stellungen, war im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz bereits im Jahr 1940 in Form der Teilnahme von Vertretern der Wehrersatzdienststellen an den Zusammenkünften der Arbeitsamtsausschüsse praktiziert worden, bevor das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt diese Zusammenarbeit verbot.165 Die Freimachungsunterausschüsse in der Region Chemnitz arbeiteten höchst effizient, obwohl sie mit der ständigen und plötzlichen Erhöhung der Einberufungsquoten fertig werden mussten. Zum Teil hingen diese Änderungen damit zusammen, dass der Personalbedarf der Wehrmacht durch den Erfolg der sow­jetischen Winteroffensive 1941/42 ständig stieg. Darüber hinaus erlegte die Rüstungsinspektion den Chemnitzern auch zusätzliche Quoten auf, die in anderen Gebieten des Rüstungsbereichs nicht aufgebracht werden konnten. So

161 Vgl. RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 194). 162 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 937. 163 Vgl. RüIn IV am 29.12.1941 betr. Einberufungen aus der Rüstungsindustrie (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 39). 164 Vgl. RüKdo Chemnitz, Bericht über die Arbeitstagung der Sachbearbeiter Ib der Rü­Kdos bei OKW, WiRüAmt, vom 21.–22.3.1941 [sic!] (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 75 f., hier 76). Die Arbeitstagung fand vom 21.–22.3.1942 statt. 165 Vgl. Kap. IV.2.1.

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hatten die Chemnitzer Freimachungsunterausschüsse beispielsweise im Januar 1942 zusätzlich 200 als Soldaten bereits ausgebildete Arbeitskräfte zu stellen, weil das Rüstungskommando Halle sich außerstande sah, sein Soll zu erfüllen.166 Auch in diesem Vorgang spiegelt sich die geringere Bedeutung Südwestsachsens als Rüstungsstandort gegenüber dem Industriegebiet Halle-Leipzig. Es gelang dem Rüstungskommando Chemnitz im ersten Quartal 1942 nahezu alle auferlegten Quoten zu erfüllen. Insgesamt wurden zwischen dem 15. Dezember 1941 und 31. März 1942 mindestens 12 000 Männer im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz für die Einberufung freigestellt.167 Das entsprach einer Größenordnung von etwa 3 Prozent der männlichen Bevölkerung im Alter zwischen 20 bis 49 Jahren bezogen auf 1939.168 Die Hauptlast der Einberufungen trugen dabei die vorher stark geschonten W- und Spezialbetriebe: Sie stellten allein im Januar 1942 73 Prozent aller aus der gesamten gewerblichen Wirtschaft zur Wehrmacht Entsandten, davon waren mehr als die Hälfte dringend benötigte Facharbeiter.169 Im gesamten Wehrkreis IV schickten die Wehrersatzdienststellen im ersten Quartal 1942 rund 36 000 Männer aus der gewerblichen Kriegswirtschaft zur Wehrmacht, von denen die Hälfte als Facharbeiter gezählt wurde. Weitere 14 000 kamen aus anderen Wirtschaftsbereichen hinzu.170 Dieses Ergebnis ist umso positiver zu bewerten, als bereits im Januar die Reaktionen auf die massive Einberufungswelle einsetzten. Die Tatsache, dass sich die Einberufungen plötzlich auch auf vermeintlich geschützte Arbeitskräfte bezog, ließ Unternehmen und Rüstungskommando erhebliche Beeinträchtigungen der Rüstungsfertigung erwarten,171 umso mehr, als es sich bei einem beträchtlichen Teil der Einberufenen um Metallfacharbeiter handelte, die eben wegen jener Kompetenz uk-gestellt worden waren. Allein von den bis Ende Januar 1942 aus Spezialbetrieben des Rüstungskommandobereichs einberufenen 3 800 Arbeitskräften wurden 56 Prozent als Facharbeiter eingestuft.172

166 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 6). 167 Ebd. Bl. 27RS. 168 Eigene Berechnungen nach Statistik des Deutschen Reichs, Band 552, Heft 2, S. 162–166 (männliche ständige Bevölkerung nach Altersgruppen am 17.5.1939 in den Reichsteilen, größeren und kleineren Verwaltungsbezirken für die Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau sowie des Stadt- und Landkreises Freiberg). Auch wenn sich die Zahl der von den Kommissionen freigestellten Männer nur grob zu den Zahlen der Volkszählung 1939 in Beziehung setzen lässt, gibt sie doch einen Eindruck von den Größenordnungen der Freistellungen. 169 Zum Teil eigene Berechnung nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 12). 170 Vgl. RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 194). 171 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 6, 9). 172 Vgl. ebd., Bl. 12.

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Viele der größeren in der Stadt Chemnitz ansässigen Metallfirmen mit 1 000 oder mehr Mitarbeitern hatten ein Viertel bis ein Fünftel ihrer jungen männlichen Mitarbeiter bzw. ein bis zwei Prozent der Gesamtbelegschaft dem Militär zur Verfügung zu stellen. So sollte beispielsweise die J. E. Reinecker AG bei einer Gesamtbelegschaft von 3 500 Menschen, 72 ihrer 350 jungen Mitarbeiter abgeben. Erst nach Einspruch der IHK Chemnitz beim Freimachungsunterausschuss ermäßigte sich diese Zahl auf 60. Die kleineren Firmen hatten zum Teil noch höhere Verluste zu verzeichnen; sie mussten auf 3 bis 5 Prozent ihrer Gesamtbelegschaft verzichten.173 Da dieses Problem reichsweit auftrat und Nachrichten über Fertigungseinbrüche auch Berlin erreichten, wurde in den ersten Monaten des Jahres 1942 ein schwer durchschaubares Geflecht verschiedenster Schutzmechanismen für die Industrie entwickelt. Zunächst schränkte Göring bereits am 7. Januar 1942, also zu einem sehr frühen Stadium der Einberufungen den Zugriff der Ausschüsse auf die Mineralölindustrie ein, indem er bestimmte, dass von dort Arbeitskräfte „neu bei gleichzeitiger Gestellung vollwertigen Ersatzes“ eingezogen werden dürften.174 Den Rüstungsbereich Chemnitz betraf dies weniger als die Tatsache, dass auch Teile des Werkzeug- und Werkzeugmaschinenbaus besonderen Schutz genossen. Fast 40 Werkzeug- und Werkzeugmaschinenproduzenten im Rüstungsbereich konnten sich darauf berufen; mehr als 20 davon residierten im industriellen Kerngebiet der Region, in Siegmar-Schönau. Zwei Unternehmen, nämlich die J. E. Reinecker AG und die Werkzeug- und Werkzeugmaschinenfabrik Hermann Pfauter erhielten sogar einen kompletten Schutz vor jedem Abzug. Es gelang den Freimachungsunterausschüssen nach Angaben der Rüstungsinspektion IV bis Ende März 1942 diese Vorgaben im gesamten Wehrkreis einzuhalten.175 Zu diesem neuen fertigungsbezogenen Schutz der Rüstungsindustrie gesellte sich ein schrittweiser Umbau des personenbezogenen Schutzes vor Einziehungen. Nachdem die Tätigkeit der Unterausschüsse die Uk-Stellungen zunehmend gegenstandslos machten, wurden neue Mechanismen ersonnen, die in der Praxis auf ein mehrstufiges System hinausliefen, in dem die eigentliche Uk-Stellung nur die unterste Schutzkategorie bildete. Letztere bedeutete ab dem Beginn des Jahres 1942 eigentlich nur noch, dass die Freimachungsunterausschüsse und nicht die Wehrersatzdienststellen allein über eine Einberufung entscheiden konnten.

173 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 9.1.1942, Aktennotiz betr. Freimachungsunterausschuss beim Wehrmeldeamt Chemnitz I (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 174 RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 194). 175 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 194); RüKdo Chemnitz am 26.2.1942 betr. Kennzeichnung der Schlüsselkräfte mit Anlage: Liste der für die Schwerpunktprogramme arbeitenden Betriebe der Werkzeugmaschinen-, Präzisionswerkzeug-, Lehrenbau-, Wälzlager und Triebwerkindustrie (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 65–67, hier 66 f.).

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Eine der ersten der neuen personenbezogenen Schutzkategorien war diejenige der „Rüstungswehrmänner“. Ende Januar 1942 erließ das Allgemeine Heeresamt des OKW einen Befehl, demzufolge im ganzen Reich 50 000 bereits ausgebildete Wehrpflichtige, die in der Rüstungs- oder in der Grund- und Rohstoffindustrie tätig waren, als „Rüstungswehrmänner“ bis auf weiteres uk zu stellen seien.176 Der Wehrkreis IV erhielt ein Kontingent von 6 000 „Rüstungswehrmännern“ zuerkannt, von denen 600 aus dem Rüstungsbereich Chemnitz kommen sollten. Im Verlauf der Aktion wurde diese Quote auf 750 erhöht. Innerhalb von drei Wochen füllten die Unternehmen die ihnen zugesandten Vordrucke aus, überprüfte das Rüstungskommando die gemeldeten Namen, forderte bei den Unternehmen die Uk-Karten der bestätigten „Rüstungswehrmänner“ an und gab sie an die Wehrersatzdienststellen weiter. Dabei zeigte es sich, dass die Unternehmen trotz aller Mahnungen zur Beschränkung insgesamt nicht nur 750, sondern 1 600 Mitarbeiter für unentbehrlich hielten. Vorstellungen des Rüstungskommandos Chemnitz gegenüber der Rüstungsinspektion IV, dass nur eine Erhöhung der Anzahl der „Rüstungswehrmänner“ Beeinträchtigungen in der Fertigung verhindern könnte, blieben zunächst wirkungslos. Es blieb bei den 750 Rüstungswehrmännern. Sie arbeiteten ausschließlich in 161 W-Betrieben, von denen zwei Drittel durch das Rüstungskommando, ein Drittel durch die Industrie- und Handelskammer oder andere Institutionen betreut wurden.177 Doch war eine weitere Aktion zum Schutz der Kriegswirtschaft bereits im Gange: Reichsmarschall Göring betrieb in Eigenregie den Schutz der wichtigsten Arbeitskräfte der Luftwaffenproduktion, was in Chemnitz wie überall zur Folge hatte, dass Mitarbeiter der Luftwaffenbetriebe, die als Angehörige der fliegerischen Bevölkerung galten, von den Freimachungsunterausschüssen nicht eingezogen werden durften.178 Daraufhin wurden Todt und nach seinem Unfalltod sein Nachfolger Albert Speer aktiv, weil sie einen umso stärkeren Eingriff in die Waffen- und Munitionsfertigungen für das Heer erwarteten. Aus diesem Konflikt entstand der Führerbefehl vom 19. Februar 1942.179 Er sah einen den „Rüstungswehrmännern“ ähnlichen Schutzmechanismus gegen den Arbeitskräfteabzug vor, der aber weiter gefasst war: Er bezog neben der eigentlichen Rüstungsfertigung auch die Rohstoff- und Treibstofferzeugung, die Energiewirtschaft, das Reichsbahnprogramm und wichtige chemische Produktionen ein.

176 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 196; Kroener, Ressourcen, S. 940; OKW, AHA, am 28.1.1942, Verfügung betr. Einberufungen aus der Rüstung und Rüstungswehrmänner (BA-MA Freiburg, RH 15/228, Bl. 4). 177 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 10, 12, 16 und 28); RüKdo Chemnitz am 12.2.1942, Rundschreiben Nr. 19/42 betr. Einberufung Uk-Gestellter und Rüstungswehrmänner (ebd., Bl. 51); RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 195). 178 Kroener, Ressourcen, S. 940 f.; RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 194). 179 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 941.

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Aus solchen Fertigungen sollten unersetzliche „Schlüsselkräfte“ nicht mehr eingezogen werden.180 Als „Fachkräfte“ galten daneben Personen, die lediglich nach einer längeren Einarbeitungszeit ersetzt werden konnten und deren Uk-Stellung deshalb nur mit einer achtwöchigen Frist aufkündbar war.181 Zwar befürchtete die obersten Vertreter der Wehrersatzorganisation, die Generäle Friedrich Fromm und Friedrich Olbricht, dass durch diese Maßnahme die Ersatzlage der Wehrmacht weiter verschlechtert würde, sie konnten sich jedoch angesichts einer gewissen Entspannung an der Ostfront mit ihren Bedenken nicht durchsetzen.182 Die These von Eichholtz, dass mit dem Schlüsselkräfte-­ Erlass „die ausschließliche Kompetenz der Wehrmacht in allen Einberufungsfragen“ endete und entscheidende Mitspracherechte an den Reichsminister für Bewaffnung und Munition übergingen,183 lässt sich aus regionaler Perspektive so nicht bestätigen. Bereits seit 1941 hatten in der Region Chemnitz die Todt’schen Prüfungsausschüsse an der Bewertung von Uk-Stellungen mitgewirkt; die Wehrmacht war also mitnichten bis 1942 allein für Einberufungsfragen zuständig. Die Schlüsselkräfteregelung wurde überdies, wie zu zeigen sein wird, von den Freimachungsunterausschüssen unter Führung des Rüstungskommandos vollzogen. Sie bedeuteten also weder institutionengeschichtlich noch von der Art und Weise des Vorgehens her eine Zäsur. Ein Machtzuwachs des Munitionsministeriums lässt sich schon vorher durch die geschilderte Einbeziehung seines Wehrkreisbeauftragten Böttger in den Freimachungsausschuss und dessen Untergebenen Anacker in den Chemnitzer Freimachungsunterausschuss, vor allem aber einige Zeit nach dem Schlüsselkräfte-Erlass beim Übergang der Rüstungsinspektionen vom OKW zum Munitionsministerium beobachten. Der Schlüsselkräfte-Erlass spielt hierbei eine geringe Rolle. Bei der Durchführung des Erlasses hatten die Rüstungskommandos in aller Eile mittels Anfragen an die Unternehmen und Überprüfung von deren

180 Vgl. BdF und ObdW am 19.2.1942 betr. Abgleichung der personellen Bedürfnisse der Wehrmacht und der gewerblichen Kriegswirtschaft. In: Martin Moll, (Hg.), „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkriegs schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997, S. 236 f. 181 Vgl. OKW, WiRüAmt, am 21.2.1942 betr. Sicherstellung von Schlüsselkräften und Fachkräften (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 61); OKW und RMfBuM am 19.2.1942 betr. Definition für „Schlüsselkräfte“ und „Fachkräfte“ (ebd., Bl. 62). Einen Schutz von „Schlüsselkräften“ hatte es 1941 bereits einmal für rohstoffschaffende und Grundstoff­ industrien gegeben, vgl. OKW, AHA, am 29.3.1941 betr. Uk-Stellung von Schlüsselkräften der rohstoffschaffenden und Grundindustrien (BA-MA Freiburg, RH15/222, Bl. 90 f.); siehe auch Kroener, Ressourcen, S. 801; Werner, „Bleib übrig“, S. 88. In den regionalen Quellen schlägt sich dieses erste Schlüsselkräfteverfahren nicht nieder. 182 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 196 f.; Milward, Economy, S. 77 f; Kroener, Ressourcen, S. 941, der den Schlüsselkraftbefehl auf die „gesamte kriegswichtige gewerbliche Wirtschaft“ bezogen sehen will; sehr verkürzt auch Recker, Sozialpolitik, S. 164. 183 Eichholtz, Geschichte II, S. 197.

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Angaben eine Liste von „Schlüssel- und Fachkräften“ aufzustellen. Das Rüstungskommando Chemnitz übertrug diese Aufgabe den Freimachungsunterausschüssen, wobei es sich selbst mit 13 Offizieren und neun Ingenieuren daran beteiligte. Die Ausschüsse hatten einen enormen Arbeitsanfall zu bewältigen, wie das Rüstungskommando berichtete: „Wegen des Umfangs der Eingänge (an einem Tage über 2 400) und in Anbetracht der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit müssen die Überprüfungen teilweise in Nacht- und Sonntagsarbeit erfolgen.“184 Die Überprüfung der insgesamt 23 000 eingereichten Listen dauerte 14 Tage und beanspruchte nach Berechnung des Rüstungskommandos allein die von ihm eingesetzten 22 Kräfte im Durchschnitt knapp fünf Stunden pro Tag. Dazu kamen die Arbeitsstunden der übrigen Mitglieder des Ausschusses und des Personals der Arbeitsämter, das dem Ausschuss zuarbeiten musste.185 Diese Anmerkungen werfen ein Schlaglicht auf das intensive Engagement der Mitarbeiter der Verwaltungsinstitutionen, ohne dass der Krieg wohl kaum so lange hätte geführt werden können. Die Rüstungsinspektion IV kritisierte, dass sowohl bei den „Rüstungswehrmännern“ als auch bei den „Schlüssel- und Fachkräften“ die Termine für die Benennung und für die Einberufung der nicht Benannten viel zu kurzfristig seien. Die Unternehmen könnten nicht, wie vorgesehen, rechtzeitig Ersatz für die Einberufenen bekommen, da es einfach nicht genug Arbeitskräfte gebe. „Die Folge ist“, so die Rüstungsinspektion, „dass die Rü-Dienststellen durch ein Trommelfeuer von Fernschreiben, Schnellbriefen, Ferngesprächen und persönlichen Besuchen eingedeckt werden.“186 Ebenso wie bei den „Rüstungswehrmännern“ gaben die Unternehmen im Rüstungsbereich Chemnitz auch diesmal weit mehr Mitarbeiter als unentbehrlich an, als ihnen die Ausschüsse zugestehen wollten. Von über 17 000 gemeldeten „Schlüsselkräften“ erkannten die Ausschüsse lediglich etwas mehr als 12 000 an, das entsprach knapp 20 Prozent aller im gesamten Wehrkreis IV anerkannten „Schlüsselkräfte“. Von den anerkannten „Schlüsselkräften“ gehörten wiederum 28 Prozent den für die Wehrmacht wichtigen, zwischen 1908 und 1922 geborenen, jüngeren Jahrgängen an, während es im Wehrkreismaßstab 34 Prozent waren. Die Ausschüsse im Rüstungsbereich Chemnitz scheinen also strenger als diejenigen der anderen Rüstungsbereiche darauf geachtet zu haben, der Wehrmacht nicht zu viele jüngere Männer vorzuenthalten.187 Die nicht anerkannten „Schlüsselkräfte“ stuften die Ausschüsse als „Fachkräfte“ ein, sodass der Rüstungsbereich Chemnitz schließlich 18 000 „Fachkräfte“ zählte. An ­ungeschützten

184 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 17). 185 Vgl. ebd. Bl. 17 f., 21. 186 RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 197). 187 Zum Teil eigene Berechnungen nach ebd., Bl. 196 f.

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Arbeitskräften der Geburtsjahrgänge 1908 bis 1922 befanden sich in den meldenden Unternehmen demgegenüber nur noch etwa 3 600 Männer.188 Das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt hatte ursprünglich ein Verhältnis von eins zu drei von „Schlüssel-“ zu „Fachkräften“ angestrebt. Im Rüstungsbereich Chemnitz kamen demgegenüber auf eine „Schlüsselkraft“ eineinhalb „Fachkräfte“. Dennoch war das Ergebnis hier günstiger als im Reichsmaßstab, wo die Anzahl der „Schlüsselkräfte“ derjenigen der „Fachkräfte“ entsprach. Allerdings musste der Chef der Ersatzdienststellen im Wehrkreis IV, der stellvertretende Generalkommandeur, feststellen, dass die Industriebetriebe im Wehrkreis bevorzugt voll feldverwendungsfähige Männer als „Schlüssel- und Fachkräfte“ benannt hätten. So seien von den ungeschützten Kräften der Rüstungsunternehmen lediglich 20 Prozent für den Dienst an der Front geeignet, während diese Quote bei den „Schlüssel- und Fachkräften“ bei 82 Prozent liege. Das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt kündigte den Rüstungskommandos daher bereits im März 1942 den Entzug von 80 Prozent aller Fachkräfte unter 35 Jahren im nächsten Quartal an. Die Rüstungskommandos sollten die Unternehmen beizeiten dazu anhalten, sich Ersatz heranzubilden.189 Bis dahin hatten der Freimachungsausschuss und seine Unterausschüsse im Wehrbereich Chemnitz sehr intensiv und effizient arbeiten können, aller geschilderten Schwierigkeiten zum Trotz. Dies entspricht auch der Bewertung Kroeners für das Reich, der zufolge sich die bei ihm „Wehrkreisausschüsse“ genannten Einrichtungen zur „dauerhaftesten und effizientesten Institution im gesamten Geflecht der Kontrollmaßnahmen“190 der Rüstungsindustrie entwickelten. Doch im Frühjahr und Sommer 1942 führten verschiedene Faktoren dazu, dass der Stellenwert der Ersatzbeschaffung für das Heer sank. Hitler ließ sich wie viele Nichtmilitärs in seiner Umgebung bis in den September 1942 hinein von den Geländegewinnen der Wehrmacht an der Ostfront blenden und stellte gleichzeitig gigantische Produktionsanforderungen an die Rüstung. Speer gelang es gegenüber Hitler, Einberufungen aus den Rüstungsbetrieben stark zu begrenzen. Die vom Allgemeinen Heeresamt vorgegebenen Einberufungsquoten wurden reichsweit selten erreicht.191 Aus der Perspektive des Rüstungskommandos war der Alltag der Einberufungstätigkeit im Frühjahr und Sommer 1942 noch mehr als sonst von sich 188 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 17 f., 21); RüKdo Chemnitz, Meldung zum 7. März gemäß Verfügung des WiRüAmtes vom 25.2.1942 (ebd., Bl. 73). 189 Vgl. RüKdo Chemnitz, Bericht über die Arbeitstagung der Sachbearbeiter Ib der Rü­Kdos bei OKW, WiRüAmt, vom 21.–22.3.1941 (ebd., Bl. 75 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (ebd., Bl. 21); Anweisungen an die im FUA eingesetzten Offiziere des RüKdo, o. V., o. D. [nach dem 4.4.1942] (BA-MA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 34). 190 Kroener, Ressourcen, S. 939. 191 Vgl. Ludolf Herbst, Das nationalsozialistische Deutschland. 1933–1945. Die Entfesselung der Gewalt: Rassismus und Krieg, Frankfurt a. M. 1996, S. 422 f.; Kroener, Ressourcen, S. 941 f.; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 791–797, 820–824.

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ständig ändernden Anweisungen gekennzeichnet, die immer wieder zwischen der Schwerpunktsetzung bei der Rüstungsindustrie und der Schwerpunktsetzung bei der Aufbringung der Quoten für die Einberufungen schwankten. Beispielsweise durften ab Ende April 1942 bestimmten Schwerpunktfertigungen zunächst keine „Fachkräfte“ mehr entzogen werden. Dieser fertigungsbezogene Schutz wurde jedoch in der zweiten Maiwoche 1942 durch ein Schreiben der Rüstungsinspektion IV zunächst eingeschränkt, um kurz darauf wieder voll in Kraft gesetzt zu werden. Anfang Juni ordneten OKW sowie Rüstungsinspektion erneut Eingriffe in die geschützten Schwerpunktproduktionen an, damit die gestellten Einberufungsquoten erreicht wurden. Unklar muss bleiben, ob die Aussage des Rüstungskommandos, damit sei der bisher praktizierte Schutz der Werkzeug- und Werkzeugmaschinenindustrie aufgehoben, den Tatsachen entsprach. Im Juli 1942 jedenfalls scheinen eine Reihe von Grundstoff- und Rüstungsfertigungen immer noch oder wieder besonders geschützt gewesen zu sein.192 Auch die Bestimmungen über die Anerkennung der von den Unternehmen vorgeschlagenen „Schlüsselkräften“ änderten sich immer wieder: Waren die Freimachungsunterausschüsse bis März 1942 dazu angehalten worden, die Angaben der Betriebe streng zu überprüfen, so lag ab April 1942 die Auswahl der Schlüsselkräfte in der „Selbstverantwortlichkeit des Betriebsführers“. In diesem Zusammenhang wurde jegliche Begrenzung der Anzahl der „Schlüsselkräfte“ aufgehoben und die Prüfung der Unternehmensangaben gestoppt. Erst im Juni 1942, als zur Aufbringung der Einberufungsquoten alle Mittel mobilisiert werden mussten, setzte die Rüstungsinspektion das Überprüfungsverfahren wieder in Gang. Sie verbot überdies, „Fachkräfte“ nachträglich zu „Schlüsselkräften“ zu erklären und versiegelte damit ein Schlupfloch, das die Unternehmen genutzt hatten, um ihre „Fachkräfte“ der Einberufung zu entziehen.193 Solche Schwankungen der Erlasslage beeinflussten die tägliche Einberufungstätigkeit der Wehrersatzdienststellen und der ­ Freimachungsunterausschüsse stark. Einberufungen im zweiten Quartal 1942 sollten zunächst von außerhalb der Rüstungsindustrie erfolgen. Sehr schnell wurde jedoch ein weiterer Eingriff

192 Vgl. Einberufungen von Schlüssel- und Fachkräften zur Wehrmacht. In: Nachrichten des RMfBuM, 1 (1942), S. 22 f.; RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–31.7.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 9, 13, 15, 21–23); Besprechung der Sachbearbeiter Ib der RüIn und RüKdo bei OKW, WiRüAmt, am 22.4.1942 (ebd., Bl. 36); RüKdo Chemnitz am 30.5.1942 an RüIn IV (ebd., Bl. 49); RüIn IV am 1.7.1942, kurzer Bericht über die rüstungswirtschaftliche Lage im Juni 1942 (RW 20–4/6, Bl. 39 f.). 193 Vgl. Besprechung der Sachbearbeiter Ib der RüIn und RüKdo bei OKW, WiRüAmt, am 22.4.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 36); RüKdo Chemnitz am 25.4.1942, Rundschreiben Nr. 52/42 betr. weitere Einberufungen und Arbeitseinsatzplanung (ebd., Bl. 35); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.– 31.7.1942 (ebd., Bl. 22 f.); siehe auch Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 794, 797, der freilich die Überprüfung der „Fach- und Schlüsselkräfte“ auf eine entsprechende Führerdirektive Mitte Juli zurückführt.

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Im Schatten des Krieges

in die kriegswichtige Industrie absehbar, obwohl Rüstungsinspektion und Rüstungskommando die Wehrersatzdienststellen im Wehrkreis wiederholt dazu aufriefen, zunächst noch einmal ihre Karteien für die anderen Wirtschaftszweige und die Verwaltungen zu prüfen.194 Nachdem die Einberufungsauflagen durch die Rüstungsinspektion mehrfach erhöht worden waren, hatte der Rüstungsbereich Chemnitz schließlich für Mai 790 Kräfte der Geburtsjahrgänge bis 1907 und 2 450 Männer der Jahrgänge 1908 und jünger freizumachen, sowohl aus der gewerblichen Kriegswirtschaft als auch aus anderen Wirtschaftsbereichen. Zwar versuchte das Rüstungskommando Chemnitz, bei der Rüstungsinspektion IV und diese vom OKW einen teilweisen Erlass des Solls zu erreichen. Nachdem dies gescheitert war, gelang es den zuständigen Ausschüssen und den Wehrersatzdienststellen schließlich doch, das Mai-Soll zu mehr als 90 Prozent zu erfüllen, freilich unter Androhung erheblicher Fertigungsstörungen seitens der Unternehmen.195 Damit stellte der Rüstungsbereich Chemnitz etwa 23 Prozent der im Wehrkreis IV während des Mai 1942 einberufenen 13 350 Männer.196 Für Juni hatte der Wehrkreis IV ein Einberufungssoll von 12 500 Arbeitskräften vorgegeben bekommen. Mit Ausnahme der Schlüsselkräfte sollten alle feldverwendungsfähigen für das Heer vorgesehenen Wehrpflichtigen der Geburtsjahrgänge 1908 bis 1922 eingezogen werden, auch solche, die bisher in geschützten Fertigungen arbeiteten. Die Wehrbereichskommandos im Rüstungsbereich Chemnitz stellten aus dem zivilen Bereich knapp 230, die Freimachungsunterausschüsse aus der gewerblichen Kriegswirtschaft knapp 1 170 Männer. Dies entsprach etwa einem Viertel der rund 5 500 im gesamten Wehrkreis IV einberufenen Arbeitskräfte, der freilich die ihm gesetzte Quote damit lediglich weniger als zur Hälfte erfüllte. Weitere Einberufungen waren nunmehr nur noch über den Rückgriff auf die uk-gestellten Mitarbeiter des zivilen Bereichs, die Schlüsselkräfte der Rüstungsindustrie und die der Luftwaffe oder der Marine zugeordneten wehrpflichtigen Beschäftigten möglich. Unter den letzteren befand sich auch eine Reihe Heeresgemusterter, bei denen es aber den Verantwortlichen gelungen war, sie über ihre Tätigkeit in der Luft- bzw. Marinerüstung für die jeweiligen Wehrmachtsteile zu vereinnahmen.197

194 Vgl. Anweisungen an die im FUA eingesetzten Offiziere des RüKdo, o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 21-11/11, Bl. 34); RüKdo Chemnitz an die Leiter der FUA am 14.5.1942 betr. Mai-Einberufungen (ebd., Bl. 45); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–31.7.1942 (ebd., Bl. 4–26, hier 21 f.). 195 Vgl. RüKdo Chemnitz an die Leiter der FUA am 14.5.1942 betr. Mai-Einberufungen (ebd., Bl. 45); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.– 31.7.1942 (ebd., Bl. 11–19, passim). 196 Vgl. RüIn IV am 1.7.1942, Kurzer Bericht über die rüstungswirtschaftliche Lage im Juni 1942 (RW 20–4/6, Bl. 39 f.). 197 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–31.7.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 21–23, 25); RüIn IV am 1.7.1942, Kurzer Bericht über die rüstungswirtschaftliche Lage im Juni 1942 (RW 20–4/6, Bl. 39 f.).

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

97

Die Freistellungs- bzw. Einberufungszahlen für Juli und August 1942 liegen für den Rüstungsbereich Chemnitz nicht vor. Es ist aber anzunehmen, dass sie sich im Juli in ähnlichen Größenordnungen wie im Juni bewegten. Im gesamten Wehrkreis konnten für diesen Monat lediglich rund 5 500 statt der geforderten 11 600 Personen gestellt werden. Im August erfolgte offenbar keine nennenswerte Zahl von Einberufungen, was damit zusammenhängen dürfte, dass der neue Munitionsminister Speer durchsetzen konnte, dass die Rüstungsindustrie im engeren Sinne reichsweit lediglich 6 000 Männer abgeben sollte.198 Insgesamt entsteht in den ersten beiden Quartalen des Jahres 1942 auf der regionalen Ebene ein Bild, das im April zunächst von einer gewissen Entspannung bei den Einberufungen gekennzeichnet ist. Im Mai hatten die zuständigen Ausschüsse entgegen den ursprünglichen Ankündigungen eine Quote zu erfüllen, die in ihrer Höhe derjenigen der ersten Monate des Jahres 1942 durchaus entsprach. Bereits im Juni 1942 beschlich zumindest einen Teil der regionalen Verantwortlichen in Chemnitz das Gefühl, dass die Personalbedürfnisse von Truppe und Rüstungsindustrie unvereinbar seien. Bei einem weiteren Abzug von Arbeitskräften würde die dringliche Wehrmachtsfertigung „stark in Mitleidenschaft gezogen“, heißt es im Kriegstagebuch des Rüstungskommandos Chemnitz, und weiter: „Die Entscheidung liegt daher beim OKW, ob der Bedarf der Truppe an Mannschaften dem Bedarf an Munition und Gerät voranzugehen habe, da sich in vollem Umfange nur noch das eine oder das andere erfüllen lässt.“199 Tatsächlich scheint ab Juni 1942 im Verhalten der Rüstungsinspektion als vorgesetzte Stelle des Rüstungskommandos die Rücksicht auf die Rüstungsfertigung Vorrang gehabt zu haben. Die dem Wehrkreis auferlegten Einberufungsquoten wurden nur in der Folgezeit noch zur Hälfte erfüllt. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass sich die Unterstellungsverhältnisse der Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos im Mai 1942 gründlich verändert hatten. Nach dem Unfalltod Todts im Februar 1942 führte der neue Munitionsminister Albert Speer dessen Reformen der O ­ rganisation der Rüstungswirtschaft fort, die darauf abzielten, den Einfluss der Militärs zurückzudrängen. Am Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes vorbei, der jahrelang auf eine militärisch geführte Kommandowirtschaft hingearbeitet hatte, installierten Todt und sein Nachfolger Speer mit den Ausschüssen und Ringen, Selbstverwaltungsorgane der Rüstung, die leistungsfähiger sein sollten als staatliche Ämter. Auch wenn die neueste Forschung das Speer’sche Rüstungswunder inzwischen mindestens zum Teil als Propaganda bewertet, weil seine Leistungen in erheblichem Maße auf Vorarbeiten der Vorkriegszeit und

198 Vgl. ebd., Bl. 45; RüIn IV am 1.9.1942, Kurzer Bericht über die rüstungswirtschaftliche Lage im August 1942 (RW 20–4/6, Bl. 56); Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 822. 199 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–31.7.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 24). Hervorhebung im Original.

98

Im Schatten des Krieges

der ­ersten Kriegsjahre beruhten, so entstand doch aus der Sicht der Zeitgenossen der Eindruck einer unerwarteten Produktionssteigerung.200 Gleichzeitig verleibte Speer seinem Ministerium aus der militärischen Wirtschaftsverwaltung diejenigen Teile ein, die ihm zur Ergänzung seiner Macht nützlich erschienen. So wurde das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt im Mai 1942 aufgrund einer Führerdirektive aufgeteilt: Das Rüstungsamt ging mitsamt seinem regionalen Unterbau ins Munitionsministerium über, das Wehrwirtschaftsamt blieb zunächst dem OKW unterstellt, wurde allerdings von Speer nach und nach ausgehöhlt.201 Damit gehörten die Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos ab Mitte Mai 1942 zum Einflussbereich Speers. Laut Müller blieben sie in Fragen des Schutzes der Rüstungsbetriebe gegen Einberufungen allerdings zunächst weiter dem zum OKW gehörenden Wehrwirtschaftsamt unterstellt,202 während Janssen dagegen auf unklare Kompetenzverteilungen verweist.203 Zum Hintergrund für das Bestreben Speers, die Rüstungsinspektionen und ihren regionalen Unterbau in die Hand zu bekommen, gehört auch, dass aus seinem Ministerium immer wieder Vorwürfe laut wurden, dass die Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos als Militärs bei Einberufungen zu stark die Seite der Wehrersatzbehörden und zu wenig diejenige der Rüstungsunternehmen vertreten würden.204 Für das Rüstungskommando Chemnitz lässt sich das zumindest bis zur Entstehung der Freimachungsunterausschüsse Anfang 1942 nicht bestätigen, wie die geschilderten Konflikte mit den Wehrersatzbehörden dokumentieren. Nachdem das Rüstungskommando mit der Entstehung der Freimachungsunteraussschüsse erstmals überhaupt in die Verantwortung für die Aufbringung der Personalersatzquoten für die Wehrmacht eingebunden worden war, arbeitete es bis zu seiner Eingliederung ins Speerministerium freilich konsequent an der Erfüllung der vorgegebenen Einberufungsquoten mit. 2.4

Bilanz der Einberufungen bis zum Sommer 1942

Quantitativ lassen sich die ersten drei Kriegsjahre im Hinblick auf die Zahl der Einberufungen in der Untersuchungsregion nur schwer fassen. Die einzigen

200 Vgl. zur älteren Literatur, die noch die Wirksamkeit der Speer’schen Reformen betont: Wagenführ, Industrie, S. 39; Eichholtz, Geschichte II, S. 47–74; Müller, Mobilisierung, S. 664–669; ders., Speer, S. 312–318; Janssen, Ministerium, S. 42–48; das Speer’sche Rüstungswunder höchst kritisch betrachtend und zum größten Teil als Propaganda bewertend: Tooze, No Room; ders., Ökonomie, insbesondere S. 634–639, 689–715; Scherner/Streb, Ende, S. 172–196. 201 Vgl. Kap. III. 2. 202 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 289, demzufolge die Aufgabe des Schutzes der Rüstungsbetriebe gegen Einberufungen erst im Frühjahr 1943 an Speer fiel. 203 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 51. 204 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 791 und Anm. 68.

Arbeitskräfteentzug und Schutz der Rüstungsproduktion

99

v­ erfügbaren Zahlen stellen die Arbeitsbuchzahlen dar, die insgesamt zuverlässiger sind als in der Forschung allgemein angenommen.205 Sie stellen allerdings lediglich einen indirekten Indikator für die Zahl der Einberufungen dar, indem sie diese über den Rückgang männlicher Arbeiter und Angestellter in der Wirtschaft spiegeln. Zu berücksichtigen ist auch, dass mangels vorhandener Überlieferung die Zahl der in andere Gebiete des Reiches dienstverpflichteter Arbeitnehmer nicht herauszurechnen ist. Da die Zuschnitte der Arbeitsamtsbezirke, auf die sich die Zahlen beziehen, zwischen 1939 und 1942 stark schwankten,206 können hier nur diejenigen Teile der Region verfolgt werden, in denen die Bezirke unverändert blieben. Beispielhaft werden daher im Folgenden für die ersten Kriegsjahre der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz sowie die Bezirke Annaberg und Olbernhau betrachtet. Tabelle 1: Männliche Arbeiter und Angestellte (ohne Dienst bei der Wehrmacht) in den Jahren 1939–1942 (in absoluten Zahlen)207 31.8.1939

30.9.1940

30.9.1941

30.9.1942

AA Chemnitz

117 552

97 225

84 883

79 885

AA Annaberg

28 920

21 154

18 084

17 478

AA Olbernhau

16 678

12 296

10 859

9 916

1 287 339

1 010 173

935 817

875 023

LAA Sachsen

205 Vgl. Kap. I. 2. 206 Der Arbeitsamtsbezirk Glauchau wurde zum 1.9.1940 um Gemeinden aus den Arbeitsamtsbezirken Zwickau und Lugau erweitert. Damit betreute er rund 10 000 Arbeitskräfte mehr; vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). Ende Juni 1941 wurde der Arbeitsamtsbezirk Mittweida aufgelöst, von dem offenbar einige Gemeinden auch dem Arbeitsamtsbezirk Flöha zugewiesen wurden; vgl. die Tabelle „Die Arbeiter und Angestellten und die Beschäftigten im LAA-Bezirk Sachsen nach Arbeitsamtsbezirken am 30.6.1941“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 10, S. 6, und die gleiche Tabelle mit Stand 31.7.1941. In: ebd., (1940/41) 11, S. 3. Damit sind für die erste Kriegshälfte für die Arbeitsamtsbezirke Flöha, Glauchau und Lugau keine diachronischen Zeitreihen möglich. 207 Für 1939 siehe Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des AA Chemnitz am 31.8.1939 (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.); Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des AA Annaberg am 31.8.1939 (ebd.), Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des AA Olbernhau am 31.8.1939 (ebd.); Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des LAA Sachsen am 31.8.1939 (ebd.); für 1940 bis 1942 siehe Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/1941) 1, S. 2; ebd., (1940/1941) 13, S. 3; ebd., (1942) 10, S. 7. Die Zahl für 1939 nennt die Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten, die Zahlen von 1940–1942 die beschäftigten Arbeiter und Angestellten. Da im Sommer 1939 Vollbeschäftigung herrschte, dürfte dies das Gesamtbild nur unwesentlich beeinträchtigen.

100

Im Schatten des Krieges

Tabelle 2: Männliche Arbeiter und Angestellte (ohne Dienst in der Wehrmacht) in den Jahren 1939–1942 (Index: 31.8.1939=100)208 31.8.1939

30.9.1940

30.9.1941

30.9.1942

AA Chemnitz

100

83

72

68

AA Annaberg

100

73

66

60

AA Olbernhau

100

74

65

59

LAA Sachsen

100

78

73

68

Obwohl die Zahlen nur Ausschnitte des regionalen Geschehens abbilden, verdeutlichen sie, dass die Untersuchungsregion im sächsischen Vergleich überdurchschnittlich viele männliche Arbeitskräfte durch Einberufungen an die Wehrmacht bzw. per Dienstverpflichtung an die Rüstungsindustrie anderer Regionen abgeben musste. Lediglich im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz, dem Standort vieler Maschinen- und Fahrzeugbaubetriebe, entsprachen die Verluste an männlichen Arbeitnehmern in etwa denjenigen Gesamtsachsens. Im ersten Kriegsjahr lagen sie dort sogar noch deutlich unter dem sächsischen Durchschnitt. Dagegen verloren die Arbeitsamtsbezirke Annaberg und Olbernhau, in denen vor Abzügen weitgehend ungeschützte Industriezweige wie die Textilindustrie bzw. die Holzindustrie vorherrschten, weit mehr Arbeitskräfte als das industrielle Zentrum Chemnitz oder Sachsen insgesamt. Nach drei Kriegsjahren musste die dortige Wirtschaft mit rund drei Fünfteln der bei Kriegsbeginn tätigen männlichen Arbeiter und Angestellten auskommen. Bilanziert man die Einberufungspraxis der ersten drei Kriegsjahre in quantitativer Hinsicht, so fällt auf, dass die Region im gesamtsächsischen Vergleich besonders viele Arbeitskräfte abzugeben hatte. Dazu passt, dass der Rüstungsbereich Chemnitz im ersten Halbjahr 1942, für das durch die Freimachungsunteraussschüsse erstmals Zahlenangaben über Einberufungen aus der Industrie existieren, innerhalb des Wehrkreises IV durch eine vergleichsweise hohe Quotenerfüllung hervorsticht. Bemerkenswert ist, dass sich die wirtschaftliche Binnendifferenzierung der Region auch in der Zahl der abzugebenden Arbeitskräfte spiegelt. Dies beweist, dass die Behörden die Bedeutung der jeweiligen Wirtschaftsstandorte für die Rüstungswirtschaft entsprechend der Reichsvorgaben einzuschätzen wussten und sie dementsprechend stärker oder schwächer mit Einberufungen und Dienstverpflichtungen belasteten. Auf der institutionellen Ebene lässt sich festhalten, dass das erste Kriegsjahr in der Region von dem Bemühen gekennzeichnet war, über einzelne Initiativen der verschiedenen Ämter und Institutionen Lösungen für einzelne ämterübergreifende Fragen und Probleme zu finden. Angestoßen durch die auf der Mittelebene agierende Rüstungsinspektion IV, entwickelte sich über die Zu208 Eigene Berechnungen nach ebd.

Arbeitskräftefluktuation

101

sammenarbeit des Rüstungskommandos Chemnitz und der IHK Chemnitz mit den eigentlich für die Auskämmung zuständigen Arbeitsamtskommissionen im Sommer 1940 eine ämterübergreifende regionale Arbeitsstruktur bei der Frage der Uk-Stellungen. Ansätze, in diese Struktur die örtlichen Wehrersatzbehörden einzubinden, wurden freilich noch durch das Berliner Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt unterbunden. Indem die Arbeitsamtskommissionen auf regionaler Ebene ab Frühjahr 1941 ihre Fortsetzung in den Todt’schen Auskämmungskommissionen fanden und diese wiederum ab Ende 1941 als Freimachungsunterausschüsse auch die Einberufungen aus der gewerblichen Kriegswirtschaft zu regeln hatten, institutio­ nalisierte sich auf regionaler Ebene Schritt für Schritt eine Kontinuität der Zusammenarbeit der einzelnen Behörden in Fragen der Verteilung der Arbeitskräfte auf Truppe und Rüstungswirtschaft. Bei den Freimachungsunterausschüssen wurden ab Ende 1941 endlich auch die Wehrersatzbehörden in diese Zusammenarbeit einbezogen. Zudem wurde die Zuständigkeit der Kommissionen erweitert: Sie trugen nun nicht mehr einseitig Verantwortung für den Schutz der Rüstungswirtschaft vor Einberufungen, sondern wurden direkt in die Ersatzgestellung für die Truppen mit einbezogen. Damit hatte sich trotz der Vielfalt und Gegensätzlichkeit der Impulse von oben ein stabiler regionaler Arbeitszusammenhang gebildet, der in der Lage war, plötzliche Richtungsänderungen, Ad-hoc-Entscheidungen und unklare Weisungen der Reichsebene zu verarbeiten und in der Praxis sinnvoll im Sinne des Regimes umzusetzen.

3.

Arbeitskräftefluktuation: Versetzungen, Auskämmungen und Stilllegungen

Ein wichtiges Mittel, die Rüstungsindustrie mit Arbeitskräften zu versorgen, bestand darin, mittels staatlicher Anweisungen Arbeitskräfte aus anderen Wirtschaftsbereichen in die Wehrmachtsfertigung zu versetzen. Dabei gab es zwei Varianten des Vorgehens: Entweder konnten die Unternehmen, die Arbeitskräfte abgaben, ganz stillgelegt werden, oder die Arbeitseinsatzinstanzen konnten ihnen die in der Rüstung benötigten Arbeitskräfte entziehen und ihnen erlauben, mit dem reduzierten Personalbestand weiter zu wirtschaften. Dies war die sogenannte Auskämmung. Da beide Verfahren in der Praxis in der Region eng verknüpft wurden, werden sie im Folgenden im Zusammenhang dargestellt, und zwar insbesondere am Beispiel der beiden Schlüsselindustrien der Region, der Textilindustrie und des Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbaus. Nur am Rande berücksichtigt werden dabei jene Stilllegungen, die nicht in erster Linie dem Gewinn von Arbeitskräften für die Rüstungsfertigung, sondern der Rohstoff- oder Energieersparnis dienen sollten. Wie bereits bei der Schilderung der Einberufungspraxis stehen auch hier die Entwicklung von behördlichen Arbeitszusammenhängen und die Frage ihrer Effizienz im Mittelpunkt.

102 3.1

Im Schatten des Krieges

Ängste vor Arbeitslosigkeit und Stilllegungen bei Kriegsbeginn

Für Unternehmer, Behörden und Arbeiter in der Region Chemnitz kehrten mit Kriegsbeginn zunächst vor allem Ängste vor wirtschaftlicher Krise und Arbeitslosigkeit zurück. Ursache der Sorgen war für die für den zivilen Export produzierenden Betriebe zunächst vor allem die Zuteilung von Importrohstoffen. Schon lange hatte das Reich Importe wegen des enormen Devisenmangels kontrolliert und kontingentiert.209 Jetzt hagelte eine Fülle unterschiedlichster Anweisungen von verschiedensten Stellen auf die Unternehmen nieder: Bereits mit Kriegsbeginn hatte die Reichsstelle für Wolle und Tierhaare, die für die Kontingentierung dieser Materialien zuständig war, alle Lager beschlagnahmt und erst sukzessive gewisse Rohstoffmengen zur Verarbeitung freigegeben. Außerdem beschränkte sie beispielsweise bei den Spinnereien die Betriebsstunden der Maschinen.210 Das Arbeitsamt Chemnitz berichtete überdies von einer Beschlagnahme von Metallen.211 Das Arbeitsamt Lugau im Erzgebirge erklärte zum selben Zeitpunkt, dass die Strumpffabriken im Bezirk mit 50-prozentiger Kapazität arbeiteten.212 In Glauchau und Umgebung gingen, ebenso wie in Flöha, im September 1939 viele Textilunternehmen zur Kurzarbeit über. Die Unternehmensleitungen beurteilten die Aussichten ihrer Betriebe durchweg kritisch, weil sie fürchteten, keine oder nicht genug Rohstoffe zu erhalten.213

209 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 248–415. 210 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 769; AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 211 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (ebd.). 212 Vgl. AA Lugau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). Siehe auch die in der Akten der Vereinigten Baumwollspinnereien zusammengestellten Anweisungen aus den ersten Kriegsmonaten, u. a. Reichsstelle für Baumwolle, Der Reichsbeauftragte, an alle Verarbeiter von Baumwolle und sonstigen baumwollenen Spinnstoffen am 7.9.1939, ohne Betreff (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1653, unpag.); Sächsische Bezirksgruppe der Fachgruppe Baumwollspinnerei an ihre Mitgliedsfirmen am 8.9.1939, Nr. 105 betr. Spinnstoffbewirtschaftung (ebd.); Reichsstelle für Seide, Kunstseide und Zellwolle, Der Reichsbeauftragte, an Fa. Arno & Moritz Meister AG am 12.9.1939 betr. Beschlagnahmeanordnung des Sonderbeauftragten für die Spinnstoffwirtschaft und Anordnungen Z10 und Z11 der Reichsstelle für Seide, Kunstseide und Zellwolle (ebd.); Fachgruppe Wirkerei und Strickerei am 14.9.1939, Rundschreiben Nr. 194/39 betr. Heeresaufträge Sicherstellung des Faser und Spinnstoffbedarfs (ebd.); Reichsstelle für Baumwolle, der Reichsbeauftragte, an die Fachuntergruppe Vigogne und Zweizylinderspinnerei, am 25.9.1939 betr. Übergangsregelung für die Beschäftigung bis zum 31.10.1939 (ebd.); Sächsische Bezirksgruppe der Fachgruppe Baumwollspinnerei an ihre Mitgliedsfirmen am 26.9.1939, Rundschreiben Nr. 127 betr. Anordnung B 21 der Reichsstelle für Baumwolle (ebd.); Reichsstelle für Baumwolle an die Dreizylinderspinnereien des Altreiches, des Sudetenlandes und der Ostmark am 29.9.1939 (ebd.). 213 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–30.9.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–30.9.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

Arbeitskräftefluktuation

103

Die unklare Rohstofflage veranlasste eine Reihe von Unternehmen, vorsorglich Anträge auf Stilllegungen zu stellen; allein 22 waren es im Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz im September 1939, die rund 1 800 Arbeitnehmer betrafen.214 Überdies suchte ein Teil der Firmen, durch Entlassungen die laufenden Unkosten zu verringern und sich insbesondere der erst unter dem Druck des hochkonjunkturellen Arbeitskräftemangels eingestellten älteren oder weniger leistungsfähigen Arbeitnehmer zu entledigen.215 Dieser Praxis schoben die Arbeitsämter einen Riegel vor216 unter Hinweis auf die neue Gesetzeslage, die seit Anfang September Kündigungen ohne Zustimmung des Arbeitsamtes verbot.217 Der Präsident der IHK Chemnitz, der Texilunternehmer Hans Schöne, mahnte seine Unternehmerkollegen zu mehr Gelassenheit und Geduld, der Umstellungsprozess einer hochkomplexen Volkswirtschaft auf den Krieg brauche seine Zeit.218 Doch vor dem Erfahrungshintergrund der gerade erst vergangenen Zeit von Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, möglicherweise auch in Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, dessen Beginn eine Massenarbeitslosigkeit zur Folge hatte,219 prognostizierten die Behörden für die Region eher Arbeitslosigkeit als Arbeitskräftemangel, zumal die Rüstungsindustrie in diesem Raum nicht sehr stark verbreitet war: „Es steht jedoch fest“, so beispielsweise das Arbeitsamt Chemnitz Ende September 1939, „dass ein großer Teil der Textilbetriebe, der keine heeres- und lebensnotwendigen Artikel herstellt, kaum weiter beschäftigt bleiben wird.“220 Die Wahrnehmung vieler Arbeiterinnen und Arbeiter stimmte offenbar mit derjenigen der Behörden durchaus überein. Anders als in vielen anderen Reichsgegenden221 ist aus dem Chemnitzer Raum über Proteste gegen die am 4. September erlassene, freilich später Stück für Stück wieder zurückgenommene, Kriegswirtschaftsverordnung222 nichts bekannt. Diese Verordnung ­mutete der

214 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (ebd.). 215 Vgl. ebd.; AA Lugau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 216 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (ebd.). 217 VO über die Beschränkung des Arbeitsplatzwechsels vom 1.9.1939, insbes. §§ 1 und 2. In: RGBl. I, S. 1685. 218 Der Präsident der IHK Chemnitz an die Firmen des Kammerbezirks am 16.9.1939 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 391, unpag.). 219 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 750. 220 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 221 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 38–43; Werner, Bleib übrig, S. 37–39; Kroener, Ressourcen, S. 756, sieht eher eine recht hohe Bereitschaft der Bevölkerung, Lasten der Mobilisierung zu tragen. 222 KriegswirtschaftsVO vom 4.9.1939. In: RGBl. I, S. 1609–1613; zur Entstehungsgeschichte vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 26–37; zur schrittweisen Lockerung der Maßnahmen Hachtmann, Industriearbeit, S. 128–138; Werner, Bleib übrig, S. 34–44; Recker, Sozialpolitik, S. 37–53.

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Im Schatten des Krieges

Bevölkerung mit Urlaubsverboten, der Streichung von Überstunden-, Sonnund Feiertags- sowie Nachtzuschlägen, überdies einer ab einer bestimmten Verdiensthöhe zu zahlenden Kriegssteuer, eine ganze Reihe finanzieller und zeitlicher Opfer zu. In der Region Chemnitz dürfte jedoch die Angst vor einer eventuellen Arbeitslosigkeit größer gewesen sein als vor Gehaltseinbußen. Das Chemnitzer Arbeitsamt notierte dann auch Ende September 1939: „Allgemein konnte beobachtet werden, dass die Gefolgschaftsmitglieder für die Maßnahmen des Reiches Verständnis zeigten.“223 Auch die Wehrwirtschaftsinspektion IV, die ganz Sachsen und Teile von Mitteldeutschland überwachte, konnte nur vereinzelte Vorkommnisse, aber keine größeren Störungen des Arbeitsfriedens feststellen.224 Ein steiler Anstieg der Arbeitslosigkeit blieb der Region in der Folgezeit erspart. Folge der Kündigungsverbote, der sich hinziehenden Verhandlungen über Stilllegungen und des verzögerten Anlaufens der Rüstungsproduktion war aber, ähnlich wie im ebenfalls konsumgüterorientierten Baden,225 die erneute Ausbreitung der Kurzarbeit. Im Gebiet des Arbeitsamtes Lugau, in dessen Zuständigkeitsgebiet die Strumpfindustrie dominierte und nur wenige Metallbetriebe lagen, arbeiteten Anfang Oktober 1939 fast 4 000 Arbeiter verkürzt, das entsprach immerhin acht Prozent der registrierten Arbeitsbuchpflichtigen.226 Im Arbeitsamtsbezirk Annaberg waren es im Oktober rund 8 000 Kurzarbeiter. Der Leiter des Arbeitsamtes vermutete daher, dass sein Bezirk künftig im besonderen Maße zu Dienstverpflichtungen herangezogen werde. Er fürchtete längerfristige Beeinträchtigungen der lokalen Wirtschaft, „weil ein großer Teil dieser Arbeitskräfte, und bestimmt nicht die schlechtesten Kräfte, später nicht wieder nach hier zurückkehren [sic]“.227 Auch im industriellen Kernraum Chemnitz und Siegmar-Schönau stieg die Zahl der Kurzarbeiter mindestens auf geschätzte 9 000 im Oktober 1939. Gleichzeitig ließen sich hier aber über hundert Arbeitskräfte im sogenannten zwischenbezirklichen Austausch vermitteln.

223 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 224 Vgl. W In IV am 20.9.1939 betr. Meldungen über den Mob.Verlauf (BA-MA Freiburg, RW 20/4, 11, Bl. 2–8, hier 7); W In IV am 27.9.1939 betr. Meldungen über den Mob. Verlauf (ebd. Bl. 9–15, hier 14); W In IV am 10.10.1939 betr. Meldung über den Mob. Verlauf (BA-MA Freiburg, RW 19/54, S. 37–56, hier 42); W In IV am 25.10.1939 betr. Meldung über den Mob.Verlauf (BA-MA Freiburg, RW 20/4, 11, Bl. 26–40, hier 35). 225 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 102. 226 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); zur Zahl der Arbeitsbuchinhaber siehe Arbeitsbuchinhaber im LAA-Bezirk Sachsen am 30.10.1939. Arbeitsbuchpflichtige Arbeiter und Angestellte (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.). 227 Vgl. AA Annaberg an IHK Chemnitz am 13.10.1939 betr. Ihr Schreiben vom 7.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); zur Zahl der Arbeitsbuchinhaber siehe Arbeitsbuchinhaber im LAA-Bezirk Sachsen am 30.10.1939. Arbeitsbuchpflichtige Arbeiter und Angestellte (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.).

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Zudem hatte der Bezirk zwischen Mitte Oktober und Mitte November allein 620 Menschen für Dienstverpflichtungen nach auswärts zu stellen.228 Mit dem Beschluss des Wirtschaftsministers Funk zur Dezentralisierung der Vergabe von kriegswichtigen Aufträgen im Oktober 1939229 besserten sich die Aussichten für die Unternehmen in der Region mittel- und langfristig erheblich. Die Verantwortungsträger des Wehrkreises IV wurden von Funks Dezentralisierungsbeschluss Mitte Oktober in einer Sitzung bei Reichsstatthalter Mutschmann informiert. Die Reaktionen der Beteiligten waren genau spiegelverkehrt zu den Frontverläufen, die die gängige Forschungsdiskussion auf der Reichs­ ebene identifiziert hat: Anders als viele Gauleiter und Reichsstatthalter, die sich gewöhnlich als Fürsprecher der regionalen Wirtschaft und damit gegen jegliche Stilllegungen profilierten, führte Mutschmann aus, „dass aus den Kreisen der Industrie noch zu viel und zum Teil kleinliche Klagen kommen. Die Industrie hat z. T. noch nicht begriffen, dass Krieg ist […]. Es ist unvermeidlich, dass ein Teil der Betriebe still gelegt wird.“230 Dagegen betonte Generalmajor Witting, dessen Chef General Thomas eher ein zentralistisches Konzept mit einer Rüstungsfertigung in wenigen Großbetrieben favorisierte, die Interessen der mittelständischen Unternehmen vor Ort: Er beteuerte, dass die Wehrmacht kein Interesse an der Entstehung von Mammutbetrieben habe. Alle von der Wehrmacht betreuten Betriebe seien angewiesen worden, Unterlieferanten heranzuziehen. Auch wolle er Firmen, denen die Stilllegung drohe, daraufhin überprüfen lassen, ob sie für die Wehrmachtsfertigung geeignet seien231 – ein weiterer Beleg dafür, dass die regionalen Verantwortlichen durchaus ihre eigenen Ansichten hatten und sich die Berliner Großwetterlagen nicht unbedingt auf die mittlere oder regionale Ebene übertragen lassen. Oberregierungsrat Hentschel vom Landesarbeitsamt Sachsen erklärte, dass die Zahl der Arbeitslosen überschätzt werde. Für ihn zeichnete sich im Wehrkreis IV bereits ein Arbeitskräftemangel ab. Deshalb forderte er, die Kriegsaufträge in Gebiete zu lenken, wo noch Arbeitskräfte zur Verfügung stünden, um erzwungene Wanderungen von Arbeitnehmern möglichst zu vermeiden, und bekannte sich damit zur Dezentralisierung der Kriegsproduktion. Gleichzeitig

228 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.11.1939 (ebd.). Im Bezirk Flöha kam es ebenfalls zu Kurzarbeit; vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–30.9.1939 (ebd.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (ebd.); Von Arbeitslosigkeit kaum und von Kurzarbeit wenig betroffen war dagegen der Arbeitsamtsbezirk Olbernhau; vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 sowie vom 1.–15.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 229 Vgl. Kap. IV.1. 230 Protokoll der Besprechung des Reichsverteidigungskommissars für den Wehrkreis IV am 19.10.1939 im Gaujägerhof Grillenburg (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 199– 208, hier 200). 231 Vgl. ebd., Bl. 201 f.

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verlangte er angesichts des jetzt bereits erkennbaren Arbeitskräftemangels, dass „alle wehrwirtschaftlich nicht wichtigen Dinge zu Gunsten der wehrwirtschaftlich wichtigen gedrosselt werden“.232 Die Arbeitsämter in Chemnitz und Umgebung zeigten sich sehr erleichtert über den Dezentralisierungsbeschluss: Bereits im November 1939 konnte das Chemnitzer Arbeitsamt hinsichtlich der Textilindustrie notieren: „Der Gedanke der Stilllegung einzelner Betriebe soll vollkommen fallengelassen worden sein.“233 Einberufungen, die allmähliche Ingangsetzung der Rüstungsproduktion, die Lockerung der strengen Rohstoffzuteilungen sowie die Wiederbelebung des Exports, Dienstverpflichtungen von Arbeitern nach auswärts und Versetzungen von Beschäftigten der kurzarbeitenden Betriebe in vollbeschäftigte Unternehmen senkten die Anzahl der Kurzarbeiter, z. B. im Arbeitsamtsbezirk Annaberg von rund 8 000 im September auf rund 5 000 im November 1939. Ebenso wie im Arbeitsamtsbezirk Flöha war in Annaberg die Lage im Textilbereich von Unternehmen zu Unternehmen sehr unterschiedlich, während sich in der Metallindustrie bereits ein Arbeitskräftemangel andeutete. Die Berichterstatter aus beiden Bezirken meldeten schwere Bedenken wegen der hohen Zahl von Dienstverpflichtungen nach auswärts an.234 Das Arbeitsamt Chemnitz, in dessen Bezirk die Metallverarbeitung sowie der Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau eine ungleich wichtigere Rolle spielte, stellte in der zweiten Novemberhälfte nach einem kräftigen Rückgang der Kurzarbeiterzahlen eine „angespannte Arbeitseinsatzlage“ fest.235 Nach und nach zogen die anderen, weniger rüstungsbetonten Arbeitsamtsbezirke der Region nach.236 Wie sehr die Arbeitsämter die sozialpolitische Lage der Bevölkerung im Auge hatten, zeigt sich in ihren Reaktionen, als in Sachsen im Dezember 1939 doch noch erste behördlich verordnete Stilllegungen in der Textilbranche drohten, die freilich offenbar nicht oder nur in sehr kleinem Umfang verwirklicht wurden.237

232 Ebd., Bl. 206. 233 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 234 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.; AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.– 30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 235 Vgl. Arbeitsamt Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 mit Anlage zu Teil 2 des Arbeitseinsatzberichtes: Entwicklung der Lage des Arbeitseinsatzes (ebd.). 236 Vgl. insbesondere AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.2.1940 und vom 15.–31.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Flöha an Präsidenten der IHK Chemnitz am 29.3.1940 betr. Unterstützte Arbeitslose und Kurzarbeiter im AA Bezirk Flöha (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 237 Jedenfalls ist in den Dezemberberichten des Arbeitsamtes Chemnitz von behördlich verordneten Stilllegungen nicht mehr die Rede; vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.);

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Dabei ging es noch nicht um die Gewinnung von Arbeitskräften, sondern um die Einsparung von Importrohstoffen. Zum 1. Dezember 1939 verfügte die Reichsstelle bei vielen Firmen Produktionseinschränkungen, zugleich erhielten in den Arbeitsamtsbezirken Chemnitz und Lugau mehrere Spinnereien Stilllegungsverfügungen. In ihren diesbezüglichen Berichten verwiesen beide Arbeitsämter unter anderem auf die besondere Zusammensetzung der Textilbelegschaften, die bei einer Betriebsschließung ein Umsetzen dieser Arbeitskräfte in die Wehrmachtsproduktion kaum möglich mache: Durch die freiwillige Abwanderung junger Arbeiterinnen und Arbeiter, die Einberufungen und die Dienstverpflichtungen vor allem von männlichen Textilarbeitern bestünden die Belegschaften vor allem aus ortsgebundenen Frauen sowie älteren oder invaliden Arbeitern. Die Stilllegung von Textilunternehmen, so das Arbeitsamt Chemnitz Anfang Dezember, treffe deshalb seinen Bezirk schwer: „Die alten Frauen können in der Metallindustrie bei dem heutigen Stand der Technik nur mit großen Schwierigkeiten untergebracht werden. Zahlreiche nicht voll einsatzfähige Kräfte bleiben auf diese Weise arbeitslos, während sie in ihren bisherigen Arbeitsstellen noch wertvolle Arbeit hätten leisten können.“238 3.2

Die Arbeitsamtskommissionen in den Jahren 1939 und 1940

Der Abzug von Arbeitskräften aus weniger kriegswichtigen Fertigungen und ihre Umsetzung in die Rüstungsindustrie begannen in Sachsen bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn. Da die Mobilisierung der Wirtschaft anders ablief als ursprünglich geplant, waren in vielen Fällen die Mobilisierungspläne der Vorkriegszeit hinfällig geworden. Dennoch stellten sie bis Jahresende die Grundlage für den Arbeitskräfteabzug aus den Betrieben dar.239 Bereits am 15. September 1939 wies daher der Reichsarbeitsminister die Arbeitsämter an, in Abstimmung mit den Wehrwirtschaftsstellen und Industrieund Handelskammern entbehrliche Arbeitskräfte in andere, kriegswichtigere Fertigungen zu versetzen.240 In eine ähnliche Richtung ging die Anweisung Görings von Ende September 1939, der zufolge auch Wehrwirtschaftsbetriebe von sich aus ihre nicht ausgelasteten Facharbeiter, vordringlich M ­ etallfacharbeiter, Die Stilllegung der im Lugauer Bezirk ins Auge gefassten Firma Rudolf Facius & Söhne wurde nach Verhandlungen in Berlin wieder zurückgenommen; vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.12.1939 mit Anlage: Entwicklung des Arbeitseinsatzes (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Lugau: Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.12.1939 mit Anlage: Entwicklung des Arbeitseinsatzes (ebd.). 238 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 239 Vgl. IHK Chemnitz am 21.2.1940 betr. Entzug von Arbeitskräften (StAC, Fa. Josef Witt 02/356, unpag.). 240 Vgl. RAM an die Präsidenten der LAÄ am 15.9.1939 betr. Arbeitseinsatzmaßnahmen zur Deckung des wehrwirtschaftlichen Kräftebedarfs (BA-MA Freiburg, RW 19/937, Bl. 77 f.).

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dem Arbeitsamt zur Verfügung zu stellen hätten. Ergänzt wurde sie durch eine ähnliche Anordnung von Ende November 1939, die die Freisetzung von nicht mit kriegs- und lebenswichtigen Fertigungen beschäftigten Arbeitskräften zugunsten der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt stellte.241 Im Rahmen des sogenannten Landes- und Reichsausgleichs wurden die freigemachten Kräfte teilweise auch in andere Landes- oder Reichsteile versetzt. Davon sollten den Weisungen des Reichsarbeitsministers zufolge, die Landesarbeitsamtsbezirke Mitteldeutschland, Nordmark und Niedersachsen profitieren.242 Die sächsischen Arbeitsämter begannen bereits kurz nach Kriegsanfang damit, nicht ausreichend beschäftigten Unternehmen Arbeitskräfte zu entziehen. Das geschah erstens auf dem Wege der Dienstverpflichtung. Es ist durchaus als Indiz für die Effizienz der lokalen Arbeitsämter der Chemnitzer Region zu werten, wenn es ihnen bis Ende 1939 gelang, mehrere Tausend Arbeitskräfte dienstzuverpflichten und diese zu einem guten Teil auch nach auswärts abzugeben. Das Arbeitsamt Glauchau, dessen Bezirk von der Textilindustrie besonders einseitig geprägt war, hatte zwischen Juli und Dezember 1939 insgesamt rund 1 800 Arbeitskräfte umgesetzt, die meist aus kurzarbeitenden Betrieben stammten, das entsprach etwa 3 Prozent aller Arbeitsbuchinhaber von Juni 1939.243 Das Arbeitsamt Lugau verpflichtete in seinem ähnlich strukturierten Bezirk in sogar nur zweieinhalb Monaten zwischen Anfang Oktober und Mitte Dezember 1939 mehr als 870 Arbeitnehmer und damit mindestens 2 Prozent seiner Vorkriegsarbeitskräfte.244 Ähnlich sah es in den anderen erzgebirgischen Arbeitsamtsregionen aus.245 Selbst das Arbeitsamt Chemnitz machte vom Kriegsbeginn bis Mitte Dezember 1939 mindestens 1 200 Arbeitskräfte und damit wenigstens 1 Prozent aller Vorkriegsarbeitnehmer ausfindig, die es dienstverpflichten oder in andere als ihre angestammten Betriebe beordern konnte.246 Dass die 241 Vgl. Vorsitzender des Ministerrats für die Reichsverteidigung am 28.9.1939 betr. Facharbeitermangel (BA-MA Freiburg, RW 19/937, Bl. 53) sowie den anschließenden Erlass des RAM an die LAÄ vom 5.10.1939 betr. Facharbeitermangel (ebd., Bl. 50–52); Recker, Sozialpolitik, S. 66 f., 74 f.; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 303. 242 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 67. 243 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). Zur Anzahl der Vorkriegsarbeitskräfte siehe Arbeitsbuchinhaber im LAA-Bezirk Sachsen am 1.5.1939 und 30.6.1939. Arbeiter und Angestellte (SächsHStAD, Arbeitsämter 2/3, Landesarbeitsamt, unpag.). 244 Eigene Berechnungen nach AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.– 31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.), vom 16.–30.11.1939 (ebd.) sowie vom 1.–5.12.1939 (ebd.). Zur Anzahl der Vorkriegsarbeitskräfte vgl. Arbeitsbuchinhaber im LAA-Bezirk Sachsen am 1.5.1939 und 30.6.1939. Arbeiter und Angestellte (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.). 245 Vgl. AA Annaberg, Arbeitseinsatzberichterstattung für Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Annaberg, Arbeitseinsatzberichterstattung vom 16.–30.11.1939 (ebd.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.11.1939, vom 16.–30.11.1939, vom 1.–15.12.1939 und vom 16.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 246 Eigene Berechnungen nach AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.– 30.9.1939, vom 1.–15.11.1939 sowie vom 1.–15.12.1939 (ebd.).

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Zwangsversetzungen im industriellen Kern der Region einen geringeren Umfang besaßen als in der Umgebung, dürfte am ehesten mit der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur zusammenhängen. Vor allem die in Chemnitz und Siegmar-Schönau konzentrierte Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugindustrie verhinderte größere Abzüge. Zudem veranlasste das Landesarbeitsamt im Oktober 1939 erste Auskämmungen für die sogenannte Facharbeiteraktion, die auf der Grundlage von Görings Weisung in die Wege geleitet worden war.247 Ob dies in Koordination mit Kommissionen des Reichsarbeitsministeriums geschah, die offenbar ab Dezember 1939 tätig waren, muss mangels Quellen offenbleiben.248 In einem Bericht des Arbeitsamtes Chemnitz für Dezember 1939 ist jedenfalls von unterschiedlichen Kommissionen des Reichsarbeitsministeriums, des Landesarbeitsamtes und der Arbeitsämter die Rede.249 Involviert war überdies die Wehrwirtschaftsbzw. Rüstungsinspektion des Wehrkreises IV in Dresden. Sie arbeitete auf der einen Seite mit den Arbeitsämtern zusammen, zum Beispiel bei der Erstellung von Personalübersichten für die einzelnen Betriebe. Auf der anderen Seite kündigte sie Anfang November eigene Überprüfungen der in Wehrmachtsbetreuung stehenden Unternehmen an und stellte auf Weisung des OKW bis Jahresende entsprechende Kommissionen auf,250 bei denen freilich offenbleibt, inwieweit sie überhaupt tätig wurden.251 Anfang 1940 wurden die Beurteilungskriterien für Arbeitskräfteabzüge verändert: Nunmehr stellte in Sachsen nur noch der tatsächliche Auftragsbestand eines Unternehmens die Grundlage für Betriebsüberprüfungen dar und nicht

247 Vgl. RüIn IV, Zusammenhängender Überblick über die rüstungswirtschaftliche Entwicklung für die Zeit vom Kriegsbeginn bis 31.12.1939 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 143–166, hier 147). Für die Region Chemnitz siehe z. B. AA Annaberg, Arbeitseinsatzberichterstattung vom 1.–31.10.1939 sowie vom 1.–15.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). Offenbar zog sich die Aktion bis ins Frühjahr 1940, ohne dass sie in jedem Monatsbericht erwähnt wurde; vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 248 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 768 und Anm. 106; H. Hildebrandt: Betriebsnaher Arbeitseinsatz. In: Reichsarbeitsblatt, 20 (N. F.) (1940), Teil V, S. 55–60, hier 56. 249 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 250 Vgl. W In IV am 25.10.1939 betr. Meldungen über den Mob.-Verlauf (BA-MA Freiburg, RW 19/54, Bl. 30); W In IV am 8.11.1939 betr. Meldungen über den Mob.-Verlauf (ebd., Bl. 18); RüIn IV, zusammenhängender Überblick über die rüstungswirtschaftliche Entwicklung für die Zeit vom Kriegsbeginn bis 31.12.1939 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/1, Bl. 147). 251 In den für die Untersuchung genutzten Akten finden sich keine aussagekräftigen Hinweise; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 314 f., erwähnt überregionale Kommissionen unter anderem für Thüringen und Sachsen, die auf Initiative des OKW gegründet werden sollten. Sie sollten explizit ohne Einbeziehung der lokalen Verantwortlichen arbeiten, um ein besseres Ergebnis zu erzielen. Belege für die tatsächliche Gründung einer solchen Kommission und für ihre Tätigkeit führt er jedoch nicht an.

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mehr die überholten Mob.-Pläne der Vorkriegszeit. Überdies verschärften die Arbeitsämter offenbar die Prüfungsmaßstäbe. Als kriegswichtig und damit von Arbeitskräfteabzügen relativ sicher galten ihnen nur noch direkte und indirekte Wehrmachts- und Behördenaufträge sowie von den für die Exportregelung zuständigen Vorprüfstellen der Fachgruppen genehmigte Exportaufträge. Schließlich erklärte der Kräftebedarfsreferent der IHK Chemnitz im Mai 1940, bei Beschwerden von Unternehmern gegen Arbeitskräfteabzüge sein Verhalten wesentlich von den Arbeitszeiten der Mitarbeiter abhängig zu machen: 53 Wochenstunden sollten die übliche Mindestarbeitsstundenzahl darstellen.252 Auch auf der organisatorischen Ebene versuchten die Rüstungsinspektion des Wehrkreises IV und das Landesarbeitsamt Sachsen in den ersten Monaten des Jahres 1940, die Auskämmungsaktivitäten zu systematisieren und zu ratio­ nalisieren. Dabei handelten sie offenbar auf eigene Initiative, ohne entsprechende Weisung von oben.253 Eine gemeinsame Kommission aus Vertretern des Rüstungskommandos, der Industrie- und Handelskammern (bzw. bei Handwerksbetrieben des Kreishandwerksmeisters) und dem Leiter des zuständigen Arbeitsamtes sollte künftig die Betriebsüberprüfungen vornehmen. In deren Vorfeld hatten die Unternehmen Fragebogen zu Personalgröße, Facharbeiteranteil und Auftragsbestand auszufüllen. Die Kommissionen sollten die Unternehmensleiter mitsamt ausgefülltem Fragebogen vor die Kommission laden. „Diese Form der Auskämmung“, so erläuterte die Rüstungsinspektion Ende März 1940, „lässt es zu, eine größere Anzahl von Betrieben zu erfassen, als wenn jeder Betrieb besucht wird.“254 Nur wenn sich beim Vorladungstermin Unstimmigkeiten ergaben, hatten je ein Ingenieur des Rüstungskommandos und der IHK im Betrieb vor Ort zu ermitteln. Ende März war die Mittelebene noch dabei, Arbeitsämter und Rüstungskommandos in dieses Verfahren einzuarbeiten.255 Im zweiten Vierteljahr 1940 arbeiteten in Sachsen bereits alle Arbeitsämter nach dieser Methode, während der Landesarbeitsamtsbezirk Sudetenland gerade dabei war, sie einzuführen. Lediglich das ebenfalls teilweise zum Wehrkreis IV gehörende Landesarbeitsamt Mitteldeutschland machte von dem Verfahren keinen Gebrauch.256 Auf der regionalen Ebene sind Auskämmungskommissionen im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz bereits ab Ende 1939 nachweisbar, was dafür spricht, dass der stark vom Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau bestimmte Bezirk zu

252 Vgl. IHK Chemnitz am 21.5.1940 betr. Entzug von Arbeitskräften im Wege der Dienstverpflichtung (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.). 253 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.– 30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 105). 254 RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 40 f., hier 40). 255 Vgl. ebd. 256 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.– 30.6.1940 (ebd. Bl. 105).

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den Pilotgebieten gehörte, in denen das neue Verfahren entwickelt und getestet wurde.257 In weiteren Arbeitsamtsbezirken der Region ist die Tätigkeit der Kommissionen ab Anfang Mai 1940 belegt.258 Das Vorgehen der Rüstungsinspektion und des Landesarbeitsamtes Sachsen ist ein Beispiel dafür, wie fehlende Weisungen der zentralen Instanzen des Reiches durch Initiativen der mittleren Funktionsträger ausgeglichen wurden. Das Interesse an einem effizienten Verfahren dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sich die Rüstungsinspektion und das Landesarbeitsamt Sachsen unter besonderem Problemdruck sahen. Mehrfach klagten sie über extrem hohe Abzugsraten von Metallarbeitern in Gebiete außerhalb des Wehrkreises IV durch den Reichsausgleich, während gleichzeitig Tausende von Metallarbeitern im heimischen Bezirk fehlten. Besonders betroffen war in diesem Zusammenhang der sächsische Teil des Wehrkreises.259 Im Mai 1940 arbeiteten beispielsweise nach Schätzung des Arbeitsamtes Lugau rund 50 Prozent aller in seinem Bezirk ansässigen Metallarbeiter in auswärtigen Firmen.260 Die den sächsischen Firmen fehlenden Arbeitskräfte hofften Rüstungsinspektion und Landesarbeitsamt über die Betriebsprüfungen und Auskämmungen zu erhalten. Das von der Mittelebene in Sachsen entwickelte Verfahren trug der Polykratie des NS-Regimes dadurch Rechnung, dass es die unteren Instanzen der in die Arbeitskräfteumsetzungen involvierten Herrschaftsträger in einem gemeinsamen Gremium vereinte und sie damit zwang, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, die von den jeweils anderen Herrschaftsträgern deshalb nicht mehr angefochten werden konnten. Die gemeinsamen Sitzungen beschleunigten anstehende Entscheidungen, weil mühsame nachträgliche Abstimmungsprozesse unter den Herrschaftsträgern entfielen und überdies an einem Sitzungstag vergleichsweise viele Unternehmen überprüft werden konnten. Freilich ist unter Effizienzgesichtspunkten auch zu berücksichtigen, dass die Unternehmen bei Vorladungen ihre Personal- und Produktionsstrukturen möglicherweise eher verschleiern konnten als bei Betriebsbesuchen. Trotz aller Schwierigkeiten bewerteten die Arbeitsämter, die teils durch die Arbeitsämter, teils durch die Kommissionen erzielten Ergebnisse der A ­ uskämmungen

257 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–31.12.1939, vom 1.– 15.2.1940 und vom 1.–15.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 258 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 sowie vom 16.– 30.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 259 Vgl. z. B. W In IV am 10.10.1939 betr. Meldungen über den Mob.-Verlauf (BA-MA Freiburg, RW 19/54, Bl. 42); W In IV am 25.10.1939 betr. Meldungen über den Mob.-Verlauf (ebd., Bl. 31); RüIn IV, zusammenhängender Überblick über die rüstungswirtschaftliche Entwicklung für die Zeit vom Kriegsbeginn bis 31.12.1939 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/1, Bl. 145–147); LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 260 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).

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im Frühjahr 1940 insgesamt positiv, besonders wenn sie sie zu der gleichzeitig laufenden Stilllegungsaktion in Beziehung setzten,261 über die im folgenden Kapitel zu berichten sein wird. Zwar gelang es in keinem der Arbeitsamtsbezirke der Region, die seit Kriegsbeginn dringend gesuchten Metallfacharbeiter in einem Maße ausfindig zu machen, das sowohl den Arbeitskräftebedarf der heimischen Industrie deckte als auch die der Region auferlegten Arbeitskräfteabgaben nach auswärts bediente. Bei der Rekrutierung von Hilfskräften, anzulernenden Arbeitern und Arbeiterinnen waren die Arbeitsämter jedoch recht erfolgreich.262 Darüber hinaus hob das Arbeitsamt Chemnitz die hohe Zahl weiblicher Arbeiter hervor, die durch die Betriebsprüfungen ausfindig gemacht wurden.263 Das im Wehrkreises IV praktizierte Vorgehen war nach Darstellung der Rüstungsinspektion264 ein Vorbild für die reichsweite Regelung der Auskämmungen im Mai 1940. Reichsweit übernommen wurden die Fragebogen als Prüfungsgrundlage, die Vorsprache der Betriebe bei den Prüfungsinstanzen statt des Betriebsbesuchs sowie das Prinzip der Bildung von Kommissionen für die Untersuchung von Betrieben mit mehr als 50 Arbeitskräften. Deren Zusammensetzung wich allerdings von der in Sachsen praktizierten etwas ab: So sollten in den sogenannten Arbeitsamtskommissionen, die Betriebe mit zwischen 50 und 200 Mitarbeitern prüfen sollten, neben Arbeitsamt und Rüstungskommando nicht die IHK, sondern das Gewerbeaufsichtsamt vertreten sein. Lediglich die sogenannten Landesarbeitsamtskommissionen, welche die größeren Unternehmen mit über 200 Mitarbeitern zu untersuchen hatten, konnten neben den Angehörigen der militärischen Wirtschaftsverwaltung auch Vertreter des Bezirkswirtschaftsamtes, also der den Industrie- und Handelskammern vorgesetzten Behörde, hinzuziehen.265 Diese Weisung hinderte in Sachsen Rüstungsinspektion und Landesarbeitsamt freilich nicht daran, die zivile Wirtschaftsverwaltung auch weiterhin auf allen Ebenen in die Kommissionsarbeit einzubeziehen und deshalb die IHK-Vertreter auch weiterhin an den Überprüfungen der mittelgroßen Betriebe mit zwischen 50 und 200 Mitarbeitern teilnehmen zu lassen.266 Da sehr viele der zu

261 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.) sowie vom 15.–30.5.1940 (ebd.). 262 Vgl. z. B. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.3.1940, (ebd.), und vom 16.–30.4.1940 (ebd.). 263 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.4.1940 (ebd.). 264 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.– 30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 105). 265 RAM an die LAÄ am 16.5.1940 betr. Maßnahmen zur Deckung des Kräftebedarfs für die Rüstungsindustrie. In: Reicharbeitsblatt, Teil I (1940), S. 284–287, hier 286. 266 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 105); Gruppe Ia des Rüstungskommandos Chemnitz am 13.6.1940, Bericht über die Einteilungen der Betriebsprüfungen im IHK-Bezirk Chemnitz (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 44 f.).

Arbeitskräftefluktuation

113

überprüfenden Unternehmen, insbesondere die im Chemnitzer Raum besonders stark für Auskämmungen herangezogenen Textilfirmen, von der Indus­trieund Handelskammer und nicht vom Rüstungskommando betreut wurden, war dies ein sinnvolles Vorgehen. Auf diese Weise konnten die Unternehmer die Kammern bei Protesten gegen den Entzug von Arbeitskräften nicht für ihre Zwecke gegen Arbeitsämter und Rüstungskommandos einspannen. Mitte Juni fand in Chemnitz eine Besprechung zu den künftig geplanten Auskämmungen statt, an der Vertreter der Arbeitsämter der Region, des Rüstungskommandos Chemnitz, des Gewerbeaufsichtsamtes Chemnitz sowie der IHK Chemnitz teilnahmen. Die Tatsache, dass der Leiter des Chemnitzer Arbeitsamtes, Martin Geidel, hier den Vorsitz führte, belegt nicht nur die Federführung der Arbeitseinsatzverwaltung bei den Auskämmungsaktivitäten, sondern auch die Vorrangstellung, die das Chemnitzer Arbeitsamt vor den anderen Arbeitsämtern der Region besaß.267 Bei dieser Sitzung wurde die bereits auf der Mittelebene deutlich gewordene Tendenz, so viele Entscheidungsträger wie möglich einzubinden, auf der regionalen Ebene nochmals verstärkt, indem Geidel darauf hinwies, dass die Vertreter der DAF zwar in den Weisungen des Reichsarbeitsministers nicht als Kommissionsteilnehmer genannt worden seien, er deren Beteiligung jedoch für sinnvoll halten würde. Deshalb schlug er seinen Kollegen aus den anderen Arbeitsämtern vor, diese hinzuzuziehen.268 Zumindest in der Chemnitzer und der Flöhaer Kommission269 waren in der Folgezeit also nahezu alle Verantwortungsträger des NS-Regimes auf lokaler Ebene vereinigt: das Militär in Gestalt des Rüstungskommandos, die zivile Verwaltung in Gestalt des Gewerbeaufsichts­ amtes, die lokale Wirtschaft durch die IHK sowie die Partei in Gestalt der DAF. Anders als in Thüringen270 war freilich kein Vertreter des Wehrkreisbeauftragten und damit des im Februar 1940 unter Fritz Todt neu geschaffenen Munitions­ ministeriums eingebunden. Vielmehr teilte die Wehrwirtschaftsverwaltung im Wehrkreis IV die Vorbehalte des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes gegen jegliche Einmischung des neuen Ministeriums in Arbeitseinsatzfragen.271 Im September 1940 begann im Auftrag des Reichsarbeitsministeriums und der Dresdner Rüstungsinspektion272 eine Landesarbeitsamtskommission mit der Überprüfung der sächsischen Werkzeugmaschinenindustrie. Dabei ­vereinbarte

267 Vgl. ebd. 268 Ebd., Bl. 45. 269 Vgl. Arbeitsamt Flöha an IHK Chemnitz am 29.1.1941 betr. Fortsetzung der Betriebsüberprüfungen durch die Arbeitsamtskommissionen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 8, unpag.). 270 Vgl. Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 310; zur Entstehung der dort „Arbeitsgemeinschaften“ genannten Kommissionen siehe ebd., S. 307. 271 Vgl. Kap. IV.3.5. 272 RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20/4–2, Bl. 222–240, hier 226 f.).

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Im Schatten des Krieges

die Rüstungsinspektion IV mit Karl Lange, dem Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion im Rahmen der Vierjahresplan-Organisation und Geschäftsführer der Wirtschaftsgruppe Maschinenbau,273 dass Vertreter seiner Dienststelle daran beteiligt würden.274 Erst danach wurde dies, offenbar gegen gewisse Vorbehalte des Reichsarbeitsministeriums, auch auf zentraler Ebene in der Weise geregelt, dass Lange gegenüber dem Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt namentlich die Firmen benannte, bei denen er die Teilnahme eines seiner Vertreter wünschte.275 Dass von den reichsweit 135 genannten Firmen allein 13 ihren Sitz in Chemnitz und Umgebung hatten, bezeugt die große Bedeutung der Chemnitzer Werkzeugmaschinenindustrie für die deutsche Kriegswirtschaft.276 Mit dem Beginn der Tätigkeit der im Juni 1940 nach der reichsweiten Regelung aufgestellten Landesarbeitsamts- und Arbeitsamtskommissionen liegen erstmals kontinuierliche Zahlen über den Fortgang der Auskämmungen vor. Sie beziehen sich allerdings nur auf die Betriebe mit 50 oder mehr Mitarbeitern, die von den Sachbearbeitern der Arbeitsämter in Eigenregie durchgeführten Überprüfungen der Kleinbetriebe fließen nicht mit ein. Die Zahlen betreffen den gesamten Bereich des Rüstungskommandos, beziehen also über den Regierungsbezirk Chemnitz hinaus auch den Regierungsbezirk Zwickau sowie Stadtund Landkreis Freiberg mit ein. Den Zahlen aus Tabelle 3 zufolge bezeichnen die Sommermonate unmittelbar nach dem entsprechenden Erlass des Reichsarbeitsministers und der Einrichtung der darauf beruhenden Kommissionen den Höhepunkt des Auskämmungsgeschehens. Das Ende des Frankreichfeldzuges am 25. Juni 1940 belebte zwar wie überall im Reich277 auch in der Chemnitzer Wirtschaft die Hoffnungen auf ein baldiges Kriegsende,278 hatte auf den Fortgang der Auskämmungen jedoch keinen unmittelbaren Einfluss.

273 Vgl. zu Karl Lange Schneider, Unternehmensstrategien, S. 318 mit Anm. 421, 422. 274 Vgl. Niederschrift über die Inspekteurbesprechung am 13.9.1940 bei OKW/WiRüAmt (BA-MA Freiburg, RW 19/1932, Bl. 97–149, hier 139). 275 Vgl. der Bevollmächtigte für die Maschinenproduktion an WiRüAmt am 18.9.1940 betr. Arbeitseinsatzmaßnahmen in den Betrieben der Werkzeugmaschinenindustrie (BA-MA Freiburg, RW 19/998, Bl. 19); der Bevollmächtigte für die Maschinenproduktion an RAM am 18.9.1940 betr. Arbeitseinsatzmaßnahmen in den Betrieben der Werkzeugmaschinenindustrie (ebd., Bl. 20–22); WiRüAmt am 21.9.1940 betr. Abzug von Arbeitskräften aus der Werkzeugmaschinenindustrie (ebd., Bl. 18). 276 Vgl. Verzeichnis derjenigen Betriebe, bei deren Überprüfung durch die Auskämmungskommission die Beteiligung des Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion erforderlich ist, o. V., o. D. (ebd., Bl. 11–17). 277 Vgl. Aristotle A. Kallies, Der Niedergang der Deutungsmacht. Nationalsozialistische Propaganda im Kriegsverlauf. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9, 2. Halbband: Jörg Echternkamp (Hg.): Ausbeutung, Deutungen, Ausgrenzung, München 2005, S. 203–250, hier 214. 278 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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Arbeitskräftefluktuation

Tabelle 3: Auskämmungen im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz aufgrund der Weisung des Reichsarbeitsministeriums vom 20.5.1940 279

ausgekämmte Beschäftigte Zeitraum

überprüfte Firmen Facharbeiter

sonstige Arbeiter Frauen zusammen männlich

bis 29.6.1940

303

166

771

1 400

2 337

1.–27.7.1940

573

496

1 081

1 951

3 528

29.7.–31.8.1940

328

320

546

902

1 768

2.–21.9.1940

87

188

125

181

494

7.10.–2.11.1940

239

120

186

189

495

4.–30.11.1940

133

196

83

112

391

2.–31.12.1940

24

0

5

25

30

1.–31.1.1941

40

47

41

62

150

9.2.–1.3.1941

307

169

285

471

925

Die von Hitler im Juli 1940 beschlossene Anordnung, für den Krieg gegen England den Schwerpunkt der Rüstungsfertigung von der Heeresrüstung auf die U-Boot- und Luftwaffenfertigung zu verlagern, wirkte sich in Südwestsachsen erst im August 1940 aus,280 als Hitler und das OKW schon wieder gegensteuerten, um den Einmarsch in die Sowjetunion vorzubereiten.281 Bestand hatte 279 Ab wann die Auskämmungen auf der Grundlage der Weisung des RAM vom 20.5.1940 erfolgten, ließ sich nicht ermitteln. Eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 4.4.–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 11RS); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 5–12, 14 f., 17, 19); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/5, Bl. 3–22RS, hier 5, 7–16); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 8 f., 11). Die vom Rüstungskommando angegebenen zusammenfassenden Zahlen für das gesamte Vierteljahr vom 1.7.–30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–11/4, Bl. 20RS) und für das gesamte Vierteljahr vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–11/5, Bl. 17RS) liegen jeweils, außer bei der Anzahl der Frauen, etwas höher. Dies hängt möglicherweise mit nachträglichen Korrekturen der Überprüfungsergebnisse zusammen, wie sie sich durch Nachmeldungen o. Ä. ergeben haben könnten. An der Gesamtaussage und den Größenordnungen ändert dies nichts Wesentliches. 280 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 22RSf). 281 Zum Geschehen auf Reichsebene vgl. Tooze, Ökonomie, S. 457, 460–465, 499–507; Alan Milward, Die Deutsche Kriegswirtschaft 1939–1945, Stuttgart 1966, S. 38–42; Eichholtz, Geschichte I, S. 212–216; Kroener, Ressourcen, S. 786–790.

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Im Schatten des Krieges

allerdings die Reduzierung der bis Sommer 1940 im Mittelpunkt stehenden Munitionsfertigung, da sich inzwischen beträchtliche Lagerbestände angehäuft hatten.282 Davon war die Untersuchungsregion besonders betroffen. Ende Juli gaben Todts neu geschaffener Rüstungsausschuss,283 der für die Steuerung der Munitionsproduktion im Wehrkreis IV zuständig war, und die Rüstungsinspektion IV, die Verteilung der neuen geringeren Munitionsausstoßzahlen auf die einzelnen Unternehmen bekannt. Daraufhin zogen die Arbeitsämter den nun nicht mehr voll ausgelasteten Munitionsproduzenten und ihren Unterlieferanten die freigewordenen Arbeitskräfte ab. Insbesondere Metallfachkräfte gingen der Region verloren, da sie vielfach in Luftwaffen- und Marinefertigungen nach außerhalb vermittelt wurden. Als im September in Südwestsachsen die Munitionsfertigung wieder intensiviert werden sollte, bereitete die Rekrutierung der dafür nötigen Arbeitskräfte besonders große Schwierigkeiten.284 Dieser Vorgang ist Beleg für die Unberechenbarkeit der Folgen regionalen Verwaltungshandelns im Dritten Reich. Angesichts der fehlenden Gesamtkonzeption der Kriegswirtschaft konnte ein prompter Befehlsvollzug durch die mittleren und unteren Instanzen von Militär und Verwaltung auf längere Sicht unter Umständen ineffizienter sein als von regionalen Egoismen geprägte Verschleppungs­taktiken. In der oben wiedergegebenen Auskämmungsstatistik spiegelt sich das Geschehen um die Rüstungsumstellung kaum wider. Trotz der Drosselung der Munitionsfertigung sank die Zahl der durch die Kommissionen insgesamt erfassten Arbeiter von etwa 3 500 im Juli 1940 auf die Hälfte, nämlich 1 750, im August 1940 ab, die der Facharbeiter immerhin um ein Drittel. Danach benötigte die Kommission vier Monate, um insgesamt so viele Arbeiter auszukämmen, wie sie allein im Monat August ausfindig gemacht hatte, obwohl der Arbeitskräftemangel in der Rüstungsindustrie reichsweit neben dem Rohstoffmangel einen der neuralgischen Punkte bei der Vorbereitung des Russlandfeldzuges darstellte.285 Auch die Zahl der monatlich überprüften Betriebe ging erheblich zurück, sodass in Chemnitz die von Wolfgang Franz Werner konstatierte Verschärfung der Auskämmungen seit September 1940 286 nicht zu erkennen ist. Bei einer Größenordnung von rund 650 000 Arbeitnehmern im Bereich des Rüstungs-

282 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 502. 283 Zum Munitions- bzw. Rüstungsausschuss vgl. Kap. IV. 3. 5. 284 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 23); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1940 sowie im Oktober 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 285 Vgl. Milward, Kriegswirtschaft, S. 41; Eichholtz, Geschichte I, S. 215. 286 Werner, „Bleib übrig“, S. 84. Die im Text erwähnte mangelnde Umsetzungsfähigkeit der durch die Auskämmung gefundenen Arbeitskräfte im Bereich der RüIn IV ist falsch datiert. Die Quelle, die Werner nennt, bezieht sich auf das Jahr 1941; vgl. Geschichte der RüIn IV vom 1.1.1940–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/9, Bl. 1–84, hier 8).

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kommandos Chemnitz waren die Auskämmungsraten hier ab September so gering, dass sie kaum mehr prozentual erfassbar sind. Die Arbeitsämter der Region Chemnitz sowie das dortige Rüstungskommando begründeten dies damit, dass nunmehr alle Betriebe mindestens einmal und viele sogar mehrfach überprüft worden seien und daher einfach keine Arbeitskräfte mehr zur Verfügung stünden, die sich für eine Versetzung in die Rüstungsindustrie eigneten und aus den Unternehmen ohne die Gefahr eines Betriebszusammenbruchs entfernt werden konnten. Zum Teil verwiesen die Arbeitsämter auch auf eine zunehmende Einbindung ihrer Bezirke in die Rüstungsfertigung.287 Ein Beispiel aus der Textilbranche soll verdeutlichen, wie sich dies auf der Ebene der einzelnen Unternehmen auswirkte. Die Baumwollspinnerei Josef Witt in Chemnitz, ein Zweigunternehmen der Firma Josef Witt/Weiden, fertigte Baumwoll- und Zellwollmischgarne. Eigenen Angaben zufolge steigerte sie den wertmäßigen Anteil der Unterlieferungen für Wehrmachtsproduktion am Gesamtumsatz von 2 Prozent im Juli 1939 auf fast 50 Prozent im Januar 1941.288 Allein zwischen Februar 1940 und Februar 1941 wurde die Spinnerei insgesamt viermal von Arbeitsamtskommissionen überprüft,289 was auf eine hohe Aktivität der Chemnitzer Auskämmkommissionen hindeutet. Die Ergebnisse der einzelnen Überprüfungen sind zwar nicht überliefert. Eine Bestandsaufnahme aus dem Februar 1941, kurz vor der letzten Überprüfung, ergibt jedoch einen hohen Arbeitskräfteverlust, den die Firma innerhalb der ersten anderthalb Kriegsjahre hatte hinnehmen müssen: Ihre im Juli 1939 aus 722 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bestehende Belegschaft war bis zu diesem Zeitpunkt auf 431 Arbeitskräfte, also 60 Prozent der Vorkriegsbelegschaft, zusammengeschmolzen. Außerdem machten die Mitarbeiter der besonders leistungsfähigen Altersgruppen zwischen 18 und 45 Jahren lediglich gut die Hälfte der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus, die übrigen waren

287 Vgl. z. B. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1940 sowie im November 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Flöha, Berichte über den Arbeitseinsatz im August 1940 sowie im Dezember 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im September 1940, im Oktober 1940, im November 1940 und Dezember 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 288 Vgl. Prüfungskommission, Arbeitsamt Chemnitz, Landesarbeitsamt Sachsen, Übersichtsblatt. Prüfungsvorbereitung, ausgefüllt vom Betrieb Josef Witt, Chemnitz, am 4.2.1941 (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.). 289 Vgl. Übersicht der dem Arbeitsamt Chemnitz für eine Betriebsprüfung in dreifacher Ausfertigung zu erstellenden Unterlagen, o. V., vom 23.2.1940 (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.); Fragebogen als Unterlage für eine Betriebsüberprüfung durch das Arbeitsamt Chemnitz, ausgefüllt vom Betrieb Josef Witt, Spinnerei Chemnitz, am 24.5.1940 (ebd.); Prüfungskommission, Arbeitsamt Chemnitz, Landesarbeitsamt Sachsen, Übersichtsblatt. Prüfungsvorbereitung, ausgefüllt vom Betrieb Josef Witt, Spinnerei Chemnitz, am 31.7.1940 (ebd.); dasselbe, ausgefüllt am 4.2.1941 (ebd.).

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Jugendliche oder ältere Leute. Zusätzlich gehörten 1941 auch 14 Juden zur Belegschaft, die in einer geschlossenen Arbeitsgruppe vermutlich Zwangsarbeit leisteten. Zu diesen ist aus den Quellen nichts Näheres zu erfahren.290 Die Firma war also durch den Krieg in ihren Produktionsmöglichkeiten deutlich eingeschränkt worden und hatte sich überdies durch die Übernahme der Wehrmachtsunteraufträge in erheblichem Umfang auf die Kriegsfertigung eingestellt. Die Zivilfertigung lief im Februar 1941 demnach nur noch mit etwa einem Viertel der Mitarbeiter, die vor dem Krieg damit beschäftigt waren, was eher für eine hohe Effizienz der Auskämmungs- und Einberufungsmaßnahmen spricht. Bei einer Besprechung der Arbeitsämter der Region mit dem Rüstungskommando und Vertretern des Landesarbeitsamtes Sachsen Anfang Januar 1941 analysierten die Beteiligten die aktuelle Situation in der Region Chemnitz. Demnach fehlten in sämtlichen Arbeitsamtsbezirken in erheblichem Umfang Arbeitskräfte. Im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz warteten die Unternehmen allein für Aufträge der höchsten Dringlichkeitsstufe, der „Sonderstufe“, auf 900 Arbeitskräfte.291 Entschieden sprachen sich alle Anwesenden gegen weitere Dienstpflichtaufträge in Gebiete außerhalb Sachsens aus. Bei einer Besprechung des Landesarbeitsamtes mit dem Reichsarbeitsministerium sollte vielmehr um die Entpflichtung nach auswärts dienstverpflichteter Arbeitnehmer ohne Ersatzgestellung sowie um die Zuführung von ausländischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen nach Sachsen gebeten werden.292 3.3

Soldaten auf „Arbeitsurlaub“

Neben den Auskämmungen war die zeitweise Rückführung von Soldaten von der Front an ihre Arbeitsplätze in der Rüstungswirtschaft ein weiterer, freilich wenig wirksamer Versuch, den Facharbeitermangel zu lindern. Noch während des Frankreichfeldzuges im Sommer 1940 beschloss Hitler eine Umstellung der Rüstungsindustrie auf den Vorrang von Marine- und Luftrüstung vor der Heeresrüstung, die er freilich nach Machtkämpfen zwischen dem OKW und dem Rüstungsministerium unter Todt weitgehend wieder rückgängig machte.293 Um den durch die misslungene Prioritätensetzung umso fühlbarer werdenden Fach290 Vgl. Prüfungskommission, Arbeitsamt Chemnitz, Landesarbeitsamt Sachsen, Übersichtsblatt. Prüfungsvorbereitung, ausgefüllt vom Betrieb Josef Witt, Chemnitz, am 4.2.1941 (StAC, Fa. Josef Witt, 02/356, unpag.); siehe zur jüdischen Zwangsarbeit das Standardwerk von Wolf Gruner, Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938–1943, Berlin 1997; vgl. auch Maier, Arbeitseinsatz. 291 Zu den Dringlichkeitsstufen vgl. Eichholtz, Geschichte I, S. 217 f. 292 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 4). 293 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 462 f.; Eichholtz, Geschichte I, S. 101–121; Müller, Mobilisierung, S. 503–514, 620 f.; Kroener, Ressourcen, S. 787–790.

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arbeitermangel zu bekämpfen, vereinbarte das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt mit dem Allgemeinen Heeresamt im September 1940, dass Soldaten und Unteroffiziere der Wehrmacht für Fertigungen der Sonderstufe über den Winter Arbeitsurlaub erhalten könnten.294 Tatsächlich befanden sich im März 1941 in den Chemnitzer Rüstungsbetrieben rund 3 000 Arbeitsurlauber, die zu diesem Zeitpunkt rund 3 Prozent aller Beschäftigten der vom Rüstungskommando betreuten Rüstungsbetriebe stellten.295 Trotzdem bilanzierte das Chemnitzer Rüstungskommando Ende 1940, dass die Aktion „Rü 40“ „arbeitseinsatzmäßig“ nicht den gewünschten Erfolg gebracht habe.296 In der Tat hatte es bei der Ankunft der Rüstungsurlauber diverse Schwierigkeiten gegeben: Anstatt der gewünschten Metallfacharbeiter hatte das Frontheer vielfach lediglich fachfremde Arbeiter oder gar Landwirte freigestellt. Überdies erwarteten die Rüstungsurlauber, an ihren alten Arbeitsstellen eingesetzt zu werden, ja sie weigerten sich teilweise sogar, woanders die Arbeit aufzunehmen.297 Schließlich wurden die erst im Verlauf des Oktobers oder Novembers 1940 eingetroffenen Kräfte, die die Unternehmen wegen ihrer Fachfremdheit zudem häufig noch einarbeiten mussten, bereits ab Ende Januar 1941 wieder zur Truppe zurückbeordert.298 Ähnliche Erfahrungen machte die Rüstungsindustrie auch in anderen Reichsgebieten.299 Allerdings erwirkten der Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Todt, und der Reichsluftfahrtminister Göring einen Führerbefehl, demzufolge ein Teil der verbleibenden Rüstungsurlauber mit sogenannten Sperrausweisen ausgestattet wurde, die ihre Rückkehr zur Wehrmacht verhinderten.300 Von den knapp 3 000 Arbeitsurlaubern, die im März noch in Rüstungsbetrieben des Chemnitzer Raums arbeiteten, wurden daher rund 400 für Waffen- und Munitions- und 1 400 für die Luftwaffenfertigungen zurückbehalten. Lediglich 1 200 gaben die Behörden für die Rückkehr zur Wehrmacht frei.301 Weitere eingeschränkte Beurlaubungsaktionen folgten im Jahr 1941, obwohl Ende Mai wegen des geplanten Russlandfeldzuges eine Uk-Sperre für die

294 Vgl. ebd., S. 789 f.; Recker, Sozialpolitik, S. 156 f.; Eichholtz, Geschichte I, S. 218; ­RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (­BA-MA Freiburg, RW 20–11/4, Bl. 21). 295 Eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 15, 23). 296 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/5, Bl. 14RS). 297 RüKdo, Zentralgruppe Ia, Bericht über die Sitzung der Arbeitsgemeinschaft der Arbeitsämter Südwestsachsens am 8.11.1940 in Bad Oberschlema (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 43). 298 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (ebd., Bl. 10, 18). 299 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 790, 793. 300 Vgl. ebd., S. 793 f. 301 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 13, 15, 18).

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­ eldwehrmacht erlassen wurde, die zuerst bis Ende September, dann bis Ende F des Jahres dauern sollte.302 Dennoch beurlaubte die Wehrmacht für die Luftwaffenfertigung Facharbeiter, von denen 84 bis Ende September in Betrieben der Region ankamen. Nach Aufforderung des Rüstungskommandos legten die Unternehmen überdies bis zu diesem Zeitpunkt über 650 Rückforderungen von Facharbeitern für die Zünder- und Flakhülsenfertigung vor.303 Nach dem Abschluss der Urlaubsaktion des Winters 1940/41 lassen sich bis zum Ende des Jahres 1941 mindestens sieben kleinere Entlassungsaktionen auf Urlaubsbasis nachweisen, bei denen Arbeiter auch in den Rüstungsbereich Chemnitz abgestellt wurden.304 3.4

Die misslungene Stilllegungskampagne im Frühjahr 1940

Die erste behördlich angeordnete Stilllegungskampagne, deren Ziel in erster Linie die Gewinnung von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie war, startete im Februar 1940 vor dem Hintergrund der zunehmenden Arbeitskräfteknappheit und der sich abzeichnenden Krise bei der Munitionserzeugung, die seit Oktober 1939 schwelte, Anfang 1940 in Hitlers Blickfeld gerückt war und zur Ernennung Todts zum Munitionsminister führte.305 Reichswirtschaftsminister Funk erließ am 21. Februar eine Weisung, der zufolge Unternehmen „mit kriegswirtschaftlich nicht wichtiger Erzeugung rücksichtslos stillzulegen“ seien. Mit der Federführung betraute er die Bezirkswirtschaftsämter der Wehrkreise, denen bei der Definition der „Kriegswichtigkeit“ der Produktion ein weiter Spielraum gelassen wurde. Damit konnten beispielsweise auch Ausfuhraufträge als kriegswichtig bezeichnet werden. Darüber hinaus ermöglichte die Anweisung, in Gebieten, in denen Arbeitskräfte besonders knapp waren, auch auf Betriebe mit kriegswichtiger Herstellung zurückzugreifen. In diesem Zusammenhang wurde namentlich auf die wegen der entsprechenden Rohstoffbeschränkungen sowieso bereits eingeschränkt arbeitende Textilindustrie hingewiesen.306

302 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 799. 303 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BAMA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 21). 304 Stichworte „Hermann“, „Rü-40-L“, „Krast I und II“, „Meta“, „Martini“, „Hermann L“, „Barbara“. Vgl. RüKdo Chemnitz am 11.12.1941, Rundschreiben 293/41 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 49). In der Fachliteratur schlagen sich diese Aktionen nicht nieder, möglicherweise wegen ihres geringen Umfangs. 305 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 442–446; zur Munitionskrise ausführlicher Tooze, Ökonomie, S. 396 f., 401–405. 306 RWM an BWÄ am 21.2.1940 betr. Stilllegung von Betrieben (BA-MA Freiburg, RW 19/173, Bl. 52–54); vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 217 f.; für Westfalen siehe Gerhard Kratzsch, Der Gauwirtschaftsapparat der NSDAP. Menschenführung, „Arisierung“, Wehrwirtschaft im Gau Westfalen-Süd. Eine Studie zur Herrschaftspraxis im totalitären Staat, Münster 1989, S. 354–363.

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War die sich in mehreren Anläufen bis Sommer 1940 hinziehende Kampagne reichsweit nur wenig erfolgreich,307 so entpuppte sie sich in der Chemnitz Region als völlig wirkungslos. Wenngleich keine Zahlen für das Untersuchungsgebiet vorliegen, so lässt sich dies aus den Äußerungen der Arbeitsämter in ihren Berichten ableiten: Die Aktion, so bilanzierte beispielsweise das Glauchauer Arbeitsamt, „muss als vollkommen verfehlt bezeichnet“ werden.308 Für Sachsen insgesamt sah das Ergebnis nicht besser aus: Nachdem das Landesarbeitsamt Mitte Mai 1940 das völlige Scheitern der Stilllegungsaktion bereits eingestanden hatte, traten in ganz Sachsen zwischen Mai und Juli desselben Jahres doch noch 162 Stilllegungen in Kraft, die insgesamt 1 040 Arbeitskräfte freistellten,309 gemessen an der Zahl von rund 1,8 Millionen sächsischen Arbeitnehmern eine verschwindend geringe Ausbeute. Fleischhauer nennt als einen wichtigen Grund für das Scheitern der Stilllegungsaktion im Gau Thüringen vor allem die Wirtschaftsstruktur der strukturschwachen Region mit vielen Kleinbetrieben und schlechter Verkehrsanbindung, die eine Versetzung von Arbeitskräften stillgelegter Betriebe in andere Unternehmen behindert hätten.310 Müller, der das Geschehen von der Zentral­ ebene des Reiches aus betrachtet, macht die Überforderung der Bezirkswirtschaftsämter durch kurzfristige Terminsetzungen und eine ungeordnete Verordnungsflut seitens der Reichsspitze verantwortlich. Die Bezirkswirtschaftsämter hätten deshalb die Selbstverwaltungsorgane der Wirtschaft einbeziehen und damit den Bock zum Gärtner machen müssen.311 Die Beobachtungen Müllers treffen teilweise auch für die Region Chemnitz zu: Auch in Sachsen waren die fachlichen Untergliederungen der Reichsgruppe Industrie, der Vertretung der Industrie im NS-Staat, an der Auswahl der stillzulegenden Betriebe beteiligt.312 Sie schlugen in der Mehrzahl Klein- und Kleinstbetriebe vor, deren Stilllegung für die Arbeitseinsatzpolitik nahezu ohne Bedeutung war, darunter auch viele, die ihre besten Arbeitskräfte bereits durch Einberufungen und Dienstverpflichtungen verloren hatten. Beispielsweise hatte die Strumpffabrik Max Hoffmann in Brünlos im Erzgebirge bei Kriegsbeginn

307 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 76; Werner, „Bleib übrig“, S. 81 f. 308 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); vgl. auch AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 309 Vgl. LAA Sachsen, Berichte über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940, vom 16.– 31.5.1940 , vom 1.–30.6.1940, vom 1.–31.7.1940 und vom 1.–31.8.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.) . 310 Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 306. 311 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 447. 312 Vgl. Fachgruppe Wirkerei und Strickerei an Stadtrat F. Weinhold am 28.3.1940 betr. Stilllegung der Betriebe (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 6, unpag.); FUG Flachstrumpfwirkerei an den Präsidenten der IHK Chemnitz am 4.6.1940 betr. Betriebsstilllegungen (ebd.).

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noch 16 Arbeitskräfte beschäftigt. Davon waren bis Frühjahr 1940 sechs Männer zur Wehrmacht eingezogen worden, vier weitere Arbeitskräfte hatte das Arbeitsamt in andere Unternehmen dienstverpflichtet. Mehr als die Hälfte seiner Arbeitskräfte hatte das Unternehmen also bereits im ersten halben Jahr des Krieges eingebüßt und diese gehörten überdies zum leistungsfähigsten Teil der Belegschaft. Die noch verbleibenden sechs Mitarbeiter waren zwei ältere Männer im Alter über 50, ein gehbehinderter 17-Jähriger, zwei Frauen im Alter von 32 und 41, wovon mindestens erstere ein Kind besaß, sowie der 37-jährige Sohn des Inhabers. Mit einem gewissen Recht konnte der selbst schon ein hohes Alter besitzende Betriebsinhaber daher argumentieren, „dass für den Arbeitseinsatz höchstens 1–2 Personen noch in Frage kommen dürften“.313 „Wenn weiterhin nur Kleinstbetriebe mit überalterten und für einen anderweitigen Einsatz nicht in Betracht kommenden Betriebsführern und Gefolg­ schaften (Lehrlingen) stillgelegt werden“, beschwerte sich deshalb beispielsweise das Arbeitsamt Flöha im Mai 1940, „wird die Unruhe in der Bevölkerung nur verstärkt, ohne dass für den Arbeitseinsatz irgendetwas gewonnen wird.“314 Diesem Problem, das offenbar auch in anderen Regionen des Reiches bestand, trug das Reichswirtschaftsministerium insofern Rechnung, als es in seiner Weisung zur Fortsetzung der Stilllegungsaktion von Anfang Mai 1940 Betriebe mit weniger als 10 Mitarbeitern von jeglicher Stilllegung ausnahm und stattdessen deren Auskämmung verfügte.315 Die Überforderung der mit der Stilllegungsaktion befassten Behörden und Instanzen lässt sich darüber hinaus an peinlichen Pannen ablesen, von denen es im Regierungsbezirk Chemnitz nicht wenige gab. Mehrfach wurde die Stilllegung bereits geschlossener Betriebe verfügt. In Seiffen traf es beispielsweise ein Einmannunternehmen, dessen einzige Arbeitskraft bereits zur Wehrmacht einberufen war. Dagegen sollte in Chemnitz eine voll mit Heeresaufträgen ausgelastete Firma geschlossen werden.316 Roland Peter sieht als Grund für das Scheitern der Stilllegungsaktion in Baden vor allem das Handeln der regionalen badischen Instanzen, denen die Aufrechterhaltung der regionalen Wirtschaftsstruktur und die Bevölkerungsstimmung vor Ort wichtiger gewesen seien als Kriegsbelange.317 Auch in der

313 Max Hoffmann, Strumpffabrik Brünlos i. E., an die IHK Chemnitz am 6.6.1940, ohne Betreff (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 6, unpag.). 314 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); ähnlich für ganz Sachsen LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 315 Vgl. RWM an BWÄ am 3.5.1940 betr. Freimachung von Arbeitskräften, Bl. 3 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 6, unpag.). 316 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.4.1940 (ebd.). 317 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 218 f.

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Region Chemnitz ist ein hohes Ausmaß von Widerstand gegen die Stilllegungen spürbar, das sich vor allem in den Protesten der betroffenen Unternehmen fassen lässt. Sie verstanden es, eine ganze Reihe lokaler Institutionen und insbesondere die NSDAP für ihren Protest in den Dienst zu nehmen. So verwies beispielsweise die in Chemnitz und Jahnsdorf ansässige Strumpffabrik Emil Wrede in ihren Protestschreiben nicht nur darauf, dass sie seit dem Kriegsanfang in der Jahnsdorfer Fabrik von 42 Arbeitern bereits 12 und von 21 Heimarbeitern bereits 3 verloren habe. Sie begründete ihren Einspruch auch mit ihrem fortschrittlichen Produkt, dem „M.-F. Strumpf ohne Maschenfall, der eine mindestens dreifache Lebensdauer gegenüber gewöhnlichen Strümpfen hat“,318 was insbesondere während des Krieges Material sparen würde. Nicht nur legte die Firma Gutachten „allererster Fachfirmen“319 bei, die den Strumpf priesen. Sie konnte auch auf ein Schreiben der NSDAP Jahnsdorf verweisen, mit dem sie unterstützt wurde, und führte außerdem die DAF Stollberg und das Arbeitsamt Lugau als Fürsprecher an.320 In vielen Fällen gelang es den Firmeninhabern, durch ihre Einsprüche bei den Bezirkswirtschaftsämtern die angeordnete Betriebsschließung wieder rückgängig zu machen: Im Arbeitsamtsbezirk Flöha etwa erhielten bis Mitte Mai 1940 12 vorwiegend handwerkliche Unternehmen, die insgesamt 28 Arbeitskräfte beschäftigten, eine Stilllegungsanweisung. Einer dieser Betriebe lag bereits still, 10 weitere protestierten gegen die Schließung. Die Hälfte dieser 10 Unternehmen erreichte, dass die Betriebsschließung zurückgenommen wurde, weitere 4 erhielten eine Fristverlängerung für die Weiterarbeit. Lediglich bei einem Unternehmen wurde der Einspruch gänzlich abgelehnt, sodass schließlich nur 2 Unternehmen stillgelegt wurden und die ganze Aktion daher nicht mehr als 2 Arbeitskräfte zur Vermittlung in die Rüstungswirtschaft erbrachte.321 Doch scheint es zu einfach, das Scheitern der Stilllegungsaktion allein als Ergebnis von Desorganisation und Triumph regionaler und lokaler Egoismen über berechtigte Anforderungen der Kriegswirtschaft zu interpretieren. Vielmehr sind zwei weitere Faktoren zu berücksichtigen: das im Herbst 1939 beschlossene Prinzip zur Streuung der Wehrmachtsproduktion sowie die in der Region parallel laufenden Auskämmungen der Betriebe. Die Stilllegungsaktion stand in innerem Widerspruch zum Streuungsbeschluss, weil dieser von den örtlichen Verantwortungsträgern ebenso wie von vielen Unternehmern als Bestandsgarantie für alle Unternehmen interpretiert wurde.322 Dazu passt, dass von der

318 Strumpffabrik Emil Wrede an IHK Chemnitz am 7.6.1940, ohne Betreff, S. 2 f., hier 2 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 6, unpag.). 319 Ebd. 320 Vgl. ebd., S. 2 f. 321 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 322 Vgl. etwa die Notiz des AA Chemnitz vom Oktober 1939, wonach alle Betriebe in irgendeiner Form weiterbeschäftigt würden; AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.10.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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Stilllegung im Frühjahr 1940 akut bedrohte Unternehmen buchstäblich in letzter Minute noch versuchten, einen entsprechenden Auftrag zu ergattern.323 Ein so verstandenes Dezentralisierungsprinzip, auch wenn es in dieser Radikalität von der Reichsspitze gar nicht beabsichtigt war, machte Stilllegungen in der Sicht der regionalen Akteure tatsächlich überflüssig. Viel eher trugen ihm die Auskämmungen Rechnung, die den Unternehmen alle jene Arbeitskräfte entziehen sollten, die nicht in kriegswichtigen Fertigungen arbeiteten. Diese hatten konsequenterweise in Sachsen bereits sehr früh eingesetzt und waren auch bereits im Frühjahr 1940 systematisiert worden. Das wiederum trug paradoxerweise zum Scheitern des Ziels bei, aus der Betriebsstilllegungskampagne Arbeitskräfte für den Einsatz in der Rüstungsindustrie zu gewinnen, da die Belegschaften der infrage kommenden Konsumgüterunternehmen seit Kriegsbeginn bereits viele ihrer leistungsfähigsten Mitarbeiter verloren hatten. Deshalb ist es weniger regionalen Egoismen als vielmehr einer klaren Sicht der Sachlage vor Ort zuzuschreiben, wenn einige Arbeitsämter der Region frühzeitig am Erfolg der Stilllegungsaktion zweifelten. Der Leiter des Lugauer Arbeitsamtes erklärte, dass „ein Teil der Gefolgschaften der für die Stilllegung vorgesehenen Betriebe durch den bereits erfolgten Abzug von Arbeitskräften stark überaltert ist und dadurch […] für anderweitigen Einsatz kaum geeignet erscheint“.324 Sein Chemnitzer Kollege wies darauf hin, dass der Rüstungswirtschaft vor allem uneingeschränkt leistungsfähige Männer fehlten, die jedoch in den infrage kommenden Betrieben schon kaum mehr arbeiteten.325 Das Scheitern der Stilllegungsaktion im Frühjahr 1940 in der Chemnitzer Region kann indirekt als weiteres Indiz für die relativ hohe Effizienz der lokalen Einberufungsund Auskämmungsmaßnahmen gewertet werden. Letztere waren angesichts des Beschlusses zur Dezentralisierung der Kriegsproduktion das adäquateste und rationellste Mittel, der Rüstungswirtschaft zusätzliche Arbeitskräfte aus anderen Wirtschaftsbereichen zuzuführen. 3.5

Die Tätigkeit der Todt’schen Auskämmungskommissionen bis Mitte 1941

Der polykratische Machtkampf an der Reichsspitze stand während des Jahres 1940 im Zeichen des Aufstiegs Fritz Todts, des wegen einer Munitionsfertigungskrise im Frühjahr 1940 ernannten Reichsministers für Bewaffnung und Munition. Er organisierte die Munitionsfertigung auf der Basis einer weitgehenden Selbstorganisation der produzierenden Firmen neu und steigerte den Aus-

323 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.6.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 324 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 325 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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stoß an Munition bis zum Sommer 1940 enorm, wenn er dabei auch, wie Tooze herausstellt, weit mehr von den Vorarbeiten des Heereswaffenamtes und des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes profitierte als gemeinhin angenommen.326 Bis zum Jahresende 1940 gelang es ihm, seinen Einfluss auf Kosten des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes auch auf die Waffen- und Panzerwagenfertigung auszudehnen. Firmen, die die gleichen Waffen-, Munitions- oder Panzerwagentypen produzierten, schlossen sich auf regionaler Ebene zur Arbeitsgemeinschaften zusammen, die wiederum auf Wehrkreisebene in sogenannten Rüstungsausschüssen zusammenarbeiteten und die Auftragsvergabe in ihrem Produktionsgebiet relativ selbstständig regelten. An der Spitze des organisatorischen Aufbaus standen Sonderausschüsse für einzelne Fertigungen sowie ein zentraler Rüstungsbeirat, der der Reichsgruppe Industrie angegliedert war. Sonderausschüsse und Rüstungsbeirat wurden von führenden Industriellen des Dritten Reiches geführt.327 Vorgänger der Rüstungsausschüsse waren die Munitionsausschüsse. Im Wehrkreis IV gab die Rüstungsinspektion im Mai 1940 bekannt, dass auf Weisung Todts ein Munitionsausschuss gebildet worden sei, der die Firmenarbeitsgemeinschaften verschiedener Munitionsfertigungen im Wehrkreis zusammenfassen solle. Der Vorsitzer des Munitionsausschusses, den die Rüstungsinspektion mit vorgeschlagen und den Todt bestätigt hatte, war der Generaldirektor der sächsischen Gussstahlwerke Döhlen AG in Freital, Gerhard Bruns.328 Wenngleich der Munitionsausschuss in erster Linie für die Produktionslenkung zuständig war, so bot seine Aufgabendefinition dennoch ein Einfallstor für Bestrebungen Todts, sich auch der Arbeitskräftelenkung in seinem Produktionsbereich zu bemächtigen. Mindestens in Sachsen war als eine der Aufgaben des Munitionsausschusses nämlich auch die Freistellung von Arbeitskräften „für den zwischenbetrieblichen Ausgleich“ definiert.329 In Thüringen kam es im Bereich der Arbeitskräftebedarfsprüfungen tatsächlich zu einer engen Zusammenarbeit zwischen den Vertretern des Ministeriums Todt und der Rüstungsinspektion, wenngleich sich auch hier die Rüstungsinspektion von den Lenkungsansprüchen des Munitionsausschusses bedroht fühlte.330 Dagegen versuchte die militärische Wirtschaftsverwaltung

326 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 409. 327 Vgl. Eichholtz, Geschichte I, S. 121–132; Müller, Mobilisierung, S. 453–485, 530 f. 328 Vgl. RüIn IV am 9.5.1940, Rundschreiben an alle Munition fertigenden Firmen des Rüstungsbereichs IV (BA-MA Freiburg, RW 20–4/3, Bl. 46 f.). 329 Bezirksfachgemeinschaft Sachsen der Eisen- und Metallindustrie am 9.5.1940 an die den Arbeitsgemeinschaften A–E angeschlossenen Firmen betr. Arbeitsgemeinschaften für Munitionsherstellung (ebd., Bl. 49–53, hier 51). 330 Vgl. Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 310 f. Die hier genannten „Arbeitsgemeinschaften“ sind ganz offensichtlich nicht identisch mit den in den Rüstungsausschüssen organisierten „Arbeitsgemeinschaften“ zur Munitions-, Waffen- bzw. Panzerfertigung. Unklar bleibt ihr Verhältnis zu den Prüfungskommissionen der LAÄ; vgl. zum Munitions­ ausschuss des Wehrkreises IX, ebd., S. 313 f.

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im ­Wehrkreis IV, Todts Institutionen von allen Belangen der Arbeitskräftelenkung fernzuhalten. So wehrte sich die Rüstungsinspektion im Sommer 1940 gegen Bestrebungen des Munitionsausschusses des Wehrkreises IV, Unternehmen im Raum Chemnitz in Fragen der Uk-Stellung und des Stillhalteabkommens direkt anzuschreiben.331 Als Todt im August 1940 die inzwischen zu Rüstungsausschüssen erweiterten Munitionsausschüsse über einen Arbeitseinsatzmann in die Arbeitskräftelenkung stärker einschalten und die militärische Wirtschaftsverwaltung zurückdrängen wollte, weigerte sich das Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt, die entsprechende Anordnung Todts an die Rüstungsinspektionen zu versenden. Gleichzeitig holte es sich Rückendeckung vom Wirtschaftsministerium. Unabhängig davon vereinbarte die Rüstungsinspektion IV auf der Wehrkreisebene mit dem Wehrkreisbeauftragten Todts sowie dem Vorsitzenden des entsprechenden Rüstungsausschusses und seinem Arbeitseinsatzmann, „dass dieser den Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf die Beratung der Betriebe verlegt.“332 Im Februar 1941 erreichte Todt von Göring die Zustimmung zur Schaffung neuer Instanzen der Arbeitskräftelenkung, den sogenannten Prüfungskommissio­ nen oder Engpasskommissionen. Sie sollten eine Umsetzung von Arbeitskräften aus den zivilen in „kriegsentscheidende“ militärische Fertigungen ermöglichen. Gleichzeitig wurde ein neues Programm zur Einschränkung entbehrlicher Fertigungen gestartet.333 Bei der Verteilung der so gewonnenen Arbeitskräfte waren speziell die vom Arbeitskräftemangel besonders betroffenen Gebiete, die sogenannten Engpassgebiete, zu berücksichtigen.334 Keines dieser Gebiete lag in Sachsen, lediglich der Landesarbeitsamtsbezirk Mitteldeutschland wurde mit mehreren zum Gebiet der Rüstungsinspektion IV gehörenden Arbeitsamtsbezirken genannt.335 Neu war, dass Todt den einzelnen Wehrkreisen bestimmte Quoten umzusetzender Arbeitskräfte mit Terminsetzungen vorgab. Im Wehrkreis IV sollten 55 000 von reichsweit 473 000 Arbeitskräften umgesetzt werden. Dies war eine vergleichsweise hohe Zahl, nur drei von insgesamt 19 Wehrkreisen wur-

331 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1940 (BAMA Freiburg, RW 21–11/4, Bl. 3–24, hier 15). 332 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 515 f.; Niederschrift über die Besprechung der Rüstungswirtschaftlichen Abteilung am Donnerstag, den 12.9.1940, mit den Rüstungsinspekteuren (BA-MA Freiburg, RW 19/1932, Bl. 151–159, hier 151); Niederschrift über die Inspekteurbesprechung am 13.9.1940 bei OKW/WiRüAmt (ebd., Bl. 97–149, hier 139, Zitat ebd.). 333 Vgl. Der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches. Beauftragter für den Vierjahresplan am 18.2.1941, ohne Titel (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); siehe auch Kroener, Ressourcen, S. 805 f.; Recker, Sozialpolitik, S. 157–159. 334 Vgl. RMfBuM an RAM und RWM vom 28.2.1941 betr. Prüfungskommission zur Umsetzung von Arbeitskräften in die Rüstungsindustrie (BA Berlin, R 3901 [alt R 41]/281, Bl. 69); ders. an die Vorsitzenden der Prüfungskommissionen am 28.2.1941 betr. Umsetzung von Arbeitskräften in die Rüstungswirtschaft (ebd., Bl. 70). 335 Vgl. RAM an LAÄ am 6.3.1941 betr. Prüfungskommissionen des RMfBuM (ebd., Bl. 67 f., hier 67).

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den noch stärker herangezogen.336 Da zudem Teile des sachsen-­anhaltinischen Rüstungskommandos Halle als Engpassgebiete galten, war vorauszusehen, dass Sachsen, gegebenenfalls zusammen mit dem Sudetenland, die Hauptlast der Auskämmungen zu tragen haben würde. Die Einsetzung der Todt’schen Prüfungskommissionen wird mitunter als Entmachtung der Rüstungsinspekteure auf der Mittelebene und damit als Machtverlust des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes unter Thomas interpretiert. Denn Todt und nicht Thomas ernannte die Vorsitzer der Prüfungskommissionen. In vielen Wehrkreisen betraute er andere als die Rüstungsinspekteure mit dieser Aufgabe.337 Im Wehrkreis IV dagegen stellt sich die Situation anders dar. Denn dort übertrug Todt die Leitung dem energischen und resoluten Rüstungsinspekteur Friedensburg, möglicherweise weil er diesem wegen seiner jahrelangen Tätigkeit in der Flugzeugindustrie genügend wirtschaftlichen Sachverstand zutraute.338 Friedensburg wiederum gründete eine neue wehrbezirksweite „Prüfungskommission“, in der neben der Rüstungsinspektion die Bezirkswirtschaftsämter, die Landesarbeitsämter und Todts Wehrkreisbeauftragter Gotthard Böttger vertreten waren. Letzterer repräsentierte gleichzeitig als Leiter des NS-Gauamtes für Technik die NSDAP. Dieser wehrkreisbezogenen „Prüfungskommission“ unterstellte er einfach die bisherigen Landesarbeitsamtsund Arbeitsamtskommissionen und ließ sie unter den Bezeichnungen „Sonderprüfungskommissionen“ (SPK) und „Unterprüfungskommissionen“ (UPK) in derselben personellen Besetzung wie bisher weiterarbeiten. Die NSDAP wurde in der Weise einbezogen, als ihre Kreisleiter bei geplanten Stilllegungen oder Teilstilllegungen zu unterrichten waren, ebenso wie die Landräte und Oberbürgermeister.339 Damit kann auf der Mittelebene in Sachsen der Rüstungsinspekteur der eigentliche Gewinner dieser institutionellen Neuerung angesehen werden. Der Preis dafür war freilich die Unterordnung unter Todt in allen Auskämmungsbelangen, die die später unter Speer vollzogene Eingliederung der Rüstungsinspektionen in das Reichsministerium für Bewaffnung und Munition in einem

336 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 806. 337 Vgl. ebd., S. 803–807; ihm zufolge waren nur in 9 von 19 Prüfungskommissionen Rüstungsinspekteure an der Spitze (S. 805); vgl. auch Recker, Sozialpolitik, S. 158; Müller, Mobilisierung, S. 543–546; dagegen Eichholtz, Geschichte, II, S. 180: 19 von 26 Vorsitzern der Prüfungskommissionen seien Rüstungsinspekteure gewesen. Oliver Werner zählt sechs Militärs, allerdings erst für den Herbst 1944; vgl. Garanten der Mobilisierung. Die Rüstungskommissionen des Speer-Ministeriums im „totalen Krieg“. In: ders. (Hg.), Mobilisierung im Nationalsozialismus. Institutionen und Regionen in der Kriegswirtschaft und der Verwaltung des „Dritten Reiches“ 1936–1945, Paderborn 2013, S. 217–233, hier 220. 338 Vgl. zur Person Friedensburgs Kap. III. 2. 339 Vgl. RüIn IV, Protokoll über die Sitzung der Prüfungskommission am 3.3.1941 (BAMA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 21–23, hier insbesondere 22RS); RüIn IV, Vierteljahresbericht zum Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 35–59, hier 38).

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Teilbereich bereits vorwegnahm. Der Verlierer auf der Mittelebene war die Arbeitseinsatzverwaltung, die auf einem ihrer ureigensten Arbeitsgebiete die Federführung verlor und sich der Rüstungsinspektion unterstellen musste. Aus der Reichsperspektive gesehen stellt sich der Übergang von den Kommissionen der Arbeitseinsatzverwaltung zu den Todt’schen Engpasskommissionen als institutioneller Bruch dar, als typische ad hoc beschlossene Neuschaffung einer Sonderverwaltung mit Sondervollmachten.340 Aus der regionalen Sicht überwiegen dagegen in Sachsen die Kontinuitätselemente, weil die bisher auf dieser Ebene mit den Auskämmungen betrauten Gremien personell und organisatorisch unverändert weiterarbeiteten. Auf dem Weg von der Reichsebene nach unten in die Region transformierte sich also die Einrichtung einer neuen Sonderverwaltung in eine Fortführung bewährter und länger schon geübter Arbeitsweisen. Die zentrale inhaltliche Neuerung bestand darin, dass der nunmehr Todt unterstellte Institutionenstrang nicht nur Auskämmungen vornehmen sollte, sondern diese auch mit Veränderungen der Produktionsstruktur verbinden sollte. Dazu sollten Verlagerungen von zivilen und Wehrmachtsfertigungen aus durch Arbeitskräftemangel besonders belasteten in weniger belastete Gebiete dienen, außerdem Herstellungseinschränkungen und -verbote weniger kriegswichtiger Güter sowie schließlich Betriebsstilllegungen.341 Während die Reichsministerien noch damit beschäftigt waren, unterschiedlichste Detailfragen zu klären, rief Friedensburg Anfang März 1941 die „Prüfungskommission“ des Wehrkreises IV zum ersten Mal zusammen. Als Generalaufgabe umriss er: „Es sind möglichst viel Arbeitskräfte freizumachen, ohne die Wirtschaft im Wehrkreis zu zerschlagen.“342 Das Verständnis des Rüstungsinspekteurs für regionale Wirtschaftsbelange wurde auch dadurch deutlich, dass er „Totalstilllegungen nur in besonderen Ausnahmefällen“343 veranlassen wollte, obwohl die zentralen Anweisungen Görings und Todts diese ausdrücklich vorsahen: „Der Vertriebsapparat der Betriebe und ein gewisser Stamm von Arbeitskräften soll ihnen erhalten bleiben“,344 so Friedensburg. Obwohl noch längst nicht alle Weisungen über einzuschränkende und entbehrliche Fertigungen vorlagen, wollte Friedensburg sofort mit der Arbeit beginnen. Während die Fragen der Fertigungseinschränkungen und -verlagerungen zunächst auf Wehrkreisebene geklärt werden sollten, hatten die SPK und UPK den Abzug entbehrlicher Arbeitskräfte mittels Überprüfungen sofort selbstständig zu veranlassen. Sie sollten, gestützt auf ihre Kenntnis der lokalen Verhältnisse, dort anfangen, wo die Aussichten auf die Freistellung vieler Arbeitskräfte am

340 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 803; Müller, Mobilisierung, S. 546. 341 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 158; Eichholtz, Geschichte II, S. 180. 342 RüIn IV, Protokoll über die Sitzung der Prüfungskommission am 3.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 21–23, hier 21RS). 343 Ebd. 344 Ebd.

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größten waren. Bei weitergehenden Maßnahmen, die in die Fertigungsstruktur der Betriebe eingriffen wie beispielsweise völlige oder Teilstilllegungen, besaßen sie, laut Friedensburg, lediglich ein Vorschlagsrecht gegenüber der wehrkreisweiten Prüfungskommission.345 Tabelle 4: Auskämmungen in Betrieben mit 50 oder mehr Mitarbeitern durch die SPK/UPK zwischen März und Juni 1941 im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz346

ausgekämmte Mitarbeiter Zeitraum

überprüfte Firmen

Männer Männer Frauen zusammen Facharbeiter angelernt

2.–29.3.1941

346

463

897

1 901

3 261

30.3.–26.4.1941

245

68

524

1 074

1 666

27.4.–31.5.1941

246

83

171

801

1 055

1.–28.6.1941

82

133

61

241

435

Wie überall, so waren auch im Bereich des Chemnitzer Rüstungskommandos Todts Engpasskommissionen zunächst wesentlich erfolgreicher als die unter Federführung des Arbeitsamtes stehenden Kommissionen in den Wintermonaten zuvor. Im März 1941 bewegten sich die regionalen Auskämmungsquoten bei Betrieben mit mehr als 50 Mitarbeitern auf derselben Höhe wie im Sommer 1940, und das, obwohl diese durch Einberufungen und Dienstverpflichtungen inzwischen personell erheblich stärker belastet waren und überdies die Region zunehmend stärker in die Rüstungsfertigung eingebunden wurde. Von März bis Juni kämmten die Kommissionen rund 6 400 Arbeitskräfte aus, davon ­allein die Hälfte im März 1941. In den betroffenen Betrieben entsprach das einer

345 Ebd., Bl. 22 f. 346 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 12–17); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 3–6, 8–16). Die Zahlenangaben der IHK Chemnitz für März weichen von diesen Zahlen nach oben erheblich ab, wenn man in Rechnung stellt, dass das IHK-Gebiet nur in etwa die Hälfte des Gebietes des Rüstungskommandos umfasst; vgl. IHK Chemnitz an Landeswirtschaftsamt am 4.4.1941, Betriebsüberprüfungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 8, unpag.). Der Zeitrahmen der IHK-Erfassung lässt sich jedoch nicht genau bestimmen. Zudem bleibt unklar, ob hier nicht zum Teil die Auskämmungen aus den Betrieben mit bis zu 50 Mitarbeitern einfließen, ohne dass dies kenntlich gemacht wurde.

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durchschnittlichen Quote von zwei bis drei Prozent der Belegschaft.347 Von den zwischen April und Juni freigestellten Kräften waren bis Ende Juni 70 Prozent bereits an einen anderen Arbeitsplatz versetzt worden.348 Parallel zu den Kommissionen überprüften die Sachbearbeiter der Arbeitsämter weiterhin selbstständig die Kleinunternehmen mit bis zu 50 Mitarbeitern. Aus ihnen zogen sie zusätzlich eine Anzahl Arbeitskräfte ab, deren Zahl sich für die Region nur punktuell rekonstruieren lässt. Das Arbeitsamt Olbernhau beispielsweise kontrollierte nach eigenen Angaben im März 1941 180 solcher Betriebe, denen es insgesamt 116 Arbeitskräfte entzog, das Arbeitsamt Flöha nahm 42 Kleinunternehmen unter die Lupe, aus denen es immerhin 30 Arbeitnehmer rekrutierte.349 Im gesamten Wehrkreis IV wurde das für Mitte April 1941 anvisierte Ziel, 30 Prozent der ihm auferlegten 55 000 Arbeitskräfte bereitzustellen, bereits im Verlauf des März mit rund 20 000 ausgekämmten Arbeitskräften erreicht.350 Danach sanken allerdings die Auskämmungszahlen im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz ebenso wie wehrkreisweit deutlich ab. Dennoch konnte der Wehrkreis bis Anfang Juli insgesamt 57 Prozent aller geforderten Arbeitskräfte freistellen. Danach dauerte es freilich bis Ende Dezember 1941, um 84 Prozent der geforderten Quote zu erreichen.351 Da die personelle Zusammensetzung der Kommissionen sowie deren bezirkliche und fachliche Zuständigkeit im Chemnitzer Raum unter Todt im Wesentlichen die Gleiche war wie unter der Führung des Reichsarbeitsministeriums, ist der Schlüssel für ihre erfolgreiche Tätigkeit im Frühjahr 1941 woanders zu suchen. Vor allem die Anweisungen Todts und Görings darüber, welche Betriebe auszukämmen oder in ihrer Produktion einzuschränken waren, verschärften deutlich die bisherige Praxis der Arbeits- und Landesarbeitsamtskommissionen im Chemnitzer Raum. Nur noch die als besonders dringlich geltenden Wehrmachtsfertigungen waren vor jeglichem Arbeitskräfteabzug geschützt. Wehrmachtsfertigungen mit nachrangigen Dringlichkeitskennzeichnungen und Exportaufträge, denen die Arbeitsämter bisher noch versucht hatten, die

347 Eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 12–17); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 3–6, 8–16). 348 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BAMA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 17). 349 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 350 RüIn IV, Vierteljahresbericht zum Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1941 (BAMA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 35–59, hier 38 f.). 351 RüIn IV, Vierteljahresbericht zum Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1941 (ebd., Bl. 93–104, hier 100RS).

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Arbeitskräfte zu erhalten, gerieten in Gefahr, diese zu verlieren.352 Ferner überprüften die Kommissionen entsprechend den Weisungen Friedensburgs zunächst die Erfolg versprechendsten Betriebe, nach deren Abschöpfung die Auskämmungsquoten naturgemäß sinken mussten. Einige Arbeitsämter der Region Chemnitz betrachteten die Überprüfungen bereits in den Monaten April/Mai 1941 als weitgehend abgeschlossen, weil die Kommissionen alle größeren und mittleren Unternehmen in ihrem Bezirk nach den neuen Kriterien überprüft hätten.353 Auf längere Sicht machte sich darüber hinaus eine Reihe von Schwierigkeiten bemerkbar. So lagen zwischen den Beschlüssen der Kommissionen über den Abzug bestimmter Arbeitnehmer aus bestimmten Unternehmen und deren tatsächlicher Versetzung oft Zeiträume von mehreren Wochen. In vielen Fällen ergaben sie sich aus verwaltungstechnischen Koordinierungsproblemen. Der Lugauer Arbeitsamtsdirektor beschwerte sich Anfang Mai 1941, dass die Auskämmungen zwar zügig vonstatten gegangen seien. Jedoch ließen die Dienstpflichtaufträge für die Freigestellten „zu lange auf sich warten, wurden teilweise in letzter Minute wieder zurückgezogen oder in Ersatzgestellungen für andere Bezirke umgewandelt. Dies wirkte hemmend auf die bisher gezeigte Bereitwilligkeit und das im Allgemeinen aufgebrachte Verständnis für die Kriegsnotwendigkeiten sowohl bei den Betriebsführern als auch bei den freigestellten Kräften. Durch die Verzögerungen sind inzwischen wesentliche betriebliche Veränderungen eingetreten, sodass eine restlose Erfüllung der Auflagen im männlichen Sektor kaum möglich sein wird.“354 Ein Beispiel aus der Chemnitzer Maschinenbaufirma Kappel355 illustriert diese Feststellung: Bei einer Betriebsprüfung in der Abteilung Drehbankbau dieses Unternehmens hatte die zuständige Kommission am 4. April 1941 insgesamt 21 Metallarbeiter des Unternehmens namentlich benannt, die in andere Chemnitzer Firmen versetzt werden sollten. Mit Einverständnis des Bevollmächtigen für die Maschinenproduktion sollten sie dort die Herstellung sogenannter Engpassmaschinen, also für die Rüstungsproduktion zu jener Zeit besonders dringend benötigter Maschinen, unterstützen. Als das Arbeitsamt Chemnitz am 22. Mai 1941, also über sechs Wochen nach der eigentlichen Überprüfung, die

352 Vgl. RMfBuM, Schulze-Fielitz, an die Vorsitzenden der Prüfungskommissionen am 28.2.1941 betr. Umsetzen von Arbeitskräften in die Rüstungswirtschaft (BA Berlin, R 3901 [alt R 41]/281, Bl. 71–73); RüIn IV, Protokoll über die Sitzung der Prüfungskommission am 3.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 21–23, hier 23RS). 353 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1941 sowie im Mai 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.) sowie im Mai 1941 (ebd.). 354 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–30.4.1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 355 Zur Geschichte von Kappel in der ersten Kriegshälfte vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 344–352.

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Versetzung der benannten Arbeitskräfte im Auftrag des Landesarbeitsamtes rea­lisieren wollte, stellte sich heraus, dass von diesen Personen nur noch 5 im Betrieb arbeiteten, weil die übrigen zur Wehrmacht, zum Arbeitsdienst oder woanders hin einberufen worden waren. Insgesamt hatte Kappels Abteilung Drehbankbau seit dem Überprüfungstermin 36 Arbeitskräfte verloren und sollte in den nächsten Tagen weitere 5 abgeben, ein Verlust, dem ein Zuwachs von lediglich 2 Arbeitskräften gegenüberstand. Das Ergebnis der im April vorgenommenen Prüfung war damit Makulatur geworden, eine Auseinandersetzung mit der verärgerten Unternehmensleitung unvermeidlich.356 Die Freistellung der betroffenen Arbeitskräfte für die Arbeitsverwaltung schützte diese also nicht vor dem Zugriff anderer Herrschaftsträger. Im Gegenteil, die mangelnde Abstimmung zwischen den am Arbeitseinsatz beteiligten Institutionen in den oberen und mittleren Hierarchieebenen, hier insbesondere der Prüfungskommission, des Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion, der Wehrmacht und des Reichsarbeitsdienstes (RAD), führte vor Ort dazu, dass die beteiligten Institutionen sich gegenseitig, z. T. bewusst, die Arbeitskräfte streitig machten. Der Vorgang bei Kappel war dabei kein Einzelfall. Denn das Landesarbeitsamt Sachsen beklagte im Mai 1941, dass die Wehrersatzdienststellen die Tendenz hätten, freigestellte Arbeitnehmer unmittelbar im Anschluss an die Betriebsprüfungen einzuziehen. In Einzelfällen sei es daher zu einem regelrechten Wettlauf beider Institutionen um die betroffenen Arbeitskräfte gekommen.357 Der weitere Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Kappel und der Arbeitsverwaltung dokumentiert ein zweites Problem der Überprüfungen. Der im Februar 1941 ausgegebenen Linie, nur noch dringlichste Wehrmachtsfertigungen vor Arbeitskräfteabzügen zu schützen, folgte eine Fülle widersprüchlicher, oft undurchschaubarer und zwischen den einzelnen Herrschaftsträgern nicht abgestimmter Detailanweisungen. So führte beispielsweise das Reichswirtschaftsministerium mit der Einteilung der Produktion in kriegsentscheidende und nicht primär kriegsentscheidende Fertigungen ein weiteres Kriteriengeflecht für Auskämmungsentscheidungen ein, das mit der Einteilung der Wehrmachtsfertigung nach Dringlichkeitsstufen in der Praxis nur schwer in Übereinstimmung zu bringen war.358 Zusätzliche Widersprüche ergaben sich aus dem Schutz bestimmter Fertigungen vor Einberufungen, die nicht immer mit der Dringlichkeitseinstufung der Fertigung zusammenpassten. Das dadurch entste-

356 Zum Folgenden vgl. Willy Jarosch am 23.5.1941, Bericht für Herrn Direktor Dost (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 448, unpag.); ders. am 5.6.1942, Bericht betr. Besuch beim Arbeitsamt Chemnitz am 5.6.1941 (ebd.). 357 Vgl. LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 358 Vgl. RWM an LWÄ am 22.3.1941 betr. Durchführung der Arbeiten zur Freimachung von Arbeitskräften für die Sonderstufen der Wehrmachtsfertigung gemäß Erlass des Reichsmarschalls vom 18.2.1941 im Bereich des RWM (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); zu den bis dahin geltenden Dringlichkeitskennungen vgl. Eichholtz, Geschichte, I, S. 217 f.

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hende argumentative Durcheinander schwächte die Autorität der Arbeitsverwaltung gegenüber den Unternehmensleitungen und ermöglichte letzteren, sich mitunter wirkungsvoll zu wehren. Im geschilderten Konfliktfall argumentierte der Prokurist der Firma Kappel, Willy Jarosch, gegenüber dem Arbeitsamt zwar zunächst damit, dass sich die Personalsituation des Betriebs infolge der Arbeitskräfteabzüge seit dem Überprüfungstermin so verschlechtert hätte, dass er keine weiteren Verluste von Mitarbeitern mehr verkraften könnte, ohne Schwierigkeiten mit Auftraggebern der Firma zu bekommen. Gleichzeitig legte er eidesstattliche Erklärungen darüber vor, dass die Auftraggeber die bestellten Drehbänke für die Anfertigung dringlichster Rüstungsgüter benötigten, und erklärte, dass es widersinnig sei, „einmal diese Erklärungen als Grundlage für die Fabrikation zu benutzen, um auf der anderen Seite diese durch Leuteabzug mehr und mehr herabzudrücken“.359 Der Beamte des Arbeitsamtes Chemnitz, der die Position der Arbeitseinsatzverwaltung zu vertreten hatte, suchte wenigstens die Abgabe derjenigen 5 der bei der Betriebsprüfung Anfang April namentlich benannten 21 Arbeiter durchzusetzen, die noch bei Kappel arbeiteten. Doch Jarosch weigerte sich standhaft, diese Arbeiter abzugeben und forderte stattdessen ein Gespräch mit der Behörde des Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion. Die Androhung von Zwangsmaßnahmen durch den Arbeitsamtsmitarbeiter, die im Übrigen nicht realisiert wurden, ist als Ausdruck von Hilflosigkeit zu werten, weil er Jarosch argumentativ wenig entgegenzusetzen hatte, sich vielmehr nach dessen Darstellung sogar genötigt sah, zuzugeben, dass sein Auftrag „in gewissem Sinne widerspruchsvoll“360 sei. In einem weiteren Gespräch Anfang Juni 1941 berief sich Jarosch außerdem auf ein Schreiben des Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion, demzufolge der Drehbankbau eine „kriegsentscheidende“ Fertigung sei und daraus deshalb keine Arbeitskräfte abgezogen werden dürften. Das Arbeitsamt Chemnitz erklärte dieses Schreiben aber für wertlos. Überdies sagte der zuständige Beamte, man habe den Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion über den Streitfall Kappel informiert und dieser habe sich bis heute dazu nicht geäußert. Trotzdem konnte Jarosch durch sein Beharren auf die Wichtigkeit des Drehbankbaus für die dringliche Kriegsgerätefertigung den Arbeitsamtmitarbeiter soweit verunsichern, dass dieser zusagte, künftig den Drehbankbau der Firma mit Überprüfungen zu verschonen. Weil er aber von dieser Zusicherung die Hilfsabteilungen des Drehbankbaus, z. B. die Tischlerei oder die Reparaturkolonne, die dem Drehbankbau zuarbeiteten, ausnahm, protestierte Jarosch erneut. Wenn man aus diesen Abteilungen Arbeitskräfte abziehe, so seine Argumentation, dann beeinträchtige dies natürlich auch die Drehbankproduktion.

359 Willy Jarosch am 23.5.1941, Bericht für Herrn Direktor Dost (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 448, unpag.). 360 Vgl. ebd.

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Nach Darstellung Jaroschs erwiderte der Arbeitsamtbeamte darauf, „das seien Dinge, die er ebenfalls als Unsinn bezeichnen müsse, aber er habe viel Schwierigkeiten mit dem Landesarbeitsamt gehabt, welches eben die klare Auslegung seiner Bestimmungen fordere“.361 Es gelang dem Prokurist von Kappel sogar, die Debatte geradezu um 180 Grad zu drehen, sodass die Beteiligten zum Schluss nicht mehr um drohende Arbeitskräfteabzüge aus der Firma Kappel redeten, sondern darüber, inwieweit die Abteilung Drehbänke der Firma die von ihr seit Monaten geforderten zusätzlichen Arbeitskräfte erhalten könne. Das Argument des Arbeitsamtbeamten, dass die Firma ihr Arbeitskräftedefizit im Drehbankbau beheben könne, indem sie aus ihren nicht kriegswichtigen Abteilungen Schreibmaschinen- oder Textilmaschinenbau Arbeitskräfte dorthin versetze, prallte an Jarosch ab. Dort seien durch die wiederholten Betriebsprüfungen inzwischen die letzten anderweitig einsetzbaren Arbeiter abgezogen worden. Der Arbeitsamtmitarbeiter lehnte eine Zuweisung von Arbeitskräften an Kappel dennoch ab, begründete diese freilich nicht sachlich, sondern nur damit, dass die Anweisungen seiner vorgesetzten Behörden dem entgegenstünden: Er müsse „stur an den vorhandenen Richtlinien festhalten“.362 Täglich kämen zu ihm rund 20 Betriebsführer, die die gleichen Wünsche hätten wie Jarosch. Da könne er keine Ausnahmen machen. Schließlich verschanzte er sich zur Abwehr der Ansprüche Kappels hinter der Autorität von Rüstungskommando und Bevollmächtigtem für die Maschinenproduktion. Wenn eine dieser beiden Institutionen ihm bestätige, dass die Aufträge der Maschinenfabrik Kappel vordringlich zu behandeln seien, werde er sich um zusätzliche Arbeitskräfte für die Firma kümmern.363 Der Verlauf dieser Auseinandersetzung illustriert die Schwierigkeiten, die aus dem Gestrüpp von Zuständigkeiten und sich widersprechenden Anweisungen entstanden. Angesichts einer fehlenden klaren Linie in der Arbeitseinsatzpolitik mussten die regionalen Instanzen vor Ort zwangsläufig versagen, sobald sie versuchten, sich gegen widerstrebende Unternehmer ihre Ziele mit Sachargumenten durchzusetzen. Daher blieb ihnen häufig einzig und allein ein Rückzug auf ihre amtliche Autorität. Dies wiederum ermöglichte den Unternehmern die Einschaltung anderer Behörden und die Argumentation mit deren Autorität. Es zog die amtlichen Prozeduren in die Länge und führte mitunter auch zu deren Scheitern. Im konkreten Fall Kappel etwa scheint letzten Endes kein einziger der ursprünglich vorgesehenen 21 Arbeiter in eine andere Werkzeugmaschinenfabrik versetzt worden zu sein. Dies ist im Übrigen auch ein Indiz dafür, dass alle Statistiken über Freistellungen von Arbeitern aus weniger kriegswichtigen Produktionen mit großer Vorsicht zu behandeln sind. Zahlenangaben zu den

361 Willy Jarosch am 5.6.1942, Bericht betr. Besuch beim Arbeitsamt Chemnitz am 5.6.1941 (StAC, Maschinenfabrik Kappel 448, unpag.). 362 Ebd. 363 Vgl. ebd.

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tatsächlich erfolgten Arbeiterumsetzungen dürften aussagekräftiger sein, um den quantitativen Erfolg von Auskämmungen abzuschätzen. Für die Ebene des gesamten Wehrkreises IV lassen sich diese anhand des Vergleichs der Anzahl der für eine Umsetzung freigestellten und der Anzahl der tatsächlich umgesetzten Arbeitskräfte nachvollziehen. So stellten die Sonder- und Unterprüfungskommissionen insgesamt 57 Prozent von den von Todt geforderten 55 000 Arbeitskräften bis Ende Juni 1941 frei. Tatsächlich in neue Betriebe versetzt waren zu diesem Zeitpunkt jedoch nur 43 Prozent.364 Ende September 1941 betrug das Verhältnis von Freigestellten zu Umgesetzten 76,5 zu 59,5 Prozent365 und Ende Dezember desselben Jahres 84 zu 65 Prozent.366 Damit schnitt der Wehrkreis IV deutlich besser ab als andere: So hatte etwa der Wehrkreis IX Ende 1941 nur 54 Prozent der Quote bei den ausgekämmten und 45 Prozent bei den tatsächlich umgesetzten Arbeitskräften erreicht.367 Stellt man die oben am Beispiel der Firma Kappel geschilderten Hindernisse in Rechnung und berücksichtigt zusätzlich noch die verstärkten Einberufungen im Vorfeld des Russlandfeldzuges, so sind die tatsächlichen Erfolge der Sonderund Unterprüfungskommissionen umso höher zu bewerten. Neben der Auskämmung erfüllten sie zudem eine weitere wichtige Aufgabe: Indem sie überprüften, ob die Unternehmen die von ihnen angeforderten Arbeitskräfte tatsächlich benötigten, sollten sie die explodierenden Zahlen des gemeldeten Arbeitskräftebedarfs unter Kontrolle halten.368 Die unter der Regie des Landesarbeitsamts geführten Kommissionen hatten spätestens seit Sommer 1940 von Fall zu Fall bereits Prüfungen vorgenommen.369 Die Todt’schen Kommissionen betrieben sie nun aber systematisch und kämmten im Rüstungsbereich Chemnitz von März bis Juni 1941 nicht nur rund 6 400 Arbeitskräfte aus, sondern strichen den Firmen gleichzeitig etwa 6 200 der von ihnen angeforderten Arbeitskräfte, darunter rund 800 Facharbeiter.370 Dennoch konnte dieses 364 RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 100RS). 365 RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1941 (ebd., Bl. 116– 137, hier 128). 366 Eigene Berechungen nach RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch vom 1.10.31.12.1941 (ebd., Bl. 143–166, hier 155). 367 Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 320. 368 Vgl. RMfBuM am 28.2.1941 betr. Umsetzen von Arbeitskräften in die Rüstungswirtschaft (BA Berlin, R 3901 [alt R 41]/281, Bl. 71 f.). 369 Vgl. LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.); in der Region Chemnitz erst nachweisbar ab dem Januar 1941: vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 8); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 370 Eigene Berechnungen nach: RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 12–17); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 3–6, 8–16). Erhoben wurden die wöchentlichen Angaben in der Rubrik „Anforderung gestrichen“, unterteilt in „Facharbeiter“, „sonst[ige] Arbeiter männlich“, „sonst[ige] Arbeiter weiblich“.

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den Arbeitskräftemangel lediglich dämpfen. Ende Juni 1941 stieg allein im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz die Zahl der offenen Stellen in der Gesamtwirtschaft auf fast 10 000 an.371 Wehrkreisweit fehlten allein bei den vordringlichsten Fertigungen rund 54 000 Arbeitskräfte.372 Rüstungsinspekteur Friedensburg suchte den Arbeitskräftemangel auch mit einer weiteren Initiative in den Griff zu bekommen. Bereits seit Frühjahr 1941 verfolgte er den Plan, die Wehrmachtsteile wenigstens in seinem eigenen geografischen Zuständigkeitsbereich im Umweg über die Unternehmen zu zügeln und eine Auftragsvergabe an örtliche Unternehmen von einer Zustimmung der Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos abhängig zu machen. Nachdem er mehrmals in Berlin vorstellig geworden sei, so Friedensburg in seinem Kriegstagebuch für das erste Quartal 1941, habe Reichsmarschall Göring angeordnet, „dass ohne Zustimmung des R[üstungs]I[nspektors] keine Erweiterung der Kapazitäten erfolgen darf“.373 Ab April 1941 mussten Unternehmen für die Annahme von Rüstungsaufträgen, für die sie zusätzliche Arbeitskräfte benötigten, oder die bereits laufende Rüstungsfertigungen zu beeinträchtigen drohten, eine Genehmigung der Rüstungskommandos einholen. Ob diese Bestimmungen reichsweit oder nur in einzelnen Wehrkreisen galten, ist angesichts der Forschungslage schwer auszumachen. Auf Basis der thüringischen Quellen geht Fleischhauer von einer entsprechenden Anordnung des Todt’schen Munitionsministeriums vom 13. Mai 1941 aus.374 Im Wehrkreis IV mussten sich schließlich alle wehrmachtsbetreuten Rüstungsbetriebe Auftragsannahmen von mehr als 20 000 Reichsmark monatlich durch einen Sichtvermerk des Rüstungskommandos bestätigen lassen und ihm zusätzlich eine monatliche Liste aller neuen Aufträge zusenden.375 Bei Textilien oder handelsüblichen Geräten waren Aufträge mit einem Wert von 20 000 Reichsmark oder mehr der sächsischen Bezirksausgleichsstelle vorzulegen. Bis Ende Januar 1942 hatte diese

371 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 372 RüIn IV, Überblick über die rüstungswirtschaftliche Entwicklung im 2. Vierteljahr 1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 93–104RS, hier 100). 373 RüIn IV, Vierteljahresbericht zum Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 50). 374 Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 320. Der Ausgangsbefehl Görings lässt sich in der Literatur nicht nachweisen; Müller, Mobilisierung, S. 620, verweist lediglich auf einen Entwurf von Thomas für den Führerbefehl zur Rationalisierung, der auch das „Abstempeln sämtlicher Wehrmachtsaufträge“ zum Inhalt hatte. Dieser stammt jedoch erst vom Herbst 1941 und nicht vom Frühjahr; außerdem zog Thomas den Passus nach Protesten von Todt offenbar zurück. 375 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 6, 15); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 17, 24, 27). Die Regelungen im Wehrkreis IX waren ähnlich gestaltet; vgl. Fleischhauer, NSGau Thüringen, S. 320.

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Aufträge in einem Auftragswert von rund 60 Mio. Reichsmark im Bezirk der IHK Chemnitz genehmigt.376 Nützen taten die Regelungen zumindest im Chemnitzer Raum freilich wenig. Bereits im März 1942 klagten die mit der Betreuung der Heeresfertigung betrauten Mitarbeiter des Rüstungskommandos Chemnitz, dass nur ein Teil der vom Heereswaffenamt vergebenen Aufträge tatsächlich dem Sichtvermerkszwang unterliege und daher kein Gesamturteil über die Belastung der Firmen im Rüstungsbereich durch Wehrmachtsfertigungen möglich sei.377 Im August 1942 kam das Rüstungskommando zu dem Schluss, dass die Wehrmachtsteile die Aufträge sowieso ohne vorherige Anhörung des Rüstungskommandos vergäben und daher das Sichtvermerksverfahren „eine reine Formalität“ darstelle. In der Folgezeit wurde der Sichtvermerkszwang Schritt für Schritt eingeschränkt und Ende November 1942 durch das Munitionsministerium schließlich aufgehoben, auch wenn ihn das Rüstungskommando Leipzig vorschriftswidrig noch im Frühjahr 1943 praktizierte.378 3.6

Friedensburgs Kritik an der „Rüstungsumsteuerung“

Hitler hatte in fester Erwartung eines schnellen Sieges gegen Russland bereits während des Sommers 1941 verfügt, die Rüstung, abgesehen von einigen Ausnahmen wie dem Panzer- und U-Boot-Programm, nunmehr auf den Vorrang der Luftrüstung umzustellen. Das sogenannte Göringprogramm vom 23. Juni 1941 forderte riesige Ausstoßzahlen für Flugzeuge und sah gigantische Investitionen in die Treibstoff- und Metallproduktion vor, die Kapazitäten der erst noch zu erobernden Sowjetunion bereits eingerechnet.379 Doch die wichtigsten Repräsentanten der Rüstungssteuerung, der neue Sonderbeauftragte für die Luftrüstung, Erhard Milch, sowie Todt und Thomas bzw. sein Vorgesetzter Wilhelm Keitel konnten sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen zur Durchsetzung der Führerweisung gegenüber den Wehrmachtsteilen einigen. Heer, Marine, Luftwaffe und die chemische bzw. Grundstoffindustrie unter Carl Krauch vergaben weiterhin untereinander unabgestimmt ihre Aufträge direkt an die Betriebe.380 Die reichsbezogene Forschung ist sich in dem Befund einig, dass das ­Steuerungschaos im

376 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 31.1.1942, Bericht über die Sachbearbeiterbesprechung für Auftragsbörsen in der Wirtschaftskammer Chemnitz am 29.1.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 377 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 32 f.). 378 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 11); IHK Chemnitz, Linse, am 6.7.1943, Aktennotiz betr. Sichtvermerk für Rüstungsaufträge (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 379 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 11–18. 380 Vgl. Kroener, Ressourcen, S. 928–933; Müller, Mobilisierung, S. 558–580.

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zweiten Halbjahr 1941 einen neuen Höhepunkt erreichte.381 Dies hing freilich auch mit der aus zeitgenössischer Sicht lange unentschiedenen Lage auf den sowjetischen Schlachtfeldern zusammen. Sie befeuerte den Konflikt zwischen den Vertretern des Göring-Programms und denjenigen in der Reichsregierung, die angesichts des noch nicht gewonnenen Feldzuges gegen die Sowjetunion eher die Heeresrüstung in den Vordergrund stellen wollten.382 Wie wirkten sich diese Konfliktlagen in der regionalen Arbeitskräftelenkung aus? Kam die Umsteuerung der Rüstung tatsächlich in der Region an? Es ist zu erwarten, dass auf dieser Ebene eher gegenläufige Impulse zu verarbeiten waren. Wie gingen die regionalen und lokalen Verantwortlichen damit um? Dies ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Die Arbeitskräftelenkung ist deshalb ein guter Indikator für die Gesamtlage, weil die Arbeitskräfte neben den Rohstoffen eine Schlüsselrolle bei der Umverteilung der Ressourcen spielten.383 Für die regionalen Auskämmungsinstitutionen hatte daher der Umsteuerungsbeschluss eine wichtige Bedeutung. Todt, der kraft seines Amtes vor allem die Interessen der Heeresrüstung vertrat, hatte sich durch eine Führerweisung vom 20. Juni 1941 die Basis für eine Schlüsselstellung bei der Umrüstung geschaffen.384 Anweisungen Todts vom Juli und August 1941 zufolge erhielten die Prüfungskommissionen der Wehrkreise neue Aufgaben: Sie sollten die durch die Drosselung der Heeresrüstung freiwerdenden Arbeitskräfte auf neue Arbeitsplätze in der Luftrüstung sowie einige bevorzugte Fertigungen der anderen Wehrmachtsteile und der Grundstoffindustrie verteilen, zu denen die Panzerund U-Boot-Fertigung sowie die Produktion einzelner chemischer Grundstoffe gehörte. Die Arbeitseinsatzverwaltung hatte ihr Vorgehen bei der Verteilung von Arbeitskräften in der sonstigen „kriegswichtigen“ Industrie auf die Vorgaben der Prüfungskommissionen abzustimmen.385 Für die Abstimmung des Bedarfs der drei Wehrmachtsteile und der Grundstoffindustrie untereinander wollte Todt einen „Kapazitätenausschuss“ einsetzen, der in der Folge offenbar bedeutungslos blieb.386

381 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 18; Tooze, Ökonomie, S. 575; Müller, Mobilisierung, S. 596; Kroener, Ressourcen, S. 932. 382 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 560–588. 383 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 183; Kroener, Ressourcen, S. 932 f. 384 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 13, 19. 385 Vgl. RMfBuM an OKW/WiRüAmt, OKH/Chef HRüst u.BdE., OKH/Heereswaffenamt, OKM (MWaWi), Reichsminister der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe am 11.7.1941 betr. Austausch von Kapazitäten, S. 4 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); RMfBuM an die Vorsitzenden der Prüfungskommissionen am 8.8.1941 betr. Umsetzung von Arbeitskräften aus der Einschränkung der Heeresfertigung zu Gunsten des Luftrüstungsprogramms (einschließlich Flakprogramm) (ebd.); Eichholz, Kriegswirtschaft, II, S. 23, 181–185. 386 Vgl. RMfBuM am 11.7.1941 betr. Austausch von Kapazitäten, S. 2 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); Friedensburg als Vorsitzender der Prüfungskommission an WiRüAmt am 22.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 80–83, hier 83); Eichholtz, Geschichte II, S. 22 f.; Müller, Mobilisierung, S. 567 f.

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Die mangelnde Abstimmung der Zentralebene bei der geplanten Rüstungsumsteuerung schlug bis in die unterste regionale Ebene durch. Zwar kam es im August zu vereinzelten Umsetzungen zugunsten der Luftrüstungsindustrie.387 Doch auf der Mittelebene, der Rüstungsinspektion in Dresden, gingen Angaben der Beschaffungsstellen über zu drosselnde Fertigungen nur sehr zögernd ein. Die einzelnen Wehrmachtsteile belegten überdies „ihre“ dadurch frei gewordenen Arbeitskräfte sofort wieder anderweitig mit eigenen dringlichen Aufträgen, sodass der Nettogewinn an Arbeitskräften für Fertigungen anderer Rüstungsbereiche zumindest bis in die zweite Augusthälfte 1941 hinein gering war. Schließlich blieb selbst Friedensburg als Vorsitzendem der Prüfungskommission des Wehrkreises IV unklar, welche Rüstungsfertigungen im Einzelnen bevorzugt werden sollten.388 Verwunderlich ist dies nicht, denn angesichts der ungeheuren Verluste an Mensch und Material war bereits in den ersten Wochen des Ostfeldzuges das Göringprogramm Stück für Stück auf einen Bruchteil seines ursprünglichen Umfangs reduziert worden. Außerdem wurde in Besprechungen auf Reichsebene im August 1941 deutlich, dass keiner der drei Wehrmachtsteile bereit war, Personal oder Material zugunsten der anderen freizugeben.389 Für den sächsischen Rüstungsinspekteur des Wehrkreises IV, General Friedensburg, bot die Handhabung der Rüstungsumsteuerung den Anlass, die gesamte NS-Rüstungspolitik aus der Perspektive des Arbeitseinsatzes einer grundsätzlichen Kritik zu unterziehen.390 Bereits im August 1941, wandte er sich gegen die Tendenz, personelle Umschichtungen als alleiniges Allheilmittel gegen den Mangel an Rüstungskapazitäten anzusehen. Vor allem kritisierte er, dass die einzelnen Wehrmachtsteile die in ihren Aufträgen beschäftigten Arbeiter quasi als ihr Eigentum betrachteten und lieber deren Versetzung von einem Ort zum anderen veranlassen würden, als sie für die Fertigung eines anderen Wehrmachtsteils zur Verfügung zu stellen. Die gegenwärtige hohe Fluktuation der Arbeitskräfte aber, so Friedensburg, zerstöre die Stammbelegschaften der Betriebe und mute den Arbeitern dauerhaft hohe Belastungen wie beispielsweise die Trennung von ihren Familien und ihren Heimatorten zu. Auf die längere Sicht fürchtete Friedensburg deshalb negative Folgen für die Stimmung und den Leistungswillen der Arbeiterschaft. Gleichzeitig hob er hervor, dass die geplante Rüstungsumstellung ihr Ziel verfehle, wenn sie allein auf der Versetzung von Arbeitern aus einer Fertigung zur nächsten beruhe: „Dabei erreicht dieser Weg

387 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941, S. 2 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 2, unpag.). 388 Vgl. Friedensburg am 21.8.1941 betr. neues Rüstungsprogramm (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 71–79, hier 78). 389 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 27; Kroener, Ressourcen, S. 933. 390 Vgl. Friedensburg am 21.8.1941 betr. neues Rüstungsprogramm (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 71–79); Friedensburg an WiRüAmt am 22.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 80–83); Friedensburg am 10.10.1941, Umsteuerung der Rüstung. Vorschlag für Neu-Organisation (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 87–93).

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eben doch nicht mehr, als die überall zu kurze Decke zu verschieben, nicht sie zu strecken.“391 Der überall spürbare Arbeitermangel ließ sich seiner Meinung nach nur durch eine grundsätzliche Revision der Rüstungsplanung und -organisation insgesamt beseitigen. Hellsichtig schilderte Friedensburg den Charakter des polykratischen Konkurrenzkampfes an der Spitze des NS-Regimes und dessen Folgen für die nachgeordneten Instanzen: Seit Beginn ihrer Tätigkeit hätte die Mittelinstanz von einer Vielzahl von Stellen, etwa den einzelnen Wehrmachtsteilen, dem OKW und dem Reichsministerium für Bewaffnung und Munition die widersprüchlichsten Befehle erhalten. Rüstungsinspektion und Prüfungskommission des Wehrkreises IV sei auf diese Weise die Aufgabe zugefallen, die Interessen der einzelnen Herrschaftsträger auszugleichen. Der Rüstungsinspekteur, das geht aus seinen Ausführungen deutlich hervor, war es leid, ständig den schwarzen Peter dafür zugeschoben zu bekommen, dass der eine oder andere Herrschaftsträger seine Ziele durch die Prüfungskommission des Wehrkreises IV ungenügend berücksichtigt sah.392 Aus dieser Erfahrung heraus lehnte Friedensburg im August 1941 auch die von Todt geplante dezentrale Durchführung der Rüstungsumstellung ab.393 Er befürchtete, dass er und sein Prüfungsausschuss sich in der Praxis mit ihren Vorstellungen über die Neuverteilung der Arbeitskräfte auf die einzelnen Wehrmachtsfertigungen im Zuge der Rüstungsumstellung gegen die mächtigen Oberkommandos der Wehrmachtsteile, denen er als Rüstungsinspekteur zudem noch in Teilbereichen unterstellt war, nicht würden durchsetzen können. Auch eine Versicherung des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition, die Prüfungsausschüsse mit den notwendigen Kompetenzen dafür zu versorgen, konnte ihn nicht optimistischer stimmen: „Die bisher schon bekannten Anlässe zu undurchsichtigen Kompetenzen und zu Interessenkonflikten zwischen den einzelnen Bedarfsträgern, die zu wenig voneinander wissen oder wissen wollen“, so Friedensburg, „werden die unproduktive Arbeit der Anfechtungen, Ausgleichung, Rechtfertigung, Verantwortung usw. außerordentlich steigern.“394 Der bereits erwähnte, von Todt geplante, zentrale „Kapazitätenausschuss“ genügte Friedensburg als zentrale Steuerungsinstanz nicht. Er war der Meinung, dass die Entscheidungen des Kapazitätenausschusses vielfach realitätsfremde Kompromissentscheidungen sein würden. Zudem fällte das Gremium nach Auffassung Friedensburgs vor allem Einzelentscheidungen, konnte aber keine umfassenden Steuerungsfunktionen übernehmen. „Man kann Illusionen

391 Friedensburg am 21.8.1941 betr. neues Rüstungsprogramm (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/5, Bl. 71–73, hier 72). 392 Vgl. ebd., Bl. 73–75; Friedensburg am 10.10.1941, Umsteuerung der Rüstung. Vorschlag für Neu-Organisation (ebd., Bl. 87–89). 393 Vgl. Friedensburg am 21.8.1941 betr. neues Rüstungsprogramm (ebd., Bl. 73). 394 Ebd., Bl. 78; vgl. auch ebd. Bl. 73 f.

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nicht dadurch verwirklichen“, so erklärte er, „dass man die Zahl derjenigen vermehrt, die verfügen, befehlen, überwachen und parallele Arbeit leisten.“395 Anstatt die eigentlichen Sachentscheidungen weiterhin der Mittel- und der regionalen Ebene zu überlassen, forderte der Rüstungsinspekteur eine zentrale Abstimmung der gesamten Rüstungsplanung. Insbesondere verlangte er bindende Abmachungen auf der zentralen Ebene zwischen den einzelnen Wehrmachtsteilen sowie zwischen militärischen und zivilen Instanzen über ihren jeweiligen Rüstungsbedarf und die dafür notwendigen Produktionsmittel. Die Mittelebene wollte er mit der Umsetzung der Rüstungsplanung betraut wissen, wobei es ihm vor allem auf zwei Dinge ankam. Erstens wollte er die Stellung der Rüstungsinspektion als allein bestimmende Institution der Mittelebene für die gesamte direkte und indirekte Wehrmachtsfertigung festschreiben. Allen anderen Institutionen hätte Friedensburgs Konzept lediglich beratende Funktion zugebilligt. Zweitens sollte ein Eingreifen der zentralen Stellen in die Umsetzungskompetenzen der Rüstungsinspektion künftig dadurch ausgeschlossen werden, dass letztere lediglich von einer übergeordneten Stelle Befehle entgegenzunehmen hatte.396 Faktisch liefen Friedensburgs Vorstellungen, die er im August 1941 abstrakt formulierte und im Oktober 1941 in einem Organisationsplan konkretisierte, auf ein zentrales Wirtschaftsplanungskonzept Thomas’scher Prägung hinaus, auch wenn er darin pikanterweise nicht dessen Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt die tragende Rolle zudachte, sondern Todts Munitionsministerium,397 das ja später tatsächlich die Rüstungsinspektionen vereinnahmen sollte. Die Rüstungsindustrie spielte in Friedensburgs Rüstungslenkungskonzept allerdings keine aktive Rolle. Die von Todt begonnene und von Speer später mit so großem Erfolg ausgebaute Einbindung der unternehmerischen Selbstverwaltung, berücksichtigte er mit keiner Silbe. So hellsichtig seine Beschreibung des Chaos in der NS-Verwaltung des NS-Regimes war, sein Vorschlag einer zentralen Wirtschaftslenkung hatte gerade angesichts der oben geschilderten Situation keinerlei Chance auf Verwirklichung, auch wenn er mit seiner Forderung nach der Abstimmung des Bedarfs aller drei Wehrmachtsteile ein zentrales Problem ansprach, das seit Kriegsbeginn bestand. Das Ministerium Todt reagierte bereits im August 1941 auf Friedensburgs ersten Vorstoß in Richtung einer zentralen Bedarfslenkung ablehnend, weil, so die Argumentation der im polykratischen Machtkampf erfahrenen Beamten, eine zentrale Abstimmung der Wehrmachtsteile über ihren Rüstungsbedarf und

395 Friedensburg an WiRüAmt am 22.9.1941 (ebd., Bl. 83); vgl. auch Friedensburg am 10.10.1941, Umsteuerung der Rüstung. Vorschlag für Neu-Organisation (ebd., Bl. 90). 396 Vgl. Friedensburg am 21.8.1941 betr. neues Rüstungsprogramm (ebd., Bl. 75f); Friedensburg an WiRüAmt am 22.9.1941 (ebd., Bl. 82f); zum ausführlichsten und ausgeformtesten Organisationskonzept vgl. Friedensburg am 10.10.1941, Umsteuerung der Rüstung. Vorschlag für Neu-Organisation (ebd., Bl. 89–93). 397 Vgl. ebd., Bl. 92 f.

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die Verteilung der zur Produktion zur Verfügung stehenden Ressourcen zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde, als dass die Umsteuerung der Rüstung termingemäß abgeschlossen werden könne.398 Auch die Stellungnahmen einiger Rüstungsinspekteurskollegen, die im September 1941 eingeholt wurden, waren bei aller Zustimmung, was die Situationsbeschreibung anging, Friedensburgs Lösungsvorschlägen gegenüber offenbar eher skeptisch eingestellt.399 Tatsächlich wurde die sogenannte Umsteuerung der Rüstung im Chemnitzer Raum dezentral gesteuert, so wie Todt es vorgesehen hatte. Zunächst beschäftigte sich das Rüstungskommando Chemnitz bis in den September hinein damit, mithilfe der Wehrmachtsteile sowie von Arbeitsämtern und Betrieben, den regionalen Arbeitskräftebedarf für die künftigen Schwerpunktprogramme zu ermitteln. Es schrieb nach Rücksprache mit den Arbeitsämtern die Unternehmen an, um Auskunft darüber zu erhalten, für welche Fertigung diese wie viele Arbeitskräfte angefordert hatten. Danach entschieden Rüstungskommando und die Abteilungen der Wehrmachtsteile beim Rüstungskommando für jeden Arbeitsamtsbezirk gesondert, welche Arbeitskräfteanforderungen im Lichte der Rüstungsumsteuerungen gerechtfertigt waren. Das Ergebnis teilte das Rüstungskommando am 23. September den Arbeitsämtern mit, die nunmehr zusammen mit den Sonderprüfungskommissionen die erforderlichen Umsetzungen der Arbeitskräfte vornehmen sollten. Danach bestand im Bereich des Rüstungskommandos ein Arbeitskräftebedarf von etwa 1 700 männlichen und 700 weiblichen Beschäftigten für die künftigen Schwerpunktfertigungen, von denen insgesamt 64 Prozent für die Luftwaffe, 13 Prozent für das U-Boot-Programm und 23 Prozent für das Panzerprogramm benötigt wurden. Der Bedarf der winzigen chemischen Industrie im Chemnitzer Raum war bedeutungslos. Die Rüstungsinspektion erhielt zwar einen Bericht über die geplanten Umsetzungsquoten der einzelnen Arbeitsämter, war aber in den Entscheidungsprozess selbst offenbar nicht eingebunden.400 Nach den skeptischen Reaktionen auf seine Denkschriften hatte Friedensburg die Entscheidung über die Umsetzung der bereits freigestellten Arbeitskräfte nunmehr den Rüstungskommandeuren in Zusammenarbeit mit den Sonderprüfungskommissionen übertragen. Um die bezirklichen Zuständigkeiten zu vereinheitlichen, sollten die Sonderprüfungskommissionen eines Rüstungskommandobereichs von einem vom Landesarbeitsamt bestimmten Beauftragten federführend geleitet werden. Für den Rüstungsbereich Chemnitz nahm diese

398 Vgl. Friedensburg am 21.8.1941 betr. neues Rüstungsprogramm (ebd., Bl. 77). 399 Diese Stellungnahmen sind leider nur indirekt in Friedensburgs Antwort darauf überliefert; vgl. Friedensburg an WiRüAmt am 22.9.1941 (ebd., Bl. 80–83). 400 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 20 f.); RüKdo Chemnitz, Bericht über die Zen­ tralgruppenleiterbesprechung bei RüIn IV am 12.9.1941 (ebd., Bl. 43–45, hier 44 f.); RüKdo Chemnitz an die Leiter der AÄ am 23.9.1941, ohne Betreff (ebd., Bl. 47–50).

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Funktion Regierungsrat Hollack401 wahr. Außerdem wurden die im Juni 1941 geschaffenen „Technischen Sonderprüfungskommissionen“ des Wehrkreisbeauftragten des Munitionsministeriums an die Prüfungskommission des Rüstungsinspekteurs angegliedert. Sie sollten ihre Aktivitäten mit denjenigen der Sonder- und Unterprüfungskommissionen abstimmen.402 Die Technischen Sonderprüfungskommissionen waren eigentlich geschaffen worden, um Metallunternehmen auf Möglichkeiten zu überprüfen, Facharbeiter durch angelernte Arbeiter zu ersetzen.403 Doch hatte die Sonderprüfungskommission in Chemnitz mehrfach Missstimmungen produziert, weil sie eigenmächtig Beschlüsse der anderen Prüfungskommissionen veränderte. So hatte sie im Sommer 1941 bei der Werkzeugmaschinenfirma Niles eigenmächtig den Abzug von mehreren Metallfachkräften und den Austausch von nahezu 50 weiteren Arbeitskräften veranlasst.404 Die Sonder- und Unterprüfungskommissionen im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz machten von Juli bis September 1941 insgesamt 1 760 Arbeitskräfte in den Betrieben aus, die in andere Fertigungen versetzt werden konnten, die jedoch bei Weitem nicht alle rüstungstauglich gewesen sein dürften. Rund 500 Kräfte waren im selben Zeitraum in den vom Rüstungskommando betreuten Unternehmen innerbetrieblich umgesetzt worden.405 Auch wenn sich die Sonderprüfungskommissionen stark auf die Rüstungsindustrie konzentrierten, blieben die Unternehmen, die für den zivilen Bedarf produzierten, im Blickfeld der Unterprüfungskommissionen der Arbeitsämter. Die Meinungen über die Belastungen der zivilen kriegswichtigen Wirtschaft im Chemnitzer Raum waren dabei geteilt: Diejenigen, die vor allem die Versorgung der Bevölkerung mit zivilen Gütern im Blick hatten, erklärten, dass nunmehr die Grenze des Möglichen erreicht sei. Die Arbeitsämter der Region Chemnitz hielten namentlich die Textilindustrie nicht mehr für abzugsfähig, weil sonst die

401 Zu Regierungsrat Hollack ließen sich weder der Vorname noch andere Angaben ermitteln. 402 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht für das Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 116–137, hier 130); RüKdo Chemnitz, Bericht über die Zentralgruppenleiterbesprechung bei RüIn IV am 12.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 43–45, hier 45); RüKdo Chemnitz, Besprechung mit den SPK- und AÄ-Leitern des Rüstungsbereichs am 3.10.1941 über die Umsetzung von Arbeitskräften (BAMA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 33–36). 403 Vgl. zu den „Technischen Sonderkommissionen“ in Thüringen Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 321. 404 Vgl. LWA Sachsen an den Vorsitzenden der Prüfungskommission am 11.10.1941 betr. Niles Werke AG, Siegmar-Schönau. Bezug: Fernmündliche Unterhaltung zwischen Herrn Hauptmann B. und Herrn E. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 8, unpag.); RüKdo Chemnitz, Besprechung mit den SPK- und AÄ-Leitern des Rüstungsbereichs am 3.10.1941 über die Umsetzung von Arbeitskräften (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 33–36, hier 36). 405 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 20 f.).

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Versorgung der Bevölkerung gefährdet sei. So bemerkte beispielsweise der Berichterstatter des Arbeitsamtes Flöha im September 1941, die Strumpfindustrie, „der in diesen Tagen erneut durch die UPK Arbeitskräfte für den Rüstungssektor entzogen werden mussten, ist immer weniger in der Lage, den Bedarf an Damen und Kinderstrümpfen zu decken. Der katastrophale Mangel an diesen Waren hat zu einer dringlichen Eingabe des Reichsbeauftragten für Bekleidung geführt, weitere Kräfteabzüge aus der Strumpfindustrie unter allen Umständen zu unterlassen und ihr darüber hinaus zur Erhöhung der Produktion zusätzlich Arbeitskräfte zuzuführen.“406 In der Tat war der deutsche Pro-Kopf-Verbrauch an Kleidung durch die Rationierung bereits 1940 um die Hälfte zurückgegangen. Die weitere Reduzierung der Zuteilungen, die im Oktober 1941 erfolgte,407 erscheint vor dem hier dargestellten Hintergrund als notwendige Folge der Arbeitskräfteabzüge aus der Textilindustrie. Sie senkte, wie Overy feststellt, den durchschnittlichen Kleidungsverbrauch in der Folge auf ein Viertel des Vorkriegsverbrauchs.408 Der Chemnitzer Maschinenbaufirma Schubert und Salzer entzog die Sonderprüfungskommission im August 1941 mehr als 250 Arbeitskräfte, darunter viele Facharbeiter, weil „der zivile Auftragsbestand nach 2 Jahren Krieg noch eine Höhe aufweist, die nicht mehr verantwortet werden kann“.409 Die die Heeresfertigung betreuenden Mitarbeiter des Rüstungskommandos Chemnitz kritisierten an der Umsteuerung der Rüstung die Konzentration auf die Rüstungsfertigung, weil es ihrer Meinung nach im zivilen Bereich, vor allem im Maschinenbau, noch viele kriegsunwichtige Fertigungen gebe, die, wie beispielsweise die Produktion von Textilveredlungsmaschinen für den Export nach Ungarn, Arbeitskräfte binden würden.410 Erst Ende September beantragte das Rüstungskommando bei der Rüstungsinspektion Fertigungsdrosselungen, um die für die Schwerpunktprogramme noch fehlenden 1 000 Arbeitskräfte zu erhalten.411 Unter diesen Umständen verwundert es wenig, dass das Arbeitsamt Lugau Ende September immer noch auf Anweisungen darüber wartete, welche Metallfertigungen einzuschränken seien. Mit diesen Drosselungsanweisungen aber, so der Lugauer Arbeitsamtsdirektor, „wird ja erst der zweckvollste Einsatz ausgelöst, den Betriebsauskämmungen heute nicht mehr gewährleisten können“.412

406 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. auch RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 6). 407 Vgl. Werner, „Bleib übrig“, S. 137 f. 408 Vgl. Overy, „Blitzkriegswirtschaft“, S. 404 f. 409 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BAMA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 11). 410 Vgl. ebd., Bl. 25. 411 Vgl. ebd., Bl. 21. 412 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).

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Anfang Oktober wurde den Sonderprüfungskommissionen sowie den Arbeitsämtern die vom Rüstungskommando ermittelten Bedarfszahlen der Schwerpunktprogramme bekannt gegeben. Die Sonderprüfungskommissionen überprüften Fertigungen daraufhin, wie viele Arbeitskräfte ihnen zugunsten der Schwerpunktfertigung entzogen werden konnten. Rüstungskommando und Arbeitsämter wiesen den einzelnen Arbeitsamtsbezirken entsprechend des von den Unternehmen gemeldeten Bedarfs der Schwerpunktprogramme bestimmte Prozentanteile der ausgekämmten Arbeitskräfte zu. Darüber hinaus hatten diese Arbeitsamtsbezirke je nachdem, wie sehr sie von den Schwerpunktfertigungen belastet waren, zwischen 20 und 50 Prozent der ihnen rechnerisch zugedachten Arbeitskräfte in den Landes- und Reichsausgleich zu geben, also anderen Arbeitsämtern außerhalb Südwestsachsens zur Verfügung zu stellen. Anhand der Entwicklung der Kräftebedarfszahlen für die Schwerpunktprogramme wurden diese Schlüsselzahlen in regelmäßigen Abständen zwischen dem Rüstungskommando und den Arbeitsämtern besprochen.413 Nach diesem Verfahren arbeiteten die Kommissionen bis in den Sommer 1942 hinein. Freilich erschwerten ihnen die oft kurzfristigen Änderungen in der Schwerpunktsetzung der Rüstung ebenso die Arbeit wie die Tatsache, dass diese Änderungen keineswegs immer eindeutig waren. Vor dem Hintergrund des ungeheuren Verbrauchs an Mensch und Material durch das Ostheer, der Stockung der deutschen Offensive vor Moskau sowie der russischen Gegenoffensive Anfang Dezember 1941,414 kündigte sich beispielsweise eine Revision der Entscheidung an, die Produktion der Heeresmunition zurückzufahren, was einen Teil der bisherigen Entscheidungen zur Arbeitskräfteumsetzung hinfällig machte.415 Die Dezemberkrise, in der sich das Scheitern des deutschen Blitzkriegskonzepts manifestierte, führte zu einem neuen Rüstungskonzept, in dem die Heeresrüstung wieder Vorrang erhielt.416 Unter diesen Umständen war die Trägheit der regionalen Entwicklung kriegswirtschaftlich gesehen wahrscheinlich eher ein Vorteil als ein Nachteil: Zwischen Oktober und Dezember 1941 konnten nämlich die Arbeitskräfteforderungen der Unternehmen mit Schwerpunktfertigungen aus den Auskämmungen bei Weitem nicht gedeckt werden. So überprüften die Kommissionen bis Dezember 1941 zwar rund 190 Fertigungen mit 43 000 Arbeitskräften, konnten aber daraus nicht viel mehr als 600 an die Schwerpunktprogramme überwei-

413 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung mit den SPK- und AÄ-Leitern des Rüstungsbereichs am 3.10.1941 über die Umsetzung von Arbeitskräften (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 33–36); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.– 31.12.1941 (ebd., Bl. 10, 23 f.). 414 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 29 f., 43 f.; Tooze, Ökonomie, S. 574–576. 415 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 27RS). 416 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 45; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 920, 938.

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sen, insbesondere die Zahl der ausgekämmten Facharbeiter war mit 30 Personen geradezu verschwindend gering.417 Obwohl lediglich 600 Arbeitskräfte im letzten Vierteljahr 1941 durch Überprüfungen frei wurden, wurden den bevorzugten Rüstungsprogrammen knapp 2 000 Arbeitskräfte zugewiesen. Dabei dürfte es sich mehrheitlich um ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene gehandelt haben, die im Winter 1941 zwar noch nicht so häufig in der Region eintrafen wie ab Frühsommer 1942, gleichwohl bereits ein wichtiges Arbeitskräftereservoir darstellten.418 Ohne sie wäre auch eine nur unvollkommene Ausstattung der Schwerpunktfertigungen völlig unmöglich gewesen, umso mehr, als die sich um die Jahreswende 1941/42 intensivierenden Einberufungen zusätzliche Lücken in das zur Verfügung stehende Arbeitskräftepotenzial rissen.419 Schließlich ist innerhalb des Gebietes des Rüstungskommandos Chemnitz eine wirkliche Umsteuerung vor allem zugunsten der gewaltigen Anforderungen des Luftrüstungsprogramms bis Ende 1941 nicht erkennbar. Jedoch erhielt dieses Programm im vierten Quartal 1941 mit 70 Prozent den Löwenanteil aller Zuweisungen für die vier Schwerpunktprogramme. Auch hatten die vom Rüstungskommando betreuten Luftwaffenfertigungen zwischen Juni und Dezember 1941 einen Zuwachs um knapp 4 000 Arbeitskräfte und damit eine Steigerung auf 37 600 Mitarbeiter zu verzeichnen. Dieser Anstieg ging aber nicht auf Kosten der anderen Wehrmachtsfertigungen, die ihre Arbeitskräfteanzahl in etwa halten konnten, sondern speiste sich aus den genannten zusätzlichen Quellen. Die Bedeutung der Umrüstung ist vielmehr für die Untersuchungsregion auf organisatorischem Gebiet zu sehen, indem sich Verfahren auf regionaler Ebene entwickelten, die ihre Bedeutung weit über die Geltungsdauer des Umrüstungsbeschlusses hinaus behielten. Dies gilt beispielsweise für die Bedarfserhebung in den Schwerpunktprogrammen, die prozentuale Aufschlüsselung der Abgabe- und Bedarfszahlen nach Arbeitsamtsbezirken sowie die Festlegung der Quote der für den überbezirklichen Ausgleich vorgesehenen Arbeitskräfte. Mit der letzteren Festlegung war eine auch endlich handhabbare Lösung dafür gefunden, wie die Verantwortlichen mit der Tatsache umgehen sollten, dass die Region trotz der übereinstimmend gefühlten Arbeitskräfteknappheit weiterhin Arbeitnehmer in andere sächsische und Reichsgebiete abzugeben hatte. Zwar forderte das Rüstungskommando Chemnitz im Oktober 1941 die Befreiung der Region vom Landes- und Reichsausgleich und sandte einen ent-

417 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 23 f.). 418 Zu Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern vgl. Kap. IV. 4 und V. 4. 419 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 24); RüKdo Chemnitz, Übersicht in die Zuweisungen für die vordringlichen Programme zwischen 1.10. und 31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 56).

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sprechenden Bericht an die Rüstungsinspektion,420 ein regelrechter Konflikt zwischen den einzelnen Herrschaftsträgern über diese Frage, wie in Baden zwischen der Regierung und dem auch für Baden zuständigen Landesarbeitsamt in Stuttgart,421 ist für die Region jedoch nicht überliefert. Der Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 sowie Todts Unfalltod und sein Ersatz durch Speer im Februar 1942 hatten auf die Arbeitskräftelenkung vor Ort keinen Einfluss. Vielmehr wurde der Vorbereitung der Sommeroffensive gegen die Sowjetunion die Priorität eingeräumt. Im ersten Quartal des Jahres 1942 gingen die Überprüfungsaktivitäten der Kommissionen erheblich zurück. Ihre Mitglieder waren zu dieser Zeit in den „Freimachungsunterausschüssen“ tätig, die die Einberufungen für den Russlandfeldzug vorbereiten sollten.422 Die Zahl der für eine Umsetzung freigemachten Arbeitskräfte reduzierte sich daher bei der Überprüfung von rund 100 Betrieben mit 15 600 Mitarbeitern auf etwa 370 Personen.423 Immerhin aber strichen die Kommissio­ nen zwischen Anfang Oktober 1941 und Ende März 1942 Anforderungen der Betriebe für rund neue 1 500 Arbeitskräfte.424 Zusätzlich drückten Hollack und das Rüstungskommando allein den zwischen Mitte Februar und Ende März 1942 neu angemeldeten Bedarf der Schwerpunktvorhaben um fast 700 auf 1 200 Arbeitskräfte.425 Das zweite Quartal 1942 dominierte eine in Zusammenarbeit mit dem Bevollmächtigten für die Maschinenproduktion (BfM), Karl Lange,426 vorgenommene Überprüfung der Maschinenbaufabriken. Die aufgrund der Fertigungsverbote kriegsunwichtiger Maschinen427 freiwerdenden Arbeitskräfte sollten in sogenannte Engpassmaschinenproduktionen versetzt werden. Eine ganze Reihe der betroffenen Fabriken hatte sich freilich vorausschauend gegen einen Arbeitskräfteabzug zu sichern gesucht, in dem sie sich Aufträge für Rüstungsfertigungen von hoher Dringlichkeit beschafft hatten. Zudem gab es firmenspezifische Ausnahmeregelungen: So schrieb die Astrawerke AG, die noch im März

420 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 10). 421 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 212 f. 422 Vgl. Kap. IV. 2. 3. 423 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 27); Anlage 23 zum Kriegstagebuch. Betriebsprüfungen. Zeitraum 1.1.–31.3.1942 (ebd., Bl. 80). 424 Eigene Berechnung nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 23 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 27). 425 Vgl. Anlage 23 zum Kriegstagebuch. Betriebsprüfungen. Zeitraum 1.1.–31.3.1942 (ebd., Bl. 80). 426 Vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 318 mit Anm. 421, 422. 427 Vgl. BfM, Karl Lange, an Astrawerke AG am 27.5.1942, Rundschreiben Reihe X, Nr. 73 betr.: Herstellungsverbot für nicht kriegswichtige Maschinenbauerzeugnisse; Anlage: Liste der Produktionssteuerungsstellen des BfM (StAC, Astrawerke AG 9, Bl. 139–141).

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1942 rund ein Drittel ihrer Arbeitskräfte in der Büromaschinenproduktion beschäftigte, beispielsweise in einem internen Rundschreiben, dass sie zu den Unternehmen gehöre, für die die Herstellungsverbote nicht gelten würde, und kündigte weitere Verhandlungen an, um ihre Produktpalette zu erhalten.428 Anfang Juni drohte ein Konflikt zwischen den örtlichen Dienststellen (Landeswirtschaftsamt, den jeweiligen Arbeitsämtern, der Rüstungsinspektion, dem Vertreter des Wehrkreisbeauftragten, Anacker, und der IHK) auf der einen Seite und dem Vertreter des Bevollmächtigten für den Maschinenbau auf der anderen Seite. Die ersteren vertraten die Interessen der vom Arbeitskräfteabzug bedrohten Chemnitzer Maschinenbauunternehmen sowie deren Arbeitnehmer und betonten, dass eine Versetzung von Arbeitskräften sinnlos sei, wenn diese in ihrer Stammfirma für vordringliche Produktionen benötigt würden. Der Vertreter des Bevollmächtigten für den Maschinenbau dagegen fürchtete, um die ihm zugesagten Arbeitskräfte geprellt zu werden. Insbesondere betonte er die Notwendigkeit, den Engpassmaschinenproduktionen Facharbeiter zuzuweisen.429 Nach längerer Diskussion einigten sich die Beteiligten auf einen Kompromiss, der wohl eher als Sieg der vom Abzug bedrohten Firmen anzusehen ist und an dem die Furcht vor dem Unmut der Arbeiter nicht ganz unbeteiligt gewesen sein dürfte. Für jede deutsche Arbeitskraft, die wegen dringlicher Rüstungsfertigungen anders als ursprünglich gedacht, nur innerbetrieblich umgesetzt wurde, erhielten die Werkzeugmaschinenfertigungen zwei sowjetische Arbeiter vom Arbeitsamt zugesagt. Dies zeigt einerseits, dass die unterste Arbeitsebene zu praktikablen Kompromissen in der Lage war. Andererseits wird hier bereits deutlich, dass der ab Sommer 1942 intensiv einsetzende Zustrom sowjetischer Arbeiter in die Region den Willen der Beteiligten zu einschneidenden Maßnahmen senkte.430 Im Sommer 1942 versandeten die Bemühungen der Kommissionen 1942 regelrecht. Ende Juli 1942 bilanzierte der Berichterstatter des Arbeitsamtes Lugau, die Tätigkeit der verschiedenen Ausschüsse „verlief sich mehr und mehr in stundenlangen Sitzungen, Vor- und Nachprüfungen mit dem Erfolg, dass sich am Ende nichts oder nur sehr wenig zugunsten der Wehrmacht oder des Arbeitseinsatzes änderte. Ob ein solches Viel an Kommissionen in der heutigen Zeit noch tragbar ist, wage ich zu bezweifeln, denn es mindert zwangsläufig die noch immer autoritäre Arbeit solcher Einrichtungen.“431 Ähnlich beurteilten sei-

428 Vgl. Internes Eilrundschreiben Nr. 7 der Astrawerke am 24.6.1942 (StAC, Astrawerke AG 9, Bl. 123); Schneider, Unternehmensstrategien, S. 451–454. 429 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 8.6.1942, Aktennotiz betr. Kräfteumsetzung im Werkzeugmaschinenbau, S. 1 f. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 430 Vgl. ebd., S. 2 f. 431 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).

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ne Kollegen in den anderen Arbeitsämtern die Lage.432 Das Landesarbeitsamt Sachsen bemängelte zudem das Fehlen einer klaren Dringlichkeitseinstufung bei der Zuordnung von Arbeitskräften, insbesondere im zivilen Bereich.433 Im August 1942 schließlich erbrachte die Überprüfung von fünf Unternehmen in Südwestsachsen keine einzige Freistellung mehr.434 Die zunehmende Passivität bei den Auskämmungen ist vor allem darauf zurückzuführen, dass der neu ernannte Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, in den besetzten Ostgebieten in rücksichtsloser Weise ab Frühjahr 1942 Millionen von Zwangsarbeitern rekrutierte. Von diesen Arbeitskräften erhielt die Region, deren wehrmachtsrelevante Fertigung ab 1942 deutlich anwuchs, einen höheren Anteil als von allen früher rekrutierten Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Ab Juni 1942 trafen ausländische Arbeiter, insbesondere sogenannte Ostarbeiter in bisher nicht gekanntem Ausmaß in der Region ein,435 eine Tatsache, die die Bereitschaft, Unternehmen ihre Arbeitskräfte wegzunehmen, entschieden herabgesetzt haben dürfte. 3.7

Stilllegungen in der Konsumgüterindustrie in den Jahren 1941 bis 1942

Nach dem Scheitern der Stilllegungsaktion des Jahres 1940 drohten den südwestsächsischen Unternehmen bald schon neue Gefahren. Im Dezember 1940 einigten sich Reichswirtschaftsministerium, Munitionsministerium und OKW darauf, die Stilllegungen wieder aufzunehmen und die zivile Produktion weiter einzuschränken. Die Leitung wollte der Reichswirtschaftsminister übernehmen. Von ihm eingesetzte Kommissionen sollten den Handel auf nicht kriegswichtige Erzeugnisse überprüfen. Auf dieser Grundlage sollten dann Erzeugungsverbote für bestimmte Güter ausgesprochen werden.436 Auch die im Frühjahr 1941 eingerichteten Todt’schen Prüfungskommissionen437 erhielten das Recht, über die Stilllegung ziviler Produktionen zu entscheiden. Als Grundlage dafür sollten sie von den für die Festlegung der Produktion einzelner Industriezweige zuständigen Reichsstellen Hinweise auf jene Waren erhalten, deren Herstellung verboten oder begrenzt worden war. In Sachsen freilich gab der den Prüfungskommissionen vorgesetzte Rüstungsinspekteur Friedensburg die Anweisung, „Totalstilllegungen“ möglichst zu vermeiden, damit die regionale Wirtschaft

432 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 433 LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 434 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 11). 435 Vgl. Kap V. 4. 436 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 542 f., 552. 437 Vgl. Kap. IV.3.5.

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nicht zu sehr geschädigt würde, eine Einstellung die noch deutlich von der Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges geprägt ist.438 Tatsächlich scheint es im Frühjahr und Sommer 1941 zumindest in der Region Chemnitz nicht zu Stilllegungen größeren Ausmaßes gekommen zu sein; anders als in anderen Reichsteilen, wo die Prüfungskommissionen rigoros gegen die zivile Produktion vorgingen.439 Dafür waren die Kommissionen bei den Auskämmungen in der Region recht erfolgreich.440 Eine weitere Stilllegungswelle, die ab Oktober 1941 die sächsischen Textilbetriebe erfasste, wurde mit Kohlenmangel begründet,441 während nach Ansicht der Rüstungsinspektion IV eher Textilrohstoffmangel die Ursache darstellte. Sicher ist jedoch, dass die unzureichende Kohleproduktion schon im Frühjahr und Sommer 1941 für die Industriefertigung ein ernstes Problem darstellte.442 Diese Stilllegungen wurden „Abschaltungen“ genannt, weil die Unternehmen zwar ihre Produktion stilllegen mussten, jedoch weiter Aufträge annehmen und diese als Lohnarbeit an andere Unternehmen vergeben konnten. Als Nebeneffekt sollten dabei auch Arbeitskräfte für die Rüstungsfertigung freigestellt werden.443 In dieser Hinsicht blieben die Erfolge der „Abschaltung“ in Sachsen freilich gering. Wie üblich zog eine Flut von Einsprüchen das Verfahren in die Länge, nicht selten wurden die Stilllegungen zurückgenommen.444 So gelang es beispielsweise Johann-Georg Schulz, dem Chef der Flöhaer Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, die Stilllegung seines Zweigwerks Schweizerthal bei Burgstädt mit dem Hinweis zu verhindern, dass dort fortschrittliche Zellwollspinnverfahren getestet würden. Mit seinem Einspruch wandte er sich nicht an die eigentlich zuständigen Behörden oder Institutionen wie die Landeswirtschaftsämter, die Bezirksausgleichsstelle für öffentliche Aufträge oder die entsprechende Bezirksgruppe der Textilindustrie, sondern gleich direkt an das Reichswirtschaftsministerium.445 Auch von der örtlichen DAF-Kreiswaltung erhielt Schulz Unterstützung. In einem allerdings eher privat gehaltenen Schreiben vom Oktober 1941 drückte der Bezirksobmann der DAF-Kreiswaltung Flöha, Gerstenberger,446 sein Bedauern darüber aus, dass „es wieder die Textil438 Vgl. RüIn IV, Protokoll über die Sitzung der Prüfungskommission am 3.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/5, Bl. 21–23, Zitat 21RS). 439 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 552. 440 Vgl. Kap. IV. 3. 5. 441 Vgl. Müller, Mobilisierung, S. 575. 442 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 572 f. 443 Vgl. RüIn IV, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 150 f.). 444 LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 445 Johann-Georg Schulz an Oberregierungsrat Dr. Bruno Töpfer, RWM, am 15.10.1941 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 763, unpag.). Ende 1941 jedenfalls war das Zweigwerk Schweizerthal immer noch in Betrieb; vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz Aktiengesellschaft, Flöha, Geschäftsbericht über das Geschäftsjahr 1941 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 763, unpag.). 446 Vorname nicht zu ermitteln.

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industrie so stark erwischt hat bei den neuen Einschränkungen“.447 In diesem Zusammenhang äußerte er auch die Hoffnung, dass der Krieg bald zu Ende gehe und die Textilindustrie Versäumtes nachholen könne, ein Beleg für die auch unter den lokalen Verantwortlichen der Partei verbreitete Friedenssehnsucht, die von den ständigen Meldungen der NS-Propaganda über den bevorstehenden Sieg gegen die Sowjetunion befeuert wurde.448 Kam es in der Region Chemnitz aber dennoch zur „Abschaltung“ von Textilfertigungen, setzte diese vor allem weibliche Arbeitnehmer frei, die meist wegen Ortsgebundenheit oder aufgrund ihres relativ hohen Alters nicht anderweitig eingesetzt werden konnten. Auch die mangelnden Verkehrsverbindungen verhinderten in ländlichen Räumen immer wieder eine Versetzung an andere Arbeitsstellen.449 So bestand die Gefahr, dass die durch die „Abschaltung“ freigewordenen Arbeitskräfte sich in ihr Privatleben zurückzogen, anstatt weiter dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Im Frühjahr 1942 setzte eine weitere Stilllegungswelle ein, deren Hintergründe, Vorgeschichte und Organisation für die Reichsebene bislang weitgehend unbekannt sind und in der einschlägigen Forschungsliteratur allenfalls kursorisch behandelt werden.450 Für Baden belegt Roland Peter, dass die Stilllegungen im März 1942 einsetzten und vor allem Klein- und Kleinstbetriebe in Handwerk und Handel, in der Textil- und Bekleidungsindustrie sowie in der Druck- und der Baustoffindustrie betrafen.451 Auch in der Region Chemnitz war die Textilindustrie das Hauptziel der Stilllegungen;452 außerdem gerieten wie in Baden die Bekleidungsindustrie, die Druckereien, Steinbrüche und Ziegeleien ins Visier, daneben die wenigen Chemiebetriebe und die Papierindustrie im Arbeitsamtsbezirk Flöha.453 Die wie in Baden ab März 1942 einsetzenden Stilllegungen wurden hier mit ­Brennstoffersparnis,

447 DAF-Kreiswaltung Flöha, Kreisobmann Gerstenberger, an Johann-Georg Schulz am 1.10.1941 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 763, unpag.). 448 Vgl. Kallies, Niedergang, S. 216 f. 449 LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 450 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 173 f. 451 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 235–237. Für Thüringen erwähnt Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 210 f., ein Bilanzschreiben des Vorsitzers der Prüfungskommission von Juli 1942, das sich wohl auf eine vorausgegangene Aktion ähnlich der in Baden und Sachsen bezieht, ohne aber auf diesen Zusammenhang einzugehen. 452 Vgl. IHK Chemnitz am 4.6.1942, Wirtschaftsbericht für die Reichsbankstelle Chemnitz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 453 Vgl. WiKa Sachsen, Abteilung Industrie, an die IHK Dresden, Leipzig, Chemnitz, Plauen, Zittau am 21.3.1942 betr. Konzentration in der Bekleidungsindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 5, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Flöha, Berichte über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); sowie im April 1942 (ebd.); im Juni 1942 (ebd.); und Juli 1942 (ebd.).

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Rohstoffknappheit und nicht näher spezifizierten Bedürfnissen der Wehrmacht und der Rüstungsindustrie begründet.454 Für die Textilwirtschaft in Chemnitz lassen sich Hintergrund und Verlauf der Stilllegungen genauer ausleuchten. In den ersten Monaten des Jahres 1942 wandte sich die Wehrmacht im Textilbereich offenbar vom ursprünglichen Konzept der Auftragsstreuung ab und der Idee einer Konzentration der textilen Wehrmachtsfertigung zu. In Berlin verhandelten Ende Februar 1942 das für die Beschaffung von Bekleidung und Ausrüstung der Armee verantwortliche Wehrmachtbeschaffungsamt (WBA),455 die Rüstungsinspektionen, die für die Zuteilung der Rohstoffe zuständigen Reichsstellen und die zuständigen Fachgruppen der Reichsgruppe Industrie darüber, welche Textilfirmen weiter Wehrmachtsaufträge erhalten und welche stillgelegt werden sollten.456 Bereits Mitte Februar 1942 hatte Wirtschaftsminister Funk eine Weisung zur „Fortführung der Konzentration der Textilerzeugung“ erlassen, in der er die jetzt geplanten Stilllegungen als „2. Welle“, 457 vermutlich auf die bisherige Abschaltaktion bezogen, bezeichnete. Das Produktionsvolumen der Textilerzeugung sollte verkleinert werden. Grundgedanke sei dabei die Entlastung von stark mit Rüstungsaufträgen belasteten Gebieten sowie die Konzentration der Textilfertigung auf „Höchstleistungsbetriebe“ sowie solche, deren „Produktionskraft“ nicht für die Rüstung nutzbar sei.458 Die Fachgruppen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie sollten in Zusammenarbeit mit den für die Rohstoffzuteilung zuständigen Verteilungs- bzw. Reichsstellen das künftige Produktionsvolumen der Textilindustrie festlegen und Listen mit Vorschlägen zu schließender Unternehmen zusammenstellen. Diese Listen sollten die Bezirksgruppen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie mit den zuständigen Dienststellen der Mittelebene abstimmen.459 Für Sachsen schlugen die Reichsstellen 925 Textilbetriebe zur Schließung vor, davon waren

454 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 19); Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Untergruppe Chemnitz-Erzgebirge, an die IHK Chemnitz am 8.4.1942 betr. Stilllegungen in der Textilveredelungsindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 5, unpag.). 455 Vgl. zum WBA RüIn IV, Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 24). 456 RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/4, Bl. 178–209, hier 190). 457 RWM am 16.2.1942, Runderlass Nr. 82/42 LWÄ betr. Fortführung der Konzentration der Textilerzeugung. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.). 458 Ebd. 459 Vgl. ebd.; IHK Chemnitz, Linse, am 18.2.1942, Aktennotiz betr. Stilllegungsaktion in der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.); für die Textilindustrie siehe RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 19); für die Druckindustrie LWA Sachsen an IHK Chemnitz, Dresden, Leipzig, Plauen, Zittau, Görlitz am 20.3.1942, Rundanordnung Nr. 124/42 WAIK betr. Stilllegung von Betrieben der Wirtschaftsgruppe Druck (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 6, unpag.).

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87 bereits abgeschaltet. In einer gemeinsamen Sitzung beschlossen die Institutionen der Mittelebene, die Überprüfung der Stilllegungsvorschläge an die regio­ nale Ebene zu verweisen und nur strittige Fälle in einer auf der Mittelebene gebildeten Kommission verhandeln zu lassen,460 obwohl dies in Funks Weisung nicht vorgesehen war. Es entsprach jedoch der im Zusammenhang mit den Auskämmungen bereits im Herbst 1941 verfolgten sächsischen Politik, Entscheidungen zu dezentralisieren, indem man sie regionalisierte. In Südwestsachsen trafen sich Anfang März 1942 die regionalen Untergruppen der Bezirksgruppe Sachsen, Chemnitz-Erzgebirge bzw. Vogtland mit dem Rüstungskommando Chemnitz sowie den jeweils zuständigen Arbeitsämtern, Industrie- und Handelskammern, den DAF-Kreiswaltungen und den ­NSDAP-­Kreiswirtschaftsberatern. Sie stimmten der Schließung von 325 Textilbetrieben mit 5 600 Mitarbeitern im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz zu. Für 16 Unternehmen mit knapp 550 Mitarbeitern legten sie Ersatzvorschläge vor.461 Bereits diese Zahl verdeutlicht, dass es sich bei den ins Auge gefassten Unternehmen ähnlich wie in Baden mehrheitlich um kleine Unternehmen mit geringer Mitarbeiterzahl handeln musste, beschäftigten diese doch im Schnitt lediglich 17 Mitarbeiter. Sachsenweit wurde bei knapp 770 der ursprünglich über 900 vorgeschlagenen Betriebe eine Schließung befürwortet, weitere 13 zur Prüfung zurückgestellt. Die Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie erwartete einen Arbeitskräfteverlust von etwa 10 Prozent für ihren Bereich. Nach der Aktion würden von den ursprünglich etwa 270 000 Textilarbeitsplätzen bei Kriegsbeginn lediglich 160 000 übrig bleiben.462 Auffällig ist, dass die NSDAP-Gliederungen bei den Stilllegungsbeschlüssen in die die einzelnen Firmen betreffenden Entscheidungsprozesse viel stärker eingebunden waren als bei den Auskämmungen. Zu allen Sitzungen waren die jeweiligen NSDAP-Kreiswirtschaftsberater sowie Vertreter der DAF eingeladen und in der Regel auch anwesend. Dies wird daran gelegen haben, dass die Stilllegungen viel stärker als die Auskämmungen, die als temporärer Arbeitskräfteentzug verstanden werden konnten, in die wirtschaftliche und soziale Struktur der Region einzugreifen drohten. Mit der Ausfertigung der Stilllegungsbescheide an die einzelnen Firmen begann die eigentliche Arbeit freilich erst. Wie bereits bei früheren Stilllegungsaktionen hagelte es Proteste der betroffenen Firmen, die aus unterschiedlichsten Gründen auf Gehör stießen. So befürworteten lokale Vertreter von NSDAP, Kammern und Wirtschaftsgruppen immer wieder die Aufhebung von

460 Vorbesprechung zum Zwecke der Fortführung der Konzentration in der Textilerzeugung am 27.2.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.). 461 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 19). 462 Schlussbesprechung zum Zwecke der Fortführung der Konzentration in der Textilerzeugung am 9.3.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.).

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­ tilllegungen, weil sie es nicht wagten, an der Front für das Vaterland dienenden S Soldaten oder verdienten alten Parteigenossen ihre Firma wegzunehmen. Außerdem schützten die DAF und NSDAP-Kreiswirtschaftsberater immer wieder Unternehmen mit dem Hinweis, dass der Betrieb „sozialpolitisch in Ordnung“ sei. Zwar wurden für die geretteten meist andere Unternehmen zur Stilllegung vorgeschlagen, doch besaßen diese zum Teil weniger Arbeitskräfte.463 Den betroffenen Unternehmen gelang es auch immer wieder, örtliche Parteidienststellen,464 die lokale Verwaltung oder, dies ist zwar nicht für die Textilindustrie, aber für einige Druckereien belegt,465 ihre Kunden zu Unterstützungsschreiben gegen ihre Schließung zu mobilisieren. So setzte sich auch der Bürgermeister der Stadt Zschopau in mindestens einem Fall für ein Trikotagenunternehmen ein, indem er anführte, dass „gerade im Erzgebirge mit seinen Witterungsunbillen die von K. gefertigte Trikotwäsche bei der Betriebsschließung ein sich stark bemerkbar machender Ausfall sein würde“.466 Das Ausmaß der Unterstützung, das die einzelnen Firmeninhaber für ihren Protest gegen die Stilllegungen erhielten, illustriert die tiefe Abneigung in der Gesellschaft gegen diese Maßnahmen. Gerade in einer Region, die wesentlich durch kleinere und mittlere Unternehmen geprägt war, mussten Stilllegungen als Bedrohung der Wirtschaftskraft und der Identität empfunden werden. Sie stießen daher auf sehr viel stärkeren Widerstand als die Auskämmungen, die zwar eine schleichende Auszehrung bewirkten, aber bei den Unternehmen dennoch die Illusion nähren konnten, dass sie bis Kriegsende irgendwie bestehen könnten und es danach wieder aufwärts ginge. Zu diesen lokalen Bestrebungen kamen überregionale Entwicklungen in der Kriegswirtschaft, die die gerade begonnene Konzentration in der Textilwirtschaft konterkarierten. Ende Mai 1942 fand in Chemnitz eine Besprechung der regionalen Verantwortlichen mit der Bezirksuntergruppe Textil Chemnitz-Erzgebirge statt. Einer der Vertreter der Bezirksuntergruppe kolportierte unter Hinweis auf eine nicht näher definierte „Besprechung“ in Berlin, dass bei der gerade laufenden Stilllegungsaktion der zu erwartende Anstieg des Wehrmachtsbedarfs außer Acht gelassen worden sei. Der Vertreter der Bezirksuntergruppe berichtete, dass in den nächsten Tagen sogar geprüft werde, welche der stillgelegten Textilbetriebe wieder in Betrieb genommen werden sollten. Deshalb riet er dazu, die anstehenden Betriebsschließungen eher dilatorisch zu behandeln. 463 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 22.4.1942, Aktennotiz betr. Stilllegungsaktion der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.); IHK Chemnitz, Linse, am 16.6.1942, Aktennotiz betr. Stilllegungsaktion in der Textilveredelungsindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 5, unpag.). 464 Vgl. z. B. NSDAP-Ortsgruppe Siegmar-Schönau II am 23.3.1942, Bescheinigung für Firma Bernhard Lorenz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 9, unpag.). 465 Vgl. z. B. Astra- und Hamann-Vertriebs GmbH, Chemnitz, an die Wirtschaftsgruppe Druck, Bezirksgruppe Sachsen, am 19.5.1942 betr. Zimmer, Taura, Buch- und Kunstdruckerei (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 6, unpag.). 466 Bürgermeister der Stadt Zschopau am 31.3.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.).

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Folgerichtig wurden die vier in der Besprechung behandelten Stilllegungen erst einmal ausgesetzt.467 Tatsächlich erhielt die sächsische Konsumgüterindustrie im Verlauf des ersten Halbjahres 1942 in erheblichem Umfang Aufträge für das Winterbekleidungsprogramm der Wehrmacht, außerdem zusätzliche zivile Aufträge in Folge der Bombenschäden in Nord- und Westdeutschland. Die sächsischen Wirkereien und Strickereien hatten beispielsweise eine Million Hosen und 500 000 Paar Handschuhe zusätzlich zu fertigen.468 Auch in der Region Chemnitz machte sich die Erhöhung des Auftragsvolumens deutlich bemerkbar. Beispielsweise hatte eine Spinnerei im Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz, die bei voller Auslastung rund 40 Tonnen Zellwolle verarbeiten konnte, auf Anweisung der zuständigen Reichsstelle plötzlich 71 Tonnen zu verspinnen.469 Das Arbeitsamt Flöha beobachtete, dass zur Stilllegung vorgesehene Betriebe plötzlich Aufträge in „vordringlicher Fertigung mit kurzfristigen Lieferterminen“ vorweisen konnten.470 Die Auftragssteigerungen machten, so die Abteilung Industrie der Wirtschaftskammer Sachsen, „eine Abmilderung der vorgesehenen Konzentrationsmaßnahmen erforderlich“.471 Deshalb habe die Aktion auch nur einen begrenzten Erfolg bei der Gewinnung zusätzlicher Arbeitskräfte für die Rüstung haben können.472 Im Hinblick auf den Ertrag an Arbeitskräften hatten die Arbeitsämter der Region die Stilllegungen der Konsumgüterindustrie von Anfang an auch deshalb mit einer gewissen Skepsis beurteilt, weil die entsprechenden Firmen durch Auskämmungen und Einberufungen bereits viele ihrer leistungsfähigen und damit für die Rüstungswirtschaft attraktiven Arbeitskräfte verloren hatten. Schon wenn man die Altersstruktur der Textilbetriebe betrachte, dürfe man sich nicht allzu viele Hoffnungen machen, erklärte das Arbeitsamt Chemnitz zu Beginn des Monats März 1942. Das Arbeitsamt Annaberg wies überdies auf die „Ortsgebundenheit“ vieler Arbeiterinnen hin.473 Die weitere Entwicklung 467 IHK Chemnitz, Linse, am 30.5.1942, Aktennotiz betr. Stilllegungsaktion in der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 468 Vgl. Wirtschaftskammer Sachsen, Abteilung Industrie, am 29.7.1942, Kriegsproduktion und Arbeitseinsatz im Zusammenhang mit den Stilllegungsmaßnahmen, S. 3–10, insbes. 3 f. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.). 469 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Monat März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1942 (ebd.). 470 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 471 Vgl. Wirtschaftskammer Sachsen, Abteilung Industrie, am 29.7.1942, Kriegsproduktion und Arbeitseinsatz im Zusammenhang mit den Stilllegungsmaßnahmen, S. 3 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 10, unpag.). 472 Ebd., S. 9. 473 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.);

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sollte den Skeptikern Recht geben. Das Arbeitsamt Lugau betonte nach einem Monat, in der Strumpfindustrie habe es Klein- und Kleinstbetriebe getroffen, „die das Greisenalter mit ihren Gefolgschaften nahezu erreicht haben“.474 Die Stilllegung von etwa 40 Betrieben habe für den Arbeitseinsatz kaum Erfolge gebracht.475 Im Bereich des Arbeitsamtes Chemnitz wurden neben Kleinbetrieben mit vorwiegend älteren Arbeitnehmern auch Unternehmen „stillgelegt“, die bereits „abgeschaltet“ waren, also ohnehin nur noch als eine Art Auftragszwischenhändler fungierten.476 Der Blick auf einzelne Firmen illustriert die Beobachtungen der Arbeitsämter. So beschäftigte etwa der Textilveredelungsbetrieb Oskar Schmalfuß lediglich Arbeitskräfte, die über 60 Jahre alt waren.477 Eine zur Stilllegung vorgesehene Wäschefabrik im Flöhaer Arbeitsamtsbezirk besaß zwar 37 Arbeitskräfte. Dies waren aber überwiegend verheiratete Teilzeitkräfte. Lediglich sechs davon konnten in eine kriegswichtige Fertigung weitervermittelt werden.478 Bei einer Weberei in Frankenberg arbeiteten zwölf männliche Weber im Alter zwischen 62 und 76 Jahren, ein männlicher Lehrling sowie 23 z. T. verheiratete Frauen, von denen immerhin sechs über 55 Jahre alt waren.479 Wurden Unternehmen dennoch stillgelegt, so bestand gerade im ländlicheren Raum die bereits bei der „Abschaltungsaktion“ geschilderte Gefahr, dass nicht voll leistungsfähige ältere Arbeitskräfte sowie Frauen, die zusätzlich zur Berufsarbeit eine Familie zu versorgen hatten, der gewerblichen Kriegswirtschaft ganz verloren gingen, weil sie den Strapazen längerer Anfahrtswege zu anderen Arbeitsstätten nicht gewachsen waren.480 Das Arbeitsamt Glauchau etwa wies darauf hin, dass die Stilllegungen, geografisch gesehen, gerade im Meeraner Webereibezirk erfolgten, wo die Belegschaften ohnehin schon stark ausgekämmt waren und keine Möglichkeiten zur ortsnahen Beschäftigung in Wehrmachtsfertigungen bestanden, während im es im Hohenstein-Oberlungwitzer Teil des Arbeitsamtsbezirks, der stärker in die kriegswichtige Fertigung eingebunden war, kaum zu Stilllegungen kam. Die Verkehrsverhältnisse und die

AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 474 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); vgl. auch AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 475 Vgl. ebd. 476 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 477 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 16.6.1942, Aktennotiz betr. Stilllegungsaktion in der Textilveredelungsindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 5, unpag.). 478 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 479 Vgl. Reupert & Uhlemann an IHK Chemnitz vom 23.3.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegung 9, unpag.). 480 Vgl. v. a. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).

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Lage der Arbeitszeiten in den Rüstungsbetrieben, die häufig auch in Nachtarbeit produzierten, machten den Einsatz der verheirateten älteren weiblichen Arbeiterinnen aus Meerane und Umgebung in das Gebiet von Hohenstein-Oberlungwitz unmöglich.481 Selbst die Versetzung in verwandte Berufszweige stieß auf Schwierigkeiten. Arbeitskräfte, die von der mit leichten Webstühlen arbeitenden Buntweberei in die zur Schwerweberei gehörenden Segeltuchproduktion versetzt worden waren, wurden reihenweise krank und ließen sich vom Amtsarzt bestätigen, dass sie den gesundheitlichen Anforderungen der Schwerweberei nicht gewachsen waren. Die größte Sorge des Glauchauer Arbeitsamtes war daher, den gänzlichen Rückzug älterer Arbeiter und Arbeiterinnen vom Arbeitsmarkt zu verhindern.482 Wenn Konsumgüterunternehmen in dieser Situation branchenfremde Wehrmachtsfertigungen übernahmen, um ihre Stilllegung zu verhindern,483 so wirkte dies auf der einen Seite zwar weiter in Richtung einer ungesteuerten Dezentralisierung der Rüstungsproduktion, vermochte aber auf der anderen Seite Arbeitskräfte im Arbeitsprozess zu halten, die der Kriegswirtschaft sonst verloren gegangen wären. Im Mai 1942 bilanzierte das Arbeitsamt Chemnitz, die Stilllegungsaktion habe „wohl eine Unmenge Arbeit verursacht, das Ergebnis ist jedoch äußerst gering“. Diejenigen Betriebe, die noch für die Rüstung geeignete Arbeitskräfte beschäftigten, hätten durch ihre Einsprüche die Aufhebung der Stilllegung oder wenigstens eine Verlängerung der Auslauffrist erreicht. Wirklich stillgelegt worden seien nur kleinste Betriebe, bei denen überwiegend ältere und körperbehinderte Personen arbeiteten.484 Die Arbeitsämter der ländlichen Räume hatten ähnliche Beobachtungen gemacht.485 Insbesondere im Arbeitsamtsbezirk Glauchau hatten es die von Stilllegung bedrohten Textilunternehmen verstanden, sich branchenfremde Wehrmachtsaufträge zu sichern. Aus Sicht der IHK Chemnitz war überall in der Region die Gewinnung von Arbeitskräften weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Die Stilllegungen hätten keinen Beitrag zur Lösung des Arbeitskräfteproblems leisten können.486 481 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 482 Vgl. AA Glauchau, Berichte über den Arbeitseinsatz im Mai und Juni 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 483 Vgl. z. B. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 484 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 485 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); sowie im Juni 1942 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächHStA Dresden, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 486 IHK Chemnitz am 4.6.1942, Wirtschaftsbericht für die Reichsbankstelle Chemnitz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.).

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Eine etwas andere, übertrieben optimistische Bilanz zog die Abteilung Industrie der Wirtschaftskammer Sachsen Anfang Juli 1942. Während die Arbeitsämter den zahlenmäßigen Ertrag an Arbeitskräften für den gesamten Wehrkreis IV, der ja zusätzlich zu Sachsen auch das Hallenser-Merseburger Industriegebiet und Teile des Sudetenlandes umfasste, mit lediglich 8 500 angaben, bezifferte die Abteilung Industrie das Ergebnis allein für Sachsen auf 13 200 Freistellungen. Freilich zählte die Abteilung Industrie auch die Mitarbeiter jener Firmen mit, die sich durch eine Umstellung auf eine branchenfremde Rüstungsfertigung vor der Stilllegung gerettet hatten.487 Darüber hinaus hob sie zusätzlich die nicht messbaren Ergebnisse der Stilllegungsaktion hervor und wertete es als Erfolg, dass sich Firmen nun stärker um Aufträge höherer Dringlichkeitsstufen bemühten und dass, wie sie meinte, Unternehmen nunmehr rationellere Arbeitsweisen anstrebten.488 Im August 1942 gaben die Wirtschaftskammer Sachsen und das Landeswirtschaftsamt schließlich eine weitgehende Entwarnung. Zwar liefen zu dieser Zeit noch Einspruchsverfahren, außerdem sollten sachsenweit noch etwa 110 Stilllegungsbescheide an Hersteller von Körperpflegemittel ergehen, die Aktionen in der Metall- und Blechwarenindustrie waren jedoch abgeblasen worden, weitere Planungen gab es nicht.489 Tatsächlich scheint es in der Region Chemnitz in den verbleibenden Monaten des Jahres 1942 noch zu kleineren Stilllegungsaktivitäten gekommen zu sein. Zum Beispiel schlug die Wirtschaftsgruppe Textil für den Arbeitsamtsbezirk Annaberg im Oktober 1942 vier Betriebsschließungen vor, von denen jedoch höchstens eine einzige, die einen Betrieb mit 16 Arbeitskräften betraf, auch verwirklicht wurde. Auch im Glauchauer Amtsbezirk erfolgten im November noch einige kleinere Stilllegungen.490 Dagegen beobachtete das Arbeitsamt Flöha bereits im August 1942, dass stillgelegte Textilbetriebe wieder verstärkt in den Produktionsprozess eingegliedert wurden.491 Die übrigen Arbeitsämter der Region verzeichneten im zweiten Halbjahr 1942 ebenfalls keine Betriebsschließungen größeren Umfangs.

487 Vgl. Wirtschaftskammer Sachsen, Abteilung Industrie, am 6.7.1942, Zwischenergebnis der Rationalisierungsaktion, S. 2–4 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 488 Vgl. ebd., S. 4 f. 489 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 4.8.1942, Aktennotiz betr. Stilllegung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 490 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 491 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

Arbeitskräftefluktuation

3.8

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Bilanz der Auskämmungen und Stilllegungen 1939 bis 1942

Betrachtet man die quantitativen Erfolge der regionalen Auskämmungs- und Stilllegungsmaßnahmen, so bleibt zunächst festzuhalten, dass die Auskämmungen quantitativ gesehen und in der Einschätzung der Zeitgenossen erfolgreicher waren als die Stilllegungsmaßnahmen, die viel größere Proteste hervorriefen, weil sie nicht als vorübergehende Kriegsmaßnahmen, sondern als möglicherweise unumkehrbare Betriebsauflösungen und als Bedrohung der wirtschaftlichen Identität der Region angesehen wurden. Als weiteren Grund für die Erfolglosigkeit der Stilllegungskampagnen in Südwestsachsen nannten Zeitgenossen immer wieder den Erfolg der Auskämmungsmaßnahmen, die dafür sorgen würden, dass viele zur Stilllegung vorgesehene Betriebe überhaupt keine Arbeitskräfte mehr besäßen, die in die Rüstungswirtschaft versetzt werden könnten. Eine umfassende quantitative Analyse der Auskämmungstätigkeit ist aufgrund des lückenhaften Quellenmaterials nicht möglich. Die vorliegenden Zahlenreihen für die Region belegen für die Zeit von Juni 1940 bis Ende 1941 die Auskämmung von rund 19 000 Arbeitskräften durch die Prüfungskommissionen im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz. Es ist jedoch zu vermuten, dass z. B. die Aktivitäten der Arbeitsämter unterhalb der Kommissionen hier nicht mit einbezogen sind, ebenso wenig wie die Versetzungen, die etwa im Rahmen von Stilllegungen erfolgten. Den Erfolg der Auskämmungen an der Zahl der Rüstungsarbeiter in der Region zu messen, ist ebenfalls nicht möglich, weil die Region wegen ihres relativ schwachen Rüstungssektors viele Arbeitskräfte per Dienstverpflichtung in andere Reichsregionen abzugeben hatte, ohne dass sich dies genau quantifizieren ließe. Ein weiterer Faktor, der sich stark auf die Auskämmungen auswirkte, waren die zunehmenden Einberufungen, die parallel zu den Auskämmungen die Belegschaften der betroffenen Unternehmen reduzierten. Die Analyse branchenbezogener Verschiebungen von Arbeitskräften, die eine indirekte Annäherung an Erfolge des Auskämmungsgeschehens ermöglichen, ist für die Zeit zwischen 1939 und Sommer 1942 lediglich auf gesamtsächsischer Ebene möglich. Insgesamt schrumpfte das sächsische Arbeitskräftereservoir in den ersten drei Kriegsjahren auf vier Fünftel des Vorkriegsniveaus. Die Zahl der Textilarbeiter reduzierte sich um rund ein Drittel, während die Zahl der Metallarbeiter etwa gleich blieb. Freilich schrumpfte auch die Zahl der Hilfsarbeiter um mehr als die Hälfte.492 Es ist nicht ­auszuschließen, dass

492 Eigene Berechnungen nach arbeitsbuchpflichtigen Arbeitern und Angestellten im LAA-Bezirk Sachsen am 1.3.1939, aufgegliedert nach Berufen (Form ABU 4); SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/3, unpag.). Die Arbeiter und Angestellten und die Beschäftigten im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen nach Berufsgruppen und Arbeitsamtsbezirken nach der Arbeitsbuchstatistik am 30.9.1942. In: Der Arbeits-

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ein Teil der 1939 noch als Hilfsarbeiter gezählten Personen inzwischen angelernt worden war und 1942 als Metallfacharbeiter gezählt wurde. Legt man die qualitativen Quellen zugrunde, so ist auch für die Untersuchungsregion von einer erheblichen Arbeitskräfteumschichtung von der Textilbranche weg hin zum metallverarbeitenden Gewerbe auszugehen, die ein indirekter Nachweis für die Wirksamkeit von Auskämmungsmaßnahmen wäre. Quantifizierende Aussagen lassen sich für die Region allerdings erst für die Stichjahre 1943 und 1944 treffen. Darauf wird später noch einzugehen sein. Die institutionelle Ebene lässt sich viel besser beleuchten. Erstmals ist im vorliegenden Kapitel die Arbeitsweise der regionalen und lokalen Ämter und Institutionen bei Auskämmungen und Stilllegungen systematisch untersucht worden. Von großer Bedeutung ist dabei auch die Einbeziehung der für Sachsen ebenfalls noch nicht untersuchten Mittelebene. Dabei lässt sich bei den Auskämmungen eine ähnliche Entwicklung feststellen wie bei den Einberufungen. Sogar früher noch als dort, nämlich im Frühjahr 1940, formierte sich über die Auskämmungskommissionen ein Arbeitszusammenhang auf der mittleren und der regionalen Ebene, der über alle Brüche im Handeln auf der Reichsebene hinweg für kontinuierliche Aufgabenbewältigung in der Arbeitskräftelenkung der Region sorgte. Wie bei den Einberufungen war das charakteristische Kennzeichen die Zusammenarbeit mehrerer Herrschaftsträger in gemeinsamen Gremien, wodurch neue Kommunikationszusammenhänge und „interinstitutionelle Koordinationsgremien“493 geschaffen wurden. In den Auskämmungskommissionen vertreten waren als zivile Behörde die Arbeitsverwaltung, das Rüstungskommando als Teil der militärischen Verwaltung sowie, anders als in der Berliner Weisung vorgesehen, die Industrie- und Handelskammern als Vertreter der regionalen Wirtschaft. Zudem bekam mit der DAF eine Parteigliederung im Chemnitzer Raum Mitwirkungsmöglichkeiten. Unter diesen Bedingungen stellen sich die im Frühjahr 1941 auf Todts Betreiben neu geschaffenen Prüfungskommissionen im Untersuchungsgebiet anders als auf der Reichsebene nicht als institutioneller Bruch dar. In der sächsischen Mittelebene sowie in der Region Chemnitz überwiegen eher Elemente der Kontinuität: Zunächst wurde hier, anders als in der Mehrzahl der anderen Wehrkreise, der Rüstungsinspekteur zum Leiter der wehrkreisweiten, dem Ministerium Todt unterstellten, Prüfungskommission ernannt. Rüstungsinspekteur Friedensburg bestimmte nun kurzerhand die bereits bestehenden Landesarbeitsamts- bzw. Arbeitsamtsausschüsse zu Organen der Prüfungs-

einsatz in Sachsen, (1942) 10, S. 7. Verwendet wurden die Kategorien „5. Metallwerker und zugehörige Berufe“, „9. Textilwerker“, „23. Hilfsarbeiter aller Art“. Möglicherweise ist die Umschichtung auch dadurch nicht vollständig abgebildet, da es sich um eine Aufgliederung nach Berufsgruppen und nicht nach Wirtschaftszweigen handelt. Zu letzteren war jedoch kein Zahlenmaterial verfügbar. 493 Hachtmann, Elastisch, S. 60.

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kommission. Diese sogenannten Sonder- bzw. Unterprüfungskommissionen setzten ihre seit Frühsommer 1940 laufende Überprüfung der Unternehmen auf entbehrliche Arbeitnehmer fort, während sie die ihnen von Todt zusätzlich zugewiesenen Kompetenzen wie die Stilllegung von Betrieben anscheinend zunächst kaum nutzten. Im Zuge der sogenannten Umsteuerung der Rüstung ab Sommer 1941 wurden sie verstärkt in die Steuerung der Zuweisung von Arbeitskräften an einzelne Fertigungen eingebunden. Sie entwickelten ein Quotierungssystem für die Abgabe von Arbeitskräften nach außerhalb der Region, die Verteilung von Arbeitskräften an einzelne Arbeitsamtsbezirke sowie deren Zuweisung an einzelne Fertigungen. Zudem verstärkten sie die Überprüfung des Bedarfs einzelner Unternehmen. Die Bedeutung der ja ohnehin durch die Kriegslage bald obsolet gewordenen „Umsteuerung“ liegt daher aus regionaler Perspektive nicht in den quantitativen Ergebnissen, sondern in ihrer Rolle als Katalysator für neue Verfahrensweisen, die lange über die „Umsteuerung“ hinaus Bedeutung behielten. Der für die Auskämmungen auf regionaler und mittlerer Ebene geschaffene institutionelle Aufbau wurde auch für den Entzug von Arbeitskräften aus der Wirtschaft für die Wehrmacht genutzt. Weniger eng ist dagegen der Zusammenhang mit den für die Stilllegungen befassten Gremien. Hier handelte es sich eher um ad hoc zusammengestellte Kommissionen, was auch damit zu tun hat, dass Stilllegungen von den für die Arbeitskräftelenkung Verantwortlichen in der Region nicht wie die Auskämmungen als ständige Aufgabe angesehen wurde. Vielmehr ist regional – und auf der Mittelebene mindestens bei der Rüstungsinspektion – die Tendenz zu beobachten, Stilllegungen als zu massiven Eingriff in die regionale Wirtschaftsstruktur zu begreifen, und in diesem Bereich nur dann tätig zu werden, wenn es sich aufgrund von Anweisungen von Reichsinstitutionen, wie etwa bei der Stilllegungswelle im Frühjahr 1942, gar nicht vermeiden ließ. Neben den auch bei den übrigen Maßnahmen der Arbeitskräftelenkung tätigen Institutionen wie den Arbeitsämtern, dem Rüstungskommando und der IHK, waren bei den Stilllegungen weitere Institutionen involviert, insbesondere die Vertreter verschiedener Untergliederungen der Wirtschaftsgruppen. Daneben sticht aber das Engagement der NSDAP-Parteidienststellen und -gliederungen wie der NSDAP-Kreiswirtschaftsberater und der DAF hervor, das sich in der Regel stark bremsend auf die Stilllegungsaktivitäten auswirkte. Bei den Auskämmungen dagegen war zwar die DAF zumindest teilweise in den entsprechenden Gremien vertreten; ihr Interesse und der von ihr ausgeübte Einfluss scheint in diesem Bereich jedoch eher gering gewesen zu sein, sodass die Fachämter und fachlichen Institutionen dort unbeobachteter und freier von direkten Parteieinflüssen agieren konnten.

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4.

Im Schatten des Krieges

Zwangsarbeit: Kriegsgefangene und zivile ausländische Arbeitskräfte494

Der Begriff „Zwangsarbeit“, seit dem Beginn der Diskussion um die Entschädigung der von den Nationalsozialisten zwangsweise zur Arbeit in der deutschen Kriegswirtschaft eingesetzten Menschen häufig benutzt, ist in seiner Abgrenzung keineswegs eindeutig.495 So gelten, juristisch gesehen, die Kriegsgefangenen nicht als Zwangsarbeiter. Sie wurden daher auch nicht in das im Jahr 2000 verabschiedete Gesetz zur Entschädigung der nationalsozialistischen Zwangsarbeiter einbezogen.496 Die folgende Darstellung lehnt sich an die von historischen Interessen geleitete Definition von Mark Spoerer an, die zwei Merkmale betont: Zwangsarbeiter waren erstens dadurch charakterisiert, dass sie keine Vertragsfreiheit bzw. arbeitsvertragliche Rechte besaßen, sondern staatlicherseits zur Arbeitsaufnahme oder Fortführung eines Arbeitsverhältnisses gezwungen werden konnten. Dieses erste Kriterium traf nach der zunehmenden Einschränkung und schließlich fast völligen Abschaffung des freien Arbeitsmarktes auch auf viele deutsche Arbeitnehmer zumindest teilweise zu. Zweitens aber, und dies betraf die Deutschen nicht, befanden sich Spoerer zufolge Zwangsarbeiter „fern der Heimat“. Damit meint er nicht nur ihre geografische Entfernung von ihrem Zuhause, sondern auch ihre rechtliche Unterprivilegierung gegenüber den Deutschen. Diese ergab sich aus der Unterstellung der Zwangsarbeiter unter fremde Rechtsverhältnisse, die nicht nur diktatorisch waren, sondern auch noch alles von ihnen als nichtdeutsch bzw. nichtarisch Definierte diskriminierten. Zwangsarbeiter hatten im Gegensatz zu deutschen, als „arisch“ eingestuften Arbeitern geringe bis gar keine Möglichkeiten, die Umstände ihres Arbeitseinsatzes zu beeinflussen.497 Innerhalb der so definierten Zwangsarbeiter gab es höchst unterschiedliche Gruppen mit sehr unterschiedlichen Handlungsspielräumen und Chancen, den nationalsozialistischen Zwangsarbeitereinsatz zu überleben. Entscheidend dafür waren vor allem ihr formaler Status als „ausländische Zivilarbeiter“, Kriegsgefangene oder Zivil- bzw. KZ-Häftlinge und ihre nationale bzw. ethnische Zugehörigkeit.498 Nicht immer erlauben die zeitgenössischen Begriffe eine genaue 494 Kap. IV.4 und V.4 stellen eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Schumann, Arbeiter, dar. 495 Vgl. Hornung/Langthaler/Schweitzer, Zwangsarbeit, S. 578 f. 496 Vgl. Mark Spoerer, Zwangsarbeit im Dritten Reich und Entschädigung. Verlauf und Ergebnisse einer wissenschaftlichen und politischen Diskussion. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, S. 89–106, hier 100. 497 Vgl. ders. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 11–18, hier 15. Siehe auch ders., Differenzierung, S. 487. 498 Vgl. ebd., S. 569–576. Als weitere Faktoren, die die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Zwangsarbeitern bestimmten, nennt Spoerer die Unterbringung in Stadt oder Land, das Besitzen einer passenden Ausbildung oder anderer in der Situation günstige Eigenschaften sowie das Geschlecht.

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Differenzierung. Dennoch werden sie im Folgenden verwendet, da die Quellen ohne diese Bezüge kaum zu erschließen sind. Differenzierungen jenseits der zeitgenössischen Quellenbegriffe bzw. Vergleiche zwischen den Gruppen werden im Verlauf der Darstellung stärker aufgefächert. Wie oben erwähnt, sind zur Zwangsarbeit in der Region Chemnitz bereits verschiedene Aufsätze und Studien erschienen.499 Im folgenden Kapitel steht die bislang wenig erforschte quantitative Dimension des Zwangsarbeitereinsatzes in der Region bis zum Sommer 1942 im Vordergrund. Da die Zwangsarbeiterbeschäftigung ihren Ausgang in der Landwirtschaft nahm und wesentliche Konzeptionen des NS-Regimes zum Umgang mit ausländischen Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen zuerst an den tschechischen und polnischen Landarbeitern entwickelt wurden,500 wird auch dieser Wirtschaftsbereich in die Darstellung mit einbezogen. Ausländische Arbeiter hatte es in der Region Chemnitz bereits vor Kriegsbeginn gegeben. Die Landwirtschaft beschäftigte Saisonarbeiter zum Beispiel aus Polen, Jugoslawien, Bulgarien und der Tschechoslowakei.501 Letztere wurden bei Kriegsausbruch mithilfe der Gestapo gewaltsam daran gehindert, in ihre Heimat zurückzukehren – faktisch der erste Schritt zur Umwandlung arbeitsvertraglicher Bindungen in ein Zwangsarbeiterverhältnis.502 Bereits unmittelbar nach dem Ende der Kampfhandlungen begann die deutsche Arbeitseinsatzverwaltung in den besetzten polnischen Gebieten mit der Zwangsrekrutierung polnischer Arbeitskräfte.503 Mehrere Wochen, bevor das NS-Regime Mitte November den planmäßigen Masseneinsatz polnischer Zivilarbeiter endgültig beschloss,504 trafen im Oktober 1939 im Regierungsbezirk Chemnitz die ersten polnischen Arbeiter nach Kriegsbeginn ein. Ende November beschäftigte beispielsweise die Landwirtschaft des Chemnitzer Arbeitsamtsbezirks bereits 44 Polen, im Nachbarbezirk Glauchau waren es schon mehr als 150.505 499 Vgl. Kap. I.1. 500 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 24–27, 74–88; Hornung/Langthaler/Schweitzer, Zwangsarbeit, S. 582. 501 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im November 1938, im Juni 1939 und im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Juli 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 502 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 503 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 46 f. 504 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 69; Annette Schäfer, Zwangsarbeiter und NS-Rassenpolitik. Russische und polnische Arbeitskräfte in Württemberg 19391945, Stuttgart 2000, S. 24 f. 505 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); für die Zeit vom 15.–30.11.1939 (ebd.); vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1939 (ebd.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); für die Zeit vom 15.–30.11.1939 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1939 (ebd.).

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Die Behandlung der ausländischen Arbeitskräfte durch die mit ihrem Einsatz befassten staatlichen Ämter unterschied sich zunächst je nach Arbeitsamtsbezirk. Im Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz begegnete das Arbeitsamt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt, lange vor den sogenannten Polenerlassen, Klagen ausländischer Arbeiter über ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse mit scharfen Repressionen, wie ein Bericht von Ende November belegt: „Anfangs stellten die Polen allerhand Forderungen in Bezug auf Kost und Sonntagsarbeit. Nachdem den Leuten teilweise mit Hilfe der Gestapo begreiflich gemacht wurde, dass sie sich den deutschen Verhältnissen anzupassen haben, geht es. Ein Pole musste wegen Gemeingefährlichkeit verhaftet werden.“506 Auch in Lugau nahmen Arbeitsamt und Arbeitgeber bereits im Oktober 1939 beim Umgang mit den polnischen Arbeitern „polizeiliche Hilfe in Anspruch“.507 Im Arbeitsamtsbezirk Flöha gerieten im Januar 1940 die ersten Polen in Haft, „weil sie sich den Arbeitsbedingungen nicht anpassen wollten“.508 Dagegen analysierten die Beamten des Arbeitsamtes Glauchau Schwierigkeiten mit den polnischen Landarbeitern sehr viel sachlicher und mit deutlich mehr Verständnis gegenüber der Situation der polnischen Arbeitskräfte: Manche Arbeiter würden ihre Arbeitgeber verlassen, weil außerhalb Sachsens höhere Löhne gezahlt würden. Andere würden auf die „unsachliche Behandlung“ durch ihren bäuerlichen Arbeitgeber reagieren.509 Beispielsweise stellte das Arbeitsamt Glauchau im Februar 1940 erhebliche Defizite bei der hygienischen Versorgung der polnischen Arbeitskräfte fest: In einigen Betrieben erhielten sie zu wenig Wasch- und Badegelegenheiten, sodass Verlausungen nicht hätten verhindert werden können. „Es muss hier den Bauern von höherer Stelle noch einmal klargemacht werden, dass für Reinlichkeit und Sauberkeit der Bauer zu sorgen hat, auch wenn es sich um Polen handelt. Bei diesen Gesindekräften war seit drei Monaten keine Bettwäsche gewechselt und ebenso lange konnten sie keine Wäsche waschen; dabei haben diese Leute meistens nur 1 oder 2 Hemden im Besitz.“510 Die tschechischen Arbeiter unterlagen bereits seit Juni 1939 einem diskriminierenden Sonderrecht, das für sie sehr viel härtere Strafen vorsah, als Deutsche bei vergleichbaren Verfehlungen erhielten.511 Da das NS-Regime gegenüber den Polen noch in viel stärkerem Maße sicherheitspolitische und „rassebiologische“

506 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 15.–30.11.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 507 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 508 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 16.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 509 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 15.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 510 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 15.–29.2.1940 (ebd.). 511 Vgl. Stephan Posta, Tschechische „Fremdarbeiter“ in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Dresden 2002, S. 114–117.

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Bedenken hegte, schnürte seine Führung im März 1940 ein Paket aus Erlassen, Merkblättern und dienstlichen Anweisungen an die mit dem Ausländereinsatz befassten Behörden, das den Grundstein für die Entwicklung eines komplizierten, diskriminierenden Sonderrechts für die einzelnen Ausländergruppen legte. Es sah die öffentliche Kennzeichnung der Polen durch ein „P“ auf der Kleidung vor. Außerdem enthielt es außerordentlich dehnbare Vorschriften, mit denen die polnischen Arbeiter vom kulturellen Leben und öffentlichen Freizeitvergnügungen sowie der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ausgeschlossen werden sollten. Sexuelle Kontakte mit Deutschen waren verboten und sollten mit dem Tod bestraft werden. Durch eine ihnen auferlegte Sondersteuer verdienten polnische Arbeiter netto und bei gleicher Arbeitsleistung weniger als deutsche Kollegen.512 Bei Arbeitsniederlegungen, sogenannter Arbeitsunlust und Sabotage sollte die Gestapo eingreifen, wie einer entsprechenden Anweisung vom Herbst 1940 des Rüstungskommandos Chemnitz zu entnehmen ist: „Polen und Tschechen werden grundsätzlich bei jeder Zuwiderhandlung in ein Konzen­ trationslager eingeliefert.“513 Während sich nach Kriegsanfang viele Branchen zunächst von Kurzarbeit bedroht sahen, dauerte der nun schon traditionelle Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft an. Als Anfang Januar 1940 der planmäßige Einsatz polnischer Zivilarbeiter in Gang kam,514 wies das Landesarbeitsamt allein dem Arbeitsamtsbezirk Chemnitz für 1940 etwa 450 polnische Landarbeiter zu.515 Im März 1940 wollte es mehr als die Hälfte dieser Arbeitskräfte wieder versetzen,516 was wahrscheinlich in erster Linie damit zusammenhing, dass es dem Regime nicht gelang, die beabsichtigten hohen Anwerbezahlen zu erreichen. So hatten die Nationalsozialisten im April 1940 reichsweit erst 210 000 statt der beabsichtigten 1 Million polnischer Arbeiter für das Reich rekrutiert.517 Möglicherweise deutet die Herabsetzung des Arbeiterkontingents aber auch auf die Nachrangigkeit des Chemnitzer Bezirks bei der Arbeitskräfteversorgung hin. Viele Bauern, die sich trotz ihrer Vorurteile gegen polnische Arbeitskräfte518 dazu durchgerungen hatten, solche anzufordern, warteten noch im Juni 1940 auf die Erfüllung ihrer Forderungen, sodass in der Landwirtschaft erheblicher

512 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 92 f.; Herbert, Fremdarbeiter, S. 76–79. 513 Rüstungskommando Chemnitz am 7.10.1940: Rundschreiben Nr. 121/40 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/5, Bl. 30 f.). 514 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 69. 515 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 1.–15.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 516 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 1.–15.3.1940 (ebd.). 517 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 69, 85. 518 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 16.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 1.–15.2.1940 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.).

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Unmut entstand.519 Die Situation spitzte sich insbesondere im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz dadurch zu, dass ein Teil der in der Regel zwangsweise aus Polen verschleppten Menschen520 die Arbeitsaufnahme verweigerte und dies mit einer sofortigen Übergabe an die Gestapo büßen musste.521 Den ganzen Sommer über gab es Schwierigkeiten: Manche Arbeiter machte sich auf eigene Faust auf den Weg nach Hause, andere protestierten vor Ort gegen die ihnen durch die „Polenerlasse“ auferlegten unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Zumindest im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz griffen Arbeitseinsatzbehörden mit Hilfe der Gestapo „rücksichtslos“ durch und machten den Zwangsarbeitern die engen Grenzen ihrer Handlungsspielräume deutlich: Allein im August 1940 wurden dort mindestens zehn Polen verhaftet.522 Neben der Beschäftigung von ausländischen Zivilarbeitern war der Einsatz von Kriegsgefangenen für die Behörden eine weitere Möglichkeit, den bald nach Kriegsbeginn entstehenden Arbeitskräftemangel zu verringern. Doch wie gering der Stellenwert des Regierungsbezirks Chemnitz für die Arbeitseinsatzlenkung war, ist auch daran zu erkennen, dass dort zunächst offenbar überhaupt keine polnischen Kriegsgefangenen zugewiesen wurden, während sie in anderen Gegenden des Reiches ab Ende Oktober 1939 eingesetzt wurden.523 Erst nachdem mehrere der angekündigten Züge mit polnischen Arbeitern ausblieben, wurden dem Glauchauer Arbeitsamtsbezirk im Frühjahr 1940 etwa 150 Kriegsgefangene als Ersatz zur Verfügung gestellt.524 Mit dem Frankreichfeldzug im Sommer 1940 kamen erstmals in größerem Umfang Kriegsgefangene in die Region.525 Im September beschäftigten die örtlichen Arbeitgeber insgesamt fast 4 000 Gefangene, allerdings sind in dieser Zahl auch sogenannte Zivilgefangene, also Häftlinge der regulären deutschen Gefängnisse, enthalten. Die Zahl der beschäftigten Gefangenen stieg langsam, aber stetig an: Im Dezember 1940 waren es rund 5 000, im Mai 1941 fast 7 000 und im Verlauf des Sommers 1941 überstieg ihre Zahl schließlich die 7 000er-Marke. Damit beschäftigte die Region während dieses Zeitraum kontinuierlich rund

519 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 16.–30.4.1940, für die Zeit vom 1.–15.5.1940 sowie für Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); Berichte des AA Flöha vom ersten Halbjahr 1940, passim (ebd.); AA Glauchau, Bericht für die Zeit vom 16.–30.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 520 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 83–87; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 35 f. 521 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 522 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für Juli 1940 und für August 1940 (ebd.). 523 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 22 f.; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 45. 524 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz für die Zeit vom 1.–15.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 525 Zur Situation der Kriegsgefangenen vgl. Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, der freilich den Arbeitseinsatz nicht mitbehandelt.

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zehn Prozent aller in Sachsen eingesetzten Gefangenen.526 Die Arbeitsamtsbezirke der Region stellten im September 1941 dagegen etwa 18 Prozent der arbeitsbuchpflichtigen Arbeitnehmer Sachsens.527 Der Raum Chemnitz war also, daran gemessen, bei der Gefangenenbeschäftigung deutlich unterrepräsentiert. Das Hauptarbeitsfeld der Kriegsgefangenen war in der Region zunächst wie überall im Reich die Landwirtschaft.528 Daneben arbeiteten Kriegsgefangene ab der zweiten Jahreshälfte 1940 vor allem im Reichsbahnbau sowie bei anderen Bauvorhaben.529 Ferner konnten 45 Männer in einer Grunaer Flachsrösterei530 sowie in der Marienberger Mosaikplattenfabrik531 beschäftigt werden. Im Januar 1941 setzte das Arbeitsamt Flöha Kriegsgefangene schließlich auch in der Holz- und Schnittstoffindustrie ein.532 Dagegen scheiterte ein zumindest im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz gewünschter Einsatz in der Metallindustrie noch im September 1940 an der Vorschrift, dass die Kriegsgefangenen nur kolonnenweise und abgetrennt vom eigentlichen Produktionsbereich beschäftigt werden durften, sowie daran, dass die Unternehmen keine Unterbringungsmöglichkeiten besaßen.533 Im Januar 1941 waren allerdings im Olbernhauer Arbeitsamtsbezirk bereits 51 Kriegsgefangene in der Metallindustrie beschäftigt.534 Gegenüber den Kriegsgefangenen befanden sich die ausländischen Zivilarbeiter um die Jahreswende 1940/41 noch deutlich in der Minderzahl. Im Januar 1941 waren insgesamt 2 675 ausländischen Zivilarbeiter in den Arbeitsamtsbezirken Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau beschäftigt,535 während es rund doppelt so viele arbeitende Kriegs- und Zivilgefangene gab. Die ausländischen Zivilarbeiter stellten damit noch nicht einmal 1 P ­ rozent

526 Zahlen und eigene Berechnungen nach Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 1, S. 3; ebd., 5, S. 7; ebd., 6, S. 8; ebd., 7, S. 8; ebd., 8, S. 8; ebd., 9, S. 8; ebd., 13, S. 8, jeweils Tabelle „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene am Ende des Monats“. Zugrunde gelegt werden die Zahlen der Arbeitsämter Annaberg, Chemnitz, Flöha; Glauchau, Lugau und Olbernhau, deren Bezirke grob den Regierungsbezirk Chemnitz abdecken. 527 Eigene Berechnungen nach Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 13, S. 3, Tabelle: „Die Arbeiter und Angestellten … b) nach Arbeitsamtsbezirken“. Zugrunde gelegt wird die Spalte „Arbeiter und Angestellte überhaupt“. 528 Vgl. z. B. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1941(SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 529 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1940 (ebd., Berichte 4, unpag.). 530 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für September 1940 (ebd., Berichte 3, unpag.). 531 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1940 (ebd., Berichte 6, unpag.). 532 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1941 (ebd., Berichte 3, unpag.). 533 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für September 1940 (ebd.). 534 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 535 Eigene Berechnungen nach Tabelle Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des LAA Sachsen am 31.1.1941. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 5, S. 8. Zusammengerechnet wurden die Daten für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau.

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aller arbeitsbuchpflichtig Beschäftigten der Region, während sie sachsenweit bereits 2,5 Prozent dieser Kräfte ausmachten. 819 Ausländer arbeiteten allein im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz; sie stellten dort aber nur 0,5 Prozent aller arbeitsbuchpflichtig Beschäftigten, während die Arbeitsamtsbezirke Flöha und Glauchau mit 1,4 bzw. 1,5 Prozent die höchsten Ausländeranteile unter den Beschäftigten in der Region verbuchen konnten.536 Die Zahl der beschäftigten zivilen „Fremdarbeiter“ stieg im Verlauf des Jahres 1941 zwar an: Bis September 1941 verzeichneten die Arbeitsämter des Regierungsbezirks rund 5 200 und im Januar 1942 knapp 5 800 ausländische Arbeiter und Angestellte.537 Während in den Arbeitsamtsbezirken der Region der Anteil der ausländischen Arbeitskräfte fast überall unter 2 Prozent lag, betrug er sachsenweit mit etwa 4 Prozent das Doppelte und reichsweit mit über 8 Prozent das Vierfache.538 Auch bei den ausländischen Zivilarbeitern blieb die Region wie bei den Kriegsgefangenen im Vergleich zu anderen deutlich unterrepräsentiert. Daran änderte sich auch in der Folgezeit wenig. Der Anteil der ausländischen Zivilarbeiter an allen Beschäftigten der Region blieb niedrig und lag im Januar 1942 bei knapp 2 Prozent.539 Wie die Kriegsgefangenen arbeiteten auch die zivilen ausländischen Arbeitskräfte in der Region zunächst vor allem in der Land- und Forstwirtschaft. Über ihren Einsatz in der Industrie existieren erste Belege aus der Zeit von Juni 1940, als 22 polnische Arbeiter in Chemnitzer Ziegeleien arbeiteten.540 Im Arbeitsamtsbezirk Glauchau waren seit dem Winter 1940/41 belgische Textilfacharbeiter in Wirkereien und Webereien tätig; außerdem wurde der einzige chemische

536 Eigene Berechnungen nach ebd. sowie Tabelle Die Arbeiter und Angestellten im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen […] nach der Arbeitsbuchstatistik am 31.1.1941. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 5, S. 6. Bezugszahlen sind die Beschäftigten. 537 Eigene Berechnungen nach Tabelle Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des LAA Sachsen am 25.9.1941. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 14, S. 6 f., sowie Tabelle Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des LAA Sachsen am 25.1.1942. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 2, S. 8 f. Zusammengerechnet wurden die Daten für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. Ein kleiner Teil der Steigerung der Zahlen geht möglicherweise auf leichte Änderungen der Zuschnitte der Arbeitsamtsbezirke zurück. Das Arbeitsamt Flöha bekam im Juli 1941 Teile des bisherigen Arbeitsamtsbezirks Mittweida zugewiesen; vgl. Kap. IV. 2. 4. 538 Das Ergebnis der Arbeitsbucherhebung vom 15.8.1941 im Bezirk des LAA Sachsen, bearbeitet im LAA Sachsen. Beilage zu Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 1, S. 6. 539 Eigene Berechnungen nach Tabelle Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des LAA Sachsen am 25.1.1942. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 2, S. 8 f., sowie Tabelle: Die Arbeiter und Angestellten im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen […] nach der Arbeitsbuchstatistik am 31.12.1941. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 1, S. 3. Bezugszahlen sind die Beschäftigten. Zusammengerechnet wurden die Daten für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. 540 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz für Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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Großbetrieb der Region, die Spinnstoffwerke Glauchau, mit ausländischen Arbeitskräften versorgt.541 Sowohl im Chemnitzer als auch im Glauchauer Bezirk spielten zivile „Fremdarbeiter“ überdies im Nahrungsmittelhandwerk eine zunehmende Rolle.542 Immer wieder warteten die Industrieunternehmen in den Jahren 1940 und 1941 allerdings vergeblich auf die von ihnen angeforderten zivilen ausländischen Arbeitskräfte: „Die Hoffnung, ausländische Arbeitskräfte zu erhalten, ist nur zu einem kleinen Teil in Erfüllung gegangen“, so beschwerte sich beispielsweise das Arbeitsamt Chemnitz im Sommer 1941, „die Betriebe, die seit Monaten Unterkunftsräume gemietet haben, sind enttäuscht und verärgert, zumal nicht einmal mehr Kriegsgefangene zur Verfügung gestellt werden.“543 Noch im Januar 1941 waren zwei Drittel der ausländischen Zivilarbeiter der Region in der Landwirtschaft tätig, weniger als ein Drittel in gewerblichen Berufen.544 Die Verteilung der zivilen ausländischen Arbeitskräfte auf die einzelnen Berufe veränderte sich erst im Laufe des Jahres 1941 grundlegend. Sie wurden im Raum Chemnitz, wie überall im Reich, immer stärker in die gewerbliche Wirtschaft integriert. Daher nahm der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten kontinuierlich ab, und die Zahl der in gewerblichen Berufen arbeitenden wuchs im Gegenzug stetig an. Im Januar 1942 hatten sich die Verhältnisse gegenüber dem Januar 1941 praktisch umgekehrt: Von nunmehr knapp 5 800 zivilen ausländischen Arbeitskräften war nur noch in gutes Drittel in landwirtschaftlichen, dagegen fast drei Fünftel in gewerblichen Berufen tätig. Damit entsprach die Entwicklung im Regierungsbezirk in etwa derjenigen auf Landesebene, auch wenn dort die Verschiebung des Schwerpunktes vom landwirtschaftlichen zum gewerblichen Einsatz nicht ganz so dramatisch verlief.545

541 Vgl. u. a. AA Glauchau Berichte über den Arbeitseinsatz im Dezember 1940 und im Mai 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 542 Vgl. u. a. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 543 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 544 Lediglich ein Zwanzigstel arbeitete im kaufmännischen oder Bürobereich, als Techniker oder Freiberufler. Bei dieser letzten Gruppe dürfte es sich in der Regel aber nicht um Zwangsarbeiter, sondern um freiwillig in Deutschland lebende Arbeitskräfte gehandelt haben. 545 Eigene Berechnungen nach Tabellen Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des Landesarbeitsamts Sachsen am 31.1.1941. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 5, S. 8; Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des Landesarbeitsamts Sachsen am 25.4.1941. In: ebd., 9, S. 7; Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des Landesarbeitsamts Sachsen am 25.9.1941. In: ebd., 14, S. 6; Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des Landesarbeitsamts Sachsen am 20.1.1942. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 2, S. 2. Zusammengerechnet wurden die Daten für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau.

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In den einzelnen Arbeitsamtsbezirken wich die Verteilung der ausländischen Kräfte auf die verschiedenen Berufsgruppen zum Teil deutlich von der Gesamtverteilung in der Region ab: Der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz verzeichnete als industrieller Kern des Regierungsbezirks bereits im Januar 1941 mehr gewerblich als landwirtschaftlich arbeitende Ausländer: 47 Prozent arbeiteten in gewerblichen Berufen, lediglich 40 Prozent waren in der Landwirtschaft tätig. Ein Jahr später stellten die gewerblichen Arbeiter hier bereits mehr als dreiviertel aller ausländischen Arbeitskräfte.546 Flöha dagegen besaß als einziger Arbeitsamtsbezirk der Region auch noch im Januar 1942 mit 81 Prozent ein sehr deutliches Übergewicht an Beschäftigten in landwirtschaftlichen Berufen.547 Dies könnte zum Teil damit zusammenhängen, dass Flöha aufgrund einer Änderung der Arbeitsamtsbezirksgrenzen im Juli 1941 Teile des eher landwirtschaftlich strukturierten Bezirks Mittweida zugeschlagen bekam.548 Möglicherweise war es aber auch einfach Ausfluss einer besonderen Politik des Flöhaer Arbeitsamtes. Grundsätzlich war es aus Sicherheitsgründen zunächst nicht geplant,549 ausländische Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie einzusetzen. Überdies verboten die Bestimmungen der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung den Kriegsgefangeneneinsatz in allen unmittelbar mit den Kriegshandlungen in Verbindung stehenden Arbeitsbereichen, insbesondere in der Waffen- und Munitionsfertigung.550 Das NS-Regime hielt diese Abkommen im Wesentlichen jedoch nur gegenüber den angloamerikanischen Kriegsgefangenen ein.551 Bei der Frage, wann zivile „Fremdarbeiter“ oder Kriegsgefangene erstmals in der Rüstungswirtschaft der Region eingesetzt wurden, sind lediglich Schätzungen möglich. Dies hat wesentlich mit dem Problem der Definition eines Unternehmens als Rüstungsbetrieb zu tun. Es sei daran erinnert, dass sich im Verlauf der ersten Kriegsjahre und unter Ausnutzung der Strategie der dezen­ ralen Vergabe von Rüstungsaufträgen sehr viele Unternehmen Heeresaufträge sicherten, um sich gegen Arbeitskräfteabzüge zu schützen, parallel aber ihre traditionellen Fertigungslinien weiterführten. Auch musste die Heeresfertigung keine sicherheitsrelevante Waffen- oder Munitionsfertigung im engeren Sinne sein, es konnte sich ebenso gut um Armeeunterwäsche, Holzlöffel oder Kasernenmöbel handeln. Bereits die Zeitgenossen taten sich daher schwer mit der Bestimmung dessen, was eigentlich ein Rüstungsbetrieb sei. Zumindest in Württemberg wurden ab Mai 1940 ausländische Arbeiter in Rüstungsbetrieben und im Bergbau beschäftigt, nachdem seit Februar die Bestimmungen für die Ausländerbeschäftigung in sogenannten geschützten Betrie-

546 Vgl. ebd. 547 Vgl. ebd. 548 Vgl. Kap. IV. 2. 4. 549 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 25 f. 550 Vgl. Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 734 f. 551 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeiter, S. 100 f.

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ben schrittweise gelockert worden waren.552 Für Sachsen ist eine Anfrage des Leipziger Rüstungsunternehmens HASAG im April 1940 belegt, das in seinen sächsischen Niederlassungen über 1 000 ausländische Kräfte einsetzen wollte. Damit stieß es bei dem sächsischen Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Mutschmann auf politische Bedenken und die Befürchtung, dass ein solcher Einsatz zu Lasten der Landwirtschaft gehe. Als Reaktion auf die Anfrage bat das OKW den Rüstungsinspekteur in Dresden, Mutschmann über die Lockerungen im Einsatz ausländischer Arbeitskräfte zu unterrichten.553 Erste eindeutige Belege für einen Einsatz von Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeitern in der südwestsächsischen Rüstung gibt ein Bericht des für die Überwachung der Rüstungswirtschaft zuständigen Rüstungskommandos Chemnitz 1941. In den von ihm direkt betreuten sogenannten W-Betrieben befanden sich Ende Februar 1941 unter den rund 83 000 Beschäftigten 560 Kriegsgefangene und 90 zivile „Fremdarbeiter“.554 Diese Zahl betrifft allerdings nicht den Raum Chemnitz allein, sondern die gesamte südwestsächsische Rüstungsindustrie, da das Rüstungskommando Chemnitz sowohl für den Regierungsbezirk Zwickau als auch für den Regierungsbezirk Chemnitz zuständig war. Auch ist nicht gesichert, dass alle Ausländer in den rüstungsrelevanten Bereichen der W-Betriebe beschäftigt waren, denn die W-Betriebe konnten durchaus zivile Fertigungszweige neben der Rüstungsproduktion betreiben. Dennoch lassen diese Zahlen zumindest darauf schließen, dass die Beschäftigung von Ausländern in der Rüstungsindustrie Südwestsachsens und damit des Raums Chemnitz noch Anfang 1941 eine eher seltene Erscheinung war, betrug doch ihr Anteil an den Beschäftigten der W-Betrieben gerade einmal 0,8 Prozent. Noch im Juni 1941 wurde auf einer Besprechung der Rüstungsinspektion IV mit den ihr untergeordneten Rüstungskommandos kundgetan, dass vorerst keine weiteren Kriegsgefangenen für die Beschäftigung in der Rüstungsindus­ trie zu erwarten seien, weil diese vor allem der Landwirtschaft zur Verfügung gestellt werden müssten.555 Ende November 1941 allerdings befanden sich unter den nunmehr rund 91 000 Beschäftigten der vom Rüstungskommando betreuten Betriebe bereits über 1 100 ausländische Zivilarbeiter und rund 770 Kriegsgefangene, sodass der Anteil ausländischer Beschäftigter immerhin auf zwei Prozent stieg.556 552 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 26; siehe auch OKW an RüIn IV am 11.5.1940 betr. Einsatz polnischer Arbeitskräfte im Betrieb der Fa. Hugo und Alfred Schneider AG. Entwurf (BA-MA Freiburg, RW 19/2158, Bl. 159). 553 Mutschmann an Göring am 15.4.1940 (BA-MA Freiburg, RW 19/2158, Bl. 158 f.); OKW an RüIn IV am 11.5.1940 betr. Einsatz polnischer Arbeitskräfte im Betrieb der Fa. Hugo und Alfred Schneider AG. Entwurf (ebd., Bl. 159). 554 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 29.12.1940– 31.3.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/6, Bl. 19, 23). 555 Besprechung von RüIn IV, Zentralabteilung, mit den Zentralgruppenleitern der RüKdos am 4.6.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/7, Bl. 34 f., hier 35). 556 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/9, Bl. 25, 28).

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Zu Veränderungen im Ausländereinsatz des NS-Regimes kam es im Zusammenhang mit dem Feldzug gegen die Sowjetunion ab Juni 1941. Von den ideologischen Bedenken, die maßgebliche Teile der NS-Führung, allen voran Hitler selbst, gegenüber der Anwesenheit russischer Soldaten im Reichsgebiet hegten,557 ist bei Unternehmen und Staatsbetrieben in der Region wenig zu spüren, sieht man von einer vereinzelten Äußerung aus dem Arbeitsamtsbezirk Olbernhau ab.558 Ähnlich wie in anderen Reichsgebieten,559 handelten alle jene pragmatisch, die dringend Arbeitskräfte benötigten. Für sie waren die zu erwartenden sowjetischen Kriegsgefangenen ein ebenso nützliches Arbeitskräftereservoir wie die Gefangenen anderer Nationen auch. Daher registrierten die Arbeitsämter im Regierungsbezirk Chemnitz bereits wenige Wochen nach Beginn des Russlandfeldzugs Anfragen zu einer möglichen Beschäftigung sowjetischer Soldaten: „Die Nachfrage nach russischen Kriegsgefangenen ist groß. Über den Einsatz herrscht jedoch noch völlige Unklarheit“,560 notierte das Arbeitsamt Chemnitz Ende Juli 1941. Beim Arbeitsamt Glauchau forderten örtliche Behörden und Unternehmer mindestens 500, beim Arbeitsamt Flöha mindestens 180 dieser Arbeitskräfte an.561 Das Landesarbeitsamt Sachsen meldete bis Anfang Juli 1941 bereits einen Bedarf von 20 000 sowjetischen Gefangenen, die unter anderem in der Reichsbahn, in Steinbrüchen und Bergwerken arbeiten sollten.562 Seit Juli 1941 war die Beschäftigung sowjetischer Soldaten im Reich in sehr engen Grenzen erlaubt, obwohl die politische Führung ihr grundsätzlich ablehnend gegenüberstand.563 Die ursprünglich im Juli 1941 von Hitler gezogene Obergrenze von 120 000 im Reich arbeitenden Kriegsgefangenen564 ließ sich in den folgenden Monaten nicht einhalten. Der „Russeneinsatz“ entwickelte sich vielmehr zum Selbstläufer: Im Oktober 1941 befanden sich bereits über 288 000 Gefangene in Deutschland.565 Gemessen an der riesigen Zahl von Gefangenen, die die Wehrmacht machte, war der Anteil der ins Reich transportierten aller-

557 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 38; Reinhard Otto, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im Deutschen Reichsgebiet 1941/42, München 1998, S. 168 f. 558 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 559 Vgl. Otto, Wehrmacht, S. 169 f.; Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, überarbeitete Neuausgabe Bonn 1997, S. 211–216; für Württemberg Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 39 f. 560 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 561 Vgl. ebd.; AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1941 (ebd.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 562 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 6). 563 Vgl. Streit, Kameraden, S. 192–196. 564 Vgl. ebd., S. 194. 565 Vgl. Otto, Wehrmacht, insbes. S. 160, 168–175; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 39–43; Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 809–815.

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dings gering. Vor allem in frontnahen Lagern auf sowjetischem Boden ließ die Wehrmacht bis zum Frühjahr 1942 Millionen Menschen verhungern, eine bis dahin in der Geschichte unerreichte Dimension des Massenmordes an Kriegsgefangenen.566 Auch im Reich selbst starben viele Gefangene, beispielsweise im sächsischen Gefangenenlager Zeithain, an Hunger oder an durch unzureichende Behausung, Ernährung und Hygiene bedingten Krankheiten.567 Die Region Chemnitz gehörte zu den Gebieten,568 in denen sowjetische Kriegsgefangene bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Arbeitseinsatz waren.569 Schon im August 1941 wurden im Regierungsbezirk die ersten sowjetischen Gefangenen, insgesamt deutlich mehr als 550, eingesetzt. 70 Menschen arbeiteten in einer Flachsfabrik, 200 bei der Reichsbahn, eine unbekannte Anzahl in der Landwirtschaft, beim Bau und in anderen Wirtschaftsbereichen.570 Im September 1941 waren von mehr als 100 im Glauchauer Arbeitsamtsbezirk arbeitenden sowjetischen Kriegsgefangenen immerhin 30 in der Industrie beschäftigt. Auch im Arbeitsamtsbezirk Annaberg traf im September ein Transport von 50 sowjetischen Gefangenen ein, damit eine Flachsspinnerei ihre im Freien gelagerten Vorräte vor der kalten und nassen Jahreszeit aufbereiten konnte. Die Gefangenen wurden dort „zur Arbeit am Trockenapparat und zum Abladen von Strohflachs herangezogen“.571 Bei dieser Sonderzuweisung scheint sogar das Reichsarbeitsministerium seine Hand im Spiel gehabt zu haben.572 Der Einsatz sowjetischer Gefangener in der Privatindustrie dürfte zu diesem frühen Zeitpunkt eine regionale Besonderheit gewesen sein. Anderen Orts hielten sich Unternehmer wegen der strengen Sicherheitsauflagen oft noch zurück.573 Auch in Chemnitz konnten die Kernbereiche der Kriegswirtschaft

566 Vgl. Dieter Pohl, Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944, München 2008, S. 201–242; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 71 f.; Herbert, Fremdarbeiter, S. 138; Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 807–809; Streit, Keine Kameraden; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941–1944, Hamburg 1999, S. 774–858. 567 Vgl. Jörg Osterloh, Ein ganz normales Lager. Das Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager 304 (IV H) Zeithain bei Riesa/Sa. 1941–1945, 2. Auflage Leipzig 1997. 568 Vgl. Otto, Wehrmacht, S. 175; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 54. 569 Vgl. Manfred Grieger, Industrie und Zwangsarbeitersystem. Eine Zwischenbilanz. In: Zwangsarbeiterforschung in Deutschland, S. 87–99, hier 93, der dem Volkswagenwerk eine „Vorreiterrolle“ zuspricht, weil dort sowjetische Kriegsgefangene seit Anfang Oktober 1941 eingesetzt waren. 570 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (ebd.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 571 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); September 1941 (ebd.). 572 Vgl. ebd. 573 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 39.

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von den sowjetischen Kriegsgefangenen zunächst nicht profitieren, weil diese nur in geschlossenen Kolonnen und völlig isoliert von der übrigen Belegschaft beschäftigt werden durften:574 „Der dringendste Bedarf der Rüstungsindustrie und lebensnotwendiger Güter wird nicht gedeckt werden können, da Kriegsgefangene aus dem Westen und dem Südosten kaum zur Verfügung stehen und Russen aus abwehrmäßigen Gründen nicht zugelassen werden“,575 bilanzierte das Chemnitzer Arbeitsamt Ende August 1941. Immerhin ermöglichte die Arbeitsaufnahme der sowjetischen Gefangenen den anderweitigen Einsatz der bis dahin in den Flachsfabriken beschäftigten Kräfte. Beispielsweise gab die bereits erwähnte Annaberger Flachsspinnerei im September 1941 nach dem Eintreffen von 50 sowjetischen Soldaten und 10 zivilen belgischen Arbeitern 31 französische Kriegsgefangene frei, die zur Luftwaffenfertigung wechseln sollten.576 Erst Wochen nach dem ersten Einsatz sowjetischer Gefangener in der ­Region Chemnitz zeichneten sich unter dem Druck des Arbeitskräftemangels erste Lockerungen der scharfen Bestimmungen ab. Ab Mitte Oktober 1941 wurde die Beschäftigung in Gruppen von 20 Gefangenen, die unter Aufsicht durch deutsche Vorarbeiter und Meister standen sowie der Einsatz in sogenannten „geschützten“ Betrieben erlaubt. Ende Oktober fasste Hitler auf Druck der Industrie den Entschluss, sowjetische Kriegsgefangene trotz aller ideologischen Vorbehalte in größerem Umfang im Reich arbeiten zu lassen.577 Die Ermordung aller politisch verdächtigen Häftlinge, die sofort nach dem Einmarsch in die Sow­ jetunion begonnen hatte, wurde in reduziertem Umfang weiter fortgesetzt.578 Freilich waren diese Bestimmungen immer noch so streng, dass vielen Unternehmen der Einsatz der „Russen“ weiterhin unattraktiv schien. Zudem ist anzunehmen, dass die Lockerung der Vorschriften nicht immer in voller Klarheit bei den Arbeitsämtern und Betrieben ankam. Die Wanderer-Werke AG erwog kurze Zeit lang (möglicherweise, weil sie die Vorschriften noch strenger deutete, als sie tatsächlich waren), eine Zeitzünderfertigung mit ausschließlich sowjetischen Kriegsgefangenen, geführt durch sowjetische Vorarbeiter und Meister, einzurichten, kam aber zu dem Schluss: „Ein Einsatz von Ausländern ist an sich möglich, jedoch nicht ein geschlossener und ausschließlicher Einsatz von russischen Kriegsgefangenen.“579 Dennoch wurden im Dezember 1941 574 Vgl. ebd., S. 40. 575 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 576 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 577 Vgl. Streit, Kameraden, S. 201–207; Schäfer, Zwangsarbeiter, S.40–43; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 72. 578 Zum sogenannten Kommissarbefehl und anderen verbrecherischen Befehlen vgl. Gerlach, Morde, S. 834–839; Streit, Kameraden, S. 28–61, 209 f.; Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im Fall „Barbarossa“. Eine Dokumentation, Heidelberg 1981. 579 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 16).

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22 Kriegsgefangene bei einer Rüstungsfirma in Siegmar für die Marinefertigung eingesetzt.580 Überdies stellte das Rüstungskommando Chemnitz durch eine Umfrage bei den von ihm betreuten W-Betrieben einen Bedarf von fast 3 000 sow­jetischen Kriegsgefangenen in 19 Betrieben der Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau fest.581 Freilich waren alle Überlegungen zum „Russeneinsatz“ inzwischen akademisch, da in den sächsischen Lagern Mühlberg und Zeithain wie in fast allen sowjetischen Kriegsgefangenenlagern auf Reichsgebiet unter den unterernährten, schlecht gekleideten und menschenunwürdig untergebrachten Gefangenen eine Fleckfieberseuche ausgebrochen war. Zeitweise starben daran allein in Zeithain täglich etwa 60 Menschen. Erst im April 1942 galt das Lager wieder als fleckfieberfrei.582 Daher wurden der Region Chemnitz in den folgenden Monaten ohnehin kaum sowjetische Kriegsgefangene zugewiesen.583 Die Gesamtzahl der in der Region gleichzeitig zur Arbeit eingesetzten sow­ jetischen Kriegsgefangenen verringerte sich zwischen Dezember 1941 und März 1942 zusätzlich. Sie erhielten, ob im Arbeitseinsatz oder nicht, von allen Gefangenen die geringsten und zum Überleben kaum ausreichenden Lebensmittelrationen, die ihnen ein korruptes und unfähiges Lagerpersonal vielfach noch nicht einmal vollständig zukommen ließ. Das führte dazu, dass die Arbeitskommandos ständig weiter dezimiert wurden. So reduzierte sich die Zahl der arbeitenden sowjetischen Kriegsgefangenen in der Region von rund 1 380 im Januar 1942 auf etwa 1 260 Personen im März desselben Jahres.584 Das Arbeitsamt Annaberg berichtete in zynischem Bürokratendeutsch über die Auswirkungen des Leidens der Gefangenen: „Bei den sowjetischen Kriegsgefangenen ist der Abgang infolge Erschöpfungszuständen und Tod in letzter Zeit erheblich gewesen. Bisher ist eine Auffüllung der Arbeitskommandos nicht eingetreten. Die einzelnen Bedarfsträger haben aber wiederholt um recht baldige Ersatzgestellung dringend gebeten.“585

580 Ebd., Bl. 20, 28. 581 Ebd., Bl. 25. 582 Ebd.; IHK Chemnitz, Walter Linse, am 9.2.1942, Aktennotiz betr. Dienstbesprechung des Wehrkreisbeauftragten IV mit den Umstellungsbeauftragten der Chemnitzer Betriebe, S. 2 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.); vgl. auch Osterloh, Lager, S. 67–72. 583 Offenbar wurden lediglich 50 Gefangene dem Arbeitsamtsbezirk Glauchau und 20 Gefangene dem Arbeitsamtsbezirk Flöha zugewiesen; vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); siehe auch AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1942 (ebd.). 584 Vgl. Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen im Monat Januar 1942 In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 2, S. 10; Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen im Monat März 1942. In: ebd. 4, S. 8. 585 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.).

176

Im Schatten des Krieges

Im Frühjahr 1942 lockerte das OKW schrittweise die strengen Sicherheitsvorkehrungen beim Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener. Spätestens im März 1942 erlaubte es kleinere Arbeitskommandos von bis zu fünf Mann. Ab Mai konnten Gefangene von einer gemeinsamen Unterkunft aus notfalls auch einzeln auf Bauernhöfen beschäftigt werden.586 Dazu kam, dass das Fleckfieber in den Lagern allmählich verschwand. Für März 1942 ist erstmals der Einsatz sowjetischer Gefangener in der metallverarbeitenden Rüstungsindustrie des Bezirks des Rüstungskommandos Chemnitz belegt. Bei der Plauener Vomag Maschinenfabrik AG montierten sie Bootsmotoren.587 Während des April 1942 stieg die Zahl der in den sechs Arbeitsamtsbezirken der Region Chemnitz zur Arbeit eingesetzten sowjetischen Gefangenen um 300 auf rund 1 550 an. Den Löwenanteil dieses Zuwachses konnte der Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz verbuchen.588 Im weiteren Verlauf des Jahres 1942, als die russischen Kriegsgefangenen immer stärker in die Rüstungsindustrie integriert wurden, verstärkte sich dieser Trend. Als industrielles Zentrum der Region beschäftigte allein der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz Ende November 1942 mit über 1 500 weitaus die meisten sowjetischen Gefangenen in der Region. In allen sechs Arbeitsamtsbezirken der Region zusammengenommen stieg ihre Zahl im Verlaufe des Jahres 1942 um das Dreifache auf über 4 500 im November 1942.589 Die wichtige Rolle, die die Sowjetbürger innerhalb des Arbeitseinsatzes der Kriegsgefangenen in der Region spielten, wird auch beim Blick auf die Nations­ zugehörigkeit aller arbeitenden Kriegsgefangenen deutlich. Ein erster Überblick vom Januar 1942 zeigt, dass die Sowjetgefangenen, trotz ideologischer Vorbehalte, Unterernährung und Fleckfieberseuche, zu diesem Zeitpunkt bereits ein Fünftel aller 7 600 in der Region arbeitenden Kriegsgefangenen stellten. Daneben konnten die Arbeitsämter vor allem über französische Kriegsgefangene verfügen, die mehr als zwei Drittel aller kriegsgefangenen Beschäftigten ausmachten. Dies entsprach im Großen und Ganzen der Situation in Sachsen insgesamt.590 Im November desselben Jahres stellten die Gefangenen aus der Sow­ jetunion in der Region Chemnitz bereits über 40 Prozent der mehr als 10 000 Kriegsgefangenen. Der Anteil der Franzosen war dagegen von zwei Drittel auf

586 Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 54. Bereits im Februar 1942 erreichten den Chemnitzer Bezirk Nachrichten über wesentliche Lockerungen des Kolonneneinsatz sowjetischer Kriegsgefangener; vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 9.2.1942, Aktennotiz betr. Dienstbesprechung des Wehrkreisbeauftragten IV mit den Umstellungsbeauftragten der Chemnitzer Betriebe, S. 2 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegung 16, unpag.). 587 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 24). 588 Vgl. Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 5, S. 8. 589 Vgl. Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 12, S. 10. 590 Zahlen und eigene Berechnungen nach Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 2, S. 10.

Frauenarbeit

177

weniger als die Hälfte gefallen, auch wenn ihre absolute Zahl mit etwas über 5 000 Arbeitskräften nahezu konstant geblieben war.591 Die sogenannte relève, in deren Rahmen reichsweit etwa 50 000 französische Kriegsgefangene gegen die Stellung französischer Zivilarbeitskräfte in ihre Heimat zurückkehren durften,592 hatte sich im Chemnitzer Raum also kaum ausgewirkt. Im gesamten Gau Sachsen verlief die Entwicklung der Tendenz nach ähnlich wie in der Region Chemnitz, doch fiel der Anstieg bei den Zahlen der sowjetischen kriegsgefangenen Arbeitskräfte weniger hoch aus.593 Als Fazit lässt sich festhalten, dass ausländische Arbeitskräfte in der ersten Kriegshälfte in der Region im Vergleich zu Sachsen und insbesondere dem Reich insgesamt deutlich unterrepräsentiert waren. Solange die ausländischen Arbeitskräfte vornehmlich auf dem Land eingesetzt wurden, lag dies an der vergleichsweise geringen Rolle, die die Landwirtschaft im Untersuchungsgebiet spielte. Ab 1941 machte sich bemerkbar, dass Südwestsachsen keine Hochburg der Rüstungsindustrie darstellte. Das Ausmaß der Zwangsarbeit in der R ­ egion sollte in der zweiten Kriegshälfte jedoch deutlich zunehmen, worauf später noch zurückzukommen sein wird.

5.

Frauenarbeit in der Industrie

Im Sommer 1939 waren in der Region 41 Prozent aller Mädchen und Frauen in irgendeiner Form erwerbstätig. Damit gingen in der Region deutlich mehr Mädchen und Frauen einem Beruf nach als in Sachsen oder im Reich, wo der entsprechende Prozentsatz bei 38 bzw. 37 Prozent lag.594 Wie entwickelte sich die berufliche Tätigkeit von Frauen im Krieg? Gelang es, diesen Teil der Bevölkerung umfassend in die nationalsozialistische Arbeitskräftelenkung einzubeziehen? Oder vermochte der NS-Staat die deutschen weiblichen Arbeitskräfte in der Region nur unzureichend für einen Arbeitseinsatz im Krieg zu mobilisieren? In der zumeist älteren Forschung zum Gesamtreich sind solche Fragen Gegenstand eines Streits, dessen Protagonisten freilich die erst relativ spät ins Blickfeld der Forschung gerückte Verantwortung der Frauen für die familiäre Reproduktion595 und ihre vielfältige Mobilisierung für ehrenamtliche 591 Zahlen und eigene Berechnungen nach Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 12, S. 10. 592 Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 767. 593 Zahlen und eigene Berechnungen nach Tabelle Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 12, S. 10. 594 Vgl. Kap. II.2. 595 Zur Rolle der häuslichen Reproduktionsarbeit im Zweiten Weltkrieg vgl. Birthe Kundrus, Loyal, weil satt. In: Mittelweg 36, 5 (1997), S. 80–93; Kundrus, Kriegerfrauen; Margarethe Dörr, Mittragen – Mitverantworten? Eine Fallstudie zum Hausfrauenalltag im Zweiten Weltkrieg. In: Hagemann/Schüler-Springorum (Hg.). Heimat – Front, S. 275–290, insbes. S. 278–283. Eine besondere Debatte löste Anfang der 1990er-Jahre die Veröffentlichung von Claudia Koonz, Mütter im Vaterland, Freiburg i. Brsg. 1991,

178

Im Schatten des Krieges

­Tätigkeiten596 sowie für Kriegshilfsdienste597 meist unberücksichtigt lassen.598 Ihre Positionen werden in diesem Kapitel anhand der Ergebnisse für die Region kritisch hinterfragt. Rein rechtlich, so Dörte Winkler, bestand bei Kriegsbeginn die Möglichkeit, alle Frauen zwischen 14 und 60 Jahren zur Arbeit heranzuziehen.599 Ihr zufolge nutzte das NS-Regime, trotz ständiger Diskussionen in der Führungsspitze, während des gesamten Krieges seinen Spielraum jedoch nicht aus. Vielmehr förderte es im Gegenteil mit seiner großzügigen Familienunterstützung600 für aus, die die radikale Haltung vertrat, dass Frauen über ihre Tätigkeit in spezifisch weiblichen Bereichen, vor allem dem Gebären von Kindern und der sozialfürsorgerischen Tätigkeit, zu Mittäterinnen an den Untaten des Nationalsozialismus wurden. Zur Diskussion über dieses These vgl. etwa Gisela Bock, Frauen und der Nationalsozialismus. In: GG, 15 (1989), S. 563–579; Adelheid von Saldern, Opfer oder (Mit)Täterinnen? Kontroversen über die Rolle der Frauen im NS-Staat. In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium, 20 (1991), S. 97–103; Gisela Bock, Ein Historikerinnenstreit? In: GG, 18 (1992), S. 400; Claudia Koonz, Erwiderung auf Gisela Bocks Rezension von „Mothers in the Fatherland“. In: GG, 18 (1992), S. 394–399; die Diskussion zusammenfassend: Birthe Kundrus, Frauen und Nationalsozialismus: Überlegungen zum Stand der Forschung. In: AfS, 36 (1996), S. 481–499, hier 484–486, 491–493; Christina Herkommer, Frauen im Nationalsozialismus – Opfer oder Täterinnen. Eine Kontroverse der Frauenforschung im Spiegel feministischer Theoriebildung und der allgemeinen historischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, München 2005. 596 Vgl. Nicole Kramer, Volksgenossinnen an der Heimatfront. Mobilisierung, Verhalten, Erinnerung, Göttingen 2011, die die Kriegsbeiträge von Frauen in nationalsozialistischen Frauenorganisationen, im zivilen Luftschutz und in der Hinterbliebenenversorgung beschreibt. Zu den wenigen frühen Veröffentlichungen in diesem Bereich zählt die Pionierstudie Jill Stephensons zu den nationalsozialistischen Frauenorganisationen: The Nazi Organisation of Women, London 1981, S. 178–219. Für den Krieg siehe S. 178–213; Georg Tidl, Die Frau in Nationalsozialismus, Wien 1984; Susanna Dammer, Kinder, Küche, Kriegsarbeit – Die Schulung der Frauen durch die NS-Frauenschaft. In: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Hg. von der Frauengruppe Faschismusforschung, Frankfurt a. M. 1981, S. 215–245, welche sich allerdings vor allem mit der Vorkriegszeit befasst. 597 Vgl. zu den Kriegshilfsdiensten etwa Franka Maubach, Die Stellung halten. Kriegserfahrungen und Lebensgeschichten von Wehrmachthelferinnen, Göttingen 2009; dies., Expansionen weiblicher Hilfe. Zur Erfahrungsgeschichte von Frauen im Kriegsdienst. In: Sybille Steinbacher (Hg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, 2. Auflage Göttingen 2007, S. 93–111; Rosemarie Killius, Frauen für die Front. Gespräche mit Wehrmachtshelferinnen, Leipzig 2003; Ursula von Gersdorff, Frauen im Kriegsdienst 1914–1945, Stuttgart 1969, S. 49–77, 278–533; Franz W. Seidler, Frauen zu den Waffen? Marketenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, Bonn 1998, S. 29–168; ders., Blitzmädchen. Helferinnen der Wehrmacht, Bonn 1998; siehe auch die Literaturüberblicke von Hagemann, „Kraft“, Birthe Kundrus, Nur die halbe Geschichte. Frauen im Umfeld der Wehrmacht zwischen 1945 und 1945 – Ein Forschungsbericht. In: Müller/ Volkmann (Hg.), Wehrmacht, S. 718–735, hier 720–723. Siehe auch Kap. V. 3. 2 dieser Arbeit, das die Einberufungen der Wehrmachtshelferinnen im Kontext der NS-Arbeitskräftelenkung behandelt. 598 Vgl. zum Stand der NS-Frauen- und Geschlechtergeschichte die folgenden Literaturüber­ blicke: Kramer, Volksgenossinnen, S. 20–25; Kundrus, Frauen. 599 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 87. 600 Zur Funktion der Familienunterstützung für die Aufrechterhaltung bzw. Schwächung traditioneller Geschlechterrollen vgl. Kundrus, Kriegerfrauen.

Frauenarbeit

179

eingezogene Soldaten den Rückzug bereits berufstätiger Frauen vom Arbeitsleben.601 Auch in der zweiten Kriegshälfte schlugen ihr zufolge alle weiteren Aktionen fehl, in größerem Umfang Frauen für die Rüstungsindustrie zu gewinnen. Ausschlaggebend dafür waren bei Hitler, laut Winkler, ideologische Gründe und nicht etwa die Angst vor Unruhe an der Heimatfront.602 Wie nach ihr Stefan Bajohr, sah sie eine Arbeitskraftreserve vor allem in den Frauen der Ober- und Mittelschicht, die aus ideologischen und Bequemlichkeitsgründen nicht berufstätig gewesen und deren Vorrechte vom NS-Staat nicht angetastet worden seien.603 Rüdiger Hachtmann betont darüber hinaus auch die Rolle der Zwangsarbeit als Aspekt für die mangelnde Mobilisierung von Frauen für die Rüstungsindustrie ab Sommer 1941.604 Wie vor ihm bereits Ingrid Schupetta, die auf der Basis der Forschungsliteratur argumentiert,605 ist der prominenteste Vertreter der Gegenthese, Richard J. Overy, der Meinung, dass die Nationalsozialisten das weibliche Arbeitskräftereservoir weitgehend ausgeschöpft hätten. Er vertritt, ausgerechnet gestützt auf die Zahlen Stefan Bajohrs,606 die Meinung, dass bereits 1939 in Deutschland mehr Arbeitskräfte weiblich gewesen seien als in Großbritannien, nämlich 37 statt 26 Prozent. Während des gesamten Krieges habe die deutsche Wirtschaft prozentual gesehen mehr Frauen beschäftigt als die britische und die amerikanische. Zwar gesteht er zu, dass es den deutschen Behörden schwerfiel, die absolute Zahl arbeitender Frauen während des Krieges zu erhöhen, behauptet aber: „Jede Argumentation, die zu beweisen sucht, dass 14 Millionen berufstätige Frauen im Jahr 1941, 42 Prozent aller deutschen Beschäftigten, als Anzeichen einer mangelnden Mobilisierung der Frauen in Deutschland gelten müssten, hat ein seltsames Verhältnis zur Realität.“607 Bei einer Einführung einer allgemeinen Arbeitsdienstpflicht für Frauen wäre, so Overy, „die Folge eine weit umfassendere Mobilisierung der Frauen gewesen als in Großbritannien oder den USA“.608 Für die Region ist die zahlenmäßige Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit schwierig einzuschätzen, selbst wenn lediglich die außerhäusliche Erwerbsarbeit als Arbeitnehmerin betrachtet wird. Die einzigen verfügbaren Zahlen stellen die Arbeitsbuchzahlen dar, die insgesamt zuverlässiger sind als in der Forschung oft

601 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 103. 602 Vgl. ebd., S. 187 f. Ohne sie zu zitieren, folgt ihr Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 770–772. 603 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 189; Bajohr, Hälfte, S. 292; Eiber, Frauen, S. 582; Hachtmann, Industriearbeiterinnen, S. 341 f. 604 Vgl. ders., „… artgemäßer Arbeitseinsatz“, insbes. S. 241, 249. 605 Vgl. Ingrid Schupetta,, Frauen- und Ausländererwerbstätigkeit in Deutschland von 1939–1945, Köln 1983, S. 134–141; Tilla Siegel, Leistung und Lohn in der nationalsozialistischen „Ordnung der Arbeit“, Opladen 1989, S. 172–174. 606 Vgl. Bajohr, Hälfte, S. 252. 607 Overy, Blitzkriegswirtschaft, S. 429; vgl. auch ebd., S. 425–431. 608 Ebd., S. 430 f.

180

Im Schatten des Krieges

angenommen.609 Ihre Bezugsgrößen sind jedoch die Arbeitsamtsbezirke, deren Zuschnitte in den Jahren 1939 bis 1942 teilweise verändert wurden.610 Beispielhaft für die Region werden daher im Folgenden für die ersten Kriegsjahre der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz als städtisch geprägter sowie die Bezirke Annaberg und Olbernhau als eher ländlich geprägte Gebiete betrachtet, die von veränderten Gebietszuschnitten unberührt geblieben waren: Tabelle 5: Arbeiterinnen und weibliche Angestellten in den Jahren 1939–1942 (in absoluten Zahlen)611 31.8.1939

30.9.1940

AA Chemnitz

75 127

67 544

69 933

70 320

AA Annaberg

19 111

17 438

17 991

18 286

AA Olbernhau

8 040

8 027

7 875

7 912

824 072

753 713

783 916

786 409

LAA Sachsen

30.9.1941

30.9.1942

Tabelle 6: Arbeiterinnen und weibliche Angestellte in den Jahren 1939–1942 (Index: 31.8.1939 = 100)612 31.8.1939

30.9.1940

30.9.1941

30.9.1942

AA Chemnitz

100

90

93

94

AA Annaberg

100

91

94

96

AA Olbernhau

100

100

98

98

LAA Sachsen

100

91

95

95

Der Tendenz nach spiegelt die Entwicklung in den Arbeitsamtsbezirken der Region die Entwicklung im Reich und in Sachsen. Die Zahl der weiblichen Beschäftigten sank in der ersten Kriegsphase um bis zu zehn Prozent ab. Freilich

609 Vgl. Kap. I. 2. 610 Vgl. Kap. IV. 2. 4. 611 Für 1939 siehe Arbeitsbuchinhaber (Arbeiter und Angestellte) im Bezirk des AA Chemnitz (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.); Arbeitsbuchinhaber (Arbeiter und Angestellte) im Bezirk des AA Annaberg (ebd.); Arbeitsbuchinhaber (Arbeiter und Angestellte) im Bezirk des AA Olbernhau (ebd.); Arbeitsbuchinhaber (Arbeiter und Angestellte) im Bezirk des LAA Sachsen (ebd.); für 1940 bis 1942 siehe Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 1, S. 2; ebd. 13, S. 3; ebd. (1942) 10, S. 7. Die Zahl für 1939 nennt die Gesamtzahl der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten, die Zahlen von 1940–1942 die beschäftigten Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten. Das lässt den Rückgang der weiblichen Beschäftigung etwas stärker aussehen, als er wohl in Wirklichkeit war. 612 Eigene Berechnungen nach Tabelle 5.

181

Frauenarbeit

erreichte sie in Chemnitz und in Annaberg anders als im Reich613 nicht erst im Frühjahr 1941 ihren Tiefpunkt, sondern befand sich zu dieser Zeit bereits wieder in einem Aufwärtstrend, der mit saisonalen Schwankungen614 bis in den Herbst 1942 anhielt, ohne dass das Niveau des Kriegsanfangs wieder erreicht werden konnte. Stadt-Land-Unterschiede scheinen bei dieser Entwicklung keine Rolle gespielt zu haben. In Chemnitz und Annaberg verläuft die Entwicklung nahezu parallel. Lediglich der relativ kleine Arbeitsamtsbezirk Olbernhau konnte den weiblichen Beschäftigungsstand in etwa halten, freilich auf einem sehr viel niedrigeren Niveau als die anderen Arbeitsamtsbezirke, wie die folgende Tabelle zeigt. Tabelle 7: Anteil der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten an allen ­Arbeitern und Angestellten in Prozent615 31.8.1939

30.9.1940

30.9.1941

30.9.1942

AA Chemnitz

39

41

45

47

AA Annaberg

40

45

49

51

AA Olbernhau

33

39

42

44

LAA Sachsen

39

43

46

47

In allen Arbeitsamtsbezirken stieg der Anteil weiblicher Beschäftigter kräftig an, obwohl die weiblichen Beschäftigten in absoluten Zahlen zurückgingen oder höchstens gleich blieben. Während sich der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz dabei mehr oder weniger im sächsischen Durchschnitt bewegte, war der Frauenanteil in Annaberg besonders hoch. Dort stellten weibliche Arbeiter und Angestellte im Herbst 1942 bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten. Olbernhau verzeichnet die stärksten Zunahmen, freilich von einem sehr viel niedrigeren Ausgangsniveau aus, das mit der dortigen Dominanz der Holzindustrie zusammenhing, deren schwere körperliche Arbeit für Frauen weitgehend ungeeignet schien. Im Großen und Ganzen bestätigen sich damit für die Region die Ergebnisse Stefan Bajohrs für das Reich, die Overy für seine Argumentation heranzieht. Auch auf der regionalen Ebene bleibt damit vordergründig der Widerspruch zwischen den Argumentationen Winklers und Overys bestehen. Er löst sich freilich dann auf, wenn gefragt wird, ob der Anteil weiblicher Beschäftigter an allen Beschäftigten tatsächlich das aussagt, was Overy behauptet, nämlich den Grad der Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft zu messen. Der

613 Vgl. Statistik der Beschäftigung deutscher Frauen 1939–1944 aufgrund der kriegswirtschaftlichen Kräftebilanz, zit. nach Winkler, Frauenarbeit, S. 201. 614 Vgl. Der Arbeitseinsatz in Sachsen 1940–1942, passim. 615 Eigene Berechnungen nach Tabelle 1 und Tabelle 5.

182

Im Schatten des Krieges

steigende Anteil der Frauen an den weiblichen Beschäftigten geht in der Region vor allem auf die Abnahme der absoluten Zahl der männlichen Arbeitnehmer zurück: Allein im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz nahm deren Zahl von mehr als 117 000 zu Kriegsbeginn auf knapp 80 000 im Herbst 1942 ab; in Annaberg ist gar ein Rückgang von knapp 29 000 auf 17 000 zu verzeichnen. Tatsächlich misst der Anteil der Frauen an den Beschäftigten nicht den Grad der Mobilisierung der Frauen für die Kriegswirtschaft, sondern viel eher den Grad der Mobilisierung der Männer für die Wehrmacht und, bei den regionalen Zahlen, auch für Dienstverpflichtungen in andere Reichsteilen. So sind auch der besonders hohe Wert für den Arbeitsamtsbezirk Annaberg bzw. die stark steigenden Werte für den Bezirk Olbernhau zu erklären. In der in Annaberg vorherrschenden Textilwirtschaft und der in Olbernhau starken Holzindustrie dürften sehr viel weniger Männer unabkömmlich gestellt gewesen sein als in der Maschinenbau- und Fahrzeugindustrie des Arbeitsamtsbezirks Chemnitz. Daher verloren diese beiden Bezirke in den ersten drei Kriegsjahren deutlich mehr männliche Arbeitskräfte als der Chemnitzer Bezirk.616 Konsequenterweise stieg der Frauenanteil an den Beschäftigten stärker an. Ist nun deshalb auch für die Region Chemnitz der These zu folgen, dass dem Regime die Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft misslang? Die qualitativen Quellen scheinen dies ebenso nahezulegen wie die quantitativen. Zunächst mussten mit Kriegsbeginn insbesondere verheiratete Frauen, sogenannte Doppelverdienerinnen, in vielen Fällen ihren Arbeitsplatz in der Textilindustrie verlassen, weil viele Unternehmen Produktionseinschränkungen vornahmen.617 Gleichzeitig registrierte das Landesarbeitsamt Sachsen erste Fälle, denen zufolge „Frauen unter Berufung auf die ihnen nach Einberufung der Männer zustehende Familienunterstützung die Arbeit niederlegten“.618 Doch bald schon waren Arbeiterinnen wieder gefragt. Die Metallbetriebe begannen, Beobachtungen des Chemnitzer Arbeitsamtes zufolge, bereits im November 1939 mit der Einstellung von Frauen, allerdings nur besonders „kräftigen“. Ältere Textilarbeiterinnen gingen der Wirtschaft in der Regel verloren, weil sie nicht anderweitig einsetzbar seien, so das Amt.619 Bis zur Jahreswende 1939/1940 erfolgte die Trendwende bei der Frauenbeschäftigung auf breiter Front: Die Textilindustrie gliederte die vor Wochen entlassenen oder beurlaubten Arbeiterinnen wieder in den Produktionsgang ein. Gleichzeitig suchten metallverarbeitende und Maschinenbaubetriebe die Frontabgänge männlicher Mitarbeiter systematisch durch die Einstellung von Frauen zu kompensieren, 616 Vgl. Kap. IV.2.4. 617 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 618 LAA Sachsen, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 619 AA Chemnitz, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im Oktober 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

Frauenarbeit

183

eine Entwicklung, die sich in den Berichten des Landesarbeitsamtes Sachsen deutlicher spiegelt als in denen der Arbeitsämter der Untersuchungsregion,620 mithin in Gesamtsachsen ausgeprägter gewesen sein dürfte als im Chemnitzer Raum, sich aber mit fortdauernder Kriegsdauer auch in der Untersuchungs­ region verstärkte. So wies die Unternehmensleitung der Wanderer-Werke AG ihre Betriebsleiter Anfang Juni 1940 an, „sehr viele“ Frauen einzustellen, und zwar selbst dann, wenn sie sie noch nicht voll einsetzen könnten. Das Unternehmen rechnete zu diesem Zeitpunkt mit weiteren Einberufungen und wollte sich für diesen Fall bereits Ersatzarbeitskräfte gesichert haben.621 Im Frühjahr 1940 häuften sich Berichte über Schwierigkeiten bei der Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft: Unisono betonten die Arbeitsämter der Region, dass sich viele Frauen wegen der Familienunterstützung für ihre an der Front stehenden Ehemänner aus der Erwerbsarbeit zurückzögen.622 Gleichzeitig verzeichneten die Arbeitsämter ein für sie ungewohntes Maß an „Disziplinlosigkeiten“ bei den weiblichen Belegschaften: „In erschreckendem Umfange häufen sich jetzt, besonders in Textilbetrieben, die Klagen, dass die Zahl der Arbeitsniederlegungen von Ehefrauen, deren Männer zum Heeresdienst einberufen wurden, wesentlich über das normale Maß der Abgänge […] hinausgeht. Hierunter befinden sich insbesondere kinderlose Ehefrauen, die mitunter jahrelang am gleichen Arbeitsplatz tätig waren und bisher mit größter Peinlichkeit jeden Arbeitsausfall vermieden haben. Wiederholt wurde von diesen Frauen unter irgendwelchen Vorwänden versucht, die Arbeit ohne Einhaltung der Kündigungsfrist niederzulegen. Eine Rückfrage bei den zuständigen Ortskrankenkassen ergab, dass der Krankenstand der versicherungspflichtigen weiblichen Berufstätigen gegenüber den Vormonaten mitunter um 55 Prozent zugenommen hat.“623 Diese Erscheinungen waren nicht auf die Region begrenzt. Sie scheinen Dörte Winklers reichsbezogene These auch für die Region zu bestätigen, wonach sich Frauen wegen der ideologisch begründeten

620 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 15.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz 15.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); für ganz Sachsen siehe LAA Sachsen, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 621 Vgl. Protokoll der Besprechung der Vertrauensmänner mit [Werner] Kniehahn am 6.6.1940 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 681, unpag.). 622 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); vgl. auch AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 623 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–29.2.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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Einrichtung der Familienunterstützung für Frauen von Frontsoldaten aus der Kriegswirtschaft zurückzogen.624 Dazu passt auch, dass Aktionen der Arbeitsämter oder NS-Frauenschaften zur Mobilisierung von Frauen in der Untersuchungsregion wie überall im Reich durchweg scheiterten oder allenfalls mäßige Erfolge erzielten: Bereits gegen Ende des Jahres 1939 überprüfte das Arbeitsamt Flöha seine Karteien und lud mehrere Hundert Frauen vor, um sie zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Lediglich 20 verheiratete Frauen erklärten sich jedoch dazu bereit, bei 30 weiteren stand laut Arbeitsamt die Versorgung noch nicht schulpflichtiger Kinder im Weg. Doch sei, so das Arbeitsamt optimistisch, die Errichtung weiterer Kindertagesstätten geplant.625 Im Januar versuchte man es sogar mit Werbung über die örtliche Presse, allerdings nur mit „bescheidenem“ Erfolg. Weibliche Arbeitskräfte stünden „tatsächlich kaum mehr zur Verfügung“, so die Bilanz des Arbeitsamtes.626 Insgesamt seien laut Arbeitsbuchstatistik Ende 1939 850 Frauen mehr als Ende 1938 tätig, damit seien jetzt 36 Prozent aller Arbeitskräfte im Bezirk weiblich, so brüstete sich das Amt.627 Allerdings, so ist dem hinzuzufügen, wurden von den Maßnahmen systematisch nur jene erfasst, die bereits in den Karteien der Arbeitsverwaltung erfasst waren, also irgendwann einmal berufstätig gewesen waren. Frauen, die nie eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hatten, blieben für die Arbeitsämter unsichtbar. Mehrere Arbeitsämter überprüften daher ab Mai 1940 neben den ruhenden Karteien auch die freilich offenbar noch in den Anfängen steckende Volkskartei die über die Arbeitsbuchkartei hinaus die gesamte Bevölkerung erfassen sollte,628 ohne dass sich nennenswerte Erfolge einstellten.629 Bereits im April 1940 hatte überdies Rudolf Heß den NS-Frauenschaften die Aufgabe übertragen, nicht berufstätige Frauen für eine Arbeitsaufnahme zu werben.630 Entsprechende Bemühungen, auch diejenigen Frauen zu erfassen, die in ihren Karteien nicht vorkamen, bilanzierten die Arbeitsämter der Region im Juli 1940: Demnach war die Aktion in Chemnitz auf den ersten Blick noch einigermaßen erfolgreich. Dort überprüften die Frauenschaften in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt knapp 2 300 Frauen. Etwa 400 konnte das Arbeitsamt sofort vermitteln, weitere 400 wurden für einen späteren Einsatz vorgemerkt, 200 hatten bereits eine Arbeitsstelle. Weit über die Hälfte der Frauen war allerdings nach Ansicht der Arbeitsamtsmitarbeiter körperlich ungeeignet oder

624 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 3. 625 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 626 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.1.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 627 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz 1.–15.2.1940 (ebd.). 628 Vgl. zur Volkskartei Kroener, personelle Ressourcen, S. 753. 629 Vgl. z. B. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz 15.–31.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); sowie im Juli 1940 (ebd.); Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 630 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 107.

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wurde durch andere Umstände an einer Arbeitsaufnahme gehindert.631 Angesichts von mehr als 75 000 weiblichen Arbeitskräften im Arbeitsamtsbereich bei Kriegsbeginn waren die rund 800 Geworbenen nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, der das Schrumpfen der Zahl der weiblichen Arbeitskräfte um insgesamt rund 7 000 zwischen Herbst 1939 und 1940 nicht verhindern konnte. Auch beim Arbeitsamt Glauchau reichten die örtlichen NS-Frauenschaften Namenslisten ein. Nach einer Befragung durch das Arbeitsamt stellte sich eine Reihe von Frauen wenigstens tage- oder stundenweise zur Verfügung, ohne dass das Amt die Ergebnisse quantifizierte.632 Im Arbeitsamt Flöha befand man zwar, dass von allen Initiativen zur Arbeitskräftegewinnung „am wirksamsten die Zusammenarbeit mit den Parteidienststellen, insbesondere der NS-Frauenschaft“ gewesen sei.633 Das quantitative Ergebnis nimmt sich allerdings bescheiden aus: Demnach konnten im Juni höchstens 70 und im Juli lediglich 15 Frauen vermittelt werden.634 Während des Winters bemühten sich die Arbeitsämter weiterhin, zusätzliche Frauen anzuwerben. Von der Partei kam Unterstützung durch eine reichsweite Werbewoche im März 1941, die unter dem Motto „Frauen helfen siegen“ stand, sowie eine entsprechende Führerrede im Mai.635 Doch ähnlich wie im Reich insgesamt, blieb auch in der Region die auf die freiwillige Arbeitsaufnahme durch die angesprochenen Frauen abzielende Kampagne ohne Wirkung.636 Mit Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941, der weitere Abzüge männlicher Arbeiter und Angestellter zur Folge hatte, erließ Göring die Bestimmung, dass Frauen, die nach Kriegsbeginn ihre Arbeit aufgegeben hatten, wieder zur Arbeit herangezogen werden sollten, wenn sie nicht gesundheitlich oder durch die Versorgung von Kindern bzw. der Pflege von Angehörigen verhindert waren. Gleichzeitig wurde für alle „Kriegerfrauen“ der finanzielle Anreiz verbessert, in dem die bereits im Mai 1940 reduzierte Anrechnung des Lohns auf die Kriegsunterstützung637 ganz wegfiel. Dies entsprach im Übrigen einer immer wieder vorgetragenen Forderung der Arbeitsämter und des Rüstungskommandos Chemnitz.638 Nicht kriegsunterstützte Frauen sollten sogar

631 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). Vgl. auch AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (ebd.). 632 Vgl. AA Glauchau, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); sowie im Juli 1940 (ebd.). 633 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 634 Vgl. ebd.; AA Flöha Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1940 (ebd.). 635 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 109. 636 Vgl. z. B. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 637 Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 331, 337. 638 Vgl. z. B. AA Olbernhau, Berichte über den Arbeitseinsatz im Dezember 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.);

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dienstverpflichtet werden können, falls sie ihre Arbeit ohne einen in den Augen des Regimes triftigen Grund niedergelegt hatten.639 Bereits 1940 war es zu einzelnen Aktionen gekommen, mit denen örtliche Behörden kriegsunterstützte Frauen zur Arbeitsaufnahme veranlassen wollten. Vor dem Hintergrund der auf Pazifizierung zielenden politischen Stoßrichtung des Familienunterhalts sowie einer unklaren Rechtslage, zu der eine aufgehobene Meldepflicht für unterstützte Frauen ebenso gehörte wie eine grundsätzliche Arbeitspflicht, herrschte jedoch eine gewisse Unschlüssigkeit, wie mit dieser Personengruppe zu verfahren sei.640 Auch in der Region hatten einzelne Arbeitsämter im Winter 1940/41 mit entsprechenden Maßnahmen begonnen: Einige Gemeinden des Bezirks Olbernhau gaben die Namen ihrer Unterstützungsempfängerinnen an das Arbeitsamt weiter, das mit den Frauen verhandelte.641 Nach dem erwähnten Erlass Görings verstärkten alle Arbeitsämter ihre Bemühungen um die kriegsunterstützten Frauen, indem sie sie systematisch vorluden. Viele Frauen waren allerdings aus der Sicht der Arbeitsämter tatsächlich nicht in der Kriegswirtschaft einzusetzen, weil sie nach Kriegsbeginn Kinder geboren hatten oder gesundheitlich angeschlagen waren. In Chemnitz war nach diesen Maßstäben nur fünf Prozent der vorgeladenen Frauen eine Arbeitsaufnahme überhaupt möglich. Auch die anderen Arbeitsämter erzielten kaum nennenswerte Ergebnisse. Lediglich das Arbeitsamt Flöha bewertete den Erfolg der Aktion als gut. Es konnte immerhin ein gutes Viertel der vorgeladenen rund 700 Frauen zur Arbeitsaufnahme bewegen.642 Vielfach aber ernteten die Arbeitsamtsmitarbeiter wütende Proteste: „In den Verhandlungen […] brachten vor allem die älteren Frauen, die zum Teil noch Kinder in ihrem Haushalt zu betreuen haben, ihre Empörung über die Androhung der Familienunterhaltskürzung zum Ausdruck. Sie erklären, dass den jungen Frauen, die keine Kinder zu betreuen haben und ebenso Familienunterstützung erhalten, der Einsatz jetzt im Kriege erst recht zuzumuten sei, auch wenn sie bisher dank der guten finanziellen Lage des Mannes, bzw., vor der Verheiratung, des Vaters, überhaupt nicht gearbeitet haben. Die Tatsache, dass Frauen, deren Ehemänner Kriegsbesoldung oder weiterhin ihre Bezüge als Beamter erhalten, weder eine Kürzung noch sonst irgendwelche Maßnahmen zu erwarten

RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 4.4.1940–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/3, Bl. 5). 639 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 109; Kundrus, Kriegerfrauen, S. 341 f. 640 Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 328, 334. 641 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Dezember 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 642 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); vgl. AA Flöha, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juli 1940 sowie im August 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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haben, bringt eine ziemliche Unruhe unter die Arbeiterfrauen.“643 Wie Birthe Kundrus für das Reich nachgewiesen hat, stand die Orientierung der Familienunterstützung am früheren Verdienst bei den ärmeren Schichten ohnehin in der Kritik.644 Aktionen wie die eben beschriebene verschärften diese weiter: Auch in Chemnitz und im Erzgebirge merkten die betroffenen Frauen, dass die Familienunterstützung soziale Unterschiede fortschrieb (und fortschreiben sollte645). Sie fühlten sich daher durch den beschriebenen Erlass doppelt diskriminiert, weil er diejenigen Frauen unbehelligt ließ, die noch nie hatten arbeiten müssen. Da halfen auch Verfügungen des OKH nur noch wenig, die darauf abzielten, Frauen von Wehrmachtsangestellten, hauptberuflichen Soldaten und Offizieren zur Arbeit zu bewegen. Das Arbeitsamt Olbernhau, das entsprechende Verhandlungen mit diesen Frauen führte, gewann den Eindruck, dass „in den Truppeneinheiten nach wie vor die Auffassung herrscht, die Wehrmacht werde jederzeit die Arbeitsablehnung der Frauen decken“.646 Zur Arbeitsaufnahme ließ sich kaum jemand aus diesem Personenkreis überreden; zum Teil drohten die Frauen sogar damit, dass sich ihre Ehemänner bei höheren Dienststellen beschweren würden.647 Insgesamt bestätigt sich auch hier Winklers reichsbezogenes Ergebnis für die Region, wonach der quantitative Erfolg der Aktion gering, die dadurch hervorgerufene Missstimmung wegen der Bevorzugung materiell besser gestellter Frauen aber groß war.648 Der Misserfolg verdeutlicht, dass die Anrechnung des Lohns auf die Kriegsunterstützung zumindest nicht der einzige Grund für die zögernde Arbeitsaufnahme von Frauen war. Das Bild bleibt unvollständig, solange nicht die Reproduktionsarbeit der Familienmütter649 berücksichtigt wird, die nur vereinzelt in den Akten aufscheint. Noch relativ häufig wird das Problem der mangelnden Versorgung mit bestimmten Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern genannt. Zwar litt einheimische Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, anders als im Ersten Weltkrieg, bis in den Herbst 1944 hinein kaum Hunger, auch dank der hemmungslosen Ausbeutung der besetzten Gebiete für die „Heimatfront“. Doch gab es schon in der ersten Kriegshälfte auch in Sachsen Lücken bei der Versorgung mit Genussmitteln. Einzelne Nahrungsmittel wurden durch Ersatzstoffe ersetzt; außerdem kam es zu Qualitätsverschlechterungen. Bei Gebrauchsgütern schließlich stockte vor allem die Textilversorgung.650 Unter diesen Umständen gehörte „Schlange­stehen“

643 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 644 Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 278 f. 645 Vgl. ebd., S. 278 f., 290 f. 646 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 647 Vgl. ebd. 648 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 109. 649 Vgl. z. B. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 309–320. 650 Vgl. Schumann, Lage, S. 67 f.

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bereits in der ersten Kriegshälfte zum Arbeitsalltag einer Hausfrau. Schon im Frühjahr 1940 klagten in Chemnitz berufstätige Frauen über Nachteile beim Einkauf gegenüber den Nur-Hausfrauen: „Besonders in der Belieferung von Kohlen usw. sollen sie immer zu spät gekommen sein. Sie sind darüber verärgert, dass die Geschäftsleute für die arbeitenden Frauen kein oder wenigstens nur geringes Verständnis zeigen.“651 Selbst die Arbeitsämter räumten ein, dass in einem Arbeitsverhältnis stehende Frauen beim abendlichen Einkauf häufig das Nachsehen hätten.652 Der Berichterstatter des Arbeitsamtes Lugau konnte sich allerdings nicht enthalten, hämisch anzufügen: „Es hat aber auch den Anschein, als ob das Schlangestehen manchen Frauen nicht ganz ungelegen kommt, denn da kann ja im Verein mit den anderen Geschlechtsgenossinnen besser und nachhaltiger gemeckert werden.“653 Wie schwierig es für Frauen mitunter war, von den männlich dominierten Arbeitsämtern als erwachsene selbstverantwortlich handelnde Personen wahrgenommen zu werden, dokumentiert auch die folgende Aussage aus dem Arbeitsamt Lugau, bei der es um Wünsche von Frauen bei der Arbeitsvermittlung geht: „Wie immer beim Einsatz von Frauen, tausend kleine Wünsche aus ihrem Alltag flattern auf, viel Neid und Missgunst mischt sich ein, hat man aber Geduld, ein bissel Humor, dann glätten sich die Wogen rasch wieder und die Hände fassen zu und sind fleißig.“654 Frauen werden hier als große Kinder dargestellt, die die Arbeitsamtsangestellten wie gütige Väter zu beruhigen und zu erziehen hatten und deren Sorgen nicht allzu ernst zu nehmen waren. Augenfälliger werden die Belastungen berufstätiger Frauen in der Schilderung des Ehemanns einer kinderlosen Fräserin der Maschinenfabrik Kappel vom Herbst 1941. Seine Frau, so schreibt er, arbeite montags bis freitags von 6.45 bis 17 Uhr, an Samstagen von 6.45 bis 13.00 Uhr. Gegen 17.30 Uhr sei sie zu Hause, müsse sich dann erst einmal waschen und danach einkaufen gehen. Nach dem Abendessen, das in der Regel um 20 Uhr stattfände, habe seine Frau die dringendsten der üblichen Hausarbeiten zu verrichten, die noch dadurch erschwert würden, dass in ihrer Wohnung weder Gas noch fließendes Wasser vorhanden sei. Wasser müsse sie eimerweise aus dem Waschhaus holen und zum Ausleeren wieder in den Hof tragen. Vor 22 Uhr werde sie nie mit der Arbeit fertig und habe sich bis dahin noch nicht einmal um die Wäsche und Ar-

651 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 652 Vgl. z. B. AA Lugau, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juli 1941 sowie August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im Oktober 1941, im Juni 1942, im Juli 1942 sowie im Dezember 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); siehe für Sachsen auch LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 653 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 654 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1941 (ebd.).

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beitskleidung des Ehepaares kümmern können. Er selbst arbeite zehn Stunden täglich. Weder Ehemann noch Ehefrau waren willens, die sich aus ihrer Berufstätigkeit zusätzlich ergebenden Arbeitsbelastungen auf Dauer hinzunehmen. Unter Bezug auf die chronische Überanstrengung seiner Frau und der dadurch entstehenden Beeinträchtigungen seines Ehelebens bat der Ehemann darum, die Arbeitszeit seiner Frau täglich um eine Stunde zu kürzen.655 Es gelang der Fräserin, in der Auseinandersetzung mit der Firmenleitung auch die DAF auf ihre Seite zu bringen, sehr zum Unmut des Betriebsleiters und Prokuristen der Firma, Willy Jarosch,656 der die Meinung vertrat, dass die Firma der Arbeiterin bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten entgegengekommen sei.657 Der Konflikt blieb im Kern ungelöst. Die Fräserin, die 1940 offenbar gegen ihren eigenen Willen bei Kappel eingesetzt worden war, zog sich auf ihre eigene Weise aus der Affäre, indem sie häufig krank war.658 War eine Berufstätigkeit angesichts der geschilderten Erschwernisse der Reproduktionstätigkeit im Krieg bereits für kinderlose Frauen anstrengend, standen Familienmütter noch vor ungleich größeren Schwierigkeiten. Vielfach war die Versorgung ihrer Kinder ein ungelöstes Problem: 15 Arbeiterinnen der Auto Union wünschten sich im Herbst 1939 einen Betriebskindergarten, der allerdings nicht zustande kam: „Teilweise sind diese Frauen ohne Anhang und sie mussten die Kinder teils bei Nachbarsleuten unterbringen und teils allein lassen“, so die Betriebsfrauenwalterin: „Sie laufen hier Gefahr, dass die Kinder nicht ordnungsgemäß erzogen und ernährt werden.“659 Ende 1939 scheiterte in Flöha die Arbeitsaufnahme von 30 Frauen an fehlenden Unterbringungsmöglichkeiten für ihre nicht schulpflichtigen Kinder.660 Trotz gelegentlicher Ankündigungen, dass vermehrt Betreuungsmöglichkeiten geschaffen werden sollten,661 scheint es in der Region zu wenig staatliche oder betriebliche Lösungen gegeben zu haben, als dass sie einen flächendeckenden Einsatz von Müttern in der Kriegswirtschaft erlaubt hätten. So gab es beispielsweise 1941 in ganz Sachsen lediglich 26 Betriebskindergärten.662 Im Kreis Stollberg existierten 655 Vgl. K. C. an den Betriebsführer der Maschinenfabrik Kappel am 3.10.1941 (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 184, unpag.). 656 Zu Jarosch vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 189 und Anm. 741. 657 Jarosch, Kurze Bemerkungen zu Vorfällen Gefolgschaftsmitglieder – DAF, am 23.3.1942 (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 185, unpag.). 658 Vgl. o. V. an Jarosch am 4.9.1940, ohne Titel (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 184, unpag.); sowie z. B. Jarosch am 9.2.1942, Bericht über das Gefolgschaftsmitglied Frau C. (StAC, Maschinenfabrik Kappel 184, unpag.). 659 „Betriebsobmann an den Betriebsführer“ am 28.11.1939, o. V. (StAC, Auto Union AG, 1057, unpag.). 660 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.12.1939 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 661 Vgl. z. B. AA Glauchau, Bericht über Arbeit und Arbeitslosigkeit im September 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); NSV-Kindergärten – überall. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 17.7.1941. 662 Hertha Schulze, Sachsens schaffende Frauen in guter Obhut. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 13./14.9.1941.

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g­ erade einmal 14 NSV-Kindertagesstätten und 4 Kinderhorte, die insgesamt 730 Kinder versorgen konnten.663 In der Regel blieb die Unterbringung von Kindern der individuellen Initiative und den familiären oder nachbarschaftlichen Netzwerken überlassen. Dennoch und obwohl entsprechende Bestimmungen die Mütter schützten, werteten die Arbeitsämter entsprechende Argumente von Arbeiterinnen mitunter als Schutzbehauptungen, um sich einer Berufstätigkeit zu entziehen: So notierte das Arbeitsamt Glauchau im Frühjahr 1940 einen Anstieg der Kündigungswünsche von Müttern, die in den meisten Fällen mit der Notwendigkeit der Kinderbetreuung begründet würden: „Die Verwandten, die bisher die Kinder beaufsichtigten, sollen angeblich nicht mehr in der Lage sein, Kinder zu betreuen. Die Angaben werden in jedem Falle durch die zuständige Ortspolizeibehörde nachgeprüft, um von vornherein genaue Unterlagen darüber zu erhalten.“664 Der wirkliche Grund, so meinte das Amt zu wissen, liege jedoch woanders, nämlich in der Anrechnung des Verdienstes auf die Kriegsunterstützung, die den Familienunterhalt ausreichend sichere.665 Selbst wenn die Kinderversorgung gesichert war, blieben jedoch die Belastungen für die Familie hoch. In der Textilfabrik C. W. Schletter waren 1941 auswärts wohnende Arbeiterinnen 50 Stunden in der Woche beschäftigt. Sie arbeiteten wegen ihres langen Arbeitsweges lediglich an fünf Tagen, waren dann aber mehr als zwölf Stunden von zu Hause abwesend, sodass sie ihre Hausarbeit ausschließlich am Samstag und Sonntag erledigen konnten.666 1943 erklärte ein Vertreter der Wanderer-Werke anlässlich einer Besprechung über den Einsatz von Straßenbahnen für den Berufsverkehr, „dass wir beispielsweise die Frühschicht kaum vor 6 Uhr beginnen lassen könnten, weil viele Frauen in ihrem Haushalt die notwendigsten Handgriffe tun bzw. ihre Kinder zu versorgen hätten“.667 Es lässt sich leicht vorstellen, dass die Familie unter diesen Umständen um drei oder vier Uhr morgens aufstehen musste, um die wichtigsten Dinge vor dem Arbeitsbeginn zu regeln. Wegen der vielfach noch fehlenden technischen Hilfsmittel in der Regel ohnehin zeitraubender als heute, geriet die Hausarbeit unter Kriegsverhältnissen immer stärker zur „Überlebensarbeit“,668 die Organisationstalent, Beziehungen und Geschick verlangte und immer mehr zusätzliche Zeit verschlang.

663 Betreuung von Mutter und Kind. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 6./7.12.1941. 664 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–31.3.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 665 Vgl. ebd. 666 C. W. Schletter an Gewerbeamt Chemnitz am 20.9.1941 betr. Zulagekarten für Langarbeiter (StAC, Fa. C. W. Schletter und Nachf., 156, unpag.). 667 Niederschrift über die Besprechung mit Herrn Direktor Keitel von der Städtischen Straßenbahn am 23.11.1943 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 582, unpag.). 668 Kundrus, Kriegerfrauen, S. 314.

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Das Rüstungskommando Chemnitz wies im Herbst 1941 darauf hin, dass Frauen mit einer Vollzeitstelle in der Industrie und der Führung eines Haushalts mit längerer Kriegsdauer häufig überfordert würden. So sei die „rein physische Beanspruchung der Frau durch eine 8-stündige Arbeitszeit in der Fabrik und eine anschließende Wahrnehmung ihrer Pflichten im Haushalt untragbar“. Sie müsse zwangsläufig zu Gesundheitsschäden und Arbeitsausfällen führen.669 In vielen Betrieben wurde schon kurz nach Kriegsbeginn 48 bzw. 54 Stunden gearbeitet. So verlangte beispielsweise die Rüstungsinspektion IV von den für sie produzierenden Textilbetrieben bereits im Frühjahr 1940 tägliche Arbeitszeiten von zehn Stunden für die Männer und neun Stunden für die Frauen.670 In den Metallbetrieben des Flöhaer Arbeitsamtsbezirkes lagen die Arbeitszeiten im Frühjahr 1940 durchwegs bei über 48 Wochenstunden, zum Teil arbeiteten die Belegschaften erheblich mehr.671 Bei Heeres- und Exportaufträgen durften die Firmen von Männern im Herbst 1940 bis zu 60 Stunden, von Frauen 56 Stunden Arbeitszeit verlangen.672 Viele Frauen drangen daher auf Teilzeittätigkeiten,673 was dazu führte, dass etwa Unternehmensleitungen im Raum Chemnitz im Frühjahr 1940 darüber klagten, dass verheiratete Frauen ungern länger als 40 Stunden arbeiteten.674 Als das Arbeitsamt Olbernhau versuchte, Unternehmen mit einer Arbeitszeit von 48 Stunden zur Erhöhung der Wochenstundenzahl zu bewegen, weigerten sich die Betriebe unter Berufung darauf, dass verheiratete Frauen bei einer 54-stündigen Arbeitszeit ihren Haushalt nicht mehr versorgen könnten.675 In Flöha und Umgebung ging im Frühsommer 1940 eine Reihe von Unternehmen dazu über, Frauen nicht länger als fünf bis sechs Stunden pro Tag zu beschäftigen.676 Vielfach standen solchen Kurzschichten aus Sicht der Unternehmen jedoch technische Schwierigkeiten entgegen, oder es fehlte schlicht an genügend Arbeiterinnen, um die Maschinen auszulasten.677

669 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BAMA Freiburg, RW 21–11/8, Bl. 26). 670 RüIn IV, Vierteljahrsbericht für das Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1940 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/2, Bl. 109). 671 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 16.–30.4.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 672 „Lt. Auskunft von Herrn M.“, Aktennotiz o V., o. D. [Herbst 1940] (StAC, Fa. C. W. Schletter und Nachfolger, 156, unpag.). 673 Vgl. z.  B. AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im September 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); im November 1941 (ebd.); sowie im Mai 1942 (ebd.). 674 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.3.1940 (ebd.). 675 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz vom 1.–15.5.1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 676 Vgl. AA Flöha, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juli 1940 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 677 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im Februar 1941 sowie im August 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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Wie überall sonst im Reich wehrten sich auch in der Region die Frauen gegen eine ihrer Meinung nach übermäßige berufliche Beanspruchung, indem sie häufig wegen Krankheit oder gar ohne Entschuldigung fehlten. Sie nahmen sich einfach die Zeit, die sie für ihre Familie benötigten, z. B. bei der Erschließung zusätzlicher Ernährungsquellen: Man verlange zwar auch in der Strumpfindus­ trie immer wieder Leistungssteigerungen, beobachtete das Arbeitsamt Lugau im Sommer 1942, doch lasse sich eher das Gegenteil beobachten: „Im Augenblick beschäftigt die Beeren- und Pilzsuche die weiblichen Gemüter, morgen sind es wieder andere Gründe, die zu einer Arbeitsunterbrechung führen und so geht das fort.“678 Trotz aller Bemühungen um Belehrung und Disziplinierung blieben die Firmen machtlos: Im bereits erwähnten Konflikt um die Fräserin der Maschinenfabrik Kappel machte Jarosch den Vertreter des Treuhänders der Arbeit beim Arbeitsamt darauf aufmerksam, dass „weder ein Betriebsappell noch Verwarnungen oder Bestrafungen zu einem Erfolg führen. Eine ganze Menge Arbeiterinnen entziehen [sic] sich dem Ganzen durch Krankmeldungen, unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit usw. so lange, bis die Entlassung ausgesprochen wird.“679 Im Frühjahr 1941 klagten Betriebe im Chemnitzer Raum über Arbeitszeitausfälle bei Frauen von bis zu 25 Prozent.680 Durchwegs prägen Klagen über beschäftigungsunwillige Frauen, über das Verlangen nach Teilzeitstellen, über Kündigungen und der Verlust von Arbeiterinnen für den Arbeitseinsatz bei Stilllegungen die Sicht von Arbeitgebern, Arbeitsämtern und anderen mit dem Arbeitseinsatz beschäftigter Institutionen. Doch trotz dieser Wahrnehmungen lag die Zahl beschäftigter Frauen in der Untersuchungsregion statistisch gesehen im Reichsvergleich weiterhin hoch und stabilisierte sich bis 1942 bei mehr als neun Zehnteln des Vorkriegsniveaus. Eine Ausdehnung über das freilich im diachronen und im Reichsvergleich hohe Vorkriegsniveau hinaus gelang allerdings zu keinem Zeitpunkt. Dennoch scheint das unter anderem durch Winkler vertretene Urteil, dass das Reich aufgrund ideologischer Scheuklappen die Frauen nicht in höherer Zahl zur Aufnahme einer Berufstätigkeit mobilisieren konnte, zu einseitig. Freilich mussten die mit der Verteilung der Arbeitskräfte betrauten Institutionen sowie die Unternehmen diejenigen Frauen, die sich dem industriellen Arbeitsprozess entzogen, vorwiegend als renitent, aufsässig und egoistisch wahrnehmen. Doch war ihre Sicht vielfach defizitär, weil sie die Frauenarbeit aus ihren familiären Bezügen herauslöste. Selbst die bruchstückhafte Überlieferung aus dem Untersuchungsraum verdeutlicht die enorme Wichtigkeit, die die in den Quellen oft unsichtbare Reproduktionsarbeit der Frauen für die Stabilisierung der NS-Kriegsgesellschaft besaß, selbst wenn man nicht der überzogenen The-

678 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 679 Jarosch, Bericht vom 5.9.1940 (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 184, unpag.). 680 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1941 (BAMA, RW 21–11/8, Bl. 26).

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se folgen will, dass einheimische „arische“ Frauen durch die Versorgung der Familien den Eroberungskrieg der Nationalsozialisten und den Judenmord erst ermöglichten und dadurch zu „Täterinnen“ wurden.681 Für die hier nicht behandelten nicht berufstätigen Frauen der Mittel- und Oberschichten wäre überdies zu prüfen, inwieweit sie sich ehrenamtlich engagierten und so ebenfalls ihren Beitrag zum Funktionieren der Kriegswirtschaft leisteten, ohne einer Lohnarbeit nachzugehen. Die wenigen Beispiele aus Chemnitz zeigen auch, in welchem Maße berufstätige Frauen unter einer Doppelbelastung litten, die der Nationalsozialismus allenfalls durch symbolische Maßnahmen linderte. Grundsätzlich überließ er es jedoch den Frauen selbst, individuell mit den widersprüchlichen an sie gerichteten Anforderungen fertig zu werden. Unter diesen Umständen erscheint nicht nur die von manchen Forschern als zu große Rücksichtnahme charakterisierte Nachgiebigkeit der nationalsozialistischen Herrschaft herrschaftstechnisch gesehen durchaus rational. Rational war auch das Verhalten vieler Arbeiterinnen, sich gegen eine Überbeanspruchung ihrer Kräfte zu wehren, um sich so ihre Leistungsfähigkeit zu bewahren.

681 Vgl. zu dieser Sichtweise Koonz, Mütter; eine differenzierte Bewertung der politischen Dimension der Reproduktionstätigkeit bei Kundrus, Kriegerfrauen, S. 319 f.; siehe auch Dörr, Mittragen, S. 289.

V. „Industrieller Luftschutzkeller“: Arbeitskräftelenkung und Industriearbeit vom Sommer 1942 bis zum Sommer 1944 1.

Die Entwicklung der Rüstungsfertigung

In den ersten Kriegsjahren war die Region Chemnitz für die Rüstungswirtschaft angesichts ihres hohen Industrialisierungsgrades von eher geringer Bedeutung für die Kriegswirtschaft gewesen. Doch ab 1942 veränderte sich die Situation allmählich. Die Militärbehörden vergaben mehr und umfangreichere Aufträge zur Fertigung von Waffen, Kriegsgeräten und Munition an Unternehmen des Chemnitzer Raums. Dies spiegelt sich unter anderem in der Anzahl von Beschäftigten der sogenannten W-Betriebe, die das Rüstungskommando Chemnitz für seinen Bereich, also für Südwestsachsen notierte.1 Anfang 1942 waren bei einer Gesamtbelegschaft der W-Betriebe von rund 113 000 Menschen, rund 92 000 Arbeitskräfte in Südwestsachsen für Wehrmachtsaufträge tätig. Obwohl das Rüstungskommando im September des Jahres 1942 die Betreuung von Stadt- und Landkreis Freiberg und damit von 16 W-Betrieben mit über 4 600 Mitarbeitern an das Rüstungskommando Dresden abgegeben hatte, stieg die Zahl der Beschäftigten der von ihm betreuten W-Betriebe bis Ende 1942 um rund 4 000 auf 117 000.2 Bis Mitte 1943 erhöhte sich die Anzahl der Beschäftigten weiter auf knapp 130 000, und Ende Januar 1944 arbeiteten dort fast 150 000 Menschen, also etwa ein Drittel mehr als zwei Jahre zuvor.3 Die vom Rüstungskommando betreuten W-Betriebe gehörten zwar zu den wichtigeren Rüstungsunternehmen der Region, waren aber bei Weitem nicht die einzigen, die sich an der Waffen-, Geräte- und Munitionsfertigung beteiligten. Das Chemnitzer Arbeitsamt registrierte ab Sommer 1942 erhebliche militärische Auftragssteigerungen in der gesamten Metallindustrie.4 Seiner Beobachtung nach arbeiteten die Betriebe im September 1942 ausschließlich für die Rüstung. Neue Aufträge würden ihnen mehr zudiktiert als erteilt.5 Das

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Zur Validität dieser Zahlen vgl. Kap. IV. 1. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/10, Bl. 33); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 5 RS-41, hier 10). RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 4RS–49RS, hier 40); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 4-59, hier 21). Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1942, im August 1942, im Oktober 1942 sowie im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); siehe auch AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.).

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­ rbeitsamt Flöha betrachtete die Kapazitäten seines Bezirks zur Umstellung A von der zivilen auf die militärische Produktion bereits im Sommer 1942 als erschöpft,6 musste im folgenden halben Jahr aber dennoch weitere Auftragssteigerungen im Metallsektor feststellen.7 Sie führten zusammen mit den noch anzusprechenden Industrieverlagerungen dazu, dass sich die Metallindustrie während des Jahres 1943 in diesem ehemals stärker textilbestimmten Bezirk8 zur Branche mit dem größten Arbeitskräftebedarf entwickelte.9 Aber die Waffen-, Geräte- und Munitionsfertigung beschäftigte nicht nur die Metallindustrie, sie breitete sich auch in andere Branchen hinein aus. Von der Stilllegung bedrohte Textilunternehmen versuchten ab Sommer 1942 vermehrt ihre Betriebe dadurch zu retten, dass sie textilfremde Zulieferaufträge für größere Rüstungsfirmen übernahmen.10 Anfangs scheiterten entsprechende Verhandlungen häufig, wie die IHK Chemnitz im Juni 1942 berichtete: „Zu greifbaren Erfolgen haben diese Bemühungen nur in ganz vereinzelten Fällen geführt, da es den Textilbetrieben naturgemäß an den zur Metallbearbeitung erforderlichen Maschinenkapazitäten fehlt. Im Regelfalle eignet sich ein Textilbetrieb nur zu Montagearbeiten, die seitens der Rüstungsbetriebe nur in begrenztem Umfange vergeben werden können.“11 Ein weiteres Hindernis scheint die Tatsache gewesen zu sein, dass die Textil­ firmen anfangs vor allem bei Unternehmen der Region Chemnitz-Zwickau um Aufträge warben. Die hier ansässigen Metallfirmen waren jedoch meist selbst schon Unterlieferanten und hatten daher keine weiteren Aufträge zu vergeben. Deshalb versuchten die Textilunternehmen spätestens ab Sommer 1942, Aufträge aus anderen Landesteilen zu erhalten. Da sie die notwendigen Arbeitskräfte stellen konnten, erteilte das Rüstungskommando die entsprechenden Genehmigungen. Im Spätsommer 1942 erklärte es sogar „die Zuweisung geeigneter Verlagerungsaufträge aus anderen Bereichen, insbesondere aus der Reichshauptstadt“, für „erwünscht“,12 und nahm damit eine grundsätzlich andere Haltung 6 7 8

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Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (ebd.). Vgl. Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des Arbeitsamtes Flöha am 30.4.1939 nach Berufsgruppen (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/3, unpag.). Zu diesem Zeitpunkt stellten die Textilarbeiter und -arbeiterinnen mit rund 9 400 Mitgliedern die größte Berufsgruppe und nahezu ein Drittel aller Arbeiter und Arbeiterinnen. Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1943 sowie Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). IHK Chemnitz, Walter Linse, am 4.6.1942 betr. Wirtschaftsbericht für die Reichsbankstelle Chemnitz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.); vgl. auch AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 13); vgl. auch RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/14, Bl. 32).

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als die örtlichen Arbeitsämter ein, die zu diesem Zeitpunkt bereits durchgängig die Knappheit der Arbeitskräfte beklagten. Bald darauf änderte das Rüstungskommando allerdings seine Meinung. Es musste im Herbst 1942 feststellen, dass die auf Metallfertigung umgestellten Textilunternehmen bald zusätzliche Arbeitskräfte forderten, obwohl die Umstellung ursprünglich nur dazu hatte dienen sollen, dem Unternehmen die durch die Einstellung der Textilfertigung beschäftigungslos gewordenen Arbeitskräfte zu erhalten. Viele Textilunternehmen erhielten nämlich nach der Fertigstellung des ersten Produktionsauftrags weitere, sehr viel umfangreichere Aufträge, die ihnen nach eigenen Angaben regelrecht aufgezwungen wurden und für die sie zusätzliche Arbeitskräfte benötigten. Diese Entwicklungen waren, da sie keine W-Betriebe betrafen, am Rüstungskommando zunächst regelrecht vorbeigegangen; es erfuhr den Sachverhalt erst durch eigens angestrengte Ermittlungen bei den Arbeitsämtern.13 Mit zunehmender Arbeitskräfteknappheit nahmen branchenfremde Tätigkeiten in der Textilbranche zu: Im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz, das die Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau umfasste, waren Ende 1942 mindestens 2 400 Beschäftigte aus 18 Textilbetrieben in der Luftwaffenfertigung eingesetzt.14 Für den sehr viel kleineren IHK-Bezirk Chemnitz schätzte die Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie die Anzahl der metallfertigenden Textilarbeiter für August 1943 auf immerhin 2 800, also auf rund fünf Prozent aller beschäftigten Textilarbeiter.15 Sie arbeiteten an unterschiedlichsten Produkten: Im Arbeitsamtsbezirk Annaberg montierten beispielsweise Posamentenfirmen Elektroinstallationsgeräte oder konfektionierten Kabelschnüre und bezogen dabei auch Heimarbeiter mit ein.16 Nur zum Teil arbeiteten die Firmen eigenständig an Zulieferaufträgen.17 Immer mehr Unternehmen aus anderen Teilen Deutschlands verlegten ab 1942 Teile ihrer Produktion in die Region Chemnitz.18 Vor allem ab 1943 mieteten oder pachteten auswärtige Unternehmen ganze Betriebsteile von den einheimischen Firmen, um dort Material zu lagern oder um mit der dort vorhandenen Belegschaft zu produzieren. Die unternehmerische Verantwortung lag in

13 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 3-39, hier 20). 14 Vgl. ebd., Bl. 39. 15 Vgl. Wirtschaftsgruppe Textilindustrie, Bezirksgruppe Sachsen, an die GWK Sachsen, Wika Chemnitz, am 2.11.1943 betr. Kräfteabzug in der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 8, unpag.). Prozentzahl nach eigener Berechnung. 16 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 17 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 16, 20); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942, S. 1 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 18 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1942 sowie April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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­ iesem Falle bei dem auswärtigen Unternehmen; die verpachtende einheimid sche Firma wurde zu einer Art Zweigwerk degradiert. Hintergrund für diese Bestrebungen war die Tatsache, dass der durch die Alliierten geführte Luftkrieg inzwischen die Zentren der deutschen Industrie erreicht hatte. 1942 waren noch vor allem die Wohnbezirke von Städten durch die Bombardements betroffen. Außerdem waren die technischen Möglichkeiten der britischen Luftwaffe noch nicht so ausgereift, dass sie umfassende, zielgerichtete Luftoffensiven fliegen konnte. Das änderte sich im Frühjahr 1943. Die Luftangriffe auf das Ruhrgebiet waren der Auftakt zu massiven Zerstörungen der Produktionskapazitäten des Deutschen Reiches.19 Das Land Sachsen wurde durch seine vergleichsweise hohe Luftsicherheit als Standort für Rüstungsproduzenten immer attraktiver.20 Im Frühjahr 1943 führte das Rüstungskommando Chemnitz aus, „dass Sachsen als eine Art industrieller Luftschutzkeller Deutschlands“ betrachtet würde und dass daher „eine große Anzahl Betriebe aus luftgefährdeten Gebieten an [das] Rü[stungs] k[omman]do herantrat mit der Bitte um Zuweisung geeigneter Verlagerungsobjekte“.21 Der kräftige Anstieg der Rüstungsproduktion über die Einwanderung auswärtiger Firmen war eine spezifisch südwestsächsische Erscheinung, die der geografischen Lage dieses Raumes geschuldet war. Die Verlagerungen bestimmten das rüstungswirtschaftliche Geschehen dieses Raums in den Jahren 1943 und 1944, zumal größere Schäden durch Bombardierungen bis zum Herbst 1944 ausblieben. Bereits Ende 1942 hatte Speer in einem Erlass die Verlagerung von zentra­len Fertigungen westlich einer Linie von Stettin über Berlin nach München befohlen. Zudem forderte er im April 1943 die Rüstungsfirmen dezidiert auf, Verlagerungen von Rüstungsfertigungen in Textilunternehmen in die Wege zu leiten,22

19 Vgl. Ralf Blank, Kriegsalltag und Luftkrieg an der „Heimatfront“. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/1, S. 357–461, hier 364–370; Tooze, Ökonomie, S. 685 f., der die „Schlacht an der Ruhr“ als „Wendepunkt in der Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft“ ansieht, weil die Alliierten künftig nach Belieben die deutsche Produktion stören konnten; für Janssen, Ministerium, S. 144–148, setzt die systematische Bombardierung von Rüstungsstandorten erst im Sommer 1943 ein. Zum gesellschaftlichen und kulturellen Umgang mit den Bombardierungen siehe Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011. 20 Vgl. Ulrich Heß, Sachsens Industrie in der Zeit des Nationalsozialismus. Ausgangspunkte, struktureller Wandel, Bilanz. In: Werner Bramke/Ulrich Heß (Hg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert, Leipzig 1998, S. 53–88, hier 64 f.; Werner Bramke, Kapitel XII. Unter der faschistischen Diktatur. In: Karl Czok (Hg.), Geschichte Sachsens, Weimar 1989, S. 480–517, hier 515. 21 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg; RW 21–11/15, Bl. 48); vgl. auch AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 22 Speer an die Leiter der Hauptausschüsse und Hauptringe am 29.4.1943, Einsatz der Textilindustrie für die Rüstungswirtschaft. In: Nachrichten des RMfBuM, (1943), S. 255.

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eine Anweisung, die für den Untersuchungsraum wegen seiner hohen Dichte von Textilbetrieben besonders einschlägig war. Zwar blieb die tatsächliche Zahl der Verlagerungen laut Janssen bis zum Sommer 1943 reichsweit noch „überschaubar“.23 Aber nach den Berichten des Rüstungskommandos Chemnitz konkurrierten im Frühjahr 1943 bereits rund hundert auswärtige Unternehmen um Produktionsstandorte in Südwestsachsen. Bis Ende Juni waren unter der Regie des Rüstungskommandos rund 40 Betriebe und Betriebsabteilungen in die Regierungsbezirke Chemnitz und Zwickau verlagert worden. Diese Firmen hatten selbst mindestens 1 500 Arbeitskräfte mitgebracht, über 1 700 hatten die Arbeitsämter der Region gestellt. Dennoch fehlten rund 2 500 Arbeitskräfte, die die Arbeitseinsatzbehörden aus den Ressourcen ihrer Bezirke ausfindig zu machen hatten.24 Bei den Firmen handelte es sich vor allem um Feinmechanik- und Elektronikunternehmen aus dem Berliner Raum. 25 Wie bei der Vergabe von Zulieferaufträgen lief auch bei den Vermietungen und Verpachtungen von Betriebsteilen einheimischer Unternehmen zunächst einiges am Rüstungskommando und an den Arbeitsämtern vorbei. Viele auswärtige Interessenten handelten auf eigene Faust, ohne die Behörden einzuschalten. Dabei kam ihnen entgegen, dass viele erzgebirgische Textilunternehmen in einer Verpachtung ihrer Produktionskapazitäten die letzte Rettung vor einer drohenden Stilllegung erblickten: So notierte der Direktor der Arbeitsamtes Lugau beispielsweise im September 1943: „Dazwischen reisen Reisende von Rüstungsbetrieben aus allen gefährdeten Gauen des Reiches im Bezirk umher und organisieren für sich eine Verlagerung. Sie imponieren bei den textilen Betrieben mit ihren künftigen Rotzetteln26 und diese spielen wieder mit der Hoffnung, vielleicht doch noch die kläglichen Reste der eigenen Gefolgschaft für die Strumpffertigung halten zu können und von der Konkurrenz dann noch Kräfte zusätzlich zu bekommen. Man erfährt von diesen Dingen leider immer erst hinterher etwas und kann gegen einen solchen strafbaren Leerlauf dann nichts oder nur wenig mehr tun.“27 Aus der Sicht der Unternehmer brachten die Verlagerungen allerdings selten die von ihnen gewünschte Weiterbestandsgarantie für ihre Stammproduktion, wie der Lugauer Arbeitsamtsleiter Ende 1943 anschaulich beschrieb: „Man liebäugelte dort [in der Strumpfindustrie – S. Sch.] immer mit der sog.

23 Janssen, Ministerium, S. 148 f., Zitat S. 149. 24 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/15, Bl. 41RS). 25 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1943 (BAMA Freiburg; RW 21–11/16, Bl. 2–47, hier 44RS). 26 Berechtigungsscheine zur Einstellung von Arbeitskräften; vgl. Kap. V.6. 27 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); vgl. auch RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/16, Bl. 44RS); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.).

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‚­Oberbodenrüstung‘, jedem Betrieb in einer Ecke seine kleine Rüstung so nebenbei und den Freibrief für Kräfteschutz und die Genehmigung für Kräfteanforderungen. Es kamen aber an Stelle der Aufträge hand- und standfeste Rüstungsbetriebe ins Land, großzügig in der Planung, im Aufbau und sehr vorrangig in der Fertigung. Nun ist die allgemeine Verwirrung der Gemüter groß, weil die eigenen A[rbeits]kräfte noch dafür freigemacht werden müssen. Es kann zwar im Augenblick noch nicht übersehen werden, ob eine weitere Minderung des an sich kümmerlichen Gefolgschaftsbestandes der Textilbetriebe oder aber eine umfangreiche Totalstilllegung den aufkommenden Kräftebedarf abdecken hilft. Es steht jedoch fest, dass die Herstellung von Damenstrümpfen so oder so nahe an den Gefrierpunkt kommt.“28 Ende März 1943 stellten die sächsischen Rüstungskommandos bei einer Besprechung in Dresden fest, dass die Rüstungsdienststellen nur geringen Einfluss auf etwaige Auftragsverlagerungen hätten. Darüber werde meist in Verhandlungen mit den für die Produktionslenkung zuständigen Haupt- und Sonderausschüssen in Berlin entschieden.29 Im Frühsommer 1943 verwies das Rüstungskommando Chemnitz darauf, dass der Rüstungsbereich bereits stark mit Kriegsfertigungen belegt sei, dass in den stillgelegten Textilfabriken häufig sperrige Textilmaschinen gelagert seien und die Verkehrsinfrastruktur bei vielen dieser Betriebe nicht für eine Rüstungsproduktion ausgelegt sei.30 Nach Ansicht des Rüstungskommandos wurden bei den Verlagerungsanstrengungen zu viele Stellen eingeschaltet. Wie für andere Aufgabenbereiche, so forderte die Behörde auch für die Verlagerungen eine federführende Institution, um straffer steuern zu können.31 Zwar beauftragte Hitler Speer in einem Erlass vom 28. Juni 1943, die Verlagerungen zentral zu steuern.32 Zudem verfügten Speer und Sauckel Ende August gemeinsam die Mitnahme der Arbeitskräfte bei Betriebsverlagerungen.33 Dies scheint allerdings die Verlagerungspraxis im Erzgebirge zunächst nicht wesentlich beeinflusst zu haben. Denn weiterhin spekulierten Reichsbehörden und Unternehmen zum Unmut der betroffenen Arbeitsämter und des Rüstungskommandos auf noch unentdeckte Arbeitskraftreserven im abgelegenen Erz-

28 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Dezember 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 29 Zentralgruppe des RüKdo Chemnitz, Zentralgruppenleiterbesprechung bei RüIn IV am 26.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 83–88, hier 86). 30 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg; RW 21–11/15, Bl. 43). 31 Vgl. ebd., Bl. 48. 32 Vgl. Erlass des Führers vom 28.6.1943 über Sicherstellung von Räumen zur Aufnahme von Rüstungsfertigungen aus luftgefährdeten Gebieten und zur Unterbringung von Rüstungsarbeitern in luftgeschädigten Gebieten. In: Moll, „Führer-Erlasse“, Dok. 257, S. 344 f.; Janssen, Ministerium, S. 149. 33 RMfBuM und GBA, Umsetzung von Arbeitskräften bei Betriebsverlagerungen. In: Nachrichten des RMfBuM, (1943) 28, S. 295.

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gebirge. „Die Tatsache, dass es der ansässigen Industrie immer wieder gelingt, durch Fleiß und Geschick wie durch größten persönlichen Einsatz den Anforderungen gerecht zu werden“, so das Rüstungskommando im Sommer 1943, „hat leider zu dem Eindruck geführt, dass reichlich unausgenutzte Reserven vorhanden seien. Dies ist jedoch keineswegs der Fall.“34 Das Arbeitsamt Annaberg notierte ein halbes Jahr später: „Die für die Verlagerungen von Betrieben maßgeblichen Stellen scheinen sich hinsichtlich freier Arbeitskapazitäten im Erzgebirge falscher Unterlagen zu bedienen. Bis jetzt sind meistens nur die Aufträge und notfalls die Maschinen verlagert worden. Arbeitskräfte sind dagegen in spärlicher Zahl nach hier mitgebracht worden.“35 Bei Verlagerungsverhandlungen mit einem auswärtigen Rüstungswerk habe das Arbeitsamt im Januar 1944 eindeutig darauf hingewiesen, „dass Arbeitskräfte hier nicht zur Verfügung stehen“.36 Dennoch habe das entsprechende Werk kurz nach seiner Niederlassung im Bezirk 74 Arbeitskräfte angefordert. Der Annaberger Arbeitsamtsdirektor kommentierte den Vorfall bissig: Es sei bekannt, „dass die großen Werke hinsichtlich der Kräfteanforderungen zu sehr in die Vollen gehen. Soweit es sich um verlagerte Betriebe in meinem Bezirk handelt, werden sich diese an die erzgebirgische Genügsamkeit gewöhnen müssen.“37 So hatte sich die positive Haltung des Rüstungskommandos gegenüber den Verlagerungen vom Jahr zuvor spätestens seit dem Sommer 1943 in eine deutliche Ablehnung verwandelt: „Es ist dringend notwendig, dass dem Einströmen außersächsischer Betriebe in den Rü[stungs]-Bereich Einhalt geboten wird.“38 Das Rüstungskommando begründete dies damit, dass eine weitere Belegung von Kapazitäten die Ausweichmöglichkeiten der alteingesessenen Betriebe für den Fall eines Luftangriffs einschränken würde. Erneut forderte es, in alle Verlagerungspläne mit einbezogen zu werden.39 Die dem Rüstungskommando übergeordnete und für ganz Sachsen zuständige Rüstungsinspektion IVa argumentierte ähnlich: In ihrem Bereich lägen „drei stark luftgefährdete Großstädte (Dresden, Leipzig, Chemnitz)“, für deren Bewohner für den Fall eines schweren Bombenangriffs genügend Ausweichquartiere bereitgehalten werden müssten.40 34 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1943 (BAMA Freiburg; RW 21–11/16, Bl. 39). 35 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); vgl. auch AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 36 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 37 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 38 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1943 (BAMA Freiburg; RW 21–11/16, Bl. 44). 39 Vgl. ebd. 40 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/16, Bl. 2-40, hier 38).

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Dennoch setzten sich die Verlagerungen weiter fort, ja sie verstärkten sich sogar. Der erste große Luftangriff in Sachsen war die Bombardierung Leipzigs am 4. Dezember 1943. Mindestens 1 500 Menschen kamen dabei ums Leben. 222 Betriebe wurden beschädigt. Der Luftangriff war ein schwerer Schock für die dort lebenden Menschen, aber auch für die Funktionäre der Rüstungswirtschaft.41 Der Bericht, den der Geschäftsführer der Gauwirtschaftskammer, Georg Bellmann,42 dem Rüstungsobmann Hans Führer43 und den Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe erstattete, übte nach Darstellung Walter Linses „auf die Versammlung unverkennbar einen deprimierenden Eindruck aus“.44 Dieser sowie die folgenden schweren Luftangriffe auf Leipzig im Februar und Mai 1944, die vor allem die Luftwaffenproduktion schwer zerstörten,45 verstärkten den Verlagerungsdruck auf die Untersuchungsregion noch. Allein im Dezember 1943 regelte das Rüstungskommando die Verlagerung der Betriebsteile von 20 Unternehmen. So verlegten in Leipzig produzierende Unternehmen wie die Junkers Werke oder die Erla-Maschinenwerke Fertigungen nach Werdau-Langenhessen und Mülsen St. Micheln. Die ebenfalls von den Bombardierungen betroffenen Berliner Firmen46 wie AEG und die Siemens & Schuckert Werke kamen beispielsweise bei der Chemnitzer Auto Union und verschiedenen kleinen Firmen in Thalheim und Gornsdorf unter.47 Bereits gegen Jahresende 1943 entstand deshalb nach Ansicht des Rüstungskommandos ein erheblicher Mangel an Fabrikräumen in den Regierungsbezirken Chemnitz und Zwickau. Unterstützt von der Rüstungsinspektion IVa, drängte das Rüstungskommando erneut auf eine Begrenzung der Verlagerungen und auf deren zentrale Steuerung, die auch ein halbes Jahr nach Hitlers Anweisung immer noch nicht existieren zu schien. Als negative Folgen des bisherigen Verfahrens zählte das Rüstungskommando die Entstehung vieler kleiner Teilfertigungen aus den unterschiedlichsten Produktionszusammenhängen auf, die wegen ihrer geringen Größe unwirtschaftlich arbeiteten. Es beklagte, dass auswärtige Firmen trotz gegenteiliger Anweisungen eine Verlagerung immer noch häufig zur Betriebsausweitung nützten, „indem die Arbeitskräfte vom 41 Vgl. Wika Chemnitz, Linse, am 28.12.1943, Aktennotiz betr. Besprechung des Rüstungsobmanns Führer mit den Bezirksbeauftragten am 22.12.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegung 16, unpag.); zur Bombardierung Leipzigs siehe Blank, Kriegsalltag, S. 374. 42 Zum Lebenslauf Bellmanns vgl. Markwardt, Bellmann. 43 Zur Person Führers vgl. Kap. V. 2. 1; Schneider, Unternehmensstrategien, S. 370, Anm. 63. 44 Wika Chemnitz, Linse, am 28.12.1943, Aktennotiz betr. Besprechung des Rüstungsobmanns Führer mit den Bezirksbeauftragten am 22.12.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegung 16, unpag.). 45 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 18); RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/19, Bl. 4-60, hier 7, 10, 14). 46 Zu den Luftangriffen auf Berlin vgl. Blank, Kriegsalltag, S. 373–375. 47 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/17, Bl. 4-56, hier 44).

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Verlegungsbetrieb zwar zu einem geringen Teil überführt, dann aber am Aufnahmeort zusätzliche Kräfte angefordert werden“.48 Die Rüstungsinspektion IVa erklärte Anfang 1944 die Aufnahmefähigkeit ganz Sachsens für erschöpft, da unter anderem Unterkünfte für mitzubringende Arbeitskräfte und Energieversorgungskapazitäten fehlen würden. Die schweren Luftangriffe auf Leipzig hätten seit Dezember 1943 die Lage noch verschärft.49 Inzwischen kämpfte auch Mutschmann mit aller Entschiedenheit gegen weitere Verlagerungen, ein Verhalten, dass Peter Hüttenberger als Beleg für die Partikularinteressen der Gauleiter gegen den zentralisierten Apparat des Speerministeriums wertet.50 Tatsächlich gab der Wehrkreisbeauftragte Böttger schon im August 1943 in Chemnitz bekannt, dass Betriebsverlagerungen von externen Unternehmen nach Sachsen der Genehmigung des Gauleiters bedürften.51 Später weigerte sich Mutschmann, für viele der vom Reich befohlenen Verlagerungsprojekte Unterkünfte bereit zu stellen, und hielt Baugenehmigungen zurück. Die Rüstungsinspektion saß hinsichtlich der Verlagerungen buchstäblich zwischen allen Stühlen. Denn auch wenn sie inhaltlich eher auf Mutschmanns Seite war, so war sie doch seit 1942 Teil des Speer’schen Apparates und daher verpflichtet, die Positionen des Rüstungsministeriums zu vertreten. Sie wies daher in ihrem Kriegstagebuch darauf hin, dass der Reichskommissar zwar zu Einsprüchen, nicht aber zu Verlagerungsverboten berechtigt sei.52 Auf regionaler Ebene griffen in Mutschmanns Auftrag überdies die NSDAP-Kreisleiter mit eigenen Anordnungen in das Verlagerungsgeschehen ein,53 sehr zum Unmut des Rüstungskommandos Chemnitz, das deren Engagement als „störend“ und „ebenso unzweckmäßig wie unzulässig“ empfand.54 Im Jahr 1944 erreichten die Schäden an deutschen Industrieanlagen durch das alliierte Bombardement neue Dimensionen: Hatte das Regime bisher noch einigermaßen gegenhalten können,55 so übernahmen die alliierten Flugzeuge im Jahr 1944 allmählich die Lufthoheit über Deutschland. Dadurch verlor das nationalsozialistische Regime Schritt für Schritt seine Initiative bei der

48 Ebd., Bl 52. 49 RüIn IVa, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 2-43, hier 40). 50 Vgl. Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 184 f.; Bramke, Diktatur, S. 515; Heß, Industrie, S. 84, Anm. 102. 51 RüKdo Chemnitz, Protokoll der Dienstbesprechung des Wehrkreisbeauftragten Böttger in Chemnitz am 14.8.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 70–73, hier 72). 52 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/18, Bl. 2-43, hier 41). 53 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 54 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/18, Bl. 18). 55 Vgl. Richard J. Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Stuttgart 2000, S. 160 f.

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­ üstungsfertigung, es konnte nur noch mit einer Vielzahl von Ad-hoc-MaßR nahmen auf alliierte Treffer reagieren.56 Nach der schweren Beschädigung der Flugzeugproduktion in der „big week“ des Februars 1944, bei der auch die Leipziger Firmen stark getroffen wurden, übernahm das Ministerium Speer mit der Gründung des Jägerstabes auch den letzten, noch außerhalb seines Imperiums stehenden Rüstungsproduktionsbereich.57 Während es gelang, die Flugzeugproduktion trotz des alliierten Bombardements zu Höchstleistungen zu führen, setzten im Mai 1944 die Angriffe auf die Hydrierwerke und damit auf die Treibstoffproduktion ein. Die Angriffe wiederholten sich in immer kürzeren Interval­len und trugen schließlich trotz schneller Reparaturmaßnahmen maßgeblich zur Lahmlegung der deutschen Luftwaffe bei.58 Daher waren die Verlagerungen in das als eines der wenigen deutschen Gebiete noch bis Sommer 1944 einigermaßen luftsichere Südwestsachsen kaum aufzuhalten. Im Verlauf des Jahres 1944 bemühte sich die Rüstungsinspektion IVa nach eigener Darstellung immer wieder um Vermittlung zwischen Mutschmann und den Berliner Dienststellen. Zwar musste Sachsen weiterhin eine erhebliche Anzahl von Auftragssteigerungen, Zulieferungsaufträgen und Betriebsverlagerungen aus anderen Reichsteilen hinnehmen; jedoch wurde den Verlagerungsfirmen vielfach auferlegt, dass sie die dazu notwendigen Arbeitskräfte sowie deren Barackenunterkünfte selbst mitzubringen hätten. Im Laufe des Sommers 1944, so die Rüstungsinspektion, hätte sich daher die Zusammenarbeit mit dem Reichskommissar „befriedigend“ gestaltet.59 Dennoch versuchte Mutschmann noch Anfang 1945, eine Verlagerung aus dem Ruhrgebiet zu verhindern.60 Insgesamt bearbeitete die Rüstungsinspektion IVa für den gesamten Gau Sachsen bis Ende September 1944 über 1 200 Verlagerungsanträge von Unternehmen und staatlichen Behörden. Darunter dürfte sie allerdings auch die Verlagerungen innerhalb Sachsens gezählt haben. Die von diesen Verlagerungen in Anspruch genommene Fläche schätzte die militärische Wirtschaftsverwaltung zu diesem Zeitpunkt auf 2,8 Millionen Quadratmeter,61 wobei Fertigungsverlagerungen in Form von Zulieferungsaufträgen oder Auftragssteigerungen nicht erfasst waren. Daraus, so das Fazit der Rüstungsinspektion, „ergibt sich im Land Sachsen eine außerordentliche Ballung der Rüstungsfertigung, die sowohl luftschutzmäßig als auch bezüglich der Versorgung mit Transportmitteln, Kohlen, Lebensmitteln, Baumaterial usw. für die Zukunft zu ernstesten Besorgnissen Anlass gibt“.62 56 57 58 59

Vgl. Janssen, Ministerium, S. 154. Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft III, S. 16–24; Müller, Speer, S. 391 f. Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft III, S. 32–37; Müller, Speer, S. 364, 756 f. RüIn IVa, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 2-48, hier 47). 60 Werner, Bleib übrig, S. 286. 61 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–31.10.1944 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/20, Bl. 5-63, hier 54). 62 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/20, Bl. 2-48, hier 46).

Entwicklung der Rüstungsfertigung

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Das Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz war von dieser Konzentra­ tion erheblich betroffen. Allein im ersten Vierteljahr 1944 organisierte es 45, im zweiten 40 Betriebsverlagerungen für die Luftwaffenindustrie, insbesondere für das Vorhaben „Jägerstab“, mit dem Speer und Generalluftzeugmeister Erhard Milch die verheerenden Ausfälle deutscher Kampfflieger im Luftkrieg zu kompensieren versuchten.63 Unter anderem wurde die angestammte Produktion der Webereien Ernst Seifert GmbH und Bößneck & Meyer völlig stillgelegt. Weitere Fertigungs- und Lagerkapazitäten, so das Rüstungskommando, ließen sich nunmehr nur noch durch zusätzliche Betriebsstilllegungen schaffen.64 Im Juli 1944 sah das Rüstungskommando Chemnitz die Kapazität des von ihm betreuten Gebiets endgültig als erschöpft an: „Es stehen keine Flächen mehr für fremde Betriebe und keine Arbeitskräfte zur Verfügung. Die letzte Möglichkeit, dringend notwendige Lagerräume zu beschaffen, besteht in der Freigabe von Schulen und Turnhallen.“65 Das Rüstungskommando plädierte daher im August 1944 für die Auflösung der in der Region offenbar zahlreich vorhandenen Marinelager und beklagte außerdem das Verbot Mutschmanns, Textilmaschinen zu demontieren, das die Raumgewinnung in vielen stillgelegten Strumpfunternehmen verhindere. Dabei habe ein Thalheimer Unternehmer gezeigt, dass sich solche Maschinen in verhältnismäßig kurzer Zeit ab- und wieder aufbauen ließen.66 Das Rüstungskommando schätzte den in Südwestsachsen den durch rund 100 auswärtige Firmen belegten Raum auf mehr als eine Million Quadratmeter. Mehr als die Hälfte davon nutzten die Unternehmen für die Fertigung, der Rest war Lagerfläche. Dies entspreche, so errechnete das Rüstungskommando, 10 Prozent aller durch Verlagerungen im Reich belegten Quadratmetern und 40 Prozent der Verlagerungsflächen innerhalb Sachsens.67 Besonders betroffen von den Verlagerungen waren, das geht aus den bisherigen Ausführungen hervor, die erzgebirgischen Gebiete um Annaberg, Stollberg und Lugau herum, die bisher eher zu den rüstungswirtschaftlichen Randzonen der Region gehört hatten. Auch unterirdische Verlagerungen Chemnitzer Firmen waren geplant, wurden aber bis zum Kriegsende nicht mehr realisiert.68 Zusammenfassend lässt sich für die gut zwei Jahre vom Sommer 1942 bis zum Sommer 1944 feststellen, dass die Bedeutung der Region für die NS-­ Rüstungswirtschaft stark anwuchs. Dies entspricht einer gesamtsächsischen 63 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 718–726. 64 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BAMA Freiburg; RW 21–11/18, Bl. 56); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/19, Bl. 4-60, hier 16, 34, 49, 57). 65 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–31.10.1944 (BA-MA Freiburg; RW 21–11/20, Bl. 18). 66 Ebd., Bl. 35. 67 Ebd., Bl. 42, 54, 59, 86. 68 Wolfgang Uhlmann, Die Chemnitzer Rüstungsindustrie zwischen 1935 und 1945. In: Chemnitz in der NS-Zeit, S. 173–196, hier 188.

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­Entwicklung,69 die allerdings im Südwesten besonders ausgeprägt war. Die zentrale Ursache dafür liegt in der geografischen Lage der Region, die ihr bis in den Sommer 1944 hinein weitgehende Luftsicherheit bescherte und sie deshalb als Produktionsstandort für Rüstungsfirmen aus den luftkriegsgefährdeten Gebieten immer attraktiver machte. Daraus ergibt sich für die Arbeitskräftelenkung des NS-Regimes die Frage, inwieweit die Arbeitseinsatzbehörden in der Lage waren, die Aufwertung der Region für die Kriegswirtschaft nachzuvollziehen und die Rüstungsproduktion mit genügend Arbeitskräften zu versehen, während gleichzeitig der Zweifrontenkrieg immer größere Menschenopfer und daher die Einberufung von immer mehr Soldaten forderte. Dieser Frage wird in den folgenden Kapiteln nachgegangen.

2.

Umorganisationen in der Rüstungswirtschaft

2.1. Die Entstehung der Rüstungskommission IV/IVa 1942 Zahlreiche Um- und Neuorganisationen bestimmten die Arbeitskräftelenkung des Regimes im Jahr 1942. Der seit Längerem tobende Kampf um die Kompetenzverteilung führte schließlich im März 1942 zur Ernennung des thüringischen Gauleiters Fritz Sauckel zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz (GBA).70 Der GBA, der sein Amt im Rahmen der Vierjahresplanbehörde ausübte und damit formell Göring unterstellt war, erhielt das Verfügungsrecht über die wichtigsten Amtsbereiche des Reichsarbeitsministeriums und über die bisherige Geschäftsgruppe Arbeitseinsatz des Vierjahresplans. Überdies konnte er Görings Weisungsvollmachten gegenüber Reichsbehörden und Parteiverwaltung in Anspruch nehmen.71 Formal Speer gleichgeordnet, wird Sauckel in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Die einen sehen ihn eher als von Speer abhängig an,72 für die anderen entstand mit Sauckels Ernennung das zweite große Machtzentrum der Kriegswirtschaft neben dem Speerimperium,73 bzw. einer der wenigen Bereiche der Rüstungswirtschaft, die Speers Zugriff versperrt wa-

69 Vgl. Heß, Industrie, S. 78–85; Schneider, Wirtschaftsentwicklung, S. 83; Werner Bramke (verantwortlicher Autor), Sachsens Wirtschaft im Wechsel politischer Systeme im 20. Jahrhundert. Strukturelle Entwicklung und soziale Problemfelder vom Ausgang des Ersten Weltkrieges bis in die frühen 60er Jahre, Leipzig 1992, S. 16. 70 Zur Vorgeschichte des Amtes vgl. Naasner, Machtzentren, S. 31–34; Rebentisch, Führerstaat, S. 354–358; Herbert, Fremdarbeiter, S. 149–154. Zur Lebensgeschichte Sauckels vgl. die freilich für die NS-Zeit weitgehend aus der Literatur geschriebene Studie von Steffen Raßloff, Fritz Sauckel. Hitlers „Muster-Gauleiter“ und „Sklavenhalter“, Erfurt 2007. 71 Vgl. Naasner, Machtzentren, S. 35 f.; Recker, Sozialpolitik, S. 166; Rebentisch, Führerstaat, S. 357 f. 72 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 786, 800; Eichholtz, Geschichte II, S. 78. 73 Vgl. Naasner, S. 44–48.

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ren.74 Einerseits werden stärker die Konflikte zwischen Speer und Sauckel betont,75 andererseits ihr Verhältnis ungeachtet aller Auseinandersetzungen eher als „funktionale Partnerschaft“76 geschildert. Für die hier behandelten Fragen ist das Verhältnis zwischen Munitionsministerium und GBA von Bedeutung, soweit es sich auf der mittleren und unteren Partei- und Verwaltungsebene spiegelt. Mit den entsprechenden Abteilungen im Reichsarbeitsministerium wurden Sauckel auch die nachgeordneten Behörden, nämlich die Arbeitsämter sowie die Reichstreuhänder der Arbeit unterstellt.77 Da Sauckel keinen neuen Exekutivapparat entwickelte, sondern die vorhandene Behördenstruktur nutzte, ist aus der sächsischen regionalen und lokalen Perspektive institutionell kein solch scharfer Bruch bemerkbar wie auf der Reichs­ ebene, ungeachtet der Tatsache, dass nach einhelliger Meinung der Forschung der Arbeitseinsatz inhaltlich politisiert und in seiner Bedeutung für die Kriegsführung aufgewertet wurde.78 Für Sachsen lassen sich, freilich auf einer eher schütteren Quellenbasis, für 1942 zunächst auch keine Auswirkungen dessen nachweisen, dass Sauckel im April dieses Jahres die Gauleiter zu regionalen Bevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannte.79 Das war ähnlich wie in Württemberg, aber anders als in Baden, wo der NSDAP-Gau- und die Kreisleiter aufgrund dieser Anordnung sofort versuchten, sich in das Geschäft der Auskämmungskommissionen und der Arbeitsämter einzumischen.80 Später freilich griff Mutschmann direkter in die Kriegswirtschaft ein, doch erhielten die Gauleiter im Verlauf des Krieges ein solches Kompetenzenbündel, dass sich kaum definieren lässt, auf welcher einzelnen Grundlage Mutschmann schließlich aktiv wurde. Speer gelang es trotz der starken Stellung Sauckels, seinen Einfluss auf die Arbeitskräftelenkung zu behalten. Er ließ über einen Erlass Görings im Oktober 1942 auf der Gauebene sogenannte Rüstungskommissionen installieren, die die Verantwortlichen für die Rüstungswirtschaft auf der Mittelebene in einem Gremium versammelten und auch die Aufgaben der bisherigen Prüfungskommissionen zu übernehmen hatten. Die bisherigen Prüfungskommissionen stellten den personellen Kern der Rüstungskommissionen dar. Ihre Mitgliederzahl wurde allerdings erhöht, und ihre Kompetenzen wurden über den Arbeitseinsatz h ­ inaus auf nahezu alle Bereiche der Rüstungswirtschaft ausgedehnt.81 74 Vgl. Milward, Kriegswirtschaft, S. 75 f., 87 f. 75 Vgl. ebd., S. 87 f. 76 Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 789; vgl. ausführlicher Janssen, Ministerium Speer, S. 76–87; Rebentisch, Führerstaat, S. 360. 77 Vgl. Naasner, Machtzentren, S. 36; Rebentisch, Führerstaat, S. 357–359. 78 Vgl. ebd., S. 362. 79 Vgl. Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 276 f.; Naasner, Machtzentren, S. 37; Rebentisch, Führerstaat, S. 359. 80 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 233 f. 81 Erlass des Reichsmarschalls und Beauftragten für den Vierjahresplans vom 17.9.1942 über die Zusammenfassung der Dienststellen und der Selbstverantwortungsorgane der Rüstungswirtschaft in der Mittelinstanz. In: Nachrichten des RMfBuM, (1942) 13, S. 128;

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In Sachsen kamen zum Rüstungsinspekteur Walter Friedensburg, zum Wehrkreisbeauftragten des Speerministeriums, Böttger, zum Präsidenten des Landesarbeitsamtes, Möbius, und dem Chef des Landeswirtschaftsamtes drei weitere Vertreter dazu: Die Parteischiene war durch den allerdings recht blassen Gauwirtschaftsberater Kirmse vertreten,82 die zivile Wirtschaft durch den Präsidenten der Wirtschaftskammer Sachsen, Wilhelm Wohlfahrt, der gleichzeitig Vorstandsmitglied der Zeiss Ikon AG war.83 Der vielleicht wichtigste Neuzugang war der Rüstungsobmann des Speerministeriums, der im NS-Hauptamt für Technik tätige Hans Führer. Er war früher als Bezirksbeauftragter Ost des Munitionsministeriums für die Betreuung der Rüstungsbetriebe im östlichen Deutschland (einschließlich den besetzten Gebieten, dem Generalgouvernement und dem Protektorat Böhmen und Mähren) zuständig gewesen. Gerade war er zum Vorstandsmitglied der Hugo und Alfred Schneider AG, Leipzig (HASAG)84 ernannt worden, eines Rüstungsproduzenten, der in größtem Umfang und unter entsetzlichen Bedingungen Zwangsarbeiter einsetzte.85 Der Rüstungsobmann handelte als Mittelinstanz des Rüstungslieferungsamtes und wurde auch von diesem berufen. Er war der Vertreter der Ausschüsse und Ringe in der Kommission und sollte in ihrem Sinne die regionale Rüstungsfertigung überwachen.86 In der Zusammensetzung entsprach die sächsische Rüstungskommission den anderen Rüstungskommissionen im Reich. Doch gab es hier eine Kontinuität zur bisherigen Prüfungskommission, die im Reichsvergleich eine Besonderheit darstellte. Zum Vorsitzer der Rüstungskommission ernannte Speer nämlich den bisherigen Chef der Prüfungskommission des Wehrkreises IV, Rüstungsinspekteur Friedensburg. In den meisten anderen Rüstungskomissionen setzte er gegen den Ratschlag des Rüstungsamtes, das am liebsten überall die Rüstungsinspekteure an der Spitze gesehen hätte, mit den Rüstungsobmännern Vertreter der Rüstungswirtschaft als Vorsitzende ein. Möglicherweise spielte bei der besonderen Regelung in Sachsen eine Rolle, dass Friedensburg lange Jahre als Ingenieur und Auslandsvertreter der Luftfahrtindustrie gearbeitet hatte.87

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1. Durchführungsanordnung des RMfBuM vom 10.10.1942 . In: ebd., Anlage 1, S. 133– 138; zu den Rüstungskommissionen im Allgemeinen vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 94–97, Müller, Speer, S. 307 f.; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 323–329; Werner, Garanten, S. 217–233. Zu Kirmse ist kaum etwas bekannt; vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 367, Anm. 47. Sein viel prominenterer Vorgänger Lenk, der sächsische Wirtschaftsminister, verlor das Amt des Gauwirtschaftsberaters spätestens 1941 infolge einer Auseinandersetzung mit Mutschmann; vgl. Grosche, Lenk, S. 184. Vgl. zur Zusammensetzung der sächsischen Rüstungskommission 1. Hauptsitzung der Rüstungskommission IVa am 27.10.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/6, Bl. 122–124); zu Wohlfahrt siehe Schneider, Unternehmensstrategien, S. 258, Anm. 126. Zum Lebenslauf Führers siehe Schneider, Unternehmensstrategien, S. 370, Anm. 63. Zur HASAG vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 54 f. Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 95; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 325 f. Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 96; zum Lebenslauf Friedensburgs siehe Hildebrand, Generale, Band 1: Abernetty - von Gyldenfeldt, Osnabrück 1990, S. 320–322; die Zu-

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Die Rüstungskommissionen sollten die Rüstungswirtschaft einheitlich steuern, Doppelarbeit verhindern und den Informationsfluss zwischen den einzelnen Behörden und den Unternehmen fördern. Für den Arbeitseinsatz besonders wichtig war die Tatsache, dass die Rüstungskommissionen die Aufgaben der bisherigen Prüfungskommissionen mit übernahmen, also die Auskämmungen und Umsetzungen von Arbeitskräften in ihrem Gau steuerten. Außerdem durften sie mit den Wehrersatzdienststellen direkt über Einberufungen und die Stellung von Ersatzarbeitskräften verhandeln.88 Die Aufgaben der früheren Technischen Sonderkommissionen gingen auf die Wehrkreisbeauftragten über, die sich um Rüstungsbauvorhaben, um Rationalisierungen in den Bereichen Verkehr und Energie und um den rationellen und „richtigen“ Facharbeitereinsatz zu kümmern hatten. Dafür konnte der Wehrkreisbeauftragte in Sachsen nicht nur sein NS-Gauamt für Technik sowie die nachgeordneten Kreisämter für Technik nutzen, sondern auch die Bezirksbeauftragten der einzelnen Ausschüsse und Ringe heranziehen.89 Die reichsbezogene Forschungsliteratur hat bezüglich der Bildung der Rüstungskommissionen vor allem den Machtgewinn Speers auf der Mittelebene betont.90 Für Eichholtz ähnelte die Machtfülle der Rüstungskommissionen „– in verkleinertem, regionalen Maßstab – entfernt derjenigen des Munitionsministeriums“, wenngleich er diesen Befund dadurch relativiert, dass er auf die Selbstständigkeit der in ihr zusammenarbeitenden Dienststellen verweist.91 Auch wenn man Eichholtz’ Bewertung, dass das großindustrielle Monopolkapital über die Erweiterung der Machtfülle Speers nunmehr auch die staatliche Mittelebene beherrschte, nicht folgt, ist auffällig, dass in dem neuen Gremium die Vertreter des Speerministeriums ein deutliches Übergewicht besaßen. Sie stellten allein in Sachsen drei von sieben Vertretern sowie den Vorsitzer. Darüber hinaus hatte die Rüstungsinspektion die Geschäftsführung inne. Kroener zufolge sollten die Rüstungskommissionen auch Speers Einfluss auf die Arbeitskräftesteuerung auf der Mittelebene absichern, die eigentlich Sauckel unterstellt war.92

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sammensetzung der Rüstungskommission IXb in Thüringen entsprach der in Sachsen, nur dass dort der Rüstungsobmann den Vorsitz innehatte; vgl. Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 333. Vgl. RMfBuM am 10.10.1942, 1. Durchführungsanordnung zum Erlass über die Zusammenfassung der Dienststellen und Selbstverantwortungsorgane der Rüstungswirtschaft in der Mittelinstanz vom 17.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/6, Bl. 113–116, hier 113 f.); Eichholtz, Geschichte II, S. 95. Vgl. RMfBuM am 10.10.1942, 1. Durchführungsanordnung zum Erlass über die Zusammenfassung der Dienststellen und Selbstverantwortungsorgane der Rüstungswirtschaft in der Mittelinstanz vom 17.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/6, Bl. 113–116, hier 114 f.); Eichholtz, Geschichte II, S. 95. Vgl. Müller, Speer, S. 307; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 798–900. Eichholtz, Geschichte II, S. 96. Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 798–800.

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Ein weiterer Aspekt der Bildung der Rüstungskommissionen betrifft das Verhältnis zwischen dem Gauleiter Mutschmann und den vom Munitionsministerium angeführten rüstungswirtschaftlichen Behörden. Zug um Zug wurden die Rüstungsinspektionsgrenzen den Gaugrenzen angepasst, bis sie schließlich im Mai 1943 in Sachsen vollständig übereinstimmten. Parallel dazu wurden Mitte November 1942 auch die Zuständigkeitsbereiche der Reichsverteidigungskommissare an diejenigen der NSDAP-Gauleiter angepasst. Der 1939 als Reichsverteidigungskommissar berufene Mutschmann war damit nur noch für Sachsen und nicht mehr für Sachsen-Anhalt verantwortlich.93 Speers Durchführungsverordnung zur Bildung der Rüstungskommissionen vom Oktober 1942 hatte diese bereits zur engsten Fühlung mit den Reichsverteidigungskommissaren verpflichtet.94 Ab November besaß jeder Reichsverteidigungskommissar kraft seiner Regierungsbefugnisse faktisch die Oberaufsicht über alle politischen, militärischen und wirtschaftlichen Behörden seines Gaues, auch wenn seine Beschlüsse formal durch die jeweils zuständigen Reichsbehörden wieder aufgehoben werden konnten.95 Rüstungskommission und Parteihierarchie wurden über den Kriegswirtschaftsstab miteinander verknüpft. Der Kriegswirtschaftsstab, der den Gauleiter in allen kriegswirtschaftlichen Angelegenheiten beraten sollte, bestand aus den Mitgliedern der Rüstungskommission und den Leitern der sonstigen für die Kriegswirtschaft wichtigen Behörden.96 Bereits im September 1942 hatte Friedensburg durch die Gründung der Rüstungskommission eine erhebliche Verstärkung des Parteieinflusses prophezeit, allerdings unter der Prämisse, dass der sächsische Wehrkreisbeauftragte oder der sächsische Bezirksobmann den Vorsitz in die Hand bekämen. Beide waren zwar, formal gesehen, wie Friedensburg Vertreter des Speerministeriums, aber durch ihre Tätigkeiten im NSDAP-Gauamt bzw. NSDAP-Hauptamt für Technik zumindest informell auch dem Apparat der Partei verpflichtet. In diesem Zusammenhang wies Friedensburg auch auf „die bekannte Eigenwilligkeit des hiesigen Gauleiters und seine Verbindungen zu Bormann und den übrigen Parteistellen“ hin.97 Doch tauchen Bezüge zu Mutschmann im täglichen Alltagsgeschäft der Arbeitskräftelenkung zunächst kaum auf, auch wenn die sächsische Rüstungskom-

93 Eichholtz, Geschichte II, S. 97; VO über die Reichsverteidigungskommissare und die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverwaltung vom 16.11.1942. In: RGBl. I (1942), S. 649–656, hier Anlage 1, S. 654–656. 94 RMfBuM am 10.10.1942, 1. Durchführungsanordnung zum Erlass über die Zusammenfassung der Dienststellen und Selbstverantwortungsorgane der Rüstungswirtschaft in der Mittelinstanz vom 17.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/6, Bl. 113). 95 VO über die Reichsverteidigungskommissare vom 16.11.1942, §§ 5 und 9, S. 649–651. Vgl. auch Eichholtz, Geschichte II, S. 97 f.; Müller, Speer, S. 308. 96 VO über die Reichsverteidigungskommissare vom 16.11.1942, § 14, S. 651. 97 Tagung in Dresden in Anwesenheit von General Thomas am 3.9.1942. Teilprotokoll (BA-MA Freiburg, RW 20–4/6, Bl. 58–62, hier 59).

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mission sich ihrer eigenen Aussage nach „als Organ des Gauleiters“98 betrachtete. Insgesamt deutet das Protokoll des ersten Treffens der Rüstungskommission eher darauf hin, dass Friedensburg sie dazu nutzen wollte, direkte Eingriffe des Gauleiters in die Rüstungswirtschaft zu kanalisieren, indem er dessen Wünsche über die Rüstungskommission geleitet haben wollte.99 Anfangs scheint die Wirkung der Rüstungskommission auf die praktische Arbeit vor Ort in der Region Chemnitz begrenzt gewesen zu sein. Wie sehr sich etwa die IHK Chemnitz unabhängig von Veränderungen auf Länder- bzw. Gauebene fühlte, illustriert eine Anmerkung Walter Linses: Er konnte Ende November 1942 noch keine Auswirkungen der Existenz der Rüstungskommission auf die Arbeit der Kammer erkennen und prognostizierte, sie werde auch in Zukunft „keine allzu große Bedeutung erlangen, da es sich um eine Neuorganisation in der Mittelinstanz handelt“. Auch berichtete er von großer Skepsis der örtlichen Unternehmer gegen die neue Institution, die ihre Einrichtung als weiteres Zeichen der „Überorganisation“ der Rüstungswirtschaft deuteten.100 Welche Bedeutung das Kräftedreieck zwischen Speer, Sauckel und der Gauleitung für die Arbeitskräftelenkung vor Ort in der Region Chemnitz erlangte und inwieweit die Rüstungskommission im weiteren Verlauf des Krieges auf lokaler Ebene in Erscheinung trat, wird in späteren Kapiteln genauer zu verfolgen sein. 2.2

Die Umstrukturierung der Rüstungslenkung 1943

Im Sommer 1943 gab es in der Mittelinstanz in Sachsen einige Zuständigkeits­ änderungen: Im August schied Walter Friedensburg aus der Rüstungsinspektion IVa aus. Seinen Platz nahm Wolfgang Weigand ein, wie Friedensburg ein General der Luftwaffe.101 Trotz seiner Ausbildung zum Diplom-Volkswirt und seiner langjährigen Tätigkeit in verschiedenen Rüstungsinspektionen konnte es Weigand nicht verhindern, dass sein Amtsantritt praktisch mit einer Degradierung der Rüstungsinspektion in der Rüstungskommission verbunden wurde: Ende August ernannte Speer den Rüstungsobmann seines Ministeriums, Führer, zum neuen Vorsitzer der Rüstungskommission. Für Weigand blieb lediglich die Stellvertretung übrig.102

 98 Vgl. 1. Hauptsitzung der Rüstungskommission IVa am 27.10.1942 (ebd., Bl. 122–124, hier Bl. 124); vgl. auch 2. Hauptsitzung der Rüstungskommission am 16.12.1942 (ebd., Bl. 153–157, hier 153).  99 Vgl. 1. Hauptsitzung der Rüstungskommission IVa am 27.10.1942 (ebd., Bl. 122–124). 100 Linse, Aktennotiz betr. Hauptgeschäftsführer-Besprechung am 25.11.1942 (SächsHStA, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 101 Vgl. Hildebrand, Generale, Band 1, S. 321, und Band 3, S. 491. 102 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/16, Bl. 4-6 und 9).

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Nahezu gleichzeitig kamen Umstrukturierungen der Kriegswirtschaft auf der Reichsebene in Gang: Speer, der bisher allein für die Heeresrüstung verantwortlich gewesen war, übernahm im Sommer 1943 faktisch die Marinerüstung und im darauffolgenden Frühjahr, mit der Gründung des Jägerstabs, schließlich auch die Luftrüstung.103 Die Zentralisierung kulminierte im August 1944 in der Erweiterung des Jägerstabs zum Rüstungsstab, der für die zentralen Fertigungsprogramme aller Wehrmachtsteile zuständig war.104 Das Scheitern einer erneuten Ostoffensive und der Seitenwechsel Italiens bereitete im Sommer 1943 auch den Boden dafür, dass Speer seine Kompetenzen in die immer noch maßgeblich von Wirtschaftsminister Funk verantwortete Konsumgüterfertigung hinein ausdehnen konnte. Ende Juli 1943 befahl Hitler eine weitere Steigerung der Rüstungsanstrengungen und erlaubte Speer zu diesem Zweck die zivile Fertigung rücksichtslos einzuschränken. Müller zufolge bedeutete dies die Entmachtung Funks und damit die Aufgabe eines sich seit Kriegsanfang herausgebildeten Herrschaftskompromisses, der die Einbeziehung der Konsumgüterwirtschaft in die Rüstung verlangsamte, aber doch in Schüben immer stärkere Eingriffe erlaubte.105 Am 2. September 1943 ernannte Hitler Speer in seinem Erlass „über die Konzentration der Kriegswirtschaft“ zum Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion. Damit übernahm Speer von Funk die Verantwortung für die Rohstoffversorgung sowie die für den hier behandelten Zusammenhang bedeutsame zivile Produktion in Industrie und Handwerk. Der Wirtschaftsminister war zwar weiterhin für die Versorgung der Zivilbevölkerung verantwortlich, behielt im Großen und Ganzen aber lediglich längst ausgehöhlte oder im Kriegszustand weniger bedeutsame Verantwortungsbereiche.106 Gleichzeitig erhielt Speer von Göring eine zu seinem neuen Amt passende Erweiterung seiner Befugnisse als Generalbevollmächtigter für die Rüstung.107 Für die Verbrauchsgüterproduktion wurde im Rüstungsministerium das Produktionsamt als zuständiges Amt geschaffen, dem die entsprechenden Wirtschafts- und Fachgruppen, darunter auch die Wirtschaftsgruppe Textil, zugeordnet wurden. Diese erhielten im Bereich der Konsumgüterfertigung dieselbe Funktion, die Ausschüsse und Ringe bereits seit längerer Zeit in der Rüstungsproduktion besaßen. Das Rüstungslieferungsamt und das Technische Amt für Rüstungsendfertigung teilten sich die Zuständigkeit für die Rüstungsproduktion mit Ausnahme der Luftrüstung. Sie erhielten die Aufsicht über die jeweils zu-

103 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 111 f., 186–189; Eichholtz, Kriegswirtschaft III, S. 16–24; Tooze, Ökonomie, S. 702–704, 718 f. 104 Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 50–52. 105 Vgl. Müller, Speer, S. 335–337, 339; Janssen, Ministerium, S. 134 f. 106 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 147 f.; Erlass des Führers über die Konzentration der Kriegswirtschaft vom 2.9.1943. In: Nachrichten des RMfRuK, (1943) 29, S. 313 f. 107 Vgl. Erlass des Reichsmarschalls des großdeutschen Reiches vom 4. September 1943. In: Nachrichten des RMfRuK, (1943) 29, S. 314.

Umorganisation der Rüstungswirtschaft

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gehörigen Hauptausschüsse und Hauptringe und die diesen untergeordneten Sonderausschüsse und -ringe.108 Gleichzeitig scheint es im Ministerium Überlegungen zu einer größeren Umorganisation der Mittelinstanz gegeben haben. Weigand, der sächsische Rüstungsinspekteur, berichtete Ende Oktober 1943, dass Speer auf einer Tagung gesagt habe, er habe vorläufig Bestrebungen widerstanden, alle mit der Kriegswirtschaft befassten Behörden der Mittelebene „in einen Topf zu werfen“, weil eine solche Neuorganisation technisch nicht machbar sei.109 Mit dem Erlass über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft vom 29. Oktober 1943, dem sogenannten Bandwurmerlass, scheinen sich für die sächsische und die Chemnitzer Verwaltungsebenen zunächst vor allem Unterstellungsverhältnisse geändert zu haben, während die Institutionen und Verwaltungen selbst bestehen blieben: Nunmehr war der Rüstungsminister und nicht mehr der Wirtschaftsminister gegenüber den Landeswirtschaftsämtern und den Gauwirtschaftskammern weisungsbefugt. Außerdem wurde die Position des Vorsitzers der Rüstungskommission gestärkt, indem auch er auf die Landeswirtschaftsämter zugreifen konnte. Der Rüstungsobmann, der die Ausschüsse und Ringe in der Rüstungskommission vertrat, konnte nunmehr nicht nur der Industrieabteilung der Gauwirtschaftskammer für seine Geschäftsführung nutzen, sondern war der gesamten Gauwirtschaftskammer gegenüber weisungsberechtigt.110 Die Rüstungskommissionen blieben bestehen. Wie man am sächsischen Beispiel gut sehen kann, gehörten nunmehr aber sieben von neun mitarbeitenden Institutionen zum Speerimperium. Lediglich das Sauckel unterstellte Gauarbeitsamt sowie der zur NSDAP gehörende Gauwirtschaftsberater gehörten nicht dazu.111 Die Neuorganisation der Rüstungswirtschaft wurde in Sachsen skeptisch bewertet. Hans Führer, der sächsische Rüstungsobmann und Vorsitzer der Rüstungskommission, führte in einer Besprechung mit den Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe im Dezember 1943 aus, dass in der Organisation der deutschen Rüstungswirtschaft ein „heilloser Wirrwarr“ herrsche: „Der Zustand der Organisation ist dem Turmbau zu Babel vergleichbar, d. h. keine Nebenstelle weiß mehr recht, was die andere tut.“112 Speer habe Führer persönlich erklärt, dass ihm selbst ein Überblick über die „organisatorischen Zustände“ 108 Vgl. RMfRuK, Erlass über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft vom 29.10.1943. Anlage zu: Nachrichten des RMfRuK (1943) 31, S. 2 f. (BA Berlin, R 3/5051, Bl. 196–202); vgl. auch Janssen, Ministerium, S. 136–138. 109 RüIn IVa, Besprechung des RüI IVa mit den Rüstungskommandeuren am 26.10.1943 betr. Arbeitstagung des RMfRuK am 22.–25.10.1943 in Gotenhafen (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 40). 110 Vgl. RMfRuK, Erlass über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft vom 29.10.1943, S. 9-12; RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.10.–31.12.1943 (ebd. Bl. 9 f.); Müller, Speer, S. 341 f. 111 Vgl. Übersichtsschema ohne Titel, o. D. (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 52). 112 Wika Chemnitz, Linse, am 28.12.1943, Aktennotiz betr. Besprechung des Rüstungsobmannes Führer mit den Bezirksbeauftragten am 22.12.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.).

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nicht mehr möglich sei, und man dringend zu klaren Zuständigkeiten kommen müsse. Die dem Rüstungsobmann unterstehende sächsische Rüstungskommission erfüllte demgegenüber nach Ansicht Führers nach ihre Koordinationsfunktion für die Kriegswirtschaft: Sie biete „Gewähr für eine einheitliche Handhabung der Dinge“.113

3.

Arbeitskräfteentzug: Einberufungen contra Intensivierung der Rüstung

3.1

Die Winterkrise 1942/43 und die Sondereinziehungsaktionen 1943/44

Wie geschildert, hatte das Scheitern der Blitzkriegsstrategie gegen die Sowjetunion im Winter 1941/42 zur Bildung von Freimachungsausschüssen geführt. Sie sollten schnell Arbeitskräfte aus der Industrie freistellen, mit denen die Verluste des Feldheeres ausgeglichen werden konnten. Im Sommer 1942 schien die Krise zunächst überwunden. Viele hofften auf ein baldiges Ende des Krieges, als die deutsche Wehrmacht die Ölfelder am Kaspischen Meer erreichte und in Afrika Siege feierte. Auch die japanischen Verbündeten waren in Asien und der Pazifikregion erfolgreich.114 Zwar konfrontierte das OKW Speer nach wie vor mit hohen Einberufungsforderungen aus der Rüstungswirtschaft, doch gelang es dem Munitionsminister, diese Zahlen mittels seines direkten Führerzugangs erheblich zu drücken.115 Angesichts der illusionären Vorstellungen Hitlers über die Verluste des Feldheeres an der Ostfront und des Ersatzbedarfs der Wehrmacht ging das OKW in die Defensive. Es versuchte zunächst, seinen Personalbedarf in der Hauptsache durch Umorganisationen innerhalb der Wehrmacht zu decken. Außerdem ging es dazu über, durch Maßnahmen wie die Verpflichtung Nichtdeutscher zum Wehrdienst, den Einsatz ausländischer Kriegsgefangener bei der Heimatflak sowie den paramilitärischen Einsatz Jugendlicher außerhalb und innerhalb des Reichsarbeitsdienstes weitere Kräfte für den Fronteinsatz freizumachen.116 Nach Darstellung der Rüstungsinspektion IV stellten die Freimachungsunterausschüsse des Wehrkreises IV aus der kriegswichtigen gewerblichen Wirtschaft zwischen Juni und Dezember 1942 knapp 47 000 Arbeitskräfte frei.117 Freilich dürften in diesen Zahlen nicht nur die ersten Einberufenen der noch zu schildernden Sonderaktionen enthalten sein, sondern auch die Einberufenen des Geburtsjahrgangs 1924, die vorher in keiner Berechnung aufgetaucht

113 Ebd. 114 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 670–672. 115 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 78 f. 116 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 826–844. 117 Vgl. RüIn IV, Vierteljahresbericht zum Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 36).

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waren, weil sie zu jung waren. Im Herbst 1942 wurden bereits die 18-Jährigen eingezogen, obwohl das Wehrgesetz vor dem Krieg das Alter für die Ableistung des Wehrdienstes auf 21 Jahre festgelegt hatte. Dies verweist darauf, dass das Deutsche Reich zu dieser Zeit bei der Rekrutierung von Soldaten bereits von den letzten Reserven zehrte.118 Als Preis für die geringen Einberufungen im Sommer 1942 musste Speer den Planungen des Allgemeinen Heeresamtes zustimmen, die jüngeren und für die Wehrmacht daher besonders wertvollen Geburtsjahrgänge 1908 bis 1922 möglichst vollständig auszubilden. Ein Teil von ihnen gehörte zu denjenigen, die wegen des Fehlens einer Wehrdienstarmee in der Weimarer Republik noch keinen Militärdienst geleistet hatten.119 Daher ergingen Ende September 1942 zunächst Anweisungen an die Freimachungsunterausschüsse, bestimmte Quoten der von den gewerblichen Unternehmen benannten „Schlüsselkräfte“ für diese Ausbildung freizumachen. Der Rüstungsbereich Chemnitz sollte im Oktober 900 Männer stellen, von denen ab Januar 10 Prozent gegen neue Auszubildende ausgetauscht werden sollten. Doch kaum war diese Aktion gestartet, wurde sie wieder gestoppt, weil Speer zu große Fertigungsausfälle fürchtete. In der Tat zeigten sich dabei in der Region Chemnitz die nachteiligen Folgen der „Streuung“ der Rüstungsproduktion besonders deutlich. Hier gab es viele kleine Unternehmen, die nur eine einzige Schlüsselkraft besaßen, bei deren auch nur zeitweiser Einberufung die gesamte Produktion des Kleinunternehmens zusammenbrechen musste. Nachdem Speer erreicht hatte, dass bei der Einberufung der „Schlüsselkräfte“ zur Ausbildung auf die Produktion der Rüstungsindus­ trie Rücksicht genommen werden sollte, stellte der Rüstungsbereich Chemnitz schließlich im November 1942 lediglich 185 Männer, also gerade einmal 20 Prozent der ursprünglich veranschlagten Quote.120 Doch vor dem Hintergrund der Landung der alliierten Streitkräfte in Nordafrika und der ständigen Verschlechterung der Lage an der Ostfront ließen sich weitere Einberufungen aus den Reihen der bisher geschützten Arbeitskräfte nicht vermeiden. Im Dezember 1942, als der Verlust der vor Stalingrad eingekesselten Armee bereits absehbar wurde, erwogen Hitler und die NS-Verantwortlichen zunächst einen komplizierten Austausch von Arbeitskräften zwischen Rüstungsbetrieben, Ersatzheer und Feldheer, der unter dem Namen „Rü 43 Tausch“ ablaufen sollte. Grob zusammengefasst war daran gedacht, der Wirtschaft bis Februar 1943 50 000 frontverwendungsfähige Mitarbeiter

118 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 823. 119 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 78 f.; Eichholtz, Geschichte II, S. 198; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 826. 120 RüKdo Chemnitz an die Leiter der FUA und die FUA-Offiziere am 27.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 25); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–13.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 4 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 19).

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zu entziehen. Für weitere 150 000 sollten der Industrie minder kriegstaugliche Soldaten aus dem Ersatzheer zur Verfügung gestellt werden.121 In der Praxis wurde dieses Szenario schnell durch ein Bündel von Maßnahmen überholt, das der krisenhaften Gefechtslage geschuldet war. Hitler machte sich um die Jahreswende damit vertraut, die noch im Sommer 1942 durch Siegesmeldungen von der Ostfront beschwichtigte Bevölkerung endlich auf einen langen und opferreichen Kampf vorzubereiten, ohne sich freilich einzugestehen, dass dieser schon längst nicht mehr gewonnen werden konnte. Neben der propagandistischen Inszenierung des „totalen Krieges“, der Einführung der allgemeinen Dienstpflicht für Frauen und einer erneuten Stilllegungskampag­ n­e beabsichtigte das OKW, über eine Sondereinziehungsaktion (SE-Aktion) 200 000 Mann zu rekrutieren.122 Die Aktion „Rü 43 Tausch“ und die Sondereinziehungsaktionen liefen praktisch zeitgleich ab. Erstere beanspruchte faktisch das gesamte Jahr 1943. Sie entwickelte sich zu einem Verfahren, bei dem die Ersatztruppen nicht feldverwendungsfähige Soldaten abgaben. Zugleich konnten die Unternehmen bis Ende August 1943 namentliche Anträge auf die Rückkehr nicht feldverwendungsfähiger Mitarbeiter aus dem Ersatzheer stellen. Ende April hatten die Wehrersatzdienststellen für den Rüstungsbereich Chemnitz rund 600 Soldaten ohne Anträge für eine Rückkehr in die Rüstungsindustrie freigegeben, außerdem knapp die Hälfte der rund 2 600 von den Unternehmen gestellten Anträge positiv beschieden.123 Bis Ende November 1943 genehmigten die Wehrersatzdienststellen schließlich gut 2 100 von knapp 3 900 Anträgen.124 Doch angesichts dessen, was die Sondereinziehungsaktionen den Unternehmen abverlangten, war dies nicht viel mehr als ein Tropfen auf einen heißen Stein. In der bisherigen Literatur werden die SE-Aktionen meist nur beiläufig erwähnt.125 Sie verdienen jedoch eine nähere Betrachtung unter dem Aspekt, inwieweit die Inszenierung des „totalen Krieges“ auch die Einberufungspraxis beeinflusste. Sind auch hier, wie schon früher zu beobachten, auf der regionalen Ebene Aspekte der Kontinuität in vom Reich verordneten Ad-hoc-Maßnahmen zu erkennen? Oder ist hier ein Bruch zu verzeichnen? Wie effizient gestalteten sich die Sondereinziehungen auf der regionalen Ebene?

121 Vgl. Führerbefehl vom 19.12.1942 zur Verbesserung der Ersatzlage und der Altersschichtung beim Feldheer. In: Moll, Führererlasse, S. 305–307; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 844–847. 122 Ebd., S. 847–850; Tooze, Ökonomie, S. 676–680. 123 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 13). 124 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 31). 125 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 847, 849; Eichholtz, Geschichte II, S. 226 f., 232; Recker, Sozialpolitik, S. 177; Janssen, Ministerium, S. 84; ausführlicher lediglich Peter, Rüstungspolitik, S. 202–207.

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Die SE-Aktionen, per Führerbefehl als Erweiterung der Aktion „Rü 43 Tausch“ definiert, betrafen die gesamte Kriegswirtschaft, deren einzelne Bereiche bestimmte Quoten an Arbeitnehmern abzugeben hatten.126 Vom Ablauf her gestalteten sich die Aktionen ähnlich unübersichtlich wie die Einberufungen im Winter und Frühjahr 1941/42. Ständig änderten sich die Terminvorgaben für die Freistellungen. Immer wieder erhöhte sich das Aufbringungssoll an Arbeitskräften. Dazu kamen immer neue Schutzbestimmungen für unterschiedlichste Rüstungsfertigungen. Während der SE-Aktionen trat die Rüstungskommission zum ersten Mal praktisch in Erscheinung: Sie bemühte sich, über Sonderbesprechungen mit den beteiligten Organisationen sowie über Aufklärungsaktionen gegenüber den Unternehmensleitungen und den regionalen Vertretern der Ausschüsse und Ringe, der Aktion in ihrem Verantwortungsbereich eine einheitliche Stoßrichtung zu geben.127 Bereits für die Aktion „Rü 43 Tausch“ hatte Hitler die Aufstellung von Wehrkreiskommissionen durch Anordnung des OKW befohlen.128 Diesen sollten auf der regionalen Ebene Wehrkreisunterkommissionen und Hilfskommissionen untergeordnet sein, die die praktische Arbeit bei den Aktionen „Rü 43 Tausch“ und „SE“ leisten sollten. Die daraufhin eingerichtete Wehrkreiskommission des Wehrkreises IV war eine Nachfolgeinstitution des bisherigen Freimachungsausschusses. Sie war, den dort vertretenen Institutionen nach zu urteilen, breiter angelegt als der vorausgegangene Freimachungsausschuss. Die bisherigen Mitglieder des Freimachungsausschusses wurden durch einen Beauftragten Mutsch­manns in seiner Funktion als Reichsverteidigungskommissar, den Präsidenten der Gauwirtschaftskammer und den Landesbauernführer ergänzt. Daran ist zu erkennen, dass der umgewandelte Freimachungsausschuss nachvollzog, was bereits bei der Einrichtung der Rüstungskommissionen erkennbar war: die stärkere Einbeziehung der Parteiorganisation in die Steuerung der Rüstungswirtschaft und damit das größere Gewicht des Gauleiters und Reichsverteidigungskommissars Mutschmann. Den Vorsitz der Kommission hatte der Befehlshaber im Wehrkreis inne, der bis dahin nur eine allgemeine Aufsichtsfunktion ausgeübt hatte.129 Dies bedeutete einen Machtgewinn der Wehrersatzdienststellen gegenüber den Rüstungskommandos, der sich bis in die regionale Ebene fortsetzte.

126 Vgl. Führerbefehl vom 8.1.1943 in Erweiterung des Befehls vom 19.12.1942 zur Verbesserung der Ersatzlage und der Altersschichtung beim Feldheer. In: Moll, Führer-Erlasse, S. 309 f.; IHK Chemnitz vom 19.3.1943, Rundschreiben Nr. W 193/43 betr. Überprüfung von Betrieben zur Freimachung von Arbeitskräften für die Truppe (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.); Eichholtz, Geschichte II, S. 226 f. 127 Vgl. RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 15). 128 Vgl. Führerbefehl vom 19.12.1942 zur Verbesserung der Ersatzlage und der Altersschichtung beim Feldheer. In: Moll, Führererlasse, S. 305–307, hier 307. 129 Vgl. RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 37).

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Auf der Ebene des Wehrersatzbezirks Chemnitz, der den Regierungsbezirk umfasste, entstand eine Wehrkreisunterkommission unter der Leitung des Wehr­ ersatzinspekteurs.130 Sie übernahm bei Konflikten zwischen Unternehmen und Wehrkreishilfskommissionen vor allem Schiedsrichterfunktionen, tritt in den Quellen jedoch wenig in Erscheinung.131 Augenfälliger ist die Kontinuität beim Übergang der bisherigen Freimachungsunterausschüsse in die Wehrkreishilfskommissionen. Zwar ging der Vorsitz dieser Kommissionen von den Arbeitsamtsleitern auf die Wehrbezirkskommandeure über. Doch, so erklärte das Rüstungskommando bereits Anfang Februar 1943, „die bisher im FUA geübte Zusammenarbeit der Vertreter der einzelnen Dienststellen bewährt sich auch im Wehrkreishilfsausschuss“.132 Im März 1943 bilanzierte es: „Die Wehrbezirkskommandeure bedienten sich weiter des gut eingespielten Apparates der FUA. In der Art und Weise der Durchführung, wie sie bis dahin im FUA geübt wurde und in der Zusammensetzung dieser Kommissionen änderte sich nichts.“133 Trotz dieser positiven Wahrnehmung seitens des Rüstungskommandos fühlten sich die Leiter der Arbeitsämter durch den Verlust der Leitungsposition in den Kommissionen zurückgesetzt. Jedenfalls klagten die Vertreter der Arbeitsämter im April 1943 beim Rüstungskommando, dass es seit der Reorganisation „an einer einheitlichen Anweisung für die Durchführung der den HiK [Hilfskommissionen] übertragenen Aufgaben fehlt. Es fehle in der Hauptsache die geschäftsführende Stelle, die im früheren FUA bei den Arbeitsämtern lag.“134 Die Arbeitsamtsvertreter sahen dadurch eine ganze Reihe von Aufgaben gefährdet wie z. B. die Aufstellung der Listen der in den Unternehmen beschäftigten Wehrpflichtigen, die Bearbeitung von Einsprüchen oder die Überprüfung und Anerkennung der Schlüsselkräfte. Sie würden, so erklärten die Arbeitsämter, sich für diese Aufgaben zwar weiterhin verantwortlich fühlen, wollten dies aber durch eine angemessene Position im Ausschuss bestätigt haben.135 Das Rüstungskommando versprach, ihre Belange bei Gesprächen mit der Wehrersatzinspektion des Rüstungsbereichs zu vertreten, und erreichte tatsächlich einen Kompromiss: Der Wehrersatzinspekteur wies die ihm unterstellten Wehrbezirkskommandeure an, sich bei der Arbeit in den Hilfskommissionen „der Arbeitsämter als geschäftsführendes Büro zu bedienen“, womit der Status quo ante zwar nicht wieder hergestellt war, die Arbeitsämter aber wesentliche Tätigkeitsbereiche behalten und über die Sacharbeit weiterhin entsprechenden

130 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 9RS). 131 Vgl. ebd., Bl. 30. 132 Ebd., Bl. 14RS; vgl. auch ebd., Bl. 9. 133 Ebd., Bl. 30. 134 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 8). 135 Vgl. ebd.

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Einfluss ausüben konnten.136 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Arbeitsämter offenbar nicht den Dienstweg über das Landesarbeitsamt gingen, um ihre Position in den Kommissionen zu stärken, sondern ihr Problem selbstständig innerhalb des regionalen Netzwerks zu regeln suchten. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, wie eigenständig die regionalen und lokalen Institutionen handelten und welche starken Selbstorganisationskräfte sie besaßen. Indizien für eine aktive Einschaltung der NSDAP in die Überprüfung der UK-Stellungen im Frühjahr 1943, wie sie für den Gau Westfalen-Nord und den Gau Pommern vorliegen, lassen sich für die Untersuchungsregion nicht auffinden.137 Sie war auch, betrachtet man die Ergebnisse der Aktion und das Engagement der damit befassten Behörden, hier überhaupt nicht nötig. Obwohl die Rüstungsinspektion IV erst am 21. Dezember 1942 den Beginn der Aktion „Rü 43 Tausch“ bekannt gab, konnte das Rüstungskommando bereits zum Jahresende die ersten 135 für den Fronteinsatz freigemachten Arbeitskräfte melden und erhielt dafür eine besondere Belobigung der Rüstungsinspektion. Das Engagement der damit befassten Rüstungskommando-Offiziere und -Angestellten war so hoch, dass viele von ihnen sogar auf die Sonn- und Feiertagsruhe oder den Weihnachtsurlaub verzichteten.138 Als im Februar 1943 nachträglich die Panzerfertigung und die wichtigsten Marinefertigungen einen Totalschutz vor Einberufungen erhielten und bereits Einberufene von der Wehrmacht zurückgefordert werden müssten, hielt sich das Rüstungskommando zugute, dass es schon im Vorhinein auf den Panzerbau so viel Rücksicht genommen hatte, sodass nur 17 Rückberufungen aus der Wehrmacht notwendig waren. Außerdem war, so die Darstellung im Kriegstagebuch, „die Torpedofertigung für die Marine ohne besondere Anweisung vor Abzügen für die Einberufung geschützt worden“. Auch diese Vorgehensweise wurde im Nachhinein durch entsprechende Reichsanordnungen bestätigt.139 Drei aufeinanderfolgende SE-Aktionen prägten die Einberufungstätigkeit des Jahres 1943. Soweit sie in der reichsbezogenen Forschungsliteratur überhaupt bewertet werden, gelten diese Aktionen eher als erfolglos. Zumindest die erste SE-Aktion stufen Recker und Kroener als gescheitert ein.140 Für den

136 Vgl. ebd.; RüKdo Chemnitz, Aussprache mit den Arbeitsämtern in Zwickau und Chemnitz am 11. und 14.5.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 75–77, Zitat S. 76). 137 Vgl. Nolzen, Assimilation, S. 75. 138 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 31); RüKdo Chemnitz am 22.12.1942, Rundschreiben Nr. 132/42 betr. Sondereinberufungen Januar/Februar 1943, SE-Aktion (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 83); RüKdo Chemnitz an die Leiter der FUA und FUA-Offiziere am 23.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 84). 139 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 15). 140 Recker, Sozialpolitik, S. 177, spricht ohne Zahlenbelege, lediglich gestützt auf eine Aussage der RüIn III (Berlin), von „Fehlschlag“. Vgl. auch Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 958, der auf der Basis der Einschätzungen General Olbrichts ebenfalls ein Scheitern der ersten SE-Aktion bilanziert.

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­ ntersuchungsraum sieht die Bilanz ganz anders aus: Der Rüstungsbereich U Chemnitz erfüllte treulich die ihm vorgegebenen Quoten. Im ersten Quartal 1943 stellte er aus der gewerblichen Kriegswirtschaft der Wehrmacht insgesamt knapp 2 500 Wehrpflichtige im Alter von bis zu 35 Jahren zur Verfügung; das entsprach knapp 19 Prozent der Wehrkreis IV einberufenen Männer. Der bisherige Schutz der Schlüsselkräfte entfiel;141 sie wurden durch dieses Verfahren stark dezimiert: Allein unter den bis Mitte Februar 1943 gestellten 1 000 Wehrpflichtigen befanden sich 85 Prozent Schlüsselkräfte. Behindert wurde die Arbeit der Kommissionen zum einen dadurch, dass eine Reihe von Fertigungen einen kompletten Schutz vor jeglicher Einziehung von Mitarbeitern genoss. Zum anderen schränkte auch hier wieder die „Streuung“ der Rüstungsfertigung die Auswahl der Einzuberufenden erheblich ein. Die Kommissionen versuchten, Kleinbetrieben mit höchstens fünf Schlüsselkräften diese möglichst vollständig zu erhalten, um ihre Produktion nicht zu stark zu gefährden.142 Die konkrete Auswahl basierte, wie schon in den Jahren zuvor, auf einer Umfrage bei den Unternehmen. Während diese aber in den vergangenen Jahren lediglich die Personen zu bestimmen hatten, die sie für besonders unentbehrlich hielten und die Wehrersatzdienststellen bzw. die entsprechenden Ausschüsse die einzuziehenden Personen namentlich bestimmten, wurde das Verfahren diesmal umgekehrt. Die Unternehmensleitungen mussten den Hilfskommissio­ nen zuerst 20 Prozent, später, nach verschiedenen Quotenerhöhungen und der Ausweitung von Schutzbestimmungen für bestimmte Rüstungsfertigungen, 30 bis 40 Prozent aller feldverwendungsfähigen Mitarbeiter namentlich benennen, die sie damit zur Einberufung freigaben. Dabei hatten sie insbesondere die jüngsten Geburtsjahrgänge und bereits ausgebildete Soldaten zu stellen. Nachdem also praktisch alle personenbezogenen Schutzmechanismen für die SE-Aktion aufgegeben worden waren, überließen es die Kommissionen weitgehend den Unternehmensleitungen zu bestimmen, wen sie für entbehrlich hielten und an die Front schicken wollten.143 Die ohnehin durch den Nationalsozialismus gestärkte Machtstellung der Unternehmensleitungen in den betrieblichen Beziehungen144 wurde damit zumindest gegenüber den wehrfähigen Männern noch einmal signifikant ausgeweitet. 141 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 84. 142 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 15 f., 30); RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 37). Zum Teil eigene Berechnungen auf dieser Grundlage. 143 Vgl. RüKdo Chemnitz an die Leiter der FUA und FUA-Offiziere am 23.12.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 84); Rüstungskommission IVa an die Betriebsführer der kriegswichtigen gewerblichen Wirtschaft am 1.2.1943 betr. SE-Aktion (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 49). 144 Vgl. zu den betrieblichen Beziehungen im NS Wolfgang Spohn, Betriebsgemeinschaft und innerbetriebliche Herrschaft. In: Carola Sachse/Tilla Siegel/Hasso Spode/Wolfgang Spohn, Angst, Belohnung, Zucht und Ordnung. Herrschaftsmechanismen im Natio­ nalsozialismus, Opladen 1982, S. 140–208; Kranig, Lockung; Siegel, Leistung, insbes.

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Wenn es trotz aller Hindernisse gelungen sei, bilanzierte das Rüstungskommando, bis einschließlich März 1943 alle vorgegebenen Sollzahlen zu erfüllen, „ohne dass es zu nennenswerten Störungen im Ablauf der Fertigungen und zu Einsprüchen der Betriebsführer gekommen ist“, so sei dies „in erster Linie der gründlichen und gewissenhaften Zusammenarbeit der im HiK [sic] vertretenen Dienststellen zu verdanken“.145 Die Wehrersatzdienststellen hätten „im allgemeinen“ den Bedürfnissen der Rüstungsfertigung gegenüber Verständnis gezeigt, deshalb habe man nur in wenigen Fällen die Wehrkreisunterkommis­ sion als Schiedsrichter anrufen müssen. Auch würdigte das Rüstungskommando das Bemühen der Arbeitsämter, den Unternehmen Ersatzkräfte zuzuweisen, etwa von der Meldepflicht erfasste Frauen oder ausländische Zivilarbeiter, die allerdings in der Regel Ungelernte waren.146 Das Gesamtgebiet der Rüstungsinspektion IV, das zu diesem Zeitpunkt Sachsen und die angrenzenden Rüstungskommandobereiche Reichenberg und Karlsbad umfasste,147 erfüllte bis einschließlich März 1943 ebenfalls sämtliche Quoten, was die Rüstungsinspektion in hohem Maße der Tätigkeit der Rüstungskommission gutschrieb.148 Dass im April 1943 bereits 42- bis 45-jährige Männer gemustert und zum Wehrdienst eingezogen wurden, veranschaulicht die prekäre Personalsituation der Wehrmacht.149 Für die Verantwortlichen war dies allerdings noch nicht die oberste Altersgrenze, bis zu der man an eine Einberufung denken konnte. Das wurde kurz darauf bei einer vom Munitionsministerium veranlassten Erhebung der noch in den Unternehmen verbliebenen Männer deutlich, die als Vorarbeit für weitere Musterungen und Einberufungen dienen sollte. Sie umfasste die Geburtsjahrgänge 1890 bis 1926 und damit die bis zu 53 Jahre alten Männer. Tatsächlich wurden auch im Herbst 1943 die Geburtsjahrgänge 1889 bis 1903 gemustert.150 Die angesprochene Erhebung ergab für die 246 vom Rüstungskommando in Südwestsachsen betreuten Rüstungsbetriebe mit Stichtag 31. Mai 1943 folgendes Ergebnis: Innerhalb einer Gesamtbelegschaft von knapp 130 000 Männern und Frauen gab es noch 44 000 Männer der Geburtsjahre 1890 bis 1926, die für die Wehrmacht als tauglich befunden worden waren. Das entsprach 34 Prozent der Gesamtbelegschaft. Dieser auf den ersten Blick sehr hohe Prozentsatz reduziert sich freilich erheblich, wenn man nur die fronttauglichen Mitglieder bis S. 41–61; Matthias Frese, Betriebspolitik im „Dritten Reich“. Deutsche Arbeitsfront, Unternehmer und Staatsbürokratie in der westdeutschen Großindustrie 1933–1939, Paderborn 1991, S. 93–100. 145 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (­BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 30). 146 Vgl. ebd. 147 Vgl. Kap. III. 2. 148 Vgl. RüIn IV, Vierteljahrsbericht zum Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 15). 149 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 13). 150 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 956.

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zum Alter von 37 Jahren betrachtet, die allein als ernst zu nehmende Kampfreserve gelten konnten.151 Diese umfasste rund 8 600 Mann oder 7 Prozent der Belegschaft. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass etwa ein Drittel dieser Kampfreserve aus 17- bis 19-Jährigen bestand. Nur über eine Herabsetzung der Tauglichkeitskriterien und einer zunehmenden Einbeziehung der älteren Männer konnte die Wehrmacht den Unternehmen noch nennenswerte Personalressourcen entziehen. Unter den 38- bis 52-jährigen männlichen Arbeitskräften befanden sich immerhin noch etwa 31 000 für die Wehrmacht als tauglich befundene Männer in den Betrieben, davon 23 000 feldtaugliche.152 Die Ergebnisse einer weiteren Erhebung, die alle als Rüstungsbetriebe eingestuften Betriebe erfasste, also auch diejenigen, die von der IHK oder von der Handwerkskammer betreut wurden, wiesen in dieselbe Richtung: Sie erfasste mit den Heeresgemusterten zwar nicht alle, aber den größten Teil der Wehrpflichtigen.153 Demnach waren in den südwestsächsischen Rüstungsbetrieben zwar noch über 23 000 uk-gestellte fronttaugliche Heeresdienstpflichtige tätig. Der weitaus größte Teil davon, nämlich mehr als 15 000 oder zwei Drittel, gehörte jedoch den über 35-Jährigen an, lediglich knapp 8 000 waren in dem von der Wehrmacht bevorzugten Alter zwischen 20 und 35 Jahren und damit als echte Frontkampfreserve zu betrachten.154 Diese Zahlen lassen ebenso wie die erfüllten Aufbringungsquoten erkennen, dass zumindest im Untersuchungsraum von einer zu großen Schonung der Wirtschaft, wie sie Nolzen als Ausgangspunkt einer späteren institutionellen Zusammenarbeit von NSDAP und Reichswehr bei der Einberufungspraxis zu erkennen meint,155 spätestens seit dem Beginn der Sondereinziehungsaktionen keine Rede sein kann. Auch ohne jede Rücksichtnahme auf die Wirtschaftsproduktion war abzusehen, dass die Reserven der südwestsächsischen Unternehmen bald ausgeschöpft sein würden. Dem Regime gingen schlicht und einfach die wehrfähigen Männer aus. Die Ersatzgestellung für das Frontheer stand spätestens nach Abschluss der ersten SE-Aktion kurz vor dem Zusammenbruch.

151 Vgl. zum Einfluss des Alters auf die Feldtauglichkeit und die Fähigkeit zum Kampf an der Front Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 975–981. 152 Als feldtauglich galten kv.- und g.v. Feld-gemusterte Männer. Z. T. eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 40). 153 Dass die Zahl der Marine- und Luftwaffengemusterten gegenüber der Zahl der Heeresgemusterten in der Region eher gering war, lässt sich aus den bereits zitierten Zahlen zu den vom Rüstungskommando betreuten Betrieben ablesen, bei denen die Heeresgemusterten mehr als 90 Prozent der Wehrpflichtigen ausmachten; vgl. eigene Berechnungen nach RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 40). 154 Z. T. eigene Berechnungen nach Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–31.10.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 6). 155 Vgl. Nolzen, Assimilation, S. 79, 82. Zur späteren Zusammenarbeit von Reichswehr und NSDAP im Wehrersatzwesen vgl. Kap. VI. 3.

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Dies passt zu den Ergebnissen Roland Peters für Baden: Dort war ebenfalls eine nur noch geringe Anzahl frontverwendungsfähiger junger Männer in den Betrieben aufzufinden.156 Nichtsdestotrotz fand von Juni bis September 1943 die zweite Sondereinziehungsaktion statt, die nach bewährtem Muster ablief. Zwar zeigten sich Rüstungskommando, Arbeitsämter und Wehrbezirkskommanden gegenüber unternehmerischen Belangen sehr rücksichtsvoll, was deren Wünsche um Zurückstellung älterer Facharbeiter von der Einziehung anging,157 dennoch gelang es, dem Rüstungsbereich Chemnitz bis August 1943 die jeweils gestellten Einberufungsquoten aufzubringen, also insgesamt 1 430 Rekruten einzuziehen, von denen freilich ein Drittel bis die Hälfte älter als 35 Jahre alt war.158 Im September 1943 änderte sich die Einberufungspolitik der Rüstungsinspektion und des Rüstungskommandos. Die nunmehrige Rüstungsinspektion IVa, die seit Mai nur noch für Sachsen zuständig war,159 vermittelte auf einer Besprechung im August 1943 als Standpunkt des Munitionsministers Speer, dass er sich künftig die Aufbringungszahlen von der Wehrmacht nicht mehr vorgeben lasse, sondern nur noch so viele Arbeitskräfte für die Wehrmacht freistelle, wie die Rüstungsproduktion entbehren könne.160 Die Runde der versammelten Rüstungskommando-Mitarbeiter versuchte, ausgehend von der ihr übermittelten Speer’schen Vorgabe, zu objektiven und messbaren Kriterien darüber zu gelangen, wann eine Gefährdung der Fertigung durch einen Abzug von Wehrpflichtigen entstünde. Da der zuständige Bearbeiter der Rüstungsinspektion hellsichtig erkannte, dass es wahrscheinlich dazu keine bindenden Richtlinien aus Berlin geben werde, erklärte er, dass seiner Ansicht nach die Gefährdung dann eintrete, wenn das Arbeitsamt keine Ersatzkräfte stellen könne und Fertigungseinbußen von fünf Prozent oder mehr drohten.161 Vor diesem Hintergrund gelang es dem Rüstungskommando Chemnitz, im September 1943 eine Herabsetzung des ursprünglichen Solls auf 180 Arbeitskräfte zu erreichen.162 Insgesamt wurden also im Rüstungsbereich Chemnitz im Rahmen der zweiten SE-Aktion nicht viel mehr als 1 600 Arbeitskräfte für

156 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 202, 204. 157 AA Annaberg, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 158 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 32); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–31.10.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 5 f., 17). Zum Teil eigene Berechnungen. 159 Vgl. Kap. III. 2. 160 Vgl. Besprechung der Gruppenleiter Ib bei RüIn IVa am 12.8.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 63–66, hier 63). 161 Vgl. Besprechung der Gruppenleiter Ib bei RüIn IVa am 12.8.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 63–66, hier 63). 162 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 28).

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die Wehrmacht zur Verfügung gestellt, obwohl anfangs ein Soll von rund 2 500 Männern vorgegeben worden war.163 Dies entspricht der Entwicklung im gesamten Verantwortungsbereich der Rüstungsinspektion IVa, also im Gau Sachsen, wo bereits im August nur ein Viertel und im September gar nur ein Achtel der jeweils vorgegebenen 4 300 Wehrpflichtigen freigestellt wurde. Die Rüstungsinspektion begründete dies damit, dass der „Totalschutz“ für Rüstungsfertigungen während des Ablaufs der zweiten SE-Aktion immer weiter ausgedehnt worden sei: „Verschiedentlich wurden Fertigungen unmittelbar vor den Einberufungsterminen neu unter Totalschutz gestellt, sodass oft nur unter großen Schwierigkeiten noch in letzter Minute andere Arbeitskräfte freigegeben werden mussten.“164 Die zunehmende Machtkonzentration im Speerministerium wirkte sich offenbar bis auf die regionale Ebene dahingehend aus, dass der Rüstungsproduktion der Vorrang vor der Auffüllung des Wehrmachtspersonals gegeben wurde, und zwar in einem Zeitraum, in dem die Wehrmacht so hohe Verluste erlitt wie nie zuvor. Zwischen Juli und Oktober 1943 verlor sie allein an der Ostfront über 900 000 Soldaten, von denen weniger als die Hälfte ersetzt wurden.165 Speer bereitete die Unternehmen allerdings schon Ende August 1943 auf weitere Arbeitskraftverluste vor. Die Unternehmensleitungen sollen eine vorübergehende Einberufungssperre dafür nutzen, Ersatzkräfte für die Facharbeiter der Jahrgänge 1914 und jünger anzulernen, weil mit deren Einberufung in Bälde zu rechnen sei.166 Die dritte SE-Aktion ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Die Rüstungsinspekteure wurden darüber im Oktober 1943 auf einer Tagung des Ministeriums Speer in Gotenhafen/Gdingen (Gdynia) informiert. Der sächsische Rüstungsinspekteur Generalleutnant Weigand, der im Sommer Friedensburg ersetzt hatte, unterrichtete einen Tag später seine Rüstungskommandeure. Überdies fand eine Rüstungskommissionssitzung statt, an der auch die Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe167 teilnahmen.168

163 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 32). 164 Vgl. RüIn IV, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/16, Bl. 30). 165 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 954. 166 RMfBuM an die Betriebsführer der deutschen Rüstungswirtschaft am 28.8.1943, Einberufung von jungen Jahrgängen zur Wehrmacht. In: Nachrichten des RMfBuM, (1943) 28, S. 295 f. 167 Der Bezirksbeauftragte war der „Vertreter eines Hauptausschusses oder Hauptringes in einem Bezirk (meist Wehrkreis)“ und dem Bezirksobmann, also der Dienststelle des Rüstungsobmannes unterstellt; vgl. Fachausdrücke der Rüstungswirtschaft. In: Nachrichten des RMfBuM, (1943) 28, S. 300–302, hier 300; RMfRuK, Erlass über die Aufgabenverteilung in der Kriegswirtschaft vom 29.10.1943. In: Nachrichten des RMfRuK (1943), Anlage zu Nr. 31, S. 11. 168 Vgl. RüIn IVa am 27.10.1943, Arbeitstagung des Reichsministers Speer vom 22.– 25.10.1943 in Gotenhafen/Gdingen. Besprechung Rüstungsinspekteur mit Rüstungskommandeuren am 26.10.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 40); Protokoll der

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Angesichts der Tatsache, dass unter den bisher Einberufenen eine erhebliche Anzahl älterer und daher nur bedingt frontverwendungsfähiger Arbeitskräfte gewesen war, sollte sich die neue Aktion auf die jüngeren und für die Wehrmacht wertvollsten Geburtsjahrgänge 1914 bis 1922 konzentrieren. Diese sollten rund 50 Prozent der ersten Aufbringungsrate ausmachen. Das Rüstungskommando bereitete die Unternehmen im Oktober 1943 darauf vor, dass sie nahezu alle jungen Mitarbeiter abzugeben hätten. Mit dem Begriff der „Kernkräfte“ wurde gleichzeitig ein neuer personenbezogener Einberufungsschutz geschaffen, der in jedem Betrieb zehn Prozent aller fronttauglichen Mitarbeiter dieser Jahrgänge sicherstellen sollte. Wie bei den ersten beiden Einberufungsaktionen bestimmten auch diesmal die Unternehmensleitungen die für die Wehrmacht freizugebenden Personen selbst.169 Bei dieser dritten SE-Aktion sollten zwischen November 1943 und Februar 1944 3 400 Männer für die Wehrmacht freigestellt werden. Trotz der immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen gelang es den Kommissionen, über 3 000 Männer zu rekrutieren, von denen allerdings ein kleiner Teil sofort als Arbeitsurlauber zur Luftwaffenfertigung zurückkehren durfte. Doch stießen die Kommissionen diesmal auf sehr viel hartnäckigeren Widerstand bei den Rüstungsunternehmen als bei den ersten beiden Aktionen.170 Dies lässt darauf schließen, dass es diesmal tatsächlich an die Substanz der Produktionsfähigkeit ging, zumal Anfang November 1943 noch völlig unklar war, ob die Firmen für den Entzug an Fachkräften wenigstens mit der Zuweisung Ungelernter entschädigt werden könnten oder ob sie überhaupt keinen Ersatz erhalten sollten. Auch die Wirtschaftskammer Chemnitz erwartete noch Ende Januar 1944, dass die Arbeitsämter mit der Ersatzgestellung „größte und praktisch wohl kaum überwindbare Schwierigkeiten“ haben würden.171 Vor allem ab Januar 1944 hatten die Kommissionen größte Rekrutierungsschwierigkeiten: Unternehmen beriefen sich auf Produktionssteigerungen, die ihnen auferlegt worden seien, und lehnten jede Verantwortung für die Folgen

Rüstungskommissionssitzung mit den Bezirksbeauftragten am 27.10.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 41 f.). 169 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 8); RüKdo Chemnitz am 20.10.1943, Rundschreiben Nr. 85/43 (ebd., Bl. 62); RüKdo Chemnitz am 23.10.1943, Rundschreiben Nr. 87/43 (ebd., Bl. 70); siehe auch Speer an die Betriebsführer der deutschen Rüstungswirtschaft und Kriegsproduktion am 15.10.1943, Freigabe von Wehrpflichtigen der drei Wehrmachtteile. In: Nachrichten des RMfRuK, (1943) 31, S. 333 f. 170 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 30, 45 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 11 f., 19, 57). 171 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung mit den Arbeitsgemeinschaften der Arbeitsämter in Zwickau und Chemnitz am 10. und 11.11.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 80– 82, hier 81); Wika Chemnitz am 25.1.1944, Bericht zur Wirtschaftslage (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 10, unpag., hier auch Zitat).

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der Arbeitskräfteentzüge ab, freilich ohne Art und Umfang drohender Fertigungseinbrüche genauer definieren zu können. Schließlich wurden auf Weisung des Rüstungsamtes des Munitionsministeriums sogar die regionalen Vertreter der Ersatzdienststellen durch die Sächsische Textilmaschinenfabrik AG, vormals Richard Hartmann, und die Carl Hamel AG in Chemnitz geführt. Sie sollten sich persönlich davon überzeugen, dass die geforderte Anzahl Wehrpflichtiger nicht aufgebracht werden konnte. Der Direktor der sächsischen Textilmaschinenfabrik wies darauf hin, dass es der Firma vor allem an deutschen Führungskräften fehle, sowie an Einrichtern, die die Maschinen so einstellten, dass die ungelernten Kräfte daran überhaupt arbeiten konnten.172 Die Verhandlungen des Rüstungskommandos mit der Auto Union AG machen deutlich, wie um jede einzelne Arbeitskraft gerungen wurde: Die Freistellungen während der dritten SE-Aktion erfolgten in drei einzelnen Raten zwischen November 1943 und Februar 1944. Am 16. November 1943 kamen der Chef des Rüstungskommandos Oberst Spangenberg und Dr. Richter, der Vertreter der kaufmännischen Werksdirektion der Auto Union AG, mit ihren Delegationen zu einer Besprechung über das Abgabesoll der Auto Union für die zweite Rate der dritten SE-Aktion zusammen. Das Unternehmen hatte für die erste Rate bereits 150 Wehrpflichtige gestellt, wollte für die zweite Rate jedoch nur 75 freigeben, was das Rüstungskommando jedoch strikt ablehnte. Man habe, so die Argumentation seiner Vertreter, die Auto Union bereits bei der ersten Rate sehr schonend behandelt und festgestellt, dass man dafür andere Betriebe habe stärker belasten müssen. Um dies auszugleichen, müsse das Rüstungskommando bei der zweiten Rate eigentlich sogar die Abgabe von 300 Belegschaftsmitgliedern verlangen. Unter Rücksicht auf die von Richter dargelegten Personalbedürfnisse beim Anlauf von Panzermotoren- und Torpedofertigungen setze man nun das Abgabesoll endgültig auf 240 Mitarbeiter fest.173 „Dr. Richter erhöhte nun seinerseits sein Angebot auf 150, lehnte aber die von RüKdo geforderte Mehrabgabe von 90 Mann ab. Er schlug vor, die Gründe in Berlin vor den Auftraggebern der Fertigungen durch den Behördenvertreter Baurat K. und durch ihn selbst zu vertreten.“ Diese Idee stieß bei den auf die Einhaltung des Dienstweges bedachten Militärs auf wenig Gegenliebe. Sie machten ihn darauf aufmerksam, dass für Einsprüche eine spezielle ­Kommission zuständig sei.174

172 Vgl. RüKdo Chemnitz am 24.11.1943, Rundschreiben Nr. 94/43 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 89); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 11 f., 19, 57); RüKdo Chemnitz am 25.1.1944, Aktenvermerk (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 74 f.). 173 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 22); RüKdo Chemnitz, Besprechung mit der Auto Union AG, Hauptverwaltung Chemnitz, wegen der Freimachung zur SE III (2. Rate) (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 86, Zitat ebd.). 174 Ebd.

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Nach der Besprechung holte das Rüstungskommando bei der Rüstungsinspektion eine Stellungnahme ein. Die Rüstungsinspektion stärkte dem Rüstungskommando in seiner harten Haltung den Rücken und empfahl die Einberufung der Schiedskommission. Richter, von dieser Entscheidung unterrichtet, unternahm einen letzten Versuch, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. „Er stellte nochmals die Frage, ob RüKdo mit dem Auflagesoll auf 150 zurückgehen könnte, um den Zusammentritt der Kommission zu vermeiden.“ Der beim Rüstungskommando zuständige Major unterbreitete schließlich einen neuen Kompromissvorschlag, den Richter nach einer kurzen Bedenkzeit annahm: Die Auto Union stellte 200 Belegschaftsmitglieder sofort, und weitere 40 nur dann, wenn diese am Schluss am Soll der zweiten SE-Rate fehlen würden.“175 Betrachtet man die drei SE-Aktionen in der Untersuchungsregion, so ist auch hier zu erkennen, wie sich eine auf der Reichsebene aus Verzweiflung geborene Ad-hoc-Aktion auf dem Weg in die Region in eine Fortführung bisher geübter Praktiken verwandelt. Der noch auf der Mittelebene erkennbare Politisierungsschub durch die Einbeziehung eines Beauftragten Mutschmanns in die zuständige Kommission, der zur Ausrufung des „totalen Krieges“ passt, ist auf der regionalen Chemnitzer Ebene nicht mehr feststellbar. Hier agierten die Wehrkreishilfskommissionen in derselben Besetzung und auf die gleiche Weise wie die ihnen vorangehenden Freimachungsunterausschüsse. Selbst die Zurücksetzung der Arbeitsämter wurde auf dieser Ebene durch lokale Absprachen vor Ort mindestens teilweise wieder aufgefangen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Kommissionen im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten, nämlich der immer geringer werdenden Zahl fronttauglicher Männern in der Rüstungsindustrie, in der Region Chemnitz effizient agierten. Mit Ausnahme der Sommermonate 1943 erfüllten sie alle vorgegebenen Quoten nahezu vollständig, was im Übrigen auch für Sachsen insgesamt gilt. Auch dies deckt sich mit den Ergebnissen für Baden, wo die Einberufungen den Firmen ebenfalls an die Substanz gingen.176 Insofern ist die bisherige Geringschätzung der SE-Aktionen in der Forschung aus regionaler Sicht mindestens zu relativieren. Dass mit diesen Aktionen die Ersatzgestellung für die Front aus Sicht der Wehrmacht immer noch unzureichend war, lag nicht an der Arbeit der Kommissionen, sondern am Mangel fronttauglicher Männer. Spätestens jetzt musste sichtbar werden, dass die Kräfte des Deutschen Reiches nicht ausreichen würden, diesen Krieg zu gewinnen. Die SE-Aktionen sollten daher auch zu den letzten Einberufungsaktionen gehören, bei denen die in der ersten Kriegshälfte auf der regionalen Ebene geschaffenen Mechanismen noch funktionierten.

175 Ebd. 176 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 206 f.

228 3.2

„Industrieller Luftschutzkeller“

Die Rekrutierung von Frauen als Wehrmachtshelferinnen

Parallel zur dritten Sondereinziehungsaktion war das Heer angewiesen worden, seine Soldaten und Offiziere erneut umzuverteilen, also die Heeresarbeitsplätze hinter der Front auszukämmen, mit dem Ziel, durch die jüngeren frontverwendungsfähigen Wehrmachtsangehörigen die Verluste der fechtenden Truppen zu ersetzen. Doch führte jede wehrmachtsinterne Umorganisation dieser Art indirekt zu weiteren Verlusten an leistungsfähigen Arbeitskräften für die Wirtschaftsunternehmen. Sie verstärkte jeweils den Trend, Frauen aus der Wirtschaft abzuwerben und als Wehrmachtshelferinnen, etwa als Stabs- oder Nachrichtenhelferinnen, bei der Flak oder im Wetter- bzw. Flugmeldedienst einzusetzen.177 Auch hier konkurrierten Wehrmacht und Unternehmen um dieselben Arbeitskräfte. Gefragt waren junge, unverheiratete, leistungsfähige Frauen, möglichst mit bürotechnischen Kenntnissen. Die Unternehmen mussten auf diese Weise viele sicher geglaubte Mitarbeiterinnen abgeben.178 Bereits mit Kriegsbeginn hatte die Wehrmacht begonnen, das ursprünglich nur spärlich vorhandene weibliche Personal aufzustocken. Nachdem sich der deutsche Herrschaftsbereich durch die militärischen Erfolge enorm ausgedehnt hatte, wurden zunächst Schwesternhelferinnen des Roten Kreuzes an das Heer überstellt und im Fernmeldedienst eingesetzt. Außerdem wurden auf freiwilliger Basis Helferinnen angeworben179 und ab Sommer 1941 der halbjährige Reichsarbeitsdienst der Mädchen durch ein weiteres halbes Jahr Kriegshilfsdienst verlängert.180 Nach dem Scheitern des Blitzkriegskonzeptes gegen die UdSSR erhielt die Beschäftigung von Frauen einen besonderen Schub. Systematisch hatten die Arbeitsämter den Wehrmachtsdienststellen über Werbung und Dienstverpflichtung weibliches Personal zuzuführen.181 Im Bezirk des Arbeitsamtes Annaberg 177 Zur Geschichte der Wehrmachtshelferinnen vgl. Gersdorff, Frauen, S. 49–77, 278–533; Seidler, Frauen, S. 29–168; ders., Blitzmädchen. Die Literaturüberblicke von von Hagemann, „Kraft“, und Kundrus, Geschichte, thematisieren die Forschung bis in die späten 1990er Jahre. In der neueren Forschung dominiert die Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der Helferinnen, vgl.: Killius, Frauen; Maubach, Expansionen; dies., Stellung, S. 93–111. 178 Vgl. Rüstungskommission IVa an die Betriebsführer der kriegswichtigen gewerblichen Wirtschaft am 1.2.1943 betr. SE-Aktion (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 49); RüKdo Chemnitz am 26.5.1943, Rundschreiben Nr. 46/43 (BA-MA Freiburg, RW 21– 11/15, Bl. 84 f., hier 85); Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 835. 179 Vgl. Maubach, Expansionen, S. 99 f., 103; Gersdorff, Frauen, S. 61 f.; Seidler, Frauen, S. 55 f. 180 Vgl. Gersdorff, Frauen, S. 68; Seidler, Frauen, S. 58. 181 Vgl. Hans-Jürgen Arendt, Zur Frauenpolitik des faschistischen deutschen Imperialismus im Zweiten Weltkrieg. In: Jahrbuch für Geschichte, 26 (1982), S. 299–333, hier 315; Maubach, Expansionen, S. 105; Schreiben des RAM am 5.12.1941, Bereitstellung von Nachrichtenhelferinnen, Dienstverpflichtung zu Einsatzstellen außerhalb des Reichsgebietes. In: Gersdorff, Frauen, Dok. 162, S. 354 f.; Erlass des Reichsministers der Luftfahrt und Oberbefehlshaber der Luftwaffe am 3.12.1942, Zuweisung von Nachrichtenhelferinnen. In: Gersdorff, Frauen, Dok. 171, S. 371 f.

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waren beispielsweise im Oktober 1942 95 Luftnachrichtenhelferinnen zu stellen.182 Im Dezember 1942 klagte das Arbeitsamt Chemnitz: „Der verfolgte Grundsatz, Wehrmacht und ähnliche Bedarfsträger sollen männliche Kräfte durch weibliche ersetzen, nimmt schlimmste Formen an. Zu beachten ist dabei, dass dadurch ja keine Kräfte für die Wirtschaft freiwerden. Die abzulösenden männlichen Kräfte werden an die Truppenteile abgegeben.“ Es gebe keine weiblichen Kräfte mehr, die ohne ungünstige Folgen für den Arbeitseinsatz abgezogen werden könnten.183 Im Gefolge des Desasters von Stalingrad 1943 sollten reichsweit 180 000 Luftnachrichtenhelferinnen184 im Alter zwischen 20 und 28 Jahren eingezogen werden.185 Waren die Arbeitsämter bisher allein für die Rekrutierung der Helferinnen verantwortlich gewesen, sollten nunmehr auch die nachgeordneten Dienststellen Speers und Funks einbezogen werden.186 In der Region Chemnitz wurden die Freimachungsunterausschüsse bzw. Wehrkreishilfskommissionen beauftragt, die auch für die SE-Aktion zuständig waren. Im Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz wurden die infrage kommenden Frauen per Umfrage bei den Unternehmen ermittelt. Sie sollten im Heimatdienst Soldaten ersetzen, die an die Front geschickt wurden. Die Aktion dauerte bis Juni 1943,187 jedoch stellte die Wehrmacht bereits kurz danach neue Forderungen.188 Für das Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz konnte die Hilfskommission die vorgegebenen Quoten im ersten Halbjahr 1943 noch im Wesentlichen erfüllen. Allein bis Ende Juni 1943 stellte das Arbeitsamt Chemnitz 930 junge Frauen zur Verfügung, von denen freilich nur ein Teil die geforderten bürotechnischen Kenntnisse besaß. Die Unternehmen gaben die Kräfte nur äußerst widerwillig her, und der Unmut in Unternehmen und Arbeitseinsatz­ verwaltung steigerte sich noch dadurch, dass eingezogene Helferinnen zum Teil nach Hause berichteten, dass sie in ihren Einsatzstellen kaum benötigt

182 Vgl. AA Annaberg, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im Oktober 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitsämter Berichte 1, unpag.). 183 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im Dezember 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitsämter Berichte 3, unpag.). 184 Vgl. zum Einsatz der Helferinnen Maubach, Stellung, S. 200–214. 185 IHK Chemnitz, Linse, vom 13.1.1943, Aktennotiz betr. weitere erhebliche Verschärfung der Arbeitseinsatzlage (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.). 186 Erlass des GBA am 15.1.1943, Bereitstellung von Helferinnen für die Wehrmacht. In: Gersdorff, Frauen, Dok. 180, S. 377–379; vgl. auch RMfBuM an die RüIns am 3.5.1943, Grundsätze bei der Sicherstellung weiblichen Kräftebedarfs in der gewerblichen Kriegswirtschaft. In: Gersdorff, Frauen, Dok. 186, S. 392–394, hier 393. 187 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, vom 13.1.1943, Aktennotiz betr. weitere erhebliche Verschärfung der Arbeitseinsatzlage (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitsämter Berichte 3, unpag.). 188 Vgl. Erlass des Reichsministers der Luftfahrt und Oberbefehlshabers der Luftwaffe, Chef der Luftabwehr vom 16.10.1943, Personalgestellung für das Flakwaffenhelferinnenkorps. In: Gersdorff, Frauen, Dok. 203, S. 417 f.

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würden.189 Vier vom ­ Arbeitsamt Annaberg als Flakhelferinnen geworbene Mädchen wurden auf eine regelrechte Odyssee geschickt: „Beim Eintreffen am Bestimmungsort wurde festgestellt, dass sie dort nicht gebraucht und an einen anderen Ort abgeschoben wurden. Auch hier war weder Bedarf noch Unterkunft vorhanden. Nach einigen Tagen schickte man sie nach Hause, mit der Anweisung, mit Kochgeräten wieder zu kommen.“190 In Lugau machte das Arbeitsamt die Erfahrung, dass die künftigen Wehrmachtshelferinnen nur sehr zögernd einberufen wurden, und schloss daraus ebenfalls, dass der Bedarf nicht so groß sein könne, wie die geforderten Abgabequoten suggerierten.191 In einigen Arbeitsamtsbezirken außerhalb von Chemnitz wie etwa in Lugau oder Olbernhau, wo es weniger Großunternehmen mit Verwaltungsabteilungen und auch weniger Handelsbetriebe gab, stießen die Kommissionen im Frühsommer 1943 allmählich an Rekrutierungsgrenzen, weil sie nicht genug Frauen fanden, die die geforderten Vorkenntnisse und die körperliche Eignung mitbrachten: Angestellte ließen sich überhaupt nicht mehr rekrutieren, so das Arbeitsamt Lugau im Juni 1943, und Arbeiterinnen, die sich für eine Bürotätigkeit eigneten, müsse man im Bezirk mit der Laterne suchen.192 Das Arbeitsamt Annaberg machte freilich keinen Hehl daraus, dass ihm die heimische Fertigung mehr am Herzen lag als der Bedarf an Wehrmachtshelferinnen. Seine Berichterstatter klagten im Sommer 1943 bitter darüber, dass weitere Abzüge zugunsten der Wehrmacht nicht mehr möglich seien, weil viele Betriebe nur noch über eine einzige Bürokraft verfügten und es kaum noch junge geeignete Mädchen in den Unternehmen gäbe.193 Bei der kurz darauf folgenden „Auskämmung des zivilen Sektors (AZS)“194 machte das Arbeitsamt dagegen noch eine ganze Reihe weiblicher Bürokräfte ausfindig, um sie „trotz allen Sträubens“195 als Arbeiterinnen in der örtlichen Rüstungsproduktion einzusetzen. „Die verlangten Stabs-, Sanitäts- und Marinehelferinnen konnten nicht geworben werden“, erklärte der Berichterstatter, „weil alle Kräfte rücksichtslos der Fertigung zugeführt worden sind.“196

189 AA Chemnitz, Berichte über die Arbeitseinsatzlage der Monate Februar bis Juni 1943, passim (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitsämter Berichte 3, unpag.). 190 AA Annaberg, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitsämter Berichte 1, unpag.). 191 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); sowie April 1943 (ebd.). 192 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1943 (ebd.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 193 Vgl. AA Annaberg, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juli 1943 (sowie August 1943 SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 194 Vgl. Kap. V. 8. 2. 195 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 196 Ebd.

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Vielen jungen Frauen schien der Dienst bei der Wehrmacht allerdings durchaus attraktiv, auch wenn die Realität später häufig anders aussah, insbesondere gegen Kriegsende, als die Helferinnen im Altreich als letzte Reserve an der Heimatfront eingesetzt wurden.197 Vor allem Rüstungsarbeiterinnen und Hauswirtschaftsangestellte suchten sich dadurch dem eintönigen Alltag zu entziehen, brachten aber in den wenigsten Fällen die geforderten Schreibmaschinen- und Stenografiekenntnisse mit. Neben den Unternehmen, die nicht auf ihre Arbeitskräfte verzichten wollten,198 waren es vor allem die Eltern, die Einberufungen verhinderten. Sie, so das Arbeitsamt Annaberg im Herbst 1942, „begründen ihre Widerstände damit, dass ihre Töchter, die dann nicht mehr unter elterlicher Obhut stehen, sittlich gefährdet seien“.199 Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Rekrutierung von Wehrmachtshelferinnen zahlenmäßig mit der Rekrutierung von Soldaten zwar nicht vergleichbar ist, dass sie aber dennoch die regionale Wirtschaft belastete, weil es sich bei den eingezogenen Frauen vielfach um junge leistungsfähige Fachkräfte handelte, die für die Firmen nicht ohne Weiteres ersetzbar waren. Berichte darüber, dass diese Arbeitskräfte bei der Wehrmacht nicht adäquat eingesetzt werden konnten, trafen daher auf offene Ohren bei den regionalen Arbeitskräftelenkungsinstanzen. Deren Willigkeit, die vorgegebenen Kontingente zu erfüllen, verwandelte sich deshalb im Laufe des Jahres 1943 mehr und mehr in Widerstreben. 3.3

Das „Kalender“-Aufgebot Ende 1943

Noch im Frühjahr und Sommer 1943 arbeiteten in Sachsen Rüstungskommando Chemnitz, Rüstungsinspektion IVa und die Wehrersatzdienststellen eng zusammen, um Fach- und Schlüsselkräfte der noch nicht gemusterten Geburtsjahrgänge 1893 und älter in einem besonderen Verfahren sicherzustellen, obwohl Uk-Stellungen noch nicht gemusterter Geburtsjahrgänge eigentlich nicht

197 Vgl. auch die Erfahrungsberichte der von Killius interviewten, freilich nicht aus der Untersuchungsregion stammenden Frauen, die die Attraktivität der Uniformen und der Möglichkeit, im Ausland zu arbeiten, betonen, wenn sie früh angeworben wurden. Die Frauen, die 1943/44 einberufen wurden, reagierten eigenen Aussagen zufolge darauf meist eher unwillig oder verärgert; Killius, Frauen, S. 21, 40, 86, 155, 167; siehe auch Maubach, Stellung, S. 100–111, die die Begeisterung früh angeworbener Frauen auch als Blitzkriegsbegeisterung klassifiziert, also deren politische Dimension betont. 198 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 19.2.1943, Aktennotiz betr. Bereitstellung von Helferinnen für die Wehrmacht (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 199 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); vgl. auch AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1942 im Februar 1943, im Juli 1943 sowie im November 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1942 sowie im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.).

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v­ orgesehen waren. Damit sollte verhindert werden, dass ungemusterte Fachkräfte im Falle einer Musterung den Unternehmen sehr schnell entzogen werden und nur sehr mühsam oder gar nicht mehr in die Betriebe zurückgeholt werden konnten.200 Parallel zur dritten Sondereinziehungsaktion zeigten sich im Winter 1943/44 jedoch erste Desintegrationserscheinungen bei der Zusammenarbeit der regionalen Institutionen. Im November 1943 ging an die Unternehmen eine Anweisung, dass sie eine bestimmte Anzahl ihrer heeresgemusterter Mitarbeiter an das Rüstungskommando melden sollten. Sie sollten ab Anfang Dezember 1943 zur Einberufung in die Wehrmacht bereitstehen. Jeglicher Schutzmechanismus war aufgehoben, die Aktion betraf auch die „Kernkräfte“ sowie die geschützten Fertigungen.201 Zwar versicherten die Verantwortlichen den Unternehmen, dass die für die „Kalenderaktion“ gestellten Kräfte nur im äußersten Notfall einberufen werden sollten. Jedoch besaßen die Unternehmen inzwischen mit derlei Versicherungen Erfahrungen: So waren beispielsweise ihre ursprünglich nur für eine kurzfristige Ausbildungsaktion im Herbst 1942 gestellten „Schlüsselkräfte“ allesamt im Rahmen der Sondereinziehungen beim Heer geblieben. Dementsprechend beunruhigt zeigte sich die Unternehmensleitungen: Die Betriebe wiesen d ­ arauf hin, dass es sich bei den über 2 500 bis Ende November 1943 von ihnen namentlich benannten Arbeitern und Angestellten in fast allen Fällen um hochqualifizierte Fach- und Führungskräfte handele, bei deren tatsächlicher Einberufung schwere Fertigungseinbrüche drohten. Die Luftwaffenfertiger rechneten in diesem Fall mit Produktionsausfällen zwischen 3 und 15 Prozent. Sie machten außerdem darauf aufmerksam, dass der Werkzeugbau „sehr empfindlich getroffen“ und der Einsatz An- und Ungelernter durch den Abzug der Führungskräfte leiden werde.202 Die Situation war umso prekärer, da der Vorgesetzte der Wehrersatzdienststellen im Wehrkreis, das Stellvertretende Generalkommando, auf eigene Faust und ohne Anweisung von oben festlegte, dass ein Viertel des „Kalender“-Aufgebots aus bereits ausgebildeten, gedienten Wehrpflichtigen bestehen sollte und damit unter 35 Jahre alt sein müsste. Die nachgeordneten Wehrersatzdienststellen bestimmten daher „von sich aus nach eigener Wahl“ über 400 feldver-

200 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 13, 22); RüKdo Chemnitz, Besprechung mit den Arbeitsämtern in Zwickau und Chemnitz am 11. und 14.5.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 75–77, hier 76 f.); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 26); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1943 (BAMA Freiburg, RW 20–4/16, Bl. 30 f.). 201 Vgl. RüIn IVa an die Betriebsführer der gewerblichen Kriegswirtschaft am 12.11.1943 betr. Kennwort: „Kalender 43/44“ (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 85). 202 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 20, 31); RüKdo Chemnitz an die RüIn IVa am 2.2.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 87f).

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wendungsfähige Mitarbeiter der kriegswichtigen gewerblichen Wirtschaft unter 35 Jahren für die Bereitstellung in der „Kalender“-Aktion. Sie handelten also am eigentlich für den Schutz der Rüstungswirtschaft zuständigen Rüstungskommando vorbei, das entsprechend entsetzt reagierte. Spangenberg sandte sofort seine Verbindungsoffiziere zu den Wehrersatzdienststellen. Sie wurden aber vor die vollendete Tatsache gestellt, dass die Wehrersatzdienststellen bereits „wertvollste Arbeitskräfte“ für die „Kalender“-Aktion ausgewählt hatten.203 Auch die Wirtschaftskammer Chemnitz bemängelte, dass die Wehrersatzdienststellen des Kammerbezirks sich nicht nach den Meldungen der Unternehmen gerichtet hätten, „sondern zunächst mehr und zum anderen auch nicht gemeldete Arbeitskräfte erfasst“ hätten.204 Die Rüstungsinspektion IVa protestierte stellvertretend für die Rüstungskommission bei ihrer vorgesetzten Stelle in Berlin, dem Rüstungsamt des Speerministeriums, gegen die Vorgaben des stellvertretenden Generalkommandos. Doch erst Ende Januar, also mehr als einen Monat nach dem offiziellen Abschluss der Aktion, kam auf höchster Ebene ein Abkommen zwischen dem Rüstungsamt und dem Wehrersatzamt des OKW zustande. Das OKW verzichtete darauf, den Anteil der unter 35-jährigen ausgebildeten Reservisten im „Kalender“-Aufgebot verbindlich festzulegen und erklärte, dass die Wehrersatzdienststellen nicht befugt seien, von sich aus gediente Wehrpflichtige aus den Rüstungsbetrieben dafür zu bestimmen. Obwohl damit der Weg zu einem Austausch der wichtigsten Arbeitskräfte gegen weniger wichtige frei wurde, weigerten sich die Wehrersatzdienststellen im Rüstungsbereich Chemnitz, diesen zu vollziehen, mit der Begründung, dass sie von der Mittelinstanz, dem stellvertretenden Generalkommando, noch keinen entsprechenden Befehl bekommen hätten. Es dauerte weitere Wochen, bis es der Rüstungsinspektion IVa gelungen war, einen solchen Befehl beim Stellvertretenden Generalkommando zu erreichen. In seiner Folge wurden schließlich bis Ende Februar 1944 etwa 500 für das „Kalender“-Aufgebot benannte Arbeitskräfte durch andere ersetzt.205 In einer Situation, in der die Verantwortlichen sich nicht mehr in der Lage sahen, die beiden wichtigsten Personalbedarfsträger, nämlich die Wehrmacht und die Rüstungswirtschaft, gleichzeitig wenigstens teilweise zu versorgen, brachen auch auf der regionalen Verantwortungsebene offene Konflikte um die letzten Ressourcen aus. Anders als noch bei den Meinungsverschiedenheiten um die Federführung in den Wehrkreishilfskommissionen ein halbes Jahr zuvor, ­waren

203 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 45 f.). 204 Wika Chemnitz am 25.1.1944, Bericht zur Wirtschaftslage (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 10, unpag.). 205 RüIn IVa, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 28); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 19, 34).

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die regionalen ­Verantwortungsträger nicht mehr in der Lage, sich untereinander zu einigen, und trugen den Konflikt bis auf die Reichsebene. Doch war dies erst der Beginn der S ­ törungen, die im Spätsommer 1944 zum weiter unten zu schildernden Zusammenbruch der bisher eingeübten Routinen und Verfahrensweisen führen sollten.206

4.

Zwangsarbeit: Die Entwicklung des Ausländereinsatzes207

Die Zwangsarbeiterbeschäftigung trat mit der Ankunft der sowjetischen Zivilarbeiter ab Mai 1942 in der Region in eine neue Phase.208 Inzwischen hatte das Regime mit der Ernennung Fritz Sauckels zum GBA eine neue Institution geschaffen, die im Jahr 1942 eine beispiellose Ausweitung des Ausländereinsatzes im Reich umsetzen sollte.209 Nachdem der Versuch gescheitert war, die Sowjetunion in einem Blitzkriegsfeldzug zu unterwerfen, musste sich die Wehrmacht auf einen längerfristigen Kampf einstellen, für den ihr die Ressourcen fehlten. Die ausländischen Arbeitskräfte sollten in diesem Zusammenhang sowohl Arbeiter für die Front freistellen als auch die Rüstungsproduktion steigern helfen. Seit dem Frühjahr 1942 gingen die deutschen Besatzer in den sowjetischen Gebieten systematisch und in brutaler Weise auf Menschenjagd. Sie brachten von dort mit einem „Kombinationssystem aus Versprechungen, sozialem Druck und brutalem Terror“ während des Jahres 1942 bis zu eineinhalb Millionen zivile Arbeitskräfte ins Reich.210 In Deutschland angekommen, unterlagen diese Arbeiter den im Februar 1942 neu geschaffenen „Ostarbeitererlassen“. Mit ihnen knüpften die Nationalsozialisten an die Diskriminierungspraktiken gegenüber den Polen an, verschärften sie aber gegenüber den sowjetischen Arbeiter weiter: Minimale Lebensmittelrationen, eine regelrechte Gefangenhaltung in Lagern und drakonischste Strafen für kleinste Vergehen kennzeichneten die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sogenannten Ostarbeiter.211 So hatte die Chemnitzer Gestapo Anfang Juli 1942 bereits 150 der zur Arbeit eingesetzten sowjetischen Arbeiter, zumeist wegen Fluchtversuchen, verhaftet. 50 Menschen lieferte sie sogar in Konzentrationslager ein, obwohl ihre Beamten in einer internen Besprechung zugestanden,

206 Vgl. Kap. VI.3. 207 Kap. IV.4 und V.4 stellen eine überarbeitete und erweiterte Fassung von Schumann, Arbeiter, dar. 208 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); Protokoll der Besprechung der Arbeitsgemeinschaft Chemnitz der Arbeitsämter am 9.6.1942 (StadtA Chemnitz, AA Chemnitz 5, Bl. 106– 109, hier 108). 209 Vgl. Kap. V.2.1. 210 Zitat und Zahlen nach Herbert, Zwangsarbeiter, S. 160; vgl. auch Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 73–75. 211 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 65 f.

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„dass Fluchtversuche im Regelfalle nur wegen schlechter Ernährung oder Unterbringungsverhältnisse unternommen werden“.212 Ende Juli 1942 waren in den Arbeitsamtsgebieten des Regierungsbezirks Chemnitz rund 5 500 sowjetische Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigt. Das entsprach 16 Prozent der in ganz Sachsen eingesetzten „Ostarbeiter“213 und bedeutete, dass die Region deutlich stärker als früher von den neuen Arbeitskräftezuweisungen profitierte. Die Region vollzog damit nicht nur die reichsweit einsetzende massive Ausweitung des Ausländereinsatzes. Dieser Effekt wurde vielmehr dadurch noch verstärkt, dass Gesamt- und vor allem Südwestsachsen ab 1942 vor dem Hintergrund seiner wachsenden Bedeutung für die Waffen-, Munitions- und Kriegsgeräteproduktion214 von den Arbeitseinsatzbehörden bei der Verteilung neuer Arbeitskräfte stärker berücksichtigt wurde. Neue Arbeitskräfte aber waren für das Regime vorwiegend in Gestalt zwangsweise rekrutierter ausländischer Zivilarbeiter zu haben. Monatlich trafen nun mehrere Hundert, in manchen Monaten sogar Tausende ausländische Arbeiter in der Region ein.215 Dabei scheint die Region auch von innerdeutschen Versetzungen ausländischer Arbeitskräfte profitiert zu haben: So kamen im April 1943 beispielsweise im Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz über 400 belgische Arbeitskräfte an, die bisher in Aachen beschäftigt gewesen waren.216 Vom Sommer 1942 bis zur Kriegswende im Frühjahr 1943 nach der Schlacht von Stalingrad verdoppelte sich die Anzahl der in der Region Chemnitz arbeitenden zivilen ausländischen Arbeitskräfte nahezu von knapp 13 000217 auf über 25 000.218

212 Aktennotiz vom 4.7.1942 betr. Beschaffung von provisorischen Unterkünften für ausländische Arbeiter, Verfasser unleserlich (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.). 213 Eigene Berechnung nach Tabelle „Die Ausländer nach Nationalitäten und wichtigeren Berufsgruppen im LAA-Bezirk Sachsen am 10. Juli 1942“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 8, S. 6. Für den Regierungsbezirk wurden die zusammengerechneten Zahlen der AA-Bezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau verwendet, die zusammen den größten Teil des Regierungsbezirks abdecken. Als „Ostarbeiter“ galten 1942 statistisch gesehen Arbeiter aus dem Gebiet der Sowjetunion, die nicht aus Estland, Lettland oder Litauen, nicht aus dem Generalgouvernement Polen und nicht aus dem Bezirk Bialystok stammten (vgl. ebd.). Von der Nationalität her handelte es sich meist um Russen, Weißrussen oder Ukrainer; vgl. zur Begriffsklärung auch V. 5. 214 Vgl. Kap. V. 1. 215 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im November und Dezember 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 216 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 217 Eigene Berechnung nach Die Ausländer nach Nationalitäten und wichtigeren Berufsgruppen im LAA-Bezirk Sachsen am 10. Juli 1942. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 8, S. 6. Die Kategorien „Ausländer insgesamt“ und „Außerdem Ostarbeiter“ wurden zusammengerechnet. Für die Region Chemnitz wurden die zusammengerechneten Zahlen der AA-Bezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau verwendet, die zusammen den größten Teil des Regierungsbezirks abdecken. 218 Eigene Berechnungen nach „Die Zahl der beschäftigten Männer am 31.3.1943“ bzw. „Die Zahl der beschäftigten Frauen am 31.3.1943“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen,

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Von den vermehrten Zuweisungen profitierte insbesondere das industrielle Zentrum Chemnitz/Siegmar-Schönau. Hatte der Arbeitsamtsbezirk Chemnitz noch Anfang 1941 lediglich ein Drittel aller zivilen ausländischen Arbeitskräfte der Region beschäftigt, so waren es im Sommer 1942 bereits die Hälfte und im Jahr 1943 zwei Drittel.219 Eine Aufstellung vom Herbst 1942 verdeutlicht die weite Verbreitung des Einsatzes ausländischer Arbeiter in der Industrie des Bezirks. Metallfirmen wie die Auto Union AG, die Maschinenfabrik Germania, die Schubert & Salzer AG oder die Wanderer-Werke AG beschäftigten zu dieser Zeit schon Hunderte dieser Arbeiter, ebenso wie die Reichsbahn oder Böhme Fettchemie, eines der wenigen großen Chemieunternehmen der Region. Daneben hatten es eine Kartoffelgroßhandlung, eine Rohkonservenfabrik, eine Brauerei, eine Ziegelei, eine Möbelstoffweberei sowie eine Trikotagenfabrik verstanden, sich einen, wenn auch vergleichsweise kleinen Teil der ausländischen Arbeitskräfte zu sichern.220 Auch nach der Kriegswende setzte sich der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte nach Südwestsachsen fort: Zwar stellte ein Mitarbeiter des Landesarbeitsamtes im Mai 1943 für das Land Sachsen fest, dass „die Quellen aus dem Osten und dem Westen nur recht spärlich fließen. Die erwarteten Kontingente sind nur zu einem kleinen Teil gestellt worden.“221 Auch klagte das Arbeitsamt Chemnitz im Sommer 1943: „Die Decke der Ausländer

(1943) 1–3, S. 10 f. Zusammengerechnet wurden die Kategorien „Ausländer (ohne Ostarbeiter)“ und „Ostarbeiter“ sowie jeweils die Zahlen für die Männer und die Frauen. Für die Region Chemnitz wurden die zusammengerechneten Zahlen der AA-Bezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau verwendet, die zusammen den größten Teil des Regierungsbezirks abdecken. 219 Zahlen und eigene Berechnungen nach„Ausländische Arbeiter und Angestellte in den Arbeitsamtsbezirken des Landesarbeitsamtes Sachsen am 31. Januar 1941“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1940/41) 5, S. 8; „Die Ausländer nach Nationalitäten und wichtigeren Berufsgruppen im LAA-Bezirk Sachsen am 10. Juli 1942“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 8, S. 6. Die Zahlen für die ausländischen Arbeitskräfte insgesamt ergeben sich aus der Zusammenrechnung der beiden Rubriken „Ausländer insgesamt“ und „Außerdem Ostarbeiter“; „Der Anteil der Ausländer an der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten in den Arbeitsamtsbezirken am 15.5.1943“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 5, S. 8; „Der Anteil der Ausländer an der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten in den Arbeitsamtsbezirken am 12.8.1943“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 8, S. 8. Verwendung der Rubrik „Beschäftigte Arbeiter und Angestellte und Ostarbeiter“. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. 220 Arbeitsamt Chemnitz am 16.10.1942, Lagermäßig untergebrachte in- und ausländische Arbeitskräfte im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928– 1945, 2300/31, Bl. 70–80). 221 Protokoll der Besprechung der Leiter der sächsischen Arbeitsämter am 24.5.1943 (StadtA Chemnitz, AA Chemnitz 5, Bl. 74–76, hier 75).

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beginnt leider dünner zu werden.“222 Doch dieser Eindruck trog. Obwohl sich die Deutschen bereits auf dem Rückzug befanden und das von ihnen beherrschte Territorium langsam zusammenschrumpfte, konnte die Region Chemnitz die Zahl ihrer ausländischen Arbeitnehmer weiter kontinuierlich steigern, wenn auch langsamer als vor der Kriegswende: Im November 1943 befanden sich rund 32 000 zivile ausländische Arbeitskräfte in der Region. Damit war nahezu jeder zehnte Arbeitnehmer ein Ausländer, die zusätzlich beschäftigten Kriegsgefangenen nicht mitgerechnet. Die sachsenweite Quote, nach der nahezu jeder achte Arbeitnehmer aus dem Ausland kam, erreichte der Raum Chemnitz freilich nicht.223 Die letzte verfügbare Zahl vom September 1944 verzeichnet für die Region fast 38 000 zivile ausländische Arbeitskräfte,224 damit hatte sie allein seit der Niederlage von Stalingrad einen Zuwachs von mindestens 13 000 ausländischen Kräften verbuchen können. Eine zentrale Rolle spielten dabei die zivilen sowjetischen Zwangsarbeiter, die nahezu die Hälfte aller zivilen ausländischen Arbeitskräfte der Region stellten. Zwar mag ein kleiner Teil des nominellen Zuwachses durch den Statuswechsel einzelner Ausländergruppen bedingt gewesen sein, wie etwa bei der noch zu beschreibenden Umwandlung von französischen Kriegsgefangenen in Zivilarbeiter durch die „Transformation“. Insgesamt entsprach die Chemnitzer Entwicklung jedoch dem Reichstrend, wonach ein Drittel der im Herbst 1944 beschäftigten ausländischen Zivilarbeitskräfte erst nach der Niederlage von Stalingrad seine Arbeit aufgenommen hatte.225 Die ausländischen Kriegsgefangenen und die sogenannten Zivilgefangenen spielten für die Kriegswirtschaft in der Region ebenfalls eine wichtige Rolle, auch wenn ihre zahlenmäßige Bedeutung nicht an jene der zivilen ausländischen Arbeiter heranreichte. Ihre Zahl stieg von knapp 9 000 im Juli 1942 auf

222 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1943, S. 3 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 223 Eigene Berechnungen nach „Der Anteil der Ausländer an der Gesamtzahl der Arbeiter und Angestellten in den Arbeitsamtsbezirken am 15.11.1943“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 12, S. 7. Verwendung der Rubrik „Beschäftigte Arbeiter und Angestellte und Ostarbeiter“ für die zivilen ausländischen Arbeitskräfte sowie der Rubrik „Beschäftigte Arbeiter und Angestellte (einschließlich Ostarbeiter)“ für die Zahl der Arbeitskräfte insgesamt. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. 224 Eigene Berechnungen nach „Die ausländischen und die protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten im Großdeutschen Reich nach Arbeitsamtsbezirken am 30.9.1944“. In: Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich, (1944) 11/12, S. 26. Rubrik: „Ausländische Arbeiter und Angestellte einschl. Ostarbeiter“. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. 225 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 258, insbes. Tab. 40.

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über 10 000 bis zum Jahresende226 und bewegte sich fortan mit Schwankungen zwischen etwa 9 000 und 12 000.227 Ab Frühjahr 1943 wurde aufgrund eines Vertrages mit Frankreich im Rahmen der „Transformation“ für jeden neu gestellten französischen Zivilarbeiter ein Kriegsgefangener im Reich in ein Zivilarbeitsverhältnis überführt.228 Anders als im Raum München, wo diese Statusumwandlung unter den Betroffenen auf viel Zustimmung stieß,229 bestand in der Region Chemnitz „keine große Bereitwilligkeit für eine Überführung in das zivile Arbeitsverhältnis“.230 Die Franzosen fürchteten eine schlechtere Krankenversorgung sowie finanzielle Einbußen, weil die Unterstützung ihrer Familien dadurch wegfiel. Außerdem erhofften sie sich als Kriegsgefangene eine schnellere Entlassung in ihre Heimat.231 Dennoch dürfte der Rückgang der Zahl der in der Region beschäftigten französischen Kriegsgefangenen von knapp 5 000 im April 1943 auf etwa 3 500 im Februar 1944232 seine Ursache vor allem in der „Transformation“ haben. Von den mindestens 1 500 aus der Statistik verschwundenen französischen Kriegsgefangenen dürfte ein großer Teil weiter als französischer Zivilarbeiter registriert und damit nominell als Zuwachs bei den ausländischen Zivilarbeitern gebucht worden sein. 226 Vgl. „Der Arbeitseinsatz der Kriegs- und Zivilgefangenen im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen. Die in Arbeitsplätze eingewiesenen und beschäftigten Gefangenen“ im Juli 1942. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 8, S. 8; „Der Arbeitseinsatz der Kriegsund Zivilgefangenen im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen. Die in Arbeitsplätze eingewiesenen und beschäftigten Gefangenen“ im November 1942. In: ebd., Nr. 12, S. 10. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. 227 Vgl. „Die Zahl der beschäftigten Männer bzw. Frauen am 31.3.1943“ (Rubrik “Kriegsgefangene“). In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 1–3 [Dreifachheft], S. 10, 11; „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.7.1943“. In: ebd. 7, S. 8; „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.11.1943“. In: ebd. 12, S. 6. „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.2.1944“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1944) 3, S. 8. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau. 228 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 64. 229 Vgl. Andreas Heusler, Ausländereinsatz. Zwangsarbeit für die Münchner Kriegswirtschaft 1939–1945, München 1996, S. 273, insbes. Anm. 209. 230 RüKdo Chemnitz, Protokoll der Aussprache mit den Arbeitsämtern am 11.5.1943 in Zwickau und am 15.5.1943 in Chemnitz (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 75–77, hier 75). 231 Ebd., Bl. 75; AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/21–18, Bl. 4-59, hier 23). 232 Vgl. „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.4.1943“ (Rubrik „Franzosen“). In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 4, S. 8; „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.2.1944“ (Rubrik „Franzosen“). In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1944) 3, S. 8. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau.

Zwangsarbeit

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Der Sturz des italienischen Diktators Mussolini am 25. Juli 1943 und der Waffenstillstand Italiens mit den Alliierten am 8. September desselben Jahres bewirkten die einschneidendste Veränderung in der Nationenzusammensetzung der Kriegsgefangenen. Die sich im deutschen Einflussbereich befindenden italienischen Truppen, rund 1 000 000 Mann, wurden entwaffnet. Davon gerieten in 600 000 dauerhaft in deutsche Gefangenschaft.233 Die Deutschen stuften sie nicht als Kriegsgefangene ein, sondern bezeichnete sie als „Militär­ internierte“.234 Ähnlich wie die sowjetischen Gefangenen wurden die italienischen Militärinternierten (IMI) nur äußerst ungenügend mit Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs versorgt.235 Zusätzliche Lebensmittelhilfen aus Italien waren zu gering, um nachhaltige Verbesserungen zu bewirken.236 Auch die in Chemnitz eingesetzten Gefangenen litten vielfach unter Unterernährung. Im Kriegsgefangenenlager IV F Hartmannsdorf bei Chemnitz ordneten die Verantwortlichen wegen des schlechten Gesundheitszustandes der IMI im Frühjahr 1944 Halbtagsarbeit oder sogar völlige Schonung an. Das Arbeitsamt Chemnitz sah sich gleichzeitig gezwungen, die Gefangenen aus den Chemnitzer Gießereien, in denen ein Teil von ihnen eingesetzt war, wieder abzuziehen, weil sie körperlich zu der dort geforderten schweren Arbeit nicht in der Lage waren.237 Die nationalsozialistische Arbeitskräftestatistik erfasste die IMI bei der Nationenaufteilung der Kriegsgefangenen nur als „sonstige Gefangene“. Sie haben wahrscheinlich Ende 1943 den Löwenanteil dieser Kategorie gestellt. Noch im August 1943 hatte die Region Chemnitz keinen einzigen als „sonstigen“ eingestuften Gefangenen beschäftigt. Im November 1943 waren es bereits über 1 800 und im Februar 1944 über 2 000.238 233 Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 828 f. 234 Vgl. zu dieser Einstufung Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 825–838, inbes. S. 829 f. Allgemein zu den italienischen Militärinternierten siehe Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten im deutschen Machtbereich 1943 bis 1945. Verraten, Verachtet, Vergessen, München 1990. Die IMI sind nicht zu verwechseln mit den zivilen italienischen Arbeitern in Deutschland. Zu diesen siehe Ralf Lang, Italienische „Fremdarbeiter“ im nationalsozialistischen Deutschland. 1937–1945, Frankfurt a. M. 1996; Cesare Bermani, Odyssee in Deutschland. Die alltäglichen Erfahrungen der italienischen „Fremdarbeiter“ im „Dritten Reich“. In: ders./Sergio Bologna/Brunello Mantelli, Proletarier der „Achse“. Sozialgeschichte der italienischen Fremdarbeit in NS-Deutschland 1937 bis 1943, Berlin 1997, S. 37–252. 235 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 83. 236 Vgl. Overmans, Kriegsgefangenenpolitik, S. 833 f. 237 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BAMA Freiburg, RW 21/11–19, Bl. 18 f.). 238 Zahlen und eigene Berechnungen nach „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.8.1943“ (Rubrik „sonstige Gefangene). In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 8, S. 9; „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.11.1943“ (Rubrik „sonstige Gefangene). In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 12, S. 6; „Beschäftigte Kriegs- und Zivilgefangene im Landesarbeitsamtsbezirk Sachsen am 15.2.1944“ (Rubrik „sonstige Gefangene). In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1944) 3, S. 8. Die Zahlen für die Region errechnen sich aus der Addition der Zahlen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau.

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„Industrieller Luftschutzkeller“

Welche Bedeutung Kriegsgefangene und ausländische Zivilarbeiter für die Waffen-, Munitions- und Gerätefertigung Südwestsachsens in der zweiten Kriegshälfte besaßen, lässt sich annäherungsweise aus der Anzahl der ausländischen Arbeitskräfte in den vom Rüstungskommando Chemnitz betreuten W-Betrieben schließen, die sich in den Regierungsbezirken Chemnitz und Zwickau befanden. Gegen Ende des Jahres 1941 hatte ihr Anteil an der Belegschaft dieser Betriebe noch bei ungefähr zwei Prozent gelegen. Im Verlauf des Jahres 1942 wandelte sich die Tätigkeit ausländischer Zivilarbeiter und Kriegsgefangener in südwestsächsischen Rüstungsbetrieben von der Ausnahme zur Normalität. Ende 1942 war bereits jeder sechste, Ende 1943 gar jeder fünfte Mitarbeiter der W-Betriebe ein ausländischer Zivilarbeiter oder Kriegsgefangener.239 Die Entwicklung des Einsatzes der ausländischen Zivilarbeiter sowie der Kriegsgefangenen in der Region deutet darauf hin, dass die Arbeitseinsatzverwaltung trotz aller Klagen der betroffenen Firmen und Behörden über den Arbeitskräftemangel zumindest bis zum Ende der statistisch verfügbaren Aufzeichnungen im Sommer/Herbst 1944 in der Lage war, die Verteilung ausländischer Arbeitskräfte entsprechend der vom Regime gesetzten kriegswirtschaftlichen Prioritäten in die Praxis umzusetzen. Solange die Region Chemnitz für die beiden bei der Arbeitskräftezuweisung privilegierten Wirtschaftsbereiche Landwirtschaft und Waffen-, Geräte- und Munitionsfertigung von geringer Bedeutung war, erhielt sie auch nur vergleichsweise wenige ausländische Arbeitskräfte. Je mehr bei der Zuweisung ausländischer Arbeitskräfte die Beschäftigung in der Rüstungsindustrie in den Vordergrund rückte und je intensiver die Chemnitzer Region in diese Fertigungen eingebunden wurde, desto mehr ausländische Arbeitskräfte wurden ihr zugewiesen. Dem entspricht auch die Tatsache, dass ein Großteil der in der zweiten Kriegshälfte eintreffenden ausländischen Arbeiter in dem industriellen Schwerpunkt der Region, den Arbeitsamtsbezirk Chemnitz, eingesetzt wurde. Die Wende in der Ausländerbeschäftigung der Region lässt sich dabei in etwa auf den Sommer 1942 datieren.

5.

Die Rassengesellschaft im Betrieb: Lebens- und Arbeitsverhältnisse ausländischer Zwangsarbeiter am Beispiel der „Ostarbeiter“

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen ausländischer Zwangsarbeiter in der Region Chemnitz waren im Einzelnen von unterschiedlichsten Faktoren abhängig: Eine zentrale Rolle spielte die Zuordnung der jeweiligen Person zu einer bestimmten „Rasse“ bzw. Nation durch die Nationalsozialisten. Daneben bestimmte ihr Status als zivile Arbeitskraft oder als Kriegsgefangener ihr Lebensund Arbeitsumfeld ebenso wie ihr Geschlecht. 239 Eigene Berechnungen nach: RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21/11–14, Bl. 10); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 49).

Rassengesellschaft im Betrieb

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Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die sogenannten Ostarbeiter, eine für die Region besonders wichtige Arbeitergruppe, die in der zweiten Hälfte des Krieges fast die Hälfte aller ausländischen Arbeitskräfte der Region stellte und in der rassistischen NS-Hierarchie von allen zivilen ausländischen Arbeitskräften auf die niedrigsten Stufe gestellt worden war. Als „Ostarbeiter“ galten Arbeiter, die aus den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion stammten, mit Ausnahme derjenigen, die aus Estland, Lettland oder Litauen, aus dem Bezirk Bialystok oder aus den dem Generalgouvernement Polen zugeschlagenen Gebieten kamen.240 In den NS-Statistiken werden die „Ostarbeiter“ ab 1942 als „Arbeitskräfte aus altsowjetrussischem Gebiet“241 bezeichnet. Wo immer sich Aussagen in der vorliegenden Studie auf statistische Daten beziehen, wird die NS-Erfassung als „Ostarbeiter“ zugrunde gelegt. Obwohl viele „Ostarbeiter“ ihrer ethnischen Herkunft nach keine Russen, sondern Weißrussen oder Ukrainer waren,242 begegnet einem in den qualitativen Quellen häufig der Begriff „Russen“ als Synonym für „Ostarbeiter“. Um nicht immer den von den Nationalsozialisten geprägten Terminus „Ostarbeiter“ verwenden zu müssen, werden diese in der vorliegenden Studie auch mit den im strengen Wortsinne weiter gefassten243 Begriffen „sowjetische Zwangsarbeiter“ oder „sowjetische Zivilarbeiter“ bezeichnet. Im Folgenden werden die Arbeits- und Lebensverhältnisse der sowjetischen Zwangsarbeiter in der Region Chemnitz skizziert. Außerdem beleuchtet eine Fallstudie über das Entbindungslager Walkmühle der Textilfirma Gückelsberg geschlechtsspezifische Aspekte des Zwangsarbeiterschicksals und deren geschickte Ausnutzung durch ein deutsches Unternehmen. Die Schilderung stützt sich dabei im Wesentlichen auf sogenannte Herrschaftsquellen, also auf von Trägern der staatlichen oder Parteibürokratie oder von höheren Unternehmensangestellten verfasste Texte, da das Handeln dieser

240 Vgl. Florian Freund/Bertrand Perz, Die Zahlenentwicklung der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945. In: dies./Mark Spoerer, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945. Hg. von der Österreichischen Historikerkommission, Wien 2004, S. 7–274, hier 25 f. 241 Vgl. z. B. Tabelle „Die Ausländer nach Nationalitäten und wichtigeren Berufsgruppen im LAA-Bezirk Sachsen am 10. Juli 1942“. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1942) 8, S. 6. Ukrainer, die aus dem Generalgouvernement Polen angegliederten Ostgalizien stammten, wurden getrennt aufgeführt. Sie sind nicht zu verwechseln mit den ukrainischen Arbeitskräften, die der NS-Staat als „Ostarbeiter“ registrierte. Vgl. Freund/Perz, Zahlenentwicklung, S. 25; Gelinada Grinchenko, Ehemalige Ostarbeiter berichten. Erste Auswertungen eines Oral-History-Projektes aus der Ostukraine. In: Plato/Leh/ Thonfeld, Hitlers Sklave, S. 230–240, hier 230; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 73. 242 Vgl. ebd., S. 79 f. 243 Im strengen Sinne gehören auch die Zwangsarbeiter aus dem Baltikum und aus Ostgalizien zu den sowjetischen Zwangsarbeitern.

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„Industrieller Luftschutzkeller“

Institutionen und seine Folgen im Fokus der Untersuchung stehen.244 Die Behandlung der sowjetischen Zwangsarbeiter wird dabei in Beziehung zur nationalsozialistischen Propaganda gesetzt und gefragt, wie der Diskurs des Regimes über die Sowjetunion, den Bolschewismus und die sowjetische Bevölkerung das Handeln der Behörden und damit die Lebens- und Alltagswirklichkeit der sowjetischen Arbeiter prägte. 5.1

Die sowjetische Bevölkerung in der NS-Ideologie

Im Nationalsozialismus werden die Bezeichnungen „Sowjetunion“ und „Russland“ häufig synonym gebraucht, sodass auch bei der Darstellung der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda keine trennscharfe Begrifflichkeit möglich ist. Das Bild, das die Propaganda von der sowjetischen Bevölkerung zeichnete, ist noch relativ wenig erforscht.245 Daher werden im Folgenden einige Grundzüge anhand zeitgenössischer Zeitungsartikel dargestellt. Die Darstellung der sowjetischen Bevölkerung in den Medien war bestimmt durch Rassismus und Antibolschewismus, oft eng verknüpft mit der nationalsozialistischen Zentralideologie des Antisemitismus.246 Hitler schilderte in „Mein Kampf“ Russland als Land, in dem eine staatliche Organisation überhaupt erst durch die „staatenbildende Wirksamkeit des germanischen Elementes in einer minderwertigen Rasse“247 entstanden sei. Dieser germanische Kern sei inzwischen allerdings fast restlos verschwunden, und an seiner Stelle hätten die Juden das Land in ihre Gewalt gebracht. Sie versuchten, über den „Bolschewismus“ die „Weltherrschaft“ zu erreichen.248

244 Zur Erfahrungsebene sowjetischer und anderer Zwangsarbeiter vgl. beispielhaft das digitale Archiv Zwangsarbeit 1939–1945. Erinnerungen und Geschichte. Ein Projekt der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und dem Deutschen Historischen Museum (http://www.zwangsarbeit-­ archiv.de; 17.2.2014). Es ist aus einem Projekt der Fernuniversität Hagen, geleitet von Alexander von Plato, Almut Leh und Christoph Thonfeld, hervorgegangen und macht rund 600 Zeitzeugeninterviews der Öffentlichkeit zugänglich. 245 Bei Volkmann (Hg.), Russlandbild, beziehen sich die meisten Aufsätze auf den Staat Russland bzw. die Sowjetunion. Vgl. zu den Desideraten den ebenfalls in diesem Band erschienenen Aufsatz von Wette, Russlandbild, S. 55 f.; einige Aspekte des hier behandelten Themas bei Jeffrey Herf, „Der Krieg und die Juden“. Nationalsozialistische Propaganda im Zweiten Weltkrieg. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 159–202, hier 179–189; ebenfalls Teilaspekte, allerdings nur für den frühen Nationalsozialismus, bei Andras Ristau, „Die marxistische Weltpest“. Das antimarxistische Feindbild der Nationalsozialisten. Entstehung, Entwicklung und Struktur bis 1923. In: Christoph Jahr/Uwe Mai/Kathrin Roller (Hg.), Feindbilder in der deutschen Geschichte. Studien zur Vorurteilsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1994, S. 143–172. 246 Vgl. Ristau, „Weltpest“, S. 152–159, 163–170. 247 Adolf Hitler, Mein Kampf, 162.–163. Auflage München 1935, S. 742. 248 Vgl. ebd., 742 f., 750–752; Wette, Russlandbild, S. 60.

Rassengesellschaft im Betrieb

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1941 stilisierten die Nationalsozialisten den Krieg gegen die Sowjetunion zum Weltanschauungskrieg hoch, dessen Ziel die Vernichtung des Besiegten sein würde.249 Bilder von Gräueltaten der sowjetischen Armee und ihrer Geheimdienste wurden in die deutschen Wochenschauen integriert, um die Menschen in Deutschland von der Notwendigkeit des Angriffs auf die Sowjetunion zu überzeugen.250 In den entsprechenden Berichten der NS-Presse251 wurden die Herrschaftsträger der Sowjetunion als „Blutmenschen“252 oder „jüdisch-kommunistische Funktionäre des organisierten Untermenschentums“253 bezeichnet, letzteres ein aus Versatzstücken unterschiedlichster Herkunft zusammengestellter Ausdruck, mit dem das sowjetische Regime in die Nähe des organisierten Verbrechens gerückt werden sollten. Als die gefährlichsten Funktionäre in der sowjetischen Armee wurden die „Kommissare“, politische Offiziere und gleichzeitig Funktionäre der Kommunistischen Partei, ausgemacht, die laut dem „Völkischen Beobachter“ unter den einfachen Soldaten einen solchen Schrecken verbreiteten, dass diese häufig nur aus Angst vor den Kommissaren kämpften.254 Demgegenüber stellte die NS-Presse die russischen Arbeiter, Bauern und Bürger und auch zum Teil die einfachen Soldaten den deutschen Zeitungslesern als Opfer des „Bolschewismus“ vor.255 Von den „unvorstellbar niedrigen Löhnen“ hätten die Arbeiter nicht leben können; sie seien daher „unterernährt, schlecht gekleidet und verelendet“.256 Viele Familien lebten in nur einem Zimmer, häufig müssten sich sogar mehrere von ihnen ein Zimmer teilen. Die Quartiere seien schmutzig, verwahrlost und voller Ratten, sodass viele Arbeiterfamilien von dort geflohen seien und nun in „Erdhöhlen“ hausten, von denen es in Industriebezirken „ungezählte Tausende“ gebe.257 Die Stuben der Bauern seien kahl, es gebe keine Matratzen und keine Bettwäsche, es rieche streng.258 In der

249 Vgl. ebd., S. 57 f. 250 Vgl. Herf, Krieg, hier S. 179–189; Herbst, Deutschland, S. 351 f.; Welch, Reich, S. 100– 104. 251 Vgl. z. B. o. V., Mord und Terror – Schmutz und Elend. Der deutsche Soldat erlebt den bolschewistischen Weltbetrug. Die Bluthölle von Lemberg. In: VB vom 6.7.1941. 252 O. V., Sowjetgefangene sehen Dich an (2 000 km auf den Spuren der Sowjets, II). In: VB vom 5.8.1941. 253 O. V., Bolschewistischer Blutrausch im Zuchthaus von Dubnow. 528 ukrainische Männer und Frauen niedergemetzelt. In: VB vom 6.7.1941. 254 Vgl. z. B. Günter Kaufmann, Die Rolle der Kommissare. Das Sowjetregime und seine Soldaten. In: VB vom 6.7.1941; o. V., Bolschewistische Soldatenbriefe enthüllen die Wahrheit. In: VB vom 11.8.1941; vgl. zur Sicht Hitlers auf die Kommissare auch Streit, Keine Kameraden, S. 35 f.; Otto, Wehrmacht, S. 49. 255 Vgl. o. V., Sowjetparadies. Die wirtschaftliche „Leistung“ des Bolschewismus. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 9.7.1941. Siehe auch Wette, Russlandbild, S. 65 f. 256 O. V., Almosen sind Sowjetlöhne. In: VB vom 10.7.1941. 257 O. V., Bolschewistisches Wohnelend. In: VB vom 7.12.1941. 258 Theodor Seibert, Bauernsklaverei im Sowjetland. Tatsachen und Zahlen, wie sie der deutsche Frontsoldat täglich erlebt. In: VB vom 6.9.1941; Theo Goebel, Quartiere im Sowjetland. In: VB vom 17.11.1941.

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„Chemnitzer Allgemeinen Zeitung“ wurde ein Bild einer gepflegten, der natio­ nalsozialistischen Ideologie konformen, bäuerlichen Salzburger Wohnstube dem Bild einer ärmlichen Behausung aus der Sowjetunion gegenüber gestellt, mit der Bildunterschrift „So sieht die ‚Wohnkultur‘ in den Dörfern des Sowjetreiches aus“.259 An Kleidung besäßen die Menschen der Sowjetunion meist nur Lumpen. „Der starrende Schmutz ihrer abgerissenen Kleider findet in der unvorstellbaren Liederlichkeit ihrer Behausungen seine Entsprechung“, so ein Journalist des „Völkischen Beobachters“.260 „Schmutz“ und „Verwahrlosung“, das sind die Begriffe, mit denen der geringe sowjetische Lebensstandard von den NS-Beobachtern stereotyp in Verbindung gebracht wurde.261 Sven Oliver Müller hat gezeigt, dass diese Terminologie, beeinflusst durch den Rassismus in Publikationen und Weisungen für die Truppen des Russlandfeldzuges, auch die Feldpostbriefe deutscher Soldaten aus der Sowjetunion durchzog.262 So wurde die Propaganda des Regimes gleichsam beglaubigt. Eine Reihe von Beschreibungen ähnelt auffällig der Art und Weise, wie die Europäer die von ihnen kolonisierten Völker beschrieben, die sie im Gegensatz zu sich selbst als roh und unzivilisiert wahrnahmen:263 „Der Besitz einer Uhr“, so ein Besucher eines Lagers für sowjetische Gefangene, „scheint überhaupt der Traum des Sowjetmenschen zu sein, jenem Sowjetsoldaten nach zu urteilen, dem bei seiner Einbringung ins Lager ein Wecker um den Hals hing, und ein anderer läuft noch heute stolz mit einem leeren Uhrgehäuse am Unterarm herum.“264 Die angebliche Unzivilisiertheit der sowjetischen Soldaten wird dadurch verdeutlicht, dass sie den Sinn (mittel-)europäischer Technik und Kultur, hier verkörpert in der Zeitmessung durch die Armbanduhr, nach Ansicht des Betrachters nicht begreifen und deshalb nur zu sinnentleerten Nachahmungen

259 Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 11.7.1941. 260 Heinz Höpfl, Von Wilna zum „Tor von Moskau“ (2 500 km durch Sowjetland, II). In: VB vom 9.11.1941; Theodor Seibert, Bauernsklaverei im Sowjetland. Tatsachen und Zahlen, wie sie der deutsche Frontsoldat täglich erlebt. In: VB vom 6.9.1941. 261 Die Stereotypen in aller Kürze zusammengefasst findet man im Artikel: o. V., „Das Sow­ jetparadies – wie es wirklich ist. Der Reichsorganisationsleiter auf dem Kreistag München der NSDAP“. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 7.7.1941, S. 2, der eine Rede Leys zusammenfasst. 262 Vgl. Sven Oliver Müller, Nationalismus in der deutschen Kriegsgesellschaft 1939 bis 1945. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/2, S. 9–92, hier 74–79. 263 Vgl. Stuart Hall, Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 137–179, hier 172–174, wobei dieser Gegensatz bei den Aufklärern kein prinzipiell unüberwindbarer ist, sondern eher auf einem Stufenmodell menschlicher Zivilisation beruht, während er in der nationalsozialistischen Ideologie stark von der Rassenvorstellung abhängt und daher prinzipiell unrevidierbar ist. 264 Gustav Herbert, Sowjetgefangene sehen Dich an (2 000 km auf den Spuren der Sowjets, II). In: VB vom 5.8.1941.

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in der Lage sind.265 Die Menschen wirken wegen ihres Nichtverstehens der „erwachsenen“ (mittel-)europäischen Gesellschaft kindlich, unmündig und unfähig, ohne Anleitung und Führung zu leben. Immer wieder werden zudem Formulierungen gebraucht, die die individuellen Züge der Menschen in Sowjetrussland zugunsten des Bildes einer riesigen, einförmigen, undifferenzierten Masse zurücktreten lassen: Begriffe wie „Bolschewistische Millionenheere“, „eine amorphe Masse ohne Glauben an das Leben“266 und die „Menschenmassen des Ostens“267 sind durchaus geeignet, bei Leserinnen und Lesern undifferenzierte Bedrohungsgefühle auszulösen. Die sowjetischen Soldaten werden mit zunehmender Dauer des Krieges zudem als höchst gefährlich dargestellt: „Seht sie Euch an“, so ein Berichterstatter des „Völkischen Beobachters“ im Dezember 1941, „Sie gleichen sich alle. Keine Intelligenz, kein individueller Zug – eine amorphe Masse. Stalin könnte sie Mann für Mann in einer riesigen Retorte nach immer dem gleichen Rezept hergestellt haben. Roboter, das ist wohl das richtige Wort.“268 Ein Kommentar der „Chemnitzer Allgemeinen Zeitung“ nennt sie einen „namenlosen Haufen aller Menschheitswerte beraubter Sklaven“.269 Auch die Rückwirkung der „bolschewistischen“ Herrschaft auf die Seelenlage der zivilen Bürger wird in Stereotypen270 beschrieben, hinter denen die Wahrnehmung individueller Menschen verschwindet. Den zaristischen Bauern wird mitunter noch eine gewisse archaische Würde in ihrer Lebensweise zugestanden, wenngleich immer wieder auch ihre niedrige „rassische“ Qualität hervorgehoben wird.271 Aber, so ein Reporter des „Völkischen Beobachters“, „innerhalb der knappen Zeitspanne eines Vierteljahrhunderts hat ein Riesenvolk buchstäblich sein Gesicht verloren und sich aus einer kräftigen, innerlich und äußerlich gesunden Bauernnation in eine graue, körperlich verkümmerte und seelisch verstumpfte, verkrampfte Masse verwandelt“. Die „bolschewistische Herrschaft, die die Anhänglichkeit der Bauern an das russische Herrscherhaus und ihren orthodoxen Glauben zerstört“ habe, die Vernichtung der Intelligenz,

265 Vgl. auch Günter Kaufmann, Die Rolle der Kommissare. Das Sowjetregime und seine Soldaten. In: VB vom 6.7.1941, wo der Autor behauptet, dass kaum einer der Soldaten „Deutschland oder sonst ein Gebiet der kultivierten Welt kennt“. 266 Otto Groka, Bolschewiken, mit der Lupe zu suchen! „Sowjet“-Bevölkerung durchaus antibolschewistisch gesinnt. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 1.10.1941, S. 2; vgl. auch z. B. o. V., Erkenntnisse im Land der Bolschewiken. In: VB vom 12.8.1941, wo „bolschewistische Millionenheere“ und die „Versklavung von Millionenmassen“ beschrieben wird. 267 Theodor Seibert, Der Sowjetmensch. In: VB vom 19.7.1941. 268 Werner Fuchs, Der Sowjetarmist. Versuch einer Charakteristik. In: VB vom 7.12.1941. 269 Theo Goebel, Das Rätsel Sowjetsoldat. In: Allgemeine Zeitung Chemnitz vom 27./28.9.1941. Theo Goebel war auch Kriegsberichterstatter des VB. 270 Zum Begriff siehe Hall, Westen, S. 166 f. 271 Theo Goebel, Quartiere im Sowjetland. In: VB vom 17.11.1941; vgl. auch Theodor Seibert, Der Sowjetmensch. In: VB vom 19.7.1941; vgl. ders., Das Gesicht des Ostkrieges. In: VB vom 7.9.1941.

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der Terror der Geheimpolizei, die „Einebnung aller menschlichen Unterschiede und Gefühle“ habe den „Sowjetmenschen“ geschaffen, „das heißt entweder stumpfsinnige oder fanatische Sklaven einer völlig seelenlosen Herrschaft“. 272 Stumpfheit und Dumpfheit, Teilnahmslosigkeit und Seelenlosigkeit zählen zu den am meisten benutzten Charakteristiken, mit denen sowjetische Bauern, Arbeiter und Soldaten in NS-Presseartikeln belegt werden, manchmal wird ihnen gleichzeitig Misstrauen und „Verschlagenheit“ unterstellt.273 So sprechen ihnen die Autoren jede Möglichkeit eines vernunftgeleiteten, bewussten und damit menschlichen Handelns ab. „Diese Massen sind stumpf geworden“, beantwortet ein Kriegsberichterstatter die selbst gestellte Frage danach, warum die Einwohner der Sowjetunion nicht die deutschen Soldaten mit einem Aufstand gegen Stalin unterstützt hätten: „Sie haben nie gewusst, was ein menschenwürdiges Dasein ist, auch nicht unter dem Zarismus. Der Despotenwahn der Zarenmörder aber hat sie vollends gebrochen und willenlose Werkzeuge aus ihnen gemacht. Wer die Heere der Gefangenen auf den Straßen dahinziehen sah wie Horden, wer ihre Gesichter sah, der fragte nicht mehr.“ Und der Autor fasst zusammen: „Das sind keine Menschen mehr.“274 Was hier deutlich ausgesprochen wird, die Aberkennung der menschlichen Würde, transportieren andere Formulierungen der NS-Zeitungssprache eher implizit durch Formulierungen, die normalerweise für Tiere, aber nicht für Menschen benutzt werden – ein häufiges sprachliches Ausdrucksmittel von Rassismus. So ist beispielsweise von „einem Rudel von Heckenschützen“275 die Rede. Ein Besucher eines Lagers für sowjetische Kriegsgefangene beschreibt die darin versammelten Soldaten als „eine wahre menschliche Menagerie von unvorstellbarer Buntheit“.276 Dies passt zu Heinrich Himmlers Kennzeichnung der Russen als „Menschentiere“277 im Jahr 1943. Andere Wendungen der NS-Presse stellen Varianten der häufig zitierten Bezeichnung „Untermenschentum“ dar, etwa wenn die gefangenen Soldaten als „eine Sammlung niedrigen und niedrigsten Menschentums, richtigen Untermenschentums, wie es Stalin und sein Blutregime braucht“ beschrieben

272 Theodor Seibert, Der Sowjetmensch. In: VB vom 19.7.1941; vgl. ders., Das Gesicht des Ostkrieges. In: VB vom 7.9.1941. 273 Vgl. z. B. o. V., Paradiesisches aus dem „Arbeiterparadies“. In: VB vom 30.7.1941; o. V., Sowjetgefangene sehen Dich an (2 000 km auf den Spuren der Sowjets, II). In: VB vom 5.8.1941; Heinz Höpf’l, Von Wilna zum „Tor von Moskau“ (2 500 km durch Sowjetland, II). In: VB vom 9.11.1941; Theo Goebel, Quartiere im Sowjetland. In: VB vom 17.11.1941. 274 Heinz Höpf’l, „Peter, der Große“ und „Tankisten“ (2 500 Kilometer durch Sowjetland, V). In: VB vom 14.11.1941. 275 O. V., Bolschewistische Flintenweiber. In: VB vom 20.7.1941. 276 Gustav Herbert: Sowjetgefangene sehen Dich an (2 000 km auf den Spuren der Sowjets, II). In: VB vom 5.8.1941. 277 Zit. nach Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 28.

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werden oder wenn wiederholt auf ihren „primitiven Bildungsstand“ hingewiesen wird.278 Insgesamt ist das Bild der Sowjetunion und seiner Bürger in der NS-Propaganda durch einen „stereotypen Dualismus“ gekennzeichnet.279 Die Beschreibung wird auf einige wenige griffige Merkmale reduziert, die das Wesen der „Sowjetmenschen“ darstellen sollen. Gleichzeitig wird die dadurch entstehende stereotypisierte Beschreibung in zwei Aspekte gespalten, die die inneren Widersprüche des Bildes zumindest teilweise auffangen: einerseits das bolschewistische Regime und seine Funktionäre, im soldatischen Zusammenhang insbesondere die „Kommissare“, als Täter, andererseits die verelendeten Massen der sowjetischen Arbeiter, Bauern und auch die einfachen Soldaten als Opfer. Die Brücke zwischen beiden Gruppen wird in jenen Beschreibungen geschlagen, in denen unter den Opfern potenzielle oder versteckte Täter ausgemacht werden: Der bereits mehrfach zitierte Besucher des Lagers für sowjetische Kriegsgefangene beschreibt, welchen Völkern die Insassen angehören, und fügt an: „Unter ihnen sind viele, denen man es ansieht, dass sie aus jenem Holz geschnitzt sind, aus welchem Stalin und seine Schergen das Heer der Kommissare und GPU.-Agenten zu ergänzen pflegen, roh und ungeschlacht aussehende Burschen mit fanatischem, heimtückischem Blick, die zu allem fähig scheinen. Manch einer erinnerte geradezu an Stalin. Aus ihren Reihen rekrutiert sich das Heckenschützentum.“280 Und ein anderer Autor verwischt die Grenzen zwischen Täter- und Opfertyp noch stärker, indem er erklärt, „der deutsche Soldat“ habe im Kampf die Auswirkungen des „Bolschewismus“ auf die Menschen kennenlernen können: „Die bestialische Grausamkeit, die Entartung bis zur Vertiertheit – sie hat der Bolschewismus zu wecken vermocht in denen, die er zu seiner Lehre zwang.“281 Diese Perspektive bestimmte vor allem das Handeln der deutschen Sicherheitsorgane, die die angeblichen rassischen und politischen Gefahren des Einsatzes der sowjetischen Kriegsgefangenen und Arbeiter betonten und versuchten, in entsprechende staatliche Anweisungen umzusetzen. Prägend für die Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter war freilich auch die Verbindung zwischen den Bildern ihres Leidens und ihrer Entbehrungen unter dem Stalinismus und der Vorstellung von ihrer angeblichen Unkultiviertheit bzw. Unzivilisiertheit und „rassischen“ Minderwertigkeit. Sie ermöglichte es den deutschen Verantwortlichen, nahezu jede noch so schlechte Behandlung der Kriegsgefangenen und Zivilarbeiter mit deren Anspruchslosigkeit und Entbehrungsfähigkeit zu rechtfertigen und als

278 Gustav Herbert, Sowjetgefangene sehen Dich an (2 000 km auf den Spuren der Sowjets, II). In: VB vom 5.8.1941. 279 Zum Begriff vgl. Hall, Westen, S. 167. 280 Gustav Herbert, Sowjetgefangene sehen Dich an (2 000 km auf den Spuren der Sowjets, II). In: VB vom 5.8.1941. 281 O. V., Erkenntnisse im Land der Bolschewisken. In: VB vom 12.8.1941.

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­ erbesserung ihrer materiellen Lage sowie ihres kulturellen und sittlichen ZuV standes im Vergleich zu ihrem Leben in der Sowjetunion schönzureden. Einzelne Motive dieses Diskurses lassen sich bis in die Quellen der Arbeitsämter der Region Chemnitz verfolgen, die sich mit den Ausländern meist nur unter dem Aspekt ihrer bestmöglichen Ausbeutung auseinandersetzten. Das Arbeitsamt Olbernhau behauptete beispielsweise im Herbst 1941: „Der Einsatz von Russen wird von der Wirtschaft im allgemeinen zurückgewiesen, da es sich um schwache und minderwertige Menschen handelt. Im Hinblick auf das rohe und brutale Verhalten der Sowjetrussen, das in Zeitungs- und Rundfunkberichten häufig geschildert wird, sind die Befürchtungen der Betriebsführer, mit dem Einsatz von Russen sich selbst und die übrige Gefolgschaft zu schaden [sic], begreiflich.“282 Die „stereotype Dualisierung“ wird hier allerdings nicht mitvollzogen, die Darstellung wird auf das Täterbild reduziert. Aus dieser Sicht war es kaum zu rechtfertigen, sowjetische Arbeitskräfte ins Deutsche Reich zu bringen, weil die Gefährdung der deutschen Bevölkerung zu groß erschien. Der Entschluss zu den groß angelegten Zwangsverschleppungen sowjetischer Bürger durch die deutsche Arbeitsverwaltung ins Deutsche Reich veränderte die propagandistische Darstellung der Sowjetunion zunächst kaum. Die große Berliner Ausstellung „Das Sowjetparadies“ malte im Frühjahr 1942 das vertraute dualistische Stereotyp in allen Einzelheiten aus, freilich ergänzt um eine Darstellung der Gefährlichkeit der sowjetischen Rüstung, in der sich allein „der Reichtum des Landes“ konzentriert habe.283 Eine Propagandakampagne, die die Reichskanzlei zusammen mit dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) plante, sollte den Widerspruch zwischen dem Propagandabild des „Untermenschen“ und den positiven Erfahrungen mit sowjetischen Arbeitskräften auflösen und den Gefahren einer Fraternisierung entgegenwirken, in dem sie diese zu durch den Bolschewismus geschaffenen „Maschinen“ erklärte, die deshalb besonders zu sturen, gleichförmig zu verrichtende Arbeiten in der Lage seien.284 Auch die Auseinandersetzungen, die sich innerhalb des NS-Führungszirkels über den Einsatz und die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter abspielten, wurden von der Kontroverse um die von angeblich von ihnen ausgehenden politischen und rassenideologischen Gefahren geprägt. Dabei lassen sich grob zwei Gruppen unterscheiden: Stark ideologisch geprägte Institutionen wie die Sicherheitsorgane oder der Parteiapparat betonten stärker die Gefahren für die Kriegswirtschaft und die angebliche Rassenreinheit der deutschen Bevölkerung, während stärker rüstungswirtschaftlich orientierte 282 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 283 O. V., Das ist das „Sowjetparadies“. Rundgang durch die große Ausstellung im Lustgarten. In: VB vom 9.5.1942; siehe zur Ausstellung Wette, Russlandbild, S. 67; vgl. auch z. B. Werner Tiebel, Ukrainische Notizen. Bilder, Gedanken und Erinnerungen am Rande der großen Heerstraße. In: VB vom 7.7.1942. 284 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 178.

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Behörden, Institutionen und Unternehmen wie der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, die militärwirtschaftliche Bürokratie, die DAF oder die Unternehmen meist die Lösung des Arbeitskräftemangels und die Arbeitsleistung der sowjetischen Arbeitskräfte im Auge hatten.285 Für die stark von den Sicherheitsorganen geprägten „Ostarbeitererlasse“ war das Bild von der Gefährlichkeit der sowjetischen Arbeiter der wichtigste Ausgangspunkt bei der Behandlung der sowjetischen Zwangsarbeiter in Deutschland. Die „Ostarbeitererlasse“ des Frühjahrs 1942 stellten die These in den Mittelpunkt, dass die sowjetischen Arbeiter „jahrzehntelang unter bolschewistischer Herrschaft gelebt haben und systematisch zu Feinden des nationalsozia­ listischen Deutschland und der europäischen Kultur erzogen worden sind“286. Diese Formulierung fand offensichtlich weite Verbreitung; sie wird auch in der Region Chemnitz in vielen Merkblättern zur Behandlung sowjetischer Arbeiter wiedergegeben.287 Auch der sächsische Gauleiter Mutschmann, ein fanatischer Judenhasser, soll mehrfach eine besonders harte Behandlung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern gefordert haben. Dem Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener in Sachsen stand er gleichgültig gegenüber und lehnte dafür jede Verantwortung ab. Späteren Zeugenaussagen zufolge soll Mutschmann noch kurz vor Kriegsende die Ermordung von 16 000 Zwangsarbeitern bei der Leipziger HASAG befohlen haben.288 Dagegen betonte der GBA, Fritz Sauckel, in seinen Verlautbarungen eher die Opferperspektive, wenn er in einem Aufruf an die Gauleiter schrieb: „Die Masse der Ostarbeiter kommt gern und arbeitswillig ins Reich. Sie empfindet die Vernichtung des Bolschewismus in ihrer Heimat als Erlösung.“289 Die gegensätzlichen Standpunkte innerhalb der NS-Führungsspitze setzten sich bis hinunter auf die regionale Ebene fort: Im Herbst 1942 beklagten Erhard Horn von der Plauener Firma Dr. Theodor Horn sowie Generaldirektor Max Torkewitz von der Chemnitzer Schubert & Salzer AG unisono „die uneinheitlichen Bestimmungen über die Behandlung der Ostarbeiter“. Torkewitz hielt „eine einheitliche Richtlinie für den Ausländereinsatz für unumgänglich notwendig, da mitunter das Arbeitsamt, die DAF und die Gestapo grundverschiedene Ansichten hierüber vertreten“.290 Die Gestaltung der 285 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 33. 286 Zitiert nach Herbert, Fremdarbeiter, S. 156; siehe insgesamt zur den Ostarbeitererlassen ders., S. 154–157. 287 Landrat zu Flöha an die Bürgermeister des Kreises am 29.6.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1430, unpag.); gleichlautende Textstelle siehe auch Oberbürgermeister der Stadt Werdau am 4.6.1942, Auszug aus den z. Zt. geltenden Bestimmungen über den Einsatz von Arbeitskräften aus den altsowjetischen Gebieten (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 288 Vgl. Schmeitzner, Mutschmann, S. 99 f.,108 f. 289 Sauckel an die Präsidenten der LAÄ und die RTA am 14.6.1942. In: Nachrichten des RMfBuM, (1942) 6, S. 78–80, hier 79. 290 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 21/11–13, Bl. 68–79, hier 69 f.).

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­ ebens- und Arbeitsbedingungen der sowjetischen Zivilarbeiter war von einer L Vermischung der Zwänge der Kriegsgesellschaft mit den Postulaten der Rassenideologie des Nationalsozialismus gekennzeichnet, wobei sich die Gewichtung der einzelnen Aspekte je nach Zeit, Ort und individuellen Umständen des Einzelfalles veränderten. 5.2

Der physische Bewegungsspielraum

Bei der Behandlung der sowjetischen Arbeiter konnte sich mit den im F ­ ebruar 1942 geschaffenen „Ostarbeitererlassen“ auf zentraler Ebene zunächst der NS-Sicherheitsapparat mit seinen ideologischen Bedenken durchsetzen. Er bestimmte zunächst auch die Gestaltung des physischen Bewegungsspielraums der sowjetischen Zivilarbeiter: Sie sollten abgesondert von der deutschen Bevölkerung und den übrigen Ausländern wie Gefangene in stacheldrahtumzäunten bewachten Lagern gehalten werden, die sie lediglich zur Arbeit verlassen durften. Jeder von ihnen hatte zudem ein Abzeichen zu tragen, das ihn als „Ostarbeiter“ kenntlich machte. An der Arbeitsstelle sollten sie durch einen Werkschutz bewacht werden.291 In der weiteren Diskussion um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der sow­ jetischen Arbeitskräfte verschoben sich die Schwerpunkte der Diskussion im NS-Führungszirkel leicht von der sicherheitspolitischen Gefahr hin zur effizienten Ausbeutung der Arbeitskräfte. Auf Interventionen von Speer und dem Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt hin fiel im April 1942 wenigstens die Stacheldrahtumzäunung der Lager weg. Außerdem sollte den Arbeitern der Ausgang als geschlossene Gruppe unter Führung eines Deutschen gestattet werden.292 Das Stacheldrahtverbot scheint im Sommer 1942 in der Region zwar bekannt gewesen zu sein,293 setzte sich in der Praxis aber nur allmählich durch. Die Gestapo Chemnitz musste noch im September 1942 anmahnen, dass der in einigen Lagern noch vorhandene Stacheldraht nunmehr endgültig entfernt werden müsse.294 Doch noch 1944 gab es offenbar Lager für osteuropäische Arbeiter, die stacheldrahtumwehrt waren.295 Auf dem Land war die Überwachung der sowjetischen Zivilarbeiter von Anfang an lückenhaft. Bereits die „Ostarbeitererlasse“ hatten den Einzeleinsatz

291 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 156. 292 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 117. 293 Vgl. Landrat zu Flöha an die Bürgermeister des Kreises am 29.6.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1430, unpag.). 294 Gestapo Chemnitz am 18.9.1942, Rundschreiben betr. Einsatz von Arbeitskräften aus den altsowjetischen Gebieten (StadtA Chemnitz, Gemeinde Glösa 343, Bl. 12); Landrat zu Flöha an die Bürgermeister des Kreises am 29.6.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1430, unpag.). 295 Vgl. Auerbacher, Kindheit, S. 33, 35 f. Das hier erwähnte Lager in der Nähe des Chemnitzer Bahnhofs beherbergte anscheinend polnische Arbeiter.

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sow­jetischer Arbeiter in der Landwirtschaft erlaubt. Dies war der einzige Punkt gewesen, in dem sich die Pragmatiker gegen die Ideologen hatten durchsetzen können.296 Die bei den Bauern untergebrachten sowjetischen Arbeitskräfte sollten zwar ebenfalls in verschlossenen Kammern oder Verschlägen abgetrennt von der Familie und dem Gesinde untergebracht werden.297 Doch musste die Chemnitzer Gestapo im September 1942 feststellen, dass „Ostarbeitern“ häufig die Flucht gelang, weil die Bewachungsvorschriften nicht eingehalten würden: „Die Kammertüren werden des Nachts in den meisten Fällen nicht verschlossen.“298 Ab Mai 1942 durften die „Ostarbeiter“ mindestens einmal wöchentlich das Lager während ihrer Freizeit verlassen. Der Ausgang sollte in geschlossenen Gruppen, aber immerhin unter Führung eines sowjetischen Arbeiters stattfinden.299 Gegen Ende des Jahres 1942 wurde das Verbot, die Lager zu verlassen, schließlich ganz aufgehoben.300 Eine daran anschließende Diskussion zwischen Unternehmern der Region zeigt, wie die Virulenz rassistischer Stereotypen im Widerstreit mit dem Bestreben stand, durch Zugeständnisse an die vermeintlichen „Untermenschen“ Leistungssteigerungen zu erzielen. So sorgte sich der Direktor Walter Hildebrandt von den Elite-Diamant-Werken in Siegmar-Schönau im November 1942 wegen angeblicher „Gefahren für die deutsche Frau“, die durch die Verdunkelung noch verstärkt würden. Ein Prokurist der Wanderer-Werke AG hielt zwar „den freien Ausgang im Interesse der Leistungssteigerung für unbedingt geboten“. Doch gab auch er der weit verbreiteten Furcht Ausdruck, dass die sowjetischen Arbeiter ihren Lohn „sinnlos mit dem Ankauf von Dingen des täglichen Bedarfs verbrauchen“ würden, „die der Versorgung der deutschen Bevölkerung verloren gehen“.301 Sowohl das Bild einer angeblich ungezügelten und daher gefährlichen sexuellen Triebhaftigkeit der Fremden als auch die Vorstellung, dass sie der deutschen Bevölkerung Ressourcen wegnehmen würden, waren im Grunde nicht spezifisch auf die „Ostarbeiter“ bezogen, sind solche Vorstellungen doch häufige Elemente von Fremdenangst und Fremdenhass, unabhängig vom politischen System. Im Nationalsozialismus waren sie jedoch durch die Integration in den explizit staatlich vertretenen Rassismus politisch besonders wirksam. Zusätzliche Virulenz erhielten sie in der Kriegssituation, in der viele Männer wegen

296 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 156. 297 Landrat zu Flöha an die Bürgermeister des Kreises am 29.6.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1430, unpag.). 298 Gestapo Chemnitz am 18.9.1942, Rundschreiben betr. Einsatz von Arbeitskräften aus den altsowjetischen Gebieten (StadtA Chemnitz, Gemeinde Glösa 343, Bl. 12). 299 DAF-Gauwaltung Sachsen, Hauptabteilung Arbeitseinsatz, Gaubeauftragter für Lagerbetreuung, am 3.5.1943, Rundschreiben Nr. 8/5/43 an alle Lagerführer und Lagerführerinnen von Gemeinschafts- und Betriebslagern (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 300 Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 198. 301 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 20–11/13, Bl. 68–79, hier 73).

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des Fronteinsatzes abwesend waren und alle Güter des täglichen Lebens zunehmend knapper wurden. In Chemnitz nutzte die örtliche Gestapo die artikulierten Ängste, um bei der Lockerung der Ausgangssperre zu bremsen: Gestapochef Johannes Thümmler302 wollte die Bewachung außerhalb des Lagers durch die Hintertür wieder einführen, indem er dazu riet, „anfangs“ den ausgehenden Arbeitergruppen „deutsche Überwachungskräfte“ beizugeben. Um die ungeachtet der geringen Löhne der „Ostarbeiter“ befürchteten Hamsterkäufe zu verhindern, sollten seiner Ansicht nach nicht nur die Bevölkerung und die Einzelhändler „entsprechend aufgeklärt“ werden, sondern auch der Ausgang möglichst auf den Sonntag beschränkt werden, damit die Ausgehenden nur geschlossene Geschäfte vorfänden. Stattdessen sollten sie in den Werkskantinen kleinere Gegenstände einkaufen können.303 Schließlich gestaltete die örtliche Gestapo die Ausgangszeiten für die sowjetischen Arbeiter ungünstiger als in den reichsweit geltenden Bestimmungen. Statt generell um 21 Uhr, mussten die „Ostarbeiter“ in Chemnitz bei „Beginn der Verdunkelung“ wieder im Lager eingetroffen sein. Mochte dies im Hochsommer auch eine geringfügig verlängerte Ausgangszeit bedeuten, im Winter, der bei Erlass dieser Vorschrift unmittelbar bevorstand, reduzierte sie sich dafür massiv.304 Freilich waren die Ausgangsbestimmungen nicht nur von der Gestapo abhängig, sondern auch davon, wie die Lagerschlussstunden in den einzelnen Lagern geregelt waren. Für die DAF-Lager im Kreis Flöha legte beispielsweise die Lagerverwaltung fest, dass Polen und „Ostarbeiter“ bei Einbruch der Dunkelheit im Lager zu sein hatten, eine Regelung, die noch im Sommer 1944 galt.305 Auch in Chemnitz bestimmte die DAF noch im Frühjahr 1944: „Ostarbeiter müssen weiterhin bis zum Eintritt der Dunkelheit, spätestens aber um 20:00 Uhr im Lager sein.“306 Andere Städte regelten den Ausgang der sowjetischen Arbeitskräfte ebenfalls nicht immer den Reichsbestimmungen konform: In Leipzig scheint beispielsweise ein Ausgang ohne deutsche Aufsicht erst im Frühjahr 1943 gestattet worden zu sein.307 Die Umsetzung der nationalen Vor302 Vgl. zur Biografie Thümmlers, Adolf Diamant, Gestapochef Thümmler, Chemnitz. Verbrechen in Chemnitz, Kattowitz und Auschwitz. Die steile Karriere eines Handlangers der nationalsozialistischen Morde und Vergehen gegen die Menschlichkeit. Berichte – Dokumente – Kommentare, Chemnitz 1999. 303 Überbetrieblicher Erfahrungaustausch über den Ausländereinsatz, veranstaltet durch die DAF am 1.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–11/13, Bl. 80–81). 304 Ebd. 305 Vgl. DAF-Kreiswaltung Flöha an alle Gemeinschaftslager im Kreis Flöha am 11.8.1944, Rundschreiben Nr. 3/2/44 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 306 DAF-Kreiswaltung Chemnitz, HA Arbeitseinsatz, an die Betriebsführer zur sofortigen Kenntnisnahme an den Lagerführer, Rundschreiben Nr. 8/4/44 vom 6.4.1944 (StadtAChemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 2522/1, unpag.). 307 Vgl. Andreas Mai, „Haltet Abstand von den Ausländern!“ NS-Ideologie und Lebenswelten von ausländischen Arbeitskräften in Nordwestsachsen. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, S. 27–48, hier 34 f.

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gaben konnte also regional sehr unterschiedlich ausfallen und war von unterschiedlichsten lokalen Faktoren abhängig. Trotz dieser Einschränkungen beim Ausgang der sowjetischen Zivilarbeiter beschwerte sich Thümmler bereits Ende Dezember 1942 darüber, dass „die Ostarbeiter völlig frei, z. T. ohne jede Aufsicht, verschiedentlich auch ohne das Ostabzeichen, umherlaufen und in den Geschäften Einkäufe tätigen“. Die Gestapo erhalte „laufend“ Beschwerden darüber, „dass die Ostarbeiter insbesondere an Sonnabenden die deutschen Geschäfte geradezu überschwemmen, sodass die deutschen Frauen teilweise ihre Einkäufe nicht erledigen konnten“.308 Thümmler wies daher nochmals auf die geltenden Bestimmungen hin und machte d ­ arauf aufmerksam, dass der Besuch von Kinos, Theatern und Gaststätten ebenso wie die Benutzung der Straßenbahn verboten sei. Schließlich wiederholte er seine Empfehlung, den freien Ausgang auf den Sonntag zu beschränken.309 Nachdem jedoch Thümmler angesichts der reichsweit zunehmenden Lockerungstendenzen eine rein repressive Begrenzung des Ausgangs schließlich für nicht mehr durchführbar erachtete, versuchte die Gestapo Chemnitz ab Mai 1943, „Zwangsmaßnahmen zur Ablenkung der Ostarbeiter vom Straßenbild“ durchzusetzen.310 Insbesondere sollte ihre Präsenz durch die Zuweisung von speziell für sie bestimmten Treffpunkten eingeschränkt werden. So sollten ihnen das Crusiusbad sowie bestimmte städtische Duschen und Wannenbäder zur Verfügung gestellt werden, „um das große Hallenschwimmbad vor Ausländerbesuch zu schützen“.311 Die „Ostarbeiter“ wie auch die Angehörigen anderer Nationen erhielten bestimmte Gaststätten zur Benutzung zugewiesen, um „das umfangreiche Auftreten der Ausländer in öffentlichen Anlagen, zum Beispiel Stadtpark [sic]“,312 zu vermeiden. Schon vorher war eine Bordellbaracke eingerichtet worden. Der Chemnitzer DAF-Kreisobmann und die Gestapo wollten beobachtet haben, dass dadurch „die Belästigungen deutscher Frauen durch Ausländer ganz wesentlich nachgelassen“ hätten313 – auch dies eine Wahrnehmung, die eher durch rassistische Klischees als durch unvoreingenommene Beobachtung bedingt gewesen sein dürfte. Mit ihrer rein auf die innere Sicherheit und die Abwehr rassenideologisch wahrgenommener Bedrohungen orientierten Haltung stieß die örtliche Gestapo 308 Gestapo Chemnitz an die Landräte am 29.12.1942 betr. Ostarbeiter, zit. nach Adolf Dia­mant, Gestapo Chemnitz und die Gestapoaußenstellen Plauen i. V. und Zwickau. Zur Geschichte einer verbrecherischen Organisation in den Jahren 1933–1945. Dokumente – Berichte – Reportagen, Chemnitz 1999, S. 487. 309 Ebd.; vgl. auch RüKdo Chemnitz, Rother, am 15.2.1943, Bericht betr. Gefahrenabwehr beim verstärkten Einsatz ausländischer Zivilarbeiter (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 51 f.). 310 RüKdo Chemnitz am 8.5.1943, Aktenvermerk über die Besprechung in der Wirtschaftskammer Chemnitz, einberufen durch die Gestapo (BA-MA Freiburg, RW 21/11–15, Bl. 74). 311 Ebd. 312 Ebd. 313 Ebd.

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allerdings nicht überall auf Zustimmung. Bereits im Juli 1942 hatte ein Vertreter des Landesarbeitsamtes Sachsen bei einer Besprechung der sächsischen Arbeitsämter darauf hingewiesen, dass die Arbeitsämter vor allem den „Nutzen“ der Ausländerbeschäftigung sähen: „Den anderen Stellen, deren Einstellung mehr von der Gefahrenseite aus beeindruckt ist, da sie Sicherheitsstand, Rassenstandpunkt, Gesundheit, Fürsorge usw. vertreten müssen, ist unser Standpunkt bei passender Gelegenheit klarzumachen.“314 Das Arbeitsamt Chemnitz notierte im Februar 1943, es habe eine Besprechung mit allen am Ausländereinsatz beteiligten Stellen gegeben, auf der herausgestellt worden sei, „dass der Arbeitseinsatz allen übrigen Belangen vorausgehen müsse“.315 Die Arbeitsämter stellten also die effiziente Ausbeutung der ausländischen Arbeiter über alle ideologischen und sicherheitspolitischen Bedenken. Den freien Ausgang für die sowjetischen Arbeiter bewertete das Arbeitsamt Chemnitz positiv: „Sie treten im Straßenbild der Großstadt in Bezug auf Haltung und Kleidung längst nicht mehr so ungünstig in Erscheinung wie vor einigen Wochen.“316 Auch die DAF, die ebenfalls eher zu den pragmatisch auf die Arbeitsleistung der ausländischen Arbeiter hin orientierten Institutionen zu rechnen ist, zog ungeachtet aller regionalen Besonderheiten im Frühjahr 1943 sachsenweit eine positive Bilanz der neuen Ausgangsbestimmungen: Sie hätten sich „außerordentlich günstig auf die Leistungen ausgewirkt“. Zugleich sei der freie Ausgang „ein ausgezeichnetes disziplinäres Mittel, weil er jederzeit den Elementen entzogen werden kann, die durch ungebührliches Betragen in Betrieb und Lager oder durch mindere Leistungen auffallen“.317 Auch dies war ein Muster, dass sich durch die gesamte Politik des NS-Regimes gegenüber den ausländischen Zivilarbeitern zog: Jede Vergünstigung war an das Wohlverhalten des Individuums gebunden und konnte bei missliebigen Verhaltensweisen jederzeit entzogen werden. Einzelne Firmen schränkten überdies die Freiheiten der sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter offenbar ungestraft noch weiter ein, als es die geltenden Vorschriften vorsahen: Ende 1943 kam es in Erdmannsdorf zu einer Auseinandersetzung um gefährliches chemisches Material, das eine Lackfabrik auf dem Gelände einer Textilfirma lagerte. In deren Verlauf verfügte die Textilfirma, dass der Fabrikeingang dauernd verschlossen zu halten sei, und ergänzte: „Die Russen haben ohne Erlaubnis überhaupt nicht das Fabrikgelände zu ver-

314 Besprechung der Leiter der sächsischen Arbeitsämter am 7.7.1942 (StadtA Chemnitz, AA Chemnitz 5, Bl. 40–44, hier 41). 315 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (HStA Dresden, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 316 Ebd. 317 DAF-Gauwaltung Sachsen, Hauptabteilung Arbeitseinsatz, Gaubeauftragter für Lagerbetreuung, am 3.5.1943, Rundschreiben Nr. 8/5/43 an alle Lagerführer und Lagerführerinnen von Gemeinschafts- und Betriebslagern (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.).

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lassen.“318 Die Firma hielt die sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter wie in der Anfangszeit der Beschäftigung sowjetischer Arbeiter praktisch in Haft. Sie mussten überdies, anders als die Deutschen, in unmittelbarer Reichweite der für gefährlich gehaltenen Stoffe leben. Im Februar 1944 plädierte die DAF Flöha für weitere Lockerungen der Aufenthaltsbestimmungen. Sie beklagte, dass die Tatsache, dass „Ostarbeiter“ ihren Wohn- bzw. Einsatzort nicht verlassen dürften, wegen der geringen Größe der Orte in Flöha und Umgebung ständig zu Überschreitungen dieser Vorschrift führe. „Wir wissen, dass diese Überschreitung in den meisten Fällen nicht aus böser Absicht geschieht, sondern aus einem inneren Drang heraus, sowohl in gewissen Abständen einmal in die Natur hinauszugehen, als auch Verwandte und Bekannte in benachbarten Lagern aufzusuchen.“319 Die örtlichen Polizeidienststellen bestraften solche Übertretungen rücksichtslos, was bei den sowjetischen Arbeitskräften „immer wieder starke Verärgerung und damit bedingt ein[en] Leistungsschwund“ zur Folge habe. Daher habe die DAF mit der Polizeikreisstelle verhandelt und erreicht, dass Ostarbeiter wenigstens an ihrem freien Sonntag benachbarte Lager besuchen könnten, wenn die örtliche Polizeidienststelle vorher die Genehmigung erteile.320 Die Probleme der „Ostarbeiter“, die sich durch die einschnürenden nationalsozialistischen Bestimmungen ergeben, werden hier vergleichsweise einfühlsam geschildert. Die DAF Flöha attestiert ihnen sogar positiv besetzte Motive wie Natur- und Familienliebe. Möglicherweise spiegelt sich darin auch die Konfrontation der nationalsozialistischen Propaganda mit der tagtäglichen Realität wider, die sich aus der Zusammenarbeit zwischen Deutschen und „Ostarbeitern“ in den Betrieben ergab. Die positivere Beschreibung der „Ostarbeiter“ hatte ihre Ursache aber auch in der sich seit dem Winter 1942/43 und der Niederlage von Stalingrad verschlechternden Kriegssituation. Propagandaminister Joseph Goebbels (1897–1945) versuchte nun, die osteuropäischen Arbeiter in seine ­Konzeption des „totalen Kriegs“ mit einzubeziehen. Er deutete den Krieg nunmehr als europäischen Kampf gegen den Bolschewismus und wies den Osteuropäern dabei wichtige Hilfsfunktionen zu.321 Der „stereotype Dualismus“ mit seinem Unterschied zwischen der „bolschewistischen“ Führung und ihren Funktionären als Tätern einerseits und den unterworfenen Völkern als Opfer andererseits gewann in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung. Damit gingen eine, freilich nur für die Dauer des Krieges beabsichtigte, propagandistische

318 Arno und Moritz Meister AG vom 30.12.1943, Bekanntmachung (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1652, unpag.). 319 DAF-Kreiswaltung Flöha, HA Arbeitseinsatz, Abt. Lagerbetreuung, am 11.2.1944, Rundschreiben Nr. 3/2/44 an alle Gemeinschaftslager im Kreis Flöha/Sa. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 320 Ebd. 321 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 240 f.

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Aufwertung der ­Polen und „Ostarbeiter“ sowie Initiativen zu gewissen materiellen ­Verbesserungen ihres Lebensstandards einher.322 Der Schwenk Goebbels’ ermöglichte es, auch in behördlichen Texten die Leistungen und Bedürfnisse der „Ostarbeiter“ wenigstens teilweise anzuerkennen. Zu mehr als einzelnen Konzessionen wie im Falle der geschilderten Vereinbarungen mit den örtlichen Polizeidienststellen konnte dies freilich nicht führen. Das von den Nationalsozialisten propagierte rassistische Weltbild und die sich davon ableitende rassistische Hierarchie blieben davon unberührt. Sie drückten sich auch in einem väterlich-patriarchalen sprachlichen Duktus aus, mit dem den sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeitern jede Mündigkeit versagt wurde. Jedoch kümmerte sich auch die DAF nicht aus reiner Nächstenliebe um das Ausgangsproblem, sondern weil sie einen Leistungsabfall der sowjetischen Arbeiter befürchtete. Dies deutet darauf hin, dass die Handlungsmöglichkeiten der sowjetischen Zwangsarbeiter in den vergangenen zwei Jahren zumindest geringfügig gewachsen waren. Angesichts der Tatsache, dass ausfallende Arbeitskräfte nicht mehr ohne Weiteres zu ersetzen waren, waren zumindest die an der Arbeitsleistung der Arbeiter interessierten Institutionen vor Ort bereit, statt auf Repressionen auf punktuelle Zugeständnisse zu setzen. Die größeren Handlungsmöglichkeiten der sowjetischen Arbeiter spiegeln auch die ohnmächtig wirkenden Klagen der Chemnitzer DAF im Sommer 1944: So beschwerte sich der Kreisobmann im Juni 1944 darüber, „dass sich Ostarbeiter an den Wochentagen und insbesondere an Sonntagen nach 20 Uhr auf den Straßen und in den Anlagen herumtreiben.“323 Bezeichnend ist jedoch, dass er gar nicht erst damit drohte, die „Ostarbeiter“ selber für dieses angebliche Fehlverhalten zu bestrafen, sondern die Lagerführer dafür verantwortlich machen und zur Rechenschaft ziehen wollte.324 Ende 1944 scheinen sich die „Ostarbeiter“ weitgehend frei im Chemnitzer Stadtbereich bewegt und sogar öffentliche Verkehrsmittel benutzt zu haben: Jedenfalls meinte der DAF-Kreisobmann beobachtet zu haben, dass die sowjetischen Arbeiter an den Sonntagen abends mit der Straßenbahn zu ihren Lagern zurückfuhren. Auch wandte er sich gegen das Betteln von „Ostarbeiterkindern“ im Zentrum der Stadt, freilich ohne andere Konsequenzen als die Bestrafung der zuständigen Lagerführer anzudrohen.325

322 Vgl. ebd., S. 238–243. 323 DAF Kreiswaltung Chemnitz, HA Arbeitseinsatz, der Kreisbeauftragte für die Lagerbetreuung, Rundschreiben Nr. 22/6/44 vom 1.6.1944 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 2522/1, unpag.). 324 Vgl. ebd. 325 DAF Chemnitz, der Kreisobmann, Rundschreiben Nr. 32/12/44 vom 11.12.1944 an die Betriebsführer, z. K. der Lagerführer betr. Weihnachtsfeiern in den Gemeinschaftslagern (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 2522/1, unpag.).

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Die materielle Versorgung

Viel stärker als die Frage der Bewegungsfreiheit der sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter berührte ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln unmittelbar die Verteilung materieller Ressourcen im NS-Staat. Schon die Ernährung der deutschen Bevölkerung wurde mit zunehmender Kriegsdauer immer schwieriger. Bereits vor dem Krieg war in vielen anderen Reichsgebieten die Versorgung ungleichmäßig und lückenhaft gewesen. Neben Fetten fehlte es im ersten Halbjahr 1939 in Sachsen beispielsweise an Bohnenkaffee und Eiern.326 Obwohl die Nationalsozialisten das besetzte Europa für die Ernährung der deutschen Truppen und der Bevölkerung im Reich rücksichtslos ausbeuteten, musste die deutsche Bevölkerung bereits in der ersten Kriegshälfte weitere Versorgungsmängel hinnehmen. In Sachsen fehlten Genussmittel, Eier und Hülsenfrüchte und immer wieder bestimmte Gemüse. Besonders schmerzhaft erwies sich die bereits in der ersten Kriegshälfte sehr häufige Unterversorgung mit Kartoffeln, deren Bedeutung für die Ernährung im Verlauf des Krieges mangels anderer Nahrungsmittel anstieg. In Sachsen wurden sie deshalb wie in den anderen Reichsteilen bereits ab Herbst 1941 rationiert.327 In der Sowjetunion plante die NS-Spitze Millionen von Menschen dem Hungertod auszusetzen, um die Ernährung der deutschen Truppen und der deutschen Reichsbevölkerung sicherzustellen und gleichzeitig die ethnische Säuberung voranzutreiben. Hier gingen die Besatzer bei der Ausbeutung besonders rücksichtslos vor, indem so viele Lebensmittel wie möglich ins Reich abtransportiert und der russischen Bevölkerung Lebensmittelrationen zugeteilt wurden, die unterhalb des Existenzminimums lagen. Das Massensterben unter der Zivilbevölkerung im Winter 1941/42 sowie der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutscher Hand war das Resultat dieser Politik.328 Die ins Reich zwangsverschleppten Menschen mussten allerdings mindestens notdürftig ernährt werden, wollte das NS-Regime deren Arbeitskraft weiterhin ausbeuten. Gleichzeitig sollten dadurch die Nahrungsmittelzuteilungen an die deutsche Bevölkerung möglichst wenig eingeschränkt werden. Entsprechend ihrer niedrigen Stellung in der rassistischen Hierarchie des NS-Regimes

326 Vgl. die monatlichen Berichte des Sächsischen Statistisches Landesamtes betr. Unterrichtung über die Preislage und Preisentwicklung wichtiger Verbrauchsgüter von Januar bis Juni 1939 (SächsHStAD, Ministerium für Wirtschaft, 1558a, passim). 327 Vgl. Statistisches Landesamt am 6.10.1941, Beobachtungen über die Preis- und Versorgungslage für den Monat September 1941 (SächsHStAD, Ministerium für Wirtschaft 1558b, Bl. 126–130, hier 127, 129); Gustavo Corni/Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997, S. 479 f. 328 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 534, 550–559; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941–1944, Hamburg 1999; Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, 2. Auflage Zürich 2001.

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erhielten die sowjetischen Arbeiter und Kriegsgefangenen die geringsten Nahrungsmittelrationen zugeteilt. Zunächst versuchte das Regime dies auch mit der angeblichen Anspruchslosigkeit der russischen Arbeitskräfte zu rechtfertigen, die unausgesprochen auf dem Bild ihrer einfachen Lebensverhältnisse in der Sowjetunion gründete: „Der Russe ist genügsam, daher leicht und ohne schwerwiegenden Einbruch in unsere Ernährungsbilanz zu ernähren“,329 hieß es in den Richtlinien für den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter, die das Rüstungskommando Chemnitz Ende 1941 an die Unternehmen verteilte.330 Er solle „nicht verwöhnt“, aber „gesättigt“ werden.331 In der Praxis freilich waren zu diesem Zeitpunkt bereits Hunderttausende sowjetischer Kriegsgefangener im Deutschen Reich verhungert oder an Krankheiten in Folge der Unterernährung zugrunde gegangen. Eine leichte Erhöhung der Rationen, die den Arbeitseinsatz sowjetischer Gefangener überhaupt erst ermöglichen sollte, wurde aus politischen Gründen im April 1942 wieder rückgängig gemacht: Weil das Regime wegen einer kurzfristigen Ernährungskrise die Rationen der deutschen Bevölkerung kürzen musste, glaubte es, dies aus Rücksicht auf die Stimmung der Deutschen bei den sowjetischen Gefangenen und Zivilarbeitern ebenfalls tun zu müssen.332 Bei Interviews der Historikerin Natalia Timofeyeva mit ehemaligen „Ostarbeitern“ war das Thema Hunger eine Hauptkomponente in deren Erinnerung.333 Ab April 1942 standen sowjetischen „Normalverbrauchern“ pro Woche 2 600 Gramm Rübenschnitzelbrot, 250 Gramm Pferde- oder Freibankfleisch, 130 Gramm Fett, 5 250 Gramm Kartoffeln, 150 Gramm „Nährmittel“, 110 Gramm Zucker, 14 Gramm Tee-Ersatz und „Gemüse nach Aufkommen (Kohlrüben)“ zu. Schwerarbeiter bzw. Schwerstarbeiter erhielten 800 bzw. 1 600 Gramm Brot, 150 bzw. 250 Gramm Fleisch und 70 bzw. 130 Gramm Fett zusätzlich.334 Selbst das Rüstungskommando Chemnitz musste zugeben, dass die sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter Hunger litten. Im Frühsommer 1942 überprüfte es Klagen der Firma Gebr. Langer aus Chemnitz über die Ernährung ihrer sowjetischen Zivilarbeiterinnen und kam zu dem Ergebnis, „dass die vor-

329 Richtlinien für den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener und freier russischer Arbeiter, o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 53). 330 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1941 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 20). 331 Richtlinien für den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener und freier russischer Arbeiter, o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 53). 332 Vgl. Corni/Gies, Brot, S. 562–564; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 45 f., 102 f.; Werner, „Bleib übrig“, S. 194–196. 333 Vgl. Natalia Timofeyeva, Erfahrungen aus der sowjetischen Provinz. Bürger der ehemaligen UdSSR als Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland. In: Plato/Leh/Thonfeld (Hg.), Hitlers Sklaven, S. 255–263, hier 259 f. 334 510/42 Arbeitseinsatz von Arbeitskräften aus den besetzten Ostgebieten, hier: Verpflegungssätze sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter. In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 4 (1942), S. 287; vgl. auch Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 102 f.

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gebrachten Klagen berechtigt sind und das Essen zur Erhaltung des Leistungsfähigkeit keinesfalls ausreicht“.335 Auch als sich das Rüstungskommando nach der Flucht von zwölf sowjetischen Zivilarbeitern bei der Chemnitzer Rüstungsfirma Pornitz & Co. umsah, mussten die Offiziere feststellen, „dass die mit Brot und Margarine verausgabte Kräutersuppe ziemlich dünn ist, sodass bei der schweren Arbeit – ein Geschoss wiegt etwa 37,5 Kilogramm – die Beköstigung als nicht ausreichend angesehen werden muss“.336 An diesen Ausführungen ist die eher pragmatische Orientierung der örtlichen Militärbürokratie erkennbar. Dass auch die militärwirtschaftliche Mittelinstanz im Prinzip diese Linie verfolgte, wird aus einem Schreiben vom Dezember 1942 deutlich, in dem Rüstungsinspekteur Friedensburg als Vorsitzer der für ganz Sachsen zuständigen Rüstungskommission IVa eine ausreichende Ernährung der sowjetischen Arbeiter anmahnte, weil diese die wichtigste Grundlage für ihre Leistungsfähigkeit sei. Es sei zwar schwierig, genügend Nahrung bereitzustellen. Aber, so führte der Vorsitzer der Rüstungskommission aus, „sie wirkt am besten dem zu Erkrankungen führenden Verzehren von Abfällen aus den Abfalltonnen usw. durch die Ostarbeiter entgegen“. 337 Die Bemerkung wirft ein Schlaglicht auf das Hungerleid vieler sowjetischer Zwangsarbeiter in Sachsen. Faktisch gestand die Rüstungskommission IVa damit ein, dass die den „Ostarbeitern“ zugeteilten Lebensmittelmengen zum Überleben nicht ausreichten. Die Verantwortung für die Arbeitsfähigkeit der sowjetischen Arbeiter schob die Rüstungskommission in der Folge einfach an die Unternehmen ab, indem sie diesen Ratschläge dazu erteilte, wie sie die Ernährung ihrer Arbeiter aufbessern sollten. Die Rüstungskommission riet dazu, mit Gemüsehändlern und Metzgern Abkommen über die Lieferung von Restgemüse und Restknochen zu treffen sowie die in der eigenen Werksküche anfallenden Reste und Abfälle zugunsten der sowjetischen Arbeiter zu verwerten.338 Faktisch liefen die Empfehlungen einfach auf eine kollektive statt individuelle Verwertung des Abfalls hinaus. Die Ernährungssituation dürfte damit kaum wesentlich verbessert worden sein. Doch auch ohne Friedensburgs Ermahnungen hatten schon im Sommer und Herbst 1942 Chemnitzer Firmen ebenso wie manche andere Unternehmen in anderen Reichsgebieten,339 die sich auf die Arbeitskraft der „Ostarbeiter“ angewiesen sahen, zum Teil versucht, die kärglichen Rationen durch Eigeninitiative etwas aufzubessern: „Es ist den Werken DKK, Siegmar und Rößlerstraße gelungen“, so notierte ein Werksleiterprotokoll der Auto Union AG im Oktober

335 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 14). 336 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 7). 337 Rüstungskommission IVa, Friedensburg, am 15.12.1942, Behandlung der Ostarbeiter (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 338 Vgl. ebd. 339 Vgl. z. B. Peters, Rüstungspolitik, S. 340 f.; Gringmuth, Zwangsarbeit, S. 309.

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1942, „für ihre eingesetzten Ostarbeiter zusätzliche Lebensmittel für deren Verpflegung zu erhalten. Für die Werke DKW, Audi und Horch hat diese Möglichkeit nicht bestanden, sodass […] ein interner Ausgleich versucht werden soll.“340 Obwohl Anfang Oktober 1942 die Lebensmittelrationen der „Ostarbeiter“ um etwa zehn Prozent angehoben wurden und das Rübenschnitzelbrot als obligatorischer Bestandteil der Nahrung entfiel,341 scheint dies die Situation in der Praxis nicht wesentlich verbessert zu haben. Jedenfalls notierte die kaufmännische Werksdirektion der Auto Union AG noch im November 1942: „Unzulänglich ist die Zuteilung der Russenverpflegung der Menge nach, obgleich sie in der letzten Zeit bei Kartoffeln und Brot aufgebessert worden ist. Fleisch und Fett werden weniger zugeteilt als bei anderen Ausländern.“342 Wie viel die Arbeiter von den behördlich vorgesehenen kargen Rationen tatsächlich erhielten, dürfte ebenso wie in anderen Reichsteilen343 stark von der örtlichen Versorgungslage auch der deutschen Bevölkerung sowie vom Grad der Korruption beim für die Verteilung zuständigen Personal abhängig gewesen sein. Offenbar erhielt beispielsweise die Arno & Moritz Meister AG in Erdmannsdorf für ihre „Ostarbeiterinnen“ die diesen eigentlich zustehenden Fleischrationen von 250 Gramm pro Woche nicht immer in voller Höhe: In einer Zusammenstellung über die entsprechenden Lebensmittelzuteilungen vom Dezember 1942 heißt es: „Fleisch, soweit eine Zuteilung erfolgt, höchstens aber 250 Gramm pro Woche.“344 Bei der Auto Union AG kam es immer wieder zur Veruntreuung von Lebensmitteln in den Küchenbetrieben.345 Berücksichtigt man dann noch das unterschiedliche Engagement und den unterschiedlichen Erfolg einzelner Firmen bei der Organisation zusätzlicher Nahrungsmittel, so ergaben sich selbst in einer so begrenzten Region wie dem Chemnitzer Raum unterschiedliche Versorgungsniveaus. Auch 1943 blieb die Ernährungslage konstant schlecht oder wurde gar schlechter. Im April ermahnte die DAF Flöha die Lagerführer ihres Kreises, darauf zu achten, „dass die den Ostarbeitern zur Verfügung stehenden Lebensmittel restlos denselben zugeführt werden und vor allem aber eben, weil hierzu nicht viele Mittel zur Verfügung stehen, zusätzlich Dinge verabreicht werden müssen, z. B. Kohlrüben, die es ja gibt, oder andere Nahrungsmittel, die nicht

340 Protokoll der Werksleitersitzung der Auto Union AG am 22.10.1942 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 331–337, hier 335). 341 Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 104 f. 342 Auto Union AG, KWD, an Hahn am 22.11.1942, Stellungnahme zu der Tagesordnung für die Tagung des Rüstungskommandos am 24.11.1942 (StAC, Auto Union AG, 865, Bl. 72–74, hier 72). 343 Vgl. Heusler, Ausländereinsatz, S. 309 f., 332–334; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 105; Rathkolb, Zwangsarbeit, S. 699. 344 Arno & Moritz Meister AG am 5.12.1942, Lebensmittelzuteilung für Ostarbeiterinnen vom 16.11.–13.12.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 345 Vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 284.

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bezugsscheingebunden sind“.346 Untersuchungen der Gestapo hätten ergeben, dass sich die Fluchtfälle und Unzufriedenheit von „Ostarbeitern“ in den meisten Fällen auf „unzureichende Verpflegung“ zurückführen ließen.347 Wie viel Rücksicht jedoch selbst pragmatisch denkende Dienststellen, denen an der Aufrechterhaltung der Leistungsfähigkeit der ausländischen Arbeiter gelegen war, meinten, auf die Stimmung in der deutschen Bevölkerung nehmen zu müssen, illustriert eine Äußerung des Rüstungskommandos Chemnitz im April 1943. Wenige Wochen nach der Niederlage von Stalingrad bemerkten die Offiziere in der deutschen Bevölkerung „ein weiteres Abbröckeln von Stimmung und Haltung“.348 Neben den Belastungen der Menschen durch den ständigen Einsatz in Betrieb, Luftschutz, Parteidienst oder Haushalt, sei für die schlechte Stimmung die Tatsache verantwortlich, dass die ausländischen Zivilarbeiter mehr Nahrung erhielten als die deutschen Nomalverbraucher.349 Zum Beweis führte das Rüstungskommando die nachfolgende Tabelle an. Tabelle 1: Lebensmittelrationen von Deutschen und „Ostarbeitern“ im April 1943, nach einer Aufstellung des Rüstungskommandos Chemnitz350 Nahrungsmittelmenge

Deutsche

Ostarbeiter

Fleisch

1 400 g

1 000 g

R-Mehl (Brot)

7 000 g

10 400 g

W-Mehl

2 000 g

----

475 g

520 g

Kartoffeln

20 000 g

28 000 g

Nährmittel

275 g

600 g

Teigwaren

200 g

--

Zucker

450 g

440 g

Käse

125 g

--

Butter

+ 7 035 g

346 DAF-Kreiswaltung Flöha, HA Arbeitseinsatz, Lagerbetreuung: Rundschreiben 6/41 vom 9.4.1943 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 347 Vgl. ebd. 348 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 13 f.). 349 Vgl. ebd. Die ebenfalls im Kriegstagebuch aufgeführte Spalte zur Nahrungsmittelmenge der Westarbeiter wurde hier weggelassen. 350 Ebd., Bl. 14; vgl. auch Peter, Rüstungspolitik, S. 339, der für Herbst 1942 nahezu dieselben Werte für die sowjetischen Zivilarbeiter angibt. Die in der Tabelle genannte Menge von 7035 g Nahrungsmitteln, die den Ostarbeitern angeblich zusätzlich zur Verfügung gestanden haben soll, ist übrigens falsch gerechnet. Es müsste richtig 9035 g heißen.

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An der Tabelle 1 lässt sich zeigen, wie das Rüstungskommando im Gefolge entsprechender Beschwerden der Bevölkerung auf dem Papier scheinbare Vorteile für die Fremden konstruierte: Der Berichterstatter des Kriegstagebuchs rechnete die Menge der zugeteilten Lebensmittel einfach nach Gewicht zusammen, ohne die Verteilung auf die einzelnen Nahrungsmittel und deren unterschiedlichen Nährstoffgehalt zu berücksichtigen. Dadurch ergab sich eine pro Zuteilungsperiode (vier Wochen) um mehrere Kilogramm höhere Lebensmittelzuteilung für die „Ostarbeiter“ als für die Deutschen. Jedoch erhielten nur die Deutschen Weizenmehl, Teigwaren und Käse, außerdem um fast die Hälfte höhere Fleischrationen als die sowjetischen Arbeiter, während die „Ostarbeiter“ sich hauptsächlich von Kartoffeln und Brot ernähren mussten. Ferner suggerierte die Tabelle, dass gleiche Lebensmittelbezeichnungen auch gleiche Qualitäten bedeuteten. Beispielsweise erhielten die „Ostarbeiter“ in Wirklichkeit anders als die Deutschen nur das qualitativ schlechtere Pferdeoder Freibankfleisch. Schließlich enthielt die Auflistung einige Ungereimtheiten. Offenbar fehlte ein Teil der bewirtschafteten Lebensmittel wie Milch oder Quark,351 die die Deutschen, nicht aber die sowjetischen Arbeiter erhielten.352 Die Menge der hier „Butter“ genannten Fettration wurde für die deutschen Normalverbraucher mit 475 Gramm angegeben, obwohl ihnen laut Vorschriften eigentlich 800 Gramm pro Woche zuzuteilen waren. Für die „Ostarbeiter“ wurde ein Wert von 520 Gramm genannt. Möglicherweise wurde hier die gesamte Fettration der sowjetischen Normalverbraucher, die im Übrigen nicht aus Butter, sondern aus minderwertigeren Fetten bestand,353 der Butterration der deutschen Normalverbraucher gegenübergestellt, welche durch andere Fette ergänzt wurde.354 Bei den Deutschen wurde außerdem bereits mit den erst zum 1. Mai 1943 gesenkten Fett- und Fleischzuteilungen für die deutschen Normalverbraucher gerechnet.355 Das Rüstungskommando, das selbst häufig genug Beweise für die ungenügende Verpflegung der sowjetischen Arbeiter erhalten hatte, durchleuchtete die beschriebene Wahrnehmung der Bevölkerung nicht etwa kritisch, sondern machte sich deren Bewertungen zu eigen und gab sie unkommentiert an die nächsthöhere Instanz weiter. Wie anderswo auch356 überwog auch im Rüstungskommando Chemnitz die Angst vor Protesten der deutschen Bevölkerung den Wunsch, die Arbeitsleistung der Zwangsarbeiter über eine angemessene Ernährung weiter zu steigern. In der Folgezeit verschlechterte sich die Ernährungssituation der sowjetischen Arbeiter in der Region weiter. Im Herbst 1943 senkte das Regime wegen der schlechten Ernte die Kartoffelzuteilungen für alle Bevölkerungs351 Vgl. Corni/Gies, Brot, S. 565. 352 Vgl. Heusler, Ausländereinsatz, S. 328. 353 Vgl. ebd. 354 Vgl. zur Ration der deutschen Normalverbraucher Corni/Gies, Brot, S. 566. 355 Ebd., S. 566. 356 Vgl. Rathkolb, Zwangsarbeit, S. 700 f.

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gruppen.357 Dazu kam, dass im Frühjahr 1944 die Versorgungslage in der Region Chemnitz-Zwickau offenbar angespannter war als in anderen Regionen, wie Klagen von Arbeitern und Angestellten belegen, die mit ihren Betrieben aus anderen Reichsteilen nach Südwestsachsen versetzt worden waren.358 Deshalb wurden ähnlich wie im Raum Stuttgart359 auch in Südwestsachsen die den sowjetischen Arbeitern zustehenden Kartoffelzuteilungen an die Betriebslager nicht vollständig ausgeliefert. Ersatzweise erhielten die Rüstungsunternehmen Hülsenfrüchte und Trockengemüse, das die fehlenden Kartoffeln ihren Beobachtungen nach aber nicht ersetzen konnte.360 Der Berichterstatter des Arbeitsamtes Olbernhau notierte im Februar 1944, dass die Beschwerden über die Verpflegung der sowjetischen Arbeiter zunahmen, und führte danach aus: „Dabei darf nicht verkannt werden, dass es immerhin einigermaßen Geschick [sic!] erfordert, die Ostarbeiter mit gutem und schmackhaftem Essen zu befriedigen. Es ist zu berücksichtigen, dass sie grundsätzlich für schwerste und schlechteste Arbeit herangezogen werden und dabei mit ihren Leistungen nicht hintenanstehen. Erwünscht ist es deshalb, ihnen dieselben Rationen wie den anderen Nationen zuzuerkennen.“361 In dieser Formulierung ist eine gewisse Anerkennung für die Arbeitsleistung der eigentlich verachteten „Ostarbeiter“ unverkennbar. Weil 1944 durch den Rückzug der Deutschen aus der Sowjetunion dort immer weniger Arbeitskräfte zwangsrekrutiert werden konnten und gleichzeitig der Wirtschaft durch die Einberufungen immer mehr Arbeitskräfte verloren gingen, gewann die Arbeitskraft des einzelnen Zwangsarbeiters an Wert. Das Regime glich daher im August 1944 die Nahrungsmittelsätze der „Ostarbeiter“ und der sowjetischen Kriegsgefangenen denjenigen der Kriegsgefangenen anderer Nationen an. Allerdings galt dies nicht generell, denn gleichzeitig wurde eine sogenannte Leistungsernährung eingeführt, wonach überdurchschnittliche Arbeitsleistungen mit besonders hohen Rationen belohnt, unterdurchschnittliche Leistungen mit Essensentzug bestraft werden sollten.362 Das ausgeklügelte System war freilich in der Praxis kaum umzusetzen: Es sei schwierig, sich über die tatsächlichen Leistungen des einzelnen ein so genaues Bild zu machen, stellten die Werkleiter der Auto Union AG fest: „Die Werke haben daher von dieser Einstufungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht, sondern es im Wesentlichen beim Alten belassen. Es wurde aber in diesem Zusammenhang angeregt, dass

357 Vgl. ebd., S. 567. 358 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BAMA Freiburg, RW 21/11–19, Bl. 4–60, hier 19). 359 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 107. 360 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BAMA Freiburg, RW 21/11–19, Bl. 19). 361 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 362 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 108 f.; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 128 f.

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besonders gute Leistung durch eine reichlichere Zuteilung der Essensportionen anerkannt werden soll.“363 Wenige Monate später bezeichneten die Werkleiter die sogenannte Leistungsernährung generell als nicht durchführbar. Auch Bestrafungen für Mitarbeiter anderer Nationen durch Essensentzug müssten unterbleiben: „Der allgemeine Körperzustand der Ausländer ist heute ein derartiger, dass es ausgeschlossen ist, durch eine solche Maßnahme eine allgemeine Leistungserhöhung durchzuziehen.“364 Eine Auflistung des Ernährungsamtes Chemnitz über die Verpflegungssätze der „Russen“ im Winter 1944/45 zeigt, dass sich der Umfang der ihnen staatlich zugemessenen Normalverbraucher-Rationen trotz der nominellen Gleichstellung mit den Kriegsgefangenen anderer Nationen gegenüber April 1942 eher noch verringert hatte: Während die Mengen an Brot, Fett und Zucker etwa gleich hoch waren, erhielten die sowjetischen Arbeiter pro Woche nur noch 200 statt früher 250 Gramm Pferde- oder Freibankfleisch, 5 000 Gramm Kartoffeln statt 5 250 Gramm, 87,5 Gramm Nährmittel statt 150 Gramm, dafür immerhin aber 62,5 Gramm Teigwaren. Das „Gemüse nach Aufkommen“ entsprach 2 Kilogramm Steckrüben.365 Doch auch wenn die Ostarbeiter diese auf dem Papier stehenden Rationen in vollem Umfang erhalten haben sollten, was angesichts des nahenden Kriegsendes durchaus zweifelhaft ist, reichten sie zur Sicherung ihre Arbeitskraft nicht aus. Bei der Versorgung mit Kleidern und alltäglichen Gebrauchsgegenständen wiederholte sich dasselbe Muster wie bei der Versorgung mit Lebensmitteln. Textilien und Schuhe waren beispielsweise schon vor dem Krieg wegen der staatlichen Beschränkungen für die Textilproduktion knapp gewesen. Wie in anderen Reichsteilen366 verschärfte sich dieser Mangel aufgrund der Auskämmungen und Stilllegungen in der Konsumgüterproduktion auch in Sachsen während des Krieges weiter.367 Er traf besonders die zwangsverschleppten Menschen aus den besetzten Gebieten, die bei ihrer Ankunft häufig nur das besaßen, was sie auf dem Leibe trugen, und anders als die Einheimischen nicht auf Reserven aus der Vorkriegszeit zurückgreifen konnten. Am schwierigsten war die Situation derer, die im Sommer deportiert wurden und wie die im Juni 1942 eintreffenden „Ostarbeiter“ der Firma Reinecker AG nur ihre Sommerkleidung trugen.368 363 Auto Union AG, Protokoll der Werksleitersitzung am 27.9. und 5.10.1944 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 237). 364 Auto Union AG, Protokoll der Werksleitersitzung am 25.1.1945 (ebd., Bl. 214–220, hier 220). 365 Eigene Berechnungen nach Ernährungsamt, Abt. B Chemnitz, o. D., Verpflegungssätze der 58. Zuteilungsperiode vom 10.1.1943 [sic]–6.2.1944 für sowjetische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 2522/1, unpag.). 366 Vgl. z. B. Heusler, Ausländereinsatz, S. 319 f. für München. 367 Vgl. die Beobachtungen des Statistischen Landesamtes Sachsen zur Preis- und Versorgungslage für die Jahre 1940–1942 (SächsHStAD, Ministerium für Wirtschaft, 1558b, passim). 368 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 6).

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Die Propaganda-Berichte von den „primitiven“ Lebensverhältnissen der sowjetischen Bevölkerung und ihrer darauf beruhenden angeblichen Anspruchslosigkeit prägten auch die Anweisungen zur Versorgung der sowjetischen Zwangsarbeiter mit Kleidung. Die Mitte Dezember 1941 vom Rüstungskommando Chemnitz versandten Richtlinien für den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter enthielten die Formulierung, Unterwäsche sei „den Russen im allgemeinen ungewohnt und kaum bekannt“.369 Bezugsscheine für Kleidung sollten den „Ostarbeitern“ nur in Ausnahmefällen ausgestellt werden und lediglich dem Zweck dienen, ihre Arbeitsfähigkeit zu erhalten.370 Das Landeswirtschaftsamt Sachsen bestimmte darüber hinaus, dass jede sowjetische Arbeitskraft für ihre Schlafstatt „2 Grobgarndecken oder ersatzweise 2 Baumwolldecken“371 erhalten sollte. Jeder Person war ein halbes Handtuch zugeteilt, sodass sich je zwei Menschen ein einziges Handtuch teilen mussten.372 Ein Wechsel der Handtücher war offenbar nicht vorgesehen. Hier griff die ideologisch geprägte Vorstellung von den Fremden als primitive Menschen ebenfalls, wie die Diskussion von Vertretern des Zwickauer Horch-Werks der Auto Union AG mit dem Zwickauer Arbeitsamt Anfang 1943 über eben jenes eine Handtuch zeigt: Die Anwesenden kamen zu dem Ergebnis, dass es den Arbeitern auch vorenthalten werden könne, da in Russland in vielen Familien ohnehin höchstens ein Handtuch vorhanden sei.373 In dringenden Fällen sollten die Firmen den bei ihnen eingesetzten „Ostarbeitern“ aus der Altkleidersammlung Kleidung besorgen, wobei nur „verschmutzte und stark ausbesserungsfähige Kleidung“374 zur Verfügung gestellt werden durfte, für die die Firmen zudem noch hohe Preise zu zahlen hatten.375 Doch war dies keine Lösung, weil die Unternehmen auch auf diese Weise nicht genug Kleidung und Schuhe erhalten konnten,376 obwohl auf die Versorgung

369 Richtlinien für den Arbeitseinsatz sowjetischer Kriegsgefangener und freier russischer Arbeiter, o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 21–11/9, Bl. 53). 370 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 111; Landeswirtschaftsamt Sachsen am 29.6.1942, Rundverfügung Nr. 235/42 T. betr. Versorgung der Zivilrussen und Zivilrussinnen mit Spinnstoffwaren und Schuhen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 371 Ebd. 372 Vgl. ebd. 373 Vgl. Schaller, Arbeiter, S. 118. 374 Landeswirtschaftsamt Sachsen am 29.6.1942, Rundverfügung Nr. 235/42 T. betr. Versorgung der Zivilrussen und Zivilrussinnen mit Spinnstoffwaren und Schuhen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.); vgl. auch Hockert, Zwangsarbeit, S. 89 f. 375 Vgl. Landeswirtschaftsamt Sachsen am 29.6.1942, Rundverfügung Nr. 235/42 T. betr. Versorgung der Zivilrussen und Zivilrussinnen mit Spinnstoffwaren und Schuhen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 376 Vgl. Wanderer-Werke AG, Betriebsobmann und soziale Verwaltung am 16.9.1942, Rundschreiben Nr. 868 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 681, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).

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mit Unterwäsche sowie Strümpfen ganz verzichtet wurde.377 Es gibt Hinweise ­darauf, dass eine Ende 1942 begonnene reichsweite Sonderaktion zur Fertigung von sogenannter Ostarbeiterkleidung angesichts des Arbeitskräftemangels und der daraus resultierenden Einschränkung der Konsumgüterfertigung auch in einem Textilproduktionsgebiet wie dem Chemnitzer weitgehend ohne Wirkung blieb.378 Die Rüstungskommission IVa entließ wie bei der Ernährung auch bei der Bekleidung der Zwangsarbeiter Ende 1942 den Staat gewissermaßen aus der Verantwortung und schob diese den Firmen zu, die die Arbeiter beschäftigten: Es sei die Pflicht des Unternehmers, so hieß es im Dezember 1942, „für die ausreichende Bekleidung dieser Leute nach bestem Vermögen selbst zu sorgen“,379 indem er die Sammlung und Instandsetzung alter und unbrauchbarer Kleidung organisiere.380 Ein sicher nicht untypisches Beispiel für behördliche Weigerungen, die Zwangsarbeiter zu versorgen, war das Verhalten des sächsischen Landeswirtschaftsamtes im September 1944, als es von der Auto Union AG gebeten wurde, die beim Luftangriff auf das Werk Siegmar vernichtete Kleidung von „Ostarbeitern“ und KZ-Häftlingen zu ersetzen. Dies lehnte das Landeswirtschaftsamt nicht nur ab, sondern warf dem Unternehmen sogar vor, Belegschaftszahlen gefälscht zu haben.381 So waren die Firmen weitgehend auf sich gestellt. Die Wanderer-Werke AG hatte beispielsweise kurz nach Eintreffen der ersten „Ostarbeiter“ die Initiative ergriffen und ihre deutschen Mitarbeiter gebeten, der Firma alte Kleidungsstücke und Schuhe zu verkaufen, damit diese an die ausländischen Arbeitskräfte weitergegeben werden könnten. Freilich diente die Initiative auch dazu, unerwünschte Kontakte zwischen Deutschen und ausländischen Arbeitern und individuelle spontane Hilfen der deutschen Mitarbeiter zu unterbinden, denn, so begründeten Betriebsobmann und Abteilung Soziale Verwaltung: „Bestimmend für diese Maßnahme war der Umstand, dass einmal verschiedene Gefolgschaftsmitglieder den Bestimmungen der DAF zuwider die Ausländer schon mit solchen Sachen beschenkt haben, zum anderen aber besonders bei den Ostarbeitern ein krasser Mangel an Bekleidung und Schuhwerk besteht, der in Ansehung des nahen Winters und der damit infolge zu geringer Kleidung verbundenen Krankheitsgefahr berechtigte Befürchtungen aufkommen lässt. Die Schaffung einer werkseigenen Kleiderkammer und die Einschaltung des Lagerführers ist übrigens auch der einzige Weg einer gerechten Verteilung.“382

377 Vgl. Landeswirtschaftsamt Sachsen am 29.6.1942, Rundverfügung Nr. 235/42 T. betr. Versorgung der Zivilrussen und Zivilrussinnen mit Spinnstoffwaren und Schuhen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 378 Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 115. 379 Rüstungskommission IVa, Friedensburg, am 15.12.1942, Behandlung der Ostarbeiter (StAC, Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.). 380 Vgl. ebd. 381 Vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 283 f. 382 Wanderer-Werke AG, Betriebsobmann und soziale Verwaltung am 16.9.1942, Rundschreiben Nr. 868 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 681, unpag.).

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Das Beispiel verdeutlicht auch, dass das Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber den Fremden differenziert gesehen werden muss: Diffuse, zum Teil von der Propaganda und entsprechenden Institutionen wie der Gestapo geschürte Ängste der Deutschen etwa davor, dass die Ausländer ihnen materielle Ressourcen entziehen würden, bezogen sich vielfach auf die anonyme Gruppe. Daneben gab es auch immer wieder Deutsche, die, mit der unmittelbaren Not der einzelnen fremden Menschen konfrontiert, spontane Hilfe leisteten. Mögen Kleidersammlungen der einzelnen Unternehmen, die auf Anregung der DAF auch in anderen Reichsgebieten wie beispielsweise in München stattfanden,383 den aus den besetzten Ostgebieten verschleppten Menschen auch zu einem Mindestmaß an Bekleidung und Schuhwerk verholfen haben, eine umfassende Beseitigung der eklatanten Missstände war dadurch nicht möglich. Die Klagen von Behörden und Institutionen über den Mangel an Bekleidung und Schuhwerk, unter dem ausländische Arbeitskräfte und insbesondere die „Ostarbeiter“ litten, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Kriegsjahre.384 Auch die Versorgung der sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter mit Unterkünften war Sache der Unternehmen. Von einem Engagement einzelner Städte, die als Wirtschaftsförderungsmaßnahme für ihre Unternehmen Barackenlager errichteten und verwalteten,385 ist aus der Region Chemnitz, anders als aus Württemberg, nichts bekannt. Eine zur Unterstützung der Unternehmen eingerichtete Kommission verschiedener lokaler Herrschaftsträger sollte lediglich Stilllegungen geeigneter Firmen in die Wege leiten.386 Außerdem führte die IHK Chemnitz eine Liste von Firmen, die daran interessiert waren, sich am Bau gemeinschaftlicher Lager zu beteiligen.387 Die ab Mai 1942 über das Durchgangslager Chemnitz eintreffenden sowjetischen Arbeitskräfte sollten zunächst provisorisch untergebracht werden, weil Baustoffe knapp waren und sich der Barackenbau dadurch verzögerte.388 Allein im Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz fehlten im Juni 1942 zwischen 2 400 und

383 Vgl. Heusler, Ausländereinsatz, S. 321. 384 Vgl. z.  B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); RüKdo Chemnitz, Bericht betr. überbetrieblichen Erfahrungsaustausch über den Ausländereinsatz am 1.12.1942 (BAMA Freiburg, RW 20/11–13, Bl. 80–81, hier 81); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); der Rüstungsobmann IVa des RMfBuM, Hans Führer, an die von Ausschüssen und Ringen betreuten sächsischen Firmen am 26.7.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.); Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 283 f. 385 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 73–75, 80 f. 386 IHK Chemnitz, Dr. Linse, am 4.7.1942, Aktennotiz betr. Beschaffung von provisorischen Unterkünften für ausländische Arbeiter (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.). 387 Vgl. SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, passim. 388 Vgl. Besprechung der Arbeitsamtsleiter der AG Chemnitz am 9.6.1942 (StadtA Chemnitz, AA Chemnitz 5, Bl. 106–109, hier 108).

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6 000 Unterkunftsplätze.389 Der Präsident der IHK Dresden empfahl deshalb den Industrie- und Handelskammern in Sachsen, Betriebshallen und Werkstätten stillgelegter Betriebe auf Umbaumöglichkeiten hin zu überprüfen. Dabei sei auf bestimmte Mindeststandards zu achten: „Hinreichende Wasch- und Bedürfnisanstalten müssen vorhanden sein. Zunächst sind die Betriebe heranzuziehen, die über Wirtschaftseinrichtungen wie Küchen, Essräume usw. verfügen.“390 Solche Überlegungen waren in großen Teilen der Region nicht ohne weiteres umsetzbar, weil es sich bei den bisherigen Stilllegungen meist um Kleinund Kleinstbetriebe gehandelt hatte, deren Räumlichkeiten die geforderten Voraussetzungen nicht erfüllten.391 Darüber hinaus gestaltete sich die Versorgung mit Einrichtungsgegenständen schwierig. Der Leiter des Arbeitsamts Lugau stellte im Juni 1942 für seinen Bezirk fest, dass es an allem mangele, „was für eine geordnete Lagerunterbringung selbst bei bescheidensten Ansprüchen erforderlich ist.“392 Im Oktober 1942 existierten allein im Chemnitzer Stadtbezirk über 130 Lager für ausländische Zivilarbeiter mit etwa 5 600 Insassen, von denen rund 3 750 sogenannte Ostarbeiter waren. Weitere 2 600 Ausländer, unter ihnen etwa 1 700 „Ostarbeiter“, lebten in knapp 70 Lagern im Landgebiet des Chemnitzer Arbeitsamtsbezirks, das unter anderem die Industriestadt Siegmar-Schönau umfasste.393 Die Lager waren meist in ehemaligen Gaststätten, abgeteilten Fabrik­ räumen und Ziegeleien eingerichtet worden. Daneben gab es wahrscheinlich eigens errichtete Barackenlager. Während in vielen Lagern mehrere Nationalitäten wohnten, wurden die sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Regel von den übrigen Nationen isoliert.394 Viele dieser Lager waren provisorisch und in aller Eile eingerichtet worden. Bei der Firma Pornitz & Co. in Chemnitz hausten sowjetische Zivilarbeiter bei-

389 Vgl. zu den unterschiedlichen Einschätzungen AA Chemnitz an IHK Chemnitz am 23.6.1942 betr. Unterbringung ausländischer Arbeiter (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.); IHK Chemnitz, Dr. Linse, am 4.7.1942, Aktennotiz betr. Beschaffung von provisorischen Unterkünften für ausländische Arbeiter (ebd.). 390 Der Präsident der IHK Dresden an die Vorsitzenden der Kreisausschüsse vom 27.6.1942 betr. Unterbringung ausländischer Arbeiter (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.). 391 Vgl. z. B. IHK Chemnitz an AA Olbernhau am 25.6.1942 betr. Unterbringung ausländischer Zivilarbeiter (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.); IHK Chemnitz an das AA Flöha am 24.6.1942 betr. Unterbringung ausländischer Arbeiter (ebd.); der Präsident der IHK Dresden an die Vorsitzenden der Kreisausschüsse vom 27.6.1942 betr. Unterbringung ausländischer Arbeiter (ebd.). 392 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); vgl. zu Unterbringungsproblemen auch RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/11, Bl. 20). 393 Eigene Berechnungen nach Arbeitsamt Chemnitz am 16.10.1942, lagermäßig untergebrachte in- und ausländische Arbeitskräfte im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 2300/31, Bl. 70–80). 394 Ebd.

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spielsweise in einem ehemaligen Materialschuppen, der sich bei einem Besuch des Rüstungskommandos Chemnitz „in keinem guten Zustand“ befand und nach der Beurteilung der Offiziere „sehr eng belegt“ war.395 Die Zustände bei Pornitz & Co. waren kein Einzelfall. Mindestens für Chemnitz und Siegmar-Schönau ist eine chronische Überbelegung der Lager anzunehmen. Bereits im November 1942 berichtete das Arbeitsamt Chemnitz, dass die Unterbringungsfrage jetzt zur brennenden Frage geworden sei. Sämtliche Lager seien „vollgestopft“, und leer stehende Räume gebe es nicht mehr.396 Im Dezember erklärte die Behörde, die mehr als 2 000 neu eingetroffenen ausländischen Zivilarbeiter würden zwar dringend gebraucht, seien aber räumlich kaum mehr unterzubringen.397 Ähnlich wie beispielsweise in den industriellen Schwerpunkten Württembergs398 blieb die Frage der Unterbringung von ausländischen Arbeitern in Chemnitz ein Dauerproblem.399 Unter den geschilderten Umständen ist es nicht verwunderlich, dass sich in den Lagern Ungezieferplagen ausbreiteten, eine Situation, die im weiteren Verlauf des Krieges noch dadurch verschärft wurde, dass die zur Entwesung benötigten Desinfektionsmittel zur Mangelware wurden.400 Dem Unterkünftemangel in Chemnitz und Siegmar-Schönau stand die Ressourcenverschwendung im Umland gegenüber: Dort richteten oft solche Firmen Lager ein, die schon aufgrund ihres Produktionsprofils wenig Chancen hatten, in den Genuss ausländischer Arbeitskräfte zu kommen. So standen im Arbeitsamtsbezirk Lugau Ende August 1942 Unterkünfte für 500 ausländische Arbeiter leer, die fast ausschließlich von Firmen errichtet worden waren, die weder Waffen noch Kriegsgeräte oder Munition fertigten.401 Wer den fehlgeleiteten Bau bzw. die fehlgeleitete Rekrutierung von Unterkünften letztlich verantwortete, ist schwer festzustellen. Die regionalen Verantwortungsträger in IHK, Arbeitsämtern, Rüstungskommando und der Stadt Chemnitz hatten im Juni 1942, also noch bevor der Großteil der ausländischen Arbeitskräfte eintraf, befürchtet, es könnten ihnen Arbeitskräfte entgehen, weil sie die vorgeschriebenen Unterkünfte nicht nachweisen könnten. Indem sie die ­Unterbringungsfrage zur 395 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 7). 396 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 397 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Dezember 1942 (ebd.); vgl. auch Protokoll der Besprechung der Arbeitsgemeinschaft Chemnitz der Arbeitsämter am 18.12.1942 (StadtA Chemnitz, AA Chemnitz 5, Bl. 179 f., hier 180). 398 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 91 f. 399 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im Januar 1943, im Mai 1943 und im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); zur Unterbringung ausländischer Arbeitskräfte bei der Auto Union AG Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 280 f. 400 Vgl. DAF-Kreiswaltung Flöha, HA Arbeitseinsatz am 19.7.1944, Rundschreiben Nr. 20/7/44 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha 932, unpag.). 401 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).

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wichtigsten Frage des Arbeitseinsatzes erklärten,402 leisteten sie möglicherweise dem unkoordinierten Bau von Unterkünften Vorschub. Gleichzeitig scheinen vielfach Illusionen hinsichtlich eines schier unendlichen Arbeitskräftereservoirs in der Sowjetunion geherrscht zu haben. Bereits im August 1942 musste das Rüstungskommando Chemnitz feststellen: „Die herausgegebene Parole ‚Fordert ausländische Arbeitskräfte‘ hat in der Wirtschaft teilweise eine erhebliche Verwirrung verursacht. Vielfach haben Betriebe auf Grund der in Aussicht gestellten Zuweisung ausländischer Arbeitskräfte neue Aufträge hereingenommen. Räume wurden in beträchtlichem Umfange gemietet und teilweise beschlagnahmt. Ferner wurden unter Einsatz großer Mengen wertvollen Materials Unterkünfte ausgebaut und Baracken erstellt. Wie die Erfahrung lehrt, scheint es aber aussichtslos, dass die Ausländer auch nur annähernd in der geforderten Menge kommen.“403 Die Tatsache, dass die Unterkünfte in der Regel auf Kosten und in der Regie der Unternehmen entstanden, die sich neue Arbeitskräfte erhofften, behinderte den Ausgleich von Unterkunftsplätzen zwischen den einzelnen Unternehmen. In allen Bereichen der materiellen Versorgung, ob bei der Ernährung, der Bekleidung oder der Versorgung mit Unterkünften, ist stets dasselbe Muster erkennbar: Angesichts des allgemeinen Mangels entzog sich die staatliche Verwaltung der Verantwortung für die vom NS-Staat verschleppten Menschen und wälzte sie auf die Unternehmen ab. Das galt auch für diejenigen Verwaltungsmitarbeiter, die im Prinzip anerkannten, dass die ausländischen Arbeitskräfte ein Mindestmaß an Versorgung benötigten, um die geforderten Arbeitsleistungen zu bringen. Die Folge davon war, dass die Versorgungssituation der sowjetischen Arbeiter wesentlich vom Verhalten der Unternehmen abhängig war, in dem sie beschäftigt waren. Die Abwälzung der Verantwortung auf die Unternehmen führte auch zur Verschwendung der ohnehin knappen Ressourcen, weil sie nicht bedarfsorientiert gelenkt wurden, wie etwa bei der Erstellung von Unterkünften zu sehen war. Mark Spoerer unterscheidet „Stadt und Land“ als einen der Faktoren, die die soziale Diskriminierung und die Überlebenschancen der Zwangsarbeiter bestimmten.404 Dieser Unterschied spielte auch in der Untersuchungsregion eine Rolle, wie etwa bei Unterkünften gezeigt werden konnte. Die Versorgung der ausländischen Arbeiter variierte jedoch durch die sukzessive Verlagerung der Verantwortung von der Verwaltung zu den Unternehmen auch innerhalb einer Region unter Umständen erheblich.

402 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 4.7.1942, Aktennotiz betr. Beschaffung von provisorischen Unterkünften für ausländische Arbeitskräfte (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.). 403 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 12). 404 Vgl. Spoerer, Differenzierung, S. 573 f.

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5.4

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Arbeitsbedingungen und Löhne

Im Mai 1944 arbeiteten „Ostarbeiter“ in nahezu allen Wirtschaftszweigen der Region, allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Der typische Arbeitsplatz für diese Zwangsarbeitergruppe befand sich im rüstungsrelevanten Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Fahrzeugbau, der mehr als ein Drittel aller Arbeitskräfte aus den sogenannten altsowjetrussischen Gebieten in der Region beschäftigte.405 Die Landwirtschaft, in der ersten Kriegshälfte ein bevorzugtes Einsatzgebiet für ausländische Zwangsarbeiter, spielte in der Region während des Jahres 1944 bei der Beschäftigung der sowjetischen Arbeiter nur eine untergeordnete Rolle. Signifikante Unterschiede zwischen den Einsatzgebieten der Geschlechter lassen sich in der Textilindustrie erkennen, die fast ausschließlich Frauen beschäftigte, sowie umgekehrt bei der Reichsbahn bzw. den Reichsautobahnen, wo fast nur Männer zu finden waren.406 Dagegen spielte die für den noch relativ freien deutschen Vorkriegsarbeitsmarkt übliche männliche Dominanz im Maschinen- und Fahrzeugbau beim sowjetischen Zwangsarbeitereinsatz kaum eine Rolle. 1944 war knapp die Hälfte aller im Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz eingesetzten Ostarbeiterinnen in diesem Wirtschaftszweig tätig.407 Innerhalb des Regierungsbezirks gab es beim Einsatz der sowjetischen Zwangsarbeiter regionale Unterschiede, die sich im Wesentlichen auf die Wirtschaftsstruktur der einzelnen Arbeitsamtsbezirke zurückführen lassen. Das industrielle Kerngebiet Chemnitz-Siegmar-Schönau408 beschäftigte im März 1944 mit etwa 9 000 Menschen knapp zwei Drittel und damit den größten Teil der rund 15 000 in der Region eingesetzten sowjetischen Zwangsarbeiter.409 Dies entsprach seiner zentralen Bedeutung für die Rüstungsindustrie der Region. Kennzeichnend ist dafür auch, dass rund 45 Prozent aller „Ostarbeiter“ des Arbeitsamtsbezirks Chemnitz im Maschinen-, Apparate- und Fahrzeugbau

405 Vgl. LAA Sachsen, Die ausländischen und die protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten nach Wirtschaftszweigen (Form 4b), getrennt erhoben nach Männern und Frauen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau am 15.5.1944, Rubriken „Ostarbeiter (altsowjetrussische Gebiete)“; „17. Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Fahrzeugbau“ (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/2, unpag.). 406 Vgl. ebd., Rubriken „31. Textilindustrie“ und „45. Reichsbahn, Reichsautobahnen“. 407 Eigene Berechnung nach LAA Sachsen, Die ausländischen und die protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten (Form 4b) nach Wirtschaftszweigen, getrennt erhoben nach Männern und Frauen für den Arbeitsamtsbezirk Chemnitz am 15.5.1944, Rubriken „Ostarbeiter (altsowjetrussische Gebiete)“; „17. Maschinen-, Kessel- und Apparatebau“ (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/2, unpag.). 408 Gebiet des AA Chemnitz. 409 Eigene Berechnungen nach: Die ausländischen und protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten im Großdeutschen Reich nach Arbeitsamtsbezirken am 31.3.1944 (Rubrik Ostarbeiter). In: Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich, (1944) 6/7/8 [Dreifachheft, erschienen am 21.8.1944], S. 33. Zusammengerechnet wurden die Zahlen der Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau sowie Olbernhau und den Zahlen des AA-Bezirks Chemnitz gegenübergestellt.

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a­ rbeiteten, während in den Arbeitsamtsbezirken des Umlands meist weniger als 10 Prozent dort beschäftigt waren.410 Umgekehrt war im ländlicher geprägten Umland der Anteil derjenigen „Ostarbeiter“ deutlich höher, die in der Landwirtschaft eingesetzt waren: Er erreichte dort in den einzelnen Arbeitsamtsbezirken Werte zwischen 23 Prozent in Annaberg und 48 Prozent in Flöha, während im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz lediglich 4 Prozent der sowjetischen Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft arbeiteten.411 Ursprünglich hatte das Regime die „Ostarbeiter“ vor allem zu einfachsten und schwersten Arbeiten einsetzen wollen. Doch während sowjetische Arbeiter in größerer Zahl in der Chemnitzer Region eintrafen, wurde diese Entscheidung allmählich revidiert.412 Ab Juli 1942 wurden sowjetische Arbeiter im Bezirk des Arbeitsamtes Flöha in eine allgemeine Anlern- und Umschulungsmaßnahme der Metallindustrie einbezogen, wenn auch aus Sicht des Arbeitsamtes nur der Mangel an geeigneten deutschen Arbeitern dies nötig machte.413 Gleichzeitig begannen die Arbeitsämter im Sommer 1942 zu überprüfen, inwieweit „Ostarbeiter“ und sowjetische Kriegsgefangene ihrer Berufsausbildung entsprechend eingesetzt waren. Das Arbeitsamt Flöha nahm bis einschließlich August 1942 60 Prozent der bis dahin von „Ostarbeitern“ ausgeübten Tätigkeiten unter die Lupe und stellte nur in 5 Prozent der Fälle einen von der Vorbildung abweichenden Einsatz fest.414 Auch das Arbeitsamt Chemnitz konnte lediglich 18 berufsfremd eingesetzte Zwangsarbeiter ausfindig machen.415 Zwar forderten Chemnitzer Unternehmen mitunter vom Arbeitsamt,416 die Arbeitskräfte bei ihrer Ankunft auf ihre Qualifizierung zu prüfen, doch im Ok-

410 Eigene Berechnung nach LAA Sachsen, Die ausländischen und die protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten nach Wirtschaftszweigen (Form 4b), getrennt erhoben nach Männern und Frauen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau am 15.5.1944, Rubrik „Ostarbeiter (altsowjetrussische Gebiete)“; „17. Maschinen-, Kessel-, Apparate und Fahrzeugbau“ (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/2, unpag.). In absoluten Zahlen arbeiteten 1969 von insgesamt 4 444 „Ostarbeiterinnen“ und 2 470 von insgesamt 5 460 „Ostarbeitern“ im Maschinen-, Kessel-, Apparate- und Fahrzeugbau des Chemnitzer Arbeitsamtsbezirks. Lediglich im Arbeitsamtsbezirk Flöha war mit 31 Prozent aller „Ostarbeiter“ eine ähnlich hohe Prozentzahl in diesem Industriezweig beschäftigt. 411 Eigene Berechnung nach LAA Sachsen, Die ausländischen und die protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten nach Wirtschaftszweigen (Form 4b), getrennt erhoben nach Männern und Frauen für die Arbeitsamtsbezirke Annaberg, Chemnitz, Flöha, Glauchau, Lugau und Olbernhau am 15.5.1944, Rubriken „Ostarbeiter (altsowjetrussische Gebiete)“; „1. Landwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht“ (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/2, unpag.). 412 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 174. 413 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); vgl. auch AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942 (ebd.). 414 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 (ebd.). 415 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942 (ebd.). 416 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 21/11–13, Bl. 68–79, hier 68.).

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tober 1942 schob der GBA die Aufgabe der differenzierten Eignungsprüfung den Arbeitgebern der „Ostarbeiter“ zu und verpflichtete die Arbeitsämter lediglich dazu, den Erfahrungsaustausch von Betrieben zu ermöglichen, die sowjetische Arbeiter beschäftigten.417 Wie anderswo auch waren einige der größeren Unternehmen der Region unabhängig von der staatlichen Erlasslage bereits im Sommer und Herbst dazu übergegangen, die ihnen zugewiesenen „Ostarbeiter“ und andere Arbeitskräfte selbstständig auf ihre Qualifikationen zu testen und sie entsprechend anzulernen. Die Wanderer-Werke AG verwendete zu diesem Zweck eine modifizierte Lehrlingsvorprüfung.418 Bei der Auto Union arbeiteten die Werke Audi und DKW mit Vorschulungen vor dem eigentlichen Einsatz. Die übrigen Betriebe setzten insbesondere in der Massenfertigung auf einen „betriebsnahen“ Einsatz, bei dem die Neuen zusammen mit angestammten Facharbeitern eingesetzt und von diesen angelernt wurden.419 Generaldirektor Max Torkewitz von der Chemnitzer Schubert & Salzer AG erklärte im November 1942, sein Werk habe schon russische Arbeiter zur Schulung nach Dresden gesandt, um sie später als Vorarbeiter einzusetzen.420 Auch die Firma Gebr. Langer, eine Chemnitzer Schraubenfabrik, bildete ungelernte sowjetische Arbeiterinnen und Arbeiter nach einer Einteilung in „5 Intelligenzstufen“ zum „Maschinen- bzw. Hilfsfacharbeiter“ aus. Es sei ihm sogar gelungen, so berichtete Direktor Wilhelm Erlenkötter bereits im Herbst 1942, „Frauen an großen Revolverbänken einzusetzen, die 80–90 Prozent der Männerarbeit erreichten“.421 Über die Arbeitsbedingungen der sowjetischen Zwangsarbeiter speziell lässt sich wenig sagen, weil die Unternehmen bei entsprechenden Berichten und Aufstellungen nur selten zwischen einzelnen Ausländergruppen unterschieden. Im ersten Halbjahr 1943 schwankte etwa bei der Wanderer-Werke AG die tatsächlich geleistete durchschnittliche Wochenarbeitszeit der deutschen wie der ausländischen Männer je nach Abteilung zwischen 49 und 58 Stunden. Auf den Gesamtbetrieb bezogen lagen die Durchschnittsarbeitszeiten ausländischer Männer meist um weniger als eine Stunde über denjenigen der deutschen

417 1339/42 Prüfung von Ostarbeitern im Interesse eines zweckvollen betrieblichen Einsatzes (GBA vom 23.10.1942). In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichs­ treuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 4 (1942), S. 714. 418 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21/11–13, Bl. 70.); überbetrieblicher Erfahrungaustausch über den Ausländereinsatz, veranstaltet durch die DAF am 1.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 20–11/13, Bl. 80–81). 419 Werksleitersitzung der Auto Union AG am 17.9.1942 (Auto Union AG, 587, Bl. 340– 348, hier 346 f.). 420 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 21/11–13, Bl. 70). 421 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 21/11–13, Bl. 70).

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­ rbeiter, in Ausnahmefällen allerdings auch darunter.422 Bei den Frauen waren A die Differenzen größer: Die ganztags arbeitenden deutschen Frauen hatten in ihren Abteilungen durchschnittliche Arbeitszeiten von 48 bis 54, die ausländischen Frauen von bis zu 56,5 Stunden zu leisten. Die Durchschnittszeiten der deutschen Frauen lagen bei Werten um die 45 bis 50 Stunden, bei den ausländischen Frauen steigerten sie sich im Verlauf des ersten Halbjahres 1943 auf etwa 53,5 Stunden.423 Anders als bei der Zeiss Ikon AG in Dresden, wo Ausländer fast 40 Prozent länger arbeiteten als Deutsche,424 hielt das Unternehmen die Mehrbelastung der ausländischen Arbeiter durch verlängerte Arbeitszeiten offenbar in vergleichsweise engen Grenzen. Freilich lässt sich aus solchen Statistiken nicht erkennen, ob osteuropäische Arbeiterinnen und Arbeiter gegenüber den westeuropäischen besondere Nachteile bei der Länge der Arbeitszeit hinnehmen mussten. Überdies verdecken die Zahlenangaben die besonderen Belastungen, denen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wegen ihrer gesetzlichen Benachteiligungen ausgesetzt waren. So mussten „Ostarbeiterinnen“, anders als ihre deutschen Kolleginnen, beispielsweise auch in der Nacht arbeiten.425 Die Härten der Nachtschicht beschreibt die Betriebsärztin der Wanderer-Werke AG nach einer Besichtigung im November 1943: „Die Stimmung war im Allgemeinen gut, doch beklagten sich viele über die große Kälte in einigen Arbeitsräumen. Besonders in der Abteilung B […] waren früh um 4 Uhr nur knapp 14 [Grad Celsius]. Die Frauen hatten eisig kalte Hände, hatten Wolldecken übergelegt und froren sehr. Auch waren viele früh außerordentlich abgespannt und müde. […] Auch das Essen der Russen fand ich gut. Trotzdem klagten einige darüber, dass sie es nicht vertrügen. Etwa zwei Stunden nach dem Essen trat bei mehreren Russinnen Erbrechen auf (bei guten Arbeiterinnen), sodass eine ziemliche Missstimmung herrschte; auch die deutschen Männer, die mit ihnen zusammen arbeiteten, waren unwillig über den dadurch entstandenen Arbeitsausfall. Eine junge Russin hatte ein so heftiges Erbrechen und war so elend, dass ich sie ins Lager schickte.“426

422 Zahlen einschließlich Überstunden; Wanderer-Werke AG, Gefolgschaftsbüro L am 26.1.1943, 5.3.1943, 5.4.1943, 7.5.1943, 12.6.1943, 15.7.1943, Wochendurchschnittsarbeitszeit (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 582, unpag.); dass. I. Quartal 1943, II. Quartal 1943 (ebd.). 423 Ebd. 424 Vgl. Alexander Fischer, Ideologie und Sachzwang. Kriegswirtschaft und „Ausländereinsatz“ im südostsächsischen Elbtalgebiet. In: Fremd- und Zwangsarbeit in Sachsen, S. 12–26, hier 20. 425 Vgl. Richtlinien für den Arbeitseinsatz von Frauen und Jugendlichen, o. V., o. D. (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 101); Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 127; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 148 f.; Rathkolb, Zwangsarbeit, S. 708, Hildt, Zwangsarbeiterinnen, S. 198. 426 Wanderer-Werke AG, Betriebsärztin K. an W. am 16.11.1943 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 582, unpag.).

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Auch bei der Einteilung zur Wochenendarbeit wurden die Zwangsarbeiter nicht selten benachteiligt. Ihre deutschen Vorgesetzten erwarteten bei Benachteiligungen von ihnen den geringsten Widerstand, weil sie in der Betriebshierarchie ganz unten standen. So sah sich im Zschopauer Werk DKW der Auto Union AG der Betriebsobmann genötigt, sich für die Belange der Zwangsarbeiter einzusetzen, weil „die Meister der Einfachheit halber die Ausländer fast jeden Sonntag zur Arbeit bestimmen“.427 Freilich meinte er sich sofort von jedem Verdacht einer zu großen Nachsicht gegenüber den unterprivilegierten Zwangsarbeitern rechtfertigen zu müssen: „Obwohl Betr[iebs]Obm[ann] F. für die Ausländer keine Lanze brechen möchte, schlägt er vor, doch nach 2-mal Sonntagsarbeit einen freien Sonntag einzulegen.“428 Dieselbe Regelung sollte seiner Ansicht nach auch für die Deutschen gelten.429 Das Verhältnis zwischen den „Ostarbeitern“ und ihren deutschen Kollegen lässt sich nur in wenigen Beispielen fassen. Die Vorgaben des NS-Staates forderten die Deutschen auf, den Kontakt mit den „Ostarbeitern“ auf das unbedingt nötige Ausmaß zu beschränken: „Es muss aufs strengste vermieden werden, dass deutsche Arbeiter und Arbeiterinnen gegenüber den Ostarbeitern und -arbeiterinnen nicht genügend Abstand halten“,430 so Sauckel in einem Fernschreiben an die Gauleiter im Juni 1942. In der Praxis ließ sich ein relativ enger Umgang der Deutschen mit den sowjetischen Arbeitern gerade am Arbeitsplatz nicht verhindern, arbeiteten beide doch nicht selten in gemeinsamen Arbeitsgruppen zusammen. Dabei ergab sich eine große Bandbreite unterschiedlicher Verhaltensweisen.431 Wie oben bei der Sonntagsarbeit beschrieben, verschafften sich die Deutschen immer wieder Vorteile auf Kosten der ausländischen Kollegen. Der Betriebsobmann im DKW-Werk Zschopau vermutete auch, dass deutsche Arbeiter auf Kosten ihrer ausländischen Kollegen ihre Akkordverdienste steigern würden, weil sonst die niedrigeren Werte der Ausländer nicht erklärbar seien.432 Doch gab es auch spontane und oft nicht ungefährliche Solidaritätsgesten von Deutschen gegenüber den sowjetischen Kollegen. Beispielsweise beschenkten in der Wanderer-Werke AG während des Herbstes 1942 Deutsche die sow­jetischen Neuankömmlinge trotz entsprechender Verbote seitens der DAF mit Kleidung.433 Im Sommer 1943 wurde ein Mitarbeiter der Auto Union AG 427 Protokoll der Vertrauensratssitzung im Werk DKW, Zschopau, am 9.11.1943 (StAC, Auto Union AG 1059, Bl. 145–148, hier 147). 428 Ebd. 429 Vgl. ebd. 430 Sauckel an die Präsidenten der LAÄ und die RTA am 14.6.1942. In: Nachrichten des RMfBuM (1942), S. 78–80, hier 79. 431 Vgl. zu diesem Komplex auch Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 190– 196. 432 Protokoll der Vertrauensratssitzung im Werk DKW, Zschopau, am 9.11.1943 (StAC, Auto Union AG 1059, Bl. 145–148, hier 146 f.). 433 Vgl. Wanderer-Werke AG, Betriebsobmann und soziale Verwaltung am 16.9.1942, Rundschreiben Nr. 868 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 681, unpag.)

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e­ ntlassen, weil er „Ostarbeitern“ wiederholt Lebensmittel zugesteckt hatte.434 Eine andere Mitarbeiterin, die ihren sowjetischen Kolleginnen Brot zukommen ließ, konnte offenbar nicht zweifelsfrei überführt werden.435 An den Berichten und Quellen lässt sich ablesen, dass sich der Blick von Behörden und Unternehmen auf die sowjetischen Zwangsarbeiter mit ihrem zunehmenden Einsatz veränderte. Zumindest ihre Leistungsfähigkeit und Arbeitswilligkeit wurde in zahlreichen Äußerungen positiv gewürdigt.436 „Die Leistungen der Ostarbeiter sind von allen im Bezirk beschäftigten ausländischen Arbeitskräften die besten“,437 bilanzierte das Arbeitsamt Olbernhau im Sommer 1943. Ähnlich urteilte die Auto Union AG, die den bei ihnen beschäftigten Ostarbeiterinnen und Ostarbeitern „volles Lob“ aussprach.438 „Es darf ohne jede Einschränkung gesagt werden“, so ein Bericht der Firma im Frühjahr 1944, „dass unsere Werke den Ostarbeitern vor allen anderen ausländischen Arbeitern den Vorrang geben.“439 Bezeichnend ist freilich, dass das Unternehmen das Verdienst an der guten Leistung der sowjetischen Arbeiter vor allem auf die Erziehungsarbeit des Unternehmens und seiner Lager zurückführte: „Auch die im Jahre 1942/43 übernommenen Ostarbeiter bzw. Ostarbeiterinnen waren nicht anders bei uns angetreten als die Ostarbeiter bzw. Ostarbeiterinnen, die im Jahr 1944 zu uns kamen. Der Aufenthalt von einem Jahr und mehr in unseren Werken bzw. Lägern [sic] hatte, und dies muss zum Lob unserer Werke anerkannt werden, einen grundlegenden Wandel schon in der äußeren Erscheinung, aber auch in der allgemeinen Haltung der Ostarbeiter herbeigeführt, eine Tatsache, die den neu hinzugekommenen Ostarbeitern bestimmt Grund zum Nachdenken gegeben haben wird.“440 Wie sich an diesem Beispiel zeigt, ließ sich der Gegensatz zwischen dem in der NS-Propaganda skizzierten Bild des primitiven, in Erdhöhlen hausenden Russen und der praktischen Erfahrung der sowjetischen Arbeiter als gute, disziplinierte Arbeitskräfte auflösen, in dem auf den angeblichen positiven zivilisatorischen Einfluss des deutschen Vorbildes und der deutschen Erziehung verwiesen wurde. 434 Protokoll der Vertrauensratssitzung des Werkes Rößlerstraße am 30.6.1943 (StAC, Auto Union AG, 1059, Bl. 195). 435 Vgl. Schaller, Fabrikarbeit, S. 148 f. 436 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.– 30.9.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 7 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 23). 437 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 438 Auto Union AG am 15.3.1944, Entwicklung der Belegschaft in der Zeit vom 1.11.1942 bis 31.10.1943 (StAC, Auto Union AG, 704, unpag.). 439 Auto Union AG am 31.5.1944, Entwicklung der Belegschaft in der Zeit vom 1.11.1943 bis 30.4.1944 (ebd.). 440 Ebd.

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Weil die „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“, wie Mark Spoerer gezeigt hat, eine hohe Arbeitsproduktivität besaßen, profitierten die Unternehmen von ihnen in besonders hohem Maße,441 nicht nur weil keine Arbeitsschutzbestimmungen zu beachten waren, sondern auch wegen der Lohnregelungen. Da die meisten „Ostarbeiter“ erst ab Frühsommer 1942 in der Region Chemnitz eintrafen, galten für sie die ab Mitte Juni 1942 modifizierten Entlohnungsregeln. Ihre sogenannten Entgelte berechneten sich anhand eines fiktiven durchschnittlichen Bruttowochenlohnes eines deutschen Arbeiters mit vergleichbarer Tätigkeit. Über eine Entgelttabelle ermittelten die Arbeitgeber die erheblich niedriger liegenden „Entgelte“ der „Ostarbeiter“. Die Differenz zwischen dem Bruttovergleichslohn und dem Ostarbeiterentgelt hatte der Arbeitgeber zwar als „Ostarbeiterabgabe“ an den Staat zu entrichten. Aber er profitierte davon, dass die sowjetischen Arbeiter keine Überstunden-, Sonntags-, Feiertags- und Nachtzuschläge und keine Sozialleistungen erhielten. Ferner musste er die „Ostarbeiter“ nur für tatsächlich geleistete Arbeit bezahlen.442 Von den ohnehin gekürzten Löhnen durften die Arbeitgeber vor der Auszahlung an die Arbeiter noch 1,50 RM täglich für Kost und Unterkunft abziehen.443 Die tatsächlichen Auszahlungsbeträge waren lächerlich gering. Bei der Firma Arno & Moritz Meister AG in Erdmannsdorf betrug der wöchentliche Bruttovergleichslohn für deutsche Arbeiterinnen im Oktober 1942 zwischen 11,20 und 23,80 RM. Die „Ostarbeiterinnen“ erhielten ein Entgelt zwischen 11,20 und 16,10 RM. Nach einem Abzug von 10,50 RM für Unterkunft und Verpflegung bekam die einzelne zwischen 0,70 und 5,60 RM Bargeld in der Woche ausgezahlt.444 Ungeachtet der geringen Barmittel der sowjetischen Arbeiter und Arbeiterinnen befürchteten die Unternehmen und Behörden, dass diese durch ihre Einkäufe die Versorgung der deutschen Bevölkerung beeinträchtigen würden. Die Auto Union AG etwa schränkte daher auf eigene Initiative die Auszahlung von Barmitteln weiter ein: Im Dezember 1942, kurz nachdem den „Ostarbeitern“ ein freier Ausgang zugestanden worden war, beschlossen die Leitungen der einzelnen Werke gemeinsam, dass den sowjetischen Arbeitern maximal 16 RM pro Monat ausgezahlt werden sollten und der Rest auf ein Sparbuch gelegt werden solle.445 Die Bestimmungen zum „Ostarbeitersparen“ sahen vor, dass die Arbeiter in Deutschland ihre Ersparnisse einzahlten, um darüber, so zumindest die Fiktion,

441 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 183–190. 442 Vgl. ebd., S. 158–160. 443 Vgl. ebd., S. 158. 444 Eigene Berechnungen nach Arno & Moritz Meister AG, Ostarbeiter-Entgelt für drei Wochen. 11.10.–31.10.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha 471, unpag.). 445 Protokoll über die Werksleitersitzung vom 2.12.1942 (StAC, Auto Union AG 587, Bl. 326–330, hier 329).

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bei ihrer Rückkehr in ihr Heimatland in heimischen Devisen zu verfügen. In Deutschland selbst war keinerlei Auszahlung vorgesehen,446 das Verfahren diente vielmehr allein der Kaufkraftabschöpfung.447 Freilich gab es vonseiten der Behörden auch Forderungen, die Barauszahlung an die „Ostarbeiter“ zu erhöhen. Als Ergebnis einer Besprechung, an der unter anderem Vertreter des Rüstungskommandos, der Gestapo, des Polizeipräsidiums und des Arbeitsamtes in Chemnitz teilnahmen, hielt der Berichterstatter des Rüstungskommandos im Februar 1943 fest, dass die Abgaben, welche die „Ostarbeiter“ zu zahlen hätten, „bei der geforderten Mehrleistung als zu hoch empfunden“ würden. „Es soll daher angestrebt werden, dass die geforderte Mehrleistung nicht so hoch besteuert wird. Die Höhe von 25 Prozent wurde hier für ausreichend angesehen. Dies würde auch ein Ansporn [sic] zu erhöhter Tätigkeit für den Ausländer bedeuten.“448 Im Mai 1943 wurde die „Ostarbeiterabgabe“ zugunsten höherer Auszahlungsbeträge ermäßigt, um den sowjetischen Arbeitern einen Leistungsanreiz zu bieten.449 Deshalb machte sich die Werksleiterrunde der Auto Union AG im Juni erneut Gedanken über die bis dahin praktizierte Sparvorschrift. Sie diskutierte zunächst über die Erhöhung der Summe von 16 RM Barauszahlung im Monat, um schließlich zu dem Schluss zu kommen, „dass wir gar keine rechtliche Handhabe besitzen, die auszuzahlende Summe nach oben zu begrenzen, der Betriebsführer lediglich die Pflicht hat, die Ostarbeiter zum Sparen anzuhalten.“450 Erst ab Sommer 1943 hatten also die sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter der Auto Union die Chance, mehr als durchschnittlich 4 RM pro Woche in bar ausbezahlt zu bekommen. Ab August 1943 konnten Unternehmen ihren „Ostarbeitern“ Prämien gewähren, die nach dem vollendeten ersten Jahr des Arbeitsaufenthalts im Reich 20 Prozent, nach dem zweiten Jahr 30 Prozent und nach dem dritten Jahr 50 Prozent des Arbeitsentgelts betrugen – eine Maßnahme, die ebenfalls den Leistungswillen der Zwangsarbeiter steigern sollte.451 Da die Prämien zu Lasten der Ostarbeiterabgabe gingen, waren sie für den Arbeitgeber kostenneutral. Die Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG zahlte Anfang 1944 beispielsweise sieben ihrer sowjetischen Arbeiterinnen eine Prämie von 20 Pro-

446 Vgl. DAF-Kreiswaltung Flöha an alle Betriebe, die Ostarbeiter beschäftigen, am 27.10.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 471, unpag.); der Rüstungsobmann IV a des Reichsministers für Bewaffnung und Munition, Reichsamtsleiter Hans Führer, an die von Ausschüssen und Ringen betreuten sächsischen Firmen am 26.7.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.). 447 Vgl. Heusler, Ausländereinsatz, S. 231; Rathkolb, Zwangsarbeit, S. 697 f. 448 RüKdo Chemnitz, R., am 15.2.1943, Bericht betr. Gefahrenabwehr bei dem verstärkten Einsatz ausländischer Zivilarbeiter (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 51 f.). 449 Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 159. 450 Protokoll der Werksleitersitzung vom 4.6.43 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 300–305, hier 304). 451 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 160.

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zent.452 Auch die Auto Union nutzte diese Möglichkeit der Entgelterhöhung, wobei das Unternehmen gute Arbeitsleistungen und das Verhalten der Arbeiter im Wohnlager zum Maßstab der Auszahlung machte.453 Eine grundlegende Umstellung der Entlohnung der sowjetischen Arbeitskräfte erfolgte im April 1944. Wie die im Gewerbe eingesetzten Polen zahlten sie nun statt der Ostarbeiterabgabe Lohnsteuer sowie eine 15-prozentige „Sozialausgleichsabgabe“ und waren sozialversicherungspflichtig. Außerdem erhielten sie bestimmte Zuschläge. Mark Spoerer zufolge schrumpfte damit die Differenz zum deutschen Durchschnittslohn.454 Die Beispiele aus der Region zeigen, dass dies auf dem Papier stimmen mochte, dass sich die Umstellung in der Praxis aber auch gegenteilig auswirken konnte: So stellte die Auto Union AG fest, dass Arbeiter mit Bruttolöhnen unter 100 RM monatlich durch die neue Regelung geringere Nettolöhne erhielten als vorher und machte sich Sorgen über die Arbeitsmoral: „Da hiervon besonders die jungen und arbeitswilligen Kräfte betroffen werden, sehen die Werksleiter darin eine gewisse Gefahr und befürchten, dass mit dem Absinken des Nettolohnes auch das Interesse an der Arbeit abflauen wird.“455 Auch die Firma A. Robert Wieland (ARWA) in Auerbach (Erzgebirge) machte im Herbst 1944 die Beobachtung, dass den jungen sowjetischen Arbeiter der Lohn nicht zum Leben ausreichte: „Da der Stundenlohn der jugendlichen ausländischen Arbeiter, insbesondere der Ostarbeiter, sehr tief liegt, und sie für Wohnen, Essen und Schlafen denselben Preis bezahlen wie die erwachsenen ausländischen Arbeiter, ist es bei einer Lohnzahlung so, dass nach Abzug des Deputats von dem Lohn nichts mehr übrig bleibt.“456 ARWA erreichte nach Rücksprache mit der örtlichen DAF, dass den jugendlichen Arbeitern nur der halbe Preis für Unterkunft und Verpflegung angerechnet wurde, wobei mangels Quellen unklar bleiben muss, ob dies zu Lasten der ARWA ging, weil diese ihr Lager selbst unterhielt, oder zu Lasten anderer Lagerträger, z. B. der DAF. Die Wirkung der neuen Lohnbestimmungen war freilich ein reichsweites Problem. Auch die Reichsgruppe Industrie stellte Berechnungen an, nach denen die „Ostarbeiter“ erst ab einem Bruttoverdienst von 130 RM monatlich von den neuen Lohnbestimmungen profitierten.457

452 Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an Finanzamt Flöha am 18.1.1944 (StAC, Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 453 Vgl. Auto Union AG, Protokoll der Werksleitersitzung vom 24.9.1943 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 286–293, hier 293); Auto Union AG am 15.3.1944, Entwicklung der Belegschaft in der Zeit vom 1.11.1942 bis 31.10.1943 (StAC, Auto Union AG, 704, unpag.). 454 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 160. 455 Protokoll der Werksleitersitzung vom 12.6.1944 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 256– 265, hier 260). 456 ARWA am 20.9.1944, Mitteilung 1399/44 von 6050 betr. Deputat für jugendliche Arbeiter (StAC, Fa. A. Robert Wieland [ARWA], 1630, unpag.). 457 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 129.

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Am dramatischsten waren freilich Mütter mit Kindern von der Umstellung der Lohnzahlungen betroffen, weil sie anders als die übrigen Arbeitnehmerinnen bei Verheiratung oder Familiengründung nicht in den Genuss einer ermäßigten Steuerklasse kamen, sondern weiter in die Ledigensteuerklasse I458 eingestuft blieben. Einer Beispielrechnung der Baumwollspinnerei Gückelsberg zufolge erhielt eine „Ostarbeiterin“ ohne Kind nach der alten Regelung bei einem monatlichen Bruttovergleichslohn für deutsche Arbeiterinnen von etwa 95 RM nach Abzug der Ostarbeiterabgabe sowie Unterkunft und Verpflegung 31,50 RM ausgezahlt. Nach der neuen Regelung bekam sie 0,15 RM mehr.459 Falls sie allerdings vorher eine „Treueprämie“ von 20 Prozent erhalten hatte, verlor sie nach der neuen Regelung monatlich 5,75 RM.460 Bei einer Mutter mit einem Kind sank der Auszahlungsbeitrag noch viel drastischer von gut 25 auf knapp 10 RM. Einer Mutter mit zwei Kindern, die vor der Umstellung immerhin noch über 3 RM Bargeld hatte verfügen können, fehlten nun monatlich etwa 13 RM, um überhaupt Unterkunft und Verpflegung für sich und die Kinder finanzieren zu können.461 Die Baumwollspinnerei Gückelsberg schlug dem zuständigen Finanzamt, dem Arbeitsamt Flöha und dem Gauarbeitsamt Sachsen in dessen Funktion als Treuhänder der Arbeit vor, dem Dilemma mit einer Einstufung der Betroffenen in eine günstigere Steuerklasse abzuhelfen oder die Mittel für die Ernährung und Unterkunft der Kinder aus der Sozialabgleichsabgabe zu finanzieren, ähnlich wie dies früher bei der Ostarbeiterabgabe für das erste Kind geschehen sei.462 Schließlich legte das Unternehmen sogar dem Reichsinspekteur für die Ausländerlager-Verwaltung sein Problem vor, als dieser das firmeneigene Lager besichtigte.463 Doch obwohl auch dieses Problem nicht nur die Region betraf, sondern zumindest auch im übrigen Sachsen sowie in Brandenburg auftrat,464 blieb eine einheitliche Lösung offenbar zunächst aus. Das Unternehmen scheint mit Genehmigung des sächsischen Reichstreuhänders den betroffenen Frauen 458 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 160. 459 Baumwollspinnerei Gückelsberg an den Beauftragten des RTA Sachsen beim AA Flöha am 15.5.1944 betr. Lohngestaltung für Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.). 460 Baumwollspinnerei Gückelsberg an GAA Sachsen und RTA Sachsen am 24.5.1944 betr. Entlohnung der Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.). 461 Die Beispiele der Mütter mit Kind sind jeweils ohne „Treueprämie“ gerechnet; vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg an den Beauftragten des RTA Sachsen beim AA Flöha am 15.5.1944 betr. Lohngestaltung für Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.). 462 Ebd.; Baumwollspinnerei Gückelsberg an GAA Sachsen und RTA Sachsen am 20.6.1944 betr. Entlohnung der Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.). 463 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg an den Reichsinspekteur für die Ausländerlager-Verwaltung am 29.6.1944 betr. Entlohnung der Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.). 464 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 130.

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auf eigene Hand Vorschüsse gezahlt zu haben, in der Hoffnung, diese vom Staat auf der Grundlage einer späteren Neuregelung wieder zurückzubekommen.465 Sauckels Verordnung vom März 1945, mit der er die arbeits-, sozial- und steuer­ rechtlichen Vorschriften für die „Ostarbeiter“ an diejenigen anpasste, die für die anderen zivilen Ausländer galten, dürfte in der Praxis angesichts des baldigen Kriegsendes keine Auswirkungen mehr gehabt haben.466 Deutlich wird an den Beispielen aus der Region Chemnitz, dass die sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeiter sich aufgrund ihrer Arbeitsleistungen ein gewisses Maß an Achtung verschafften. Sie konnten damit ideologisch bestimmte Vorurteile teilweise widerlegen, auch wenn dies im Kontext des nationalsozialistischen Rassismus vor allem deutscher Erziehung und den Einwirkungen deutscher Kultur zugeschrieben wurde. Die Anerkennung ihrer Arbeitsleistungen in Verbindung mit der Tatsache, dass gegen Kriegsende immer weniger Zwangsarbeiter nach Deutschland kamen, die einzelne Arbeitskraft also immer wertvoller wurde, verhalf den „Ostarbeitern“ immerhin dazu, dass sich Unternehmensleitungen, Funktionäre oder deutsche Kollegen von Fall zu Fall auch einmal für sie einsetzten. Zu einer durchgreifenden Besserung ihrer materiellen Lage, ihrer Arbeitsbedingungen oder ihrer Entlohnung führte dies jedoch nicht. 5.5

Disziplinierung und Auflehnung

Sowohl die Forschungsliteratur der DDR467 als auch die für politische Bildungszwecke gedachten Publikationen der SED-Kommissionen zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegungen heroisierten abweichendes Verhalten und Widerstandsaktivitäten sowjetischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener gegen das NS-Regime genauso wie etwaige Hilfen deutscher Antifaschisten für die sowjetischen Zwangsarbeiter. Folgt man dem regionalen Chemnitzer Schrifttum aus der DDR-Zeit, so gab es in Chemnitz und Umgebung während des Zweiten Weltkrieges ein Netz zahlreicher kleiner und größerer deutscher oder deutsch-sowjetischer Widerstandszellen, die alle unter­einander und mit überregional bekannten Gruppen wie etwa der „Roten Kapelle“ in Berlin oder der Gruppe um Georg Schumann in Leipzig in Verbindung standen. Zu ihren Aktivitäten gehörten demnach die Unterstützung von sowjetischen Zwangsarbeitern mit Nahrungsmitteln, ihre Versorgung mit politischen Informationen und politischer Propaganda sowie Beihilfe zur Flucht. Gemeinsam mit den sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilarbeitern hätten diese 465 Vgl. GAA Sachsen und RTA Sachsen an Baumwollspinnerei Gückelsberg am 22.5.1944 betr. Entlohnung der Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.); Baumwollspinnerei Gückelsberg an GAA Sachsen und RTA Sachsen am 25.5.1944 betr. Entlohnung der Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 726, unpag.). 466 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 161. 467 Vgl. z. B. Eichhholtz, Kriegswirtschaft II, S. 288–292, vor allem 291.

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­ iderstandsgruppen sowjetische Rundfunkstationen abgehört und SabotageW aktionen organisiert. Während die deutschen Widerstandskämpfer in diesem Zusammenhang stets einzeln namentlich benannt und gefeiert werden, bleiben die sowjetischen Frauen und Männer bis auf wenige Ausnahmen meist unbekannt und merkwürdig anonym.468 In dem für die Untersuchung verwendeten zeitgenössischen Material lassen sich solch ausgedehnte Aktivitäten bislang nicht nachweisen. Eine intensive Nachforschung anhand der einzelnen deutschen Namen hätte den Rahmen der hier vorliegenden Arbeit gesprengt. Im Folgenden wird daher bei der Untersuchung von abweichendem Verhalten sowjetischer Zivilarbeiter ein anderer Weg eingeschlagen. Das Ziel ist keine umfassende Darstellung sowjetischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten, vielmehr wird im Spiegel von Disziplinierung und Auflehnung die Bandbreite von Handlungsmöglichkeiten beleuchtet, die sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Deutschland angesichts von Hunger, Übermüdung, Rechtlosigkeit und Arbeitszwang blieb. Wie gingen sie mit den Zumutungen um, denen sie die durch unterschiedliche Behörden des NS-Regimes, durch Unternehmer, Lagerführer oder gegebenenfalls auch durch die deutschen Kollegen ausgesetzt waren? Dabei ist zu berücksichtigen, dass sowjetische Zivilarbeiter nicht unter den Bedingungen der alltäglichen NS-Diktatur handelten wie die deutsche Bevölkerung, sondern dass sie sowohl am Arbeitsplatz als auch im Wohnbereich unter intensiver Überwachung standen. Die Eingreifschwelle für staatliche Institutionen lag bei abweichendem Verhalten zudem niedriger als bei der deutschen Bevölkerung. Die „Ostarbeitererlasse“ sahen bei „Disziplinwidrigkeiten“, „reichsfeindlichen Bestrebungen“, „kriminellen Vergehen“ und Geschlechtsverkehr mit Deutschen grundsätzlich die Einschaltung der Gestapo vor.469 Diese sollte harte Strafen verhängen, die Betroffenen in Konzentrationslager einweisen oder einer „Sonderbehandlung“ unterziehen. Das Wachpersonal sollte lediglich leichtere Vergehen bestrafen und akuten Widerstand brechen, wobei ihnen auch „eine körperliche Einwirkung“ auf die Zwangsarbeiter gestattet war.470 Damit waren Misshandlungen der Arbeiter durch das Wachpersonal, dem relativ viele an anderen Arbeitsstellen gescheiterte Existenzen angehörten, Tür und Tor geöffnet. So prügelten beispielsweise Angehörige des Werkschutzes

468 Vgl. vor allem Chronik des antifaschistischen Widerstandskampfes, S. 24 f., 28, 84–95, 106–108; Revolutionäre Kämpfer. Biographische Skizzen. Hg. von der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, o. O., o. J., Teil [1], S. 89, 134; Teil [2], S. 34, 48, 54, 84; Teil 5, S. 23; 35, 39. Zum „Widerstandsbegriff der DDR-Forschung im Allgemeinen vgl. den Überblick von Werner Bramke, Der unbekannte Widerstand in Westsachsen 1933–1945. Zum Problem des Widerstandsbegriffs. In: Wissenschaftliche Zeitschrift Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschaftswissenschaftliche Reihe, 34 (1985), S. 190–206, hier 191–196. 469 Zitiert nach Herbert, Fremdarbeiter, S. 156. 470 Ebd.

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im Werk ­Röslerstraße der Auto Union AG mehrfach sowjetische Arbeiter aus nichtigen Anlässen krankenhausreif.471 Ein offenbar von der Gestapo herausgegebenes Muster472 für die Anweisungen an das Wachpersonal in Lagern und Betrieben, das im Sommer 1942 an die Unternehmen im Kreis Flöha verschickt wurde, sah rücksichtsloses Durchgreifen „bei den geringsten Anzeichen von Widersetzlichkeit und Ungehorsam“ vor. „Zur Brechung von Widerstand“ hätten die Wachleute „auch von der Waffe schonungslos Gebrauch zu machen.“ Besonders streng sollten sie bei Fluchtversuchen reagieren: „Auf fliehende Russen ist sofort zu schießen mit der festen Absicht zu treffen.“ Sollten sich „Ostarbeiter“ den Anordnungen des Wach-, Lager- oder Betriebspersonals widersetzen oder ihre Arbeit „nachlässig“ verrichten, so konnten sie mit „Ordnungsübungen nach Beendigung der Arbeitszeit“, „Zuteilung zum Straftrupp“, Entziehung der warmen Mahlzeiten für bis zu drei Tagen oder mit drei Tagen Arrest bei Wasser und Brot bestraft werden. „Schwere Disziplinarvergehen, Unbotmäßigkeiten, Sabotagehandlungen oder Versuche [sic]“ seien der zuständigen Gestapo-Leitstelle zu melden.473 Ähnliche Ausführungen zu den Disziplinierungsvorschriften machte auch der Chemnitzer Gestapochef Thümmler im Dezember 1942 bei einer Besprechung mit Unternehmen, was darauf hindeutet, dass die geschilderten Normen für die gesamte Region Chemnitz galten. Thümmler ergänzte den Strafenkatalog lediglich noch um die Streichung des gerade erst grundsätzlich genehmigten Ausgangs.474 Nimmt man die allgemeine Zufriedenheit von Unternehmen und Behörden als Maßstab, so scheinen viele der sowjetischen Zwangsarbeiter die Handlungsoption einer bestmöglichen Anpassung an das von ihnen Verlangte gewählt zu haben. Auch in dieser Anpassung dürften jedoch Momente von Auflehnung eingelagert gewesen sein. Für die sowjetischen Zwangsarbeiter war dies angesichts der Strafen, die sie für kleinste Normabweichungen riskierten, einerseits besonders gefährlich, andererseits oft überlebenswichtig, wenn es beispielsweise um die Organisation zusätzlicher Lebens- oder Genussmittel ging. Bei ihrer Ankunft scheinen viele Zwangsarbeiter versucht zu haben, ihre Zukunft durch falsche Aussagen über ihre bisherige Tätigkeit zu beeinflussen. Sie gaben an, Landarbeiter zu sein, weil sie sich, so jedenfalls die Überzeugungen Chemnitzer Unternehmer, von einem Einsatz in der Landwirtschaft eine bessere Ernährung erhofften.475 Einer reichsweiten Anweisung im Oktober 1942 nach zu urteilen, war die Verschleierung des beruflichen Werdegangs für die

471 Vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 293 f. 472 Vgl. Landrat zu Flöha an die Bürgermeister des Kreises am 29.6.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1430, unpag.). 473 „Muster für die Anweisung an die Wachmänner“, am 1.7.1942 gesandt an die Baumwollspinnerei Falkenau (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1430, unpag.). 474 „Überbetrieblicher Erfahrungsaustausch über den Ausländereinsatz“ am 1.12.1942, veranstaltet durch die DAF (BA-MA Freiburg, RW 20–11/13, Bl. 80–81). 475 Vgl. Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21/11–13, Bl. 68–79, hier 68).

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Behörden weit über Chemnitz hinaus ein Problem, auf das die Arbeitsverwaltung mit Forderungen nach Eignungsprüfungen und Schulungen in den Indus­ triebetrieben reagierte.476 Mitunter versuchten die sowjetischen Zwangsarbeiter, ihre kargen Lebensverhältnisse durch Bettelei477 auf den Straßen oder kleine Diebstähle aufzubessern: Die im Chemnitzer Rüstungsbetrieb Pornitz & Co. beschäftigten „Ostarbeiter“ stahlen 1942 Gemüse aus den Nachbargärten.478 Ein im Lager Helbersdorf wohnender sowjetischer Arbeiter wurde 1942 wegen des Diebstahls von 15 Birnen aus dem Nachbargarten von einem gewalttätigen Wachmann erschossen.479 Glimpflicher kamen fünf sowjetische Arbeiterinnen der Baumwollspinnerei Gückelsberg davon, die im Herbst 1944 bei der Entwendung von Garnen ertappt wurden. Die Gestapo reichte die bei ihr eingegangene Anzeige an den Bürgermeister von Flöha weiter, der sie mit je „10 RM Strafe und 1 RM Kosten“ belegte.480 Die vergleichsweise geringe Strafe kann als Indiz für den zunehmenden Wert sowjetischer Arbeitskraft in der Spätphase des Krieges gelten. Eine bei Unternehmern und Behörden gefürchtete Art der Auflehnung gegen die Zwangsarbeit war die Arbeitsverweigerung durch langsames Arbeiten oder das Vorschützen von Krankheiten, zumal sich in jedem Einzelfall schwer entscheiden ließ, ob tatsächlich gesundheitliche Probleme vorlagen oder die Arbeiter simulierten. Die Unternehmensleitungen in Chemnitz scheinen beim Verdacht auf Simulation zumindest 1942 recht einheitlich auf Essensentzug gesetzt zu haben, ähnlich wie es in den Gestapo-Anweisungen vorgesehen war. Friedrich Emil Krauss, Besitzer der Metallwarenherstellers Krauss-Werke in Schwarzenberg im Regierungsbezirk Zwickau, erklärte im Herbst 1942 bei einer Besprechung von Unternehmern und Behördenvertretern, „arbeitsunwillige und simulierende Kranke würden durch Wermuttee und anschließende Hungerkur am besten geheilt“.481 Auch Direktor Torkewitz von der Chemnitzer Schubert & Salzer AG hielt Essensentzug bei Arbeitszurückhaltung für eine angebrachte Strafe: „Der säumige Arbeiter erhält erst dann seine Essensmahlzeit, wenn er das ihm zugewiesene Arbeitsquantum erledigt hat.“482

476 1339/42 Prüfung von Ostarbeitern im Interesse eines zweckvollen betrieblichen Einsatzes (GBA vom 23.10.1942). In: Runderlasse des RAM für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 4 (1942), S. 714. 477 Vgl. DAF Chemnitz, Der Kreisobmann, Rundschreiben Nr. 32/12/44 vom 11.12.1944 an die Betriebsführer, z. K. der Lagerführer betr. Weihnachtsfeiern in den Gemeinschaftslagern (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 2522/1, unpag.). 478 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 7). 479 Vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 292. 480 Der Bürgermeister der Stadt Flöha an die Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG am 15.10.1944 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 481 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 20–11/13, Bl. 69). 482 Ebd., Bl. 70.

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Doch dürften Disziplinierungen in diesem Zusammenhang nur einen begrenzten Erfolg gehabt haben. Nicht nur, dass viele sowjetische Arbeitskräfte tatsächlich zu unterernährt waren, um die verlangten Leistungen zu bringen. Bei einer Meldung an die Gestapo und allzu rigiden Bestrafungen befürchteten die Unternehmer, ihre knappen Arbeitskräfte zu verlieren. Mit fortschreitender Kriegsdauer spielte dies eine immer größere Rolle. So beschwerten sich Chemnitzer Unternehmer im Frühjahr 1944 beim Rüstungskommando darüber, „dass straffällige Ostarbeiter durch die Gestapo übermäßig lange in Untersuchungshaft belassen und dadurch dem Arbeitseinsatz entzogen werden“.483 Es gab daher auch Unternehmen, die eher auf Belohnung statt Strafe setzten. Der Chemnitzer Schraubenhersteller Gebr. Langer benutzte bereits im Herbst 1942 lieber Zusatzrationen als Leistungsanreiz.484 Auch das Regime begab sich mit der schrittweisen Heraufsetzung der Lohnauszahlungen und der Erlaubnis, die sowjetischen Arbeiter im Akkord einzusetzen, auf diesen Weg.485 Mit der Integration der sowjetischen Arbeiter in deutsche Arbeitsgruppen dürfte sich das Arbeitstempo vieler sowjetischer Arbeiter ohnehin demjenigen der Deutschen angeglichen haben. Dafür sorgte der innerhalb solcher Arbeitsgruppe entstehende Gruppendruck. Neben stillschweigenden Grenzübertretungen und Regelverletzungen sind auch vereinzelte verbale Proteste von sowjetischen Arbeiterinnen und Arbeitern gegen ihre Lage überliefert. Im Gebiet des Chemnitzer Arbeitsamt klagten sie im November 1942 – vergeblich – die Erfüllung ihrer Verträge ein: Man habe ihnen bei der Anwerbung in der Sowjetunion versprochen, dass sie nach drei Monaten in ihre Heimat zurückkehren dürften.486 Im Frühjahr 1943 berichtete das Arbeitsamt Chemnitz von Beschwerden von „Ostarbeitern“ über schlechte Behandlung und ungenügende Verpflegung, die sich aber als „vollkommen haltlos“ erwiesen hätten.487 Welche Folgen die Proteste für die Betroffenen hatten, lässt sich aus dem Material nicht erschließen. Wahrscheinlich konnten sie froh sein, wenn ihre Beschwerden lediglich ignoriert wurden. Flucht oder Sabotage gehörten zu denjenigen Widersetzlichkeiten, die die härtesten Gegenmaßnahmen des NS-Regimes erzeugten. Das Rüstungskommando Chemnitz beschrieb zwischen Herbst 1942 und Sommer 1944 mehr als 30 Sabotageverdachtsfälle in den Regierungsbezirken Chemnitz und Zwickau ausführlicher. Weitere Fälle, die von einer speziellen Sabotageabwehrstelle bearbeitet wurden, nannte es lediglich summarisch. Sowjetische ­Kriegsgefangene

483 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 33). 484 Besprechung des RüKdo Chemnitz mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 (BAMA Freiburg, RW 20–11/13, Bl. 70). 485 Vgl. Kap. V. 5. 4. 486 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 487 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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wurden in lediglich drei Fällen, sowjetische Zivilarbeiter in weiteren vier Fällen verdächtigt. Diese Verdachtsrate scheint relativ gering, machten die sowjetischen Arbeitskräfte in der zweiten Kriegshälfte nicht viel weniger als die Hälfte aller ausländischen Arbeitskräfte aus und standen diese Arbeitergruppen doch noch mehr als alle anderen unter Generalverdacht. Ein Fall aus der Firma Elite-Diamantwerke AG in Siegmar-Schönau verdeutlicht, auf welcher unsicheren Grundlage Sabotagevorwürfe gegen sowjetische und andere Arbeiter erhoben wurden: Anfang Mai 1943 meldete das Unternehmen gleich eine ganze Serie von Vorfällen, die nach Meinung der Gestapo auf Sabotage hindeuteten: Am 4. Mai wurden an der Glastür zum „Kompressorraum“ neun Glasscheiben eingeschlagen, wobei „Abdrehstücke von 2 Zentimeter Automatenstangen“ als Wurfgeschosse verwendet wurden. Nachdem das Unternehmen die Scheiben hatte erneuern lassen, schlug jemand erneut eine Scheibe ein, diesmal mit einem „Messing-Öelerstück“. Ungefähr zur selben Zeit wurde eine Heißwasserpumpe im Kesselhaus des Unternehmens dadurch beschädigt, dass jemand die Wasserzufuhr abstellte und die Pumpe trocken lief. Am 8. Mai meldete das Unternehmen einen Vorfall in der Lackiererei, wo die Kohlensäurelöschanlage ohne Anlass ausgelöst wurde. Am 11. Mai schließlich fand ein Vorarbeiter eine Lackiertrommel, deren Bodenheizung eingeschaltet war, obwohl die Trommel außer Betrieb war. Mehrere darin befindliche Putzlappen verbrannten.488 Anfang Juni präsentierte die Gestapo die angeblichen Täter. Im Falle der zertrümmerten Glasscheiben hatte sie einen sowjetischen Hilfsarbeiter ausfindig gemacht, der „aus Unfug ein Abdrehstück nach einem anderen Arbeiter geworfen“ haben wollte. „Dabei sei eine der beiden Glasscheiben zertrümmert. Die übrigen 9 Scheiben habe er nicht beschädigt“, sagte der Arbeiter während des Verhörs aus. Die Gestapo glaubte ihm seine Aussage nicht, weil er als „arbeitsunlustig und sehr verstockt“ bekannt sei. Sie hatte ihn weiterhin im Verdacht, „dass er den im Maschinenraum stehenden Kompressor treffen und beschädigen wollte“. Ein weiterer „Ostarbeiter“ hatte angeblich die Beschädigungen in der Lackiererei zugegeben: „Er ist geständig, will unüberlegt und nur aus spielerischem Antrieb gehandelt haben. Er habe nicht beabsichtigt, einen Schaden anzurichten, auch habe er nicht im Auftrag dritter Personen gehandelt.“489 Nun fällt die Rekonstruktion der Vorfälle zumindest in der Version des Rüstungskommandos recht unvollständig aus. Vor allem lässt sich nicht nachvollziehen, ob und inwieweit die beiden Arbeiter während ihres Verhörs von der Gestapo unter Druck gesetzt oder gar misshandelt worden waren und daher Dinge gestanden, die sie gar nicht getan hatten. Bei aller Vorsicht scheint es jedoch nicht ausgeschlossen, dass die Versionen der Arbeiter zutreffen könnten: Dann hätte es sich bei ihren Aktionen tatsächlich um einen impulsiven Ausbruch aus 488 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 19 f., 24 f.). 489 Ebd., Bl. 33.

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der täglichen Eintönigkeit und der Langeweile gehandelt, möglicherweise auch um Schabernack, der Kollegen oder Vorgesetzten gegolten haben könnte. Auf jeden Fall aber mussten die beiden Arbeiter ihr Verhalten mit der Einweisung in ein Konzentrationslager bezahlen.490 Ähnlich riskant war die Flucht aus dem zugewiesenen Arbeitsverhältnis. Wie berichtet, flohen gleich in den ersten beiden Monaten, nachdem der Einsatz sow­ jetischer Zivilarbeiter in der Region Chemnitz erheblich ausgeweitet worden waren, mindestens 150 von etwa 3 000 sowjetischen Arbeitern, weil sie schlecht ernährt oder untergebracht worden waren. Von den Verhafteten wies die Gestapo mindestens 50 in Konzentrationslager ein.491 Mindestens einer der zwölf Arbeiter der Rüstungsfirma Pornitz & Co., die flüchteten, weil sie fast verhungert waren, bezahlte seine Initiative mit seinem Leben. Er wurde bei seiner Wiederergreifung erschossen.492 Zwar scheint im Herbst 1942 die Welle der Fluchtversuche allmählich abgeebbt zu sein, dennoch blieb die pflichtwidrige Entfernung vom Arbeitsplatz wohl so häufig, dass sie die Arbeitsämter in ihren monatlichen Berichten oft nur gleichsam en passant erwähnten. Beispielsweise meldete das Arbeitsamt Anna­ berg im Sommer 1943 den „Verlust von 11 männlichen Ostarbeitern, welche sich mit unbekanntem Verbleib von ihren Arbeitsstellen entfernt haben“.493 Inwieweit die Fluchtversuche von „Ostarbeitern“ und sowjetischen Kriegsgefangenen das Ziel hatten, sich aus dem Bereich der deutschen Machtbereich zu entfernen und sich damit der Zwangsarbeit vollständig zu entziehen, muss offenbleiben. In einigen Fällen ist nachgewiesen, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter einfach zu anderen Arbeitsstellen innerhalb des Reiches begaben.494 Helena W. beispielsweise war im Sommer 1943 wegen ihrer Schwangerschaft von einem Bauern in Frankenberg zur Flöhaer Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG versetzt worden.495 Im Herbst erhielt sie die Erlaubnis, ihren Mann zu besuchen, der immer noch bei ihrem alten Arbeitgeber arbeitete. Nachdem sie zum Arbeitsbeginn nicht wieder in der Baumwollspinnerei aufgetaucht war, alarmierte der Betrieb zunächst das Arbeitsamt. Die Behörden fanden heraus, „dass diese [Helena W.] auf Veranlassung ihres früheren Arbeitgebers, des Bauer D., bei diesem verblieben ist. Er hat sie dort auch 14 Tage ohne Genehmigung des Arbeitsamtes beschäftigt.“496 Erst gut zwei 490 Vgl. Ebd. 491 Näheres vgl. Kap. V.4. 492 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1942 (BAMA Freiburg, RW 21–11/12, Bl. 7). 493 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Monat Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 494 Vgl. auch Grinchenko, Ostarbeiter, S. 235. 495 AA Burgstädt an Alfred D., Bauer, Frankenau über Mittweida, am 9.7.1943 betr. Umsetzung schwangerer Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); zum Zusammenhang vgl. auch Kap. V. 5. 6. 496 Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an AA Burgstädt am 21.10.1943 betr. Entbindungslager für Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.).

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Wochen nach ihrem Besuch wurde sie von der Polizei in die Spinnerei zurückgebracht.497 Die hochschwangere 19-jährige Arbeiterin hatte eigenmächtig für eine Familienzusammenführung gesorgt und wurde darin von ihrem früheren Arbeitgeber unterstützt, der sie wahrscheinlich nur ungern hatte gehen lassen. Doch die Allianz zwischen bäuerlichem Arbeitgeber und „Ostarbeiterin“ blieb erfolglos, auch wenn eine Bestrafung von Helena W. bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Helena W. musste ihr Kind im Entbindungslager der Baumwollspinnerei zur Welt bringen.498 Neben Hunger, schlechter Unterbringung oder Sehnsucht nach Familienangehörigen gab es auch andere Gründe für Fluchtversuche. Im Gebiet des Arbeitsamtes Lugau wurden sowjetische Arbeiter und Kriegsgefangene unter Tage in den dortigen Steinkohlebergwerken eingesetzt. Schon der Kriegsgefangenen­ einsatz in den Gruben war ein Problem und führte zu relativ vielen Fluchtversuchen.499 Doch die 1943 dorthin versetzten „Ostarbeiter“ setzten dem Einsatz unter Tage ein offenbar bisher nicht gekanntes Maß an Widerstand entgegen: „Diese für die Landwirtschaft geworbenen und zum größten Teil auch bisher dort eingesetzten Menschen betrachten ihre Umsetzung in den Bergbau als eine Strafexpedition“, berichtete das Arbeitsamt Lugau im Sommer 1943, „sie sind einfach nicht zu belehren, dass es anders ist. Beide Gewerkschaften sehen keinen anderen Ausweg, als auf einen Austausch mit sowjetrussischen Kriegsgefangenen zu drängen.“500 Von den bisher zugewiesenen rund 200 sowjetischen Zivilarbeitern befänden sich rund 45 auf der Flucht. Ein großer Teil sei „immer krank, zum Teil schon bergbauuntauglich angekommen, und die übrigen treten kurz“.501 Allerdings nützte den sowjetischen Arbeitern ihr Widerstand offenbar wenig, die Arbeitsverwaltung saß ihn, wahrscheinlich mangels anderen geeigneten Arbeitern, einfach aus und konnte ab Oktober 1943 befriedigende und im November sogar steigende Leistungen bei den sowjetischen Arbeitern im Bergbau registrieren.502 Die geschilderten Fälle von Auflehnung und Verweigerung lassen sich kaum als politischer Widerstand im Sinne etwa des Stufenmodells von Detlev Peukert503 verstehen, die Sabotagefälle vielleicht ausgenommen. Mit Martin ­Broszat

497 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Zweigwerk Schweizerthal, an Herrn F. am 19.10.1943 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 498 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an das Finanzamt Flöha betr. Ostarbeiterabgabe am 15.11.43 (ebd.); Baumwollspinnerei Gückelsberg an die Gemeinde Mohsdorf am 24.11.1943 (ebd.). 499 Vgl. z. B. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1942 und im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 500 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juli 1943 (ebd.). 501 Ebd. 502 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 und im November 1943 (ebd.). 503 Vgl. Detlev Peukert, Volksgenossen und Gemeinschaftsfremde. Anpassung, Ausmerze und Aufbegehren unter dem Nationalsozialismus, Köln 1982, S. 95–98.

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ließen sie sich unter dem Resistenzbegriff 504 subsumieren, wobei freilich zu fragen wäre, inwieweit diese Akte der Auflehnung die NS-Kriegswirtschaft wirklich zu schädigen in der Lage waren.505 Der Gegensatz, der sich zwischen der NS-Ideologie und den tatsächlichen Bedürfnissen der Kriegswirtschaft auftat, führte paradoxerweise dazu, dass viele jener Handlungen, die die Verantwortlichen als verwerflich einstuften, der Funktionsfähigkeit der Kriegswirtschaft zugute kamen. Das galt für die Weitergabe von Brot und Kleidung an die sowjetischen Zivilarbeiter ebenso wie für die Fluchtversuche von Zivilarbeitern und Kriegsgefangenen, die den an der Produktivität der Zwangsarbeiter interessierten Behörden immer wieder drastisch vor Augen führten, dass die Ernährung der Gefangenen zu verbessern war, wollte man wirklich von ihren Leistungen zu profitieren. Für die sowjetischen Zwangsarbeiter selbst war ein gewisses Maß an abweichendem Verhalten, ob es sich in Nonkonformität, Verweigerung oder Protest506 niederschlug, überlebenswichtig. Abweichendes Verhalten war meist eine Auflehnung gegen unzumutbare Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Jede Auflehnung war mit Risiken verbunden, konnte aber unter Umständen gewisse Erfolge haben, solange dadurch in den Augen des Regimes der Wert des Zwangsarbeiters oder der Zwangsarbeiterin als Arbeitskraft nicht soweit beeinträchtigt wurde, dass sie im Regimesinne „nutzlos“ wurde. Neben dem Geschlechtsverkehr mit Deutschen waren es vor allem die Flucht und Sabotage, die zu diesem „Wertverlust“ führten. Doch auch der Verzicht auf Auflehnung konnte zum Verlust der Arbeitsfähigkeit durch Unterernährung und Krankheiten führen und damit die Betroffenen in Lebensgefahr bringen. 5.6

Geburt und Mutterschaft

Schwangerschaften ausländischer Arbeiterinnen stellten für den NS-Staat ein doppeltes Problem dar. Zum einen entzogen sie dem NS-Staat Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft, zum anderen waren Kinder aus vom NS-Staat als rassisch minderwertig angesehenen Bevölkerungsgruppen erbbiologisch unerwünscht. Schwangere sowjetische und polnische Zivilarbeiterinnen schob der NS-Staat daher zunächst in ihre Heimat ab. Da die Arbeitseinsatzlage den Verlust von Arbeitskräften immer weniger zuließ, die Zahl der Schwangerschaften jedoch bald anstieg, auch weil viele junge Frauen nach Ansicht der Behörden diese als

504 Vgl. Martin Broszat, Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojektes „Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933–1945“ (1981). In: Nach Hitler, revidierte Aufl. München 1988, S. 136–161, hier 139. 505 Vgl. auch Schwartz, Regionalgeschichte, insbesondere S. 207–211; Klaus-Michael Mallmann/Paul Gerhard, Resistenz oder loyale Widerwilligkeit. Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff. In: ZfG, 41 (1993), S. 99–116. 506 Vgl. Peukert, Volksgenossen, S. 95–98.

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Mittel zur Rückkehr einsetzten, schränkte das NS-Regime die Abschiebungen schon nach kurzer Zeit erheblich ein, setzte sie im Winter 1942 aus und verbot sie Ende März 1943 für die Dauer des Krieges endgültig. Die Arbeitsämter wies Sauckel an, zusammen mit den Unternehmen Entbindungs- und Betreuungsstätten für Säuglinge und Kleinkinder zu schaffen. In Großbetrieben sollten die Schwangeren in der Krankenbaracke entbinden, auf dem Lande sollte nach örtlichen Lösungen gesucht werden. Schließlich sollte auch die Entbindung in Krankenhäusern zu Lehrzwecken für das dortige Personal möglich sein.507 Ab Frühjahr 1943 stellte das Regime für polnische und sowjetische Arbeiterinnen den Schwangerschaftsabbruch straffrei. In vielen Fällen wurde er sogar forciert, weil eine Abtreibung die Ausbeutung der Zwangsarbeiterin für die Kriegswirtschaft am wenigsten beeinträchtigte. Obwohl der Eingriff formal nur mit der Einwilligung der Arbeiterin vorgenommen konnte, wurden viele Polinnen und Sowjetrussinnen massiv unter Druck gesetzt, damit sie einer Abtreibung zustimmten.508 Schwangerschaft, Entbindung und Mutterschaft von Zwangsarbeiterinnen sind bisher noch wenig erforscht.509 Sicher ist, dass die Initiative den mittleren und unteren Reichsbehörden vorbehalten blieb, weil die zentralen Anweisungen relativ ungenau und unklar waren. Die Mittel- und Regionalbehörden gingen im Einzelnen sehr unterschiedlich vor. Im heutigen Niedersachsen wurden meist auf Kreisebene Heime für „Ostarbeiterkinder“ eingerichtet, in denen zum Teil auch Entbindungen vorgenommen wurden. Spätestens nach der Stillzeit mussten Frauen ihre Kinder in der Regel in solche Heime abgeben. Diese ähnelten wie überall in Deutschland mehr Sterbelagern als Heimen, weil Säuglinge und Kleinkinder bewusst unterernährt und vernachlässigt wurden. Raimond Reiter unterscheidet kleine und mittelgroße von großen „Heimen“. In ersteren lag die Sterblichkeitsrate bei 30–40, in letzteren bei bis zu 90 Prozent.510

507 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 160 f.; Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 151; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 206; Heusler, Ausländereinsatz, S. 360 f. 508 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 206; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 161 f., 166–173; Heusler, Ausländereinsatz, S. 361 f. 509 Vgl. die Bewertung bei Spoerer, Differenzierung, S. 565–568, 621 f. Einschlägig zum Thema bisher Schwarze, Kinder; Bernhild Vögel, „Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen“. Braunschweig, Broitzemer Straße 200, Hamburg 1989; Kerstin Kersandt, Doppelte Entrechtung – „Ostarbeiterinnen“ und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg im Raum Wiesbaden-Mainz. In: Hedwig Brüchert/Michael Matheus (Hg.), Zwangsarbeit in Rheinland-Pfalz während des Zweiten Weltkriegs. Mainzer Kolloquium 2002, Stuttgart 2004, S. 55–63; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 205–209; zum weiteren Schicksal vieler dieser Kinder siehe Raimond Reiter, Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg. Zum Spannungsverhältnis von kriegswirtschaftlichem Arbeitseinsatz und nationalsozialistischer Rassenpolitik in Niedersachsen, Hannover 1993; kurze Anmerkungen bei Hildt, Zwangsarbeiterinnen, S. 204 f. 510 Vgl. Reiter, Tötungsstätten, insbes. S. 201; Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 207–209; Schwarze, Kinder, S. 158 f.

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In einigen Reichsgauen gab es zentrale Entbindungslager wie beispielsweise Waltrop-Holthausen, das 1943 in Zusammenarbeit mit dem Gauarbeitsamt eine Gemüseanbaugenossenschaft einrichtete. Das Lager sollte bis zu 500 schwangere „Ostarbeiterinnen“ und Polinnen aus ganz Westfalen aufnehmen, die während der Schwangerschaft und für eine gewisse Zeit nach der Geburt auf den Gemüsefeldern der Genossenschaft arbeiten sollten.511 Daneben existierten Entbindungslager der verschiedensten Träger. Im Kreis Schwäbisch-Hall richtete die Kreisbauernschaft das Lager „Gantenwald“ ein, das gleichzeitig eine „Ausländerkinderpflegstätte“ war.512 Das Lager „Pfaffenwald“ bei Hersfeld unterstand dem Arbeitsamt, andere Lager wurden von Industriebetrieben oder der DAF getragen.513 Den meisten der bisher bekannten Entbindungslager gemeinsam sind mangelnde ärztliche Versorgung, äußerst unzureichende Hygienestandards sowie eine hohe Sterberate der Kinder bei der Geburt oder kurz danach.514 Bessere Bedingungen fanden oft diejenigen Frauen vor, die auch für Deutsche zuständige Institutionen nutzen konnten, zum Beispiel kirchliche Heime515 wie etwa in Soest oder Krankenhäuser wie etwa in Wiesbaden516 oder in München, wo polnische oder sowjetische Arbeiterinnen als sogenannte Hausschwangere zu Lehrzwecken aufgenommen wurden.517 In Sachsen gab es einer Aufzählung des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz zufolge 1944 zwölf „Ausländerkinderpflegestätten“, wobei offenbleiben muss, wie viele davon auch Entbindungslager waren.518 Näher erforscht ist bisher lediglich das große, von der DAF betriebene, Entbindungsheim „Kiesgrube“ am Stadtrand von Dresden, für das zwischen 1943 und 1945 rund 500 Geburten und über 200 Todesfälle belegt sind und das wahrscheinlich eine zentrale Funktion für Südostsachsen besaß.519 Für die Region Chemnitz erwähnt das Arbeitsamt Annaberg im Dezember 1943 „Entbindungsunterkünfte bei 2 größeren Firmen“, die aber wegen der hohen Zahl schwangerer Polinnen und „Ostarbeiterinnen“ voll besetzt seien,520 was darauf hindeutet, dass Entbindungen polnischer und sowjetischer Arbeiterinnen im Regierungsbezirk Chemnitz anders als in Südostsachsen dezentral organisiert waren. In der Region betrieb die Baumwollspinnerei Gückelsberg

511 Vgl. ebd., passim. 512 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 215 f. 513 Vgl. Schwarze, Kinder, S. 158; Kersandt, Entrechtung, S. 60. 514 Vgl. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz, S. 208 f. 515 Vgl. Schwarze, Kinder, S. 159 f. 516 Vgl. Kersandt, Entrechtung, S. 60. 517 Vgl. Heusler, Ausländereinsatz, S. 365; Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 165. 518 Vgl. Schwarze, Kinder, S. 313, Anm. 214. 519 Vgl. Alexander Fischer, „Fremdarbeiter“ und Kriegsgefangene in Sachsen 1939–1945. Der „Ausländereinsatz“ in der Region, unveröffentlichte Magisterarbeit, Dresden 2001, S. 89–96, insbes. S. 92. 520 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Dezember 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.).

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William Schulz AG aus Flöha zwei weitere Entbindungslager. Anhand dieser beiden Lager wird im Folgenden erstmals die Trägerschaft solcher Lager durch mittelständische Industrieunternehmen näher analysiert. Da die Lager neben „Ostarbeiterinnen“ auch andere osteuropäische Arbeiterinnen beherbergten, werden diese in die Schilderung mit einbezogen. Die Baumwollspinnerei Gückelsberg war eine Aktiengesellschaft von regio­ naler Bedeutung, die 1944 ihr 125-jähriges Bestehen feierte. Seit Mitte der 1930er-Jahre stellte sie ihre Produktion von der reinen Baumwollspinnerei zunehmend auf das Verspinnen von Zellwolle um. Im Frühsommer 1942 produzierte die Spinnerei vor allem für die Wehrmacht, daneben bediente sie den kriegswichtigen Inlandsbedarf. Sie besaß zu dieser Zeit eine Belegschaft von rund 420 Personen, von denen etwa 245 im Hauptwerk in Flöha und etwa 175 in einem Zweigwerk im Mohsdorfer Ortsteil Schweizerthal arbeiteten. Ausländerinnen und Ausländer waren bis dahin keine darunter. Der Umsatz lag zwischen 1940 und 1944 bei einer Größenordnung von 3 bis 4 Millionen RM jährlich.521 Nachdem die Firma im Frühjahr 1942 beim Arbeitsamt Flöha mehrfach um die Zuweisung von Arbeitskräften nachgesucht hatte, trafen Ende Juni 1942 die ersten zehn „Ostarbeiterinnen“ bei dem Unternehmen ein. In einem Bericht an die Gemeinde Flöha schildert die Firma die Umstände ihrer Ankunft wie folgt: „Am 26. Juni 1942 traf auf dem Bahnhof in Flöha ein Zug mit ausländischen Arbeitern ein. Offensichtlich hatte das Arbeitsamt nicht genügend Unterkunftsmöglichkeiten, denn es fragte bei uns fernmündlich zurück, ob wir evt. in der Lage sind, einige Ostarbeiter aufzunehmen. Da wir gerade in dem der Walkmühle anhängenden Hause Platz gemacht hatten, sagten wir die Aufnahme zu.“522 Die Darstellung, dass die Firma eher zufällig zu den sowjetischen Arbeiterinnen gekommen sei, ist sicherlich auch der Nachkriegssituation und dem Bestreben geschuldet, sich als möglichst wenig in die Verbrechen des NS-Regimes verstrickt zu zeigen. Sie dürfte dennoch ein Körnchen Wahrheit enthalten haben: Im Frühsommer 1942 trafen in Sachsen außerordentlich viele sowjetische Zwangsarbeiter ein. Dem Landesarbeitsamt war es gelungen, Transporte nach Sachsen umzuleiten, die eigentlich für andere Arbeitsamtsbezirke bestimmt wa-

521 Vgl. Treuhand-Aktiengesellschaft, Bericht über die bei der Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Flöha, ausgeführte Prüfung des Jahresabschlusses zum 31.12.1944 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1344, unpag.); Baumwollspinnerei Gückelsberg, Zweigwerk Schweizerthal, am 28.5.1943, Zusatzblatt zur Kräfteanforderung (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 671, unpag.); Baumwollspinnerei Gückelsberg am 3.6.1942, Zusatzblatt zur Kräfteanforderung (ebd.); Geschäftsberichte der Baumwollspinnerei Gückelsberg für die Jahre 1933–1941 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1344, passim). 522 [Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG] an die Gemeinde Flöha am 12.1.1946 betr. Befehl Nr. 163 des Obersten Chefs der SMA in Deutschland (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.).

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ren, aber dort nicht untergebracht werden konnten.523 Bis Ende Juni 1942 waren rund 3 000 sowjetische Zivilarbeiter in der Region Chemnitz eingesetzt worden, weitere 6 000 wurden für den Juli erwartet.524 Behörden und Unternehmen hatten erhebliche Schwierigkeiten, die neuen Arbeitskräfte unterzubringen. Es ist also durchaus denkbar, dass diese erst einmal relativ wahllos auf Unternehmen verteilt wurden, die bereits Unterkünfte zur Verfügung stellen konnten, zumal zu dieser Zeit, im Sommer 1942, die Zahl der sowjetischen Zivilarbeiter noch allgemein als unerschöpflich galt.525 Die Baumwollspinnerei Gückelsberg gehörte als Textilunternehmen trotz ihrer Wehrmachtsaufträge nicht zu denjenigen Betrieben, die in der NS-Kriegswirtschaft vorrangig mit Arbeitskräften versorgt wurden. Im Gegenteil, im Jahr 1941 war sie nur knapp der Stilllegung ihres Zweigwerks Schweizerthal entgangen, unter Einsatz der Kontakte des Vorstandschefs Johann-Georg Schulz zum Reichswirtschaftsministerium und unter Hinweis auf die Modernisierungen, die die Firma im Schweizerthaler Werk bei der die Zellwollverspinnung seit 1939 vorgenommen hatte.526 Seit Kriegsbeginn hatte sie zudem die Reduzierung der Belegschaft ihres Hauptwerks um die Hälfte hinnehmen müssen.527 Für eine relativ unkoordinierte Zuweisung spricht schließlich, dass die Baumwollspinnerei für ihr Hauptwerk beim Arbeitsamt Flöha lediglich sieben Arbeitskräfte angefordert hatte,528 nun aber zehn Arbeiterinnen zugeteilt bekam. Die Neuankömmlinge waren junge Mädchen zwischen 17 und 20 Jahren, Ukrainerinnen aus Bertjansk, die noch nie in einem Industriebetrieb gearbeitet hatten, mit deren Arbeitsleistung das Unternehmen sich gleichwohl sehr zufrieden zeigte. Einer weiteren im Juli zugewiesenen 17-Jährigen, die vorher in der Landwirtschaft eingesetzt gewesen und der schweren körperlichen Arbeit dort nicht gewachsen war, entledigte sich das Unternehmen nach einigen Wochen wieder, weil die junge Frau auch bei der Baumwollspinnerei über Schmerzen klagte und im Bett bleiben musste.529 Außerdem beschäftigte die Firma z­ wischen 523 Vgl. Dienstbesprechung mit den Leitern der sächsischen Arbeitsämtern am 7.7.1942 (StadtA Chemnitz, AA Chemnitz 5, Bl. 40–44, hier 41). 524 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 4.7.1942, Aktennotiz betr. Beschaffung von provisorischen Unterkünften für ausländische Arbeiter (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 9, unpag.). 525 Vgl. Kap. V. 4. 526 Vgl. Schulz an Töpfer am 15.10.1941 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 763, unpag.). 527 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg an AA Flöha am 3.6.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 671, unpag.). 528 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg am 3.6.1942, Zusatzblatt zur Kräfteanforderung (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 671, unpag.). 529 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an die DAFKreiswaltung Flöha am 17.7.1942 betr. Ostarbeiter (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932); „Bei der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG beschäftigt gewesene ausländische Arbeitskräfte“, o. V., o. D. [wahrscheinlich 1946] (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); „Beschäftigte Ostarbeiterinnen im Hauptwerk Flöha“, o. V., o. D. (ebd.).

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Dezember 1942 und März 1943 vier weitere sowjetische Arbeiterinnen aus der Landwirtschaft, ebenfalls zwischen 18 und 22 Jahre alt, die ihr für den Wintereinsatz in der Industrie zugewiesen worden waren.530 Im Februar 1943 richtete die Baumwollspinnerei Gückelsberg im Einvernehmen mit der DAF Flöha und dem Arbeitsamt Flöha das Entbindungslager „Walkmühle“ ein. Es sollte ab 1. März 1943 schwangere „Ostarbeiterinnen“ aus dem Arbeitsamtsbezirk Flöha aufnehmen.531 Das Lager befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Hauptwerks in Flöha, es dürfte sich dabei um das oben erwähnte Grundstück der ehemalige Walkmühle mit der Adresse „Fabrikweg 6“ gehandelt haben. Die Firma wandelte das bereits bestehende Lager teilweise in ein Entbindungslager um. Es wurde jedoch gleichzeitig als Wohnlager weiter genutzt. So lebten im September 1943 zehn Erwachsene und zwei Kinder dort, Ende Juni 1944 waren es 16 Erwachsene und sechs Kinder. Bis zum Februar 1945 nahm die Zahl sogar auf 23 Erwachsene und 15 Kinder zu.532 Nicht alle Kinder waren freilich im Lager geboren. Eine Reihe von ihnen wurde von ihren Müttern oder ihren Eltern mitgebracht. Ebenfalls im Frühjahr 1943 muss das Unternehmen auch die Planung für ein zweites Entbindungslager aufgenommen haben, das offenbar in unmittelbarer Nähe des Zweigwerks Schweizerthal in Mohsdorf lag und eine Aufnahmekapazität für 50 Personen haben sollte.533 Dieses Lager scheint gleichfalls als Wohnlager schon früher bestanden zu haben, war aber wohl lange unbelegt.534 Wie das Zweigwerk selbst lag auch das Entbindungslager im Bezirk des Arbeitsamtes Burgstädt und deshalb nahm es hauptsächlich schwangere „Ostarbeiterinnen“ dieses Arbeitsamtsbezirks auf.535 Außerdem waren dort sowjetische Zwangs-

530 Vgl. „Bei der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG beschäftigt gewesene ausländische Arbeitskräfte“, o. V., o. D. [wahrscheinlich 1946] (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); „Beschäftigte Ostarbeiterinnen im Hauptwerk Flöha“, o. V., o. D. (ebd.). 531 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an AA Flöha am 17.2.1943 betr. Entbindungslager für Ostarbeiterinnnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 532 Vgl. die Meldung zur Belegung des Betriebslagers bzw. Gemeinschaftslagers „Walkmühle“ (4927/10/8) an die DAF vom 6.9.1943 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.), die Meldung vom 30.6.1944 (ebd.); und die Meldung vom 27.1.1945 (ebd.). 533 [Verfasser unleserlich] an Hans Schulz, Schweizerthal, am 15.2.1943 betr. Beschaffung von Emaillewaren für Ostarbeiterlager (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 534 Vgl. Arbeitsvertrag zwischen Fräulein Hildegard S. und der Lagergemeinschaft der Firmen Richard Dietrich, Markersdorf, und Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Flöha, für das Zweigwerk Schweizerthal am 17.8.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 762, unpag.). 535 Vgl. z. B. AA Burgstädt an die DAF-Kreiswaltung Rochlitz am 6.6.1943 betr. Ostarbeiterin Odorka G. der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Schweizerthal/Chemnitzthal (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); [Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG] an die Gemeinde Mohsdorf am 18.1.1946 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.).

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arbeiterinnen und Zwangsarbeiter des Textilunternehmens Richard Dietrich aus dem ebenfalls zur Gemeinde Mohsdorf gehörenden Markersdorf untergebracht.536 Unklar ist, ob das Lager mit dem Lager „Grüne Wiese“ identisch ist, das im November 1943 mehrere sowjetische Familien beherbergte, die sich aus 22 Frauen, drei Männern, drei Jugendlichen, neun Kindern zwischen zwei und zwölf Jahren und fünf Kleinkindern und Säuglingen zusammensetzten.537 Einer vermutlich nach dem Krieg zusammengestellten Übersicht zufolge538 wurden im Lager „Walkmühle“ in Flöha zwischen März 1943 und Februar 1945 zwölf Kinder geboren. Dazu kam eine nicht zweifelsfrei belegbare Fehlgeburt einer Polin.539 Drei Kinder kamen als Säuglinge oder Kleinkinder, zwei als Fünf- bis Sechsjährige mit ihrer Mutter ins Lager. Zwei der im Lager entbundenen Kinder waren polnischer Herkunft, die übrigen Kinder hatten sowjetische Mütter.540 Die meisten der Schwangeren, die in der „Walkmühle“ entbanden, kamen von Bauern in der Umgebung, jedoch sandten auch Industrieunternehmen wie die Blauwerke Zschopau oder der Lack- und Farbenhersteller Theodor Kotthoff ihre Arbeiterinnen dorthin.541 Über die Todesrate im Lager lässt sich wenig sagen. Nachgewiesen ist lediglich der Tod des kleinen Josef A., den seine Mutter als wenige Tage alten Säugling ins Lager mitgebracht hatte und der Ende November 1944 im Alter von einem halben Jahr an einem „Magenleiden“ verstarb.542 Folgt man einer zeitgenössischen Aufstellung über die Lagerinsassen, so lebten am 1. Februar

536 Vgl. Fa. Richard Dietrich, Markersdorf (Chemnitzthal), am 8.11.1943 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); [Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG] an die Gemeinde Mohsdorf am 18.1.1946 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); Arbeitsvertrag zwischen Fräulein Hildegard S. und der Lagergemeinschaft der Firmen Richard Dietrich, Markersdorf, und Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Flöha, für das Zweigwerk Schweizerthal am 17.8.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 762, unpag.). 537 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an Baubevollmächtigten des Reichsministeriums Speer im Bezirk der Rüstungsinspektion IVa am 9.11.1943 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 538 Namen der von Ostarbeiterinnen im Entbindungsheim „Walkmühle“ zu Flöha geborenen Kinder, o. V., o.D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 539 Vgl. die Angaben zu Natalja S.; „Polen. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 540 Vgl. Namen der von Ostarbeiterinnen im Entbindungsheim „Walkmühle“ zu Flöha geborenen Kinder, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); „Ostarbeiterkinder. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 958, unpag.); „Polenkinder. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“ (ebd.). 541 Vgl. „Bei der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG beschäftigt gewesene ausländische Arbeitskräfte“, o. V., o. D. [wahrscheinlich 1946] (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 542 „Ostarbeiter. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 958, unpag.).

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1945 immerhin zehn der elf bis dahin in der „Walkmühle“ geborenen Kinder noch im Lager.543 Möglich ist allerdings, dass in der angesprochenen Übersicht Tot- und Fehlgeburten fehlen. Für das Schweizerthaler Lager sind durch verstreute Hinweise 13 Entbindungen zwischen Sommer 1943 und Sommer 1944 belegt. Ein Kind kam tot zur Welt, mindestens drei weitere starben kurze Zeit nach der Geburt.544 Wenn diese Zahlen so stimmen, so lag die Sterblichkeit vor allem im Schweizerthaler Lager deutlich höher als die Sterblichkeit von deutschen Säuglingen vor dem Krieg, aber immer noch unter derjenigen vieler anderer Lager, für die die Forschung Raten zwischen 25 und 90 Prozent ausweist.545 Im Lager „Walkmühle“ scheinen die Kinder sogar relativ gute Überlebenschancen gehabt zu haben, vorausgesetzt die oben erwähnte Übersicht ist vollständig. Die Einrichtung der beiden Lager lässt sich nicht rekonstruieren. Man hat sie sich wohl äußerst einfach vorzustellen. Einer undatierten Anweisung unbekannter Herkunft zufolge sollte der „Entbindungsraum“ aus einem einfachen Zimmer bestehen „und kann evtl. vom Hauptschlafraum durch Holz abgeschlagen werden“.546 Er sollte beheizbar sein, eine warme Waschgelegenheit und ein frei stehendes Bett besitzen. Die Mütter sollten weder Säuglingswäsche noch ein Bett erhalten, sondern sich selber darum kümmern, solche Dinge zu nähen oder herzurichten. Dass ihnen entsprechenden Stoffe oder Materialien zur Verfügung gestellt werden sollten, sah die Anweisung allerdings nicht vor. Eine deutsche Hebamme war, „falls notwendig“, zur Entbindung herbeizuholen, vor einem Arzt ist nirgends die Rede.547 Unternehmensmanager und Lagerführer wurden in der Anweisung darauf aufmerksam gemacht, „dass die Raumgestaltung, die Entbindung, die Wartung des Neugeborenen usw. auf keinen Fall nach deutschen Gesichtspunkten durchzuführen ist. Es ist immer zu bedenken, dass es sich gerade in diesen Dingen um sehr urwüchsige Menschen handelt, die in Russland unter viel primitiveren

543 Vgl. ebd.; „Polenkinder. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“ (ebd., unpag.). 544 Vgl. Meldung des Werks Schweizerthal an Herrn K. am 28.10.1943 über das Eintreffen neuer Zwangsarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); Meldung vom 26.6.1944 (ebd.); sowie Meldung o. D. (ebd.); [Notiz] am 30.12.1943, o. V. (ebd.); AA Burgstädt an Alfred D., Bauer, am 9.7.1943 betr. Umsetzung schwangerer Ostarbeiterinnen (ebd.); Baumwollspinnerei Gückelsberg an Finanzamt Flöha am 8.11.1943, am 15.11.1943, am 30.11.1943 und am 28.2.1944 betr. Ostarbeiterabgabe (ebd.); AA Burgstädt an die DAF-Kreiswaltung Rochlitz am 6.6.1943 betr. Ostarbeiterin Odorka G. der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Schweizerthal/Chemnitzthal (ebd.). 545 Vgl. Spoerer, Differenzierung, S. 567. Eine relativ gute Behandlung scheinen die Kinder des Lagers „Willi“ der Stadt Wiesbaden erfahren zu haben; vgl. Kersandt, Entrechtung, S. 61–63. 546 Vgl. „Betr. schwangere Ostarbeiterinnen. Abschrift“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 547 Vgl. ebd.

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Verhältnissen den Geburtsakt bestehen und das Aufziehen ihrer Säuglinge vornehmen.“548 Wie bei der Versorgung mit materiellen Gegenständen diente auch hier der Rückbezug auf eine vermeintliche Primitivität der Menschen und die elenden Lebensverhältnisse in der Sowjetunion als Rechtfertigung dafür, den gebärenden Frauen eine angemessene Versorgung vorzuenthalten. Das Mutterschutzgesetz, von den Nationalsozialisten 1942 erlassen und als eine der größten sozialen Errungenschaften des Regimes gefeiert, galt für sowjetische und polnische Mütter nicht. Daher galten für sie auch keine verbindlichen Fristen für die Ruhezeit vor und nach einer Entbindung. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Sauckel gewährte den werdenden Müttern lediglich einen gewissen Mindestschutz für die Zeit zwei Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt.549 Die bereits erwähnte Anweisung in den Unterlagen der Baumwollspinnerei sah den Arbeitseinsatz so lange wie möglich vor der Geburt vor, bei Beschwerden sollten der Schwangeren leichtere Arbeiten im Lager oder in der Werksküche gegeben werden. Für die Frist bis zur Wiederaufnahme der Arbeit nach der Geburt wurden zehn Tage empfohlen.550 Den wenigen überlieferten Einzelfällen nach zu urteilen scheinen in Schweizerthal Lagerverwaltung und Firma mit diesen Fristen eher flexibel zugunsten der Mütter umgegangen zu sein. So nahm Alexandra M. erst gut drei Wochen nach der Geburt ihrer Tochter die Arbeit wieder auf.551 Jefrosinja W. traf mit ihrem zehn Tage alten Toni im Lager ein. Eine Woche nach ihrer Ankunft versuchte sie zum ersten Mal zu arbeiten, blieb dann aber noch eine weitere Woche im Lager und begann erst drei Wochen nach der Geburt des Kindes endgültig mit ihrer Tätigkeit im Werk Schweizerthal.552 Für Unterkunft und Verpflegung berechnete das Unternehmen den Müttern die Hälfte des üblichen Satzes von 1,50 RM täglich. Zum Teil gingen diese Kosten nach entsprechenden Anträgen des Unternehmens beim Finanzamt Flöha zu Lasten der „Ostarbeiterabgabe“.553 Wie viel Nahrung die Kinder nach dem Abstillen erhielten, ließ sich nicht ermitteln, doch wenn die oben genannten Sterblichkeitszahlen stimmen, dürften die Rationen in den meisten Fällen ein Überleben der Kinder ermöglicht haben. Doch auch wenn in den Lagern der Baumwollspinnerei Gückelsberg weniger grauenhafte Zustände geherrscht haben mögen als in vielen anderen

548 Ebd. 549 Vgl. Schäfer, Zwangsarbeiter, S. 162. 550 „Betr. schwangere Ostarbeiterinnen. Abschrift“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 551 Meldung des Werks Schweizerthal an „Herrn Kuhn“ am 26.6.1944 über das Eintreffen von Alexandra M. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 552 Vgl. Meldung des Werks Schweizerthal an „Herrn Kuhn“ am 12.9.1944 über das Eintreffen von Jefrosinja W. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 553 Vgl. Kap. V.5.4.

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­ ntbindungslagern und Kinderheimen des Reiches, so war das Leben dort E doch so hart, dass sich viele der jungen Frauen von dort wegsehnten. Insbesondere bei den verheirateten oder in fester Partnerschaft lebenden Frauen ist an zwei überlieferten Fluchtversuchen erkennbar, dass sie unter der durch die Schwangerschaft und die Geburt erzwungenen Trennung litten.554 Aber auch nicht verheiratete Mädchen blieben oft ungern in den Lagern der Baumwollspinnerei: So berichtete die Lagerleiterin in Schweizerthal im Herbst 1943, „dass die Ostarbeiterin Maria P. geäußert hat, sie wolle zu ihrem Bauer, dem Gutsbesitzer Max B., zurückgehen. Ferner soll sie geäußert haben, dass der Bauer die evtl. ausgesetzte Strafe gern selbst bezahlen will.“555 Das Kind, das Maria P. im Sommer oder Herbst 1943 zur Welt brachte, starb im November desselben Jahres. Spätestens im Sommer 1944 hatte die Arbeiterin das Lager in Schweizerthal verlassen.556 In besonderen Fällen konnte das Schicksal der Frauen sogar einen Lagerleiter rühren. Zusammen mit der schwangeren Raissa H. traf bei der Baumwollspinnerei Gückelsberg im September 1944 ein Schreiben aus einem Lager der Deutschen Kühl- und Kraftmaschinen GmbH im Zschopautal ein. Der Lagerleiter berichtete, Raissa H. habe in der Sowjetunion bereits seit zwei Jahren mit dem Volksdeutschen Anton E. zusammengelebt und sei auch mit ihm zusammen nach Deutschland gekommen. In der Volksdeutschen Mittelstelle seien sie getrennt worden. Anton E. hätte als volksdeutscher Umsiedler ins Wartheland abreisen müssen, Raissa H. sei als „Ostarbeiterin“ zur DKK Scharfenstein gekommen: „In mehreren Briefen bat E. in rührender Weise, ihm zur Eheschließung mit der H. behilflich zu sein. Er macht einen guten Eindruck und der H., Raissa, können wir wirklich auch nur Gutes nachsagen. Das Schicksal beider entbehrt nicht einer gewissen Tragik und unsere besten Wünsche begleiten beide für die Zukunft.“557 Im Oktober 1944 brachte Raissa H. ihre Tochter Irina zur Welt. Trotz der Bemühungen ihres Partners musste sie mit ihrem Kind558 bis zum Ende des Krieges im Lager in Schweizerthal ausharren. Am 10. Mai 1945 reiste sie zusammen mit den meisten anderen „Ostarbeiterinnen“ der Firma in

554 Siehe die Schicksale von Helena W., Kap. V. 5. 5., und Odorka G. in diesem Kapitel unten. 555 Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG an AA Burgstädt am 21.10.1943 betr. Entbindungslager für Ostarbeiterinnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 556 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg an Finanzamt Flöha am 15.11.1943 betr. Ostarbeiterabgabe (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); Meldung des Werks Schweizerthal an „Herrn Kuhn“ am 6.7.1944 über das Eintreffen von Tamara M. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 557 Gemeinschaftslager Scharfenstein (Zschopautal) der Deutsche Kühl und Kraftmaschinen GmbH am 25.9.1944, Bescheinigung betr. H., Raissa (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 558 Der letzte Beleg dafür, dass das Kind am Leben blieb, stammt vom 1.2.1945; vgl. „Ostarbeiter. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 958, unpag.).

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Richtung Sowjetunion ab.559 Ob sie ihren Partner je wiedergesehen hat, muss offenbleiben. Welche Motive hatte die Baumwollspinnerei Gückelsberg, Entbindungslager für polnische und sowjetische Arbeiterinnen zu errichten? Schwangere, Gebärende und junge Mütter bedeuteten für jeden Betrieb eine Belastung, da sie nicht rücksichtslos zur Arbeit einsetzbar waren. Überdies fielen Kosten für die Errichtung und Unterhaltung des Lagers an. Die Kosten für die Entbindung selbst wurden zwar von der Krankenversicherung oder dem Reichsstock für den Arbeitseinsatz getragen. Auch die Unterhaltskosten von 1,50 RM pro Tag bei „Arbeitsunfähigkeit“ sollte die Krankenversicherung dem Unternehmer ersetzen.560 Da jedoch die Krankenversicherung bei der Gewährung von Leistungen einen Ermessensspielraum besaß und eine Arbeitsunfähigkeit von „Ostarbeiterinnen“ vor oder nach der Geburt eher zu Ungunsten der Arbeiterin definiert worden sein dürfte, war nicht gesichert, dass das Unternehmen in diesem Zusammenhang entstehende Unterhalts- und Verpflegungskosten zurückerhielt. Die Baumwollspinnerei Gückelsberg kam mit den Arbeitsämtern Flöha und Burgstädt überein, als Gegenleistung für die Trägerschaft des Lagers die zur Entbindung überwiesenen Arbeitskräfte nach der Geburt ihrer Kinder als Arbeitskräfte zu behalten und mit Genehmigung der jeweiligen Arbeitsämter in ihren Werken in Flöha und Schweizerthal einzusetzen: „Wenn wir uns entschlossen haben“, so das Unternehmen gegenüber dem Arbeitsamt Flöha im Februar 1943, „die Ostarbeiterinnen, die in Kürze ihrer Niederkunft entgegengehen, durch gleichzeitige Erweiterung des bestehenden Lagers aufzunehmen, dann knüpfen wir zur Deckung der damit verbundenen erheblichen Unkosten daran lediglich die Bedingung, dass das Arbeitsamt uns die Ostarbeiterinnnen nach der Entbindung belässt.“561 Anders als bei den meisten Entbindungsstätten verließen bei der Firma Gückelsberg Entbundenen das Lager nicht nach wenigen Tagen wieder. Sie wurden in unmittelbarer Nähe ihrer Kinder weiter beschäftigt. Möglicherweise verdankten die Kinder ihre gegenüber anderen Lagern etwas höheren Überlebenschancen auch der Tatsache, dass sie mit ihren Müttern zusammenbleiben konnten.

559 Vgl. „Bei der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG beschäftigt gewesene ausländische Arbeitskräfte“, o. V., o. D. [wahrscheinlich 1946] (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 560 Vgl. „Betr. schwangere Ostarbeiterinnen. Abschrift“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); Merkblatt zur Bestimmung des RAM über die Krankenversorgung der Ostarbeiter vom 1.8.1942 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 561 Baumwollspinnerei Gückelsberg an AA Flöha am 17.2.1943 betr. Entbindungslager für Ostarbeiterinnnen (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); für die entsprechende Übereinkunft mit dem AA Burgstädt hinsichtlich des Lagers in Schweizerthal vgl. AA Burgstädt an die DAF-Kreiswaltung Rochlitz am 6.6.1943 betr. Ostarbeiterin Odorka G.der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Schweizerthal/Chemnitzthal (ebd.).

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Aus reiner Nächstenliebe waren die Verantwortlichen der Baumwollspinnerei freilich nicht auf die beschriebene Lösung verfallen, wie die Geschichte der jungen „Ostarbeiterin“ Odorka G. zeigt. Die 18-jährige verheiratete Frau hatte zusammen mit ihrem Mann bei der Firma Penika KG, Kirsten & Co. in Penig gearbeitet. Nachdem sie schwanger geworden war, war sie im Frühling 1943 in das Entbindungslager der Baumwollspinnerei Gückelsberg in Schweizerthal gekommen. Odorka G. erlitt jedoch eine Fehlgeburt und scheint sich danach auf eigene Faust auf den Rückweg zu ihrem ursprünglichen Arbeitgeber und vor allem zu ihrem Mann gemacht zu haben.562 Nun hätte die Baumwollspinnerei Gückelsberg die Sache auf sich beruhen lassen können. Doch setzte sie die DAF-Kreiswaltung Rochlitz in Bewegung, weil sie das Verhalten Odorka G.s als „Arbeitsvertragsbruch“ wertete. Auf das Beschwerdeschreiben der DAF reagierte das zuständige Arbeitsamt Burgstädt mit der Feststellung, dass es sich aus seiner Sicht nicht um einen „Arbeitsvertragsbruch“ handele. Vielmehr habe angesichts der Tatsache, dass Odorka G. eine Fehlgeburt erlitten habe, die Zusammenführung des Paares Vorrang vor den Rechten der Baumwollspinnerei, die bei ihnen entbundenen Frauen nach ihrer Niederkunft weiter für sich arbeiten zu lassen: „Oberster Grundsatz des Ausländereinsatzes ist, dass die Ausländer so angesetzt werden, dass die bestmöglichste Leistung erzielt wird. Hierzu gehört, dass Verheiratete nicht getrennt werden, um Missstimmung und die damit zwangsläufig verbundene Arbeitsunfreudigkeit zu vermeiden, es sei denn, dass besonders gelagerte Verhältnisse zwingen, diesen Nachteil in Kauf zu nehmen“,563 so führte das Arbeitsamt aus. „Hätte die Ostarbeiterin ein lebendes Kind geboren, so wäre ihr Verbleib im Lager Schweizerthal die zwangsläufige Folge gewesen. Da das Kind jedoch tot geboren wurde, entfielen die Voraussetzungen, unter denen das Lager seinerzeit überhaupt erst errichtet wurde. Dabei billige ich der Fa. Baumwollspinnerei Gückelsberg ohne weiteres zu, dass ledige Schwangere, die ebenfalls tote Kinder gebären, dem Betriebe verbleiben, denn schließlich ist dieser nicht nur eine Niederkunftsstation, sondern für die übernommenen Pflichten entstehen ihm Rechte, zu deren Wahrung ich verpflichtet bin.“564 Das Arbeitsamt erlaubte der Baumwollspinnerei Gückelsberg, sich die Kosten für die Entbindung von der Firma Penika KG, Kirsten & Co. ersetzen zu lassen. Eine daraufhin von der Baumwollspinnerei erstellte Rechnung weist stolze 81,40 RM aus. Den Löwenanteil machen Arzt-, Hebammen- und Beerdigungskosten aus, aber auch die 3,70 RM Telefongebühren, die der Firma wegen der

562 Vgl. AA Burgstädt an die DAFKreiswaltung Rochlitz am 6.6.1943 betr. Ostarbeiterin Odorka G. der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Schweizer­ thal/Chemnitzthal (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 563 AA Burgstädt an die DAF-Kreiswaltung Rochlitz am 6.6.1943 betr. Ostarbeiterin Odorka G. der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Schweizerthal/ Chemnitzthal (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 564 Ebd.

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Abwesenheit von Odorka G. entstanden, sind penibel nach einzelnen Gesprächen aufgeführt.565 Ebenso wie das in einem früheren Kapitel bereits geschilderte Geschehen um die „Ostarbeiterin“ Helena W.566 verdeutlicht dieser Vorfall, dass es der Baumwollspinnerei keinesfalls in erster Linie um das Wohl der jungen Frauen ging. Vielmehr erhielt das Unternehmen auf diese Weise Arbeitskräfte, die es gemäß der Prioritäten der NS-Kriegswirtschaft sonst wohl nicht hätte bekommen können. Die Kosten für die Errichtung der Lager und dessen Unterhalt waren Investitionen in die Arbeitskräftebeschaffung. Die Verteilung der Entbindungslager auf zwei verschiedene Arbeitsamtsbezirke machte das Verfahren zusätzlich effizient, weil es dadurch gelang, schwangere Arbeiterinnen gleich aus mehreren Amtsbezirken zu rekrutieren. Die Rekrutierung dieser neuen Arbeitskräfte war umso wichtiger, als das Unternehmen parallel dazu zwischen 1942 und 1945 mit weiteren Arbeitskräfteabzügen zu kämpfen hatte. Allein im Herbst 1943 hatte es im Werk Schweizerthal 30, im Werk Flöha 54 Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie abzugeben. Es gelang zwar, diese Kräfte für textilfremde Fertigungen anderer Firmen in den Räumen der Spinnerei einzusetzen.567 Trotzdem sank die Zahl der Arbeiterinnen und Arbeiter der Firma zwischen 1942 und 1944 von 375 um 13 Prozent auf nunmehr 327. Insbesondere das Hauptwerk Flöha hatte mit einer Reduzierung der Arbeiterbelegschaft um 40 auf 173 Arbeiterinnen und Arbeiter kräftig Federn lassen müssen.568 Eine nach dem Krieg gefertigten Übersicht über die Beschäftigung ausländischer Arbeiter im Hauptwerk Flöha dokumentiert den Stellenwert, den Schwangere und Familien bei der Rekrutierung von Arbeitskräften für das Unternehmen spielten: Der Übersicht zufolge beschäftigte das Hauptwerk der Firma in Flöha im Verlauf des Krieges insgesamt 47 ausländische Arbeitskräfte. Zehn davon stellten die bereits 1942 eingetroffenen jungen Ukrainerinnen, von denen die meisten nach und nach zu anderen Arbeitgebern abgezogen wurden. Ferner waren vier sowjetische Arbeiterinnen für drei Monate über den Winter 1942/43 befristet von der Landwirtschaft in die „kriegswichtige Industrie“ versetzt worden, eine weitere blieb lediglich wenige Tage. Von den ab 1943 dem Werk Flöha zugewiesenen 32 ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern

565 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg an Penika KG, Kirsten & Co. am 11.6.1943 betr. Ostarbeiterin (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 566 Vgl. Kap. V.5.5. 567 Vgl. Baumwollspinnerei Gückelsberg, F., an Kurt Nebelung am 22.9.1943 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 763, unpag.); DAF, Kreiswaltung Flöha, an die Wika Chemnitz am 4.7.1944 betr. Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Flöha (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 8, unpag.). 568 Eigene Berechnungen nach Treuhand-Aktiengesellschaft: Bericht über die bei der Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG, Flöha, ausgeführte Prüfung des Jahresabschlusses zum 31.12.1944 (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 1344, unpag.).

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trafen mehr als zwei Drittel, nämlich mindestens 20 Personen, als Schwangere oder als Mütter bzw. Elternpaare mit kleinen Kindern bei der Firma ein.569 Die Entbindungslager der Baumwollspinnerei Gückelsberg waren also der zentrale Teil der Arbeitskräftebeschaffungsstrategie des Unternehmens, das wegen seiner Textilfertigung ständig vom Arbeitskräfteabzug und sogar von Stilllegungen bedroht war. Die Versorgung von Schwangeren und jungen Müttern folgte demselben Muster wie die übrige materielle Versorgung der Zwangsarbeiter: Die Behörden übergaben die Verantwortung dafür den Unternehmen und mischten sich nur ein, wenn es zu Fluchtfällen oder Streitigkeiten zwischen einzelnen Betrieben kam. Damit waren die Überlebenschancen der Zwangsarbeiterinnen und ihrer Kinder abhängig vom Willen, aber auch dem Geschick des einzelnen Unternehmens, sie zu versorgen.

6.

„Bedarfsinflation“: Der Kampf um die Reduzierung des ­Arbeitskräftebedarfs

Die regionale Wirtschaft hatte in den Jahren 1942 und 1943 weiterhin den Abfluss einer hohen Zahl von Arbeitskräften zur Wehrmacht oder durch Dienstverpflichtungen in andere Reichsteile zu verkraften. Gleichzeitig stieg der regio­nale Arbeitskräftebedarf kräftig an. Umso dringlicher war die Regelung der Frage, wer den Arbeitskräftebedarf der einzelnen Rüstungsvorhaben bestimmte und wer den Unternehmen aufgrund der Bedarfsanalyse die Arbeitskräfte zuwies. Während die bisherige Forschungsliteratur den Kampf um die Verteilung der knappen Arbeitskräfte allein von der Reichsebene aus und daher vor allem unter dem Blickwinkel des Machtkampfes zwischen Sauckel und Speer betrachtet hat,570 erlaubt die Einbeziehung des lokalen und regionalen Verwaltungshandelns ein differenzierteres Bild. Bereits seit Kriegsbeginn hatten die Rüstungsinspektionen und später die Rüstungskommissionen versucht, Einfluss auf die Auftragserteilung durch die

569 Eigene Berechnungen auf der Grundlage von: „Bei der Firma Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG beschäftigt gewesene ausländische Arbeitskräfte“, o. V., o. D. [wahrscheinlich 1946] (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.); „Beschäftigte Ostarbeiterinnen im Hauptwerk Flöha“, o. V., o. D. (ebd.); „Beschäftigte Polinnen im Hauptwerk Flöha“, o. V., o. D. (ebd.); „Ostarbeiter. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 958, unpag.); „Ostarbeiterkinder. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (ebd.); „Polen. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (ebd.); „Polenkinder. Stand der Aufnahme 1. Februar 1945“, o. V., o. D. (ebd.); Namen der von Ostarbeiterinnen im Entbindungsheim „Walkmühle“ zu Flöha geborenen Kinder, o. V., o. D. (StAC, VEB Vereinigte Baumwollspinnereien Flöha, 932, unpag.). 570 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 798, 800, 889 f.; Naasner, Machtzentren, S. 47; Eichholtz, Geschichte II, passim; Janssen, Ministerium, insbes. S. 86 f., 119–122, 125–132.

„Bedarfsinflation“

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Wehrmachtsteile und die Arbeitskräftezuweisung zu erhalten. In der Region Chemnitz hatte das Rüstungskommando in der Frage der Arbeitskräftezuweisung gewisse Erfolge erzielt, indem es durch die Beteiligung an der Arbeit der Sonder- und Unterprüfungskommissionen nicht nur die Auskämmungen und die Umsetzung der ausgekämmten Arbeitskräfte in Rüstungsunternehmen mit bestimmte, sondern auch die Meldungen der einzelnen Unternehmen über die von ihnen benötigten Arbeitskräfte mit prüfte. Nach den Umorganisationen auf der Reichsebene im Frühjahr 1942 und auf der Mittelebene im Herbst 1942 waren Bedarfsermittlung und Arbeitskräftezuweisung unter neuen Vorzeichen zu regeln. Speer ermutigte die nunmehr zu seinem Ministerium gehörenden Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos in ihrem Bestreben, die Arbeitskräftelenkung noch stärker zu beeinflussen. Im Oktober 1942 erklärte er, die Rüstungsdienststellen müssten die Steuerung der Arbeitskräfte selbst in die Hand nehmen. Er ermahnte die Rüstungsinspektionen dazu, den Kampf mit Sauckels Arbeitseinsatzverwaltung aufzunehmen und forderte, dass die Verbindung der Arbeitsämter zu den Unternehmen in allen grundsätzlichen Dingen über die Rüstungskommandos laufen müsse.571 In diesem Zusammenhang wird in der Forschung immer wieder auf die zentrale Rolle einer gemeinsamen Weisung von Sauckel und Speer Anfang Dezember 1942 verwiesen. Dieser zufolge entschied das Munitionsministerium über die Dringlichkeit der einzelnen Rüstungsprogramme und gab damit auch eine Dringlichkeitsrangfolge für die Zuweisung von Arbeitskräften vor, während die eigentliche Lenkung und Zuweisung von Kräften die Aufgabe des GBA war. Auf der Mittelebene sollte der Vorsitzer der Rüstungskommission über regional auftretende Dringlichkeitsfragen entscheiden. Die Prüfung des konkret von den Unternehmen angeforderten Kräftebedarfs blieb dieser Weisung zufolge den Arbeitsämtern vorbehalten. Für Einzelaufgaben von besonderer Bedeutung sollten allerdings Prüfungsausschüsse gebildet werden, die der Rüstungskommission unterstellt waren und denen auf jeden Fall Mitglieder der Arbeitseinsatzverwaltung und der Rüstungsinspektion angehören sollten. Fakultativ konnten auch weitere Sachverständige hinzugezogen werden.572 Die zugehörige Weisung Sauckels forderte die Arbeitsämter zur engen Zusammenarbeit mit den Rüstungsdienststellen auf, insbesondere in Bereichen wie der Bedarfsprüfung, der Umsetzung von Arbeitskräften und Einflussnahmen auf die Belegschaftsstruktur.573

571 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 798. 572 Vgl. RMfBuM und GBA am 1.12.1942 betr. Zusammenarbeit im Arbeitseinsatz für die Rüstung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.). 573 Vgl. GBA am 1.12.1942 betr. Gemeinsamer Erlass des RMfBuM und des GBA über die Zusammenarbeit im Arbeitseinsatz für die Rüstung vom 30.11.1942 [sic] (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); RMfBuM am 1.12.1942 betr. Steuerung des Arbeitseinsatzes in der gewerblichen Kriegswirtschaft, im Besonderen in der Rüstung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.).

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„Industrieller Luftschutzkeller“

Während für Kroener die Unterordnung Sauckels unter Speers damit festgeschrieben wurde, betont Naasner eher die Eigenständigkeit des GBA, da die Grundsatzentscheidungen über die Arbeitskräftelenkung in dessen Stabsbesprechungen unter Anwesenheit der Hauptbedarfsträger gefallen seien.574 Mit der Umsetzung von Speers und Sauckels Anweisungen setzen sich die beiden ebenso wenig auseinander wie die übrige auf die Reichsebene bezogene Literatur.575 Für die Praxis in der Region scheint das Weisungsbündel von Anfang Dezember 1942 jedoch weit geringere Bedeutung gehabt zu haben als nach seiner Behandlung in der Literatur zu vermuten. Der Text ist zwar in der lokalen Überlieferung zu finden.576 Jedoch fehlt in der Folge dort jeder Bezug darauf. Wichtiger und folgenreicher waren bereits im Spätsommer 1942 ergangene Anweisungen Sauckels, die durch Bekanntmachungen im Instanzenzug des Speerministeriums auch für dieses maßgebend wurden: Bereits im August 1942 hatte Sauckel die Reihenfolge der Zuweisung von Arbeitskräften zu einzelnen Fertigungsprogrammen geregelt. Jedes Fertigungsprogramm sollte künftig in eine Stufe zwischen II und IV eingeordnet werden; besonders wichtige Betriebe der einzelnen Fertigungsstufen bekamen von Fall zu Fall einen besonderen Bedarf zuerkannt, der mit Stufe I bezeichnet wurde.577 Ergänzend dazu bestimmte der GBA Anfang September 1942, dass die Arbeitskräfte der Stufe I durch die Hauptausschüsse und Ringe zugewiesen werden sollten, innerhalb eines gewissen Kontingents, das ihnen das Munitionsministerium monatlich zuwies. Die Hauptausschüsse und Ringe wiederum konnten diesen Bedarf auf zwei Wegen geltend machen: Die wichtigsten Arbeitskräfteanforderungen sandten sie über das Munitionsministerium als sogenannte Rotzettel578 an die zuständigen Arbeitsämter, die übrigen Anforderungen sollten in Listen aufgenommen werden. Den Listenbedarf sollten die Arbeitsämter und Rüstungsdienststellen während sogenannter Rü-Aktionen in ein- bis zweimonatlichem Rhythmus überprüfen und nach seiner Anerkennung die dafür notwendigen Arbeitskräfte freistellen.579 574 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 800; Naasner, Machtzentren, S. 47. 575 Vgl. Eichholtz, Geschichte II, passim; Janssen, Ministerium, passim, insbes. S. 86 f.; 119–122, 125–132. Auch bei den sich mit der Mittelebene auseinandersetzenden Peter, Rüstungspolitik; bei Fleischhauer, Gau Thüringen, fehlt dieser Aspekt weitgehend. 576 GBA am 1.12.1942 betr. Gemeinsamer Erlass des RMfBuM und des GBA über die Zusammenarbeit im Arbeitseinsatz für die Rüstung vom 30.11.1942 [sic]. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); RMfBuM am 1.12.1942 betr. Steuerung des Arbeitseinsatzes in der gewerblichen Kriegswirtschaft, im Besonderen in der Rüstung. (ebd.). 577 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 7); RüIn IV, Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 31). 578 Vermutlich identisch mit den anderer Stelle genannten „Arbeiterschecks“; vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 7, 22); sowie RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 31). 579 Vgl. RüIn IV, Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 31).

„Bedarfsinflation“

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Die Rüstungsdienststellen und Arbeitsämter in Sachsen waren sich in ihrer Kritik am Verfahren der zentralen Zuweisung von Arbeitskräften der Stufe I einig: Die Arbeitskräftekontingente, die die Ausschüsse und Ringe zur Verfügung hatten, seien in optimistischer Erwartung der Sauckel’schen Anwerbungsversuche so hoch gegriffen, dass für die anderen Stufen kaum noch Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Zudem meldeten viele Unternehmen den Ausschüssen und Ringen überhöhte oder falsche Bedarfszahlen, die diese offenbar ungeprüft übernahmen.580 Zum Beispiel hatte das Arbeitsamt Annaberg im Januar 1943 festgestellt, dass einem Werk per „Rotzettel“ 55 Arbeitskräfte zugewiesen werden sollten, während beim Arbeitsamt nur eine Forderung von 11 Kräften registriert war. Es forderte daraufhin, dass die Ausschüsse und Ringe lediglich den Dringlichkeitsgrad einer Fertigung festsetzen sollten, die Festsetzung des dafür nötigen Arbeitskräftebedarfs jedoch dem Arbeitsamt überlassen sollten.581 In einem anderen Fall sollten sieben Betriebe der Panzerfertigung gemäß einer Weisung des Rüstungsamtes des Munitionsministeriums zu ihren gegenwärtig knapp 2 500 Arbeitskräfte weitere 1 900 zusätzlich erhalten. Das Rüstungskommando Chemnitz erkundigte sich bei den betroffenen Werken und stellte fest, dass diese weder genügend Rohstoffvorräte besaßen noch über genügend Energiekontingente verfügten, um die zusätzlichen Arbeitskräfte überhaupt einzusetzen. Die Rückfrage beim Bezirksbeauftragten des zuständigen Sonderausschusses ergab, dass dieser ebenfalls über diese Kräftezuweisungen nicht informiert war.582 Solche Probleme gab es nicht nur in Sachsen. Auch anderenorts wie in Brandenburg, Bayern oder Hessen führte das Verfahren zu einer Inflation der Bedarfsanmeldungen.583 Kroener charakterisiert das Rotzettelverfahren als „abschreckendes Beispiel einer zentralbürokratischen Bevormundung“.584 Nur aus der regionalen Perspektive lässt sich verfolgen, dass lokale und regionale Institutionen zumindest in Südwestsachsen bereits frühzeitig dagegen kämpften. Vertreter des Rüstungskommandos qualifizierten in Anwesenheit von IHK und Vertretern der Wehrkreisbeauftragten Anacker im Herbst 1942 den Kräftebedarf als „erschreckend hoch“ und zum großen Teil als „unecht“.585 Daraufhin gingen das 580 Vgl. ebd.; RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.– 31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 7); LAA Sachsen, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.); AA Chemnitz, Besprechung der Amtsleiter der Arbeitsgemeinschaft Chemnitz am 18.11.1942 (StadtA Chemnitz, Arbeitsamt 5, Bl. 156–159, hier 156). 581 Vgl. AA Annaberg, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im Januar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 582 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BAMA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 18). 583 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 890. 584 Ebd., S. 889. 585 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 19.).

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­ üstungskommando Chemnitz und die Arbeitsämter der Region bereits im NoR vember 1942 dazu über, nicht nur den Listenbedarf, sondern auch den von den Unternehmen bei ihren Ausschüssen und Ringen angemeldeten Rotzettelbedarf nachträglich im Monatsrhythmus gemeinsam zu prüfen.586 Parallel dazu drangen die Rüstungsdienststellen und das Landesarbeitsamt Sachsen darauf, dass die Prüfung des von Unternehmen gemeldeten Arbeitskräftebedarfs durch die Arbeitsämter und die Rüstungskommandos bereits vor seiner Weitergabe an die Ausschüsse und Ringe erfolgen sollte. Die nachträgliche Überprüfung, so argumentierten sie, führe immer wieder zu Ärger mit den Firmen, da sie erst in dem Moment einsetzen könne, wenn die Unternehmen ihre Anträge bereits genehmigt wähnten. Das Landesarbeitsamt Sachsen wandte sich im Februar 1943 an den Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz und plädierte „wiederholt“ dringend dafür, „dass die Rü-Dienststellen und die Arbeitsämter vor Weiterreichung eines Kräftebedarfs maßgeblich so eingeschaltet werden, dass von vornherein nur der Bedarf gemeldet wird, für den eine Anerkennung unbedingt zu erfolgen hat“.587 Auch die Rüstungskommission IVa, die im Sommer 1942 geschaffene Mittel­ instanz, nahm sich der Sache an: Im November 1942 gab sie eine Anweisung an die Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe, wonach die Unternehmen vor der Anmeldung ihres Kräftebedarfs bei den Ausschüssen und Ringen diesen vom Arbeitsamt und vom Rüstungskommando anerkennen lassen müssten. Obwohl das Rüstungskommando Chemnitz sich viel Mühe gab, um diese Aufforderung auch den Unternehmen einsichtig zu machen,588 musste es im Mai 1943 feststellen, dass diese Anweisung immer noch zu selten beachtet wurde. Daran anknüpfend, wiederholte das Rüstungskommando seine Forderung, dass alle Kräfteanforderungen an die Ausschüsse und Ringe künftig über seinen Tisch gehen sollten. Mit dem Hauptausschuss Panzerwagen und Zugmaschinen sei bereits eine entsprechende Vereinbarung getroffen, die dieser auch den ihm nachgeordneten Unternehmen weitergegeben habe.589 586 Vgl. Leiter der Landesarbeitsamtskommission (SPK), Tagung der AGs Südwestsachsen und Chemnitz mit den beteiligten Dienststellen am 12. und 13.11.1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 19 f., 28); IHK Chemnitz, Linse, Aktennotiz betr. weitere erhebliche Verschärfung der Arbeitseinsatzlage (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 6, 16); zur Überprüfung des Listenbedarfs siehe z. B. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); IHK Chemnitz, Linse, am 27.1.1943 betr. Januar-Aktion 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.). 587 LAA Sachsen an GBA am 20.2.1943 betr. Abdeckung des Kräftebedarfs in der Panzerfertigung (BA Berlin, R 3901/228, Bl. 76). 588 RüKdo Chemnitz, Niederschrift über die Besprechung mit den Wehrwirtschaftsführern am 24.11.1942 in Chemnitz (BA-MA Freiburg, RW 21–11/13, Bl. 74). 589 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 28); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/14, Bl. 31).

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Eine Erfolgsmeldung der Rüstungsinspektion von Ende März 1943, wonach sich Marine und Luftwaffe bereit erklärt hätten, den Großteil der ihrer Produktion zustehenden Arbeitskräfte nicht über die Ausschüsse und die Ringe, sondern über die Rüstungsinspektionen verteilen zu lassen,590 erwies sich ebenfalls als verfrüht. Bereits zweieinhalb Monate später nämlich beklagte die nunmehrige Rüstungsinspektion IVa, dass 40 Prozent aller Arbeitskräfteforderungen in Sachsen sich als unberechtigt erweisen würden. Unter anderem seien einer seit 1941 stillgelegten Werdauer Firma zehn Arbeitskräfte zugewiesen worden. Ein Chemnitzer Unternehmen sollte fünf Facharbeiter zugewiesen bekommen, die es nie beantragt hatte. „Diese unhaltbaren Zustände“, so die ­Rüstungsinspektion, „bedürfen dringend eines grundlegenden Wandels.“591 Deutlich wird bei der Schilderung des Geschehens, dass die Instanzenzüge von Speer und Sauckel auf der mittleren und unteren Ebene gemeinsam gegen eine aus ihrer Sicht unsinnige Zentralisierung vorgingen. Auch wenn sie sicher nur teilweise erfolgreich waren, dürften ihre Initiativen doch einen wichtigen Anteil daran gehabt haben, dass die Arbeitskräfte in der Region zumindest einigermaßen funktional verteilt wurden. Trotz der im Prinzip produktiven Zusammenarbeit zwischen Speers Rüstungsdienststellen und Sauckels Arbeitsämtern lassen sich allerdings ab Februar 1943 auch auf der regionalen Ebene Ausläufer von Konflikten zwischen Speer und Sauckel nachvollziehen. Im Mittelpunkt standen dabei Sonderfertigungen wie das Adolf-Hitler-Panzer-Programm,592 mit dem das Regime die mangelhafte technische Ausstattung des Heeres an der Ostfront593 aufbessern wollte. Bei diesen Produktionen wurden Rüstungskommandos und Arbeitsämter durch Schnellbriefe des Speer’schen Rüstungsamtes594 angewiesen, die entsprechenden Firmen umgehend mit Arbeitskräften zu versorgen.595 Das Panzerprogramm markiert für Kroener den „Beginn der Machtkonzentration Speers auf dem Sektor der gesamten Kriegsproduktion“.596 Zumindest in Sachsen aber kam es bei der Zustellung der Schnellbriefanweisungen zu zeitlichen Differenzen zwischen dem Instanzenzug der Rüstungsdienststellen und demjenigen des GBA. Immer wieder lagen bei den Rüstungskommandos die Schnellbriefe bereits vor, während die Arbeitsämter noch keine Anweisungen erhalten hatten. Diese aber weigerten sich, ohne entsprechende

590 RüIn IV, Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 32). 591 RüIn IVa am 12.6.1943 betr. monatlicher Tätigkeitsbericht für den Bereich der Rüstungskommission IVa (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 62 f.); vgl. auch RüIn IV, Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 20). 592 Zur Entstehung vgl. Eichholtz, Geschichte II, S. 334–337; Tooze, Ökonomie, S. 681– 684. 593 Vgl. Overy, Wurzeln, S. 277–281. 594 RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 19). 595 Vgl. RüIn IV, Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 33 f.). 596 Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 850.

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Anordnung des GBA Arbeitskräfte zuzuweisen und erhielten darin Rücken­ deckung des sächsischen Landesarbeitsamtes.597 Dies deutet auf eine Strategie des GBA hin, sich das Heft des Handelns nicht völlig aus der Hand nehmen zu lassen, indem er seinen eigenen Instanzenzug anwies, die Schnellbriefe erst verspätet zu beachten oder gar zu ignorieren. Zwar lockerte Sauckel Anfang März die Bindung von Arbeitskräftezuweisungen an seine ausdrückliche Anweisung. Künftig sollten wichtige Arbeitskräfteanforderungen, deren Dringlichkeit die Rüstungskommission auf der Mittelebene anerkenne, vor Rotzettel- und Listenanforderungen erledigt werden können.598 In der Praxis führten allerdings weder diese Anweisung noch wiederholte Änderungen der Dringlichkeitsbestimmungen599 durch Speer zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Arbeitsämtern und Rüstungsdienststellen im Bereich der Sonderfertigungen. Der Konflikt schwelte den Frühling und Sommer 1943 weiter. So klagte Friedensburg noch Mitte Mai 1943 darüber, dass Verzögerungen bei der Arbeitskräftezuweisung dadurch entstünden, dass entsprechende Anweisungen nur den Rüstungsdienststellen vorlägen, entsprechende Weisungen des GBA an die Arbeitsämter aber fehlten.600 Der Leiter der Sonderprüfungskommission des sächsischen Landesarbeitsamtes, Hollack, bestand gegenüber dem Rüstungskommando Chemnitz sogar darauf, dass es keine Anweisung an die Arbeitsämter gebe, Schnellbriefbedarf bevorzugt vor Rotzettel- und Listenbedarf zu behandeln.601 Im Juni 1943 verfügte das Ministerium Speer eine Streichung des nicht zu deckenden sogenannten Listenbedarfs, was jedoch nicht zur Entspannung der Lage, sondern im Gegenteil zum Anschwellen des Rotzettelbedarfs führte, da die Ausschüsse und Ringe gestrichene Listenanforderungen offenbar ohne jede Prüfung in Rotzettelanweisungen umwandelten.602 Doch die sächsische Rüstungskommission gab sich auch hier nicht geschlagen: Über den Rüstungsobmann des Speerministeriums ließ sie im Juli 1943 die Betriebe anweisen, ihre Arbeitskräfteanforderungen vor der Weitergabe an die Ausschüsse und Ringe durch die Arbeitsämter und die Rüstungskommandos absegnen zu

597 Vgl. Aktenvermerk vom 24.2.1943 betr. Erfahrungsaustausch mit den Arbeitsamtsleitern, Vertretern der IHKen und HWKen sowie der Ausschüsse im LAA Sachsen (BAMA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 96 f., hier 96). 598 Vgl. Sachbearbeiterbesprechung der Rüstungskommission IVa am 20.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 66–68, hier 67). 599 Vgl. RMfBuM an die Vorsitzer der Rüstungskommissionen und die Rüstungskommandeure am 27.3.1943, Rangfolge für die Zuweisung von Arbeitskräften und Schutz vor Entzug (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 16 f.). 600 RüIn IVa am 14.5.1943 betr. monatlicher Tätigkeitsbericht für den Bereich der Rüstungskommission IVa (ebd., Bl. 60). 601 RüKdo Chemnitz, Gruppe Z/Ib, Besprechung mit den Arbeitsämtern am 11.5.1943 in Zwickau und am 14.5.1943 in Chemnitz (BA-MA Freiburg, RW 21–11/15, Bl. 75–77, hier 77). 602 Vgl. Rü IVa, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 19 f.).

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lassen. Im Konfliktfall sollten Rüstungsobmann oder Rüstungskommission schlichtend eingreifen.603 Anfang September 1943 befahl Speer, dass Rüstungsunternehmen ihre Arbeitskräftebedarfsanmeldungen zukünftig ausschließlich über die Rüstungsdienststellen an die Ausschüsse und Ringe zu leiten hätten, wobei die Arbeitsämter zu beteiligen seien.604 Dies bedeutete einerseits eine Stärkung der regionalen Behörden gegenüber den Firmen sowie den Ausschüssen und Ringen. Gleichzeitig aber wurde versucht, eine Federführung der Rüstungsdienststellen gegenüber den Sauckel’schen Arbeitsämtern festzulegen. So betonte die Rüstungsinspektion IVa, dass die Arbeitsämter zwar an der Bedarfsprüfung zu beteiligen seien, jedoch für die Anerkennung oder Ablehnung von Arbeitskräfteanforderungen allein die Rüstungskommandos zuständig seien.605 Zu einer Vereinheitlichung der Geschäftsgänge bei der Anforderung von Arbeitskräften führte allerdings auch die Speerweisung vom September 1943 nicht. Zumindest in der Region Chemnitz gab es Ende November 1943 „noch immer keine einheitliche Linie“ beim Weg der Arbeitskräfteanforderungen durch die Instanzen: Unterschiedliche Vordrucke führten zu Missverständnissen und daher zu Doppelanforderungen. Viele Unternehmen meldeten ihren Arbeitskräftebedarf bei zwei Ausschüssen und Ringen zugleich an, und immer noch und immer wieder wurden Arbeitsämter und Rüstungskommando Chemnitz von den Unternehmen bei der Anmeldung ihres Arbeitskräftebedarfs umgangen.606 Es bedurfte eines weiteren Weisungsbündels des Speerministeriums zwischen November 1943 und Februar 1944, um die Einbeziehung von Rüstungskommandos und Arbeitsämtern in die Anmeldung des Arbeitskräftebedarfs endgültig festzuschreiben. Ausschüsse und Ringe behielten allerdings die Möglichkeit, innerhalb ihres Fertigungsbereichs die Versetzung von Arbeitskräften von einem Betrieb zum anderen zu veranlassen.607 Während Kroener diese Entwicklung als den Willen Speers deutet, die Entscheidung über Arbeitskräftezuweisungen von der eigennützigen industriellen

603 RüIn IVa am 14.7.1943 betr. monatlicher Tätigkeitsbericht für den Bereich der Rüstungskommission IVa (BA-MA Freiburg, RW 20–4/15, Bl. 49 f.). 604 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 892; RüIn IVa am 3.9.1943 betr. Abdeckung des Kräftebedarfs – Rangfolge für die Zuweisung (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/16, Bl. 72 f., hier 73). 605 Vgl. ebd. 606 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 30). 607 Zum Entwurf der Straffung des Rotzettelverfahrens vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 889, 892; zur Umsetzung vgl. RüIn IVa am 16.12.1943, Rundschreiben an die Betriebe der Rüstungswirtschaft (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 9, unpag.); IHK Chemnitz, o. D., an alle Firmen betr. Neuregelung des Verfahrens der Kräfteanforderungen bei Ausschüssen und Ringen (ebd.); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.10.1943–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 21 f.); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 20–23).

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„Industrieller Luftschutzkeller“

Selbstverwaltung auf die neutralen Soldaten zu übertragen,608 lässt sie sich auch als Ergebnis der unermüdlichen gemeinsamen Opposition der regionalen mit der Praxis der Arbeitskräftelenkung vertrauten Instanzen gegen eine zentrale und eher praxisferne Verwaltung der Ressourcen deuten. Eine regionale Überprüfung des Kräftebedarfs der Firmen musste umso sinnvoller erscheinen, da sich die Protagonisten an der Reichsspitze auch im fünften Kriegsjahr nicht auf eine gemeinsame Gesamtplanung verständigen konnten.609 Überschattet war dieses gemeinsame Engagement auf der mittleren und lokalen Ebene freilich seit Frühjahr 1943 vom Kampf zwischen Rüstungsdienststellen und Arbeitsämtern um die Federführung bei der Überprüfung des Kräftebedarfs. Im erwähnten Weisungsbündel um die Jahreswende 1943/44 erscheint schließlich der zwischenzeitlich betonte Alleinvertretungsanspruch der Rüstungsinspektionen wieder deutlich zurückgenommen.610 Der Versuch Speers, den GBA und seinen Instanzenzug weitgehend aus der Arbeitskräftelenkung zu verdrängen,611 ist daher zumindest für die Region Chemnitz als gescheitert anzusehen. Dort führten Rüstungskommando Chemnitz, Industrie- und Handelskammer Chemnitz sowie die Arbeitsämter der Region Chemnitz ihre gemeinsamen Überprüfungen des Arbeitskräftebedarfs der Rüstungsfirmen unter Berücksichtigung der neuen Erlasslage so fort, wie sie sie im November 1942 begonnen hatten.612

7.

Die Mobilisierung von Frauen und die Meldepflichtverordnung

Seit dem Sommer 1942 machte sich in der Region die Zuweisung ausländischer Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter bemerkbar. Gegenüber den Arbeitsämtern scheinen kündigungswillige Frauen schon sehr früh mit diesem neuen Arbeitskräftereservoir argumentiert zu haben.613 Auch die Unternehmen bevorzugten nach den ersten Erfahrungen die ausländischen Arbeitskräfte vor den inländischen weiblichen. Die Arbeitsleistungen der Frauen in der Textilwirtschaft lie-

608 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 892. 609 Vgl. ebd., S. 893. 610 Vgl. RüIn IVa am 16.12.1943, Rundschreiben an die Betriebe der Rüstungswirtschaft (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 9, unpag.); IHK Chemmnitz, o. D., an alle Firmen betr. Neuregelung des Verfahrens der Kräfteanforderungen bei Ausschüssen und Ringen (ebd.); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 21 f.); RüIn IVa, Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 20–23). 611 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 892 f., dem allerdings nur ein Entwurf der beabsichtigten VO vorliegt sowie das Protokoll einer Besprechung über die Planung des Arbeitseinsatzes zwischen dem Ministerium Speer und Vertretern des GBA. 612 Vgl. z. B. Besprechung zwecks Überprüfung von Kräfteanforderungen im AA Chemnitz am 10.1.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 9, unpag.). 613 Vgl. AA Lugau, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juni 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.) und im August 1942 (ebd.).

Mobilisierung von Frauen und Meldepflichtverordnung

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ßen immer stärker nach, notierte das Chemnitzer Arbeitsamt Anfang Oktober 1942. Die Textilunternehmen erwarteten Hilfe nur noch durch Ausländerzuweisungen.614 Die Auto Union AG registrierte, dass die infolge der Stilllegungen in der Textilindustrie in den ersten Monaten des Jahres 1942 angestiegene Zahl deutscher Arbeiterinnen in der zweiten Jahreshälfte wieder stark sank. Es gebe zahlreiche Entlassungswünsche. Als Ersatz für diese Frauen würden russische Arbeiterinnen angefordert.615 Auch für die Region gibt es demnach Indizien für einen Zusammenhang zwischen der Zunahme der Zwangsarbeiterbeschäftigung im Jahr 1942 und dem Rückgang der Frauenbeschäftigung in der Indus­trie, den einige Forscher bereits für das Reich festgestellt haben.616 Ob der Druck der Behörden auf arbeitsunwillige Frauen in der Region parallel zum anschwellenden Zustrom von ausländischen Zwangsarbeitern tatsächlich nachließ, ist allerdings für die zweite Jahreshälfte 1942 mangels Zahlen nicht auszumachen. Die Frage, inwieweit es dem Regime gelang, Frauen in der zweiten Hälfte des Krieges für die Kriegswirtschaft zu mobilisieren, lässt sich anhand der Durchführung der sogenannten Meldepflichtverordnung im ersten Halbjahr 1943 behandeln. In der reichsbezogenen Forschung gilt ihre Wirkung als bescheiden, sie habe allenfalls kurzfristige Erfolge gehabt.617 Die Reichsregierung beschloss die Meldepflichtverordnung unter dem Eindruck der sowjetischen Offensive bei Stalingrad und folgte damit langjährigen Forderungen aus den Reihen der mit dem Arbeitseinsatz beschäftigten Behörden.618 Auch die Arbeitsämter der ­Region Chemnitz hatten die Verpflichtung aller Frauen zur Arbeitsaufnahme oder wenigstens zur Meldung bei den Arbeitsämtern bereits seit Kriegsbeginn immer wieder gefordert.619 Nachdem sich die Niederlage vor Stalingrad abzeichnete, unterzeichnete Hitler Mitte Januar 1943 einen Erlass, der neben weiteren Auskämmungen und Stilllegungen zugunsten der Rüstungswirtschaft die Meldepflicht nicht

614 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1942 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 615 Vgl. Heinrich Leggewie am 20.11.1942 betr. Einsatz deutscher Frauen in unseren Betrieben (StAC, Auto Union AG, 865, S. 78). 616 Vgl. Kundrus, Kriegerfrauen, S. 349; Schupetta, Frauen- und Ausländerbeschäftigung, S. 212; Hachtmann, „Arbeitseinsatz“, S. 241. 617 Winkler, Frauenarbeit, S. 137; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 853 f.; Peter, Rüstungspolitik, S. 258; vgl. auch Bajohr, „Hälfte“, S. 289–295; Eichholtz, Geschichte II, S. 230; Ingeborg Wegehaupt-Schneider, Frauenindustriearbeit in Deutschland. Eine Konkurrenz für die männlichen Industriearbeiter auf dem Arbeitsmarkt? Zur Geschichte der sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen der Frauenindustriearbeit in Deutschland von der Industrialisierung bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Univ. Diss. Göttingen 1985, S. 414; Arendt, Frauenpolitik, S. 308–312; Herbst, Krieg, S. 211. 618 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 134. 619 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); sowie September 1941 (ebd.); AA Olbernhau, Berichte über den Arbeitseinsatz im Februar 1941 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.) und Mai 1941 (ebd.).

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­ erufstätiger Männer bis zum Alter von 65 Jahren und nicht oder in Teilzeit beb rufstätiger Frauen bis zum Alter von 45 Jahren vorsah, soweit sie nicht ein Kind unter sechs Jahren oder zwei Kinder unter 14 Jahren versorgten.620 Die Meldepflichtverordnung zielte vor allem auf bisher nicht berufstätige Frauen ohne Kleinkinder und damit zumindest propagandistisch auf die bisher geschonte bürgerliche Mittel- und Oberschicht. Der gesamte Erlass sollte den Auftakt zum „totalen Krieg“ darstellen, den Goebbels in seiner Rede im Berliner Sportpalast Mitte Februar 1943 verkündete. Er ist auch vor dem Hintergrund der hohen Zahl der Einberufungen zu sehen, die das OKW für 1943 forderte.621 Wie gestaltete sich die Umsetzung des Erlasses in der Region Chemnitz? Folgt man der reichsbezogenen Literatur, so gewinnt man den Eindruck, als seien die Arbeitsämter allein für die Durchführung der Aktion verantwortlich gewesen.622 Für den Arbeitsamtsbezirk Chemnitz hat Karlheinz Schaller kürzlich jedoch eine intensive Beteiligung der NSDAP festgestellt. Die Ortsgruppen meldeten dort die in Frage kommenden Männer und Frauen der Kreisleitung, die die Angaben überprüfte und die Listen an das Arbeitsamt weiterreichte.623 Außerdem oblag den Parteigliederungen in Chemnitz wie auch in anderen Arbeitsamtsbezirken die Aufgabe, die Lebensverhältnisse der Arbeitsunwilligen auszuleuchten und auf dieser Grundlage die Einsatzfähigkeit der Frauen zu bewerten.624 Die insgesamt eher schütteren Quellen weisen überall in der Region auf eine mehr oder minder starke Beteiligung der NSDAP hin: Für Lugau ist belegt, dass der Arbeitsamtsleiter sein Vorgehen eng mit dem Kreisleiter abstimmte, hier also die Kreisleitung die gesamte Aktion kontrollierte.625 Das Arbeitsamt Glauchau hob die gute Vorarbeit einzelner Ortsgruppen bei der Erhebung der Meldepflichtigen hervor.626 Im Arbeitsamtsbezirk Annaberg übergab das Arbeitsamt alle Meldebogen nach Abschluss der Aktion den Parteidienststellen

620 Weitere Ausnahmen galten u. a. für Schülerinnen. Für die Männer galten andere Sonderregelungen; Erlass des Führers vom 13.1.1943 über den umfassenden Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung. In: Moll, Führererlasse, Dok. Nr. 222, S. 311–313. Dort ist noch von einer oberen Altersgrenze von 50 Jahren für die Frauendienstpflicht die Rede. In Sauckels Verordnung vom 27.1.1943 wurde sie auf 45 Jahre gesenkt; vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 847–849; zur Entstehung siehe auch Herbst, Krieg, S. 207–210. 621 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 847–849; Winkler, Frauenarbeit, S. 134 f.; Herbst, Krieg, S. 204–209. 622 Vgl. z. B. Winkler, Frauenarbeit, S. 134–142, 144; Bajohr, Hälfte, S. 289–295. 623 Schaller, Fabrikarbeit, S. 105. 624 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar und im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 625 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); siehe auch AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.), wo freilich nur ganz allgemein vermerkt ist, dass die Zusammenarbeit mit der Partei gut funktioniert habe. 626 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.).

Mobilisierung von Frauen und Meldepflichtverordnung

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zur Nachkontrolle.627 Damit ist die Meldepflicht eine der ersten Initiativen, bei denen nicht nur eine Mitwirkung von Parteifunktionären in entsprechenden Ausschüssen erkennbar ist. Vielmehr kontrollierten die NSDAP-Kreisleitungen zumindest in Lugau und Chemnitz die Aktion und waren, wie noch zu zeigen sein wird, maßgeblich dafür verantwortlich, wie streng das Verfahren gehandhabt wurde. Die Arbeitsämter der Region begrüßten in ihren ersten Reaktionen die Meldepflicht. Sie wiesen immer wieder auf deren Bedeutung für die Stimmung in der Bevölkerung hin: Als „erlösend“628 bezeichnete sie beispielsweise das Arbeitsamt Chemnitz. „Mit größter Genugtuung“629 sei sie von der Bevölkerung aufgenommen worden, meldet das Arbeitsamt Olbernhau. Freilich kritisierte das Arbeitsamt Lugau, dass die Propaganda zu sehr die Ausnahmen von der Meldepflicht in den Vordergrund stelle, was dazu führe, dass einige Frauen, die bereits arbeiteten, unter Bezug auf die Meldepflichtverordnung, Kündigungsanträge stellten.630 Die Lugauer beobachteten auch eine Flucht in Heimarbeitsaufträge, mit der viele Frauen die Aufnahme von Fabrikarbeit vermeiden wollten.631 85 Prozent aller Meldepflichtigen seien bereits mit Heimarbeitsaufträgen ausgestattet, so der Berichterstatter im März. Da die häuslichen oder gesundheitlichen Verhältnisse einen Ganztagseinsatz in der Fabrik meistens nicht zulassen würden, waren die Frauen seiner Meinung nach als Heimarbeiterinnen produktiver als im Fabrikeinsatz. Angesichts der fehlenden Rüstungsindustrie im gebirgigen Lugauer Arbeitsamtsbezirk riet der Berichterstatter zu einer vorsichtigen Gangart, nicht ohne anzumerken, dass er sich dabei ganz in Übereinstimmung mit dem NSDAP-Kreisleiter befinde.632 Für das Chemnitzer Amt dagegen übertraf die Zahl der Meldepflichtigen die Erwartungen erheblich, was möglicherweise mit einer besonders scharfen Überprüfung durch die Partei zusammenhing. Zwar zeigten sich viele Unternehmen den Meldepflichtigen gegenüber eher reserviert, da sie deren Produktivität eher gering einschätzten.633 Bis Ende März hatte das Amt dennoch bereits 8 000 Arbeitskräfte eingesetzt, freilich meist für Halbtagstätigkeiten, also für

627 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 628 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 629 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 630 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); siehe auch AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 631 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 632 Vgl. AA Lugau. Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 633 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

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sechs Stunden täglich. Nachteilig wirkte sich aus, dass es in vielen Unternehmen an Schulungspersonal fehlte, um den Frauen ihre Angst vor den Produktionsmaschinen zu nehmen.634 Dass die neu geworbenen Frauen nicht immer dort eingesetzt werden konnten, wo es am nötigsten war, zeigt auch ein Bericht des Gewerbeaufsichtsamtes über das Oberlungwitzer Maschinenbauunternehmen Karl Lieberknecht, das knapp 1 000 Arbeitskräfte beschäftigte: Der Betrieb hatte 25 meldepflichtige Frauen zugewiesen bekommen, die es jedoch nicht an seinen Bohr- und Fräsmaschinen oder Drehbänken einsetzen konnte. Es beschäftigte die Frauen mit leichten Lagerarbeiten sowie in der Qualitätskontrolle.635 Eine weitere Schwierigkeit bestand, wie in den Jahren zuvor, in den ungenügenden Kinderbetreuungsmöglichkeiten: Bei Karl Lieberknecht scheiterte die Anstellung leistungsfähigerer jüngerer Frauen daran, dass der geplante Betriebskindergarten auch 1943 noch nicht fertiggestellt war.636 Das Arbeitsamt Chemnitz notierte, man könne die Meldepflichtigen nicht zur Arbeit zwingen, solange schulpflichtige Kinder ohne geeignete Unterbringung seien.637 Vielerorts nutzten die Arbeitsämter die Gelegenheit, den bei der Arbeitskräftezuweisung im Allgemeinen unterprivilegierten Textilbetrieben Frauen zuzuweisen, die für eine Tätigkeit in Rüstungsbetrieben ungeeignet schienen.638 Doch häufig landeten dort diejenigen, die sich besonders gegen den Arbeitseinsatz gewehrt hatten und sich diesem so schnell als möglich wieder zu entziehen suchten. Die Unternehmen klagten daher über die geringe Produktivität dieser Arbeitskräfte.639 In quantitativer Hinsicht wirkt das Ergebnis der Meldepflichtaktion in der Region durchaus passabel: So machte etwa das Arbeitsamt Chemnitz neben einer kleinen Zahl von Männern noch 26 000 Frauen aus, von denen es nach einer Überprüfung fast die Hälfte für arbeitsfähig erklärte.640 Allein zwischen April und Juni 1943 gelang es, die Zahl der arbeitenden inländischen Frauen 634 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); zur Halbtagsarbeit siehe auch AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 635 Vgl. Gewerbeaufsichtsamt Chemnitz am 27.4.1943, Erörterung im Betrieb (SächsHStAD, Gewerbeaufsichtsamt Chemnitz, 14, unpag.). 636 Vgl. ebd. 637 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.), AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 638 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 639 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 640 Vgl. Statistik über den Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung. Endgültige Ergebnisse bis zum 20.9.1943. Frauen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 9, S. 4.

Mobilisierung von Frauen und Meldepflichtverordnung

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im Chemnitzer Bezirk immerhin um 7 Prozent zu steigern.641 In den umliegenden Arbeitsamtsbezirken sahen die Bilanzen meist noch etwas günstiger aus: In Flöha stuften die Arbeitsämter rund 55 Prozent, in Olbernhau sogar 60 Prozent der meldepflichtigen Frauen als beschäftigungsfähig ein. Lediglich in Lugau galten mit 28 Prozent weniger als ein Drittel der meldepflichtigen Frauen als arbeitsfähig, ganz offenbar eine direkte Folge der oben erwähnten zögernden Herangehensweise von NSDAP-Parteileitung und Arbeitsamt in diesem Bezirk.642 Nimmt man den Arbeitsamtsbezirk Lugau aus, entsprachen die Anteile der einsetzbaren an den meldepflichtigen Frauen in der Region in etwa dem Reichsschnitt von 54 Prozent.643 In den Bezirken Annaberg, Chemnitz und Olbernhau, die geografisch noch in etwa so geschnitten waren wie zu Kriegsbeginn, lässt sich nachweisen, dass die Beschäftigungszahlen einheimischer weiblicher Arbeitskräfte nach Abschluss der Aktion erstmals seit Jahren das Vorkriegsniveau sogar wieder leicht überstiegen.644 Das Arbeitsamt Chemnitz etwa bilanzierte daher das Abschlussergebnis „nicht ohne Stolz“.645 Den Arbeitskräftemangel in den Rüstungsbetrieben konnte die Aktion allerdings nur sehr begrenzt lindern. Wie beschrieben, war der überwiegende Teil der Frauen lediglich für Teilzeittätigkeiten einzusetzen.646 Häufig erwiesen sie sich als ungeeignet für die dringend benötigte Maschinenarbeit, zumal es an Schulungen fehlte. Neue Arbeitskräfteforderungen von Rüstungsbetrieben und Wehrmacht sorgten überdies dafür, dass der Arbeitskräftebedarf weiter anstieg.647 In der Region Chemnitz machten die Betroffenen, ob Arbeitsämter, Unternehmen oder die Frauen selbst, also ähnliche Erfahrungen mit der Meldepflicht wie überall im Reich.648 Nicht zu klären ist allerdings mangels Quellen für die Region die kontrovers diskutierte Frage, wie stark die Frauen der Mittelund Oberschichten zur Arbeit herangezogen wurden.649

641 Vgl. Tabelle 2. Zahlen für Anfang 1943 liegen nicht vor. 642 Vgl. Statistik über den Einsatz von Männern und Frauen für Aufgaben der Reichsverteidigung. Endgültige Ergebnisse bis zum 20.9.1943. Frauen. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 9, S. 4. 643 Zu den Reichszahlen vgl. Bajohr, Hälfte, S. 290. 644 Vgl. zur Zahl der arbeitenden Frauen bei Kriegsbeginn Kap. IV, Tabellen 5, 6 und 7, zu 1943/44 Kap. V, Tabelle 2. 645 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 646 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 647 Vgl. AA Olbernhau, Berichte über den Arbeitseinsatz im März 1943 sowie im Juli 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 648 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 137–141. 649 Vgl. ebd., S. 134–142; Bajohr, „Hälfte“, S. 289–295; Arendt, Frauenpolitik, S. 309–311, die die These einer Schonung dieser Frauen entschieden vertreten. Dagegen: Schupetta, Frauen- und Ausländerbeschäftigung, S. 156 f.

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„Industrieller Luftschutzkeller“

Auf der propagandistischen Ebene verlor die Aktion im Laufe des Jahres 1943 an Fahrt: Die stimmungsaufhellende Wirkung, die die Arbeitsämter anfangs der Aktion zugebilligt hatten, drohte sich mit der Zeit ins Gegenteil zu verkehren. Zugeständnisse, die arbeitsunwilligen Meldepflichtigen gemacht wurden, führten nicht selten dazu, dass bereits länger Berufstätige dieselben Vorteile für sich reklamierten oder sich zumindest beschwerten.650 In einigen Firmen drohte daher der Betriebsfrieden Schaden zu nehmen.651 Dass die unter Zwang eingesetzten Frauen versuchten, ihr Arbeitsverhältnis so schnell als möglich wieder zu lösen, ist für das Reich ebenso überliefert wie für die Region.652 Nachkontrollen bei den Meldepflichtigen, die die Arbeitsämter im November 1943 vornehmen, gestalteten sich aus Sicht des Arbeitsamtes Chemnitz sehr aufwendig und brachten keinen Erfolg für den Arbeitseinsatz. Sie seien aber „aus rein stimmungsmäßigen Gründen notwendig und daher vertretbar“.653 Auch das Arbeitsamt Olbernhau überprüfte zwischen Oktober 1943 und Februar 1944 bei 285 Firmen den Arbeitseinsatz der meldepflichtigen Frauen: Von rund 1 700 Frauen waren knapp 200 gar nicht mehr berufstätig, etwa 450 arbeiteten mangelhaft. Lediglich mit der Arbeitsleistung von zwei Drittel der Frauen waren die Unternehmer zufrieden.654 Deutlich wurde während der Überprüfungen, dass einige Frauen die Arbeit gar nicht aufgenommen hatten, ohne dass die Unternehmensleitungen deshalb das Arbeitsamt benachrichtigt hätten.655 Trotz dieser Berichte vermochten die Arbeitsamtsbezirke Chemnitz und Glauchau das Niveau der weiblichen Beschäftigung bis zum Ende des Jahres weitgehend zu halten, während die Zahl der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten in den übrigen Arbeitsamtsbezirken in der zweiten Jahreshälfte 1943 wieder leicht sank.656 Dies deckt sich nur teilweise mit der bisherigen Bewertung der Forschung, der zufolge die Meldepflichtaktion eher kurzfristige Effekte hatte. 650 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Mai 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 651 Vgl. AA Chemnitz, Berichte über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 sowie Juli 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); Winkler, Frauenarbeit, S. 138. 652 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943, im September 1943 sowie November 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Berichte über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Annaberg, Berichte über den Arbeitseinsatz im Dezember 1943 sowie im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 653 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im November 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 654 AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 655 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943, im November 1943 (ebd.) und im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 656 Eigene Berechnungen nach Tabelle 2.

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Mobilisierung von Frauen und Meldepflichtverordnung

Wenn man über 1943 hinaus auch das erste Halbjahr 1944 in den Blick nimmt, verändert sich das Bild nochmals. Anfang 1944 wurde die einmalige Meldepflichtaktion in eine laufende Erfassung umgewandelt.657 Zugleich fanden im Jahr 1944 mehrere Freiwilligen-Werbungsaktionen der NS-Frauenschaften statt, deren Erfolge allerdings in der Region wie im Reich insgesamt wohl gering waren.658 Trotzdem wurden in allen Arbeitsamtsbezirken der Region etwaige Verluste des zweiten Halbjahrs 1943 wieder wettgemacht. Die Zahl der einheimischen berufstätigen Frauen erreichte überall wieder zumindest knapp das Niveau direkt nach der Beendigung der Meldepflichtaktion im Sommer 1943. Tabelle 2: Beschäftigte einheimische Arbeiterinnen und weibliche Angestellte 1943/44659 AA-Bezirk

31.3.1943

30.6.1943

31.12.1943

30.6.1944

Annaberg

18 134

19 906

19 192

19 670

Chemnitz

70 600

75 572

75 362

75 361

Flöha

14 192

15 296

14 766

14 996

Glauchau

22 803

24 865

24 619

25 602

Lugau

11 732

12 704

12 438

12 735

8 041

9 087

8 823

9 122

767 409

812 903

805 863

812 208

Olbernhau Sachsen

Für Sachsen sind die Zahlen ab Ende 1943 wegen des verheerenden Bombenangriffs unsicher. Die Zahlen lassen sich auch nicht mehr guten Gewissens zu den Zahlen des Reiches insgesamt in Beziehung setzen, da sich auf Grund des Bombenkrieges die Lebens- und Arbeitsumstände der einzelnen Regionen oft nicht mehr vergleichen lassen und die statistische Erfassung außerdem unter dem Verlust von Akten und Unterlagen litt.660 657 Vgl. Winkler, Frauenarbeit, S. 146. 658 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); für das Reichsgebiet siehe Winkler, Frauenarbeit, S. 144. 659 Zahlen zu März und Juni 1943 vgl. Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1943) 1–3, S. 11; ebd. 7, S. 6; Zahlen zum 31.12.1943 vgl. Arbeiter und Angestellte im jeweiligen Bezirk, Rubrik Inländer weiblich beschäftigt, am 31.12.1943 (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/3, unpag.); Zahlen zum 30.6.1944 vgl. LAA Sachsen, Beschäftigte Arbeiter und Angestellte am 30.6.1944, Rubrik Frauen Inländer (ebd.). 660 Vgl. z. B. die Statistik der beschäftigten Arbeiter und Angestellten im Großdeutschen Reich auf Grund der Arbeitsbuchkartei. In: Arbeitseinsatz im Deutschen Reich, (1944) 6–8, S. 4, insbes. die Anmerkungen 3–6, die für mehrere Regionen deutliche Einschränkungen bei der statistischen Erfassung erkennen lassen. Zum Teil wurden ältere Zahlen einfach weiter verwendet.

318

„Industrieller Luftschutzkeller“

Bei der Bewertung der Mobilisierungsfähigkeiten des NS-Regimes sind die in einem früheren Kapitel erläuterten familiären und hauswirtschaftlichen Belastungen der Frauen einzubeziehen. Der zeitliche Aufwand für die häusliche Tätigkeit lässt sich quantitativ nicht seriös einschätzen. Daher ist auch vielfach nicht feststellbar, ob sich Frauen gegen die Aufnahme einer Arbeitnehmertätigkeit sträubten, weil sie zu bequem oder weil sie tatsächlich anderweitig zu stark belastet waren. Vor diesem Hintergrund kann man in der Region Chemnitz durchaus von gewissen Erfolgen bei der Mobilisierung einheimischer Frauen für die Kriegswirtschaft sprechen, wenn man den gesamten Zeitraum zwischen Frühjahr 1943 und Sommer 1944 betrachtet. In der gesamten Region wuchs die Zahl der einheimischen Arbeiterinnen und Angestellten zwischen dem Frühjahr 1943 und dem Sommer 1944 um fast 12 000, während sich gleichzeitig zwischen der Niederlage von Stalingrad und dem September 1944 die Zahl der ausländischen Zwangsarbeiter um rund 13 000 erhöhte, davon um 6 000 allein im Jahr 1944.661 Rein zahlenmäßig erreichte die Mobilisierung der einheimischen Frauen in der Region also ab 1943 durchaus die Dimensionen des Zwangsarbeitereinsatzes, auch wenn natürlich die Rahmenbedingungen ihres Einsatzes kaum unterschiedlicher sein könnten und der Beitrag an Arbeitsstunden für die Rüstung bei den einheimischen Frauen gegenüber dem der Zwangs­arbeiterinnen sehr viel geringer gewesen sein dürfte. Die Annahme, dass umso weniger Frauen mobilisiert wurden, umso mehr Zwangsarbeiter zur Verfügung standen und umgekehrt, gilt für die Region in den Jahren 1943/44 nicht unbedingt. Zwar lassen die Arbeitsamtsberichte erkennen, dass sich ab Frühsommer 1943 ein diffuses Gefühl breitmachte, dass die Zahl der neu ankommenden Zwangsarbeiter zurückginge.662 Doch abgesehen davon, dass dies laut der Statistiken erst ab 1944 zutraf, würde es auch nicht erklären, warum die Meldepflichtaktion in Chemnitz erfolgreicher war als in Lugau. Denn der Großteil der neu ankommenden ausländischen Zwangsarbeiter wurde dem industriellen Kernbereich der Region, dem Arbeitsamtsbezirk Chemnitz zugewiesen,663 während die umliegenden Arbeitsamtsbezirke deutlich weniger davon profitierten. Die Ergebnisse für die Region Chemnitz deuten vielmehr darauf hin, dass das Verhalten der NSDAP-Kreisleitungen ein wesentlicher Faktor für Erfolg oder Misserfolg der Meldepflicht gewesen zu sein scheint, ebenso wie die Höhe der lokalen Kräfteanforderungen insgesamt.

661 Vgl. Kap. V. 4. 662 Vgl. ebd. 663 Vgl. ebd.

Stilllegungen und Auskämmungen

8.

Stilllegungen und Auskämmungen

8.1

Der Schutz der regionalen Wirtschaft und die Stilllegungen im ­Frühjahr 1943

319

Im Herbst 1942 erleichterte der Zustrom ausländischer Zwangsarbeiter die Verteilung von Arbeitskräften an die einzelnen Firmen zunächst erheblich. Im Rahmen der sogenannten Rü-Aktionen wurden die Arbeitsämter verpflichtet, monatlich bestimmte Kontingente von Arbeitskräften bereitzustellen. Diese sollten in denjenigen Rüstungsbetrieben eingesetzt werden, für die die Ausschüsse und Ringe einen Arbeitskräftebedarf festgestellt hatten. Dabei hing es sowohl von der Zahl der neu ankommenden ausländischen Zwangsarbeiter als auch von der Überprüfung und Senkung der von den Unternehmen gemeldeten Bedarfszahlen ab, in welchem Ausmaß die Rü-Aktionen zu Auskämmungen führten. Im Oktober 1942 hatte der Rüstungsbereich den Ausschüssen und Ringen 1 700 Arbeiterinnen und Arbeiter zur Verfügung zu stellen. Weil 2 100 neue ausländische Arbeiter in der Region eintrafen, konnten die Arbeitsämter zudem besonders wichtigen Firmen Ersatzkräfte für einberufene Mitarbeiter zuweisen.664 Unternehmen mit weniger wichtigen Fertigungen gingen trotz des Zuwachses der Zahl der Zwangsarbeiter leer aus. Das Rüstungskommando Chemnitz bilanzierte Mitte November 1942: Die Höhe der Arbeitskräfteanforderungen zeige, dass lediglich der Scheck- und der Listenbedarf, also der allerdringendste Bedarf, abgedeckt werden könne.665 Zudem musste die Chemnitzer Region ebenso wie die Sachsen insgesamt weiterhin Metallfacharbeiter in andere Rüstungsinspektionsbereiche abgeben.666 Denn obwohl Unternehmen in der Region von Kriegsbeginn an auch Rüstungsaufträge angenommen hatten, hatte die örtliche Industrie, insbesondere im Metall- und Textilbereich lange Zeit intensiv für den Export produziert, ein in der ersten Kriegshälfte vom Regime durchaus gewünschtes Verhalten. Erst im Verlauf des Jahres 1942 begann sich der Schwerpunkt auf die Wehrmachtsfertigung zu verschieben. Freilich blieben viele Textilunternehmen dabei ihrem angestammten Branchenbereich treu, der bei der Arbeitskräftezuweisung hinter der gesamten Waffen- und Gerätefertigung zurückzustehen hatte.667 Bereits im Januar 1943 sahen sich Arbeitsämter und Rüstungskommando der Region Chemnitz-Zwickau außerstande, die für die Rü-Aktion geforderten Kräfte aufzubringen. In Chemnitz und dem Umland mussten zusätzlich zu den 664 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 14.10.1942, Aktennotiz betr. Oktoberaktion Rü 42, S. 1 f. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (BA-MA Freiburg, RW 21– 11/13, Bl. 11 f., 14). 665 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1942 (ebd., Bl. 21, 28). 666 Ebd., Bl. 12. 667 Vgl. Kap. V. 1; Müller, Speer, S. 614.

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neu eintreffenden 2 400 ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter 1 600 Kräfte aus den Unternehmen ausgekämmt werden. Dazu hatten die sächsischen Sonderprüfungskommissionen angeordnet, zunächst bei Unternehmen nach Arbeitskräftereserven zu fahnden, die besonders viele sowjetische Zwangsarbeiter beschäftigten. Hintergrund dieser Maßnahmen war, dass Unternehmen eine Zeit lang für eine freigestellte deutsche Arbeitskraft zwei „Ostarbeiter“ hatten einstellen dürfen, weil deren Leistungsfähigkeit zu gering eingeschätzt worden war.668 Dass allerdings die Arbeitskräftelenkung auf der regionalen Ebene auch von Rücksichten auf die regionale Wirtschaftsstruktur geprägt war, zeigt die Tatsache, dass das Arbeitsamt Chemnitz im Verlauf der Aktion kräftig unter Druck geriet. Das Landesarbeitsamt Sachsen warf seiner nachgeordneten Behörde vor, „bei der Bearbeitung von Arbeitseinsatzfragen, insbesondere bei der Anerkennung von Kräftebedarfsanforderungen nicht den erforderlichen strengsten Maßstab“669 anzulegen. Dass Arbeitsamtsleiter Geidel seine regionalen Partner wie beispielsweise das Rüstungskommando, die IHK oder den Wehrkreisbeauftragten mobilisierte, um ihn zu unterstützen und dem Landesarbeitsamt „die besonderen Schwierigkeiten der Arbeitseinsatzverhältnisse im hiesigen Bezirk“670 darzulegen, konnte eine Revision nicht verhindern. Doch selbst im Angesicht dieser Untersuchung gelang es dem Vertreter der IHK, Walter Linse, „nach langem hin und her, in dem die alte Antithese: Strümpfe oder Kanonen wieder eine große Rolle spielte“,671 die von ihm vertretenen Strumpfbetriebe nahezu vollständig vor Abzügen zu schützen und damit die regionale Wirtschaftsstruktur zunächst vor dem weiteren Ausbluten zu bewahren, allerdings auf Kosten der Rüstungsunternehmen. Die auferlegte Quote wurde im Arbeitsamtsbezirk Chemnitz bis Ende Januar nicht erreicht,672 ebenso wenig wie in den Arbeitsamtsbezirken Flöha und Glauchau.673 Dieselbe Tendenz zum Schutz der regionalen Wirtschaftsstruktur lässt sich in der Handhabung der Stilllegungsprogramme des Frühjahrs 1943 erkennen. Die auf der Grundlage des Hitler-Erlasses vom Januar 1943 von Wirtschaftsminister Funk angeordneten Stilllegungen in Handel,674 Handwerk und Gewer-

668 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 21.1.1943, Aktennotiz betr. Januar-Aktion 1943 des UPA (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.) sowie ders. am 13.1.1943, Aktennotiz betr. weitere erhebliche Verschärfung der Arbeitseinsatzlage (ebd.). 669 IHK Chemnitz, Linse, am 27.1.1943, Aktennotiz betr. Januar-Aktion 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 7, unpag.). 670 Ebd. 671 Ebd. 672 Vgl. ebd. 673 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 674 Vgl. RWM an alle Reichsverteidigungskommissare am 30.1.1943 betr. Umfassender Einsatz der arbeitsfähigen Männer und Frauen im Handel für Aufgaben der Reichsverteidigung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 4, unpag.).

Stilllegungen und Auskämmungen

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be675 hatten den praktischen Zweck, Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie bereitzustellen sowie Energie einzusparen. Darüber hinaus sollten aber nach den Vorstellungen von Goebbels Schließungen von Warenhäusern, Restaurants und Konsumgüterunternehmen in Kombination mit der Frauendienstpflicht der deutschen Bevölkerung die Notwendigkeit von Opfern vor Augen führen und sie mental auf den „totalen Krieg“ ausrichten. Die Stilllegungen verfolgten mithin also auch propagandistische Ziele.676 Das Gleiche galt für das von Speer im Januar 1943 aufgelegte Adolf-Hitler-Panzer-Programm, dem letzten Endes die zusätzlichen Arbeitskräfte zugutekommen sollten. Es sollte die hohen Verluste von Panzern an der Ostfront ausgleichen und zu einer Kräftekonzentration in der Rüstungsindustrie führen, aber der Bevölkerung auch die Leistungsfähigkeit der deutschen Rüstungsindustrie darstellen.677 Wie Ludolf Herbst herausstellt, waren sich bereits die Verantwortlichen auf der Reichsebene nicht einig, ob man die Stilllegungen nur am konkreten Kräftebedarf vor Ort orientieren oder unter Sachgesichtspunkten durchführen sollte. Sauckel, der für ersteres votierte, wollte z. B. nur dann Geschäfte schließen, wenn deren Inhaber auch in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden konnten. Dagegen setzten sich Speer, Goebbels und Funk durch, die die Schließungen als eigenständige Maßnahme durchführen wollten. Damit wollten sie die Verschwendung von Ressourcen jeder Art in solche Produktionen und Dienstleistungen zu beenden, die als überlebensunwichtig galten. Hitler wiederum scheute sich, diesen Konflikt zu entscheiden, was dem Handeln vor Ort zwangsläufig Spielräume eröffnete.678 Auf die von Funk bereits sehr zögerlich abgefassten Weisungen für Stilllegungen in Handel, Handwerk und Gewerbe reagierten die Reichsverteidigungskommissare, denen die Regie für die Aktionen zugewiesen worden war, sehr unterschiedlich: Während z. B. der Badener Gauleiter Robert Wagner zunächst eine strenge Linie verfolgte und erst unter dem Druck von Protesten und Unmut aus der Bevölkerung einknickte,679 torpedierte Gauleiter Mutschmann von Anfang an Betriebsschließungen um der Schließungen willen: Die Stilllegungen im Handel seien in Sachsen wieder abgebremst worden, so hieß es bereits Ende Februar 1943 bei einem Treffen im Landesarbeitsamt. Der Gauleiter wolle nur Auskämmungen vornehmen lassen. Stilllegungen seien lediglich zugunsten des Raumbedarfs der Wehrmacht vorzunehmen. Im Handwerk werde zwar stillgelegt, „aber nicht um der Stilllegung willen“.680 Kleine Unternehmen mit einem 675 Vgl. RWK an die Gauwirtschaftskammern am 23.3.1943 betr. Stilllegungen und Zusammenlegungen von industriellen Betrieben (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 4, unpag.). 676 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 250. 677 Vgl. Tooze, Ökonomie, S. 680–684. 678 Vgl. Herbst, Krieg, S. 221 f. 679 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 253 f. 680 Aktenvermerk vom 24.2.1943 betr. Erfahrungsaustausch mit den AÄ-Leitern, Vertretern der IHKen und HWKen sowie der Ausschüsse im LAA Sachsen (BA-MA Freiburg, RW 20–4/7, Bl. 96 f., hier 97).

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nicht in der Rüstung einsetzbaren Betriebsleiter als einzige Arbeitskraft sollten erhalten bleiben.681 Faktisch bedeutete das, dass die Stilllegungen allein unter Arbeitseinsatzgesichtspunkten vorgenommen werden sollten, ein Vorgehen, das Speer und Goebbels gerade hatten ausschließen wollen. Die Ergebnisse der Ende Juni abgeschlossenen Stilllegungen und Auskämmungen in Handwerk und Handel nehmen sich daher auch denkbar mager aus: Das Arbeitsamt Flöha berichtete von knapp 80 freigestellten Männern und Frauen, die bis Ende Juni lediglich zur Hälfte anderweitig eingesetzt werden konnten; gleichzeitig hatte es mehr als 1 400 offene Stellen allein in der Metall­ industrie zu verzeichnen.682 Das Arbeitsamt Glauchau nannte keine Zahlen, sprach aber von einem „ungeheuren Anfall von Verwaltungsarbeit“, der zum Erfolg in keinem Verhältnis stehe.683 Diesen Eindruck bestätigte die Handwerkskammer Chemnitz durch die Aussage, dass 66 Prozent der in ihrem Bereich ausgesprochenen Stilllegungsbescheide aufgrund von Einsprüchen wieder zurückgenommen worden seien.684 Auch die Einbeziehung der erst im März gestarteten Stilllegungen in der Konsumgüterindustrie, die im August 1943 abgestoppt wurden, verbesserte die Bilanz nur unwesentlich: Das Arbeitsamt Chemnitz hatte zwar insgesamt rund 700 Arbeitskräfte an andere Arbeitsplätze versetzen können. Wie das Arbeitsamt Glauchau störten sich jedoch die Chemnitzer vor allem an dem Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag.685 Spuren einer Initiative Speers von Februar 1943, mit der er über eine Schließung von kleineren unrationell arbeitenden Rüstungsbetrieben zu einer konzentrierten rationellen Fertigung und damit zu Produktionssteigerungen etwa zugunsten des Panzerprogramms zu gelangen suchte,686 lassen sich im Untersuchungsraum überhaupt nicht auffinden. Trotz der schlechten Überlieferungslage scheint die Bilanz der Stilllegungen des ersten Halbjahrs 1943 darauf hinzudeuten, dass sich die Chemnitzer Region in ihren Ergebnissen keineswegs von anderen Gebieten des Reiches unterschied. Auch in Baden war die Zahl der für die Rüstung freigewordenen Arbeitskräfte eher bescheiden.687 Im Gesamtreich hatte man von den angestrebten 300 000 Arbeitskräften Ende Juni

681 Vgl. ebd.; Peter, Rüstungspolitik, S. 253. 682 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 683 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Juni 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 684 RüKdo Chemnitz, G. am 14.8.1943, Besprechung im AA Chemnitz über die Bereitstellung von Arbeitskräften die Kriegswirtschaft betreffend (BA-MA Freiburg, RW 21– 11/16, Bl. 67–69, hier 68). 685 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 686 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 182, 184; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 885– 887. 687 Vgl. Peter, Rüstungsindustrie, S. 251 f.

Stilllegungen und Auskämmungen

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1943 erst rund 114 000 an neue Arbeitsplätzen versetzt, gleichwohl aber große Unruhe in der Bevölkerung ausgelöst.688 Die regionalen Institutionen in der Region Chemnitz waren also keineswegs allein, wenn sie, unbeeindruckt von der Ausrufung des „totalen Kriegs“, lieber ihrem Gauleiter folgten und allzu radikale Einschnitte in die klein- und mittelständische Wirtschaftsstruktur des Gebietes unterließen. 8.2

Die „Auskämmung des zivilen Sektors“ (AZS) 1943

Die Entmachtung Funks und die Übernahme wichtiger Kompetenzen des Wirtschaftsministeriums durch Speers Rüstungsministerium im Verlauf des Sommers 1943689 hatte in der Region sichtbare Folgen. Dies wurde an zwei wichtigen Arbeitskräftelenkungsaktionen der Jahre 1943/44 deutlich, der von Sauckel verantworteten „Auskämmung des zivilen Sektors“ (AZS) und den vom Ministerium Speer ausgehenden Betriebsumsetzungen, mit deren Durchführung der neu ernannte „Generalbeauftragte für Betriebsumsetzungen“ (GBB) Ministerialrat Karl Wissmann betraut wurde. Die AZS-Aktion leitete der GBA Sauckel bereits im Juli 1943 ein, gewissermaßen als Reaktion auf die von Funk verantwortete, aber gescheiterte Stilllegungsaktion im Frühjahr 1943. Sie sollte die Konsumgüterindustrie, vor allem die Textilindustrie betreffen und bis September rund 500 000 Arbeitskräfte reichsweit für eine Versetzung in die Rüstung verfügbar machen. Die Abgabequoten für die einzelnen Branchen wurden ebenso zentral festgelegt wie ihre Verteilung auf die Bezirke der einzelnen Landeswirtschaftsämter. Die Landeswirtschaftsämter sollten die Abgabebetriebe bestimmen.690 Die Forschung hat die AZS bislang lediglich auf Reichsebene behandelt, lediglich Roland Peter deckt mit seiner Untersuchung die Gauebene ab.691 In Chemnitz trafen sich Mitte August 1943 bei einer Besprechung im Arbeitsamt Chemnitz die üblichen für die Arbeitskräftelenkung verantwortlichen Institutionen zuzüglich der Handwerkskammer und Vertretern von NSDAP und DAF, um die Aktion zu planen. Bis zum 15. September sollten in ganz Sachsen rund 9 000 Arbeitskräfte ausgekämmt werden. Von der sächsischen Quote hatte der Rüstungsbereich Chemnitz etwa ein Drittel, also rund 3 000 Arbeiterinnen und Arbeiter zu stellen, auf das Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz entfielen etwa 900. Dies, so stellten die Verantwortlichen bereits bei ihrer

688 Vgl. Herbst, Krieg, S. 221–229; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 886 f. 689 Vgl. Kap. V. 2. 2. 690 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 259; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 890–892. Viele Untersuchungen wie Janssen, Ministerium, Naasner, Machtzentren, Herbst, Krieg, Recker, Sozialpolitik, S. 186, erwähnen die AZS überhaupt nicht oder nur am Rande. 691 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 259–261; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 890– 892.

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ersten Besprechung fest, reiche allerdings bei Weitem nicht aus, um den Bedarf der Rüstungswirtschaft zu decken.692 In der Region lief die AZS zunächst schleppend an. Die Unternehmen, die die von ihnen abzugebenden Kräfte namentlich melden sollten, verzögerten diese Meldung so weit als möglich. In Bereich des Arbeitsamtes Annaberg war die Meldung in der Regel mit dem Einspruch der Unternehmen gegen den Abzug verknüpft. Bei der Versetzung der freigestellten Arbeiterinnen und Arbeiter war, wie so oft, die Wirtschaftsstruktur des Bezirks ein Hindernis: Die Ausgekämmten sollten möglichst in der örtlichen Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Dort aber, wo Firmen Arbeitskräfte entzogen wurden, befanden sich häufig keine Rüstungsbetriebe und umgekehrt.693 In Lugau und Umgebung kam es immer wieder vor, dass Betriebe als Nutznießer der Aktion ausgewählt worden waren, die gar nicht mehr existierten. Bei den Textilunternehmen verstärkte die AZS den Drang nach textilfremden Rüstungsaufträgen.694 Das Chemnitzer Arbeitsamt registrierte, dass viele Firmen die Gelegenheit nutzen wollten, gerade die nicht so leistungsfähigen Arbeitskräfte loszuwerden. Wie die übrigen Arbeitsämter betonte es daneben die Gefahren der Auskämmungen für die örtliche Textilindustrie: „Mit dem Abzug eines wesentlichen Teils der voll einsatzfähigen Kräfte wird das Rückgrat dieser Betriebe stark angeschlagen.“695 Noch am 10. September bewegte sich die Zahl der durch die einzelnen Arbeitsämter in die Rüstung versetzten Beschäftigten jeweils im zweistelligen Bereich.696 Bis hierhin war die Aktion also als glatter Fehlschlag zu werten, was im Übrigen nicht nur für die Region Chemnitz, sondern auch für Sachsen697 und das Reich insgesamt galt. Dennoch wurden die Auskämmungen im September weitergeführt, ja es wurde sogar aus Berlin eine Intensivierung angewiesen. Am 25. August erhielt die IHK Chemnitz die Nachricht, dass die Abgabequote allein für die sächsische Textilindustrie nunmehr auf 13 500 Arbeitskräfte, also ein Vielfaches der ursprünglich einmal anvisierten 1 800, gesteigert worden sei.698 Alle Branchen 692 RüKdo Chemnitz, G., am 14.8.1943, Besprechung im AA Chemnitz über die Bereitstellung von Arbeitskräften die Kriegswirtschaft betreffend (BA-MA Freiburg, RW 21– 11/16, Bl. 67 f.). 693 AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 694 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 695 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im August 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 696 Vgl. Wika Chemnitz, Linse, am 15.9.1943, Aktennotiz betr. Umsetzung von Arbeitskräften in die Rüstungsindustrie. Stand der ersten Auskämmungsaktion (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 697 Vgl. LWA Sachsen an GWK Sachsen u. a. am 30.8.1943, Rundanordnung Nr. 391/43 betr. Auskämmung von Arbeitskräften für die Rüstungsindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.). 698 Vgl. Wika Chemnitz, Linse, am 27.8.1943, Aktennotiz betr. Umsetzung von Arbeitskräften in die Rüstungsindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.).

Stilllegungen und Auskämmungen

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zusammen sollten nunmehr 34 000 statt wie bisher 9 000 Arbeitskräfte zur Verfügung stellen. Drei Wochen später erhöhte Sauckel das sächsische Kontingent sogar auf 45 000 Beschäftigte, nach Aussagen der Wirtschaftsgruppe Textil ohne Rücksprache mit dem Reichswirtschaftsminister, weshalb die Wirtschaftsgruppe ihre örtlichen Gliederungen anwies, sofort bei den Arbeitsämtern zu protestieren, falls diese den sächsischen Textilunternehmen mehr als die ursprünglich abgesprochenen Quoten von Arbeitnehmern entziehen wollten.699 Sauckel nutzte offenbar den zunehmenden Machtverlust Funks, um die Auskämmungen zu intensivieren und den Druck auf die Konsumgüterindustrie zu erhöhen. Nicht nur, dass er eigenmächtig die Abgabesollzahlen drastisch erhöhte, am 8. September verfügte er außerdem, dass die Federführung der Auskämmungen von den Landeswirtschaftsämtern auf die Gauarbeitsämter, also in seinen eigenen Instanzenzug, überwechseln sollte.700 Roland Peter wertet dies als Machtverlust der Gauleiter, da die Landeswirtschaftsämter zwar formal bis Anfang September in vieler Hinsicht Funk unterstellt gewesen waren, aber faktisch zum Imperium der Gauleiter gehörten.701 Dass dies auch der sächsische Gauleiter Mutschmann so sah, belegt seine spontane Reaktion: Am 11. September bestimmte er gegen die Anweisung Sauckels, dass in Sachsen wie bisher die Wirtschaftskammern und nicht die Arbeitsämter die Bescheide über die Auskämmungen an die Firmen senden sollten.702 Mittelfristig konnte er allerdings nicht verhindern, dass Sauckels Instanzenzug auch in seinem Gau die Regie der Aktion übernahm.703 Ob der Wechsel der Federführung allein der Schlüssel zum sich schließlich doch einstellenden Erfolg der AZS war, wie Roland Peter meint, ist zweifelhaft. Fest steht, dass etwa das Arbeitsamt Chemnitz die inzwischen bewährte Methode der Einbindung aller für die regionale Wirtschaft wichtigen Institutio­ nen über eine gemeinsame Kommission anwandte, in der der übliche Kreis, bestehend aus Arbeitsamt, Rüstungskommando, Wirtschaftskammer Chemnitz, Wehrkreisbeauftragtem des Speerministeriums sowie dem NSDAP-Kreiswirtschaftsberater, zusammensaß. Die Kommission tagte zwei Wochen lang täglich und lud die größeren Unternehmen mit ihren Unterlagen ins Arbeitsamt. Dann gingen Beauftragte des

699 Wika Chemnitz, Linse, am 13.9.1943, Aktennotiz betr. zweite Auskämmaktion der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.); vgl. auch RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/16, Bl. 26). 700 RWK an Gauwirtschaftskammern und Wirtschaftskammern am 14.9.1943 betr. Auskämmaktion 1943, hier Industrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 4, unpag.); vgl. Peter, Rüstungswirtschaft, S. 259, wo allerdings, anders als im vorgenannten Dokument das Datum des Sauckel-Erlasses mit 6.9.1943 angegeben ist. 701 Vgl. Peter, Rüstungswirtschaft, S. 259 f. 702 Wika Chemnitz, Linse, am 13.9.1943, Aktennotiz betr. zweite Auskämmaktion der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 703 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/16, Bl. 26).

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Arbeitsamtes als sogenannte Stoßtrupps in die Unternehmen, um vor Ort die eigentlichen Auskämmungen vorzunehmen. Die Beschlussfassung in großer ­Runde verknüpfte das Arbeitsamt Chemnitz mit einem neuen rationellen Verfahren für die Kleinbetriebe: Im Stundentakt bestellte man je 40 Kleingewerbetreibende ins Arbeitsamt, wobei sie die Arbeitsbücher sämtlicher Beschäftigten mitzubringen hatten. Nach einer kurzen Ansprache, mit der die Kleinunternehmer über den Zweck der Vorladung informiert wurden, verhandelten Arbeitsamtsbeauftragte mit jedem Betriebsinhaber einzeln über die Abgabe von Arbeitskräften, die dann direkt im Anschluss freigestellt wurden. Mit diesem Verfahren gelang es den Chemnitzern, die geforderte Quote von 6 000 Arbeitskräften bis zum 30. September zu 75 Prozent aufzubringen, wobei die Textilindustrie den größten Teil der Kräfte stellte.704 In anderen Arbeitsamtsbezirken der Region lagen die Ergebnisse noch günstiger: In den Arbeitsamtsbezirken Flöha und Annaberg wurde die Quote von je 1 000 ausgekämmten Beschäftigten sogar leicht übererfüllt, was das F ­ löhaer Amt den geschickten Verhandlungen mit den Unternehmensleitungen zuschrieb.705 Die Arbeitsämter Olbernhau und Lugau erreichten etwa 90 Prozent der Quote.706 Das Amt Lugau führte dies als einziges Amt eindeutig auf die Federführung der Arbeitsverwaltung zurück: „Es musste ja endlich einmal total gehandelt werden.“707 Im gesamten Rüstungsbereich Chemnitz, also der Großregion Chemnitz-Zwickau, wurden bis Ende September 1943 rund 17 000 Arbeitskräfte ausgekämmt.708 Die dem gesamten Gau Sachsen auferlegte Quote von 46 000 Freistellungen wurde bis Anfang November, dem offiziellen Ende der AZS, erreicht.709 Die Textilindustrie hatte die Hauptlast der Auskämmungen zu tragen: So stammten in Lugau 90 Prozent aller freigestellten Beschäftigten aus der Textilindustrie.710 Die Chemnitzer Textilindustrie wurde noch in der zweiten Okto­ berhälfte angewiesen, innerhalb von einer Woche 3 000 und binnen weiterer zwei Monate 20 000 zusätzliche Beschäftigte freizumachen.711 704 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 705 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 706 Vgl. AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 707 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.); vgl. auch AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 708 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, Bl. 45). 709 RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 26). 710 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 711 Vgl. Wika Chemnitz, Linse, am 23.10.1943, Aktennotiz betr. Ausweichplanung und Arbeitseinsatz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.).

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Nach Schätzungen der Untergruppe Chemnitz der Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie hatte die Textilindustrie in der Untersuchungsregion Chemnitz im Verlauf der Aktion knapp zehn Prozent ihrer Arbeitskräfte abgeben müssen.712 Das klingt zunächst wenig, doch dürfte sich damit, sehr grob geschätzt, gegenüber dem Jahr des Kriegsbeginns die Zahl der Beschäftigten in der Textilindustrie bis November 1943 in etwa halbiert haben.713 Im Großen und Ganzen – die entsprechenden Zahlen sind aufgrund der von der Wirtschaftsgruppe selbst betonten unsicheren Datenlage mit Vorsicht zu behandeln – entsprach dies dem gesamtsächsischen und dem Reichstrend.714 Die Versetzung der durch die Auskämmungen freigestellten Arbeitskräfte warf allerdings zum Teil erhebliche Schwierigkeiten auf, da viele weibliche Kräfte wegen ihrer Verantwortung für die Familien- und Hausarbeit nicht an andere Orte versetzt werden konnten. Die sich noch bei Textilfirmen befindlichen deutschen Männer waren häufig körperlich eingeschränkt oder besaßen bereits ein hohes Alter.715 Versuche der Arbeitsämter, sich bei den Abzügen auf männliche ausländische Zwangsarbeiter zu konzentrieren, stießen, etwa im Gebiet von Glauchau, auf erheblichen Widerstand der Unternehmensleitungen, weil diese Kräfte, die ursprünglich als Ersatz für zur Wehrmacht eingezogene Fachkräfte eingearbeitet worden waren, sich offenbar zu unentbehrlichen Stützen der Produktion entwickelt hatten. Die Arbeitsämter behalfen sich mit dem ungeheuer aufwendigen, aber mit zunehmender Kriegsdauer immer häufiger praktizierten „Ringtausch“, was bedeutete, dass mehrere Arbeitnehmer versetzt wurden, bis schließlich eine für die Rüstung geeignete Kraft frei wurde.716 Ein Teil der ausgekämmten Arbeitskräfte ging der regionalen Wirtschaft ganz verloren, weil bei der AZS, wie bisher auch, Metallfacharbeiter in andere Reichsgebiete entsandt wurden, trotz der zunehmenden Verlagerungen von Rüstungsbetrieben nach Westsachsen.717 Dennoch gelang es bis zum Ende des Jahres, die geforderten 46 000 Arbeitskräfte in der sächsischen Rüstungswirtschaft einzusetzen.718 Auch die Arbeitsämter der Region berichteten, dass die Versetzung der

712 Vgl. Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie an GWK Sachsen am 2.11.1943 betr. Kräfteabzug in der Textilindustrie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 8). 713 Eigene Schätzung auf der Grundlage von ebd. sowie IHK Chemnitz, Linse, am 15.9.1942, Die wirtschaftliche Struktur des Chemnitzer Kammerbezirks (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 714 Vgl. „Die Wirtschaftsgruppe macht über den Rückgang …“, o. T., o. V., o. D. [nach 31.10.1943] (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 715 Vgl. z. B. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 716 Vgl. AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 717 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, S. 36, 45). 718 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 26).

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AZS-Kräfte den Arbeitskräftebedarf der Rüstungsfirmen zumindest zeitweise habe dämpfen können.719 Auch nach dem offiziellen Ende der AZS im November 1943 gingen die Auskämmungen in Sachsen weiter,720 auch wenn die Rüstungskommission IVa im November 1943 wegen der zunehmenden Personalknappheit in der Verwaltung die Zahl der für die Auskämmungen großer Unternehmen zuständigen sächsischen Sonderausschüsse von drei auf einen reduzierte.721 Wie auch für das Reich insgesamt sowie für Baden722 ist daher auch für die Region Chemnitz und für Sachsen die AZS-Aktion als eine der erfolgreichsten Aktionen zur Bekämpfung der Arbeitskräfteknappheit der Rüstungswirtschaft in der zweiten Kriegshälfte anzusehen. Sie dokumentiert den in der Region Chemnitz und in ganz Sachsen seit Kriegsbeginn verfolgten Ansatz, Auskämmungen den Vorrang vor Stilllegungen zu geben, damit die regionale mittelständische Wirtschaftsstruktur trotz Einschränkungen zu erhalten und Proteste von Unternehmern und Betriebsführern zu verringern. Dies wird bei der Schilderung der sogenannten Wissmann-Aktion noch augenfälliger. 8.3

Die Wissmann-Aktion

Wie schwierig sich Stilllegungen im Untersuchungsgebiet auch noch nach Ausrufung des „totalen Krieges“ gestalteten, hatte bereits das erste Halbjahr 1943 erwiesen. Dennoch plante Speer bereits im Sommer 1943 eine neue Aktion, die reichsweit 500 000 Menschen für die Rüstungsproduktion freistellen sollte und für die ihm seine neuen Vollmachten als Reichsminister für Rüstungsund Kriegsproduktion die notwendige Handhabe boten. Zum 1. September ernannte er Ministerialrat Karl Wissmann zum „Generalbeauftragten für Betriebsumsetzungen“, den er sich direkt unterstellte. Zur Grundidee des neuen Vorgehens von Speer gehörte es, die Konsumgüterfertigung in die besetzten Gebiete, insbesondere nach Frankreich, zu verlagern723 und die Konsumgüterbetriebe im Reich, auch wenn sie Güter für die Wehrmacht herstellten, in die Waffen-, Munitions- und Geräteherstellung zu überführen. Die Anweisungen Speers sahen daher vor, dass Firmen in der Nähe wichtiger Rüstungsunternehmen in diese umgesetzt werden sollten. Sie hatten ihre Beschäftigten und ihre 719 Vgl. z. B. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 720 Vgl. GAA Sachsen an die Leiter der AÄ am 30.11.1943 betr. Gewinnung von Arbeitskräften für die vordringlichsten Fertigungen durch Auskämmung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 721 Vorsitzer der Rüstungskommission IVa an RMfRuK am 13.11.1943, Bericht über die Tätigkeit der Rüstungskommission IVa vom 15.10.–14.11.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 53). 722 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 891; Peter, Rüstungswirtschaft, S. 260. 723 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 896.

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Produktionsmittel in den Dienst der aufnehmenden Rüstungsfirma zu stellen. Die aufnehmende Firma wurde verpflichtet, die gesamte Belegschaft ohne Ausnahme einzustellen. Außerdem bestimmte Speer, dass nur Industriebetriebe mit mindestens 100 und Handwerksbetriebe mit mindestens 50 Beschäftigten umgesetzt werden sollten, um zu vermeiden, dass Betriebsschließungen lediglich relativ unergiebige Klein- und Mittelbetriebe trafen.724 In der Praxis lief die sogenannte Wissmann-Aktion bis Ende November 1943 parallel zur im vorigen Kapitel beschriebenen AZS-Aktion von Sauckel. Die Wissmann-Aktion ist bisher lediglich für die Reichs-725 und hinsichtlich Baden für die Gauebene beschrieben worden. Roland Peter sieht die Betriebs­ umsetzungen als einen in Baden freilich nur teilweise gelungenen Versuch, die Gewinnung von Arbeitskräften für die Rüstung zentral zu steuern und durch Ausschaltung der Gauebene regionale Rücksichten zurückzudrängen.726 Die folgende Schilderung betrachtet das Geschehen erstmals aus der Perspektive einer Region. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob und inwieweit es Wissmann tatsächlich gelang, regionale und Mittelinstanzen bei den Betriebsumsetzungen auszuschalten und was dies für die Effizienz der Aktion bedeutete. Den Weisungen Speers zufolge sollten Institutionen der Mittelinstanz (Rüstungsinspekteure, Wehrkreisbeauftragte, Rüstungsobmänner) geeignete Unternehmen zur Umsetzung vorschlagen. Die Rüstungsinspektionen hatten die Vorschläge auf der Mittelebene zu sammeln und an Wissmann weiterzuleiten. Sie sollten auch die Stilllegungsbescheide, die zunächst zentral im Ministerium Speer ausgefertigt wurden, weitergeben. Parallel zu den Mittelinstanzen konnten auch die Hauptausschüsse und Ringe Umsetzungsvorschläge direkt an das Speerministerium geben.727 Im Verlauf der Aktion wurden schließlich auch die Wirtschaftsgruppen einbezogen. Spätestens seit seiner Ernennung zum Minister für Rüstung und Kriegsproduktion hatte ein wesentliches Ziel Speers darin bestanden, die den Eingriffen in die zivile Wirtschaft wegen ihrer Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung häufig skeptisch gegenüberstehenden Gauleiter durch eine Mischung von Ansporn und Drohungen dazu zu bringen, die kompromisslose Ausrichtung der Wirtschaft auf die Rüstung mitzutragen. Auf der Versammlung der Gau- und Reichsleiter in Posen Anfang Oktober 1943 meldete er in einer großen Rede ihnen gegenüber unverblümt seinen Führungsanspruch in der Kriegswirtschaft an.728 Es liegt deshalb nahe zu vermuten, dass die Vielzahl der

724 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 261. 725 Vgl. Recker, Sozialpolitik, S. 189 f.; Eichholtz, Geschichte II, S. 150–154; Müller, Speer, S. 352–355. 726 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 261–264; Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 341, berührt die Aktion nur ganz am Rande. 727 Vgl. RMfRuK an Verteiler am 10.9.1943 [betr. Durchführung des Erlasses vom 1.9.1943] (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 728 Vgl. Müller, Speer, S. 339 f.; Janssen, Ministerium, S. 122–124.

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­ orschlagsberechtigten, die unterschiedlichen Wege der Vorschlagseinreichung V ebenso wie die Tatsache, dass die Umsetzungsentscheidung in Berlin getroffen werden sollte, eine durch regionale und branchenspezifische Rücksichten geprägte Kanalisierung der Betriebsumsetzung verhindern sollten, wie sie bei der von Funk verantworteten Stilllegungsaktion im Frühjahr 1943 eine große Rolle gespielt hatte. Das Vorgehen, Institutionen und Ämter in einen Konkurrenzkampf um die besten Ergebnisse zu treiben, entsprach der polykratischen Struktur des NS-Regimes. In Sachsen begann die Aktion Mitte September. Auffällig ist, dass die sächsischen Akteure sofort damit begannen, die Intentionen der Speer’schen Weisungen in das Gegenteil zu verkehren. Im Vordergrund der Aktivitäten stand zunächst die Absprache der Gaubehörden und der regionalen Institutionen, also Verabredungen zu einer geregelten Zusammenarbeit, die Doppelarbeit und Institutionenkonkurrenz vermeiden sollte: Nachdem für Sachsen in Absprache zwischen Rüstungsinspektion, Rüstungsobmann und Wehrkreisbeauftragtem Listen mit Industriebetrieben über 100 Beschäftigten erstellt worden waren, reichte die Gauwirtschaftskammer diese an die Wirtschaftskammern weiter. Sie entwickelte außerdem Vorgaben für das Vorgehen der regionalen Behörden und Institutionen: Die Wirtschaftskammern sollten die Vorschläge mit den Rüstungskommanden absprechen und sie nach deren Bestätigung wieder in die Mittelebene hochreichen, konkret an die Abteilung Industrie der Gauwirtschaftskammer, die als Geschäftsstelle des Rüstungsobmannes fungierte. Der Rüstungsinspektion oblag nach der Absprache auf der Mittelebene die letzte Entscheidung, ob der Umsetzungsvorschlag tatsächlich an Wissmann weitergegeben werden sollte.729 Obwohl nach Speers zentraler Durchführungsanordnung möglichst keine anderen als die bisher genannten Institutionen in die Abgabe der Umsetzungsvorschläge einbezogen werden sollten, um Unruhe in der Region zu vermeiden, trafen bei der ersten Besprechung für Chemnitz nicht nur wie vorgesehen Vertreter des Rüstungskommandos und der Wirtschaftskammer Chemnitz zusammen, sondern es wurden auch mit dem NSDAP-Kreisamtsleiter für Technik Anacker und Kreiswirtschaftsberater Weinhold730 NSDAP-Parteioffizielle hinzugezogen.731 War die Fühlungnahme mit dem Kreisamt wenigstens auf der

729 Vgl. GWK Sachsen, Abteilung Industrie, an die Hauptgeschäftsführer der GWK Sachsen sowie der Wirtschaftskammern Chemnitz, Leipzig, Plauen am 23.9.1943 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.); RüIn IVa am 23.9.1943 an die RüKdos Dresden, Chemnitz, Leipzig betr. Stilllegungen und Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 730 Vorname nicht zu ermitteln. 731 Vgl. RüKdo Chemnitz am 2.10.1943 betr. Betriebsumsetzungen. Besprechung über Stilllegung bzw. Umsetzung nachstehender Betriebe des D-Kreises im AA-Bezirk Chemnitz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.).

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Mittelebene verfügt worden,732 so scheint es sich bei der Teilnahme Weinholds um eine örtliche Regelung gehandelt zu haben. Sie ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die NSDAP über die Doppelfunktion des NSDAP-Kreisleiters im Kriege Hans Schöne, der Präsident der Wirtschaftskammer Chemnitz war, in dort ohnehin inoffiziell mit im Boot saß. Zwar verlief der Auftakt zur Zusammenarbeit in Chemnitz etwas unglücklich: Der zunächst bestimmte Sacharbeiter des Rüstungskommandos musste die Bearbeitung der Betriebsumsetzungen wegen Arbeitsüberlastung an seinen Kollegen abgeben, der einige Tage zur Einarbeitung benötigte und sich mit der Anfertigung von Sitzungsprotokollen offenbar länger Zeit ließ, als der zuständige Sachbearbeiter der Wirtschaftskammer, Linse, für angemessen hielt. Dazu kam, dass die Rüstungsinspektion sehr spät, nämlich erst nach den ersten Besprechungen zu den Umsetzungen auf regionaler Ebene entschied, dass zusätzlich Arbeitsämter und Vertreter der DAF in die Entscheidungsfindung über die Vorschläge einzubeziehen seien. Dies machte die Wiederholung einiger Arbeitsschritte nötig. Schließlich entstanden auch innerhalb der Kammerhierarchie Missverständnisse über den Charakter der Unternehmenslisten, die der regionalen Ebene als Besprechungsgrundlage zugesandt worden waren.733 Dennoch verdeutlichen diese Aktivitäten, dass die sächsische Mittelebene und die lokale Chemnitzer Ebene keinesfalls gewillt waren, sich bei der Durchführung der Betriebsumsetzungen das Heft aus der Hand nehmen zu lassen. Noch auffälliger ist, dass durch die beschriebenen Nachbenennungen in der Chemnitzer Arbeitsgruppe zur Betriebsumsetzung wieder nahezu alle jene Institutionen saßen, die auch bei den Auskämmungen, bei den Sondereinziehungsaktionen und anderen Arbeitskräftelenkungsentscheidungen dabei waren, dadurch also die Kontinuität der Arbeitskräftelenkung auf der regionalen Ebene gestärkt statt geschwächt wurde. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang schließlich, dass zum Teil auch die direkt von den Ausschüssen und Ringen eingereichten Vorschläge nach der Sichtung im Speerministerium, etwa im Falle des Hauptausschusses Wehrmacht- und allgemeines Gerät, über den zuständigen Bezirksbeauftragten schließlich doch an Gauinstanzen wie die Rüstungsinspektion und von dort aus an die regionale Ebene weitergeleitet wurden, „da von Berlin aus nicht einwandfrei zu ersehen ist, ob alle Vorschläge für eine Umsetzung geeignet sind“.734

732 Vgl. RüIn IVa am 23.9.1943 an die RüKdos Dresden, Chemnitz, Leipzig betr. Stilllegungen und Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 733 Wika Chemnitz an die GWK Sachsen am 3.11.1943 betr. Betriebsumsetzungen/Betriebsübersichten (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 734 Der Bezirksbeauftragte des Hauptausschusses Wehrmacht und allgemeines Gerät beim RMfBuM am 14.9.1943 an die Wirtschaftskammern Chemnitz, Leipzig. Plauen u. a. betr. Umsetzungen aus dem zivilen Sektor (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.).

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Eine ganze Reihe von Fertigungsstilllegungen sprach das Speerministerium aber offenbar aus, ohne dass sie auf der Mittelebene oder auf regionaler Ebene behandelt wurden. Dabei handelte es sich z. B. um die Büromaschinenfertigung der Wanderer-Werke AG und der Astrawerke AG. Zumindest die WandererWerke, die wegen ihres Produktionsprofils sowie ihrer rüstungswirtschaftlichen Bedeutung direkte Verbindungen nach Berlin besaßen, hatten vorher schon längere Zeit mit der Wirtschaftsgruppe Maschinenbau und dem Hauptausschuss Maschinen über die Abwendung einer Stilllegung verhandelt. Die dritte Chemnitzer Büromaschinenfirma, die Maschinenfabrik Kappel AG, stand ebenfalls seit Längerem unter Druck, die Schreibmaschinenproduktion aufzugeben. Hier wurde der Betrieb vor der Zustellung des Stilllegungsbescheides durch Wissmann durch eine Kommission von Arbeitsamt, Rüstungskommando und dem Vertreter des Wehrkreisbeauftragten Anacker überprüft.735 Angesichts der Tatsache, dass zunächst die Vernetzung der Institutionen und die Entwicklung der Vorgehensweise im Vordergrund standen, verlief die Aktion in Sachsen zunächst ziemlich schleppend.736 Doch scheint Sachsen dies durchaus mit anderen Reichsgegenden gemein gehabt zu haben. In einem Erlass vom 18. Oktober stellte das Rüstungsministerium fest, dass der Aufforderung, „aus der Mittelebene heraus Betriebe über 100 Mann zur vollständigen Stilllegung vorzuschlagen“, in „völlig ungenügendem Maße“737 nachgekommen worden sei. Es wies noch einmal auf die getrennten und voneinander unabhängigen Vorschlagsrechte der verschiedenen Institutionen der Mittelebene hin, was darauf hindeutet, dass die in Sachsen beobachtete Tendenz der Verständigung dieser Institutionen auf gemeinsame Vorschläge keine Einzelerscheinung war.738 Zudem kündigte das Ministerium die Einbeziehung von Handels-, Verkehrs- und sonstigen Betrieben in die Aktion an.739 In Sachsen ließ Rüstungsobmann Führer die Berliner Rüge durch seine Geschäftsstelle dahingehend kommentieren, dass er von eigenen Vorschlägen abgesehen habe, weil die auf der Mittelebene abgesprochene Zusammenarbeit zwischen Rüstungskommandos und Wirtschaftskammern am ehesten eine sinnvolle Auswahl der umzusetzenden Betriebe zu gewährleisten scheine. Damit verteidigte er das abgestimmte Vorgehen in Sachsen gegen die Berliner Vorstellung von konkurrierenden Institutionen und Ämtern. Führer sprach sich dafür aus, das bisher gewählte Verfahren weiterzuführen, rief aber gleichwohl dazu 735 Vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 391–395, 453 f., 467–469; Wika Chemnitz, Linse, am 28.10.1943, Aktennotiz betr. Stilllegung der Schreibmaschinen- und Buchungsmaschinenfertigung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 736 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/16, S. 27). 737 RMfRuK an die Vorsitzer der Rüstungskommissionen, Rüstungsinspekteure, Wehrkreisbeauftragte, Rüstungsobmänner am 18.10.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 738 Vgl. ebd. 739 Vgl. RMfRuK an GWK, Industrieabteilung, am 14.10.1943, Fernschreiben MUNMIN 30140 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.).

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auf, weitere Vorschläge zu erarbeiten, und bat dafür auch die fachlich-bezirklichen Gruppen und die Bezirksobmänner der Wirtschaftsgruppen um Unterstützung.740 In Chemnitz traf sich die mit den Betriebsumsetzungen befasste Gruppe während der Monate Oktober und November zweimal in einem sukzessive erweiterten Teilnehmerkreis.741 Ende November beschlossen die Teilnehmer in Anwesenheit von Abgesandten der Rüstungsinspektion und des Gauarbeitsamtes, sich künftig wöchentlich zu treffen.742 Auf diese Weise entstand die Chemnitzer „Umsetzungskommission“ oder „Kommission für Betriebsumsetzungen“743, die bis Februar 1945 mehrmals monatlich tagte. Die Kommission bestand aus Vertretern des Rüstungskommandos und der Wirtschaftskammer Chemnitz, des Arbeitsamtes Chemnitz und von Fall zu Fall anderer Arbeitsämter der Region, des Wehrkreisbeauftragten IVa (NSDAP-Kreisamtsleiter Anacker) sowie der Bezirksuntergruppe Chemnitz-Erzgebirge der Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie. Von Parteiseite nahmen außerdem ein DAF-Vertreter und der Chemnitzer NSDAP-Kreiswirtschaftsberater Weinhold teil. Im Verlauf des Frühjahrs 1944 kam zusätzlich ein Vertreter der SD-Hauptaußenstelle Chemnitz dazu. Die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission entschied vorwiegend über Konsumgüterfirmen im Bereich des Arbeitsamtes Chemnitz, behandelte aber auch über Unternehmen aus dem Annaberger, Glauchauer, Lugauer oder Flöhaer Bezirk, ohne dass sich irgendwo eine genaue regionale Zuständigkeitsbeschreibung findet.744 Wie geschildert, dürfte die Kommission auf regionale Initiative hin entstanden sein. Doch scheint sie bald Vorbild für ein ähnliches Vorgehen in anderen Regionen geworden zu sein. In Plauen, das wie Chemnitz zum Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz gehörte, ist eine Umsetzungskommission für April 1944 belegt.745 Darüber hinaus rühmte sich die Rüstungsinspektion 740 Vgl. GWK Sachsen, Abteilung Industrie, an die Zweigstelle Zittau, die Wirtschaftskammern Leipzig, Chemnitz, Plauen, fachlich-bezirkliche Gruppen und Bezirksobmänner der Wirtschaftsgruppen am 1.11.1943 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 741 Vgl. RüKdo Chemnitz am 29.10.1943, Besprechung über Stilllegung bzw. Umsetzung nachstehender Betriebe des D-Kreises im AA-Bezirk Chemnitz am 28.10.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 742 Vgl. RüKdo Chemnitz am 2.12.1943, Besprechung über Betriebsumsetzungen und Stilllegungen am 30.11.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 743 Vgl. Wika Chemnitz an LWA am 9.2.1944 betr. Betriebsumsetzungsaktion (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). Die Kommission wurde übrigens nie in den Überschriften, sondern nur im Text der Protokolle hin und wieder so benannt; vgl. z. B. RüKdo Chemnitz am 3.2.1944, Besprechung am 3.2.1944 Betriebsstilllegungen betr. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 744 Vgl. die Protokolle der Betriebsumsetzungskommission, meist vom RüKdo Chemnitz verfasst und betitelt mit „Niederschrift über […] Besprechung […] Betriebsumsetzungen und -stilllegungen betr.“ zwischen dem 30.11.1943 und dem 8.2.1945 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, passim). 745 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 9).

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IVa im März 1944, die Stilllegungsverfahren dadurch abgekürzt zu haben, dass möglichst viele regionale Institutionen einschließlich NSDAP-Kreiswirtschaftsberater und DAF in die erste Durchsprache des jeweiligen Falles einbezogen würden, „um von vornherein eine übereinstimmende Beurteilung des Falles sicherzustellen“.746 Es bleibt für die übrigen sächsischen Regionen zu erforschen, ob diese Einbeziehung in derselben Form wie in Chemnitz geschah oder ob sich hier unterschiedliche Wege herausbildeten. In Chemnitz lässt sich die Arbeit der Kommission recht detailliert verfolgen. Die Betriebsumsetzungskommission leistete die Vorarbeiten für Stilllegungsvorschläge der Mittelinstanz bezüglich Konsumgüterfirmen für den Chemnitzer Raum und koordinierte damit verbundene Aktivitäten einzelner Behörden, z. B. die Überprüfung der Arbeitskräfte auf ihre Einsetzbarkeit durch die Arbeitsämter. Im weiteren Verlauf der Aktion behandelte sie außerdem Einsprüche der Firmen gegen ihre Stilllegungen. Die Wirtschaftsgruppen leiteten zwar ihre Vorschläge direkt an die Produktionsämter des Ministeriums Speer, wo über die Freigabe der Betriebe für Umsetzungen entschieden wurde. Spätestens Ende November 1943 sprach das Speerministerium nicht mehr selbst die Stilllegungen aus, sondern sandte lediglich Vorbescheide an die Rüstungsinspektion, Gauarbeitsamt und den Reichsverteidigungskommissar. Dem Reichsverteidigungskommissar blieb es vorbehalten, über das Landeswirtschaftsamt den eigentlichen Stilllegungsbescheid auszufertigen.747 Die Gauebene erhielt damit eine anfangs nicht vorgesehene Rolle im Betriebsumsetzungsverfahren, die möglicherweise ein Eingeständnis dessen war, dass sie sich, wie das hier behandelte Beispiel sehr eindrücklich zeigt, nicht ausschalten ließ. In Sachsen nutzte das Landeswirtschaftsamt die ihm neu zugewiesene Funktion dafür, um die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission in allen jenen Fällen nachträglich einzuschalten, in denen sie bei der Vorbereitung der Stilllegungsvorschläge noch nicht eingebunden gewesen war, wie beispielsweise bei den Vorschlägen der Wirtschaftsgruppe Textil.748 Diese Verfahrensweisen konterkarierten die Intentionen Speers, der durch die zentrale Lenkung der Betriebsumsetzungen gerade regionale Rücksichtnahme hatte ausschalten wollen. Noch im Dezember 1943 erklärte der Minister, 746 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 28). 747 Vgl. Präsident des GAA Sachsen am 30.11.1943 an Leiter AA Leipzig betr. Aktion Betriebsumsetzung Rüstung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 748 Vgl. Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie an RüIn IVa, LWA Sachsen, GAA Sachsen u. a. am 24.12.1943 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.); Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie an RüIn IVa, LWA Sachsen, GAA Sachsen u. a. am 27.12.1943 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.); GWK Sachsen an Zweigstelle Zittau, Wirtschaftskammern Leipzig, Chemnitz, Plauen am 3.1.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.); GWK Sachsen an Wirtschaftskammer Chemnitz am 11.3.1944 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.).

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dass das Ausmaß der Aktion eine „branchenmäßige Zentralregelung“749 erfordere. Die Vorschläge würden von seinen zuständigen Ämtern geprüft. Es sei nicht Sache der Mittelinstanz, nochmals eine materielle Prüfung der Umsetzungsvorschläge vorzunehmen, etwa hinsichtlich des Produktionsausfalles oder seines Ausgleichs durch Verlagerung. Die Mittelinstanz habe sich auf eine formelle Prüfung zu beschränken, die nur die Anzahl der freigestellten Arbeitskräfte und die Möglichkeit ihrer Umsetzung betreffe.750 Mit der Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission war jedoch ein Instrument geschaffen, mittels dessen die lokalen Instanzen im Auftrag der Mittelebene genau jene materiellen Prüfungen vornahmen, die Speer vermeiden wollte. So lehnte die Kommission beispielsweise in ihrer Sitzung Anfang Februar 1944 eine Reihe von Stilllegungen, die der Generalbeauftragte für die Betriebsumsetzungen angewiesen hatte, mit inhaltlichen Argumenten ab. Gegen die Schließung eines Kraftfahrzeugreparaturbetriebs wandte sie ein, dass er für die Wartung der Fahrzeuge der Chemnitzer Rüstungsindustrie und der örtlichen Behörden unentbehrlich sei. Die Druckerei C. F. Pickenhahn und Sohn konnte nach Meinung der Kommission nicht geschlossen werden, weil sie verschiedenste amtliche Druckaufträge wie Lebensmittelkarten habe und als Ausweichdruckerei für die Reichsdruckerei Berlin vorgesehen sei.751 Mutschmann als Reichsverteidigungskommissar verteidigte gegenüber dem Generalbeauftragten für Betriebsumsetzungen dieses Vorgehen. Ende März 1944 antwortete er Wissmann auf ein Mahnschreiben wegen der Verzögerung von Stilllegungen. Zwar verwies er zunächst auf die Umständlichkeit des Verfahrens, „bei dem m. E. zu viel Dienststellen und Kommissionen beteiligt sind“752 – ein Umstand übrigens, den seine Verwaltung zumindest teilweise selbst zu verantworten hatte. Darüber hinaus aber begründete er die Verzögerungen mit erheblichen Schwierigkeiten in der Arbeitskräfteumsetzung und vor allem damit, dass er vor jeder Stilllegung erst prüfen müsse, „ob die Stilllegung im Rahmen der gesamtwirtschaftlichen Belange zweckmäßig und durchführbar ist“,753 also mit der Notwendigkeit einer materiellen Prüfung der Stilllegung vor Ort. Die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission benötigte einige Zeit, um sich zusammenzufinden und geregelte Verfahrensweisen zu entwickeln. Missverständnisse, auch mit übergeordneten Instanzen wie der Gauwirtschaftskammer Sachsen, entstanden anfangs aus fehlerhaften Sitzungsmitschriften des Rüstungskommandos Chemnitz, was laut Wirtschaftskammer Chemnitz „mehrfach zu großen und recht ärgerlichen Schwierigkeiten“754 führte, bis man 749 RMfRuK an Vorsitzer Rüstungskommissionen u. a. am 15.12.1943 betr. Betriebsumsetzungen. Auszug (ebd.). 750 Vgl. ebd. 751 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung am 3.2.1944 Betriebsstilllegungen betreffend. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 752 RVK Sachsen an GBB Wissmann am 29.3.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 753 Ebd. 754 Vgl. Wika Chemnnitz an LWA am 9.2.1944 betr. Betriebsumsetzungsaktion (ebd.).

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übereinkam, die Kommissionsbeschlüsse bereits während der Sitzung protokollarisch festzuhalten und von allen Beteiligten abzeichnen zu lassen.755 Mindestens einmal kam es auch zu Auseinandersetzungen mit bei Beschlüssen fehlenden Kommissionsmitgliedern. So äußerte NSDAP-Kreiswirtschaftsberater Weinhold, der in der Besprechung am 16. Dezember 1943 gefehlt hatte, Bedenken gegen den in der Betriebsumsetzungskommission beschlossenen Abzug von Arbeitskräften aus vier Chemnitzer Textilfirmen, die Militärkleidung und sonstigen Wehrmachtsbedarf fertigten: Es sei noch ungeklärt, wohin diese Produktionen verlagert werden könnten.756 Weinholds Formulierung über die „Unsinnigkeit“757 dieser Stilllegung brachte das Rüstungskommando besonders auf. Daher begründete es in seinem Antwortschreiben den Beschluss zuerst sachlich mit Weisungen des Speerministeriums. Es wies aber auch darauf hin, dass der Beschluss von „verantwortungsbewussten Männern“ gefasst worden und demzufolge die Stilllegung nicht als unsinnig zu bezeichnen sei.758 Trotz einiger Konflikte erfüllte die Kommission ihre Funktion als Koordinationsgremium. So betonte etwa der gelegentlich bei den Kommissionssitzungen anwesende Leiter des Arbeitsamtes Lugau im Februar 1944, dass die Zusammenarbeit der betreuenden Dienststellen im Großen und Ganzen reibungslos verlaufe.759 Regionale Kritik entzündete sich bei der Wissmann-Aktion von Anfang an vor allem an dem von Speer festgelegten und bei Nachfragen auch aus Sachsen immer wieder bekräftigten Grundsatz,760 dass die Belegschaften der stillgelegten Betriebe geschlossen und ohne Ausnahme zu einer Rüstungsfertigung umgesetzt werden sollten. Das Arbeitsamt Chemnitz stellte bereits Ende November 1943 fest, dass die Umsetzungen „so total, wie sie angeordnet wurden, nicht durchzusetzen waren“.761 In den betroffenen Firmen seien die vor allem von den Rüstungsfirmen benötigten Arbeitskräfte, nämlich Metallfacharbeiter und kräftige Männer und Frauen, nicht mehr vorhanden. Daher habe das Arbeitsamt Chemnitz von Beginn an die Auffassung vertreten, den Unternehmen nach der Auskämmung aller geeigneten Personen die nicht anderweitig einsetzbaren Beschäftigten zu belassen.762 Wie das Rüstungskommando Chemnitz schilderte, kam es mitunter in dieser Hinsicht zu regelrechten Übereinkünften zwischen den umzusetzenden und den aufnehmenden Unternehmen, da auch die Rüs755 Vgl. ebd. 756 Vgl. Kreiswirtschaftsberater Chemnitz an RüKdo Chemnitz am 18.12.1943 betr. Betriebsumsetzungen (ebd.). 757 Ebd. 758 RüKdo Chemnitz an Kreiswirtschaftsberater Chemnitz am 20.12.1943 betr. Betriebsumsetzungen in Bezug auf Schreiben vom 18.12.1943 (ebd.). 759 Vgl. AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 760 Vgl. RüIn IVa am 9.11.1943 betr. Stilllegungen und Umsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 761 AA Chemnitz, Bericht über die Arbeitseinsatzlage im November 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 762 Vgl. ebd.

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tungsunternehmen nicht an neuen Arbeitskräften interessiert waren, die für ihre Zwecke kaum einzusetzen waren. Arbeitsämter und Amtsärzte spielten nach Ansicht des Rüstungskommandos dieses Spiel mit, indem sie bei der Frage der Einsatzfähigkeit der Arbeiter für die Rüstung unverhältnismäßig strenge Maßstäbe anlegten.763 Das Rüstungskommando scheint die einzige zuständige regionale Institution gewesen zu sein, die die vollständige Umsetzung der Belegschaften zumindest anfangs kompromisslos vertrat. Die Wirtschaftskammer Chemnitz dagegen illustrierte in einem wohl wesentlich von Walter Linse verfassten Bericht anhand einiger Beispiele, die sie als „typische Umsetzungstatbestände“764 kennzeichnete, die Gründe für ihre Ablehnung einer vollständigen Umsetzung. Dieser Bericht wirft überdies ein erhellendes Licht auf die Arbeitskräftesituation in der ­Region: So sollte etwa die Textilfirma Becker-Werke AG zur Jäger-Lafetten-Fertigung der Auto Union AG umgesetzt werden. Zum Zeitpunkt des Umsetzungsbescheides produzierte die Firma in ihrem Stammwerk in Chemnitz sowie in Zweigwerken in Jahnsdorf und Thalheim vor allem Handschuhe und Damenstrümpfe für den Export. Weil darüber Devisen zum Einkauf kriegswichtiger Rohstoffe erwirtschaftet wurden, war diese Produktion für die Kriegswirtschaft nicht unwichtig. Zudem waren im Chemnitzer Hauptwerk der Firma 90 Arbeitskräfte in einer textilfremden Fertigung bereits als Unterlieferant für die Auto Union AG tätig. Die Auto Union AG, die ja die Nutznießerin der Umsetzung sein sollte, betonte nun zunächst, dass die Unterlieferungsproduktion unbedingt erhalten werden müsse, daher die dort beschäftigten Arbeitskräfte für eine Umsetzung ausscheiden müssten. Von den übrigen etwa 180 Arbeitskräften im Hauptwerk Chemnitz betrachtete der Vertrauensarzt, der die Umzusetzenden im Beisein des für die Jäger-Lafetten-Fertigung zuständigen Werkmeisters untersuchte, lediglich 27 Beschäftigte als tauglich.765 Das Zweigwerk Jahnsdorf der Becker-Werke AG beschäftigte laut dem Bericht Linses zwölf sowjetische Zwangsarbeiter, die in so schlechter körperlicher Verfassung waren, dass sie bereits von verschiedenen Rüstungsfirmen dem Arbeitsamt wieder zur Verfügung gestellt worden waren, weil sie nicht kräftig genug waren. Die Auto Union erklärte sich bereit, diese zwölf Arbeiter sowie weitere zehn Männer der insgesamt 76 Arbeitskräfte umfassenden Belegschaft zu übernehmen. Ihren Kräften nach wären überdies 20 Frauen zur Arbeit in der Lafetten-Fertigung in der Lage gewesen. Jedoch waren es Familienmütter, die wegen des langen Arbeitsweges von Jahnsdorf nach Chemnitz täglich 14 Stunden unterwegs gewesen wären, was, wie Linse formulierte „selbst bei Anlegung eines allerschärfsten Maßstabes nicht zumutbar ist“.766 Selbst das 763 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg RW 21–11/17, Bl. 29). 764 Betriebsumsetzungs-Aktion, November 1943, o. V. [Wika Chemnitz, Linse] (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 765 Vgl. ebd. 766 Ebd.

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­ üstungskommando plädierte daher statt für die Umsetzung für die VerlageR rung einer Rüstungsfertigung in das Werk Jahnsdorf.767 Auch bei einem weiteren Beispiel, das Linse anführte, sträubten sich sowohl Abgabe- als auch Aufnahmebetrieb gegen eine vollständige Umsetzung der Belegschaft. Die Textilfirma Bachmann & Co. in Chemnitz produzierte Magazinsäcke für die Wehrmacht. Mehr als 40 Arbeitskräfte waren darüber hinaus bereits in einer von der Auto Union übernommenen Rüstungsproduktion tätig. Die Belegschaft des Unternehmens sollte nun zur Maschinenfabrik Germania umgesetzt werden. Auch hier legte die Auto Union erheblichen Wert darauf, dass die Rüstungsfertigung erhalten bliebe, damit sie nicht für die zur Germania versetzten Beschäftigten neue Arbeitskräfte anlernen musste. Während die Umsetzung vorbereitet wurde, wechselten mehrere Mitarbeiter der Firma zur Wehrmacht oder zum Reichsarbeitsdienst. Zwei Frauen wurden schwanger. Vier Arbeitskräfte waren Textilpraktikanten verbündeter Staaten. Sie konnten aufgrund entsprechender zwischenstaatlicher Abkommen nicht in der Rüstungswirtschaft eingesetzt werden. Schließlich blieben 47 Arbeitskräfte für die Umsetzung übrig, von denen allerdings die Hälfte über 60 Jahre alt war. 12 Beschäftigte hatten sogar schon das 70. Lebensjahr überschritten. Sowohl das Arbeitsamt als auch die Germania erklärten, dass sämtliche 47 Arbeitskräfte für einen Einsatz in der Rüstungswirtschaft ungeeignet seien.768 Auf der Basis dieser Beispiele setzte sich Linse in seinem Bericht mit dem Argument des Speerministeriums auseinander, wonach der Aufnahmebetrieb durch die geschlossene Umsetzung daran gehindert werden solle, die „Rosinen aus dem Teige“ zu picken: Sowohl die Auto Union als auch die Maschinenfabrik Germania sahen sich nach der Darstellung Linses außerstande, durch innerbetriebliche Umstrukturierung für alle Beschäftigten einen passenden Arbeitsplatz zu finden, da sie bereits eine Reihe von Personen beschäftigten, die nur eingeschränkt einsetzbar waren. Zum Beispiel, so Linse, beschäftige die Maschinenfabrik Germania bereits acht Arbeiter, bei denen es sich, so die herabsetzende Formulierung, „um Halb-Idioten, Krüppel u. ä. handelt, die gelegentlich zu Aufräumungsarbeiten, Hofkehren usw. eingesetzt sind, im Übrigen aber nutzlos herumstehen, wie der Betriebsführer offen eingeräumt hat“. Die Firma habe diese Arbeitskräfte schon mehrfach dem Arbeitsamt zur Verfügung gestellt, das aber auch keine Verwendungsmöglichkeit für sie sehe. Beide Unternehmen, sowohl die Auto Union als auch die Maschinenfabrik Germania hätten betont, dass sie die Übernahme der für ihre Rüstungsfertigungen ungeeigneten Arbeitskräfte nicht als Förderung ihrer Produktion ansehen könnten und diese zunächst „entschieden“ abgelehnt. Als ihnen gesagt worden sei, dass wegen der Weisungen des Speerministeriums kein Weg an der Übernahme dieser Be-

767 Vgl. ebd.; siehe auch zum bisherigen auch RüKdo Chemnitz am 12.11.1943, Besprechung wegen der Stilllegung der Fa. Becker Werke AG, Chemnitz, und des Zweigwerkes Jahnsdorf (ebd.). 768 Vgl. Betriebsumsetzungs-Aktion, November 1943, o. V. [Wika Chemnitz, Linse] (ebd.).

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schäftigten vorbeiführe, „nahmen sie dies mit viel besagendem Achselzucken zur Kenntnis und gaben eine entsprechende Einverständniserklärung ab“. 769 Nach Ansicht Linses brachte ein solches Vorgehen keinen Gewinn für den Arbeitseinsatz. Der Kriegswirtschaft gehe auf diese Weise sogar Produktionskraft verloren, so seine Argumentation, weil die umgesetzten Arbeitskräfte im Aufnahmebetrieb nicht produktiv eingesetzt werden konnten, im Abgabebetrieb aber Produktionen wie Magazinsäcke für die Wehrmacht oder Handschuhe für den Export stillgelegt wurden. Genauso verheerend waren seiner Meinung nach die Auswirkungen der geschlossenen Umsetzung ganzer Belegschaften auf die öffentliche Meinung und die Stimmung in der Bevölkerung. Weil die Rüstungsbetriebe große Teile der an sie überwiesenen Arbeitskräfte nicht adäquat oder gar nicht einsetzen könne, werde sich die „in der Bevölkerung und in den Wirtschaftskreisen unseres Bezirkes bereits seit langem verbreitete Auffassung, der Kräftebedarf der Rüstungsindustrie sei übersetzt und sie sei gar nicht in der Lage, die unter größten Opfern der Abgabebetriebe freigemachten Arbeitskräfte voll auszulasten und sinnvoll einzusetzen“, weiter verstärken. Linse warnte im Namen der Wirtschaftskammer Chemnitz im November 1943 eindringlich davor, bei einer Fortsetzung der Betriebsumsetzungsaktion streng am Grundsatz der geschlossenen Umsetzung der Belegschaften festzuhalten, und plädierte wie auch die Arbeitsämter für eine konsequente Auskämmung von Unternehmen: „Ein solches Verfahren würde keineswegs eine Verwässerung der Umsetzungsaktion bedeuten, sondern ihre sinnvolle Durchführung“.770 Auch von Parteiseite wurde diese Haltung unterstützt: Im Februar 1944 sandte der Chemnitzer NSDAP-Kreisleiter im Kriege, Hans Schöne, ein entsprechendes Schreiben an Gauleiter Mutschmann, in dem er darauf hinwies, dass lediglich 50 bis 60 Prozent der Mitarbeiter der umzusetzenden Unternehmen für einen Einsatz in einer Rüstungsfertigung geeignet seien. Er begründete dies mit dem hohen Alter der Belegschaften in der Textilindustrie. In kurzer Form fasste er die von der Wirtschaftskammer Chemnitz bereits zwei Monate zuvor geäußerte Kritik zusammen und erklärte: „Da sich die totale Umsetzung auf die allgemeine Stimmung in ganz erheblichem Maße auswirken dürfte, halte ich es für richtig, Ihnen, verehrter Gauleiter, über die Partei Bericht zu erstatten und um Ihre Unterstützung zu bitten.“771 Im weiteren Verlauf der Aktion ist angesichts der skeptischen Haltung nahezu aller örtlichen Akteure eine Entwicklung zu beobachten, die auf eine Umwandlung des Umsetzungsverfahrens in intensive Auskämmungen hinauslief. Ein genauer Blick in die Region und auf die Tätigkeit der Betriebsumsetzungskommission in Chemnitz illustriert, wie das Rüstungsministerium trotz grundsätzlicher Beibehaltung des Grundsatzes der totalen Umsetzung ganzer ­Belegschaften

769 Ebd. 770 Ebd. 771 NSDAP-Kreisleitung Chemnitz, Schöne, an Mutschmann, am 11.2.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.).

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durch die Tätigkeit lokaler und regionaler Akteure in Teilbereichen zu Zugeständnissen veranlasst wurde. Dies erreichte die Kommission durch ein Bündel von Maßnahmen, dass sie auf verschiedenen Wegen, häufig unterstützt von den Behörden auf Gauebene, in Berlin durchzusetzen versuchte. So beschloss sie bereits Ende November 1943 mit Segen der Rüstungsinspektion und des Gauarbeitsamtes, dass das Arbeitsamt Chemnitz nicht auf das Eintreffen des Stilllegungsbescheids aus Berlin warten müsse, sondern bei den Firmen, deren Schließung vorgeschlagen sei, sofort mit Auskämmungen beginnen könne, damit aktuelle Arbeitskräfteanforderungen schnell befriedigt werden könnten.772 Auch im weiteren Verlauf der Aktion bekräftigte die Kommission immer wieder diese Linie,773 sodass beim Eintreffen der formellen Stilllegungsbescheide in den betroffenen Firmen tatsächlich oft kaum noch umsetzungsfähige Arbeitskräfte anzutreffen waren. Außerdem versuchte die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission die Entscheidung darüber, wohin die durch die Stilllegung oder Teilstilllegung frei werdenden Arbeitskräfte versetzt wurden, so weit wie möglich in der eigenen Hand zu behalten. Hintergrund war die Ende November 1943 von NS-Kreis­ amtsleiters Anacker und dem Rüstungskommando geäußerte Überzeugung, dass die Zuweisung von zwei bis drei Kräften die Fertigung in kleinen Betrieben oft wesentlich steigern könne.774 Die Kommission hoffte, über eine selbstständige Verfügung der frei werdenden Arbeitskräfte kurzfristige Engpässe in der Arbeitskräftelenkung decken zu können. So schlug sie Mitte Februar 1944 vor, die bei der Chemnitzer Färberei C. G. Hunger & Sohn frei werdenden 20 Arbeitskräfte nicht wie vorgegeben zur Auto Union AG umzusetzen, sondern umgehend der Zahnradfabrik Paul Uhlich in Chemnitz zuzuführen. Die nachträgliche Billigung dieses Schritts durch Rüstungsinspektion IVa erfolgte eine Woche später.775 Ebenfalls im Februar 1944 beschloss die Kommission, bei weiteren 230 Arbeitskräften vollendete Tatsachen zu schaffen. Da diese dringend zur Abdeckung des Rotzettelbedarfs benötigt wurden, ermächtigte die Kommission das Arbeitsamt, die fehlenden Arbeitskräfte bereits zu versetzen, obwohl eine Genehmigung zur Stilllegung der betroffenen Unternehmen aus dem Speer­ministerium noch nicht vorlag und genauso wenig eine Weisung, wohin die dadurch frei werdenden Arbeitskräfte zu versetzen seien. Die Kommission zog sich bei der Begründung auf die Formulierung zurück, sie nehme an,

772 RüKdo Chemnitz am 2.12.1943, Besprechung über Betriebsumsetzungen und Stilllegungen am 30.11.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 773 Vgl. z. B. RüKdo Chemnitz, Besprechung am 3.2.1944 Betriebsstilllegungen betreffend (ebd.); RüKdo Chemnitz, Besprechung am 9.3.1944 Betriebsstilllegungen betreffend (ebd.). 774 RüKdo Chemnitz am 2.12.1943, Besprechung über Betriebsumsetzungen und Stilllegungen am 30.11.1943 (ebd.). 775 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung am 17.2.1944 Betriebsumsetzungen und -stilllegungen betreffend (ebd.); RüKdo Chemnitz, Besprechung am 14.2.1944 Betriebsumsetzungen und -stilllegungen betreffend (ebd.).

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dass das Produktionsamt des Speerministeriums den Stilllegungsvorschlägen der Wirtschaftsgruppe Textil zustimmen werde.776 Im März 1944 ermöglichte sie den zuständigen Arbeitsämtern generell, alle zur Stilllegung und Teilstilllegung vorgeschlagenen Betriebe sofort auszukämmen und die frei werdenden Arbeitskräfte im Einvernehmen mit dem Rüstungskommando zugunsten des wichtigsten Rüstungsbedarfs zu versetzen, soweit nicht schon ein bestimmter Aufnahmebetrieb vorgesehen sei.777 So wurden in der Region, mit Billigung der Gauebene, vollendete Tatsachen geschaffen, bevor die Berliner Zentrale die Möglichkeit hatte einzugreifen. Überdies traf die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission bereits Ende November 1943 zum ersten Mal die Aussage, dass die Unternehmen nach der Auskämmung mit ihren Restbelegschaften weiterarbeiten dürften, um später gegebenenfalls in Betriebe mit gleicher Fertigung oder in Arbeitsgemeinschaften überführt zu werden.778 Auch hier machte sich die Kommission rasch daran, Tatsachen zu schaffen. Anfang Dezember wurden 16 Unternehmensleitungen eingeladen und vom Beginn der Auskämmungen unterrichtet. Die K ­ ommission empfahl ihnen, ihre Betriebe zusammenzulegen, falls sie nach den Auskämmungen mit den verbliebenen Arbeitskräften nicht mehr rentabel produzieren könnten. Noch am selben Tag setzten sich die Vertreter der Möbelstoffwebereien zusammen, um über eine Zusammenlegung zu beraten.779 Dieses Verfahren wurde in die Wege geleitet, „noch bevor eine Anweisung einer höheren Dienststelle vorlag“,780 wie das Rüstungskommando Chemnitz Ende Januar der Rüstungsinspektion IVa berichtete. Mitte Dezember 1943 stellte das Ministerium Speer in einer Weisung an die Mittelinstanzen fest, dass der geschlossenen Umsetzung „mit den verschiedensten Begründungen nicht Rechnung getragen“781 werde und verbot die Belassung von Arbeitskräften zur Fortführung des Betriebs nach der Ausstellung des Stilllegungsbescheids ohne ausdrückliche Genehmigung.782 Von einer Zusammenlegung von Betrieben war hier noch überhaupt nicht die Rede. So war es kein Wunder, dass es dazu auch keine Durchführungsanordnungen gab, wie die Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie kurz vor Weihnachten feststellen musste. Daher verabredete die Bezirksgruppe mit der 776 RüKdo Chemnitz, Besprechung am 17.2.1944 Betriebsumsetzungen und -stilllegungen betreffend (ebd.). 777 RüKdo Chemnitz, Besprechung am 9.3.1944 Betriebsstilllegungen betreffend (ebd.). 778 Vgl. RüKdo Chemnitz am 2.12.1943, Besprechung über Betriebsumsetzungen und Stilllegungen am 30.11.1943 (ebd.). 779 Vgl. RüKdo Chemnitz, Gruppe Z/IB, am 14.12.1943, Bericht über eine Besprechung mit Betriebsführern am 4.12.1943 (ebd.). 780 RüKdo Chemnitz an RüIn IVa am 29.1.1944 betr. Vorschlag Fachgruppe Teppich- und Möbelstoffweberei zur Konzentration der Chemnitzer Möbelstoffwebereien. Entwurf (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.). 781 RMfRuK an Vorsitzer Rüstungskommissionen u. a. am 15.12.1943 betr. Betriebsumsetzungen. Auszug (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 782 Vgl. ebd.

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Rüstungsinspektion IVa ein Verfahren, wonach die bezirklichen Untergruppen der Wirtschaftsgruppen bei der Zusammenlegung von Betrieben Regie führen sollten, sich aber mit den anderen regionalen Dienststellen, insbesondere den Rüstungskommandos, abzusprechen hatten. Die Mittelinstanz sollte über die Bezirksgruppe der jeweiligen Wirtschaftsgruppe unterrichtet werden.783 Schon kurze Zeit später, im Januar 1944, konnte das Rüstungskommando der Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission berichten, dass Wissmann ungeachtet der erneuten Betonung des Grundsatzes der geschlossenen Umsetzung nunmehr in Ausnahmefällen die Gründung sogenannter Konzentrationsbetriebe gestattete, allerdings nur mit seiner vorherigen ausdrücklichen Genehmigung.784 Die Konzentrationsvorbereitungen in der Chemnitzer Möbelstoffindustrie wurden allerdings zunächst ohne Rückkopplung mit dem Büro Wissmann weitergeführt.785 Erst im März ließ man sich durch das Produktionsamt im Speerministerium die bisherige, durch zahlreiche Querelen belastete Planung genehmigen. Die Fachuntergruppe Teppich- und Möbelstoffweberei, die bereits seit Mitte Januar bei der Zusammenführung mitarbeitete, wurde jetzt auch offiziell mit der Durchführung der Unternehmenszusammenlegung beauftragt.786 Ende April 1944 brachten die Beteiligten nach wiederholten Modifikationen schließlich die Zusammenführung der Firmen durch einen entsprechenden Vertrag zum Abschluss.787 Auch in einer Reihe von weiteren Fällen schlug die Betriebsumsetzungskommission eine Konzentration von Firmen vor.788 Allerdings

783 Vgl. Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textil an Leiter und Geschäftsführer der Bezirksuntergruppen Leipzig, Chemnitz, Ostsachsen, Vogtland am 23.12.1943 betr. weitere Betriebsumsetzungen (Wissmann-Aktion) (ebd.). 784 Aktennotiz, o. V., o. D., betr. Sitzung der Betriebsumsetzungskommission am 6.1.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 785 Vgl. RüKdo Chemnitz an RüIn IVa am 29.1.1944 betr. Vorschlag Fachgruppe Teppichund Möbelstoffweberei zur Konzentration der Chemnitzer Möbelstoffwebereien. Entwurf (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.); Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie an Hillig am 9.2.1944 betr. Umsetzungen in der Teppich- und Möbelstoffindustrie in Chemnitz (ebd.); sowie Dr. Zeumer, Bericht über die Konzentration der Chemnitzer Teppich- und Möbelstoffindustrie in der Zeit vom 31.1.–5.2.1944 (ebd.). 786 P. an RVK Sachsen betr. Zusammenfassung der Chemnitzer Rumpfbetriebe der Teppich- und Möbelstoffindustrie, o. D. (ebd.); vgl. auch RüKdo Chemnitz, Besprechung am 31.3.1944 Betriebsumsetzungen und -stilllegungen betreffend (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 787 Besprechung der Konzentrationsmaßnahmen in der Chemnitzer Teppich- und Möbelstoffindustrie vom 25.4.1944, o. V., o. D. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.). 788 Vgl. u. a. den Beschluss zur Fa. Albin Keller (Auerbach i. E.) am 10.2.1944; RüKdo Chemnitz, Besprechung am 10.2.1944 Betriebsumsetzungen bzw. -stilllegungen betreffend (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.); siehe auch den Beschluss zu Otto Görner (Chemnitz) am 25.5.1944; RüKdo Chemnitz, Besprechung am 25.5.1944 Betriebsumsetzungen und -stilllegungen betreffend (ebd.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 58).

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ist teilweise zu bezweifeln, ob sie bis zum Kriegsende zustande kam. Daher ist davon auszugehen, dass zumindest in einem Teil der Fälle die Rumpfbetriebe längere Zeit einigermaßen unbehelligt weiterproduzieren konnten. Schließlich stellte die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission trotz der grundsätzlichen Ablehnung von Rumpfbetrieben durch das Büro Wissmann789 über die Rüstungsinspektion IVa immer wieder offizielle Anträge auf die Genehmigung von Auskämmungen statt Stilllegungen.790 Bei der Strumpffabrik Max Pfau aus Burkhardtsdorf zog sich das Verfahren über mehrere Monate hin, bis der Generalbeauftragte die Genehmigung zur Weiterführung der Kinderstrumpffertigung mit den nicht für die Rüstung geeigneten Kräften gab. Gleichzeitig ordnete er jedoch die Abgabe von 125 der noch 147 Beschäftigten an. Dies bedeutete nach Ansicht des Unternehmens die Einstellung der Strumpffabrikation, zumal die Firma zum Zeitpunkt, als sie über diese Entscheidung unterrichtet wurde, bereits weitere 18 Beschäftigte durch Einberufungen, Krankheiten und Schwangerschaften verloren hatte, ihr mithin noch vier Beschäftigte in der Strumpffertigung verblieben.791 Auch musste die Kommission in ihrer Sitzung am 3. August 1944 den gegen ihren Willen erfolgten Umsetzungsbescheid der Doppel-Handschuhfabrik GmbH aus Chemnitz zur Kenntnis nehmen. Als letztes Aufbegehren gab sie wenigstens noch zu Protokoll, dass ihr die Verlagerung der wichtigen Schwedenexport-Aufträge der Firma nach wie vor „unmöglich“ erschien.792 Doch die Kommission verzeichnete auch Erfolge, obwohl nach Aussage Walter Linses „das Widerstreben der Mittelinstanz und des Generalbevollmächtigten [sic] für Betriebsumsetzungen gegen solche Regelungen unverkennbar war und auch gelegentlich ausdrücklich betont worden ist“.793 So war die Betriebsumsetzungskommission erfolgreich, als sie im April 1944 beispielsweise

789 Vgl. Dr. Ahlburg, Hauptgeschäftsführer der Fachuntergruppe Teppich- und Möbelstoffweberei der Wirtschaftsgruppe Textil, am 14.1.1944 betr. Sitzung am 13./14.1.1944 in der Bezirksuntergruppe Textil über die Bildung von Kriegsgemeinschaften (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 9, unpag.). 790 Vgl. z. B. RüKdo Chemnitz an RüIn IVa am 12.2.1944 betr. Stilllegung der Fa. August Müller, Wirkwarenfabrik, Chemnitz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 8, unpag.); Wika Chemnitz an Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Bekleidungsindustrie am 19.2.1944 betr. Betriebsstilllegung (Firma August Müller, Chemnitz) (ebd.). 791 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung am 13.4.1944 Betriebsumsetzungen bzw. -stilllegungen betreffend (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.); ­RMfRuK an RVK Sachsen und RüIn IVa am 1.6.1944, Umsetzungsvorbescheid Max Pfau (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 8, unpag.); LWA Sachsen an Fa. Max Pfau am 15.8.1944 betr. Teilstilllegung (ebd.); Max Pfau an RüKdo Chemnitz am 5.8.1944 (ebd.). 792 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung am 3.8.1944 Betriebsumsetzungen bzw. -stilllegungen betreffend (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.); RüKdo Chemnitz, Besprechung am 8.6.1944 Betriebsumsetzungen bzw. -stilllegungen betreffend (ebd.). 793 Wika Chemnitz, Linse, am 9.6.1944, Aktennotiz betr. erste Umsetzungsaktion des ­RMfRuK (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.).

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der Stilllegung der rund 500 Arbeitskräfte beschäftigenden Weberei Ernst Seifert GmbH in Glauchau widersprach unter Verweis darauf, dass er wohl der bedeutendste Exporteur für Stoffe nach Schweden sei. Sie rühmte die überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit des Unternehmens sowie dessen soziale Vorbildlichkeit – übrigens auch hier wie in allen vorgenannten Beispielen eine materielle Prüfung des Stilllegungsvorschlags durch regionale Behörden, wie sie den ursprünglichen Intentionen des Speerministeriums nach hätte vermieden werden sollen. Die Kommission ordnete aber immerhin die Auskämmung der zivilen Fertigung der Firma zugunsten der Infanteriemunitionsfertigung an.794 Nachdem das Arbeitsamt Glauchau den Abzug von 100 Arbeitskräften für möglich hielt, ordnete das Speerministerium die Versetzung von 50 Mitarbeitern in die Munitionsproduktion an. Weitere 60 sollten innerbetrieblich umgesetzt werden: Die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG nahm in den Räumen der Weberei eine Fertigung auf, für die Ernst Seifert Räume und Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen hatte.795 Wie an den obigen Beispielen bereits deutlich wurde, stand die Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission in steten Austausch mit den Behörden und Institutionen der Gauebene, die die Sitzungsprotokolle erhielten, Anfragen der Kommission beantworteten oder nach Berlin weiterleiteten und immer wieder mit Weisungen in das Geschehen eingriffen. Insbesondere galt dies für die Rüstungsinspektion, die die Stilllegungsvorschläge auf der Mittelinstanz zu bündeln hatte und die Verbindung zum Büro Wissmann darstellte. Darüber hinaus sind Initiativen der Gauwirtschaftskammer sowie des Rüstungsobmannes und der Rüstungskommission IVa überliefert. Der Chef der Rüstungskommission IVa, Hans Führer, mischte sich beispielsweise in den Abzug von Arbeitskräften aus einer Chemnitzer Tüllfabrik ein, weil die Firma die Möglichkeit bekam, eine aus Posen verlagerte Munitionsfertigung aufzunehmen.796 Linses oben zitierte Aussage über das Widerstreben der Mittelebene gegen die Umwandlung von Stilllegungen in Auskämmungen trifft wohl nur für die Anfangsphase der Wissmann-Aktion und für einen kleinen Teil der Akteure der Mittelebene zu: Noch im Oktober 1943 betonte zwar die sächsische Rüstungskommission den Grundsatz der geschlossenen Umsetzung gesamter Belegschaf-

794 Vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechung am 13.4.1944 Betriebsumsetzungen bzw. -still­ legungen betreffend (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 795 Vgl. RMfRuK an RVK Sachsen und RüIn IVa am 16.8.1944 betr. Umsetzungsvorbescheid Ernst Seifert GmbH (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 8, unpag.); Wika Chemnitz an GWK Sachsen am 12.7.1944, Liste der vom Produktionsamt zur Umsetzung freigegebenen Firmen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 796 Vgl. die Stellungnahmen der Kommission zur David Richter AG, Chemnitz, vor allem am 17.2.1944, 24.2.1944, 2.3.1944, 17.3.1944 und 31.3.1944; vgl. RüKdo Chemnitz, Besprechungen am 24.2.1944, 2.3.1944, 17.3.1944 und 31.3.1944 Betriebsumsetzungen bzw. -stilllegungen betreffend (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.).

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ten: „Auch das älteste Gefolgschaftsmitglied ist noch irgendwo einzusetzen.“797 Dagegen unterstützte die Gauwirtschaftskammer Sachsen bereits im Dezember 1943 das Anliegen der Chemnitzer Betriebsumsetzungskommission ausdrücklich. Ihr Hauptgeschäftsführer Dr. Bellmann erklärte, es sei unsinnig, nur aus Prinzip an einer geschlossenen Umsetzung festzuhalten.798 Die Rüstungsinspektion IVa vermerkte in ihrem Kriegstagebuch für das erste Quartal 1944, dass auch die Versuche, Konzentrationsbetriebe zu gründen, nicht hätten verhindern können, dass sich viele Arbeitskräfte aus dem Arbeitsleben zurückzogen. Daher befürworte die Rüstungsinspektion die Aufrechterhaltung von Restbetrieben, wenn diese eine Rüstungsfertigung übernahmen. Das habe zusätzlich den Vorteil, dass die Beschäftigten bei Stockungen des Materialnachschubs für die Rüstungsfertigung in ihrer alten Stammfertigung weiterarbeiten könnten.799 Das Landeswirtschaftsamt gab im Juli 1944 eine der wiederholten Weisungen des Rüstungsministeriums zur Vermeidung von „Rumpfbetrieben“ mit der Bitte weiter, sie „sinngemäß“ anzuwenden, da der Leiter des Produktionsamtes im Rüstungsministerium der Meinung sei, dass mancher Rumpfbetrieb in der Lage sei, „noch eine bedeutende Fertigung zu erzielen und somit unbedingt als erhaltungswürdig anzusehen ist“.800 Die Chemnitzer Kommission versuchte also, unterstützt durch die Behörden auf Gauebene, durch eine Kombination von Widersprüchen und eigenmächtigem Handeln unter Ausnutzung von Weisungslücken, verbunden mit der nachträglichen Einholung von Genehmigungen, die regionalen Interessen geltend zu machen, die sich nach Meinung der meisten in der Kommission vertretenen Institutionen mit den praktischen Bedürfnissen der Rüstungswirtschaft deckten. Anders als in Baden, wo es offenbar gelang, die regionalen Parteiführer und das Landeswirtschaftsamt weitgehend auszuschalten,801 spielten in Chemnitz bei Stilllegungsentscheidungen die untere und die mittlere Verwaltungsebene eine gewichtige Rolle. Auch wenn sich Praktiker vor Ort im Einzelfall nicht immer durchsetzen konnten, so gelang es ihnen doch, das Stilllegungsverfahren im Großen und Ganzen faktisch in eine Auskämmungsaktion zu verwandeln, freilich in eine besonders arbeitsaufwendige: „Auf Grund der jetzigen Umsetzungspraxis kann gesagt werden“, so Walter Linse Anfang Juni 1944, „dass jede

797 Rüstungskommission IVa am 29.10.1943, Niederschrift der Rüstungskommissionssitzung mit den Bezirksbeauftragten am 27.10.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 41 f., hier 41). 798 Vgl. Wika Chemnitz, Linse, am 28.12.1943 betr. Besprechung des Rüstungsobmannes Führer mit Bezirksbeauftragten am 22.12.1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.). 799 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 29). 800 LWA an GWK Sachsen u. a. am 3.7.1944, Rundanordnung Nr. 188/44 betr. Vermeidung von Rumpfbetrieben bei Betriebsumsetzungen. Mit Anhang: RMfRuK am 26.5.1944 betr. Vermeidung von Rumpfbetrieben bei Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 801 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 261.

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angeordnete Stilllegung regelmäßig darauf hinausläuft, dass ein Betrieb seine umsatzfähigen Arbeitskräfte an die Rüstungsindustrie verliert und mit den nicht umsatzfähigen Kräften unter Belassung unbedingt erforderlicher Eckkräfte seine Fertigung eingeschränkt weiterführt. Damit wird aber praktisch keine Stilllegung, sondern nur eine Auskämmung durchgeführt.“802 Harsch kritisierte Linse im Juni 1944, dass diese Auskämmung im Vergleich zur offiziellen Auskämmung außerordentlich zeitraubend sei und die beteiligten Dienststellen sehr viel stärker belasten würde, „ohne dass der arbeitseinsatzmäßige Nutzeffekt auch nur im geringsten ein größerer ist“. Das Verfahren sei überdies durch seine Langwierigkeit nicht geeignet, den kurzfristigen Bedürfnissen der Rüstungswirtschaft gerecht zu werden. Alle an der Chemnitzer Umsetzungskommission beteiligten Dienststellen vertraten laut Linse die Auffassung, „dass die Aktion im Grunde eine recht unglückliche Arbeitseinsatzmaßnahme darstellt“. Der Grundgedanke, dass durch die geschlossene Umsetzung der Belegschaften Betriebs- und Arbeitszusammenhänge und damit deren Leistungsfähigkeit erhalten bleiben sollte, hatte nach Meinung Linses „fürs Erste etwas Bestechendes an sich“. Die Praktiker des Arbeitseinsatzes aber hätten schnell erkennen können, so Linse, dass es sich bei der geschlossenen Umsetzung um „eine von grüner Theorie beherrschte und damit praktisch verfehlte Planung“ handele.803 Ein geschlossener Einsatz der gesamten Belegschaft im Aufnahmebetrieb habe wegen der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit der Beschäftigten im Chemnitzer Wirtschaftskammerbezirk bislang nicht ein einziges Mal verwirklicht werden können. Stets seien die Arbeitskräfte im Aufnahmeunternehmen an unterschiedlichen Stellen im Arbeitsprozess eingesetzt worden. Linse wies auch noch einmal darauf hin, dass sich große Teile der meist älteren und nur eingeschränkt arbeitsfähigen Textilbeschäftigten bei einer Umsetzung aus dem Arbeitsleben zurückzögen und der Rüstungswirtschaft verloren gingen.804 In der Großregion Chemnitz-Zwickau, die dem Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz entsprach, wurden bis Ende Juni 1944, also in einem Dreivierteljahr, knapp 400 Betriebe mit rund 46 400 Arbeitskräften überprüft. Im Schnitt besaßen diese Betriebe etwa 115 Arbeitskräfte. Die Stilllegungsvorschläge hatten sich also in etwa an den von Speer vorgegebenen Betriebsgrößenuntergrenzen orientiert. Wenn der von Wissmann angegebene Reichsschnitt von 130 Beschäftigten pro umgesetzter Betrieb805 schon bei den Vorschlägen806 verfehlt wurde, so lag dies auch an der klein- und mittelbetrieblichen Struktur Sachsens, in der ein mehr als 50 Beschäftigte umfassendes Unternehmen bereits als Großbetrieb galt. 802 Wika Chemnitz, Linse, am 9.6.1944, Aktennotiz betr. erste Umsetzungsaktion des ­RMfRuK (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 803 Ebd. 804 Vgl. ebd. 805 Vgl. Peter, Rüstungspolitik, S. 262. 806 Über die Betriebsgrößen der schließlich umgesetzten Betriebe liegen für die Region Chemnitz keine Zahlen vor.

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280 Betriebe hatten im Großraum Chemnitz-Zwickau bis Ende Juni 1944 Stilllegungs- oder Teilstilllegungsbescheide erhalten. Knapp 9 000 Arbeitskräfte waren bereits in die Rüstung versetzt worden, pro Betrieb im Schnitt also 32 Arbeitskräfte. Im Vergleich zur AZS-Aktion, wo 1943 innerhalb von drei Monaten 17 000 Arbeitskräfte ausgekämmt worden waren, war dieses Ergebnis eher mager, auch wenn zu berücksichtigen ist, dass die Betriebsumsetzungsaktion häufig die bereits im Rahmen der AZS-Aktion ausgekämmten Unternehmen erneut ins Visier nahm. Im sächsischen Vergleich dagegen schnitt die Region Chemnitz-Zwickau dagegen recht gut ab. Sie stellte Ende Juni 1944 rund 45 Prozent und damit fast die Hälfte aller in Sachsen in die Rüstung versetzten 19 300 Arbeitskräfte. Sachsen wiederum lag mit seinen Umsetzungszahlen nach Aussage der Rüstungsinspektion IVa an der Spitze aller Rüstungsinspektionsbereiche: Es stellte mehr als 16 Prozent der im Reich nach Angaben der Reichsgruppe Industrie versetzten 110 000 bis 120 000 Beschäftigten. Der Generalbeauftragte für die Betriebs­ umsetzungen habe denn auch, wie die Wirtschaftskammer Sachsen mitteilte, wiederholt bestätigt, dass im Gau Sachsen sehr gute Arbeit geleistet worden sei.807 Dies spricht dafür, dass das Chemnitzer Verfahren noch vergleichsweise effizient war. Vor allem zeigt es, dass die örtlichen Verantwortlichen der Arbeitskräftelenkung mit ihrer Rücksicht auf regionale Interessen und Gegebenheiten nur scheinbar die konsequente Durchführung der Aktion behinderten. In Wirklichkeit sorgten sie gerade durch ihren flexiblen Umgang mit den erhaltenen Weisungen und ihre Anpassung an die Realitäten vor Ort für ein überdurchschnittliches Ergebnis. Der Preis des Chemnitzer Vorgehens war allerdings, dass „viele kleine Teilkapazitäten der verschiedenartigsten Fertigungen entstanden“, so das Rüstungskommando Chemnitz, „die selten wirtschaftlich arbeiten und eine zusätzliche Transportbelastung bringen“.808 Auch die Aufnahme von Rüstungsteilfertigungen durch Konsumgüterfirmen galt nämlich als Betriebsumsetzung.809 Dabei blieben die Arbeitskräfte an Ort und Stelle, galten aber nunmehr als Beschäftigte des Rüstungsunternehmens, für das sie fertigten. Die Gauwirtschaftskammer Sachsen bewertete diese sogenannte innerbetriebliche Umsetzung als positiv, weil sich hier der Grundgedanke der vollständigen Versetzung der Belegschaft in eine gemeinsame Rüstungsfertigung am ehesten verwirklichen ließe.810 Auch

807 Vgl. GWK Sachsen an RWK am 8.8.1944 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 808 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 52). 809 Vgl. Rüstungsobmann IVa an Bezirksbeauftragte der Ausschüsse und Ringe im Gau Sachsen u. a. am 2.12.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.); siehe auch Peter, Rüstungspolitik, S. 262. 810 Vgl. GWK Sachsen an RWK am 8.8.1944 betr. Betriebsumsetzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.).

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wenn es dem Bestreben Speers zur rationellen Fertigungen in Großbetrieben zuwiderlief, schien die Dezentralisierung der Rüstungsfertigung angesichts der zunehmenden Luftkriegsgefahr in den Jahren 1943/44 das gegebene Mittel zu ihrem Schutz zu sein, und das vermeintlich luftsichere Erzgebirge war hierfür ein besonders attraktiver Standort. Auch dies könnte die guten Zahlen des Rüstungsbereiches Chemnitz mit bedingt haben. Aus der Schilderung des Verlaufs der Wissmann-Aktion im Raum Chemnitz lassen sich folgende Erkenntnisse gewinnen. Erstens ist auch hier, wie bei anderen Initiativen der Arbeitskräftelenkung zu verfolgen, wie Ad-hoc-Aktionen auf der Reichsebene auf der untersten Verwaltungsebene in einen kontinuierlichen Arbeitszusammenhang eingebettet wurden. Zweitens erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der die Praktiker vor Ort zentrale Berliner Weisungen so modifizierten, dass mitunter das Gegenteil von dem geschah, was das Speerministerium ursprünglich beabsichtigt hatte, etwa wenn die Akteure der mittleren und unteren Verwaltungsebene sich koordinierten statt zu konkurrieren oder wenn sie Betriebe einfach nur auskämmten statt ihre Belegschaft wie befohlen komplett in ein Rüstungsunternehmen zu versetzen. Drittens springt die zentrale Rolle der Mittelebene für dieses Vorgehen ins Auge, die zum Teil Weisungen selbst kreativ auslegte, aber auch Eigenmächtigkeiten der Chemnitzer absicherte und dem regionalen Handeln die notwendige Rückendeckung verschaffte. Viertens ist die schrittweise Zurücknahme der ursprünglichen Intentionen durch den Betriebsumsetzungsbeauftragten Wissmann zu notieren. Inwieweit dabei Speers Krankheit in den ersten Monaten 1944 und sein damit verbundener Machtverlust811 eine Rolle spielten, kann auf der regionalen Ebene nicht geklärt werden. Sicher war auch von Bedeutung, dass es Speer immer weniger gelang, die französischen Konsumgüterbetriebe, die er als Ersatz für die stillgelegten Unternehmen im Reichsgebiet vorgesehen hatte, vor den Arbeitskräfteabzügen Sauckels zu schützen.812 Dazu beigetragen haben dürfte auf jeden Fall aber die Ablehnungsfront aller regionalen Akteure gegenüber den geschlossenen Betriebsumsetzungen, die sich im Verlauf der Aktion entwickelte und über die Verwaltung und die Partei hinaus auch die als Nutznießer vorgesehenen Unternehmen einschloss. All dies ließe sich nun als Beleg für regionalen und lokalen Egoismus und eine in den Regionen verschuldete Dysfunktionalität der Kriegswirtschaft lesen. Wie die oben zitierten Zahlen zeigen, war jedoch das Vorgehen der Chemnitzer im Vergleich mit anderen Regionen sogar effizienter. Es war überdies der klein- und mittelbetrieblichen Struktur des Chemnitzer Raums und der aktuellen Kriegslage angemessen. Die Eigenmächtigkeiten der Region stabilisierten die Kriegswirtschaft und trugen ihren Teil dazu bei, dass sie bis zum bitteren Ende durchhielt. 811 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 157–168; Müller, Speer, S. 341. 812 Vgl. Kroener, „Menschenbewirtschaftung, S. 896–909; Janssen, Ministerium, S. 126– 132.

Stilllegungen und Auskämmungen

8.4

349

Die Entwicklung des Arbeitskräftebedarfs bis zum Sommer 1944 und der Facharbeitermangel

Die AZS-Aktion hatte den Arbeitskräftemangel in der Rüstungswirtschaft der Region zunächst spürbar gelindert. Das Arbeitsamt Chemnitz bilanzierte Ende September 1943, die Auskämmungen hätten den Gesamtbedarf an Arbeitskräften um 30 Prozent, im Rüstungssektor sogar um 40 Prozent gesenkt.813 Auch das Arbeitsamt Annaberg betonte im Oktober 1943, der Bedarf sei durch die Aktion wesentlich herabgedrückt worden.814 Die dringend benötigten Metallfacharbeiter für die Rüstung konnte die Aktion freilich auch nicht herbeizaubern. Sie waren in den Konsumgüterfertigungen nur noch in Ausnahmefällen zu finden.815 Für diese Tatsache spricht auch, dass der Rotzettelbedarf, der den dringendsten Bedarf an Arbeitskräften ausmachte und sich häufig auf gelernte oder angelernte Kräfte bezog, im Rüstungsbereich Chemnitz zwischen Juli und Oktober 1943 von 2 500 auf über 6 000 Arbeitskräfte stieg. Im Winter 1943/44 stieg der Fachkräftemangel weiter an, insbesondere durch zwei Faktoren: Wie bereits beschrieben, rissen die Einberufungen im Winter 1943/44 besonders große Lücken. Zudem mussten wegen der sich dauernd ändernden Kriegslage immer wieder Arbeiter und insbesondere Facharbeiter für bestimmte Fertigungen zusätzlich zu den AZS- und Betriebsumsetzungskontingenten freigemacht werden, die nicht selten in Unternehmen außerhalb des Rüstungsbereichs versetzt wurden. Ende 1943 sollten z. B. aus einer Textilmaschinenfertigung 4 Meister, 10 Elektriker und 20 Mechaniker für ein Flakscheinwerferprogramm zu einer Leipziger Firma abgeordnet werden.816 Im ersten Vierteljahr 1944 hatte der Rüstungsbereich Facharbeiter für die Erla-­ Werke und die HASAG in Leipzig zu stellen, trotz des wütenden Protests der zuständigen Arbeitsämter und des örtlichen Vertreters des Wehrkreisbeauftragten, Kreisamtsleiter Anacker.817 Aber auch innerhalb des Rüstungsbereichs wurden viele Facharbeiter versetzt. Als beispielsweise die Firma Vomag aus Plauen im Herbst 1943 eine Panzerfertigung aufnahm, benötigte sie zunächst 130 Arbeitskräfte, zum größten Teil gelernt oder wenigstens angelernt. Die meisten dieser Kräfte sollten aus Stilllegungen im Plauener Raum gewonnen werden. Trotzdem hatten 14 Rüstungsbetriebe aus Chemnitz, Siegmar-Schönau und Glauchau zusätzlich je ein bis zwei Facharbeiter zur Vomag abzugeben, die wiederum ihrerseits zwischen 813 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 814 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 815 Vgl. LAA Sachsen, Bericht über den Arbeitseinsatz im Oktober 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 7, unpag.). 816 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/17, Bl. 30). 817 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 57).

350

„Industrieller Luftschutzkeller“

1939 und 1943 mindestens 128 Facharbeiter aufgrund von Dienstverpflichtungen in andere Firmen hatte gehen lassen müssen.818 Bis Ende Februar 1944 stieg der Bedarf der Vomag auf rund 360 Arbeitskräfte, darunter 158 Facharbeiter. Insgesamt wurden zur Deckung des Bedarfs rund 70 Unternehmen herangezogen, um die einzelnen Fertigungen, insbesondere von Waffen, Munition und Werkzeugmaschinen möglichst wenig zu belasten. Der Papierkrieg nahm bei dieser Aktion ungeheure Ausmaße an: „Fast um jeden Mann musste ein persönlich aufreibender und unschöner Kampf geführt werden“,819 so beschrieb das Rüstungskommando Chemnitz die Situation. Viele der Rüstungsunternehmen nutzten exzessiv ihre Berliner Verbindungen, um sich gegen den Abzug ihrer Fachkräfte zu wehren: Wegen der Abgabe eines Schlossers und eines Drehers durch die Sächsische Textilmaschinenfabrik, vorm. Richard Hartmann, wechselten die Rüstungsdienststellen mit verschiedenen Sonderausschüssen, dem zuständigen Hauptausschuss und dem Oberkommando des Heeres sieben Telegramme und sieben Schreiben. Ein Schreiben ging als Durchschlag an 13 verschiedene Stellen.820 Zwar legten die Arbeitsämter ein besonderes Augenmerk auf die Anlernung Ungelernter in Anlernwerkstätten. Dazu kamen Schulungen am Arbeitsplatz, die die Unternehmen selbst vornahmen. Das Arbeitsamt Chemnitz meldete beispielsweise im März 1943, dass das Soll von 800 Anlernplätzen in seinem Bezirk erreicht sei.821 Auch suchte Speer über die Einsetzung von Arbeitseinsatzingenieuren, die Anlernung Ungelernter zu forcieren sowie gleichzeitig die Produktion zu rationalisieren und damit den Facharbeiterbedarf zu senken.822 Doch konnten solche Maßnahmen das Facharbeiterproblem lediglich in Ansätzen lösen. So merkte das Arbeitsamt Chemnitz 1943 an, das es „kaum echten Facharbeiterersatz“ gebe, „der sich auch einmal mit schwierigen Problemen seines Berufs befassen“ könne.823 Daher beschloss die Rüstungsinspektion IVa nach Abschluss der AZS eine Auskämmung von Facharbeitern in Metallbetrieben, vor allem in Maschinenfabriken, in die Wege zu leiten, um die unterschiedlichen Facharbeiteranteile der Rüstungsunternehmen einander anzugleichen.824 Nach Aussagen des Rüstungs-

818 Vgl. RüKdo Chemnitz am 13.1.1944, Besprechung im AA Plauen (ebd., Bl. 66 f.). 819 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (ebd., Bl. 28 f.). 820 Vgl. ebd. 821 Vgl. z. B. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 und März 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Februar 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 822 Vgl. zu den Arbeitseinsatzingenieuren Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 893 f. 823 AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im April 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 824 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.–31.12.1943 (BAMA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 27); Vorsitzer der Rüstungskommission IVa an RMfRuK am 14.1.1944, Bericht über die Tätigkeit der Rüstungskommission IVa vom 15.12.1943– 14.1.1944 (ebd., Bl. 56).

Stilllegungen und Auskämmungen

351

kommandos Chemnitz jedoch war diese Aktion in der Untersuchungsregion ein völliger Fehlschlag. Bis Ende Februar hatte im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz kein einziger Facharbeiter ausgekämmt werden können,825 was bei den oben geschilderten Auseinandersetzungen um einzelne Facharbeiter kaum verwundert. Der Gegensatz zwischen den Misserfolgen in der Facharbeiterrekrutierung und den Erfolgen in der AZS ist nicht nur darin begründet, dass die Unternehmen auf die Facharbeiter besonders angewiesen und daher bereit waren, sich für deren Verbleib bei der Firma besonders einzusetzen. Der Gegensatz verweist auch auf die schwache Stellung der von der AZS betroffenen kleineren Unternehmen der Konsumgüterfertigung, die anders als größere in der Rüstungsfertigung aktive Metall- und Maschinenbauunternehmen826 keinen Zugang zu Berliner Behörden und Organisationen besaßen. Gestützt wird diese These dadurch, dass die in der Eigenregie der Arbeitsämter weitergeführte Fortsetzung der Auskämmungen in der Konsumgüterindustrie zum Teil noch überraschende Erfolge erzielte: Das Arbeitsamt Lugau widmete sich in den ersten Monaten des Jahres 1944 vor allem den Strumpfunternehmen, die seinen Bezirk prägten. Sein Amtsleiter ging persönlich in die einzelnen Betriebe, um dort mit den Beschäftigten zu sprechen und dann in einer Einzelberatung die zur Versetzung geeigneten Arbeitskräfte festzustellen. Dieses war seiner Meinung nach nützlicher als Erörterungen im Unterprüfungsausschuss des Arbeitsamtes: „Eine amtliche Vorladung zum Arbeitsamt erkältet heute stets.“827 Ende Januar hatte der Amtsleiter auf diese Weise 24 Strumpfbetriebe mit 1 500 Beschäftigten überprüfen und immerhin 450 Arbeitskräfte für die einheimische Rüstungsindustrie ausfindig machen können. Dabei empfand er die Firmen als „Altersheime“, „wo man nur den Hut ziehen muss vor dem Fleiß und der Ausdauer der Großväter und Großmütter, die rund 60–80 Prozent der Gefolgschaft heute ausmachen“. Allerdings machte der Amtsleiter Reserven bei den Heimarbeiterinnen aus. „Sie lassen neuerdings die Zügel sehr hängen, wahrscheinlich, weil nach ihrer Ansicht Strümpfe nicht kriegswichtig sind.“ Eine Überprüfung auf ihre Eignung zum Halbtagseinsatz in Betrieben vor Ort sei aber größtenteils negativ verlaufen.828 Trotz des Erfolgs der AZS und der nachfolgenden Auskämmungen nahm der Arbeitskräftebedarf der Region Chemnitz weiter zu. Dabei verknüpften sich Auftragserweiterungen für die Rüstungsfirmen mit einem seit Sommer 1943 spürbaren Ansteigen der Verlagerungen in die vermeintlich luftkriegssichere

825 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 33). 826 Vgl. auch Schneider, Unternehmensstrategien, insbes. S. 491, der herausarbeitet, dass für die von ihm behandelten Chemnitzer Maschinenbaufirmen die Verbindungen nach Berlin wesentlich wichtiger waren als die Einbindung in regionale Netzwerke. 827 AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im Januar 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.). 828 Vgl. ebd.

352

„Industrieller Luftschutzkeller“

Region sowie dem Bedarf für den Wiederaufbau der Leipziger Industrie nach dem ersten großen Luftangriff auf Sachsen Ende 1943. So war es kein Wunder, dass der Arbeitskräftebedarf der Region schnell wieder anschwoll. Dabei hofften die Verantwortlichen zunächst stets auf neue Ausländerzuweisungen. Zwar trafen nach wie vor Zwangsarbeiter in der Region und in Sachsen ein. Ihre Anzahl erreichte jedoch bei Weitem nicht die Fabelzahlen, die Sauckel versprochen hatte. Allein aus Frankreich hatte er im Sommer 1943 für das ganze Reich insgesamt 500 000 Arbeiter rekrutieren wollen. Aus den besetzten Gebieten insgesamt sollten im Jahr 1944 vier Millionen Menschen ins Reich verschleppt werden.829 Angesichts dieser Zahlen blieben die tatsächlichen Zuflüsse in die Region Chemnitz und nach Sachsen weit hinter den Erwartungen der örtlichen Verantwortlichen für die Arbeitskräftelenkung zurück: Lediglich um rund 6 000 stieg die Zahl der ausländischen Zivilarbeiter in der Region Chemnitz im ersten Dreivierteljahr 1944. Stereotyp klagten daher das Rüstungskommando Chemnitz und die Rüstungsinspektion IVa darüber, dass die Zahl der neu eintreffenden Ausländer nicht ausreiche.830 Ende November 1943 bestand in Sachsen ein Bedarf an 71 000 Arbeitskräften, der bis zum Mai 1944 gar auf 94 000 kletterte. Allein die vordringliche Rüstungsfertigung bedurfte in Sachsen im November 1943 42 000 neuer Beschäftigter, im Mai 1944 sogar über 56 000. Lediglich bei der vordringlichen Rüstungsfertigung gelang es, jeden Monat 15 000 bis 20 000 Arbeitskräfte zu vermitteln bzw. den Bedarf durch die Streichung von beantragten Stellen zu senken.831 Für das Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz liegen erst ab April 1944 Zahlen vor (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Arbeitskräftebedarf im Rüstungsbereich Chemnitz im Frühjahr 1944832 Monat

beantragende Betriebe

beantragte Arbeitskräfte

anerkannter Arbeitskräftebedarf

April 1944

709

16 916

13 387

Mai 1944

725

18 872

15 039

Juni 1944

834

19 044

14 419

829 Vgl. Herbert, Fremdarbeiter, S. 252–261. 830 Vgl. z. B. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.10.– 31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 44). 831 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.10.–31.12.1943 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/17, Bl. 21); RüIn IVa: Kriegstagebuch vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 20); RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/19, Bl. 22). 832 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 58).

Stilllegungen und Auskämmungen

353

Das Rüstungskommando Chemnitz erklärte im Frühjahr 1944, die Sicherung des Arbeitskräftebedarfs sei mehr und mehr die Hauptfrage, hinter der alles andere zurücktrete. Die Bedarfsmeldungen hätten angesichts der Höhe des Bedarfs mehr statistischen als praktischen Wert. Sie weckten bei den Unternehmen lediglich unbegründete Hoffnungen und verleiteten sie zu Fehlplanungen.833 Besonders betroffen waren davon kleine Unternehmen der Zulieferindustrie, deren Bedeutung für die Rüstungsindustrie vom Regime erst spät erkannt wurde.834 Nicht selten, so das Rüstungskommando Chemnitz, hänge dort die Fertigung von ein bis zwei Kräften ab. Doch sehe sich das Rüstungskommando außerstande zu helfen, weil alle verfügbaren Arbeitskräfte an die großen Rüstungsfirmen gingen. Insbesondere das Arbeitsamt Chemnitz war im Frühjahr 1944 nicht mehr in der Lage, mehr als die Hälfte aller Rotzettelanforderungen abzudecken, weil es keine Fertigungen mehr gab, die gedrosselt werden konnten.835 Gleichzeitig hielten die Anforderungen von Facharbeitern nach außerhalb an, obwohl diese den westsächsischen Rüstungsbetrieben selbst in erheblichem Umfang fehlten. So ordnete der Hauptausschuss Stahl- und Eisenbau an, dass 73 Facharbeiter aus fünf Unternehmen des Rüstungsbereichs Chemnitz zum U-Boot-Bau nach Danzig und Lübeck versetzt werden sollten. Nach Ansicht des Rüstungskommandos hätte die Ausführung dieser Anweisung die fünf westsächsischen Betriebe, die selbst zum großen Teil mit Programmen höchster Dringlichkeit beschäftigt waren, zum Erliegen gebracht. Was aus dem Einspruch des Rüstungskommandos geworden ist, ist nicht überliefert. Anträge des Rüstungskommandos auf Zuweisung von Facharbeitern aus anderen Regionen zu westsächsischen Betrieben blieben in der Regel unbeantwortet.836 Die Erfolge der Alliierten bei der Bombardierung deutscher Hydrierwerke und das Erlahmen der deutschen Luftabwehr im Frühjahr 1944 bedeutete für die Region Chemnitz, dass sie sofort zusätzlich zu den Facharbeitern für unterschiedlichste Fertigungen auch ungelernte Kräfte für die Reparatur der Treibstofffertigungsanlagen in andere Reichsgebiete zu entsenden hatte. Im Mai 1944 wurden beispielsweise 170 ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene zum Hydrierwerk Brüx abgeordnet.837 Die Schere zwischen dem Arbeitskräftebedarf und den Möglichkeiten, ihn zu decken, öffnete sich im Frühjahr 1944 weiter denn je. Trotz des Arbeitskräftemangels erbrachte die Rüstungsindustrie in der R ­ egion auch noch im ersten Halbjahr 1944 erstaunliche Leistungen. Zwar beobachtete das Rüstungskommando Chemnitz in den ersten Monaten des Jahres 1944 eine

833 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (ebd., Bl. 47). 834 Vgl. Janssen, Ministerium Speer, S. 289. 835 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 35). 836 Vgl. ebd. 837 Vgl. ebd., Bl. 50.

354

„Industrieller Luftschutzkeller“

Verstärkung der Tendenz, einzelne herausgehobene Rüstungsprogramme auf Kosten anderer zu bevorzugen. Im Januar und Februar erhielten in Westsachsen vor allem die von Schweinfurt ins Vogtland verlagerte Kugellagerindustrie, der Sturmgeschütz- und Panzerjägerbau der Vomag in Plauen sowie alle Fertigungen im Zusammenhang mit der als Wunderwaffe gepriesenen V2-Rakete Vorrang.838 Im Frühjahr kamen das Jägerprogramm, die Fertigung von Infanteriemunition und Infanteriemunitionsmaschinen sowie Teile des U-Boot-Programms dazu. Den Mangel an Arbeitskräften suchte man mit einer enormen Erhöhung der Arbeitszeit auf bis zu 72 Stunden wöchentlich auszugleichen.839 Im zweiten Quartal kam es zusätzlich zum Arbeitskräftemangel auch zu Engpässen an Zulieferteilen und Material, unter anderem weil die Lieferfirmen Produktionsausfälle wegen Bombenschäden zu verzeichnen hatten. Zudem mussten die Firmen in der Region immer mehr Fertigungen kurzfristig aus anderen Reichsteilen übernehmen, wo die Alliierten Produktionseinrichtungen völlig zerstört hatten. Im Rahmen der Möglichkeiten verlief jedoch die Rüstungsfertigung, wie das Rüstungskommando Chemnitz bilanzierte, im Großen und Ganzen planmäßig,840 ein Resümee, dass zu der Tatsache passt, dass der deutsche Rüstungsausstoß, ungeachtet der Kriegslage und aller damit verbundenen wirtschaftlichen Probleme, im ersten Halbjahr 1944 seinen Höhepunkt erreichte.841

9.

Kriegsbedingter Strukturwandel und soziale Folgen

Was bedeuteten die Einberufungen, die Versetzungen von Arbeitskräften und der Einsatz von ausländischen Zwangsarbeitern für die wirtschaftliche und sozia­ le Struktur der Region und für die Belegschaften in den Unternehmen? Dieser Frage wird im Folgenden anhand zweier Arbeitsamtsbezirke der Region nachgegangen, deren Zuschnitt durch den Krieg hindurch unverändert blieb und deren Zahlen deshalb diachronisch verglichen werden können. Dabei handelt es sich um den industriellen Kernbezirk Chemnitz und den eher ländlichen, im Erzgebirge liegenden Bezirk Annaberg. Ergänzt werden die Ergebnisse durch den Blick in einige Unternehmen.

838 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 13, 28 f.). Vgl. zur V2-Produktion, in den Quellen „A4-Programm“ genannt, Tooze, Ökonomie, S. 712–715. 839 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 13. 840 Vgl. ebd., Bl. 31–33, 44–47. 841 Vgl. Wagenführ, Industrie, S. 178,180; Janssen, Ministerium, S. 231 f. Auch wenn Wagenführs Zahlen jüngst einer Prüfung unterzogen, Manipulationen Speers aufgedeckt wurden und das Speer’sche „Rüstungswunder“ in der Forschung insgesamt relativiert wurde, bleibt die Aussage zur Rüstungsspitze im ersten Halbjahr 1944 im Grundsatz gültig; vgl. Tooze, Ökonomie, S. 731–735; siehe auch ders., Room.

Strukturwandel und soziale Folgen

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Zunächst lässt sich durch den Blick auf die beiden Bezirke die Größenordnung des Verlustes einheimischer männlicher Arbeitnehmer der Region während des Krieges genauer eingrenzen. So sank deren Zahl im Bezirk Annaberg zwischen August 1939 und Juni 1944 von nahezu 30 000 auf 16 000 und im Bezirk Chemnitz von rund 118 000 auf etwa 67 000. In beiden Arbeitsamtsbezirken hatten also per saldo etwa 45 Prozent aller männlichen Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze verlassen, um entweder zum Militär oder zu einem Unternehmen außerhalb des Arbeitsamtsbezirks zu gehen. Der Einsatz ausländischer Zwangsarbeiter hatte diese Verluste nur zu einem kleinen Teil auffangen können. Die zivilen Fremdarbeiter eingerechnet, lag die Zahl der männlichen Arbeitnehmer in Annaberg im Sommer 1944 bei 63 Prozent des Kriegsbeginns. Bei Chemnitz waren es wegen seiner viel größeren Bedeutung für die Waffen, Geräte- und Munitionsproduktion immerhin 70 Prozent.842 Ein Vergleich mit Gesamtsachsen ist für Sommer 1944 problematisch, weil eine geordnete statistische Erfassung mindestens der ausländischen Arbeitskräfte nach dem Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943 immer noch nicht möglich war.843 Bei den Frauen entsprach die Zahl der einheimischen weiblichen Arbeitnehmerinnen in beiden Arbeitsamtsbezirken im Sommer 1944 in etwa der Höhe bei Kriegsbeginn.844 Durch die Zwangsrekrutierung ausländischer Arbeiterinnen lag die Anzahl weiblicher Kräfte insgesamt jedoch höher. So kamen in Annaberg zu den rund 19 000 einheimischen Arbeitnehmerinnen rund 1 750 Ausländerinnen dazu. In Chemnitz erhöhten die Ausländerinnen die Zahl der weiblichen Arbeitnehmerinnen von rund 75 000 auf rund 80 000.845 Insgesamt war die Arbeitswelt also weiblicher geworden. Die Erhöhung der Anzahl weiblicher Arbeitskräfte spielte dafür jedoch eine deutlich geringere Rolle als das Verschwinden der männlichen Kollegen. Wie sah es mit Branchenverschiebungen aus? Einer groben Schätzung zufolge dürfte sich gegenüber dem Jahr des Kriegsbeginns die Zahl der Beschäftigten in der Textilindustrie in der Region bis November 1943 in etwa halbiert haben.846 842 Vgl. Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des AA Chemnitz bzw. im Bezirk des AA Annaberg am 31.8.1939 (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.); LAA Sachsen, beschäftigte Arbeiter und Angestellte am 30.6.1944 (ebd.). Eigene Berechnung der Gesamtzahl der Arbeitskräfte nach Rubriken In- und Ausländer. Die Zahl für 1939 nennt nicht die Beschäftigten, sondern die Gesamtzahl der Arbeitsbuchinhaber. Da im Sommer 1939 Vollbeschäftigung herrschte, dürfte dies für das Gesamtbild unerheblich sein. 843 Vgl. die ausländischen und Protektoratsangehörigen Arbeiter und Angestellten im Großdeutschen Reich nach Arbeitsamtsbezirken. In: Der Arbeitseinsatz in Sachsen, (1944) 9, S. 26–29, insbes. Anm. 4, S. 26. 844 Vgl. Kap. V. 7. 845 Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des AA Chemnitz bzw. im Bezirk des AA Annaberg am 30.6.1944 (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.). 846 Eigene Schätzung auf der Grundlage von Bezirksgruppe Sachsen der Wirtschaftsgruppe Textilindustrie an GWK Sachsen am 2.11.1943 betr. Kräfteabzug in der Textilindus­ trie (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 8); sowie IHK Chemnitz, Linse, am 15.9.1942, Die wirtschaftliche Struktur des Chemnitzer Kammerbezirks (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Stilllegungen 16, unpag.).

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„Industrieller Luftschutzkeller“

Da statistische Daten zu der Verteilung der Erwerbstätigen auf die Wirtschaftszweige nicht vorliegen, werden im Folgenden Berufsgruppen gegenübergestellt. Beispielhaft für die Verschiebung zwischen Konsumgüter- und Rüstungsindustrie wird die Entwicklung der Anzahl der Textilarbeiter und der Metallarbeiter betrachtet. Im Arbeitsamtsbezirk Annaberg bildeten die Textilarbeiter- und -arbeiterinnen 1939 mit rund 16 000 Personen die größte Berufsgruppe. 1944 registrierte das Arbeitsamt nur noch rund 9 500 Textilarbeiter. Mindestens 40 Prozent waren also verschwunden. Dafür war die Zahl der Metallarbeiter und -arbeiterinnen zwischen 1939 und 1944 von 5 900 auf 9 000, also um mehr als 50 Prozent gestiegen. Beide Berufsgruppen waren 1944 nahezu gleich stark und lagen von ihrer Größe her mit weitem Abstand vor allen anderen Berufsgruppen.847 Noch augenfälliger war die Entwicklung in Chemnitz. Zwar wuchs dort die bereits 1939 starke Gruppe der Metallarbeiter bis 1944 zwar lediglich um 12 Prozent auf rund 47 000 Personen an, dafür schrumpfte die Zahl der Textilarbeiter um über 60 Prozent auf etwa 11 000.848 Grund für das geringere Anwachsen der Metallarbeiter war augenscheinlich ein unterschiedliches Vorgehen des Anna­ berger und des Chemnitzer Arbeitsamtes bei der Einstufung der Berufstätigen als Hilfsarbeiter. Während in Chemnitz die Zahl der Hilfsarbeiter zwischen 1939 und 1944 nahezu gleich blieb, erschien sie im Annaberger Bezirk auf ein Zehntel der ursprünglichen Zahl reduziert. Zudem wies Annaberg für 1944 lediglich etwa 120 Metallhilfsarbeiter aus, Chemnitz dagegen knapp 15 000.849 Offenbar wurden in die Metallindustrie versetzte Hilfsarbeiter in Annaberg zum größten Teil wie gelernte Metallarbeiter gezählt, während sie in Chemnitz als Metallhilfsarbeiter in den Statistiken auftauchen. Die Anzahl der Textilarbeiter schrumpfte möglicherweise noch stärker, als es die Berufsstatistiken ausweisen, da unklar ist, ob Beschäftigte von Textilunternehmen, die eine metallgebundene Rüstungsfertigung aufgenommen hatten, von den Arbeitsämtern weiterhin als Textilarbeiter oder als Hilfs- bzw. Metallarbeiter gezählt wurden. Ein ähnliches Bild zeichnet das Arbeitsamt Lugau für die in ihrem Bezirk beheimatete Strumpfindustrie. Allein zwischen Anfang 1942 bis Mitte 1944 hatte

847 Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des Arbeitsamtes Annaberg am 30.4.1939 nach Berufsgruppen (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt, 2/3, unpag.); Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des Arbeitsamtes Annaberg am 30.6.1944 nach Berufsgruppen (ebd.); ausgewertete Rubriken jeweils „5. „Metallarbeiter“ bzw. „5. Metallwerker und zugehörige Berufe“, „9. Textilarbeiter“ bzw. „9. Textilwerker“, „23. Hilfsarbeiter aller Art“. 848 Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz am 30.4.1939 nach Berufsgruppen (SächsHStAD, Arbeitsämter, Landesarbeitsamt 2/3, unpag.); Arbeitsbuchinhaber im Bezirk des Arbeitsamtes Chemnitz am 30.6.1944 nach Berufsgruppen (ebd.); ausgewertete Rubriken jeweils „5. Metallarbeiter und zugehörige Berufe“ bzw. „5. Metallwerker und zugehörige Berufe“, „9. Textilarbeiter“ bzw. „9. Textilwerker“. 849 Arbeitsbuchinhaber im Bezirk der Arbeitsämter Annaberg bzw. Chemnitz am 30.4.1939 nach Berufsgruppen (ebd.); Arbeitsbuchinhaber im Bezirk der Arbeitsämter Annaberg bzw. Chemnitz am 30.6.1944 nach Berufsgruppen (ebd.); ausgewertete Kategorien jeweils „23. Hilfsarbeiter aller Art“, für 1944 auch „23a 5 Metallhilfsarbeiter“.

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diese rund die Hälfte ihrer Arbeiter und Angestellten verloren. Von den verbliebenen Kräften waren laut Darstellung des Arbeitsamtes bei den Frauen 90 Prozent, bei den Männern 75 Prozent „Großväter und Großmütter einschließlich der Invaliden oder sonst Behinderten“.850 Auch wenn die Zahlen wegen der oben genannten Unschärfen der Erfassung nur Tendenzen anzeigen können, wird deutlich, dass die Textilindustrie der Region innerhalb weniger Jahre in einem bis 1939 unvorstellbaren Ausmaß zurückgedrängt wurde. Die weiter oben immer wieder zitierten Äußerungen zur Struktur der Belegschaften der Textilunternehmen belegen zusätzlich, dass spätestens seit der Kriegsmitte vor allem ältere und alte, ortsgebundene weibliche und kränkliche Arbeiterinnen und Arbeiter dort tätig waren. Zwar schreckten Ämter und Institutionen wie geschildert vor als endgültig empfundenen Maßnahmen wie Betriebsschließungen immer wieder zurück. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass die regionalen Verantwortlichen aus Regionalegoismus die Maßnahmen der Kriegswirtschaft torpediert hätten. Der hohe Grad der Fluktuation, der Beschäftigten während der Dauer des Krieges zugemutet wurde, lässt sich am Beispiel der Auto Union AG illustrieren. Dieses Unternehmen wuchs, wahrscheinlich ohne Berücksichtigung der Hauptverwaltung, der Filialen und der Tochterfirmen,851 zwischen dem Kriegsausbruch und dem Sommer 1943 von 19 000 auf 24 000 Beschäftigte. Neu eingestellt wurden in den Werken der Auto Union AG in dieser Zeit aber nicht nur 5 000, sondern 25 000 Beschäftigte, davon 7 000 ausländische Arbeitskräfte. Statistisch gesehen war also die Belegschaft der Auto Union AG in den ersten vier Kriegsjahren einmal völlig ausgetauscht worden. Da jedoch die eine Hälfte der Beschäftigten die gesamte Zeit über bei der Auto Union AG geblieben waren, war die andere Hälfte wahrscheinlich mehrfach ausgewechselt worden.852 Vom Kriegsbeginn bis zum Oktober 1944 musste die Auto Union AG fast 9 000 Beschäftigte zur Wehrmacht abgeben, mehr als 1 500 wechselten im Rahmen von Dienstverpflichtungen zu anderen Unternehmen.853 Eine ähnlich hohe Fluktuation lässt sich in der Wanderer-Werke AG beobachten. Für die Zeit von Anfang 1943 bis zum Frühjahr 1944 überlieferte Zusammenstellungen über Zu- und Abgänge zeigen, dass das Unternehmen in den meisten Monaten Zugänge im unteren dreistelligen Bereich verzeichnete, die meisten im Februar/März 1943 mit über 400. Diese Spitze dürfte der Meldepflichtaktion geschuldet sein, waren unter den Zugängen doch allein fast 250 deutsche Frauen. In jedem Monat verließen aber auch zwischen 60 und 350 850 AA Lugau an die Wirtschaftskammer Chemnitz vom 27.6.1944, Zitat S. 1 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 8, unpag.). 851 Das legt jedenfalls ein Vergleich der hier genannten Zahlen mit den Zahlen bei Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 128 f., 244 f., nahe. 852 Vgl. Besprechung beim RüKdo Chemnitz am 10.8.1943 betr. Kräftebedarf der Auto Union AG (BA-MA Freiburg, RW 21–11/16, S. 59–61). 853 Vgl. Übersicht über die Einberufenen, Dienstverpflichteten und Gefallenen. Stand Oktober 1944 (StAC, Auto Union AG, 275, Bl. 41).

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„Industrieller Luftschutzkeller“

­ eschäftigte das Unternehmen wieder. Zudem wurden in der Regel mehr als B 200 Mitarbeiter monatlich betriebsintern versetzt.854 Bei einer Belegschaftszahl, die um die 7 000 pendelte, mit leicht steigender Tendenz, verließen zwischen Dezember 1942 und Dezember 1943 rund 2 000 Beschäftigte das Unternehmen. Gleichzeitig fingen etwa 2 150 neu an. Mithin wurde mehr als ein Viertel der Belegschaft in einem Jahr ausgetauscht.855 Bis Ende 1943 hatte die Wanderer-Werke AG mindestens 3 000 Mitarbeiter zur Wehrmacht, zum Reichsarbeitsdienst oder per Dienstverpflichtung zu anderen Unternehmen abgegeben,856 wahrscheinlich sogar mehr, weil anzunehmen ist, dass die Gefallenen nicht mehr als Beurlaubte in den Beschäftigtenstatistiken auftauchen.857 Für die meist kleineren Textilunternehmen liegen solche Unterlagen zur Mitarbeiterfluktuation kaum vor. Es ist aber anzunehmen, dass sie weniger Zugänge zu verzeichnen hatten. Im Gegenteil, sie dürften über die Jahre hinweg vor allem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verloren haben. So musste etwa die Strumpffabrik C. W. Schletter, die in Thalheim, Dorfchemnitz, Chemnitz und Eisenhammer Zweigwerke unterhielt und noch 1944 im wesentlichen Strümpfe für den Export nach Schweden fertigte, ihre Belegschaft zwischen Sommer 1939 und Dezember 1943 von 953 auf 404 Arbeitskräfte reduzieren. Allein 249 Arbeitskräfte hatte die Wehrmacht eingezogen.858 Für die Betroffenen bedeuteten die Versetzungen mitunter erhebliche soziale Härten. Das Strumpfunternehmen A. Robert Wieland in Auerbach im Erzgebirge hatte Anfang 1944 mittels einer sogenannten innerbetrieblichen Umsetzung eine metallgebundene Rüstungsfertigung für die Firma AGO Flugzeugwerke GmbH Oschersleben aufnehmen müssen. Die Beschäftigten arbeiteten weiterhin im selben Betrieb, produzierten nach einer Umschulung aber Teile von Flugzeugrümpfen statt Strümpfe. Die neue Tätigkeit hatte nach sechs Wochen eine Neubemessung ihrer Löhne nach dem Metalltarif statt nach dem Textiltarif zur Folge, die gemäß der Anordnung des sächsischen Treuhänders der Arbeit und Präsidenten des Gauarbeitsamtes erfolgte.859 Plötzlich verdienten die Frauen 854 Vgl. Wanderer-Werke AG, Gefolgschaftsbüro L, Aufstellung über Anfänge, Abgänge und Ummeldungen (Versetzungen) vom 16.11.–15.12.1942, 16.12.1942–15.1.1943, 16.1.–15.2.1943, 16.2.–15.3.1943, 16.3.–15.4.1943, 16.4.–15.5.1943, 16.5.1943– 15.6.1943, 16.6.–15.7.1943, 16.7.–15.8.1943, 16.8.–15.9.1943, 16.10.–15.11.1943 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 582 unpag.); dass. vom 16.9.–15.10.1943, 16.11.–15.12.1943, 16.1.–15.2.1944, 16.3.–15.4.1944, 16.4.–15.5.1944 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 446, unpag.). 855 Eigene Berechnungen nach ebd. 856 Wanderer-Werke AG, Gefolgschaftsbüro L, Gefolgschaftsstärke vom 15.12.1943 (StAC, Wanderer-Werke AG, Abgabe rot, 446, unpag.). 857 Zur allgemeinen Entwicklung der Belegschaftszahlen der Wanderer-Werke AG während des Krieges vgl. Schneider, Unternehmensstrategien, S. 240–244. 858 Gefolgschaftsstärke der Werke Thalheim, Eisenhammer, Dorfchemnitz und Chemnitz insgesamt, o. D. [1.12.1943] (StAC, Fa. C. W. Schletter und Nachf., 102, unpag.). 859 Vgl. GAA Sachsen, RTA Sachsen am 6.10.1943, vorläufige Anordnung zur Regelung der Arbeitsbedingungen von Gefolgschaftsmitgliedern verlagerter Betriebe der Eisen-, Metall- und elektrotechnischen Industrie in Sachsen (StAC, Fa. A. Robert Wieland [ARWA], 1630, unpag.).

Strukturwandel und soziale Folgen

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und Männer 45 bis 48 Prozent weniger als vorher, was die Belegschaft in heftige Aufregung versetzte: „Dieses Absinken hat den Betriebsfrieden gewaltig beeindruckt“, führte die Firmenleitung gegenüber dem Arbeitsamt Lugau aus. Die Verdienste würden in vielen Fällen nicht einmal dafür ausreichen, das zu kaufen, was den Mitarbeitern „auf Marken für sich und ihre Familie zukommt“.860 Die Firma bat darum, den Verdienst wenigstens auf 80 Prozent der bisherigen Höhe aufstocken zu dürfen.861 Der Mitarbeiter des Arbeitsamtes blieb allerdings ungerührt. Er verwies auf einen Parallelfall und erklärte, er habe das schon so kommen sehen. Das sei in Dresden so beschlossen worden, und man habe das dort „schon reichlich erörtert“.862 Dass dies kein Einzelfall war, bestätigt die Berichterstattung der Arbeitsämter: Auch die im Rahmen der AZS versetzten Beschäftigten in der Region Glauchau erhielten bis zu 50 Prozent weniger Lohn: „Mit Sonderunterstützung kann in vielen Fällen kein Ausgleich geschaffen werden, da vielfach die Voraussetzungen fehlen“,863 so das Arbeitsamt Glauchau. Weibliche Angestellte litten darunter, dass sie, wie im Bezirk des Arbeitsamtes Annaberg, von attraktiven Bürostellen in die gewerbliche Produktion versetzt wurden.864 Für ausländische Zivilarbeiter schließlich bedeutete jeder Arbeitsplatzwechsel eine Reise in neue Ungewissheit, was Arbeits- und Lebensbedingungen wie Ernährung und Unterbringung anging, wie etwa für die 57 Arbeiter, die aus dem Lugauer Bezirk zur Unterstützung der Auto Union nach Chemnitz versetzt wurden.865

860 A. Robert Wieland (ARWA) am 21.2.1944 betr. Erklärung zu anliegender Lohnaufstellung. Durchschlag (StAC, Fa. A. Robert Wieland [ARWA], 1630, unpag.). 861 Vgl. ebd. 862 A. Robert Wieland (ARWA) am 24.2.1944, telefonische Rücksprache mit T. vom AA Lugau wegen des eingetretenen Lohnausfalles infolge der innerbetrieblichen Umsetzung auf dem Rumpfbau (ebd.). 863 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.). 864 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.). 865 Vgl. AA Chemnitz, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1943 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.).

VI. Allmähliche Auflösung und Kriegsende (Sommer 1944 bis Frühjahr 1945) 1.

Die militärische und kriegswirtschaftliche Situation im Sommer 1944

Der Sommer 1944 markierte den Beginn der finalen Krise des Deutschen Reiches. Inzwischen hatte Speer die Macht seines nunmehr Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion genannten Ministeriums weiter ausgebaut. Nach schweren Angriffen britisch-amerikanischer Flugzeuge auf die mitteldeutschen Luftwaffen- und Kugellagerfabriken im Februar 1944 verleibte er seinem Machtbereich mittels der Einrichtung des Jägerstabes auch die Luftrüstung ein. Damit unterlagen praktisch die gesamte Rüstungsindustrie und große Teile der Konsumgüterindustrie seinen Weisungen.1 Die militärischen Ereignisse überstürzten sich. Am 6. Juni 1944 eröffneten die Alliierten mit der Landung in der Normandie die lange erwartete zweite Front. Ab Juni 1944 verlor das Deutsche Reich Schritt für Schritt die Verfügungsgewalt über Frankreich, das nach Speers ursprünglichen Plänen für die Betriebsumsetzungsaktion ein wichtiger Produktionsort für zivile Güter sein sollte. Im September erreichten die alliierten Truppen die Westgrenze des Deutschen Reiches. Am 21. Oktober 1944 besetzten sie mit Aachen die erste deutsche Großstadt. An der Ostfront besiegelte der Sieg der sowjetischen Truppen bei Kursk im Juli 1944 endgültig die Kriegswende.2 Die Rückzüge im Sommer 1944 waren außerordentlich verlustreich. Zwischen ein und zwei Millionen Soldaten starben, wurden verwundet oder gerieten in alliierte Gefangenschaft.3 In Deutschland selbst gehörte der Bombenkrieg nunmehr vielerorts zum Alltag, nachdem die Alliierten mit ihren wiederholten Angriffen auf die deutsche Treibstoffproduktion die deutsche Luftwaffe weitgehend lahmgelegt hatten.4 Wie bereits geschildert gewann Sachsen als Wirtschaftsregion in dieser Situation immer größere Bedeutung. Insbesondere der Südwesten des Landes galt auch 1944 noch als Luftschutzkeller des Reiches. Der Zuzug immer neuer Firmen, die wegen des Luftkrieges Ausweichquartiere suchten, bestimmte die regionale Kriegswirtschaft. Im Herbst 1944 belegten im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz mehr als 100 auswärtige Firmen über eine Million Quadratmeter Fertigungs- und Lagerfläche.5 1 Vgl. Eichholtz, Geschichte III, S. 16–24, 38 f. 2 Vgl. Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 79 f., 148–157; Overy, Wurzeln, S. 130. 3 Vgl. Eichholtz, Geschichte III, S. 4. Eine genauere Übersicht über die Verluste bei Andreas Kunz, Wehrmacht und Niederlage. Die bewaffnete Macht in der Endphase der nationalsozialistischen Herrschaft 1944 und 1945, 2. Auflage München 2007, S. 151–154. 4 Vgl. Overy, S. 164 f.; Blank, Kriegsalltag, S. 440 f. 5 Vgl. Kap. V.1.

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Allmähliche Auflösung und Kriegsende

Doch während das Jahr 1943 in der Region noch von einer kriegswirtschaftlichen Normalität geprägt worden war, die in vielen anderen Reichsgebieten bereits durch die Bombardements der Alliierten zerstört war, so änderte sich das im Laufe des Jahres 1944 allmählich. Mehrmals wöchentliche Luftalarme strapazierten die Nerven der Menschen und sorgten immer wieder für Produktionsunterbrechungen.6 Im Mai 1944 waren in der Region den Aufzeichnungen des Rüstungskommandos zufolge erstmals mehrere Tote durch den Luftkrieg zu verzeichnen. Spreng- und Brandbomben hatten die Außenbezirke von Chemnitz und das Flugzeugreparaturwerk G. Basser in Zwickau getroffen sowie eine Reihe von Flugzeugen beschädigt, die dort repariert werden sollten.7 Der Luftkrieg hatte Südwestsachsen erreicht. Nach einer Atempause im Sommer entstanden im Herbst 1944 die ersten großen Verluste an Industriekapazitäten in Chemnitz. Ein Angriff am 11. September traf vor allem die Betriebsgelände der Wanderer-Werke AG und der Auto Union AG in Siegmar schwer. Insgesamt 80 Tote und über 60 Verletzte waren zu beklagen, dazu Totalverluste von bis zu einem Drittel der Werkzeugmaschinen und starke Beschädigungen bei einem weiteren Drittel. Brandbomben richteten erhebliche Schäden an den Gebäuden an. Zwei Fertigungshallen wurden vollständig zerstört. Die Belegschaften standen unter Schock. Die durch den Angriff beschäftigungslosen Facharbeiter wurden in andere Betriebe versetzt.8 Das Gelände der Wanderer-Werke war bis zum Kriegsende nicht mehr nutzbar.9 Die Stimmung in der Bevölkerung sank. Ende September 1944 berichtete das Rüstungskommando Chemnitz, die Haltung der Menschen werde durch die Kriegsereignisse ungünstig beeinflusst. Neben den militärischen Erfolgen der Alliierten in Westeuropa seien es vor allem die häufigen Feindeinflüge, die den Menschen zu schaffen machten, vor allem, da „eine wirkungsvolle Abwehr nicht immer erkennbar ist“10 – eine angesichts der erdrückenden Lufthoheit der Alliierten euphemistische Formulierung. Ein Nachlassen der Arbeitsbereitschaft der Mitarbeiter der Rüstungsfirmen konnte das Rüstungskommando allerdings nicht erkennen.11

 6 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/18, Bl. 4–6, 9 f., 12–14, 26 f., 37 f., 40 f.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 6, 8, 24–30, 38, 42, 52); RüKdo Chemnitz Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 7, 11, 13 f., 21, 24, 31, 39, 42–49, 56 f.); Johannes Meier, Luft-, Alarmmeldungen, S. 119–130.  7 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/19, Bl. 24 f.)  8 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–1.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 46–48, 56 f., 61 f.).  9 Vgl. Uhlmann, Chemnitzer Industrie, S. 28. 10 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 57). 11 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (ebd., Bl. 20, 57).

Konflikte auf der Mittelebene

2.

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Konflikte auf der Mittelebene

Für den Sommer 1944 sind tiefgreifende Konflikte über die Organisation der Rüstungslenkung auf der Gauebene überliefert. Nachdem Speer im Sommer 1944 von einer langen Krankheit in sein Amt zurückkehrte, die ihn fast seine Vormachtstellung in der Rüstungswirtschaft gekostet hatte,12 versuchte er zunächst mit Sauckel zu einer Übereinkunft über die Arbeitskräftelenkung zu kommen: Im Juni 1944 erhielten die Vorsitzenden der Rüstungskommissionen weitreichende Vollmachten in der Arbeitskräftelenkung, indem sie nun auch Sauckels Gauarbeitsämtern direkte Weisungen erteilen konnten.13 Der Kommissionsvorsitzende Führer erklärte daraufhin, diese Vollmacht nur in Sonderfällen nutzen zu wollen, installierte aber gleichwohl einen Arbeitseinsatzstab, dem Vertreter des Gauarbeitsamtes, der Gauwirtschaftskammer und der Rüstungsinspektion angehörten.14 In der allerdings sehr lückenhaften Überlieferung tritt dieser Arbeitseinsatzstab jedoch nicht in Erscheinung. Wichtiger und deutlich bedrohlicher für das Kräftegleichgewicht und die Zusammenarbeit der Mittelinstanz waren Tendenzen Führers, seiner Geschäftsstelle bei der Gauwirtschaftskammer die Rüstungsinspektion einverleiben zu wollen. Der Hintergrund dafür ist teilweise auf der Reichsebene zu suchen. Eine grundsätzliche Reform der Mittelinstanz war zwar mit dem sogenannten Bandwurmerlass vom 29. Oktober 194315 zunächst auf die lange Bank geschoben worden. Dennoch scheint es im Berliner Ministerium weitere Diskussionen über den Fortbestand der Rüstungsinspektionen gegeben zu haben. Dafür spricht, dass auf einer Dienstbesprechung der Rüstungskommissionsvorsitzenden im Frühjahr 1944 noch einmal ausdrücklich festgehalten wurde, dass Rüstungsinspektionen und Rüstungskommanden ihren festen Platz in der Rüstungswirtschaft behalten sollten.16 Im Sommer 1944 kursierten im Ministerium Speer Ideen zu einer Rationalisierung der Bürokratie auf der Reichsebene, die Einsparungen allerdings nur bei anderen Ministerien und Ämtern vorsahen und letzten Endes auf eine weitere Konzentration der Macht bei Speer hinausliefen.17 Im Gefolge des Attentats vom 20. Juli 1944 und durch die Aktivitäten Goebbels als „Reichsbevollmächtigter für den totalen Kriegseinsatz“18 geriet Speer unter Beschuss. Er verteidig-

12 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 157–174. 13 Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 40 f.; Müller, Speer, S. 311. 14 Vgl. RWK vom 12.8.44 betr. Zusammenarbeit im Arbeitseinsatz für die Rüstung mit Abschrift des Erlasses des GBA vom 30.6.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 2, unpag.); RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/19, Bl. 25). 15 Vgl. Kap. V. 2. 2. 16 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 10). 17 Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 68. 18 Vgl. Kap. VI. 3.

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Allmähliche Auflösung und Kriegsende

te auf einer ganzen Reihe von Tagungen, unter anderem mit den Vorsitzenden der Rüstungskommissionen, sein System der Rüstungsproduktion, indem er ausführlich die Leistungen der Rüstungsindustrie darlegte und sie auf die industrielle Selbstverwaltung zurückführte. Sein Loblied auf die Industrie geriet dabei immer stärker zur Kritik am militärischen Zweig seines Imperiums, den Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos.19 Am 7. August „diktierte“ der Vorsitzende der sächsischen Rüstungskommission, Führer, unter Berufung auf eine Speer’sche Weisung zur Personaleinsparung einen Vorschlag zur Vereinfachung der Mittelinstanz,20 den er an das Zentralamt des Rüstungsministeriums einreichen wollte. Demnach sollte die Zahl der mittelinstanzlichen Behörden auf drei verringert werden. Lediglich der Wehrkreisbeauftragte, die Gauwirtschaftskammer und das Gauarbeitsamt sollten bestehen bleiben. Zum Vorsitzenden der Rüstungskommission hatte Führer den Präsidenten der Gauwirtschaftskammer ausersehen. Dieser Vorschlag war ein klarer Affront gegen Rüstungsinspektion und Landeswirtschaftsamt. Er dürfte seinen Hintergrund auch in der von Speer so lautstark geübten Kritik an der Arbeit seiner militärischen Dienststellen haben, mit der er sie quasi zum Abschuss freigegeben hatte. Der Rüstungsinspekteur schäumte, meldete sich als einziger zu Wort und „erklärte sich mit diesem Vorschlag in keiner Weise einverstanden, weil er ihn auf mangelnde Kenntnis der Tätigkeit der Rü[stungs]dienststellen und ihre[r] Bedeutung in der Arbeit der Mittelinstanz zurückführt“.21 Weigand wies unter anderem darauf hin, wie wichtig die Detailkenntnisse der Rüstungsinspektion und der Rüstungskommandos für die Rüstungswirtschaft seien und betonte ihre „Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit gegenüber interessierten Stellen der Wirtschaft“.22 Führer wiederum konterte, „dass sich seine Einstellung, dass der Offizier Soldat sein soll und nicht Wirtschaftler, immer mehr verstärkt hat“.23 Dies war auf beiden Seiten eine klassische Argumentation aus der Zeit, als noch Thomas das Wehrwirtschaftsamt führte. Der implizite Vorwurf, Soldaten verstünden nichts von Wirtschaft, war allerdings in Bezug auf Sachsen zumindest allzu pauschal. Von den Offizieren der Rüstungsdienststellen waren nach Aussage der Rüstungsinspektion im Frühjahr 1944 über 80 Prozent vorher in der Wirtschaft tätig gewesen, davon nahezu die Hälfte als Unternehmer, Direktoren oder leitende Angestellte.24 Angesichts der sächsischen Wirtschaftsstruk-

19 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 171 f. 20 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/20, Bl. 10); vgl. Rüstungskommission IVa, Protokoll der Sitzung am 7.8.1944 (ebd., Bl. 61). 21 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1944 (ebd., Bl. 10). 22 Rüstungskommission IVa, Protokoll der Sitzung am 7.8.1944 (ebd., Bl. 61). 23 Ebd. 24 RüIn IVa am 5.2.1944, Beiträge zur Besprechung der Rüstungskommissionsvorsitzenden in Berlin am 8. und 9.2.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 58 f.).

Konflikte auf der Mittelebene

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tur dürfte es sich dabei freilich eher um Beschäftigte kleinerer und mittlerer Unternehmen gehandelt haben und nicht so sehr um Vertreter der von der Speer’schen Selbstorganisation bevorzugten Großindustrie. Kennzeichnend ist in diesem Zusammenhang auch, dass Führer den Vorschlag als „einer der leitenden Männer der Wirtschaft“25 machte, womit er sich offensichtlich an Speers Verständnis der Rüstungsplanung als einer von der Wirtschaft und nicht von der Wehrmacht, dem übrigen Staatsapparat oder der Partei gelenkten Planung anlehnte. Dennoch ist als sicher anzunehmen, dass Führer seinen Vorschlag nicht ohne Wissen des Gauleiters machte, mit dem er in seiner Eigenschaft als Vorsitzer der Rüstungskommission wöchentlich konferierte.26 Dass Führer den Vorsitz der Rüstungskommission aufgeben wollte, hängt möglicherweise mit seiner Ernennung zum Leiter des reichsweiten Arbeitsstabes Infanteriemunition im Februar oder März 194427 zusammen. Die Leitung der Tagesgeschäfte der Rüstungskommission hatte er danach sofort an seinen Stellvertreter, den Rüstungsinspekteur Weigand, übergeben.28 Schon im Mai war erkennbar gewesen, dass Führer die Gauwirtschaftskammer auf Kosten der Rüstungsinspektion stärken wollte. Er hatte bestimmt, dass seine Geschäftsstelle vom Wehrkreisbeauftragten zur Gauwirtschaftskammer verlegt werden sollte und alle Besprechungen der Rüstungskommission künftig nicht mehr in den Räumen der Rüstungsinspektion, sondern in der Gauwirtschaftskammer stattzufinden hätten.29 Offenbar traf Führers Vorschlag im Rüstungsministerium auf Skepsis. Dafür spricht, dass er Ende August 1944 bei einem Besuch des Rüstungskommandos Chemnitz sagte, dass einer Anordnung von Speer zufolge die Rüstungskommandos zunächst bestehen bleiben und die „Leitung der rüstungswirtschaftlichen Angelegenheiten im Rü[stungs]bereich“30 behalten sollten. Im September wurden Führers Vorschlag, eine dazu verfasste Stellungnahme von Mutschmann und die Antwort des Rüstungsministeriums erneut in der Rüstungskommission verhandelt. Die Inhalte dieser Dokumente sind wegen der schlechten Quellenlage nur in Ansätzen zu erschließen.

25 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 10). 26 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/19, Bl. 25). 27 RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.1.–31.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20– 4/18, Bl. 10); Vorsitzer Rüstungskommission IVa an RMfRuK am 14.3.1944, Bericht über die Tätigkeit der Rüstungskommission IVa vom 15.2.–14.3.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/18, Bl. 62). 28 Ebd. 29 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.4.–30.6.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/19, Bl. 9). 30 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 33).

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Allmähliche Auflösung und Kriegsende

Nachdem Führers Vorschlag in Berlin offenbar abgelehnt worden war, vertrat er nun eine neue Idee, die freilich für die Rüstungsinspektion nicht weniger brüskierend war. Nach dem Vorbild von Hessen und Württemberg wollte er die Rüstungsinspektion mit einer anderen Dienststelle der Mittelinstanz, hier dem Wehrkreisbeauftragten, zusammenlegen. Dafür sollte die Rüstungsinspektion in das Haus des Wehrkreisbeauftragten umziehen und von einer Reihe von Arbeitsgebieten „entlastet“ werden. Als Beispiel nannte Führer den Arbeitseinsatz, den er komplett dem Gauarbeitsamt anvertrauen wollte. Die Durchführung dieses Vorhabens hätte eine Herabstufung der Rüstungsinspektion zur Abteilung des Wehrkreisbeauftragten Böttger bedeutet, den der frühere Rüstungsinspekteur Friedensburg vor allem als Parteimann wahrgenommen hatte. Doch konnte Weigand den Vorstoß zunächst abwehren.31 Damit war die Stellung der Rüstungsinspektion IVa allerdings keinesfalls gesichert. Ende September berichtete Führer von einer Dienstversammlung der Rüstungsvorsitzenden in Berlin, der zufolge es in nächster Zeit Vereinfachungen in der Mittelinstanz geben solle. Die Vorsitzenden würden dazu allgemeine Richtlinien erhalten und auf dieser Grundlage selbstständig entscheiden. Hier sind der Zerfall der zentralen Administration und Befehlsgebung des NS-Regimes in der letzten Kriegsphase deutlich erkennbar. Führer bat in der Rüstungskommission um Vorschläge. Er stellte sich vor, dass ein einziger Sachbearbeiter der Mittelinstanz die gesamte Arbeit zu einem Aufgabenbereich durchführen werde. Der gesamte Umstrukturierungsprozess sollte nicht über schriftliche Vorschläge, sondern „kameradschaftliche Aussprachen“ gesteuert werden. Das hätte die vollständige Abkehr von bürokratischen, behördengemäßen Verfahrensregeln und die Übernahme der Prinzipien der NS-Bewegung bedeutet. Die enge Anbindung Führers an den Gauleiter ist im Übrigen daran zu erkennen, dass er die Einführung neuer Verfahrensregeln an die Zustimmung Mutschmanns band: „Voraussetzung ist, dass das neue Instrument dem Gauleiter genehm ist.“32 Eine gewisse Verwandtschaft zu der von Mutschmann im Jahr 1943 ohne Genehmigung aus Berlin durchgeführten Auflösung der sächsischen Ministerien und ihrer Zusammenlegung zu einer Einheitsbehörde ist zudem unübersehbar.33 Da die Überlieferung abbricht, ist nicht sicher, ob es je zu der Umorganisation kam. Die Konflikte der Mittelebene im Sommer 1944 und Führers Vorschläge markieren jedoch das Ende der geordneten Zusammenarbeit der Institutionen auf der Gauebene. Sie sind einzuordnen in jenen inneren Zerfall der Institutionen, der die finale Krise des Dritten Reiches kennzeichnet.

31 RüIn IVa, Protokoll der Rüstungskommissionsteilsitzung am 8.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 68). 32 Ebd., Bl. 69. 33 Vgl. Wagner, Partei, S. 55 f.

Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“

3.

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Einberufungen: Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“

Die Ernennung von Goebbels zum „Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“ sollte weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitskräftelenkung der Region haben. Seine bisher in der Forschung wenig beschriebene Einberufungsaktion34 sprengte in der Region die jahrelang routinierte Zusammenarbeit beim Ausgleich des Bedarfs von Truppe und Rüstungsunternehmen. In der verzweifelten militärischen Situation des Sommers 1944 war die Ersatzgestellung für die Front aus der Kriegswirtschaft kaum mehr möglich. Die Erträge der vierten Sondereinziehungsaktion waren nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Der Rüstungsbereich Chemnitz stellte rund 600 bereits ausgebildete und gediente Wehrpflichtige. Dazu kamen etwa 300 IMI, auf die angesichts der ausweglosen Lage des militärischen Ersatzwesens zurückgegriffen werden durfte.35 Auf Anordnung Speers sollten die Unternehmen deshalb im August 1944 die Abgabe aller noch vorhandenen fronttauglichen Wehrpflichtigen der Geburtsjahrgänge 1914 und jünger vorbereiten. Die Rüstungskommission IVa bestimmte, dass nur die wichtigsten „Betriebsführer“ und „Schlüsselkräfte“ davon befreit werden könnten.36 Das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 war ein Fanal für die von der Parteikanzlei unter Martin Bormann bisher stets abgelehnte Einmischung der NSDAP in staatliche Exekutivaufgaben und für die weitere Totalisierung des Krieges. Noch am selben Tag ernannte Hitler Himmler zum Befehlshaber des Ersatzheeres. Kurz darauf bestimmte er Goebbels zum „Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz“.37 Speer, der selbst schon länger für eine weitere Totalisierung des Krieges geworben hatte, wiegte sich eine Zeit lang in der Hoffnung, dabei mit Goebbels zusammenarbeiten zu können. Doch schnell wurde der unauflösbare Gegensatz zwischen den Personalbedürfnissen der Front und der Rüstungswirtschaft offenbar. Speer, zusätzlich geschwächt durch Gerüchte um eine angebliche Mitwisserschaft um den 20. Juli, wurde von der Dynamik der Ereignisse überrollt.38

34 Am ausführlichsten Nolzen, Assimilation; ders., Die NSDAP, der Krieg und die deutsche Gesellschaft. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 9/1, S. 99–193, hier S. 168–172; sowie Rebentisch, Führerstaat, S. 512–520; kurze Hinweise auch bei Roth, Parteikreis, S. 323; und bei Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 57 f. 35 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 9, 19); RüKdo Chemnitz am 12.7.1944, Rundschreiben 51/44 g (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 70). 36 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 25). 37 Vgl. Henke, Besetzung, S. 81 f.; Nolzen, NSDAP, S. 168–172; Rebentisch, Führerstaat, S. 512–520. 38 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 267–281.

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Allmähliche Auflösung und Kriegsende

Das Rüstungskommando war noch damit beschäftigt, die Auswahl der auf Anordnung Speers angeforderten jüngeren Wehrpflichtigen unter 30 Jahren zu organisieren, als es erfuhr, dass Goebbels auf der Parteischiene an die NSDAP-­ Gauleiter eine Anweisung zur Einberufung zusätzlicher Wehrpflichtiger gegeben hatte. Die Aktion „totaler Kriegseinsatz“ sollte, so die nachträgliche Darstellung der Rüstungsinspektion IVa, einerseits über einen letzten Versuch der Mobilisierung Nichtberufstätiger der Wirtschaft Arbeitskräfte zuführen. Andererseits sollten aus der nichtkriegswichtigen gewerblichen Wirtschaft alle unter 36 Jahre alten Wehrpflichtigen zur Wehrmacht gesandt werden. Aus den Verwaltungen der kriegswichtigen gewerblichen Unternehmen waren die unter 36-Jährigen ebenfalls vollständig zur Wehrmacht einzuberufen, aus der Fertigung dieser Unternehmen Dreiviertel der unter 26-Jährigen. Diese „Speerabgabe“ sollte durch freiwillige Meldungen von Mitarbeitern durch die Unternehmensleitungen aufgestockt werden. Bei diesen von der Rüstungsinspektion im Kriegstagebuch referierten Weisungen handelte es sich jedoch mitnichten um die ganze Aktion „totaler Kriegseinsatz“, sondern nur um den von Speer teils freiwillig, teils in der Auseinandersetzung mit Goebbels angeordneten Teil.39 Goebbels taxierte die möglichen Abgabezahlen aus der Rüstungsindustrie etwa dreimal so hoch wie Speer, der wiederum Reserven vor allem in der zivilen Wirtschaft, in der öffentlichen Verwaltung und bei den rückwärtigen Abteilungen der Wehrmacht selbst sah. Goebbels legte Mitte August für alle Gaue hohe Einberufungsquoten fest und nahm die Gauleiter für deren Erfüllung in die Pflicht.40 Während sich einige Gauleiter Ende August wegen der widerstreitenden Anweisungen an Bormann wandten, um sich der Verantwortung für die Aktion zu entziehen,41 wies Mutschmann bereits in der zweiten Augusthälfte die Einberufung der von Goebbels befohlenen Kreiskommissionen an. Deren Zusammensetzung war in der entsprechenden Reichsanordnung weitgehend offengelassen worden. Gefordert wurden nur „am besten geeignete Persönlichkeiten“.42 Inwieweit Mutschmann bzw. eine ebenfalls von Goebbels befohlene Gaukommission43 weitere Vorgaben machte, muss mangels Quellen offenbleiben. 39 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 30); siehe auch Janssen, Ministerium, S. 274–281. 40 Vgl. ebd., S. 276. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. Rebentisch, Führerstaat, S. 519; Nolzen, NSDAP, S. 173. 43 Im sächsischen Quellenmaterial gibt es bisher keine Hinweise auf eine sächsische Gaukommission, was jedoch angesichts der Lückenhaftigkeit der Überlieferung nicht heißt, dass es sie nicht gegeben hat. Den Gaukommissionen sollten neben dem Gauleiter der geschäftsführende Regierungspräsident des Reichsverteidigungskommissars, der Kommandeur der Wehrersatzinspektion, der Präsident des Gauarbeitsamtes und der Vorsitzende der Rüstungskommission angehören. Berufen werden durften auch weitere geeignete Personen; vgl. Rebentisch, Führerstaat, S. 519; Nolzen, Assimilation, S. 78. Die Gaukommission ist im Kriegstagebuch der RüIn IVa nicht erwähnt. Das spricht dafür, dass sie entweder nicht existierte oder im Falle ihrer Existenz die Rüstungsinspektion nicht vertreten war.

Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“

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In den Kreiskommissionen der Region Chemnitz war jedenfalls mit dem regionalen Vertreter des Wehrkreisbeauftragten nur noch ein einziger Vertreter des Speer’schen Imperiums Mitglied. Außerdem nahmen der Arbeitsamtsleiter, der Landrat bzw. Oberbürgermeister und mit dem Wehrbezirkskommandeur ein Vertreter des Ersatzwesens an den Sitzungen der Kreiskommissionen teil. Tonangebend waren die NSDAP-Vertreter: der NSDAP-Kreisleiter und weitere Personen aus der Partei, die nach Vorschlag des Kreisleiters in das Gremium berufen werden konnten. Das Rüstungskommando, das sich seit Jahren mit der Materie befasst hatte, war nicht vertreten, ebenso wenig wie die Wirtschaftskammern, die die meisten kriegswichtigen Unternehmen außerhalb der eigentlichen Waffen-, Geräte- und Munitionsfertigung betreuten und deshalb bisher von den zuständigen Ausschüssen und Kommissionen auch immer zu Rate gezogen worden waren.44 Die Zusammensetzung der Kreiskommissio­ nen in der Region scheint in etwa derjenigen in anderen Gebieten des Reiches entsprochen zu haben.45 Die Kreiskommissionen schritten sofort zur Tat und stellten im Rüstungsbereich Chemnitz nach Angaben des Rüstungskommandos bis Ende September rund 2 600 Arbeitskräfte aus der kriegswichtigen gewerblichen Wirtschaft frei. Darunter war angeblich „ein großer Teil wertvoller Fach- und Schlüsselkräfte in der Rüstungsfertigung“.46 In der Regel geschah dies, ohne das Rüstungskommando zu konsultieren, lediglich in einem der elf Kreise des Rüstungsbereichs wurde es, offenbar auf lokale Initiative, hinzugezogen. Dagegen wurde ihm auf eine Anfrage beim Chemnitzer Kreisleiter im Kriege, Hans Schöne, „unter Ausdruck des Bedauerns erklärt, dass er nach den ihm erteilten Anweisungen keine Möglichkeit habe, das Rü[stungs]K[omman]do in die Kommission einzubeziehen“.47 Die Chemnitzer Kommission war von besonderer Bedeutung, nicht nur weil sie für das industrielle Herz der Region, die Städte Chemnitz und Siegmar-Schönau, zuständig war, sondern weil darüber hinaus auch alle Werke des größten Arbeitgebers der Region, der Auto Union AG, durch Kreisleiter Hans Schöne geprüft wurden, gleich wo sie geografisch gesehen lagen.48 Auch die Wirtschaftskammer Chemnitz beurteilte die Durchführung der Aktion negativ: „Die Einschaltung der Kreiskommissionen in das Freimachungsverfahren hat viel Durcheinander gebracht.“49 Die Unternehmensleitungen 44 Vgl. Auto Union AG vom 25.8.1944, Vorstandsmitteilung Nr. 33/44 betr. Einziehungen zur Wehrmacht (StAC, Auto Union AG, 513, unpag.); RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 36 f.). 45 Vgl. Nolzen, NSDAP, S. 173. 46 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 55). 47 Ebd. 48 Auto Union AG-Vorstand vom 25.8.1944, Vorstandsmitteilung Nr. 33/44 betr. Einziehungen zur Wehrmacht (StAC, Auto Union AG, 513, unpag.). 49 Wika Chemnitz am 23.10.1944, Bericht zur Wirtschaftslage, S. 9 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 10, unpag.).

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seien durch Rundschreiben verschiedener Stellen verwirrt worden. Die Einberufungen selbst hätten sich „sehr nachhaltig“ auf die von der Kammer betreuten Unternehmen ausgewirkt, vor allem in den Kreisen Marienberg und Glauchau, „wo die Kreisleiter mit einer ganz besonderen Schärfe vorgingen“.50 Diese Kritik ist deshalb besonders pikant, weil die Wirtschaftskammer Chemnitz zwar offiziell an den Kreiskommissionen ebenso wenig beteiligt war wie das Rüstungskommando, indirekt jedoch in der Chemnitzer Kreiskommission vertreten war, da der dortige Kreisleiter, Hans Schöne, gleichzeitig Präsident der Wirtschaftskammer Chemnitz war. Die mindestens teilweise einbezogene Gauwirtschaftskammer Sachsen äußerte sich dagegen positiver. Sie sprach von „straffer Durchführung“51 der Aktion durch die Kreiskommissionen, bei der trotzdem nach Möglichkeit auf den Schutz der kriegswichtigen Unternehmen Rücksicht genommen worden sei. Einsprüche der Unternehmen seien von den Kreiskommissionen und der Kammer gemeinsam besprochen und teilweise auch berücksichtigt worden.52 Letzten Endes blieben der Wirtschaftskammer Chemnitz und dem Rüstungskommando nichts anderes übrig, als das Geschehene zu akzeptieren. Das Rüstungskommando Chemnitz drückte die Hoffnung aus, dass „höheren Orts“ dafür gesorgt werde, dass es bei künftigen Einberufungen aus der Rüstungswirtschaft wieder mitwirken könne.53 Die ihm vorgesetzte Rüstungsinspektion IVa wagte freilich offenbar kaum mehr als sanfte Einwendungen, zumal sie sich im Sommer 1944 ohnehin in der Defensive befand, weil ihr die Unterstellung unter den Wehrkreisbeauftragten drohte.54 Der Rüstungsinspekteur erlangte, ebenso wie das ihm vorgesetzte Ministerium Speer,55 die Initiative nicht zurück. Er erreichte lediglich in einem persönlichen Gespräch mit Mutschmann, dass dieser zusagte, dass er sich in Einberufungsfragen künftig mit der Rüstungsinspektion abstimmen wolle und die Kreiskommissionen anweisen wollte, „sich stets mit den Rü[stungs]K[ommandos] ins Benehmen zu setzen“.56 Reichsweit, so meldeten die Verantwortlichen der Aktion „totaler Kriegseinsatz“, seien bis in die erste Septemberhälfte rund 300 000 Wehrpflichtige aufgebracht worden. Der sächsische Rüstungsinspekteur berichtete seinen Rüstungskommandos Ende September 1944 von einer internen Besprechung im Speerministerium. Dort habe der Chef des Speer’schen Rüstungsamtes, Waeger, erklärt, dass von den 300 000 bislang nur 150 000 einberufen worden sei-

50 Ebd. 51 GWK Sachsen am 1.11.1944 betr. wirtschaftlicher Lagebericht, S. 11 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 10, unpag.). 52 Vgl. ebd., S. 11 f. 53 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 55). 54 Vgl. Kap. VI.2. 55 Vgl. Janssen, Ministerium Speer, S. 279–281; Nolzen, Assimilation, S. 80. 56 RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 30).

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en. Offenbar waren den Kommissionen eine Reihe handwerklicher Fehler unterlaufen, indem sie Wehrpflichtige doppelt gezählt hatten oder Untaugliche zum Waffendienst meldeten. Der Gau Sachsen hatte im August 1944 17 500 Männer zu stellen, davon waren rund 10 800 einberufen worden. Lediglich 40 Prozent waren unter 36 Jahre alt, obwohl den Vorgaben zufolge dieser Prozentsatz doppelt so hoch sein sollte.57 Überdies waren viele nur „bedingt kriegsverwendungsfähig“, also selbst nach den inzwischen herabgesetzten Tauglichkeitskriterien58 nur eingeschränkt fronttauglich.59 Aus der gewerblichen Kriegswirtschaft stammten laut Kriegstagebuch der Rüstungsinspektion rund 7 000 Männer.60 Die noch einzuberufenden rund 7 000 Wehrpflichtigen sollten daher vor allem junge uneingeschränkt fronttaugliche Männer sein. Da solche fast nur noch in der Rüstungsindustrie tätig waren, erwartete die Rüstungsinspektion trotz aller gegenteiligen Versicherungen noch einmal erhebliche Eingriffe in die Rüstungsfertigung, obwohl alle Rüstungskommandos weitere Einberufungen ohne Fertigungseinbrüche für unmöglich hielten. Hier wurde der Konflikt zur NSDAP auf den Mittelebene deutlich: „Nach Angaben des Gauleiter sollten jedoch diese Abgaben möglich sein“,61 berichtete die Rüstungsinspektion. Die Aktion hatte keineswegs nur, wie es die Rüstungsinspektion IVa in ihrem Kriegstagebuch ausdrückte, „zu einer Autoritätseinbuße der Rü[stungs]-Dienststellen“ geführt.62 Vielmehr waren damit eingeschliffene Routinen auf der regionalen Ebene zusammengebrochen. Die Initiative beim Einberufungsprozess in der gewerblichen Kriegswirtschaft war von den jahrelang steuernden Verwaltungsdienststellen der Wehrmacht und des Speerministeriums an die NSDAP übergegangen. Diese Entwicklung entspricht dem von der Forschung für das Reich beobachteten Machtgewinn der Parteiinstanzen in der letzten Kriegsphase.63 Die Aktion „totaler Kriegseinsatz“ indes als gemeinsame Reaktion von Wehrmacht und Partei auf eine Schonung der Rüstungsindustrie durch die Rüstungsdienststellen zu sehen,64 scheint zumindest für die Untersuchungsregion nicht

57 Vgl. Offiziersbesprechung bei der RüIn IVa in Dresden am 23.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 89–91, hier 90). 58 Diese galten seit Ende 1943. Vgl. Absolon, Wehrmacht, Band 6, S. 300 f.; Kroener, „Menschenbewirtschaftung“, S. 997; GWK Sachsen am 2.5.1944, Wirtschaftlicher Lagebericht (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 10, unpag.). 59 Vgl. Offiziersbesprechung bei der RüIn IVa in Dresden am 23.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 90). Zu den Reichszahlen, zu den organisatorischen Folgen für das Ersatzheer und der tatsächlichen Fronttauglichkeit der Einberufenen siehe auch Kunz, Wehrmacht, S. 157–164, 205–208; Rebentisch, Führerstaat, 522 f. 60 RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 30). 61 Offiziersbesprechung bei der RüIn IVa in Dresden am 23.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 89–91, hier 90). 62 RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 30). 63 Vgl. Nolzen, NSDAP, S. 174–176; Rebentisch, Führerstaat, S. 512–531; Herbst, Krieg, S. 117. 64 Vgl. Nolzen, Assimilation.

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s­ tichhaltig. Wie die bisherige Darstellung gezeigt hat, konnte von einer Hortung fronttauglicher Arbeitskräfte in den Rüstungsunternehmen spätestens seit den Sondereinziehungsaktionen nicht mehr die Rede sein. Vielmehr war das Regime an einem Punkt angelangt, wo ein irgendwie gearteter sinnvoller Ausgleich zwischen den Bedarfsträgern Rüstung und Wehrmacht nicht mehr möglich war.65 Angesichts des Luftkrieges der Alliierten, der bereits große Teile Deutschlands in Schutt und Asche gelegt hatte, angesichts der enormen Menschenverluste an den Fronten und der auf Deutschland von allen Seiten zumarschierenden feindlichen Armeen war vielmehr inzwischen jede Art von unternehmerischer oder behördlicher Rationalität hinderlich, wenn man sich die Kriegsniederlage nicht eingestehen wollte.66 Es bedurfte des Rückgriffs auf die Dynamik und Radikalität der NSDAP-Kampfzeit, um ohne Rücksicht auf mögliche weitere Produktionseinbrüche Frontsoldaten auszuheben, die dann in Lumpen gekleidet und mit leichten Handwaffen bewaffnet gegen Panzer und Jagdflugzeuge ausgeschickt wurden.67 Auch wenn, wie das folgende Kapitel zeigen wird, das regionale und lokale Institutionennetz zur Arbeitskräftelenkung in Teilbereichen noch funktionierte, war es durch Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“ entscheidend geschwächt worden.

4.

Auskämmungen und Betriebsumsetzungen ab Sommer 1944

Im Sommer 1944 liefen in der Chemnitzer Region die vom Reich veranlassten Auskämmungs- und Stilllegungsaktionen auf Hochtouren. Die Wissmann’sche Betriebsumsetzungsaktion wurde seit Juni 1944 mit veränderten Spielregeln weitergeführt. Im Juli 1944 wurde eine neue „Auskämmung des zivilen Sektors“ geplant. Außerdem standen im Rahmen von Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“ weitere Personalreduzierungen in zivilen Bereichen wie der Verwaltung oder Kultur bevor.68 Bei der Wissmann-Aktion wurde allmählich deutlich, dass die Möglichkeiten der Umsetzungen aus der Konsumgüterindustrie zur Rüstungsindustrie weitgehend erschöpft waren. Das Arbeitsamt Chemnitz warnte am 16. Juni 1944, dass in seinem Bezirk keine zur Umsetzung geeigneten Unternehmen mehr existierten. Es sehe auch darüber hinaus keine Möglichkeit, die vom Produktionsamt aufgegebenen Kräfteanforderungen durch Auskämmungen zu decken, solange weiterhin die sogenannten Eckkräfte der Textilunternehmen geschont würden. Ohne diese müsse freilich die Produktion der betroffenen Firmen

65 Vgl. aus der Perspektive der Wehrmacht zu dieser Feststellung Kunz, Armee, S. 164 f. 66 Vgl. Rebentisch, Führerstaat, S. 522 f. 67 Zur materiellen Ausrüstung der Wehrmacht seit Sommer 1944 vgl. Kunz, Wehrmacht, S. 197–204. 68 Vgl. Rebentisch, S. 524 f.

Auskämmungen und Betriebsumsetzungen

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zusammenbrechen.69 Für Sachsen hielten Rüstungsinspektion, Landeswirtschaftsamt und Gauarbeitsamt am 24. Juni 1944 fest, dass sie weitere Kräfteanforderungen kaum mehr für erfüllbar hielten.70 Ende August 1944 sah die Wirtschaftskammer Chemnitz die Bedeutung der Umsetzungsaktion in ihrem Bezirk schwinden.71 Tatsächlich wurden in der Großregion Chemnitz-Zwickau zwischen Juli und September 1944 nur noch 66 Betriebe mit insgesamt 3 600 Arbeitskräften überprüft. Die Durchschnittsgröße der überprüften Betriebe war mit 66 Beschäftigten inzwischen deutlich unter die Reichsvorgaben gesunken. Wenn dennoch die Zahl der insgesamt im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz umgesetzten Arbeitskräfte in diesen Monaten um mehr als 4 000 auf über 13 000 anstieg, so war dies der Tatsache zu verdanken, dass ein Gutteil der vor Juli 1944 freigestellten Arbeitskräfte erst in den darauffolgenden Monaten wirklich in die Rüstungsfertigung wechselte.72 In Sachsen insgesamt erhöhte sich die Zahl der in die Rüstungsindustrie versetzten Beschäftigten zwischen Anfang Juli und Ende September von rund 19 300 auf rund 26 300. Die Großregion Chemnitz-Zwickau stellte also fast die Hälfte der versetzten Arbeitskräfte in Sachsen. Der Gau Sachsen wiederum hatte knapp 14 Prozent der 193 000 der bis Ende September 1944 reichsweit vollzogenen Versetzungen zu verzeichnen.73 Auch eine erneute AZS-Aktion, bei der Sachsen auf Weisung des Rüstungsministers und des GBA ab Mitte Juli 1944 25 000 Arbeitskräfte zu stellen hatte, konnte sich noch auf die bewährten Arbeitszusammenhänge stützen.74 Wie in Sachsen üblich, verständigten sich zunächst auf der Mittelebene in der zweiten Julihälfte, also noch vor der Aktion „totaler Kriegseinsatz“, die wichtigsten Verantwortungsträger für die Arbeitskräftelenkung auf das weitere Vorgehen.75 69 Vgl. Wika Chemnitz, Linse, Besprechung in der Wika Chemnitz am 16.6.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.); RüKdo Chemnitz, Besprechung der Betriebsumsetzungskommission am 11.7.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 5, unpag.). 70 GWK Sachsen, Abt. Industrie, an die Bezirksobmänner bzw. Bezirksgruppen der Wirtschaftsgruppen sowie die Zweigstelle Zittau der GWK und die Wikaen Leipzig, Chemnitz, Plauen am 1.7.1944 betr. Abdeckung von Kräfteanforderungen zu Lasten von Betrieben im Bereich des Produktionsamtes (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Arbeitskräfte 8, unpag.). 71 Wika Chemnitz, der Hauptgeschäftsführer, an RüKdo Chemnitz am 21.8.1944 betr. Einspruchsverfahren gegen Stilllegungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 72 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–31.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 54). 73 Rüstungsobmann IVa an die Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe in Sachsen am 2.12.1944 betr. bisheriges Ergebnis der Betriebsumsetzungsaktion (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 74 RMfRuK und GBA am 18.7.1944 betr. AZS-Aktion Sommer 1944. Schnellbrief (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.). 75 GWK Sachsen an Zweigstelle Zittau, Wirtschaftskammern Leipzig, Chemnitz, Plauen u. a. am 24.7.1944 betr. AZS-Aktion Sommer 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.).

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Allmähliche Auflösung und Kriegsende

Anders als bei den Einberufungen waren bei der AZS Rüstungsinspektion und Rüstungskommando offenbar zu allen wichtigen Terminen eingeladen. Bei der Besprechung Anfang August zeigten sich zwar auch hier die Einflüsse von Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“. So nahm Hans Schöne als NSDAP-­ Kreisleiter wie auch als Präsident der Wirtschaftskammer Chemnitz teil. Er wies die Kommission auf die Vorläufigkeit aller ihrer Planungen hin, weil man zunächst Goebbels’ Initiativen abwarten müsse. Dennoch blieb die Kommission handlungsfähig. Sie einigte sich darauf, rund die Hälfte der für den Arbeitsamtsbezirk Chemnitz geforderten 3 100 Arbeitskräfte dem Handel, Banken- und Versicherungswesen zu entziehen, weitere 600 der Textilindustrie sowie jeweils 50 bis 100 dem Bekleidungsgewerbe und dem Gast- und Schankgewerbe, womit freilich nur gut zwei Drittel der vorgesehenen Quote erfüllt wurden.76 Auf der Mittelebene war die Rüstungsinspektion beim Treffen am 11. August 1944 dabei, als die Mittelinstanzen die von den Arbeitsämtern gemeldeten Zahlen besprachen und sich um eine Verknüpfung der AZS mit Goebbels’ Maßnahmen bemühten, indem sie die Personalabgabequoten aus den Sparten Schönheits- und Körperpflege sowie Theater, Musik und Film entsprechend anhoben.77 Was ihre Ergebnisse anbetrifft, wurde die AZS durch die sich verändernde Kriegslage überholt. Da das NS-Regime wichtige Texilfertigungsgebiete in Frankreich sowie rund um Aachen im Spätsommer 1944 aufgeben musste, hatte Sachsen deren Aufträge mit zu übernehmen. Deshalb stoppte das Rüstungsministerium ab 7. September sämtliche Abzüge aus Fertigungen, die Bekleidung und handelsübliche Ausrüstungsgegenstände für die Wehrmacht produzierten. Die sächsischen Arbeitsämter sollten diesen im Gegenteil nicht für die Rüstungswirtschaft geeignete Arbeitskräfte neu zuweisen.78 Im Arbeitsamtsbezirk Flöha stieg daraufhin der Arbeitskräftebedarf der Textilindustrie um 70 Prozent.79 Das Arbeitsamt Glauchau erklärte, zahlreiche bereits beschlossene Versetzungen seien nicht durchgeführt worden. Auch würden bereits ausgeschiedene Arbeitskräfte durch intensive Werbung wieder zur Arbeitsaufnahme veranlasst. Es sei erstaunlich, was aus den „überalterten Gefolgschaften“ noch an Leistung herausgeholt werden könne: „Westsachsen ist wieder einmal Trumpf“,80 so der Kommentar des Amtes in seinem Septemberbericht. 76 AA Chemnitz, Kommissionssitzung zur Planung der AZS-Aktion Sommer 1944 für den AA-Bezirk Chemnitz am 3.8.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.). 77 Vgl. AZS-Aktion Sommer 1944 – Planungsbesprechung im Gauarbeitsamt am 11.8.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.); AA Chemnitz am 19.8.1944 betr. AZS-Aktion Sommer 1944 (ebd.). 78 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 20 f.). 79 AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). 80 AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Lugau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 5, unpag.).

Auskämmungen und Betriebsumsetzungen

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Angesichts dieser Entwicklungen verwundert es nicht, dass die Bilanz der AZS in der Region gemischt ausfiel: Während die Arbeitsämter Annaberg, Olbernhau und Lugau die Aktion planmäßig zu Ende brachten und das Glauchauer Amt immerhin 85 Prozent der geforderten Kräfte rekrutieren konnte,81 gelang es dem Arbeitsamt Flöha bis Ende September 1944 lediglich, ein Drittel der geforderten 650 Arbeitskräfte freizustellen.82 In ganz Sachsen waren bis Anfang November mehr als 18 000 Beschäftigte in andere Betriebe versetzt worden, dazu fast 5 000 innerhalb ihrer eigenen Firma von einer Fertigung zur anderen. Damit hatte Sachsen sein Soll von 25 000 Kräften zu 92 Prozent erfüllt.83 Die AZS war immerhin erfolgreicher als die anderen Aktionen. Beispielsweise brachte die Versetzung von Männern und ausländischen Zivilarbeiterinnen zugunsten deutscher Frauen bis Ende September in der Region Chemnitz kaum Ergebnisse.84 Über die Auskämmungen außerhalb der gewerblichen Wirtschaft liegen für die Region keine Zahlen vor. In Sachsen insgesamt konnten der Rüstungswirtschaft bis Oktober 1944 rund 10 000 erwachsene Arbeitskräfte aus dem nichtgewerblichen Bereich sowie 10 500 Schüler der oberen Klassen zur Verfügung gestellt werden.85 Eine Entlastung der Arbeitskräftenachfrage in der Region hatte jedoch keine der geschilderten Maßnahmen zum Ergebnis. Im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz, der Großregion Chemnitz-Zwickau, fehlten im September 1944 weiterhin über 16 300 Arbeitskräfte in den Rüstungsbetrieben – trotz aller Bemühungen war also der Arbeitskräftebedarf seit Juni um fast 2 000 angestiegen.86 Das entsprach der Tendenz in Sachsen i­nsgesamt.87

81 Vgl. AA Annaberg, Bericht über dem Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Glauchau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 4, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 82 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.). Über das Ergebnis des AA Chemnitz liegen keine Quellen vor. 83 Vgl. Rüstungsobmann IVa, Geschäftsstelle, Sachbearbeiterbesprechung der Rüstungskommission IVa am 7.11.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.). 84 Vgl. AA Annaberg, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 1, unpag.); AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 85 4 600 Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltungen, 2 600 Theatermitarbeiter, 400 Gaststättenangestellte sowie 3 100 Hausgehilfinnen konnten sachsenweit noch ausfindig gemacht werden; vgl. Rüstungsobmann IVa, Geschäftsstelle, Sachbearbeiterbesprechung der Rüstungskommission IVa am 7.11.1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.). 86 Von den Behörden anerkannter Bedarf; vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 54). 87 Vgl. RüIn IVa, Kriegstagebuch für die Zeit vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 20–4/20, Bl. 22).

376

5.

Allmähliche Auflösung und Kriegsende

Zwangsarbeit: KZ-Häftlinge in der Rüstungswirtschaft

Ein besonders dunkles Kapitel der nationalsozialistischen Arbeitskräftelenkung stellt der Einsatz von KZ-Häftlingen dar. Auch in der Region Chemnitz entstanden in der letzten Kriegsphase mehrere Lager, deren Geschichte inzwischen vergleichsweise gut erforscht ist.88 Der folgende Abschnitt gibt daher lediglich eine kurze Übersicht mit dem Ziel, die Involvierung der regionalen Institutionen der Arbeitskräftelenkung auszuleuchten, soweit dies bei der eher schütteren Quellenlage möglich ist. Die Konzentrationslager dienten ursprünglich der Bekämpfung der Feinde der Nationalsozialisten sowie seit 1937/38 der Isolierung und angeblichen Erziehung von unerwünschten Bevölkerungsgruppen. Zwar hatte es schon immer Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern gegeben. Doch nachdem sich um die Jahreswende 1941/42 abzeichnete, dass sich der Krieg in die Länge ziehen würde, wuchs der Druck auf die Konzentrationslagerverwaltung unter Heinrich Himmler, die Häftlinge produktiver einzusetzen. Dies führte zu einem Funktionswandel der Lager. Himmler und die als Amtsgruppe D ins SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) eingegliederte Inspektion der Konzentrationslager (IKL) stellten die möglichst effiziente Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge als Ziel des Konzentrationslagersystems immer stärker in den Vordergrund. Dies galt freilich zumindest bis 1944 nur für die nichtjüdischen Häftlinge. Parallel zum Ausbau des Zwangsarbeitereinsatzes wurden in den Tötungslagern Auschwitz-Birkenau und Majdanek bis zum Kriegsende über eine Million jüdische Bürgerinnen und Bürger aus ganz Europa ermordet. Die zweite Dimension des Funktionswandels war der fabrikmäßig organisierte Völkermord.89 Um die totale Verfügungsgewalt über ihre Häftlinge zu behalten, versuchte das WVHA zunächst die SS zum eigenständigen Rüstungskonzern mit eigenen Fertigungen innerhalb der Konzentrationslager auszubauen. Das Entstehen einer solchen Konkurrenz wussten freilich Speer und die Industrie zu verhin-

88 Vgl. Pascal Cziborra, Frauen im KZ. Möglichkeiten und Grenzen der historischen Forschung am Beispiel des KZ Flossenbürg und seiner Außenlager, Bielefeld 2010; ders., KZ Oederan. Verlorene Jugend, Bielefeld 2008; ders., KZ Venusberg. Der verschleppte Tod, Bielefeld 2008; ders., KZ Wilischthal. Unter Hitlerauges Aufsicht, Bielefeld 2007; ders., KZ Zschopau. Sprung in die Freiheit, Bielefeld 2005; Ulrich Fritz, Chemnitz. In: Benz/Distel (Hg.), Ort des Terrors, Band 4, S. 80–82; ders., Flöha. In: ebd., S. 109–112; ders., Hohenstein-Ernstthal. In: ebd., S. 147–149; ders., Mülsen St. Micheln. In: ebd., S. 203–206; ders., Oederan. In: ebd., S. 219–223; ders., Siegmar-Schönau. In: ebd., S. 256–258, ders., Venusberg. In: ebd., S. 263–266; ders., Wilischthal. In: ebd. S. 267– 269; ders., Wolkenburg. In: ebd., S. 269–272; ders., Zschopau. In: ebd., S. 279–281. 89 Vgl. Orth, System, S. 113–266, 347 f.; Herbert/Orth/Dieckmann, S. 30 f.; Angelika Königseder, Die Entwicklung des KZ-Systems. In: Benz/Distel (Hg.), Ort des Terrors, Band 1, S. 30–420, hier S. 36 f.

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dern.90 Seit Herbst 1943 entstand ein weit verzweigtes System von KZ-Außenlagern, die sich meist in unmittelbarer Nähe zu den Produktionsstätten der Industrie befanden. In der Regel stellten die Firmen die Unterkünfte und organisierten den Arbeitseinsatz vor Ort, während die SS für Bewachung, Verpflegung und sanitäre Versorgung zuständig war.91 Auch die Untersuchungsregion wurde seit Anfang 1944 von einem Netz von Außenlagern überzogen, die organisatorisch alle zu dem oberpfälzischen Stammlager Flossenbürg gehörten.92 Im September 1944 übernahm das Lager Flossenbürg auch fünf Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück, sodass nunmehr auch Frauen zu den Häftlingen gehörten.93 Anfang 1945 besaß das Stammlager mindestens 94 Außenlager in Nordostbayern, Böhmen und dem südlichen Sachsen, vor allem in den Regierungsbezirken Zwickau, Chemnitz und Dresden. Stammlager und Außenlager zählten zu dieser Zeit fast 40 000 Insassen.94 Zu den oberirdischen KZ-Außenlagern kamen „Konzentrationslager der Verlagerungsprojekte“,95 bei denen Häftlinge zum Bau von bombensicheren Produktionsstätten in Stollen und Bunkern sowie in der Rüstungsproduk­ tion eingesetzt wurden. Von diesen letzteren Lagern befand sich aber wohl keines auf dem Gebiet der Untersuchungsregion.96 Insgesamt sind im Regierungsbezirk Chemnitz bis heute neun Lager nachgewiesen, dazu kommt das Lager Wolkenburg, das zwar außerhalb des Regierungsbezirks lag, aber nur wenige Kilometer von der Stadt Chemnitz entfernt. Die Häftlinge stammten aus ganz Europa, viele waren jüdischer Herkunft. Die meisten von Ihnen hatten bereits furchtbare Leiden hinter sich. Da andere ­Arbeitskräfte nicht mehr zur Verfügung standen, gab Hitler im Frühjahr 1944

90 Vgl. Orth, System, S. 166–174. Ausführlich zu den wirtschaftlichen Aktivitäten der SS siehe Naasner, Machtzentren, S. 197–443; Schulte, Zwangsarbeit; Kaienburg, Wirtschaft. 91 Vgl. ebd., S. 440; Königseder, Entwicklung, S. 37; Orth, System, S. 237–245; Naasner, Machtzentren, S. 338 f.; vgl. generell zum „Häftlingsverleih“ an Privatfirmen Schulte, Zwangsarbeit, S. 391–403. 92 Vgl. Gräfe/Töpfer, Ausgesondert; zur Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg siehe Jörg Skriebeleit, Flossenbürg – Stammlager. In: Benz/Distel (Hg.), Ort des Terrors, Band 4, S. 17–66; Peter Heigl, Konzentrationslager Flossenbürg. In: Geschichte und Gegenwart. Bilder und Dokumente gegen das zweite Vergessen, Regensburg 1989; Toni Siegert, 30 000 Tote mahnen! Die Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg und seiner 100 Außenlager von 1938–1945, Weiden 1987; ders., Das Konzentrationslager Flossenbürg. Gegründet für sogenannte Asoziale und Kriminelle. In: Martin Bros­zat/Elke Fröhlich (Hg.), Bayern in der NS-Zeit, Band II: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil A, München 1979, S. 429–492. 93 Vgl. Siegert, Konzentrationslager, S. 452 f.; Gräfe/Töpfer, Ausgesondert, S. 29–31, 33–38. Zu den Hintergründen der Entflechtung siehe Bernhard Strebel, Das KZ Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes, Paderborn 2003, S. 442 f. 94 Zu den Zahlen vgl. Siegert, Konzentrationslager, S. 452; Skriebeleit, Flossenbürg, S. 52; Brenner/Düsing, Geschichte, S. 23, zählen insgesamt 136 Außenkommandos, davon 43 in Sachsen. 95 Orth, System, S. 243; Königseder, Entwicklung, S. 37 f. 96 Vgl. Orth, System, S. 243–255; Gräfe/Töpfer, Ausgesondert.

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die Erlaubnis, jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im eigentlich für „judenfrei“ erklärten Reichsgebiet zu beschäftigen.97 Die ersten Außenlager in der Region entstanden im Auftrag des Leipziger Flugzeugteile-Herstellers Erla Maschinenfabrik GmbH, der schon seit 1943 im Leipziger Raum und ab 1944 auch in Böhmen mit KZ-Häftlingen produzierte. Er setzte ab dem Frühjahr 1944 mehrere Hundert männliche Häftlinge dem ehemaligen Textilwerk Rich. Pönisch Nachf.98 in St. Micheln sowie Hunderte von Frauen in einem in den Räumen der Tüllfabrik Flöha errichteten Werk ein.99 Die örtlichen Behörden hatten die Verlagerung vorbereitet und auch die Unterbringung der erwarteten Arbeitskräfte sondiert. Mit dem Einsatz und der Verteilung der KZ-Häftlinge waren sie aber offensichtlich nicht befasst. In einer Besprechung im Februar 1944, an dem neben dem Rüstungskommando Chemnitz, den zuständigen Arbeitsämtern und Vertretern des Wehrkreisbeauftragten IVa auch die Kreisleitungen Glauchau und Flöha teilnahmen, wurde deutlich, dass niemand der örtlichen Verantwortlichen wusste, wie viele und welche Arbeitskräfte die Erla-Werke mitbringen würden. Freilich waren sich die Besprechungsteilnehmer im Klaren darüber, dass auch KZ-Häftlinge dabei sein würden und beauftragten das Rüstungskommando, sich direkt bei dem Unternehmen im Leipzig zu erkundigen.100 In der Tat hatten Unternehmen, die KZ-Häftlinge beschäftigen wollten, ihre Anträge bis zum August 1944 direkt an das Amt DII im Wirtschaftsverwaltungshauptamt zu stellen.101 Eine Involvierung regionaler Instanzen in die Verteilung der Arbeitskräfte war nicht vorgesehen. In den Lagern der Erla-Werke waren die Haftbedingungen durchwegs entsetzlich. In Flöha starben 42 Menschen. Regelmäßig wurden Gefangene ins Stammlager Flossenbürg rücküberstellt, sodass die Todeszahlen vor Ort nach Vermutung von Ulrich Fritz nicht das wahre Ausmaß des Leides spiegeln.102 In Mülsen St. Micheln starb fast ein Drittel der Häftlinge.103 Anfang Mai 1944 kam es dort zu einem Aufstand. Zu diesem Zeitpunkt waren mehr als zwei Drittel der Gefangenen aus der Sowjetunion, ein Fünftel waren Polen, dazu kamen einige Franzosen, Tschechen und Deutsche. Wahrscheinlich unter der Führung kurz vorher eingetroffener sowjetischer Häftlinge, die das Rüstungskommando Chemnitz als „rote Marine-Leute“104 bezeichnete, entfernten die Aufständischen  97 Schulte, Zwangsarbeit, S. 398 f.; vgl. zur jüdischen Zwangsarbeit generell Kaienburg, Wirtschaft, S. 441–453, hier 451 f.  98 Tarnname Firma Hermann Gross GmbH. Vgl. Fritz, Mülsen St. Micheln, S. 203.  99 Vgl. Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 688; Fritz, Mülsen St. Micheln, S. 203; ders., Flöha, S. 109. 100 RüKdo Chemnitz am 24.2.1944, Sitzung am 24.2.1944 betr. Erla-Maschinenwerke, Leipzig, Verlagerung nach Flöha bzw. Mülsen St. Micheln (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 4, unpag.). 101 Schulte, SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, S. 151 f. 102 Vgl. Fritz, Flöha, S. 111. 103 Ders., Mülsen St. Micheln, S. 203 f. 104 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.4.–30.6.1944 (BAMA Freiburg, RW 21/11–19, Bl. 21.

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die elektrischen Sicherungen. Einige von ihnen töteten, mit selbst gefertigten Messern bewaffnet, polnische Funktionshäftlinge, andere steckten ihre Matratzen in Brand. Die Wachmannschaften sperrten die Häftlinge im brennenden Lager ein und verhinderten, dass die Feuerwehr die Brände löschte. 198 Häftlinge starben einen qualvollen Tod. Mehrere Hundert wurden zum Teil schwer verletzt. Eine unbekannte Zahl von Gefangenen wurde in den Monaten darauf als Rädelsführer hingerichtet. Das Rüstungskommando Chemnitz berichtete über den Aufstand in seinem Kriegstagebuch, wobei es insbesondere „das schneidige und wohlüberlegte Verhalten“105 des Kommandoführers und des zuständigen Wachzuges lobte. Auf welchen Wegen der Bericht über die Meuterei in den „Jägerstab“ gelangte, der am 2. Mai 1944 den Aufstand besprach, ist aus regionaler Sicht nicht mehr nachzuvollziehen. Der Jägerstab tauschte jedenfalls sofort den Kommandoführer, den Oberkapo als leitenden Funktionshäftling und die meisten der Gefangenen aus.106 Ein weiteres Außenlager eines auswärtigen Unternehmens errichteten die Junkers Werke Anfang 1945 in der Spinnerei Gebr. Schüller AG in Venusberg nahe Marienberg im Erzgebirge, trotz des hartnäckigen Widerstandes des Spinnereibesitzers, der sich im Übrigen als einer von wenigen Unternehmern nachgewiesenermaßen Gedanken über die humanitären Bedingungen des Gefangeneneinsatzes machte. Die in Venusberg eingesperrten rund 1 000 Frauen und Mädchen produzierten ebenfalls für die Luftrüstung.107 Es waren vor allem Jüdinnen, die aus Ungarn108 und Westeuropa stammten. Mindestens 46 der unterernährten, völlig erschöpften und nicht selten schon bei ihrer Ankunft an Typhus erkrankten Häftlinge bezahlten den erbarmungslosen Arbeitseinsatz mit dem Leben. Hunderte starben nach der Auflösung des Lagers während des Abtransports in Richtung Mauthausen.109 In der Region Chemnitz ansässige Unternehmen scheinen sich erst zu einem vergleichsweise späten Einsatz von KZ-Häftlingen auf dem Boden der Region entschlossen zu haben. Das Rüstungskommando der Region Chemnitz berichtete erstmals im August 1944 darüber, dass einigen Rüstungsbetrieben in Südwestsachsen die Zuweisung von insgesamt etwa 4 000 Häftlingen in Aussicht gestellt worden sei.110 Freilich hatte mindestens die Chemnitzer Astrawerke 105 Ebd. 106 Vgl. ebd., Bl. 21, 38; Fritz, Mülsen St. Micheln, S. 204; Siegert, Konzentrationslager, S. 460; Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 688 f. 107 Tarnname: Venuswerke A. G. Spinnerei, vgl. Fritz, Venusberg, S. 263. Umfangreichste Darstellung zum Lager Venusberg bei Cziborra, KZ Venusberg. 108 Vgl. zu den ungarischen jüdischen Deportierten Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 237– 243. 109 Vgl. Fritz, Venusberg, S. 263–66; Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 691 f., Gräfe/Töpfer, Ausgesondert, S. 36; zur Bewertung der unterschiedlichen Schätzungen der Anzahl der Todesfälle beim Abtransport der Häftlinge siehe Cziborra, KZ Venusberg; S. 76–111, 252–258. 110 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BaMa Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 36, 60).

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AG bereits 1942 hungernde todgeweihte Menschen im jüdischen Ghetto von Lodz produzieren lassen.111 Dieses Unternehmen setzte ab Oktober 1944 auch in Chemnitz Hunderte weiblicher KZ-Häftlinge ein, um Zulieferteile für die Luftrüstung zu fertigen.112 Der größte „Arbeitgeber“ für KZ-Häftlinge in der Region war die Auto ­Union AG. Sie hatte bereits seit Frühjahr 1944 eine Panzermotorenproduktion nach Böhmen in die Höhlen der AG Kalk und Ziegelwerke Leitmeritz (Litomerice) verlagert. Bei der sukzessive erweiterten Produktion mit dem Tarnnamen „Richard“ wurden bis Kriegsende mehr als 17 000 Menschen eingesetzt, von denen schätzungsweise 4 500 durch Hunger, Krankheiten und die mörderischen Arbeitsbedingungen ihr Leben verloren.113 Für den Häftlingseinsatz in der ­Region scheint der Konzern im Juni 1944 mit dem Reichssicherheitshauptamt Kontakt aufgenommen zu haben.114 Die Abteilung „KWD/Arbeitseinsatz“ hielt im Juli 1944 den Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen vor dem Hintergrund sinkender Belegschaftszahlen für die letzte Möglichkeit, Arbeitskräfte zu rekrutieren. Auf einer Werksleitersitzung erläuterte der bei der Auto Union für den „Arbeitseinsatz“ zuständige Sonderbeauftragte Heinrich Leggewie in geradezu zynischer Weise die Vorteile eines KZ-Häftlingseinsatzes für den Arbeitgeber: „12-stündige Arbeitszeit, kein Urlaub, keine Freizeit durch Arztbesuche in der Stadt, keine Ausfallzeit durch den Besuch von Spezialärzten“.115 Zur Beschäftigung der Häftlinge hatte die Auto Union direkt Übereinkünfte mit der Verwaltung der Konzentrationslager getroffen; regionale Behörden waren offensichtlich nicht beteiligt.116 Ab Sommer 1944 begann das Speerministerium in die Verteilung der KZ-Häftlinge einzugreifen. Speers Machtbereich bestimmte ab Oktober 1944 im Einvernehmen mit dem GBA über die Einsatzorte der Häftlinge, wobei unklar ist, um welche Institutionen oder Abteilungen es sich dabei genau handelte.117 Dokumente zur Kraftfahrzeugindustrie deuten darauf hin, dass die Berliner Ausschüsse und Ringe das Sagen hatten. Ursprünglich war der Einsatz von 2 000 Häftlingen bei der Auto Union AG vorgesehen, auf Veranlassung des Hauptausschusses Kraftfahrzeuge118 erhöhte das Unternehmen seine Forderun-

111 Schneider, Unternehmensstrategien, S. 440–451. 112 Vgl. Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 693; Fritz, Chemnitz, S. 80–82, Cziborra, Frauen, S. 39 f. 113 Vgl. Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 693 f.; Fritz, Leitmeritz, S. 175–188, zu den Häftlingsund Todeszahlen siehe S. 177, 182; übereinstimmende Zahlenangaben bei Kukowski/ Boch, Kriegswirtschaft, S. 394, 398. 114 Vgl. zur Anbahnung des Häftlingseinsatzes Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 371. 115 Protokoll der Werksleitersitzung am 27.7.1944 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 251 f.); vgl. auch Kukowski, Findbuch Auto Union, S. XCV. 116 Auto Union AG, KWD-Arbeitseinsatz, an Dr. Bruhn am 17.7.1944, S. 4 (StAC, Auto Union AG, 704, unpag.); vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 371–378. 117 Schulte, Zwangsarbeit und Vernichtung, S. 400–403; ders., SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, S. 151; Naasner, Machtzentren, S. 308 f., insbes. Anm. 309. 118 Dieser hatte bereits im August erstmalig Arbeitskräfte an die Unternehmen verteilt; vgl. Ernst Kaiser/Michael Knorn, Die Adlerwerke und ihre KZ-Außenlager – Rüstungspro-

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gen auf 3 200 Konzentrationslagergefangene.119 Die Unternehmen sollten ihre Häftlingsanforderungen mit den Arbeitsämtern abstimmen, um zu vermeiden, dass ein Unternehmen zugleich Häftlinge und freie Arbeiter anforderte.120 Aus der Region ist dies nicht belegt, bei der Lückenhaftigkeit des Materials aber nicht auszuschließen. Ende August 1944 nahm die Auto Union in Zwickau das erste Lager in Betrieb. Bis November 1944 wurden dort etwa 900 männliche Häftlinge in die Produktion integriert. Mindestens 22 Häftlinge erschoss die Wachmannschaft im Februar 1945 während eines Fluchtversuchs.121 Im September 1944 fingen auch in Siegmar-Schönau 400 Gefangene an zu arbeiten.122 Sie wurden nach dem Bombenangriff auf das Werk Siegmar der Auto Union AG nach Hohenstein-Ernstthal überführt.123 Ab November produzierten zudem im DKW-Werk in Zschopau rund 500 Frauen für die Auto Union AG. In den Lagern von Zschopau und Hohenstein-Ernstthal sind bis heute fünf bzw. sieben Todesfälle sicher nachweisbar.124 Die meisten der Häftlinge setzte die Auto Union im Panzerbauprogramm ein. Nur die Menschen im DKW-Werk Zschopau waren bei einer Luftrüstungsunterlieferung beschäftigt.125 Die Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen (DKK) GmbH, eine Tochterfirma der Auto Union AG, beschäftigte ab September 1944 bei seiner Tochtergesellschaft Agricola GmbH in der freigeräumten Oederaner Nähmaschinenfabrik Kabis bis zu 500 jüdische Frauen und Mädchen bei der Munitionsproduktion.126 Ein weiteres Lager in Oederan, dessen Belegung mit 870 Häftlingen g­ eplant

duktion und Zwangsarbeit in einem Frankfurter Traditionsbetrieb. In: 1999, 7 (1992) 3, S. 11–42, hier 23 f. 119 Vgl. Protokoll der Werksleitersitzung am 27.7.1944 (StAC, Auto Union AG, 587, Bl. 251 f.); Auto Union AG, KWD-Arbeitseinsatz am 25.8.1944, Übersicht über die Belegschaft der Auto Union AG sowie deren Tochtergesellschaften, S. 4 (StAC, Auto Union AG, 704); vgl. auch Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 371, 376. 120 Vgl. Maier, Arbeitseinsatz, S. 192. 121 Vgl. Auto Union AG, KWD-Arbeitseinsatz am 28.12.1944, Übersicht über die Belegschaft der Auto Union AG sowie deren Tochtergesellschaften, S. 3 (StAC, Auto Union AG, 704, unpag.); Fritz, Zwickau, S. 282–286; Gräfe/Töpfer, Ausgesondert, S. 36; Kukowski/Boch, Kriegwirtschaft, S. 378–380. 122 Vgl. Auto Union AG, KWD-Arbeitseinsatz am 16.9.1944, Übersicht über die Belegschaft der Auto Union AG sowie deren Tochtergesellschaften, S. 3 (StAC, Auto Union AG, 704, unpag.); Gräfe/Töpfer, Ausgesondert, S. 36. Fritz, Siegmar-Schönau, S. 256, weist das Lager versehentlich den Wanderer-Werken zu. 123 Vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 381 f. 124 Vgl. Auto Union AG, KWD-Arbeitseinsatz, am 28.12.1944, Übersicht über die Belegschaft der Auto Union AG sowie deren Tochtergesellschaften, S. 3 (StAC, Auto U ­ nion AG 704); Gräfe/Töpfer, Ausgesondert, S. 36. Zu Zschopau vgl. Fritz, Zschopau, S. 279–281; Cziborra, KZ Zschopau; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 388 f.; zu Hohenstein-Ernstthal vgl. Fritz, Hohenstein-Ernstthal, S. 147–149; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 381 f. 125 Vgl. Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 693 f. 126 Vgl. Cziborra, KZ Oederan; Fritz, Oederan, S. 219–223; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 383–385.

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war, befand sich bei Kriegsende noch im Aufbau.127 Wohl aber betrieb die Agricola GmbH in Wilischthal, das heute ein Ortsteil von Zschopau ist, ab Ende Oktober 1944 ein Lager, das mit rund 300 Frauen und Mädchen belegt war.128 Drei in Oederan gestorbene Frauen sind namentlich bekannt, drei Schwangere wurden nach Bergen-Belsen abgeschoben, von denen dort wahrscheinlich zwei starben.129 In Wilischthal gab es mindestens einen Todesfall.130 In allen Lagern litten die Häftlinge unter Hunger durch minimale Lebensmittelrationen und völliger Erschöpfung durch überlange Arbeitszeiten. Die mangelhaften sanitären Verhältnisse und die Überbelegung der Räume führten zu Ungezieferbefall und ansteckenden Krankheiten. Immer wieder misshandelten Wachmannschaften die Gefangenen schwer. Nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge wurden ins Stammlager überstellt, wo viele von ihnen starben oder umgebracht wurden. Das Ausmaß der vom Arbeitseinsatz verursachten Todesfälle dürfte daher tatsächlich um vieles höher liegen als die in den Außenlagern der Region nachgewiesene Zahl der Sterbefälle.131 Vor den heranrückenden feindlichen Truppen räumten die Nationalsozialisten die Konzentrationslager, um das Ausmaß ihrer Verbrechen zu verschleiern. Die meist schon vor Beginn der „Evakuierungen“ erschöpften und halb verhungerten Gefangenen wurden zu Fuß auf Todesmärschen ins Reichsinnere getrieben oder in Bahntransporten bei unzureichender Versorgung ins Ungewisse geschickt.132 Wer nicht mehr mitkam, wurde von den SS-Wachmannschaften rücksichtslos erschossen. Gegen Kriegsende wurden die Fluchtbewegungen immer ziel- und sinnloser. Nach Berechnungen von Karin Orth starb ein Drittel bis die Hälfte aller 700 000 registrierten KZ-Häftlinge, die die SS im Reich im Januar 1945 noch gefangen hielt, bei der Räumung der Lager oder in Sterbelagern, in denen sie die SS ohne ein Mindestmaß an lebensnotwendiger Versorgung sich selbst überließ.133 Ab März/April 1945 wurden auch die Flossenbürger Außenlager ebenso wie das Stammlager vor den heranrückenden feindlichen Truppen geräumt. Bei der Evakuierung des Flöhaer Außenlagers, mutmaßlich dasjenige in der Tüllfabrik Flöha, sollen die SS-Aufseher 188 Häftlinge auf dem Lagergelände ermordet haben, weitere 150 wurden auf einem Lastwagen abtransportiert und später von alliierten Truppen gerettet.134 Viele Häftlinge aus der Region Chemnitz wur127 Vgl. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 385. 128 Vgl. ausführlich zu Wilischthal Cziborra, KZ Wilischthal; siehe auch Fritz, Wilischthal, S. 267–70; Brenner/Düsing, Geschichte, S. 32–35; Brenner, „Arbeitseinsatz“, S. 697 f.; Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 385–388. 129 Fritz, Oederan, S. 221 f.; vgl. ausführlicher Cziborra, KZ Oederan, S. 26 f., 61–67. 130 Vgl. Cziborra, KZ Wilischthal, S. 50–57. 131 Vgl. z. B. Kukowski/Boch, Kriegswirtschaft, S. 378–390. 132 Vgl. zu den Todesmärschen Daniel Blatman, Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek 2011. 133 Vgl. Orth, System, S. 349. 134 Vgl. Blatman, Todesmärsche, S. 270; Fritz, Flöha, S. 111, spricht von insgesamt 59 nachweisbaren Toten.

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den zu Fuß oder per Bahn meist in Richtung Theresienstadt oder Leitmeritz in Marsch gesetzt. Eine Bilanz aller Todesfälle ist bis heute trotz aller intensiven Detailforschung nicht möglich. Die zu Beginn des Kapitels aufgeworfene Frage nach der Involvierung der für die Arbeitskräftelenkung zuständigen örtlichen Institutionen und Ämter lässt sich mit aller Vorsicht dahingehend beantworten, dass diese an der Zuweisung der KZ-Häftlinge zu den einzelnen Unternehmen wohl nicht beteiligt waren, ihn aber, wie für die Erla-Werke nachgewiesen, durch die Sondierung geeigneter Fertigungsstätten und Unterbringungsmöglichkeiten mit vorbereiteten – im Wissen darum, dass dort KZ-Häftlinge Zwangsarbeit leisten müssen.

6.

Bombenkrieg und Verinselung: Kriegswirtschaft und Arbeitskräftelenkung im Zusammenbruch

Obwohl Speer die Rüstungsfertigung auch im zweiten Halbjahr 1944 weiter zu forcieren suchte,135 zeichnete sich gegen Ende des Jahres der Zusammenbruch der Wertschöpfungskette in der Rüstungsproduktion ab. Zunehmend versagte die Zulieferung von Brennstoffen, Rohstoffen, Halbzeugen und Vorprodukten in den Chemnitzer Raum.136 Häufig fehlte Treibstoff, um industrielle Rohstoffe oder Zwischenprodukte auch nur über kleinste Strecken zu transportieren.137 Mit flüssigen Kraftstoffen betriebene Fahrzeuge lagen in der Region Chemnitz im Herbst 1944 praktisch still, die Transportkapazitäten der Reichsbahn waren völlig überlastet.138 Ursache dafür war neben der Bombardierung oder Besetzung von Produktionsstätten vor allem die erfolgreiche Ausschaltung der Transportkapazitäten durch die Alliierten. Seit September 1944 hatten sie ihre Angriffe auf Schienen und Wasserwege konzentriert und isolierten beispielsweise das Ruhrgebiet allmählich vom Rest des Reichs. Auch versuchten sie, die Kohlenversorgung und die übrige Energiezufuhr zu blockieren.139 Anfang November war die Verkehrslage „zum schwierigsten Problem der Kriegsführung überhaupt“140 geworden. Die Überlastung der Reichsbahn gefährdete inzwischen sogar die Lebensmittelversorgung: Einerseits, so ein

135 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 287–291; Henke, Besetzung, S. 429–431. 136 Vgl. AA Flöha, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 3, unpag.); AA Olbernhau, Bericht über den Arbeitseinsatz im September 1944 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Berichte 6, unpag.). 137 Vgl. RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BA-MA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 50–52). 138 RüKdo Chemnitz, Kriegstagebuch. Darstellung der Ereignisse vom 1.7.–30.9.1944 (BAMA Freiburg, RW 21–11/20, Bl. 56); vgl. Müller, Zusammenbruch, S. 67 f. 139 Vgl. Müller, Speer, S. 758 f.; Henke, Besetzung, S. 435–439; Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 63–65. 140 IHK Chemnitz, Linse, am 18.11.1944, Aktennotiz betr. den 14.11.1944 über Verkehrsfragen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 3, unpag.).

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l­eitender Mitarbeiter der Reichsbahndirektion Dresden, könnten nur erhöhte Kohlenzufuhren die Stilllegung von Rüstungsbetrieben verhindern, andererseits müsse unbedingt Getreide gefahren werden, weil in Sachsen bereits 66 Mühlen stillstünden und Brotmarken bereits hier und dort nicht mehr beliefert werden könnten. Der Nahverkehr litt unter dem Fehlen von Benzin und Treibgas sowie dem Mangel an Fahrzeugen.141 Reichsweit geriet das im Sommer 1944 als noch so brennend empfundene Arbeitskräfteproblem in den Hintergrund, weil die Firmen ihre Mitarbeiter mangels Energie- und Transportressourcen immer weniger beschäftigen konnten.142 In der Region führte der Energiemangel im Januar 1945 zu tageweisen Stromsperrungen auch in mittleren und großen Rüstungsunternehmen wie der Maschinenfabrik Kappel und der Auto Union AG. Dies zog beispielsweise im Zschopauer Werk DKW der Auto Union aufwendige Veränderungen in der Arbeitsorganisation nach sich, die ihrerseits wiederum die Produktionskapazitäten einschränkten. So verlegte das Werk die Arbeitszeit von Montag auf Sonntag, wobei es für bestimmte Gruppen, wie Hausfrauen mit schulpflichtigen Kindern, Sonderregelungen schuf.143 Kleinere und mittlere Firmen sollten die frei werdenden Arbeitskräfte eigentlich anderen Unternehmen zur Verfügung stellen. Doch das dafür zuständige Chemnitzer Arbeitsamt war mit der Organisation der Arbeitskräfteverteilung völlig überfordert: „Es ist dem Arbeitsamt natürlich nicht möglich“, erklärte einer seiner Vertreter gegenüber der Maschinenfabrik Kappel, „in der derzeitigen Lage, in der täglich Betriebe Feierschichten und sonstigen Arbeitsausfall melden, Hunderte von Arbeitskräften stoßartig umzusetzen.“144 Der Landrat von Stollberg ordnete Anfang 1945 den Ausschluss vieler kleinerer Textilbetriebe von der Hausbrandversorgung sowie die Abgabe ihrer Kohlenvorräte an und zwang sie damit faktisch zur Stilllegung. Erst nach Protesten der Wirtschaftskammer Chemnitz und entsprechenden Anweisungen aus Dresden ruderte er zurück und beließ den Betrieben wenigstens 50 Prozent ihrer Bestände.145 In Annaberg stellte die Kreiskommission für den totalen Kriegseinsatz Anfang Februar 1945 fest, dass Krankenhäuser, Schulen, Behörden und Privathaushalte nicht mehr mit Kohlen beliefert werden könnten. Überdies seien

141 Vgl. ebd. 142 Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 245. 143 Vgl. Vertrauensratssitzung im Werk DKW am 12.1.1945 (StAC, Auto Union AG 1059, Bl. 67 f.). 144 Maschinenfabrik Kappel, Jarosch, am 26.1.1945, Bericht über die Besprechung mit dem AA Chemnitz am 25.1.1945 (StAC, Maschinenfabrik Kappel, 713, unpag.). 145 Vgl. IHK Chemnitz, Linse, am 16.1.1945, Aktennotiz (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.); LWA an Landrat von Stollberg, Wirtschaftsamt, am 20.1.1945, Dortige Verfügung vom 17.1.1945 und fernmündliche Rücksprache vom 18. und 19.1.1945 betr. Hausbrandversorgung 1944/45 (ebd.); Der Landrat des Kreises Stollberg an die Textilbetriebe im Kreis am 20.1.1945 (ebd.).

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wegen des Kohlenmangels selbst „Betriebe mit wichtigster Rüstungsfertigung“ zum Erliegen gekommen.146 Dass die Unterordnung der Arbeitskräfteverteilung unter die Energieverbrauchsfrage nicht nur für die Untersuchungsregion galt, bezeugt ein gemeinsames Schreiben der Parteikanzlei, des Rüstungsministeriums und des GBA, das Ende Januar 1945 die Reichsverteidigungskommissare dazu aufforderte, bei Fertigungsstockungen nur die leistungsfähigsten Arbeitskräfte auf „Arbeitsplätzen mit Energieverbrauch“ zu belassen, im Allgemeinen jedoch die frei werdenden Mitarbeiter mit Aufgaben zu betrauen, bei denen keine oder nur wenig Energie benötigt würde.147 Die Aufforderung aus Berlin indes, Fachkräfte aus den Grenzgebieten des Deutschen Reiches überbezirklich „in die intakten Rüstungskapazitäten des mitteldeutschen Raumes“ zu versetzen, dürfte schlicht nicht durchführbar gewesen sein.148 Längst war die Einheit des deutschen Wirtschaftsraums durch fehlende Transport- und gestörte Nachrichtenverbindungen zerstört, die „Verinselung“149 der einzelnen Reichsteile eingeleitet. Dem trug die Ernennung von Rüstungsbevollmächtigten mit regional unterteilter Zuständigkeit durch Speer Anfang Februar 1945 sowie die rüstungswirtschaftliche Aufteilung des Reiches in vier Bezirke am Ende desselben Monats Rechnung,150 die jedoch offenbar in der Untersuchungsregion keine praktische Rolle mehr spielte, zumal die Position des für Sachsen zuständigen Rüstungsbevollmächtigten Mitte März noch unbesetzt war.151 Ende Januar 1945 setzte Hitler ein Rüstungsnotprogramm in Gang, das allein die Fertigung von kriegsentscheidenden Waffen vorsah. Nahezu gleichzeitig gab Speer mehrere Befehle heraus, die faktisch die Gleichstellung der Nahrungsmittel- mit der Rüstungsproduktion bedeuteten.152 Eine parallel ablaufende letzte Sondereinziehungsaktion, mit der die letzten kampffähigen Soldaten aus den Unternehmen rekrutiert werden sollten,153 hinterließ in den Quellen der Untersuchungsregion keine Spuren. Auch in der gegenüber vielen anderen immer noch vergleichsweise privilegierten Region Südwestsachsen verliehen ständige Fliegeralarme, der Z ­ usammenbruch 146 Besprechung der Kreiskommission für den totalen Kriegseinsatz Annaberg mit Vertretern der Wirtschaftskammer Chemnitz über die kohlenwirtschaftliche Lage im Kreis Annaberg am 1.2.1945 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.). 147 Leiter der Parteikanzlei, RMfRuK und GBA an die Reichsverteidigungskommissare, Vorsitzer der Rüstungskommissionen am 28.1.1945, Erlass über den planvollen Einsatz der Arbeitskräfte bei Fertigungsstockungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.); vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 639 f. 148 Leiter der Parteikanzlei, RMfRuK und GBA an die Reichsverteidigungskommissare, Vorsitzer der Rüstungskommissionen am 28.1.1945, Erlass über den planvollen Einsatz der Arbeitskräfte bei Fertigungsstockungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.). 149 Wagenführ, Industrie, S. 120. 150 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 286; Müller, Zusammenbruch, S.121. 151 Vgl. Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 631. 152 Vgl. Janssen, Ministerium, S. 291 f.; Eichholtz, Kriegswirtschaft, III, S. 615–619. 153 Vgl. Müller, Zusammenbruch, S. 72 f.

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der Transportkapazitäten, Stromsperrungen und Kohlenmangel bei bitterer Kälte sowie zunehmende Schwierigkeiten bei der Lebensmittelversorgung dem Leben und Arbeiten im Winter 1944/45 einen endzeitlichen Zug. Inwieweit die Menschen in dieser Situation der Siegpropaganda des Regimes noch Glauben schenkten, ist schwer zu sagen. Bei vielen dürfte, wie anderswo auch, das letzte Aufbäumen des schon geschlagenen NS-Regimes, die Ardennenoffensive,154 in der zweiten Dezemberhälfte 1944 noch einmal zu Selbsttäuschungen Anlass gegeben haben. So gab sich der Autor des Betriebsappells zum Jahreswechsel im Werk Siegmar der Deutschen Niles Werke AG verhalten optimistisch. Das abgelaufene Jahr habe Schwierigkeiten und kritische Probleme in der Kriegsführung mit sich gebracht: „Diese sind, wenn eine Entscheidung auch noch nicht gefallen ist, doch im Großen und Ganzen gemeistert worden. Noch steht zwar der Feind auf kleinen Teilen deutschen Bodens, wir wissen aber, dass unser Gegenmaßnahmen bereits zu Erfolgen geführt haben und der Feind, der sich seines Sieges schon sicher glaubte, hat es erlebt und erlebt es noch stündlich, dass wir kräftig zurückschlagen.“155 Der Autor wies allerdings darauf hin, dass in den letzten Wochen und Monaten „über manchen eine gewisse Verzagtheit“ gekommen und die Wendung „für manchen von uns unerwartet eingetreten“ sei.156 Nach dem Zusammenbruch der Ardennenoffensive rückten die Alliierten unaufhaltsam ins Innere Deutschlands vor. Im Osten standen die russischen Truppen bereits Anfang Februar 1945 etwa 65 Kilometer vor Berlin. Im Westen besetzten die Amerikaner die linksrheinischen Gebiete und überschritten im März den Rhein.157 Zwischen dem 6. Februar und dem 5. März 1945 wurden Chemnitz, Siegmar-Schönau und der kleine Nachbarort Erfenschlag zum Ziel einer Serie von verheerenden Luftangriffen. Allein in Chemnitz fanden über 3 500 Menschen den Tod.158 Nach dem letzten großen Angriff, der die Innenstadt in ein Flammenmeer verwandelt hatte, lag die Stadt in Trümmern. Ein Viertel aller Wohnungen war total zerstört, vom Rest mehr als die Hälfte beschädigt. Mehr als 100 000 Menschen waren obdachlos, die Infrastruktur lag vollkommen darnieder.159

154 Vgl. Henke, Besetzung, S. 312–343, insbes. 315–317. 155 Betriebsappell zum Jahresbeginn 1945, o. V., o. D. (StAC, Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar, 362, unpag.). 156 Ebd. 157 Vgl. Henke, Besetzung, S. 341–364, 377–390. 158 Vgl. Gert Richter, Chemnitzer Erinnerungen 1945. Eine Dokumentation in Wort und Bild über die Zerstörung von Chemnitz im Zweiten Weltkrieg, Chemnitz 1995, S. 20–33; zu den Bombenkriegserfahrungen der Chemnitzer siehe auch Gabriele Viertel (Hg.), Chemnitzer Erinnerungen 1945. Teil III: Die Vororte der Stadt Chemnitz, Chemnitz 2005; Gert Richter (Hg.), Chemnitzer Erinnerungen 1945. Teil IV: Zeitzeugen berichten, Chemnitz 2005. 159 Vgl. Rainer Behring, Das Kriegsende 1945. In: Vollnhals (Hg.), Sachsen in der NS-Zeit, S. 224–238, hier S. 228; Werner Kreschnak, Unter der faschistischen Herrschaft. In: Bräuer/Richter: Karl-Marx-Stadt, S. 173–193, hier 192.

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An eine geordnete Rüstungsproduktion war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Die ausländischen Arbeitskräfte verließen in Scharen die Stadt, ohne dass sie jemand aufhalten konnte. In einer kleinen, nicht mehr identifizierbaren, Firma verabschiedeten sich mehrere sowjetische Arbeiter ganz offiziell, weil sie ihre „Heimreise“ antreten wollten.160 Die Auto Union AG zählte in ihrem Werk in Siegmar am 22. März 1945 noch 337 „flüchtige“ Ausländer, hauptsächlich Franzosen und Italiener.161 Aber auch viele einheimische Obdachlose flüchteten aufs Land. Bis Mitte März hatten sie sich auf 49 sächsische Landkreise verteilt. Allein der Kreis Rochlitz beherbergte 15 000 Chemnitzer, der Landkreis Glauchau brachte es auf 12 000 und die Stadt Stollberg rund 3 100.162 Viele der Daheimgebliebenen hatten andere Sorgen, als zur Arbeit zu gehen. Die Lebensmittelversorgung verschlechterte sich rapide. Ab Februar wurden die Kartoffel- bzw. Brotrationen selbst auf dem Papier schrittweise gekürzt und ab März mit Steckrüben gestreckt.163 In vielen Gebieten der Stadt Chemnitz versagte bereits nach den ersten Angriffen im Februar die Gas- und Wasserversorgung vollständig. Noch Mitte März mussten die Menschen in einzelnen Stadtteilen zwei bis drei Kilometer weit laufen, um sich mit Wasser zu versorgen. Ebenso wenig gab es elektrisches Licht. Da die NSDAP-Ortsgruppen Kerzen nur einzeln ausgaben, benötigten die Familien viel Zeit dafür, sich immer wieder mit den nötigsten Leuchtmitteln zu versehen.164 Kein Wunder also, dass unter den Daheimgebliebenen nach dem 5. März 1945 Gerüchte kursierten, jeder Bombengeschädigte bekäme 14 Tage frei.165 Mitte März bestimmte der Oberbürgermeister auf Veranlassung des Landesernährungsamtes, dass über 16-jährige Männer nur dann Lebensmittelkarten erhalten könnten, wenn sie eine Bescheinigung ihres Arbeitgebers oder des Arbeitsamtes über ihre Beschäftigung bzw. ihre Meldung zum Arbeitseinsatz vorweisen könnten.166 160 Betr. Abgang der Ostarbeiter, o. V., o. D. [nach dem 8.3.1945] (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 2522/3, unpag.). 161 Auto Union AG, Betriebsdirektion Werk Siegmar, am 27.3.1945, Bericht über die Auswirkungen des Terrorangriffs am 5.3.1945 auf das Werk Siegmar der Auto Union AG (StAC, Auto Union AG, 3977, unpag.). 162 Meldung der in den einzelnen Kreisen eingetroffenen Chemnitzer Fliegergeschädigten, o. V., o. D. (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 36 f.). 163 Vgl. Hauptvereinigung der deutschen Kartoffelwirtschaft an die Landesernährungsämter am 1.2.1945, Speisekartoffelversorgung ab der 72. Zuteilungsperiode (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 1571, Band VIII, Bl. 19 f.); Landesernährungsamt Sachsen an Ernährungsämter am 9.2.1945 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928– 1945, 1571, Band VIII, Bl. 20); Landesernährungsamt Sachsen an Ernährungsämter am 7.3.1945, Speisekartoffelversorgung der Großverbraucher (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt 1928–1945, 1571, Band VIII, Bl. 25). 164 Vgl. Carl Hamel AG an Wika Chemnitz, Hillig, am 16.3.1945 betr. neu gegründeten Ausschuss der Chemnitzer Industrie, Besprechung vom 14.3.1945 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.). 165 Vgl. Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar, Leha, an Wika Chemnitz, Hillig, am 14.3.1945 betr. Industrieausschuss (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.). 166 Vgl. Landesernährungsamt, Abt. B, an Landräte und Oberbürgermeister, Ernährungsämter, Abt. B, vom 16.3.1945, V/I l h/45 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz

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Den Zerfall der Einheit der Rüstungswirtschaft dokumentiert besonders eindrücklich eine Sitzung der sächsischen Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe. Sie trafen sich am 7. März, also einen Tag nach der völligen Zerstörung der Chemnitzer Innenstadt, im Rathaus des kleinen Ortes Tharandt, etwa zehn Kilometer entfernt vom durch die Bombenangriffe am 7. und 8. Februar 1945 ebenfalls völlig zerstörten Dresden. Dort gab der Vorsitzende der Rüstungskommission, Führer, einen Überblick über die aktuelle Lage: Materialien und Energie seien so knapp, dass selbst große Rüstungsfirmen Arbeiter entlassen oder beurlauben sowie die Arbeitszeiten verkürzen müssten. Führer forderte, umgehend alle Fertigungen außerhalb des Notprogramms stillzulegen, auch wenn dabei Proteste zu erwarten seien. Kohle solle für diejenigen Fertigungen verwendet werden, aus denen innerhalb der nächsten drei Monate frontverwendungsfähige Produkte erwartet werden könnten. Es gehe darum, „möglichst eine autarke Rüstungswirtschaft“ im Gau zu erhalten.167 Inwieweit Führer selbst noch an den Sinn seiner Anweisungen glaubte, ist zweifelhaft. Einerseits machte er deutlich, dass Sachsen inzwischen ziemlich auf sich allein gestellt war: „Die zentrale Lenkung“, so seine Bilanz, „ist nicht mehr in der Lage, eine straffe Lenkung nach den Produktionserfordernissen und Bedürfnissen der Front zu gewährleisten.“ Umso mehr beschwor er die Handlungsfähigkeit der Gauebene: „Es kommt daher entscheidend darauf an, dass in den Gauen mit Verstand und Verantwortung gearbeitet wird.“168 Die Anweisung Mutschmanns, dass die Rüstungskommission nicht mehr zusammentreten solle, besiegelte das Ende der Speer’schen Rüstungsorganisation in Sachsen.169 In der Sitzung gab sich der Rüstungskommissionsvorsitzende allerdings zumindest nach außen hin markig und entschlossen: Mit dem sächsischen Gau­ sturmleiter sei eine rücksichtslose Einberufung zum Volkssturm vereinbart. Unternehmensleitungen, die sich gegen den Abzug ihrer Arbeitskräfte wehrten, drohte Führer mit dem Standgericht. Er gab eine Weisung Mutschmanns bekannt, der zufolge Rückverlagerungen aus frontbedrohten Gebieten vermieden werden sollten, um die Bevölkerungsstimmung nicht weiter zu drücken. Seine Schlussworte sind angesichts der verheerenden Kriegslage nicht anders als realitätsblind zu nennen: „Die Situation, in der wir uns befinden, ist schwierig, aber noch zu meistern, wenn die Führungskräfte sich voll bewähren.“170 In Chemnitz nahmen unterdessen die örtlichen Wirtschaftshonoratioren ihr Schicksal in die eigenen Hände. Am 16. März 1945 trafen sich Vertreter Chemnitzer Firmen in der Wirtschaftskammer Chemnitz, um die Lage nach

1928–1945, 1571, Band VIII, Bl. 28); OB Chemnitz am 16.3.1945 betr. Ausgabe der Lebensmittelkarten (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 27). 167 Vgl. GWK Sachsen, Sitzung der Bezirksbeauftragten der Ausschüsse und Ringe am 7.3.1945 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.). 168 Ebd. 169 Vgl. ebd. 170 Ebd.

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den Fliegerangriffen zu besprechen und eine „Notgemeinschaft der Chemnitzer Wirtschaft“ zu gründen.171 Sie beschlossen, die seit den Bombenangriffen flüchtigen Arbeitskräfte wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzuführen. Daneben trieb sie die Sorge um die Arbeitsleistung der ausländischen Arbeiter: Sie seien zu kasernieren und „straff zu beaufsichtigen, um jede Bummelei und Drückebergerei nach Möglichkeit auszuschalten“. Außerdem beschloss die Notgemeinschaft, untereinander Fachkräfte auszutauschen und die Arbeitsämter zu veranlassen, mit Bekanntmachungen auf die Pflicht aller evakuierten Personen hinzuweisen, sich zur Arbeit zu melden. Eine Reihe weiterer Beschlüsse betrafen über die Arbeitskräftelenkung hinausgehende Fragen wie etwa die Alarmierung der Bevölkerung bei Luftangriffen oder die Kommunikation mit den Behörden über die Wiederherstellung der Strom-, Gas- und Wasserversorgung. Eine bemerkenswerte Verkennung der Lage im Gesamtreich spiegelt der Vorschlag, die Reichsbahn zu veranlassen, für den Abtransport von Flüchtlingen aus dem Osten zu sorgen, um dadurch freiwerdende Wohnungen Chemnitzer Obdachlosen zur Verfügung zu stellen. Schließlich bildete die Notgemeinschaft einen vierköpfigen Arbeitsausschuss, dessen Mitglieder unter anderen Heinrich Stelgens, Vizepräsident der Wirtschaftskammer und Vorstandsmitglied der sächsischen Textilmaschinenfabrik, und Richard Bruhn, Vorstandsmitglied der Auto Union, waren.172 Zehn Tage später setzten Schöne als Präsident und Hillig als Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftskammer alle Chemnitzer Firmen offiziell von der Gründung der „Notgemeinschaft“ in Kenntnis. Deren Bildung, so behaupteten sie, sei mit Zustimmung Mutschmanns erfolgt. Der Präsident der Kammer, Schöne, habe die Führung übernommen. Als zentrales Ziel definierte Schöne den Wiederaufbau der Chemnitzer Industrie und die Durchführung des trotz des sich abzeichnenden Zusammenbruchs immer noch geltenden Rüstungsnotprogramms. Außerdem sei die Bedeutung des Chemnitzer Raums als erstrangiges Wirtschaftszentrum zu erhalten.173 Tatsächlich scheint es Schöne in der Folgezeit gelungen zu sein, eine Schlüsselrolle bei der Arbeitskräftelenkung in der Stadt zu spielen. Forderungen des Oberbürgermeisters nach insgesamt mehr als 2 000 Arbeitskräften für den Wiederaufbau der Verkehrs- und Versorgungsanlagen der Stadt gingen an Schöne. In Zusammenarbeit mit dem Arbeitsamt erteilte die Kammer ihren Mitgliedsfirmen entsprechende Auflagen. Je nach Größe hatten die betroffenen

171 Wika Chemnitz, Linse, am 16.3.1945 betr. Wiederaufbau der Chemnitzer Wirtschaft (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.). 172 Wika Chemnitz, Linse, am 16.3.1945 betr. Wiederaufbau der Chemnitzer Wirtschaft (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.). 173 Wika Chemnitz an Chemnitzer Betriebsführer am 23.3.1945 betr.: Errichtung einer „Notgemeinschaft der Chemnitzer Wirtschaft“ (ebd.).

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Firmen ­zwischen 18 und 600 männliche deutsche Arbeitskräfte zur Verfügung zu ­stellen.174 Der Auto Union AG ermäßigte Schöne Anfang April persönlich die Zahl der zu stellenden Kräfte von 600 auf 200 und bestimmte gemeinsam mit einem Vertreter des Arbeitsamtes, welche Unternehmen stattdessen in die Pflicht genommen werden sollte.175 Weitere 8 200 Kräfte forderte die Reichsbahn für die Schadensbeseitigung im Verkehrsamtsbereich Chemnitz sowie für ihr örtliches Reichsbahnausbesserungswerk. Hierfür nahmen Wirtschaftskammer, Rüstungskommando und Arbeitsamt Chemnitz auch die Arbeitsämter Burgstädt, Flöha, Annaberg und Lugau in die Pflicht, die beauftragt wurden, zehn Prozent der ausländischen Arbeiter ihres Bezirks der Reichsbahn zur Verfügung zu stellen.176 Auch als der sächsische Rüstungskommissionsvorsitzende, Hans Führer, vom Chemnitzer Arbeitsamt Ende März die Freistellung von insgesamt 110 Maschinenschlossern, Drehern und Werkzeugmachern für den Einsatz bei der HASAG in Altenburg und Leipzig forderte – einem Unternehmen übrigens, bei dem Führer 1942 Vorstandsmitglied geworden war , wandte sich das Arbeitsamt an die Kammer. Hauptgeschäftsführer Hillig sollte sich bei Führer dafür verwenden, dass Chemnitz angesichts seiner verzweifelten Lage davon befreit werde, Facharbeiter nach auswärts abzugeben.177 Das Rüstungskommando Chemnitz, das bis dahin gemeinsam mit dem Arbeitsamt und der Kammer die Arbeitskräftelenkung wesentlich bestimmt hatte, war in dieser Phase offenbar nur noch eingeschränkt handlungsfähig. Zwar waren seine Vertreter bei zwei Besprechungen anwesend, die noch einmal die bisherigen Akteure einschließlich des NSDAP-Kreisamtes für Technik und der DAF versammelten.178 Jedoch war das Rüstungskommando selbst ausgebombt worden und bezog ein Ausweichquartier in Flöha,179 wodurch es angesichts ver174 Vgl. OB Chemnitz, Schmidt, an Wika Chemnitz, Schöne, am 24.3.1945 und 26.3.1945, jeweils betr. Arbeitseinsatz (ebd.); „Herrn Dr. Linse zur weiteren Veranlassung“, o. V., am 27.3.1945 (ebd.); AA Chemnitz am 27.3.1945 betr. Einsatz von Arbeitskräften zur Behebung von Fliegerschäden (ebd.); Fa. Biernatzki & Co. an Wika Chemnitz am 3.4.1945 betr. Notgemeinschaft der Chemnitzer Wirtschaft (ebd.). 175 Vgl. AA Chemnitz an GWK Sachsen am 4.4.1945 betr. Bereitstellung von Kräften für den Leiter der Sofortmaßnahmen (ebd.). 176 Vgl. AA Chemnitz, Besprechung am 22.3.1945 zur Beschaffung von Arbeitskräften für die Deutsche Reichsbahn (ebd.). 177 Vgl. Dr. Hillig vorzulegen. Betr. Freimachung von Arbeitskräften Chemnitzer Betriebe für überbezirklichen Ausgleich, o. V., am 27.3.1945 (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.). 178 Niederschrift der Sitzung am 19.3.1945 betr. Maßnahmen gegen Fliegerschäden, o. V. (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 1, unpag.). Am 7.4.1945 waren Kreis­ amtsleiter Anacker und der Vertreter der DAF-Kreiswaltung Chemnitz trotz Einladung nicht erschienen; vgl. Wika Chemnitz, Linse, Aktennotiz am 7.4.1945 betr. Beschaffung von Arbeitskräften für Wiederaufbauarbeiten (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.). 179 Vgl. RüKdo Chemnitz, Ausweichstelle Flöha, am 14.3.1945 an die Verbindungsoffiziere des RüKdo bei den Kreiskommissionen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.).

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nichteter Unterlagen und immenser Verkehrsprobleme vom Tagesgeschehen auf dem Chemnitzer Schauplatz weitgehend abgeschnitten gewesen sein dürfte. Hitlers berüchtigter Befehl „verbrannte Erde“ zur Zerstörung aller von feindlicher Besetzung bedrohten deutschen Produktions-, Kommunikations-, Verkehrs- und Versorgungskapazitäten vom 19. März, den er nach intensiver Intervention Speers Ende des Monats in einen Befehl zur Lähmung der Indus­trie umwandelte,180 scheint in Chemnitz keine Rolle gespielt zu haben. Im Gegenteil ist im Agieren des NSDAP-Kreisleiters und Wirtschaftskammerpräsidenten Schöne ebenso wie bei den Chemnitzer Unternehmen zur fraglichen Zeit ein entschiedener Wille zum Wiederaufbau der Stadt und zur Erhaltung der Chemnitzer Wirtschaftssubstanz erkennbar. Freilich war dies nur eine Seite des Verhaltens örtlicher NS-Funktionäre im Raum Chemnitz während der Schlussphase des Krieges. Der nationalsozialistische Terror der Kriegsendphase konnte sich wegen der späten Besetzung der Region durch die Alliierten besonders lange austoben. Die Gestapo ermordete Ende März 1945 sieben während eines Luftangriffes aus der Haft geflohene Kommunisten am Waldrand von Neukirchen bei Chemnitz.181 Die Todesmärsche, mit denen SS-Schergen KZ-Häftlinge vor den heranrückenden alliierten Truppen zunehmend zielloser durch das Reich trieben, forderten auch in der Untersuchungsregion fürchterliche Opfer.182 Viele Städte im nordwestlichen Chemnitzer Umland wurden bereits im April 1945 von amerikanischen Truppen besetzt, so etwa Glauchau, Waldenburg, Nieder-, Mittel- und Oberfrohna, Mittweida, Burgstädt, Hartmannsdorf, Limbach und Röhrsdorf zwischen dem 13. und 15. April.183 In Chemnitz dagegen zog sich das Ende noch bis in den Mai hinein.184 Mit dem durch das Anrücken der Amerikaner ausgelösten „Feindalarm“ am 13. April 1945185 trat die Auflösung der nationalsozialistischen Gewalt in der Stadt Chemnitz in ihre letzte Phase. Viele Unternehmen schränkten ihre Fertigung aufgrund der Lähmungsanweisungen ein oder schlossen ihre Betriebe

180 Zum Komplex Zerstörung und Lähmung der Kriegswirtschaft vgl. Janssen, Ministerium, S. 303–318 , insbes. 311–317; zu den Intentionen Speers siehe Henke, Besetzung, S. 427–433; Rolf-Dieter Müller, Der Zusammenbruch des Wirtschaftslebens und die Anfänge des Wiederaufbaus. In: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Band 10/2, S. 55–199, hier 84–100. 181 Vgl. Kreschnak, Herrschaft, S. 191; Dieter Kürschner (Hg.), Vernehmungsprotokoll des Gestapobeamten Obst aus Chemnitz, o. D. In: Erinnerungen an den Frühling 1945. Hg. vom Heimatverein Niederfrohna e. V., Neuausgabe Niederfrohna 2012, S. 162–165. 182 Vgl. Kap. VI.5. 183 Vgl. zu den einzelnen Orten: Erinnerungen an den Frühling 1945, insbes. die Karte: o. V., Vormarsch US-Armee 13.–15.4.1945. In: ebd., S. 100 f. 184 Vgl. zum Einmarsch in Chemnitz Eberhard Hübsch, Das Ende des II. Weltkriegs in Chemnitz – Eine Chronik der militärischen Ereignisse von März bis Mai 1945 im Gebiet von Chemnitz. In: Erinnerungen an den Frühling 1945, S. 166–185, hier 175–183. 185 Vgl. Johannes Meier, Luft-, Alarmmeldungen und Fliegerangriffe in Chemnitz von 1940 bis 1945. In: Richter (Hg.), Chemnitzer Erinnerungen 1945, S. 117–138, hier 138.

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ganz. Die Verwaltung der Stadt ließ auf Anordnung des Chemnitzer Kampfkommandanten Lebensmittel und Verbrauchsgüter auf sogenannte Kundenlisten ohne Abgabe von Marken an die Einwohner ausgeben, um sie dem Zugriff der Alliierten zu entziehen.186 Schon in März und April hatte es eine Serie von Einbrüchen in reichseigene Kartoffellagerhallen gegeben, die die Kriminalpolizei vor allem ausländischen Zivilarbeitern zuschrieb.187 Nunmehr kam es zu offenen Plünderungen durch Einheimische.188 Der NSDAP-Kreisleiter aus Chemnitz-Altendorf berichtete über die Geschehnisse in einem Getreidelager, aus dem sich die Einwohner mehrfach bedienten: „Am Sonntag begann der Ansturm von neuem und viel schlimmer. Nach Aussage Wissender sollen dort an die 30 000 Tausend [sic] Zentner gelagert haben. Ich war dem Ansturm nicht gewachsen, wo selbst die Polizei nicht nachkam. Ich schickte deshalb als Eilboten den Fabrikbesitzer P. in das Hotel Dost, wo der Leutnant L. war. Dieser eilte in kürzester Zeit herbei und brachte es durch seine Gewandtheit und Energie fertig, dass seine Hitlerjungen, mit Gewehren und Pistolen bewaffnet, die Menschen abdrängten. Inzwischen eilte P. in die Brotfabrik Union und erreichte, dass eine Reihe Wagen kamen und das Getreide wenigstens zum Teil noch retteten […]. Die an den Rand des Geländes gedrängte Menschenmenge, die allerdings kleiner wurde, als sie sah, dass sie nicht aufkam, erhielt die Zusage, dass jeder noch 20 Pfund erhalten würde, wenn sie ordentlich anträten. Obwohl die Menschen in dauernder Lebensgefahr schwebten, waren sie einfach nicht zu bändigen gewesen.“189 In Altchemnitz plünderten Einheimische und ausländische Arbeitskräfte eine Kartoffellagerhalle mit 1 000 Doppelzentnern Kartoffeln aus und nahmen gleich auch noch den Innenausbau, das Inventar, Fenster und Fensterläden, ja „sogar die Holzdeckel von den Senkgruben“ mit.190 Auch Reichsbahnwaggons, die wegen des Zusammenbruchs des Eisenbahnverkehrs auf den Chemnitzer Bahnhöfen standen, wurden reihenweise Opfer von Plünderungen. Allein am 15. April stellte die Reichsbahn den Raub von 2 058 Zentnern Kartoffeln fest.191

186 Vgl. Ernährungs- und Wirtschaftsamt Chemnitz, B., vom 14.4.1945 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 49); ders. am 15.4.1945 (ebd., Bl. 50); ders. am 15.4.1945, Ansage durch den Lautsprecherwagen (ebd., Bl. 50 RS). 187 Vgl. Ernährungs- und Wirtschaftsamt Chemnitz, K., am 11.4.1945 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1571, Band 8, Bl. 49). 188 Vgl. Eberhard Hübsch, Chemnitz am Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine militärhistorische Chronik vom 1. Februar bis 1. Juli 1945. In: ders., Chemnitzer Militärgeschichte. Mit einer Chronik der Kriegsereignisse 1945, Chemnitz 2009, S. 75–193, hier 124. 189 NSDAP-Ortsgruppenleiter Chemnitz-Altendorf an NSDAP-Kreisleitung Chemnitz und OB Chemnitz am 16.4.1945, Bericht über die Ausplünderung des Getreidelagers in der Sporthalle (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 51). 190 Vgl. Ernährungs- und Wirtschaftsamt Chemnitz, K., am 27.4.1945 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1571, Band 8, Bl. 53). 191 Vgl. Schreiben an das Verkehrsamt der Reichsbahn Chemnitz am 21.4.1945 betr. Plünderungen, o. V. (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1571, Band VIII, Bl. 68).

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Nach Aussage des zuständigen Reichsbahnoberrates waren „die aus dem Lager ausgebrochenen Russen“192 für den Beginn der Plünderungen verantwortlich. Bahn- oder Schutzpolizei und die dort eingeteilte Wache der Wehrmacht waren verschwunden. Den Kreisleiter Schöne, so der Reichsbahnoberrat, habe er nicht erreichen können. Er ließ daraufhin Käse, Marmelade, Mehl, Kartoffeln sowie Kohlen eigenmächtig an Reichsbahnbedienstete ausgeben.193 Auch der Werksdirektor des Reichsbahnausbesserungswerks (RAW) verteilte wenige Tage später Lebensmittel an Mitarbeiter, die angeblich während eines besonders schweren Feindbeschusses bei kriegswichtiger Arbeit ausgeharrt hatten. Gegenüber der Stadtverwaltung rechtfertigte er sich damit, dass es sich bei diesen Lebensmitteln um bei russischen Zivilarbeitern sichergestelltes Diebesgut gehandelt habe. Gleichzeitig behauptete er, er könne die ausländischen Arbeiter des RAW nicht mehr ernähren, weil er keine Bezugsscheine für Großverbraucher erhalten habe.194 Dies wirft ein Streiflicht auf die Ernährungssituation der sowjetischen Plünderer, von denen viele durch Hunger zum Mundraub getrieben worden sein dürften. Die Berichte offenbaren den völligen Zusammenbruch staatlicher Autorität im Angesicht des Feindes. Während das Sondergericht Chemnitz noch Anfang April einen 45-jährigen Bettler wegen wiederholten Diebstahls zum Tode verurteilt hatte,195 waren die Behörden gegenüber dem Massenaufstand der Bevölkerung hilflos. Der Bericht der Wehrmachtführung vermeldete aus der Stadt und ihren Vororten Plünderungen, Schwierigkeiten mit der Zivilbevölkerung sowie weiße Fahnen zum Empfang der alliierten Truppen.196 Zumindest ein Teil der Bevölkerung scheint in der gegebenen Situation eine Besetzung durch die Amerikaner eher begrüßt zu haben als eine Fortdauer des aussichtslosen Kampfes. Da half es auch nichts, dass Gauleiter Mutschmann am 20. April nochmals die Bevölkerung Sachsens mit markigen Parolen zum Widerstand bis zum Letzten aufrief und Unterwerfungsgesten wie das Heraushängen weißer Tücher aus dem Fenster mit dem Tode bedrohte.197 Die Amerikaner freilich kamen nicht nach Chemnitz, obwohl Truppen der 3. US-Armee Siegmar-Schönau kampflos

192 Aktennotiz vom 30.4.1945, o. V. (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 66 RS f., hier 66 RS). 193 Vgl. Wirtschafts- und Ernährungsamt, K., am 17.4.1945 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1571, Band X, Bl. 3); Aktennotiz vom 27.4.1945, o. V. (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 66); Aktennotiz vom 30.4.1945, o. V. (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 66 RS f.). 194 Vgl. Ernährungs- und Wirtschaftsamt Chemnitz, K., o. D. („Am 27. April habe ich …“) (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1571, Band X, Bl. 81); RAW Chemnitz, Werkdirektor, an Ernährungs- und Wirtschaftsamt Chemnitz am 1.5.1945 (StadtA Chemnitz, Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945, 1579, Bl. 69). 195 Vgl. Behring, Kriegsende, S. 231. 196 Vgl. ebd., S. 233 f. 197 Vgl. ebd., S. 232 f.

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Allmähliche Auflösung und Kriegsende

besetzten und an den Stadtgrenzen standen.198 Doch der Kampfkommandant verweigerte die Übergabe. Der darauffolgende Artilleriebeschuss kostete noch einmal 112 Menschenleben.199 Beinahe grotesk mutet das Bemühen der Wirtschaftskammer Chemnitz an, inmitten des Kampfgetümmels bürokratische Regelungen zur Gewährung von Ausfallvergütungen an die seit Mitte April beschäftigungslosen und damit auch nicht bezahlten Arbeiter und Angestellten zu beschließen und durchzusetzen. Am 2. Mai wies die Wirtschaftskammer Chemnitz die Unternehmen der Stadt an, den Mitarbeitern gemäß einer Reichsverordnung ihre Lohnausfälle zu erstatten und sich das Geld gegebenenfalls durch Antrag beim Arbeitsamt ersetzen zu lassen.200 In ihrer Antwort erklärte die Zahnradfabrik Chemnitz darauf hin, dass ein solches Ansinnen einen geregelten Zahlungsverkehr voraussetze. Das Unternehmen habe aber durch die Kriegslage Außenstände von zwei Monatsumsätzen, zudem sei das Chemnitzer Hauptwerk weitgehend zerstört. Derzeit könne es noch nicht einmal die Stammbelegschaft für die Instandsetzungsarbeiten bezahlen.201 Erst am 6. Mai 1945 nahm die Stadt Verhandlungen mit den Amerikanern auf. Inzwischen hatten auch die sowjetischen Truppen die Region Chemnitz erreicht. Tags darauf flüchtete der Oberbürgermeister und Teile der Verwaltungsspitze der Stadt. Nachdem eine amerikanische Patrouille am Morgen des 8. Mai mit Ernst Ring ein neues Stadtoberhaupt bestimmt hatte, wurde die Stadt an eine aus amerikanischen und sowjetischen Offizieren bestehende Verhandlungskommission übergeben.202 Der Krieg war auch in Chemnitz zu Ende.

198 Vgl. Uwe Müller, Die Entwicklung der Verwaltungsstrukturen in Chemnitz/Karl-MarxStadt 19451961. In: Chemnitz im 20. Jahrhundert. Hg. vom Chemnitzer Geschichtsverein e. V. in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Chemnitz, Band III: Politik – Verwaltung – Soziales, Chemnitz 2002, S. 81–107, hier 81. 199 Vgl. Behring, Kriegsende, S. 234; Kreschnak, Herrschaft, S. 192. 200 Vgl. Wika Chemnitz an die Betriebsführer der auf dem Umschlag bezeichneten Firmen am 2.5.1945 betr. Notgemeinschaft der Chemnitzer Wirtschaft. Zusammenfassung der Beschlüsse der letzten Sitzungen (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.). 201 Zahnradfabrik Chemnitz Paul Uhlich K.G. an die Wika Chemnitz am 2.5.1945 betr. Notgemeinschaft der Chemnitzer Wirtschaft. Gewährung von Ausfallvergütung (SächsHStAD, IHK Chemnitz, Geheimregistrande 2, unpag.). 202 Vgl. Hübsch, Chemnitz, S. 157–163; Müller, Entwicklung, S. 81 f.; Beate Häupel, Der Versuch eines Neubeginns 1945/46. In: Die SPD im Chemnitzer Rathaus 1897–1997. Hg. von der SPD-Fraktion im Chemnitzer Stadtrat, Hannover 1997, S. 111–122, hier 111.

VII. Resümee Die regionalen Bürokratien leisteten einen wesentlichen Beitrag dazu, dass die Nationalsozialisten ihren mörderischen Krieg gegen Europa und die Welt mehr als fünf Jahre lang führen konnten, so lange, bis die feindlichen Armeen mitten im Land standen. Entgegen bisherigen Auffassungen, vor allem in der Polykratietheorie, die für alle Verwaltungsebenen den Zerfall herkömmlicher bürokratischer Strukturen und damit einhergehende Ineffizienzen betonten, zeigt die Erforschung der Arbeitskräftelenkung am Beispiel der Region Chemnitz die Leistungsfähigkeit der regionalen Verwaltungen. Mit viel Eigeninitiative und durch eine intensive Zusammenarbeit der einzelnen Behörden und Institutionen gelang es den Verwaltungen in der Region Chemnitz und in Sachsen, kontinuierliche Arbeitsstrukturen herzustellen und die im Vergleich zu den Alliierten sehr knappen Arbeitskräfteressourcen bis 1944 im Rahmen ihrer Möglichkeiten flexibel und konzentriert auf die Belange des Regimes hin zu organisieren. Unter Berücksichtigung der in der Einleitung erläuterten methodischen Schwierigkeiten hat sich die vorliegende Studie der Frage der Effizienz nationalsozialistischer Arbeitskräftelenkung in der Region aus unterschiedlichen Richtungen angenähert. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, wie die regionalen Verwaltungsinstanzen mit den für die Reichsebene unstrittigen polykratischen Strukturen umgingen. Die Konkurrenzkämpfe, die bürokratischen Zerfallserscheinungen und die zunehmende Realitätsferne in der Reichsspitze setzten Rahmenbedingungen, mit denen die sächsische Gau- bzw. Landesverwaltung und die Behörden und Institutionen der Region Chemnitz tagtäglich umzugehen hatten. Unklare Unterstellungsverhältnisse, unverständliche und konkurrierende Weisungen sowie unrealistische Vorgaben prägten ihre tägliche Arbeit. Die vorliegende Untersuchung zeigt, wie die für die Arbeitskräftelenkung zuständigen regionalen Behörden und Institutionen dennoch ihre Leistungsfähigkeit bewahren und bis mindestens in den Sommer 1944 hinein den Krieg unterstützen und das NS-Regime stabilisieren konnten. Mehrere zentrale Faktoren lassen sich herausfiltern: Dazu gehörte zunächst das Bestreben, Schwierigkeiten im Alltag vor Ort aus eigener Initiative über die Kommunikation mit anderen gleichgeordneten Behörden zu lösen, statt sich allein auf den Dienstweg zu verlassen. Deutlich erkennbar ist das schon im ersten Kriegsjahr bei den Einberufungen, als das Rüstungskommando Chemnitz zum Beispiel durch Verhandlungen mit der Wehrersatzinspektion Chemnitz aus eigener Initiative Lücken in den Bestimmungen zur Uk-Stellung schloss. Schon bald beschränkte sich die Zusammenarbeit der Behörden nicht auf bilaterale Kontakte zur Klärung von Einzelfragen. Bereits im Frühjahr 1940 entstanden neue institutionelle Zusammenschlüsse, die viel weiter gehende Kooperationen ermöglichten. Solche „interinstitutionellen Koordinationsgremien“ (Hachtmann) stellten etwa die gemeinsamen Auskämmungskommissionen dar, die von den Arbeitsämtern, der Industrie- und Handelskammer und den Rüstungskommandos auf Initiative des Landes bzw. des Wehrkreises gebildet

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Resümee

wurden. Sie luden Unternehmen vor und untersuchten, wie viele Arbeitskräfte diese an die Rüstungsindustrie abgeben könnten. Gleichzeitig überprüften sie die Uk-Stellungen der Arbeitnehmer. Während die reichsbezogene Forschung als wesentliches Kennzeichen der NS-Arbeitseinsatzpolitik eine Häufung von Ad-hoc-Aktionen ausmachte, die sich aus den polykratischen Machtkämpfen ergaben und jeweils von unterschiedlichen Interessen geleitet wurden, ließ sich hingegen für den Chemnitzer Raum beobachten, dass die interinstitutionellen Koordinationsgremien die Kontinuität des Handelns und der Handelnden gewährleisteten. Im Sommer 1940 formierte sich in der Region und im Land Sachsen bzw. im Wehrkreis IV eine Arbeitsstruktur, die allen folgenden Umorganisationen zum Trotz im Wesentlichen bis 1944 erhalten blieb. Die grundlegende Tendenz dieser Arbeitsstruktur war es, die im jeweiligen Feld entscheidenden lokalen bzw. regionalen Herrschaftsträger zu vereinen. So gelten in der bisherigen reichsbezogenen Forschung die von Fritz Todt im Frühjahr 1941 neugeschaffenen Engpass- bzw. Prüfungskommissionen als scharfer institutioneller Bruch zu den vorausgehenden Arbeitsamtskommissionen. In Sachsen veranlasste freilich Rüstungsinspekteur Friedensburg, der Vorsitzende der neuen wehrkreisweiten Todt’schen Prüfungskommission, dass die bisherigen Arbeitsamtskommissionen auf lokaler Ebene weitgehend bruchlos in die eigentlich neu zu gründenden Sonder- bzw. Unterprüfungskommissionen übergingen, die bei erweiterter Aufgabenstellung im Kern das taten, was sie bisher auch getan hatten, nämlich die Unternehmen auf entbehrliche Arbeitskräfte und unberechtigte Uk-Stellungen hin zu überprüfen. Im Winter 1941/42 wurden auch die Wehrersatzdienststellen in dieses regio­ nale Netzwerk eingebunden: Als vor dem Hintergrund des sich länger als erwartet hinziehenden Russlandfeldzuges dringend neue Soldaten gebraucht wurden, sollten neu gegründete Wehrkreis- bzw. Freimachungsausschüsse auf der Mittelebene sowie Freimachungsunterausschüsse auf der unteren Verwaltungsebene neue Soldaten aus den Unternehmen freistellen. Im Wehrkreis IV agierte zu diesem Zweck die bisherige Todt’sche Prüfungskommission unter Vorsitz des stellvertretenden Generalkommandeurs als Freimachungsausschuss. Die praktische Leitung hatte auch hier Rüstungsinspekteur Friedensburg inne. Die bisherigen, vor allem für die Auskämmungen zuständigen Sonder- und Unterprüfungskommissionen arbeiteten nun auch als Freimachungsunterausschüsse, indem Vertreter des Wehrersatzwesens hinzugezogen wurden. Auch bei weiteren groß angelegten Einberufungsaktionen, den sogenannten Sondereinziehungsaktionen (SE-Aktionen) im Jahr 1943, griffen die sächsischen Verantwortlichen auf die bestehenden Organisationsstrukturen zurück. Auch hier wurde auf der Reichsebene die Gründung neuer Kommissionen vorgeschrieben. Und auch hier arbeiteten in Sachsen der auf der mittleren Ebene noch bestehende Freimachungsausschuss bzw. die Freimachungsunterausschüsse auf der unteren Ebene unter neuen Etiketten als Wehrkreiskommission bzw. Wehrkreishilfskommissionen einfach weiter wie bisher. Probleme, die sich in

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Chemnitz aus dem Wechsel der Federführung von den Arbeitsämtern zu den Wehrersatzbehörden ergaben, wurden durch Verhandlungen des Rüstungskommandos mit den letzteren beigelegt. Parallel dazu lässt sich beobachten, wie sich bei Sonderaktionen zur Arbeitskräftebeschaffung für die Rüstungsindustrie in der Region Chemnitz in der zweiten Kriegshälfte immer wieder dieselben Institutionen zu formellen oder informellen Ausschüssen zusammenfanden. Besonders interessant ist dies bei der Wissmann’schen Betriebsumsetzungsaktion 1943/44 zu beobachten, bei der vom Speerministerium eine Koordination zwischen Ämtern und Institutionen auf der mittleren und unteren Verwaltungsebene nicht vorgesehen war. Dies konterkarierten die Chemnitzer Arbeitskräftelenkungsinstitutionen, indem sie sich so oft trafen, dass sich für diese Treffen der Name „Umsetzungsausschuss“ einbürgerte. Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist daher, dass sich die Schaffung neuer und miteinander konkurrierender Ämter, Gremien und Sonderbevollmächtigter an der Reichsspitze sowie die von ihnen immer wieder ausgelösten Ad-hoc-Aktionen in der Arbeitskräftelenkung auf dem Weg nach unten in die Chemnitzer Provinz zwischen 1940 und 1944 in bereits bestehende und bewährte Arbeitsstrukturen verwandelten, die je nach Aufgabenzuschnitt leicht modifiziert wurden. Wenn sich Änderungen oder Unklarheiten in der Federführung ergaben, die durchaus Probleme und Konflikte verursachten, dann gelang es meist, diese durch Verhandlungen zu regeln. Die mittleren und unteren Verwaltungsebenen entwickelten damit ein erhebliches Maß an Selbstorganisationskräften im Sinne Ludolf Herbsts. Dadurch wurde vor Ort die vorhandene Sachkenntnis der Arbeitszusammenhänge bewahrt und eine relativ kontinuierliche Arbeit ermöglicht. Eine tragende Rolle bei diesen Prozessen, dies ist bei den vorstehenden Erläuterungen bereits deutlich geworden, spielte die Mittelebene. Sie wurde, auch weil entsprechende Vorarbeiten für Sachsen fast gänzlich fehlen, in der vorliegenden Arbeit relativ ausführlich behandelt. Die Analyse ergab, dass die Behörden und Institutionen des Wehrkreises IV/IVa bzw. des Gaus Sachsen gleichsam als Transformator zwischen „oben“ und „unten“ wirkten. In der Arbeitskräftelenkung sicherte in der ersten Kriegshälfte insbesondere die Rüstungsinspektion die Kontinuität der interinstitutionellen Koordinationsgremien ab. Ab 1942 erlangte die Rüstungskommission in dieser Hinsicht besondere Bedeutung. Sie entstand im Zuge der von Speer veranlassten Neuordnung der institutionellen rüstungswirtschaftlichen Zusammenarbeit in der Mittelebene und fasste alle für die Rüstungswirtschaft im Wehrkreis IV/IVa zuständigen Herrschaftsträger zusammen. Rüstungsinspektion und Rüstungskommission sorgten nicht nur für institutionelle Kontinuität in der Arbeitskräftelenkung. Nicht minder bedeutsam ist, dass sie Eigenmächtigkeiten der lokalen Ebene in vielen Fällen nach oben abdeckten. Auch hierfür ist die Wissmann-Aktion ein Paradebeispiel. Schritt für Schritt veränderten die mittlere und untere Verwaltung in engem ­Zusammenspiel

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die ­zentralen Vorschriften. Am Ende hatte sich in der Region Chemnitz die ursprünglich vom Ministerium Speer beabsichtigte Stilllegung ganzer Textilbetriebe und die Versetzung ihrer gesamten Belegschaft in die Rüstungsindustrie in eine Auskämmungsaktion verwandelt, die den wirtschaftlichen Gegebenheiten der Region viel eher Rechnung trug als die ursprünglich beabsichtigten Betriebsschließungen. Die Aktivität der Mittelebene ist daher ebenfalls als weiterer wichtiger Faktor für die Leistungsfähigkeit bürokratischer Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz zu betrachten. Sie förderte die Selbstorganisationskräfte der unteren Verwaltungsebenen, indem sie sich als eigener Machtfaktor im polykratischen Gefüge des NS-Staates profilierte. Als besonders einflussreiche Person tritt dabei der Rüstungsinspekteur des Wehrkreises IV/IVa, Walter Friedensburg, in der Kriegswirtschaftsorganisation hervor, der bis Sommer 1943 auch Vorsitzender der Rüstungskommission war. Ab 1943 war Hans Führer prägend, ein parteinaher Wirtschaftsmann (oder vielleicht besser ein wirtschaftsnaher Parteimann), der Friedensburg im Amt der Rüstungskommissionsvorsitzenden nachfolgte. Durch die Ausleuchtung der Aktivitäten der Mittelebene erhellt die Studie auch Aspekte der stabilisierenden Funktion der Gauebene für das Funktionieren des NS-Regimes. Kompliziert zu bewerten ist die Rolle der NSDAP-Parteiorganisation, nicht zuletzt wegen der schwierigen Quellenlage. Doch bietet die Untersuchung auch dafür einige Anhaltspunkte, sowohl für die bisher für die Kriegszeit weitgehend unerforschte sächsische Ebene als auch für die ebenfalls kaum untersuchte Region Chemnitz. Die Parteivertreter in Ausschüssen und Kommissionen der Mittelebene scheinen eher unauffällig gewesen zu sein, wie etwa Gauwirtschaftsberater Kirmse in der Rüstungskommission. Doch bezeichnete sich die sächsische Rüstungskommission ungeachtet des Übergewichts der Vertreter des Speerministeriums als Organ des Gauleiters Mutschmann. Mit ihm konferierte ihr Vorsitzer eigenen Angaben zufolge wöchentlich. Außerdem war Mutschmann wie alle Gauleiter ab April 1942 Sauckels regionaler Bevollmächtigter für den Arbeitseinsatz. Ab 1943 nahmen Vertreter Mutschmanns, allerdings in dessen Funktion als Reichsverteidigungskommissar, in der sächsischen Wehrkreiskommission Einfluss auf die Einberufungen. Zudem sind ab 1943 vermehrt steuernde Eingriffe des Gauleiters in die Arbeitskräftelenkung überliefert. So bremste er im Frühjahr 1943 die Stilllegungen in Handel und Handwerk. Spätestens im Sommer 1943 begann sein Kampf gegen die Verlagerung außersächsischer Unternehmen in seinen Gau. Kurze Zeit später verweigerte er sich der Anweisung Sauckels, die Federführung der AZS vom Landeswirtschaftsamt auf das Landesarbeitsamt zu übertragen. Bei der Wissmann’schen Betriebsumsetzungsaktion verteidigte er die Eigenmächtigkeiten seiner Landesbehörden und ihres lokalen Unterbaus gegen das Speerministerium. Auch wenn bei der Ämterfülle Mutschmanns häufig nicht ganz klar war, auf welcher institutionellen Basis er handelte, so ist davon auszugehen, dass in der Mittelebene in der Arbeitskräftelenkung nichts gegen seine Weisun-

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gen und damit gegen die sächsische Parteispitze geschah. Aus regionaler Sicht sind seine Eingriffe in die Arbeitskräftelenkung auch nicht einfach als Ausdruck eines sächsischen Partikularismus anzusehen, selbst wenn sie sich in der Regel gegen Berliner Vorschriften und Weisungen richten. Vielmehr vertrat Mutschmann in den überlieferten Fällen meist die Anliegen seiner Fachleute. In der Region Chemnitz waren die NSDAP-Parteiorganisationen auf vielfältige Weise in die Arbeitskräftelenkung eingebunden, sei es durch weltanschauliche Expertisen der Kreisleiter oder Kreiswirtschaftsberater bei den Stilllegungen oder durch Propaganda-Aktionen für die Frauenfabrikarbeit. Insbesondere, wenn es um Betriebsschließungen ging, die den schärfsten Eingriff der Kriegswirtschaft in die Eigenständigkeit der Unternehmen darstellten, waren Parteivertreter wie etwa die NSDAP-Kreiswirtschaftsberater oder die Vertreter der DAF-Kreiswaltungen in die interinstitutionellen Koordinationsgremien einbezogen. Generell scheinen die Parteivertreter bei Stilllegungen deutlich mehr Einfluss geltend gemacht zu haben als bei den Auskämmungen. Solange es nicht um existenzielle Entscheidungen für ein Unternehmen ging, konnten die fachlich zuständigen Ämter und Institutionen vor Ort bis in das Jahr 1944 in der täglichen Arbeit offenbar relativ frei und auf der Grundlage ihrer Sachkompetenz entscheiden. Auch dies kann in gewissem Maße als Erfolgsfaktor für die lokale Arbeitskräftelenkung gelten: Es gelang, die Parteivertreter in Entscheidungen einzubinden, ohne dass die sachkundigen Abwägungen der Fachbehörden allzu sehr darunter litten. Die leitenden Mitarbeiter der unteren Fachbehörden erscheinen in den Quellen als engagierte Beamte und Angestellte, die unklare und widersprüchliche Weisungen eigenständig interpretierten, die bereit waren, mit anderen Ämtern und Institutionen zu kooperieren, die auch, unter Umständen in überinstitutio­ neller Zusammenarbeit, Anordnungen kreativ auslegten, wenn es ihrem eigenen Sachverstand geboten schien. Es ist jedoch problematisch, diese Menschen als reine Fachleute anzusehen, die die Konsequenzen ihres Tuns nicht hätten absehen können. Nicht nur, dass sie mit Engagement dafür arbeiteten, Hitlers Krieg zu gewinnen. Sie agierten als Teil des Verwaltungszusammenhangs, der die ungeheuren Verbrechen des NS-Regimes ermöglichte. Sie machten zum Beispiel Unterkünfte für die in der Region eingesetzten KZ-Häftlinge ausfindig und waren so an der Errichtung der KZ-Außenlager in der Region beteiligt. Die Arbeitsämter organisierten zusammen mit den Rüstungskommandos die Verteilung der Zwangsarbeiter an die Unternehmen und waren über ihre Kontakte mit der für die Lager zuständigen DAF und der Gestapo auch an ihrer Überwachung beteiligt. Zwar wichen die offenbar stark von der Propaganda bestimmten Einschätzungen von Arbeitsämtern und Unternehmern etwa gegenüber den sowjetischen Arbeitnehmern mit der Zeit einer Beurteilung, die die Leistungen der ausländischen Arbeitskräfte stärker würdigte. Allerdings hieß dies nicht, dass die ideologisch bestimmte Sichtweise aufgegeben wurde. Es gibt Belege dafür, dass die gute Arbeitsleistung vieler „Ostarbeiter“ einer angeblichen Zivilisierung durch die deutschen Behörden und Unternehmen zugeschrieben

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wurde. Der Zwangsarbeitereinsatz als solcher, das ist in den Quellen deutlich, wurde als integraler und notwendiger Bestandteil der Kriegswirtschaft akzeptiert. Ja, mehr noch: Die in den Berichten der Arbeitsämter ab 1942 immer wieder formulierten Forderungen nach der Zuweisung von noch mehr Zwangsarbeitern zeigen, dass die Fachleute deren Einsatz zumindest zeitweise als das zentrale Mittel zur Lösung der Arbeitskräfteknappheit begriffen. Arbeitsämter, Rüstungskommando und DAF in der Region Chemnitz vertraten zwar schon sehr bald nach Beginn des Einsatzes den eher pragmatischen Ansatz derjenigen, für die eine Ausbeutung der Arbeitskraft der Zwangsarbeiter auch ihre ausreichende Ernährung und Versorgung voraussetzte. Die Quellen zeigen jedoch, dass zum einen das von der Propaganda verbreitete Bild der sowjetischen Bürgerinnen und Bürger als primitive, anspruchslose und zivilisationsferne Menschen dazu diente, ihnen eine angemessene Ernährung und ausreichende materielle Versorgung vorzuenthalten. Zum anderen schoben die Behörden angesichts der immer knapper werdenden Ressourcen die Verantwortung für die Versorgung der Zwangsarbeiter im Verlauf des Krieges allein den Unternehmen zu und erklärten sich selbst für unzuständig. Damit waren die verschleppten Menschen in hohem Maße der Organisationsfähigkeit, aber auch der Willkür der Unternehmen ausgeliefert, für die sie arbeiten mussten. Ein besonders augenfälliges Beispiel dafür bieten in der Region Chemnitz die beiden Entbindungs- und Säuglingslager der Baumwollspinnerei Gückelsberg William Schulz AG in Flöha und Schweizerthal. Das Unternehmen, das als Textilunternehmen wenig Chancen hatte, von den Behörden Zwangsarbeiter zugewiesen zu bekommen, besorgte sich seine Arbeitskräfte, indem es mit behördlicher Genehmigung schwangere Zwangsarbeiterinnen aufnahm, sie und ihre Kinder während und nach der Geburt versorgte und die Mütter nach der Entbindung im eigenen Betrieb arbeiten ließ. Die Arbeitsämter griffen nur ein, wenn zwischen zwei Arbeitgebern ein Dissens darüber entstand, welche der beiden die Zwangsarbeiterin nach der Geburt ihres Kindes weiterbeschäftigen dürfe. Auch bei anderen Zwangsarbeitern beschränkten sich die Behörden auf gelegentliche Kontrollen bei Widersetzlichkeiten, etwa bei der Flucht von Arbeitern. Und auch wenn die Mitarbeiter von Rüstungskommando, Arbeitsämtern, IHK und DAF dabei durchaus immer einmal wieder Missstände anprangerten und persönliche Notlagen von Zwangsarbeitern konzedierten, der Einsatz der Gestapo und die Überstellung von Zwangsarbeitern ins Konzentrationslager waren auch in der Region Chemnitz gängige Praxis. Um die Auffassung zu überprüfen, wonach das Engagement der Verwaltungsmitarbeiter auf der regionalen Ebene vor allem dazu gedient habe, durchgreifende Maßnahmen in der Kriegswirtschaft zu verhindern, wurden neben der behördlichen Organisation und Zusammenarbeit weitere Effizienzkriterien herangezogen. Dabei wurde, anders als dies in unausgesprochener Weise in vielen älteren Studien geschieht, nicht vom Maßstab einer ideal und ohne Reibungen funktionierenden Kriegswirtschaft ausgegangen. Vielmehr ordnet sich die vorliegende Untersuchung in die Perspektive der neuesten Forschung ein,

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der zufolge die Ressourcen des Deutschen Reiches gegenüber denjenigen der Alliierten von vornherein sehr begrenzt waren und die alliierte Überlegenheit sich in dieser Hinsicht im Laufe des Krieges als immer drückender erwies. Ein erstes Indiz für die Leistungsfähigkeit der Verwaltungen in der Region Chemnitz ist der Grad der Erfüllung der vom Reich vorgegebenen Quoten für Einberufungen und Auskämmungen. Ab 1941 bekamen die regionalen Verantwortlichen vom Reich feste Quoten vorgegeben, vor allem für die Einberufung von Soldaten für den Militärdienst und für die Auskämmungen, durch die Mitarbeiter von Konsumgüterunternehmen in Rüstungsbetriebe versetzt werden sollten. Betrachtet man die Einberufungen, so wurden im Winter 1941/42 in der Region Chemnitz wie auch in Sachsen alle vorgegebenen Quoten erreicht oder fast erreicht. Ebenso war es im Mai 1942. Danach erlahmte der Eifer, was möglicherweise mit dem Übergang der Rüstungsinspektionen und Rüstungskommandos ins Ministerium Speer zusammenhing. Der Schutz der Rüstungswirtschaft stand jetzt eher im Vordergrund. Im zweiten Halbjahr 1942 wurden aber wehrkreisweit immerhin noch einmal 27 000 Männer für die Wehrmacht freigestellt, ohne dass konkrete Quoten vorgegeben worden waren. Bei den Sondereinziehungsaktionen des Jahres 1943 erfüllten die Region Chemnitz und der Wehrkreis insgesamt noch einmal nahezu alle Quoten, obwohl das Ersatzwesen sich bereits im Stadium der Improvisation befand, was man auch daran sieht, dass im Herbst 1942 bereits die 18-Jährigen gemustert und im Frühjahr 1943 auch die 43- bis 45-jährigen Männer eingezogen wurden. Bei den Auskämmungen waren die Todt’schen Kommissionen im Jahr 1941 recht erfolgreich. Zahlen für die Region liegen leider nicht vor. Im gesamten Wehrkreis waren bis zum Jahresende 1941 immerhin 84 Prozent der geforderten 55 000 Arbeitskräfte freigestellt und bis Jahresende 65 Prozent versetzt. Im Jahr 1942 scheinen die Auskämmungsaktivitäten eher vor sich hingedümpelt zu haben, was auch mit der starken Belastung der entsprechenden Ausschüsse mit den Einberufungs- und den noch zu behandelnden Stilllegungsaktionen zusammengehangen haben mag, ebenso damit, dass ab Sommer 1942 in stark vermehrtem Umfang ausländische Zwangsarbeiter in die Region gebracht wurden. Im Winter 1942/43 ist bei den Auskämmungen die Rücksichtnahme der IHK Chemnitz und des Chemnitzer Arbeitsamtes auf die regionale Wirtschaft unverkennbar. Einen neuen Schub erhielten die Auskämmungsaktivitäten im Sommer 1943 mit der von Sauckel verantworteten AZS-Aktion, weil das Regime befürchtete, der Zustrom von Zwangsarbeitern werde abnehmen. Dabei stellten die Ausschüsse der Region allein aus dem Gebiet des Arbeitsamtes Chemnitz zwischen Juli und September 1943 rund drei Viertel der geforderten 6 000 Arbeitskräfte frei. Die anderen Arbeitsamtsbezirke der Region erreichten eine Quotenerfüllung von 90 bis 100 Prozent. Bis zum Ende der ersten AZS-Aktion im November wurden in ganz Sachsen die geforderten 46 000 Arbeitskräfte freigestellt. Insgesamt gesehen sind also Konjunkturen bei den Einberufungen und Auskämmungen nicht von der Hand zu weisen. Insoweit lässt sich die

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­ prunghaftigkeit der Politik der Reichsspitze bis in die Region hinein verfolgen. S Zum Teil dürften die Konjunkturen auch der Preis für die starke Kontinuität bei den interinstitutionellen Gremien gewesen sein. Wenn Einberufungen oder Stilllegungen deren Aktivitäten stark banden, standen etwa die Auskämmungen eher zurück. Doch ist es sinnvoll, sich die Rahmenbedingungen für die Handelnden zu vergegenwärtigen: Häufig änderten sich die Quotenvorgaben im Verlauf einer Aktion, insbesondere in der zweiten Kriegshälfte, etwa bei den Sonderziehungsaktionen und der AZS. Unklare und sich ständig verändernde Regelungen über zu schützende Fertigungen erschwerten insbesondere das Geschäft bei den Einberufungen, und zwar von Beginn des Krieges an. Nicht selten existierten auch gegensätzliche Anweisungen für unterschiedliche Instanzenzüge, die dann durch Verhandlungen vor Ort aufeinander abgestimmt werden mussten. Wenn diese Umstände mit einbezogen werden, ist das Maß der Quotenerfüllung in der Region Chemnitz und im Land Sachsen als erstaunlich hoch zu bewerten. Lediglich die Stilllegungsaktionen sind, zumindest wenn man sie an den vorgegebenen quantitativen Zielen misst, durchwegs als krasse Fehlschläge zu bezeichnen. Die Erfüllung von Quoten besagt allerdings nichts darüber, ob diese im Sinne kriegswirtschaftlicher Effizienz vernünftig oder auch nur realistisch waren. In diesem Sinne ist das vordergründige Scheitern der Stilllegungsaktio­ nen näher zu betrachten: Hier scheinen sich auf den ersten Blick die bisherigen Bewertungen hinsichtlich regionaler Egoismen zu bestätigen. Auch in der R ­ egion Chemnitz, wo die Behörden und Institutionen etwa bei Auskämmungen und bei Einberufungen engagiert vorgingen, zögerten sie bei Betriebsschließungen. Alle Stilllegungsaktionen waren in quantitativer Hinsicht nahezu erfolglos, das heißt, es erfolgten sehr viel weniger Schließungen als zu Beginn beschlossen und es wurden relativ wenige Arbeitskräfte in andere Unternehmen versetzt. In der Regel mutierten die Stilllegungs- zu Auskämmungsaktionen, indem dem von der Stilllegung bedrohten Unternehmen eine Anzahl Arbeitskräfte abgezogen wurde und es mit einer Rumpfbelegschaft weiterproduzieren durfte. Das augenfälligste Beispiel hierfür ist die Wissmann’sche Betriebsumsetzungsaktion 1943/44, bei der sich dies durch die vergleichsweise gute Quellenlage geradezu wie in einem Laborversuch beobachten lässt. Auffällig ist, dass die Unternehmen und ihre betroffenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Auskämmungen und Einberufungen in vielen Fällen offenbar ohne allzu große Proteste hinnahmen. Ungeachtet des Widerstrebens Einzelner scheint es in der Region Chemnitz einen gewissen Grundkonsens gegeben zu haben, dass der Krieg solche Maßnahmen erfordere. Dazu trug bei, dass sie als temporär begriffen wurden. Es herrschte die Erwartung, dass die Unternehmen nach dem Kriegsende, das sie in Folge der NS-Propaganda immer als unmittelbar bevorstehend erwarteten, wieder zum „business as usual“ zurückkehren konnten. Demgegenüber löste die drohende Betriebsschließung bei allen Unternehmern wütende Proteste aus, weil sie diese als eine endgültige Maßnahme und als Existenzverlust begriffen. Daher gelang es den Firmeninhabern meist, eine Reihe ihnen verbundener Personen wie Kunden, örtliche Vertreter

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der Wirtschaftsgruppen oder gar Vertreter der örtlichen DAF oder der NSDAP dagegen zu mobilisieren. Bei den Stilllegungen wurde besonders deutlich, wie eng verflochten Wirtschaft, Gesellschaft und Verwaltung der Region waren. Die Verantwortlichen in Verwaltung und Partei, die zum Teil selbst Unternehmer waren wie etwa Hans Schöne, der Präsident der IHK Chemnitz, oder ein Teil der Offiziere des Rüstungskommandos Chemnitz, konnten sich diesen Parteinahmen häufig nicht entziehen und wollten es vielleicht auch gar nicht. An einer Reihe von Aussagen regional Verantwortlicher lässt sich belegen, dass sie sich denjenigen Zwangsmaßnahmen verweigerten, durch die sie die wirtschaftliche Struktur und damit die Identität der Region und ihrer Gesellschaft nachhaltig, also über das Kriegsende hinaus, beschädigt und damit bedroht sahen. So wies der sächsische Rüstungsinspekteur Friedensburg 1941 die Todt’schen Sonder- und Unterprüfungskommissionen an, Totalstilllegungen möglichst zu vermeiden. Während der Stilllegungen im Herbst 1942 äußerte ein Flöhaer DAF-Vertreter, er bedauere, dass wieder einmal die Textilindustrie von den Stilllegungen so stark betroffen sei und hoffe, dass sie nach dem Kriegsende Versäumtes aufholen könne. Im Januar 1943 rühmte sich Walter Linse, der Mitarbeiter der IHK Chemnitz, diesmal sogar mit Bezug auf die Auskämmungen, dass es ihm gelungen sei, eine weitere Reduzierung der Strumpfindustrie vorerst zu vermeiden. Bremste regionaler Egoismus also tatsächlich wichtige Initiativen des Reiches zur Beschaffung von Arbeitskräften für die Rüstung aus? Bisher fehlt in der Forschung eine Analyse der Frage, wie sinnvoll im Hinblick auf kriegswirtschaftliche Effizienz Betriebsschließungen tatsächlich waren. In einer Reihe von historischen Untersuchungen wird implizit unterstellt, dass einige wenige Großunternehmen rationeller produzieren als viele kleinere Betriebe sowie, dass eine Konsumgüterindustrie, noch dazu wenn sie klein- und mittelbetrieblich organisiert ist, für eine effiziente Kriegsführung unwichtig sei. Daher scheinen Stilllegungen, zumal in der Konsumgüterindustrie, per se gerechtfertigt und jeder Widerstand dagegen wird als lokaler oder regionaler Egoismus gedeutet. Die genaue Betrachtung der konkreten historischen Situation in der Region Chemnitz lässt jedoch auch andere Schlüsse zu. Schon zu Beginn des Krieges hatte die Reichsregierung mit ihrem Bekenntnis zur „Streuung“ von Wehrmachtsaufträgen Rahmenbedingungen gesetzt, die eher der klein- und mittelbetrieblichen Struktur in Sachsen entsprachen als eine Konzentration der Rüstungsfertigung auf wenige große Unternehmen. Am Beispiel der Textilindustrie konnte verdeutlicht werden, dass die Konsumgüterindustrie der Region mindestens in der zweiten Kriegshälfte in hohem Maße mit Heeresaufträgen beschäftigt war oder mit Exportaufträgen, die Devisen für den Erwerb kriegsnotwendiger Güter beschafften. Nicht nur die Wissmann-Aktion im Jahr 1943/44 zeigte, dass viele Arbeitskräfte, die bei Stilllegungen frei geworden wären, wegen ihres hohen Alters, wegen körperlicher Gebrechen, wegen der Abgeschiedenheit ihres Wohnortes oder wegen ihrer familiären Verpflichtungen gar nicht oder höchstens sehr eingeschränkt in der Rüstung hätten beschäftigt werden können.

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Das Argument der örtlichen Verwaltungen, auf diese Arbeitskräfte nicht völlig verzichten zu wollen und zu können, erscheint angesichts der immer wieder konstatierten enormen Arbeitskräfteknappheit nicht nur vorgeschoben. Dies gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass bei der Wissmann-Aktion das ursprüngliche Vorhaben Speers misslang, für die im Reich zu schließenden Konsumgüterbetriebe Ersatz im besetzten Frankreich zu schaffen. Darüber hinaus verursachte der Widerstand gegen die Stilllegungen immer wieder Reibungen und Ineffizienzen, die bei den Auskämmungen nicht zu beobachten waren. Nicht umsonst bilanzierte etwa Walter Linse als Mitarbeiter der IHK Chemnitz, dass die Wissmann’sche Betriebsumsetzungsaktion im Vergleich zur offiziellen Auskämmung außerordentlich zeitraubend und langwierig sei, ohne dass sie mehr Nutzen für den Arbeitseinsatz bringe. Dabei soll nicht verkannt werden, dass die Stilllegungsforderungen der Reichsebene etwaigen Widerstand der betroffenen Unternehmen gegen die Abgabe von Arbeitskräften per Auskämmung möglicherweise erheblich senkten. Nur vordergründig lassen sich die Stilllegungsaktionen also als völlige Fehlschläge deuten. Angesichts der vom Reich vorgegebenen Rahmenbedingungen, des Widerstandes der betroffenen Unternehmen und der Gefahr, dass die Arbeitskräfte geschlossener Betriebe nirgendwo anders mehr eingesetzt werden konnten, waren Auskämmungen ein der Situation angemesseneres Mittel als Betriebsschließungen. Indem die örtlichen Verantwortlichen die Stilllegungen vielfach in Auskämmungen umwandelten, sorgten sie also für den größtmöglichen Nutzen der Aktionen für die Kriegswirtschaft. Als weiterer Gradmesser für die Unfähigkeit des Regimes, die notwendigen Arbeitskräfte aus der einheimischen Bevölkerung zu rekrutieren, wurde lange die Tatsache angesehen, dass es dem Regime nicht gelang, die Zahl der Frauen wesentlich zu steigern, die einer Erwerbsarbeit nachgingen. Auch in der Region Chemnitz ging die Zahl der beschäftigten Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten bis 1942 zurück und lag im Sommer 1944 kaum über der von 1939. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Frauenerwerbstätigkeit in der Untersuchungsregion bereits 1939 im Reichsvergleich eher hoch lag. Auch fehlen in den Zahlen für die Region diejenigen Frauen, die per Dienstverpflichtung in die Rüstungsindustrie anderer Reichsteile oder zum Militärdienst abgeordnet wurden. Zahlenmäßig lassen sich diese Verluste an weiblicher Arbeitskraft für die Region mangels Quellen nicht beziffern. Deutlich wurde in der Untersuchung aber, dass von Kriegsbeginn an in allen Arbeitsamtsbezirken kontinuierlich Kräfte abgestellt wurden. Einzelne überlieferte Zahlen bewegen sich im zweibis dreistelligen Bereich pro Monat und Arbeitsamtsbezirk. Jenseits der reinen Zahlen ist, ausgehend von Ergebnissen der jüngeren Forschung, zu berücksichtigen, dass Frauen im NS-Regime eine Vielzahl von Funktionen ausübten, die zwar nicht bezahlt wurden, dennoch aber für das Funktio­ nieren von Kriegsgesellschaft und Kriegswirtschaft unerlässlich waren. Auch für die Region Chemnitz ließ sich zeigen, wie aufwendig und zeitraubend sich die private Haushaltsführung bei der zunehmenden Knappheit vieler Waren

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gestaltete. Vielen Frauen blieb es überdies individuell überlassen, die Beaufsichtigung ihrer Kinder während der Arbeitszeit zu organisieren. Mitzudenken sind schließlich die hier nicht untersuchten ehrenamtlichen Funktionen gerade der Frauen der Mittelschicht. Dieser Bereich weiblicher Tätigkeiten ist in seinem quantitativen Ausmaß und seiner Bedeutung für die NS-Kriegsführung nur schwer einzuschätzen, sodass sich die Höhe der überhaupt für die Rüstungswirtschaft verfügbaren weiblichen Arbeitskräftereserven kaum sinnvoll bestimmen lässt und Rückschlüsse auf ihre Ausnutzung kaum möglich sind. An der Sprache der Quellen ist zu erkennen, dass die Arbeitsämter die genannten weiblichen Aufgabenfelder gar nicht wahrnahmen oder die Berufung auf sie als reine Ablenkungsmanöver werteten. Der Blick der Arbeitsämter war allein auf die Arbeitskräfterekrutierung für die Rüstung gerichtet. Sie behandelten, wie die herablassende Diktion beispielsweise der Lugauer Arbeitsamtsberichte zeigt, Frauen vielfach wie kleine Kinder, deren Sichtweise nicht ernstzunehmen ist. Die Rhetorik der Quellen, die Leistungen von Frauen außerhalb der Berufsarbeit nicht anerkannte, verzerrt auch noch in der Rückschau die erreichten Rekrutierungserfolge. So verschwindet dahinter beispielsweise die Tatsache, dass sich durch die Meldepflicht in der Region zwischen dem Frühjahr 1943 und Sommer 1944 die Zahl der einheimischen Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten in der Region um rund 12 000 erhöhte. Von der Größenordnung her entsprach dies der Zunahme der Zahl der Zwangsarbeiter im selben Zeitraum, wenngleich natürlich die einheimischen Frauen vorwiegend Teilzeit arbeiteten und daher viel weniger Arbeitsstunden ableisteten. Schließlich bietet der Strukturwandel der Wirtschaft und damit der Arbeiterschaft während der Kriegsjahre wie kaum ein anderer Indikator einen sehr eindrücklichen Beleg dafür, wie ausgiebig die Ressourcen der Region Chemnitz ausgeschöpft wurden. So ließ sich anhand der Arbeitsamtsbezirke Chemnitz und Annaberg nachweisen, dass die Zahl der die Region bis 1939 dominierenden Textilarbeiter bis 1944 um rund die Hälfte sank, während die Zahl der Metall- oder Metallhilfsarbeiter erheblich anstieg. Die zurückgebliebenen Arbeiterinnen und Arbeiter in der Textilindustrie waren den qualitativen Quellen zufolge in der großen Mehrheit entweder in irgendeiner Weise erwerbsbeschränkt oder bereits über das Rentenalter hinaus. Dass die Region Chemnitz ab 1942, also seit der Zeit, in der ihre Bedeutung für die Kriegswirtschaft anstieg, bei der Zuweisung ausländischer Zwangsarbeiter stärker berücksichtigt wurde als zuvor, ist zwar nicht unbedingt ein Verdienst der regionalen Behörden, spricht aber ebenfalls eher für eine rational gesteuerte Verteilung als für kriegswirtschaftliche Ineffizienz. Die Verteilung der ausländischen Zwangsarbeiter, die die regionalen Behörden vornahmen, privilegierte ebenfalls die rüstungswirtschaftlich wichtige Metallindustrie. Dort wurden Arbeitskräfteverluste in vielen Fällen durch die Zuweisung ausländischer Fremdarbeiter zumindest teilweise ausgeglichen, während Textilunternehmen nur wenige oder gar keine Zwangsarbeiter beschäftigen konnten. Dabei ist zu bedenken, dass die so geschrumpfte Textilindustrie in vielen Fällen

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­ usrüstungsgegenstände für die Front produzierte und allenfalls zu einem kleiA nen Teil für den privaten Konsum tätig war. Die Tatsache, dass die deutschen Truppen gegen Ende des Krieges immer unzureichender bekleidet waren, zeigt, dass die Leistungsfähigkeit der Textilindustrie deutlich unter das der Kampfkraft der Truppe zuträgliche Maß reduziert worden war. Zu guter Letzt ist die Tatsache, dass fast 50 Prozent der männlichen Arbeitnehmer bis zum Sommer 1944 die Region verließen, um entweder an die Front oder zu Rüstungsunternehmen in andere Regionen zu wechseln, ein signifikantes Zeichen für das hohe Ausmaß der Mobilisierung der Bevölkerung für den Krieg. Die für Front und Rüstungswirtschaft gleichermaßen besonders interessante Altersgruppe zwischen 17 und 35 machte bereits im Mai 1943 nur noch sieben Prozent der Belegschaft der vom Rüstungskommando Chemnitz betreuten Betriebe aus. Davon war ein Drittel jünger als 20 Jahre und damit in einem Alter, in dem junge Männer vor dem Krieg noch nicht als wehrpflichtig gegolten hatten. Bereits zu dieser Zeit, zwei Jahre vor Kriegsende, mussten die Reserven an frontverwendungsfähigen Männern in der Region als ausgeschöpft gelten. Die in den Quellen allgegenwärtige Rede von der Arbeitskräfteknappheit und den Schwierigkeiten der Organisation der Arbeitskräftelenkung verdeckt die Erfolge des Regimes bei der Ausbeutung der Ressource „Mensch“. Das Ergebnis des Blicks in die Region ist, dass es trotz der polykratischen Strukturen auf der Reichsebene gelang, in einem solch beachtlichen Umfang Arbeitskräfte und Soldaten zu rekrutieren, dass der Krieg selbst angesichts der spätestens ab Ende 1942 offensichtlichen Überlegenheit der Alliierten noch lange fortgeführt werden konnte. Die Untersuchung zeigt allerdings auch, dass die regionale Kooperation zu bröckeln begann, als die örtlich Handelnden das Gefühl bekamen, dass die Arbeitskräfteressourcen nicht mehr ausreichten, um beide Bereiche, Front und Rüstung, wenigstens einigermaßen sinnvoll zu bedienen. Im Herbst 1943 lassen sich anhand der sogenannten Kalenderaktion erste ernste Irritationen in der Zusammenarbeit der regionalen Verantwortlichen beobachten. Bezeichnenderweise waren es die als Letzte in das regionale Netzwerk eingebundenen Wehrersatzdienststellen, die zuerst aus der Zusammenarbeit ausscherten. Im Sommer 1944, nachdem die Alliierten in Frankreich gelandet waren und von allen Seiten auf das Reich zumarschierten, versetzte Goebbels’ Aktion „totaler Kriegseinsatz“ dem regionalen Netzwerk den entscheidenden Stoß. Als Speer der Front unter Verweis auf die Rüstungsproduktion eine weitere Rekrutierung von Frontsoldaten aus den Unternehmen zu untersagen suchte, übernahm die ­NSDAP die Initiative und mischte sich erstmals in großem Stil in das operative Geschäft der Arbeitskräftelenkung ein. Mit ihren Gau- und Kreiskommissionen versuchte die NSDAP, den Interessengegensatz zwischen Front und Rüstung durch eine Sprengung der bisherigen Absprachen und Routinen radikal zu Lasten der Rüstungswirtschaft zu überwinden und so die von der Front dringend benötigten Soldaten zu rekrutieren. Wie die Untersuchung gezeigt hat, wurden in der Region Chemnitz mit dem Rüstungskommando und der Wirtschaftskammer

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Chemnitz zwei der bisherigen Hauptverantwortlichen für die Arbeitskräftelenkung trotz ihrer Proteste rigoros ausgegrenzt. Einbezogen waren zwar Vertreter des Wehrersatzwesens. Das entscheidende Wort führten in den Kommissionen jedoch die NSDAP-Kreisleiter und Kreiswirtschaftsberater. Die Logik, nach der die Kommissionen verfuhren, war weit entfernt von jeder bürokratischen Rationalität. Vielmehr wurden ohne Rücksicht auf die Rüstungswirtschaft die letzten verfügbaren Menschenreserven rekrutiert und an die Front geschickt, um dort mangels adäquater Bewaffnung und Ausrüstung als Kanonenfutter zu dienen. Die Zusammenarbeit auf der regionalen Ebene war schwer beschädigt, auch wenn sie bei den Auskämmungen bis in den November 1944 hinein offenbar weiter funktionierte. Zu diesen Vorgängen passt, dass gleichzeitig ein Konflikt die sächsische Mittelebene erschütterte, unter dem ihre Verwaltungsstrukturen zusammenzubrechen drohten. Die Auseinandersetzung hatte der Vorsitzende der Rüstungskommission, Führer, ausgelöst, der Personaleinsparungen auf der mittleren Verwaltungsebene durch eine Auflösung der Rüstungsinspektion erzielen wollte, offenbar im Einvernehmen mit Mutschmann. Ende September 1944 wollte er dann alle Verwaltungen durch einzelne Sachbearbeiter für bestimmte Themen ersetzen, eine Idee, die stark an die von Mutschmann bereits 1943 eigenmächtig betriebene Auflösung der sächsischen Ministerien gemahnt. Die Tatsache, dass die Umstrukturierung nicht mittels schriftlicher Verfügungen, sondern „kameradschaftlicher“ mündlicher Absprachen erfolgen sollte, zeigt ebenso wie das Vorgehen der Kreiskommissionen bei der Aktion „totaler Kriegseinsatz“, wie die Bewegungsmentalität der „Kampfzeit“ in der finalen Phase das Denken der ­NSDAP-Verantwortlichen beherrschte. Durch die den ganzen Sommer andauernden Konflikte auf der Mittelebene wurde deren Funktion als Mittler zwischen oben und unten beeinträchtigt, bis sie schließlich in den ersten Monaten des Jahres 1945 durch die Zerschlagung des deutschen Wirtschaftsraumes ohnehin obsolet wurde. Während sich bereits gegen Ende 1944 abzeichnete, dass die Verknappung von Energie und Transportkapazitäten die über Jahre hinweg so brennende Arbeitskräftefrage in der Region in den Hintergrund rücken ließ, besiegelten die Luftangriffe der Alliierten, die im Februar 1945 Dresden und im Februar/ März 1945 Chemnitz in Schutt und Asche legten, das Ende einer geordneten Rüstungsproduktion in der Region. Mutschmanns Anweisung von Anfang März 1945, dass die sächsische Rüstungskommission nicht mehr zusammentreten solle, bedeutete das Ende der Speer’schen Rüstungsorganisation in Sachsen. Lokale Neuorganisationen wie die in Chemnitz unter der Ägide Hans Schönes agierende „Notgemeinschaft der Chemnitzer Wirtschaft“, die vor allem von Unternehmern und der IHK getragen wurde, dokumentieren, wie sich angesichts des Zerfalls des deutschen und des sächsischen Wirtschaftsraumes neue, freilich angesichts der Umstände kurzlebige, lokale Machtzentren bildeten. Den Sieg der Alliierten und das Ende des Dritten Reiches vermochten diese aber nicht mehr zu verhindern.

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Abschließend stellt sich die Frage, ob der hohe Grad der ­Selbstorganisation der Chemnitzer Ämter und Institutionen der Arbeitskräftelenkung und ihre Unterstützung durch die sächsischen Mittelinstanzen einen Sonderfall darstellten oder ob sie Parallelen in anderen Reichsregionen hatten. Da die Arbeitskräftelenkung auf der unteren Verwaltungsebene bislang kaum untersucht ist, ist eine Annäherung an eine Antwort auf diese Frage lediglich über Umwege möglich. Fleischhauers Studie über den Gau Thüringen, die auch Aspekte der Arbeitskräftelenkung berührt, lässt sich für einen Vergleich mit der sächsischen Wirtschaftsverwaltung im Krieg heranziehen. Als die „einflussreichsten Zentren der Gauorganisation“1 in Thüringen nennt Fleischhauer den Reichsverteidigungsausschuss des Wehrkreises sowie die Rüstungskommission IXb. Die Rüstungskommission dürfte in Sachsen zumindest bei der Arbeitseinsatzpolitik eine ähnlich zentrale Rolle gespielt haben wie in Thüringen. Die Bedeutung des Reichsverteidigungsausschusses ist für Sachsen bzw. den Wehrkreis IV/IVa dagegen noch unerforscht. In den regionalen Chemnitzer Quellen zur Arbeitskräftelenkung taucht er jedenfalls nicht auf. Für die Frage nach der Selbstorganisation von Verwaltungen und Institutio­ nen auf der Mittelebene erscheint der aus der Abteilung Industrie der Wirtschaftskammer bzw. Gauwirtschaftskammer Thüringen hervorgegangene „Ausschuss für technische Leistungssteigerung“ besonders interessant. Dabei handelte es sich um ein interinstitutionelles Koordinationsgremium, das eng mit den Rüstungskommandos zusammenarbeitete und sich seit 1939 auch mit Fragen des Arbeitseinsatzes in Thüringen auseinandersetzte.2 In den sächsischen Quellen ist ein solcher Ausschuss nicht zu finden, sodass es sich wahrscheinlich um eine Thüringer Besonderheit handelt. Auf der unteren Verwaltungsebene ist in den letzten Jahren die systemstabilisierende Rolle kommunalen Handelns herausgearbeitet worden. So hat Bernhard Gotto für Augsburg gezeigt, wie es dort gelang, die diversen Sonderbeauftragten, mit denen neue Sonderbehörden die Stadtverwaltung zu infiltrieren suchten, in das informell gefestigte kommunale Netzwerk zu integrieren und im Sinne der städtischen Aufgabenerfüllung einzusetzen.3 Ähnlich wie die mit der Arbeitskräftelenkung in der Region Chemnitz befassten Ämter und Institutionen, legte auch die Augsburger Stadtverwaltung zentralstaatliche Weisungen immer wieder sehr kreativ aus oder ignorierte sie zuweilen sogar. Die Ergebnisse Gottos4 bestätigen ebenso wie die Ergebnisse der vorliegenden Studie die Hypothese Ludolf Herbsts, dass sich durch die Konkurrenz der einzelnen Herrschaftsträger Kontrolllücken ergaben, weil die hohe Zahl einander widersprechender Vorschriften, die auf die örtlichen Verantwortlichen einprasselte, die Sanktion von Regelverstößen erschwerte oder gar unmöglich machte.

1 2 3 4

Fleischhauer, NS-Gau Thüringen, S. 100. Vgl. ebd., S. 191–200. Vgl. Gotto, Kommunalpolitik, S. 148–171. Vgl. ebd., S. 432–434.

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Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass sich bei der Lenkung des Arbeitseinsatzes auch außerhalb der Untersuchungsregion selbst organisierte interinstitutionelle Koordinationsgremien finden lassen, die konfrontiert mit den Problemen der kriegswirtschaftlichen Praxis, die Rivalitäten ihrer übergeordneten Instanzen ignorierten und lösungsorientiert zusammenarbeiteten. Wie gut dies gelang, das dürfte in hohem Maße von den regional unterschiedlichen Personenkonstellationen und Machtverhältnissen abhängig gewesen sein. Außerdem lässt sich vermuten, dass die Zusammenarbeit der einzelnen Institutio­ nen und Ämter in unterschiedlichen Regionen unterschiedliche institutionelle Formen annahm, eben deshalb, weil sie nicht von oben verordnet war, sondern auf der Selbstorganisation vor Ort beruhte. Die mittleren und unteren Verwaltungs- und Parteifunktionäre nutzten die vom polykratischen System verursachten Freiräume nicht, um aus regionalem Egoismus die Ziele des Regimes zu torpedieren. Vielmehr taten sie alles, um unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse die grausame, verbrecherische und menschenverachtende Politik des Regimes in „administrative Normalität“5 umzusetzen. Die Vernetzung der Bürokratien vor Ort, ihre flexiblen, kreativen und selbstbewussten Problemlösungsstrategien und die Tatsache, dass ihre Eigenmächtigkeiten in der Regel von der Reichsebene nicht negativ sanktioniert wurden, sicherten die Funktionsfähigkeit der Kriegswirtschaft und waren ein zentraler Faktor für das Durchhaltevermögen des NS-Staates während des Zweiten Weltkriegs.

5

Ebd., S. 429.

VIII. Anhang 1. Abkürzungsverzeichnis AA AfS AG AHA Ak. Anm. ARWA AZS BA BA-MA BdF BfM Bl. BWA/BWÄ Chef HRüst u. BdE DAF DDR Diss. DKK DKW FUA GAA GWK GBA GBB g.v. Feld HA HASAG HiK HWK IHK IMI Kap. k.v. KWD KZ LAA LWA/LWÄ

Arbeitsamt Archiv für Sozialgeschichte Aktiengesellschaft Allgemeines Heeresamt Arbeitskamerad Anmerkung Fa. A. Robert Wieland, Feinstrumpfgroßwerke Auskämmung des zivilen Sektors Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde Bundesarchiv Militärarchiv Bevollmächtigter des Führers Der Bevollmächtigte für die Maschinenproduktion Blatt Bezirkswirtschaftsamt/Bezirkswirtschaftsämter Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheers Deutsche Arbeitsfront Deutsche Demokratische Republik Dissertation Deutsche Kühl- und Kraftmaschinen GmbH Dampfkraftwagen (Warenzeichen der Zschopauer Motorenwerke J. S. Rasmussen) Freimachungsunterausschuss Gauarbeitsamt Gauwirtschaftskammer Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz Generalbeauftragter für Betriebsumsetzungen garnisonsverwendungsfähig Feld Hauptabteilung/Hauptamt Hugo und Alfred Schneider AG, Leipzig (Wehrkreis-)Hilfskommission Handwerkskammer Industrie- und Handelskammer Italienische/r Militärinternierte/r Kapitel kriegsverwendungsfähig Kaufmännische Werksdirektion (Auto Union AG) Konzentrationslager Landesarbeitsamt Landeswirtschaftsamt/Landeswirtschaftsämter

412 Mob. MWaWi Nachf. NachrSt. NSDAP OB ObdW OKH OKM OKW RAW Reg.-Bez. RGBl. RM RMfBuM RMfRuK RS RSHA RTA Rü RüIn RüKdo RVK RWK RWM SächsHStAD Sächs. St. LA Z Sa. SE SMA SPK SS StAC StadtA uk UPA UPK VB VEB VfZ

Anhang

Mobilisierung Amtsgruppe Wehrwirtschaft Kriegsmarine (des Marinewaffenhauptamtes) Nachfolger Nachrichtenstelle der Staatskanzlei Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Oberbürgermeister Oberbefehlshaber der Wehrmacht Oberkommando des Heeres Oberkommando der Kriegsmarine Oberkommando der Wehrmacht Reichsbahnausbesserungswerk Regierungsbezirk Reichsgesetzblatt Reichsmark Reichsministerium/Reichsminister für Bewaffnung und Munition Reichsministerium/Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion Rückseite Reichssicherheitshauptamt Reichstreuhänder der Arbeit Rüstung Rüstungsinspektion Rüstungskommando Reichsverteidigungskommissar Reichswirtschaftskammer Reichwirtschaftsministerium/ Reichswirtschaftsminister Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes Sachsen Sondereinziehung Sowjetische Militäradministration Sonderprüfungskommission Schutzstaffel Sächsisches Staatsarchiv Chemnitz Stadtarchiv unabkömmlich Unterprüfungsausschuss Unterprüfungskommission Völkischer Beobachter Volkseigener Betrieb Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte

Abkürzungsverzeichnis

VO VSWG W In WBA WEI Wika WiRüAmt WVHA ZAS ZfG

Verordnung Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Wehrwirtschaftsinspektion Wehrmachtbeschaffungsamt Wehrersatzinspektion Wirtschaftskammer Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt Wirtschaftsverwaltungshauptamt Zeitschriftenausschnittsammlung Zeitschrift für Geschichtswissenschaft

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2. Quellenverzeichnis Ungedruckte Quellen in Archiven Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde

R 3 (Reichsministerium für Bewaffnung und Munition bzw. für Rüstung und Kriegsproduktion) R 3101 (Reichswirtschaftsministerium) R 3903 (Berufskundliches Archiv) R 3901 (alt R41; Reichsarbeitsministerium) Ehemaliges BDC Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg i. Brsg.

RW 19 (OKW/Wehrwirtschafts- und Rüstungsamt) RW 20–4 (Rüstungsinspektion IV bzw. IVa) RW 21–11 (Rüstungskommando Chemnitz) Personalakten RH 15 (OKH, Allgemeines Heeresamt) RHD (Drucksachen) Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden

Amtshauptmannschaft Flöha Arbeitsämter Gewerbeaufsichtsamt Chemnitz (heute im Staatsarchiv Chemnitz) Industrie- und Handelskammer Chemnitz (heute im Staatsarchiv Chemnitz) Ministerium für Wirtschaft Nachrichtenstelle der Staatskanzlei, Zeitungsausschnittsammlung NSDAP, Gauamt für Technik Staatsarchiv Chemnitz

Astrawerke AG Maschinenfabrik Kappel, Chemnitz Deutsche Niles Werke AG, Werk Siegmar Wanderer-Werke AG, Siegmar-Schönau Auto Union AG, Chemnitz Fa. Josef Witt, Spinnerei, Chemnitz VEB Vereinigte Baumwollspinnereien und Zwirnereien und Vorgänger, Flöha Fa. Bößneck & Meyer und Nachfolger, Glauchau Fa. A. Robert Wieland (ARWA), Feinstrumpfgroßwerke, Auerbach/E. und Chemnitz Fa. C. W. Schletter und Nachfolger, Thalheim/E.

Quellenverzeichnis

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Stadtarchiv Chemnitz

Arbeitsamt Chemnitz Gemeinde Glösa Rat der Stadt Chemnitz 1928–1945 Gedruckte Quellen Allgemeine Zeitung Chemnitz, 1939 und 1941. Der Arbeitseinsatz im Deutschen Reich (ab 1943 erschienen als „Der Arbeitseinsatz im Großdeutschen Reich“), 1938–1945. Der Arbeitseinsatz in Sachsen (bis 1934 erschienen als „Der Arbeitsmarkt in Sachsen“, 1934–1938 als „Mitteilungsblatt des Landesarbeitsamtes Sachsen“), 1930–1944. Der Arbeitseinsatz. Informations- und Nachrichtenblatt des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz, 1943. Hildebrandt, H.: Betriebsnaher Arbeitseinsatz. In: Reichsarbeitsblatt 20 (N. F.) (1940), Teil V, S. 55–60. Hitler, Adolf: Mein Kampf, 162.–163. Auflage München 1935. Klein, W.: Die Überwindung der Arbeitslosigkeit in Sachsen. In: Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes, 83/84 (1937/38), S. 145–222. Lommatzsch, Georg: Die Ergebnisse der Volkszählungen im Freistaat Sachsen in den Jahren 1834 bis 1925. In: Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes, 72/73 (1926/27), S. 262. Moll, Martin (Hg.): „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkriegs schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997. Nachrichten des Reichsministers für Bewaffnung und Munition (ab 1943 Nachrichten des Reichsministers für Rüstung und Kriegsproduktion), 1942–1943. Der nationalsozialistische Arbeitseinsatz, bearbeitet von Oberregierungsrat Dr. Letsch. In: Sommer, W. (Hg.): Die Praxis des Arbeitsamtes. Eine Gemein­ schaftsarbeit von Angehörigen der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung, Berlin 1939, S. 35–44. Organisationsbuch der NSDAP. Hg. vom Reichsorganisationsleiter der NSDAP, München 1936. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Mili­tär­ gerichtshof. Nürnberg, 1. November 1945 – 1. Oktober 1946. Amtlicher Text. Deutsche Ausgabe, Band 33: Urkunden und anderes Beweismaterial. Nr. 3729PS–Nr. 3993-PS, Nürnberg 1949. Reichsarbeitsblatt. Amtsblatt des Reichsarbeitsministeriums, des Reichsver­ sicherungsamts, und der Reichsversicherungsanstalt für Angestellte. Neue Folge, 20 (1940)–25 (1945). Reichsgesetzblatt, Teil I, 1938–1943. Runderlasse des Reichsarbeitsministeriums für die Arbeitseinsatz-, Reichstreuhänder- und Gewerbeaufsichtsverwaltung, 2 (1940)–5 (1943). Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 48 (1929).

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Anhang

Statistik des Deutschen Reichs, Band 403, Heft 10. Statistik des Deutschen Reichs, Band 408. Statistik des Deutschen Reichs, Band 415, Heft 4b. Statistik des Deutschen Reichs, Band 552, Heft 1. Statistik des Deutschen Reichs, Band 556, Heft 1. Statistik des Deutschen Reichs, Band 557, Heft 7. Statistik des Deutschen Reichs, Band 566. Statistik des Deutschen Reichs, Band 568, Heft 6. Stothfang, Walter: Zur Errichtung der Gauarbeitsämter. In: Der Arbeitseinsatz (1943) 1, S. 11 f. Völkischer Beobachter, 1941-1942. Walter, Friedrich H.: Die sächsische Textilindustrie. Dargestellt auf Grund der Betriebszählung vom 16. Juni 1925. In: Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes, 74/75 (1928/1929), S. 248–279. Wer leitet? Die Männer der Wirtschaft und der einschlägigen Verwaltung einschließlich Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte 1941/42, Berlin 1942. Zahn, Albert: Die gewerblichen Unternehmungen in Sachsen, ihre Rechtsformen und ihre betriebswirtschaftliche Verflechtung. In: Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes, 76 (1930), S. 78–86. Zeitschrift des Sächsischen Statistischen Landesamtes, 72/73 (1926/27)–84 (1938).

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Tabellenverzeichnis

433

4. Tabellenverzeichnis Kapitel IV Tabelle 1: Männliche Arbeiter und Angestellte (ohne Dienst bei der Wehrmacht) in den Jahren 1939–1942 (in absoluten Zahlen)

99

Tabelle 2: Männliche Arbeiter und Angestellte (ohne Dienst in der Wehrmacht) in den Jahren 1939–1942 (Index: 31.8.1939=100)

100

Tabelle 3: Auskämmungen im Gebiet des Rüstungskommandos Chemnitz auf Grund der Weisung des Reichsarbeits ministeriums vom 20.5.1940

115

Tabelle 4: Auskämmungen in Betrieben mit 50 oder mehr Mitarbeitern durch die SPK/UPK zwischen März und Juni 1941 im Bereich des Rüstungskommandos Chemnitz

129

Tabelle 5: Arbeiterinnen und weiblichen Angestellte in den Jahren 1939–1942 (in absoluten Zahlen)

180

Tabelle 6: Arbeiterinnen und weiblichen Angestellte in den Jahren 1939–1942 (Index: 31.8.1939=100)

180

Tabelle 7: Anteil der Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten an allen Arbeitern und Angestellten in Prozent

181

Kapitel V Tabelle 1: Lebensmittelrationen von Deutschen und „Ostarbeitern“ im April 1943, nach einer Aufstellung des Rüstungskommandos Chemnitz

261

Tabelle 2: Beschäftigte einheimische Arbeiterinnen und weibliche Angestellte 1943/44

317

Tabelle 3: Arbeitskräftebedarf im Rüstungsbereich Chemnitz im Frühjahr 1944

352

434

Anhang

5. Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten. Anacker 87, 92, 148, 305, 330, 332 f., 340, 349, 390* Bajohr, Stefan 179, 181 Bellmann, Georg 202, 345 Bormann, Martin 57, 210, 367 f. Böttger, Gotthard 87, 92, 127, 203, 208, 366 Broszat, Martin 9, 288 Bruhn, Richard 389 Bruns, Gerhard 125 Eichholtz, Dietrich 92, 209 Erlenkötter, Wilhelm 273 Fleischhauer, Markus 71, 121, 136, 408 Friedensburg, Walter 50 f., 86, 127– 129, 131, 136 f., 139–142, 149, 160, 208, 210 f., 224, 259, 308, 366, 396, 398, 403 Fritz, Ulrich 378 Fromm, Friedrich 86, 92 Führer, Hans 202, 208, 211, 213 f., 332, 344, 363–366, 388, 390, 398, 407 Funk, Walther 63, 67, 105, 120, 152 f., 212, 229, 320 f., 323, 325, 330 Geidel, Martin 46, 113, 320 Gerstenberger 150 Goebbels, Joseph 255 f., 312, 321 f., 363, 367 f., 372, 374, 406 Göring, Hermann 45, 60, 73, 90 f., 107, 109, 119, 126, 128, 130, 136, 185 f., 206 f., 212 Gotto, Bernhard 13, 408 Gruner, Wolf 13 Hachtmann, Rüdiger 14, 179, 395 Hentschel 105 Herbst, Ludolf 12, 14, 321, 397, 408 Heß, Rudolf 184

Hildebrandt, Walter 251 Hillig, Fritz 53 f., 38 f., 389 f. Himmler, Heinrich 246, 367, 376 Hitler, Adolf 60–62, 64, 86, 94, 115, 118, 120, 137, 172, 174, 179, 200, 202, 212, 214–217, 242, 307, 311, 321, 367, 377, 385 Hollack 143, 147, 308 Horn, Erhard 249 Hüttenberger, Peter 9, 203 Janssen, Gregor 98, 199 Jarosch, Willy 133 f., 189, 192 Keitel, Wilhelm 137 Kirmse 208, 398 Kniehahn, Werner 82 Krauch, Carl 137 Krauss, Friedrich Emil 284 Kroener, Bernhard R. 70, 83, 88, 94, 209, 219, 304 f., 307, 309 Kundrus, Birthe 187 Lange, Karl 114, 147 Leggewie, Heinrich 380 Lemke 48 Lenk, Georg 55, 208* Lieberknecht, Karl 314 Linse, Walter 21, 56, 87, 202, 211, 320, 331, 337–339, 343–346, 403 f. Milch, Erhard 137, 205 Möbius, Martin 46, 208 Mommsen, Hans 9 Müller, Rolf-Dieter 98, 121, 212 Müller, Sven Oliver 244 Mussolini, Benito 239 Mutschmann, Martin 53, 55, 105, 171, 203–205, 207, 208*, 210, 217, 227, 249, 321, 325, 335, 339, 365 f., 368, 370, 388 f., 393, 398–400, 407

Personenverzeichnis Naasner, Walter 304 Nolzen, Armin 70, 222 Olbricht, Friedrich 92, 219* Orth, Karin 382 Overy, Richard J. 144, 179, 181 Peter, Roland 17 f., 71 f., 122, 151, 223, 323, 325, 329 Peukert, Detlev 288 Recker, Marie-Luise 219 Reiter, Raimond 290 Richter 226 f. Ring, Ernst 394 Sauckel, Fritz 44 f., 149, 200, 206 f., 209, 211, 213, 234, 249, 275, 281, 290, 297, 302–304, 307 f., 312*, 321, 323, 325, 329, 348, 352, 363, 398, 401 Schaller, Karlheinz 312 Scherner, Jonas 22 Schöne, Hans 53, 55 f., 103, 331, 339, 369 f., 374, 389–391, 393, 403, 407 Schumann, Georg 281 Schupetta, Ingrid 179 Schulz, Johann-Georg 150, 293 Seifert, Ernst 344 Spangenberg, Fritz Paul 48, 226, 233 Speer, Albert 49 f., 91, 94, 97 f., 127, 141, 147, 198, 200, 205–213, 215, 223 f., 229, 250, 302–304, 307–310, 321–323, 328–330, 334–336, 341, 346, 348, 350, 354*, 361, 363–365, 367 f., 370, 376, 380, 383, 385, 391, 397 f., 401, 404, 406 Spoerer, Mark 162, 270, 277, 279 Stalin, Josef 245–247 Stelgens, Heinrich 389 Stiehler, Ernst 45 Streb, Jochen 22 f. Syrup, Friedrich 45 Thomas, Georg 47, 49 f., 67, 105, 127, 136*, 137, 364

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Thümmler, Johannes 252 f., 283 Timofeyeva, Natalia 258 Todt, Fritz 78, 80, 86, 91, 113, 116, 118–120, 124–130, 135, 136*, 137 f., 140–142, 147, 160 f., 396 Tooze, Adam 22, 125 Torkewitz, Max 249, 273, 284 Waeger, Kurt 49, 370 Wagenführ, Rolf 22, 354* Wagner, Robert 321 Weigand, Wolfgang 51, 211, 213, 224, 364–366 Weinhold, F. 330 f., 333, 336 Werner, Oliver 127* Werner, Wolfgang Franz 72, 116 Winkler, Dörte 178 f., 181, 183, 187, 192 Wissmann, Karl 323, 328–330, 332, 335, 342, 346, 348 Witting, Walter 50, 105 Wohlfahrt, Wilhelm 208 Zschake-Papsdorf, Oskar 53

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Anhang

6. Danksagung Die vorliegende Studie wurde im Frühjahr 2014 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Herzlich zu danken habe ich vor allem Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke. Er hat während seiner Amtszeit als Direktor des Hannah-­ Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung e. V. das Projekt angeregt und für seine Finanzierung gesorgt, die Arbeit während ihrer langen Entstehungszeit geduldig betreut und das Erstgutachten verfasst. Auch danke ich PD Dr. Mike Schmeitzner für die Übernahme des Zweitgutachtens. PD Dr. Christoph Boyer und Dr. Clemens Vollnhals begleiteten die Studie als Projektleiter während meiner Tätigkeit am Hannah-Arendt-Institut und gaben wertvolle inhaltliche Anregungen. Clemens Vollnhals ermutigte mich später auch in schwierigen Zeiten stets, die Arbeit abzuschließen. Er hat zudem die Drucklegung der Studie betreut. Ihm gilt mein besonderer Dank. Dem Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die finanzielle Förderung der Archivforschung und wesentlicher Teile der Niederschrift. Prof. Dr. Günther Heydemann schulde ich Dank für die Aufnahme in die Schriftenreihe. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der besuchten Archive unterstützten die Forschung mit der engagierten Bereitstellung von Materialien. Katrin Meusinger und Markus Krause haben als studentische Hilfskräfte unermüdlich Literatur beschafft. Kristin Luthardt hat sich um den Satz verdient gemacht. Ihnen allen sei ebenfalls herzlich gedankt. Sehr vieles verdankt die Studie der Diskussion mit Kollegen und Freunden. Stellvertretend seien neben den bereits Genannten Dr. Peter Skyba, PD Dr. Jörg Osterloh, Dr. Birgit Sack und Dr. Johannes Raschka genannt. Danken möchte ich darüber hinaus insbesondere Prof. Dr. Alf Lüdtke und seinem Erfurter Doktorandenkolloquium, dessen offene und intellektuell anregende Atmosphäre die Studie sehr bereichert hat. Ein Vortrag im Stadtarchiv Chemnitz ermöglichte eine Diskussion erster Ergebnisse im lokalhistorischen Kontext, mehrere Tagungen im Hannah-Arendt-Institut die Debatte im Zusammenhang der NS-Geschichte in Sachsen. Prof. Dr. Michael C. Schneider und Robin Reschke M. A. haben sich der Mühe des Korrekturlesens unterzogen. Vielfältige Hilfe und Ermunterung verdanke ich den Dresdner und Frankfurter Freundinnen und Freunden, für die stellvertretend Dr. Thekla Kluttig, Veronika und Dr. Peter Skyba sowie Helga Lüdtke und Sabine Matern genannt seien. Auch Vorgesetzte und Kolleginnen der Stadtbücherei Frankfurt am Main haben mich mit ihrem Zuspruch stets unterstützt. Meinem Mann Michael C. Schneider gilt mein ganz besonderer Dank. Der ständige zwanglose wissenschaftliche Austausch mit ihm, seine Ermutigungen und sein familiärer Rückhalt haben in besonderer Weise zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Ihm und unserem Sohn Fabian ist die Studie gewidmet.